5 Schwarze Schemen, sternenlose Nacht

Wie ein Verband lag die Operationsmaske vor Bells leutseligem Kugelgesicht, und es war, als verschwände mit dem Mund auch das Lächeln und mit dem Lächeln das Leben daraus. Maskenhafte Starrheit breitete sich langsam über den ganzen Körper, der pralle Hals drehte sich nicht mehr, die Geschäftigkeit der gestikulierenden Hände war erstorben, die wachsgelben, mattdurchsichtigen, fettigglänzenden Handschuhe schienen leer herunterzuhängen, die kurzen, eiligen Beine standen säulenartig auf der Gummimatte. Auch der Körper hatte jede Form verloren – plump und schwer wurde er, wie ein locker gefüllter, mit einem Ruck auf die Erde gesetzter Mehlsack. Nur die Augen lebten in der Vermummung, und sie schwankten und kreisten tierhaft unstet in den großen Kreisen der Ausschnitte.

Der da stand, war ein anderer, ein Fremder, ein Erbarmungsloser, einer, der bereit war, Dinge zu tun, die außerhalb des menschlichen Begreifens lagen. Janet erschrak jedesmal angesichts dieser Verwandlung. Oft, wenn sie an Bell, ihren Vorgesetzten, dachte, schob sich diese Gestalt vor den lächelnden Arzt. Obwohl er ihr stets wohlwollend entgegenkam, faßte sie keine Sympathie zu ihm – er war ihr gleichgültig und manchmal widerwärtig. Diesmal aber haßte sie ihn.

Bell gab ein stummes Zeichen, und Graudenz richtete den Oberkörper Eric Frosts etwas höher im Stuhl auf. Er trat dazu auf einen Fußhebel und betätigte so ein Pumpsystem, das jede Veränderung in den Positionen des Stuhls zwar langsam, aber mit unwiderstehlicher Gewalt vornahm. Auch Erics Körper war regungslos, bis auf die Augen, aber es war eine andere Regungslosigkeit als die Bells. Seine Armgelenke und seine Ellbogen waren durch Riemen an die Armlehnen geschnallt, seine Knöchel und seine Knie in gleicher Weise an ein abgestütztes, schmal auslaufendes Fußbrett gebunden.

Gebogene, schaumgummiüberzogene Stahlstücke drückten seine Schultern und sein Becken an die Unterlage – es sah aus, als griffen von hinten klobige Finger nach ihm, ein Gumminetz spannte sich über Brust, Magen und Bauch und hielt ihn mit klebriger Zähigkeit fest. Sein Kopf war mit mehreren gummigepolsterten Schrauben in eine Stütze geklemmt. Doch trotz dieser Fesseln wirkte Erics Körper ungemein lebendig – lebendig wie das Herz im durchscheinenden Körper einer noch nicht ausgeschlüpften Amphibie.

Graudenz hob nun etwas aus einer Halterung, das aussah wie das Kopfstück einer Brause. Es war durch einen Schlauch mit einem auf Gummirädern fahrbaren Kästchen verbunden. Graudenz drehte an einem Schalter und beobachtete einen Zeiger, der nervös über die Skala zuckte. Dann drückte er den Ansatz auf Erics kahlgeschorenen und mit roten Fettkreidestrichen überzogenen Schädel. Ein kräftiges Zischen erscholl, kalter Dampf strahlte unter den Rädern hervor.

Janet stand neben dem Präparateschrank. Sie drehte die Verschlußschraube einer Gasflasche auf, das leise Summen ging in Zischen der verdunstenden Flüssigkeit aus der Lokalanästhesiemaschine unter. Unauffällig wie ein Schatten strich Janet die Wand entlang, bis sie an der entgegengesetzten Seite des Operationsraumes angekommen war.

Janet beobachtete die drei weißvermummten Männer, die wie die Henker eines Femegerichts anmuteten, die flatternden Züge Erics, die schneeige Lichtflut auf den Fäden der zerstiebenden Dampfwolke. Das Tablett mit den Reihen chromblitzender Messer, Sägen, Meißel, Hämmer, Schaber, Zangen, Klemmen klirrte leise. Watte quoll wie Sahne aus einem Porzellangefäß.

Zuerst wankte Bell. Dann zuckte er langsam in sich zusammen und blieb in kauernder Lage zu Erics Füßen liegen. Graudenz begann mit Kopf und Armen zu rudern, der Düsennapf löste sich von Erics Kopf, pendelte und schrieb ihre Zeichen in die Luft. Dann kippte Graudenz zur Seite, er suchte nach Halt und riß den Anästhesieapparat polternd mit sich zu Boden. Der zweite Assistent stand leicht zitternd da, er starrte auf Bell, auf Eric, dann drehte er sich zu Janet um – Janet lag verkrümmt am Boden. Da fiel auch er um.

Janet wartete noch dreißig Sekunden. Ihre Lippen bewegten sich im stummen Zählen. Dann richtete sie sich vorsichtig auf. Sie trat auf Bell zu, hob einen seiner Arme und ließ ihn wieder fallen, sie zog sein Augenlid empor, der Blick war leer, das Lid schob sich wie Gummi über den Augapfel zurück. Bell war bewußtlos.

Sie trat zu Eric Frost. Auch seine Augen waren geschlossen. Eilig löste sie die Schrauben von seinem Kopf, lockerte die Riegel an Schultern und Becken und zerschnitt das Netz, das über seinem Leib lag. Sie band seinen Oberarm ab und injizierte eine gelbgrüne Flüssigkeit. Eine Sekunde lang sah sie ihm ins Gesicht. Dann drehte sie sich um. Sie zog den Handschuh von Bells rechter Hand, holte einen dicken Gummiring aus der Hosentasche und schlang ihn mehrmals um Bells eben freigelegten Daumen. Dann wählte sie ein Skalpell. Einen Moment zögerte sie – dann schnitt sie den Finger unterhalb der Gummifäden an der Wurzel ab. Sie drückte das Blut aus ihm heraus, wickelte ihn in ein Gazeband und steckte ihn ein. Die Wunde verschloß sie sorgfältig mit Plastosept. Nun griff sie in Bells Brusttasche und holte seine Erkennungsmarke heraus.

Der Narkoseapparat zischte immer noch – sie änderte nichts daran. Sie blickte auf die Uhr: Zehn Minuten vor zehn.

Wieder trat sie zu Frost. Auf seiner Stirn erschienen Falten und verschwanden wieder. Sie nahm alle ihre Kraft zusammen und hob ihn aus dem Stuhl. Seine Wangen waren eingefallen, mit seinem Kahlkopf und dem gestreiften Krankenanzug sah er kindlich zart aus, aber er war schwerer, als sie gedacht hatte. Sie ließ ihn auf den Boden gleiten, ergriff seine beiden Handgelenke und zerrte ihn zur Tür, die in das Laboratorium führte. Sie steckte ihre Erkennungsmarke in den Schlitz – die Tür öffnete sich, und Janet zog Eric über die Schwelle. Hier ließ sie ihn liegen. Rasch ging sie noch einmal zurück und brachte die Gasflasche, mit der sie das Operationsteam betäubt hatte, herbei. Sie stellte sie zu einigen anderen, die dort in einer Reihe standen, und schob die Tür zu. Sie band ihre Operationsmaske ab, löste eine Nasenklemme und spuckte das Filterstück einer Gasmaske aus, das sie heimlich getragen hatte. Nun bückte sie sich zu Eric. Mehrmals schlug sie ihn kräftig auf die Wangen. Die Schläge waren hart, und doch lag eine versteckte Zärtlichkeit darin. Als sich Eric nicht rührte, drehte sie ihn herum und hämmerte ihm mit der Handkante in die Nierengegend.

Eric stöhnte und versuchte auszuweichen. Sie schlug noch einmal heftig zu und schüttelte ihn dann. Seine Augenlider klappten auf, ein verständnisloser Blick traf sie.

»Was ist... was?«

»Reiß dich zusammen, Eric! Steh auf! Nimm deine ganze Energie zusammen!«

»Was ist... bin ich schon...?«

»Nein, Eric! Alles in Ordnung. Alles wird gut, wenn du dich zusammennimmst und mit mir kommst!«

»Aber ich...« Kraftlos fiel sein Kopf zurück.

»Steh auf! Sofort!« Nochmals gab sie ihm zwei leichte Ohrfeigen. »Du kommst mit mir!«

Eric taumelte auf.

»Zieh das an!«

Sie warf ihm einen weißen Kombinationsanzug und eine Schirmkappe hin und deutete auf ein Paar Schuhe. Eric gehorchte. Während der gewohnten Handgriffe des Aus- und Ankleidens wurden seine Bewegungen zusehends sicherer. Es war zehn Uhr fünf.

»Jetzt geh hinter mir her. Du mußt einen völlig normalen Eindruck machen. Hörst du: du mußt! Es sind nur ein paar Schritte!«

Sie öffnete die Tür zum Korridor und trat hinaus. In der Ferne des Ganges standen einige braungekleidete Mädchen, keines beachtete sie. Sie sah sich nicht um, aber sie hörte es: Eric folgte ihr.

Sie ging ein paar Schritte bis zum Lift und winkte Eric, mit ihr über die grünbeleuchtete Schwelle in die Kabine zu treten. Der grelle Strich an der Ritze zwischen Fahrstuhlboden und Aufzugschacht wechselte über Gelb und Orange zu dunklem Rot. Sanft löste sich die Magnethalterung, der Motor lief an, die endlose Kette, an der die fünfhundert stachelförmigen Liftkammern hingen, lief drei Meter weiter und hielt wieder weich. Rotes Licht, grünes Licht, grünes Licht, rotes Licht; Passage gesperrt, Passage frei, Passage frei, Passage gesperrt; Anlaufen, das schwebende Gefühl des Sinkens, der Andruck der Verzögerung, die fünf Sekunden Wartezeit... Mehr als drei Personen durften die Kabine nicht betreten – war sie besetzt, dann blieb die Warnbeleuchtung rot. Eine Person hätte noch Platz gehabt, aber niemand stieg zu ihnen herein. Janet stand breit, mit dem Rücken gegen die Zutrittöffnungen, und verdeckte Eric, der an der Hinterwand lehnte, vor den Blicken von außen. Eric hielt die Augen halb geschlossen. Er brauchte seine gesamte Energie, um sich aufrechtzuerhalten.

Janet blickte in das fremde Gesicht vor ihr. Seit drei Tagen hatte sie sich in einem Taumel gegensätzlich gerichteter Regungen befunden, sie hatte gegen Unbekanntes gekämpft, das in ihr wach geworden war, ihr Denken hatte sich in Geleisen verfahren, aus denen keine Weiche führte, mit psychologisch-sezierender Überlegenheit hatte sie ihren Zustand analysiert, und sie glaubte, die Ursache für ihre Verwirrung erkannt zu haben. Zugleich aber wußte sie, daß sich ihr Verstand nur an der Oberfläche rieb, daß ihre unklaren Wünsche viel mächtiger waren und daß ihre Analyse der Situation nichts an ihren Handlungen ändern, sondern höchstens ihr Entsetzen vor sich selbst verstärken würde. Sie hatte ihre Arbeit getan, die Testergebnisse registriert, die Versuchslisten ausgewertet, sie hatte das Reinigen ihrer Laborgeräte überwacht, den Druck und die Zusammensetzung des Gases in den Flaschen geprüft, sie hatte Patienten fotografiert, Mikrofilme hergestellt und Mikrofilme studiert, sie hatte Bell bei seinen Diagnosen geholfen, bei seinen Eingriffen assistiert, sie hatte seine Besprechungen auf Band aufgenommen und die Diktatstreifen in die Klappen der Rohrpostschächte geschoben. Sie war mit einem Elektrowagen in ihr Heim gefahren, hatte aus dem Automaten ihre Mahlzeit zusammengestellt, hatte mit anderen zusammengesessen – vor den Bildschirmen der Kinoräume und zwischen den Mikrofonen der Stereos. Alles hatte sie getan, als ob es jemand anderer getan hätte, wie ein Uhrwerk abläuft, auf das sie nicht zu achten brauchte, sie hatte gesprochen und gelacht, aber es waren nur Zunge und Stimmbänder, die die Worte geformt hatten, nur Lippen und Wangen, die sich zum Lachen verzogen hatten. Sie selbst war aus sich herausgetreten oder auch tief in sich hinein – sie hatte vieles, was mit ihrem Beruf zusammenhing, zum erstenmal verstanden – jetzt, wo es ihr gleichgültig war –, und sie erschrak vor der Kluft dieses Unterschieds zwischen Mitgeteiltem und Selbsterlebtem. Sie hatte viel erfahren über die Strukturen im Gehirn, die Vorgänge in den Nerven, die Umsetzungen in den Drüsen, die alles das hervorriefen, was sie jetzt litt. Doch nun brach der Stolz der wissenden Überlegenheit in ihr zusammen, sie erkannte, daß Kenntnisse nicht Macht bedeuten, daß sie trotz ihres Wissens diesen Dingen unterworfen war wie alles andere, wie die übrigen Menschen, wie die Tiere in den Gehegen, wie die Pflanzen in den Gärten, wie Wasser und Stein, wie Atome und Welten. Sie war verstört vor dieser Urgewalt, sie hatte sich gewehrt, und nun hatte sie sich hineingefügt. Jetzt, da sie gehandelt hatte, wußte sie, was es bedeutet, schuldlos an dem zu sein, was man tut.

Eric schlug die Augen auf. »Ruth!« flüsterte er.

»Ich heiße Janet«, sagte sie.

Die Zahlen auf der Leuchtscheibe wechselten.

»Das Schwierigste ist die Sperre«, sagte Janet. »Du kommst hinaus, wie du vor drei Tagen hereingekommen bist: Du drückst den Daumen auf den Reliefabtaster und steckst die Lochmarke in den Schlitz. Dann gehst du durch das Zählwerk... Nicht deinen Daumen«, sie kam Erics Frage zuvor, »den Daumen von Bell.«

Sie reichte ihm die Marke und das Gazepäckchen. Eric steckte beides in die Tasche. Jetzt sah er sie aufmerksam an.

»Die Rampe«, sagte Janet. »Komm!« Sie berührte ihn am Ärmel und trat aus der Kabine. Ab- und anschwellende Surrgeräusche schwebten in der Luft. Der Gang öffnete sich nach einigen Metern zu einer langgestreckten Halle. Eine Wand bestand aus einem weitmaschigen Drahtgitter, das von Türöffnungen unterbrochen war. Davor standen die drehbaren Flügel der Zählvorrichtung in Hüfthöhe an ihrer senkrechten Achse, wie seltsame Blumen an metallenen Stengeln. Daneben hingen die Kästen der Pförtnerautomatik.

Janet trat in das Halboval. Wie die Kiefer einer Zange umfaßten Stahlflügel ihre Taille. Sie drückte den Daumen der Rechten auf die blaßgelbe Membran aus amorphem Molybdän und steckte zur gleichen Zeit die magnetisierte Metallscheibe in den Schlitz. Eine halbe Sekunde verrann, dann ertönte ein Schnarren, und die Plattform drehte sich samt dem Mädchen um einen rechten Winkel. Das nächste Flügelpaar streckte sich Eric wie ein Paar geöffneter Hände entgegen.

Ein einzelner Mann kam die Treppe heruntergeeilt und ging auf eine der Pforten zu. Er schaute weder rechts noch links. Aus dem Hohlraum des Ganges schwirrten Stimmen. Aus dem Schlauch der Straße kam das Brausen in wechselnden Böen. Jenseits des Gitters wartete Janet.

Eric stellte sich in die Klammer der Stahlarme. Er sah sich nach allen Seiten um. Zwei dahinschlendernde Menschen im Hintergrund der Halle unterstrichen die Leere aus Stahl, Zement und Neonlicht. Sie blickten nicht in seine Richtung. Doch nun hallten Schritte hinter ihm.

Eric hatte die Hüllen des Päckchens in seiner Tasche etwas gelockert. Ihn ekelte vor der Berührung mit der schlappen, blutigen Masse, doch überwand er sich. Unter dem Handteller verborgen drückte er die schmale Fläche mit dem kennzeichnenden Hautleistenbild auf die Scheibe und steckte die Marke in die Schlitzöffnung des Apparats. Die halbe Sekunde dehnte sich nerventötend lang. Dann ertönte das Schnarren, die Plattform trug Eric durch die Gitteröffnung. Er trat neben Janet.

In einer langen, schief geparkten Reihe warteten die batteriebetriebenen Kabinenfahrzeuge auf ihre Benutzer, unsichtbar an der unter dem Plastikboden laufenden Magnetschiene verankert. Jetzt, inmitten der Arbeitszeit, war der Verkehr gering, nur selten schoß auf der gegenüberliegenden, auf der schnellsten Bahn, ein einzelner Wagen entlang. Alle langsameren Bahnen waren frei. Obwohl das unterirdische Straßennetz nirgends Verbindung mit der Außenwelt besaß, war hier die Luft stets in Bewegung, sie strömte langsam und stetig durch die Tunnelgänge, sie streifte mit leisem Rauschen an den Wänden, wirbelte träge um die Ecken der Kreuzungen, tastete zögernd in die Hallen der Parkplätze und trieb einen Hauch von Kühle, Feuchtigkeit und Moder vor sich her. Das Pfeifen, mit dem die Gummireifen über die Bahnen rollten, zog durch das Labyrinth, teilte sich, brach sich, vereinigte und mischte sich zu einem unbestimmten Rauschen, das den Hohlraum der Straße wie eine Flüssigkeit erfüllte.

Janet und Eric gerieten ganz unvermittelt in diese Zone von verwischten Geräuschen, von Dämmerung, Strömung, naßkaltem Brodem und dampfenden Gerüchen, und es war wie der Atem der Freiheit, aber keine einladenden, freundschaftlichen, sondern einer widerspenstigen Freiheit voll unbestimmter Tücken.

Janet öffnete die Tür und trat ein. Sie setzte sich an das Armaturenbrett und drückte auf einige Knöpfe. Ein weißleuchtender Linienzug quoll aus einem in die Kunststoffplatte vertieft eingezogenen schematischen Plan.

Eric Frost hatte sich auf einen der Hintersitze sinken lassen. Er hatte vor der Operation zwei Tage lang nichts zu essen bekommen, und die Betäubungsgifte saßen noch in seinem Blut.

Janet nahm eine Phiole mit Energontabletten aus der Tasche und legte sie ins Handschuhfach. Dann erhob sie sich.

»Hör mir eine Minute zu, Eric«, sagte sie.

Sie sprach eindringlich wie zu einem gutwilligen dummen Kind: »Nur noch eine Minute, dann kannst du schlafen. Ich gehe jetzt zurück. Sobald ich ausgestiegen bin, drückst du auf den Starter. Komm, setz dich hierher.« Sie stand auf und machte ihm Platz. »Vergiß es nicht: Du mußt auf den Starter drücken.«

Eric schreckte zusammen. »Du gehst zurück?« – »Ich muß!« Janet verließ den Wagen. Sie sprach rasch zur Tür herein.

»Ich habe einen Weg eingestellt, der dich zuerst einige Kilometer fort – und dann immer wieder in einem großen Kreis herumführt. Du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Ich komme wieder. Ich weiß noch nicht, wann, aber ich komme sobald wie möglich wieder. Ich werde dann einen anderen Wagen nehmen und dich suchen. Ich werde hinter dir herfahren, und du wirst zu einem Parkplatz steuern. Dorthin folge ich dir. Dann steigst du zu mir über.«

»Werden sie mich nicht...?« Eric ließ seine Befürchtung unausgesprochen.

»Nein. Ich weiß, was die Schutztruppe in solchen Fällen tut. Solange du fährst, bist du in Sicherheit.« Sie zögerte. »Jetzt gehe ich«, fügte sie dann hinzu. Sie trat zurück. »Fahr los!«

Eric bewegte sich undeutlich im Innern. Das Elektromobil scherte aus der Reihe aus und rollte auf die erste Fahrbahn. Allmählich gewann es Geschwindigkeit und tauchte in den Tunnel ein.

Janet drehte sich um und ging mit festen Schritten auf die Pforte zu. Sie kam unangefochten durch und suchte den Lift auf. Im zweiundsechzigsten Stockwerk stieg sie aus und betrat das Operationszimmer durch das Labor. Sorgfältig schloß sie die Tür hinter sich zu. Die magnetische Verriegelung schnappte mit einem häßlichen Geräusch ein.

Janet begab sich auf jenen Platz, auf dem sie früher die Betäubte gespielt hatte. Der zweite Assistent hatte sie dabei gesehen – und das war gut. Alle lagen so da, wie vorher, als sie den Raum verlassen hatte. Sie blickte auf die Uhr: zehn Uhr vierundzwanzig. In genau derselben Haltung wie vorher legte sie sich auf den Boden. Das Gras wirkte schnell, Schwindel hob den Boden unter ihr empor, Sekundenbruchteile des Schwebens, der Müdigkeit...

Und ihr Denken schlief ein.

Scharfer, ätzender Geruch war das erste, was die Sperre ihres Empfindens gegen die Außenwelt durchbrach. Sie rang nach Luft und hustete krampfhaft – die Atemnot zwang sie ins Wachsein zurück, obwohl sie ein zentnerschwerer Block in ihrem Kopf auf eine federnde Unterlage fesselte. Das Gewicht gab ein wenig nach, sie öffnete die Augen und blickte in das Rechteck von Czernys Gesicht.

»Gleich wird sie reden können«, sagte eine Stimme. Ein Fläschchen blinkte vor ihren Augen, und wieder brachte der erstickende Geruch ihre Nasenschleimhäute in Aufruhr. Sie hob eine Hand und schob das Glasgefäß beiseite.

»Kannst du sprechen?« fragte die Stimme.

Arme zogen sie in sitzende Position, sie lehnte in einer Bank, ihr gegenüber stand ein Arzt der benachbarten Abteilung, einige Männer des Pflegepersonals starrten sie an, und nun trat Czerny wieder vor sie hin.

»Sprich, Trombe, was ist geschehen?«

Auf einer Bank neben ihr saß der zweite Assistent. Er war blaß, sein Gesicht war zerknetet, aber seine Augen standen offen. Auf zwei Bahren lagen Bell und Graudenz, von Ärzten und Pflegern umsorgt. Sie waren im Verbandsraum für Erste Hilfe.

»Das Gas ist nicht gefährlich«, erklärte der Arzt vor Janet. »In einigen Minuten sind alle wieder bei Bewußtsein.«

Czerny warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Ich glaube, du verstehst mich nicht ganz.« Sein Ton war messerscharf. »Ich habe nicht die Zeit, um zu warten. Ich habe keine Minute zu verlieren. Wecke sie auf, sofort, alle!« Seine Hand bewegte sich herrisch zu den beiden Bewußtlosen auf den Tragen. »Trombe, ich habe keine Geduld mehr«. Er packte ihren Arm und schüttelte ihn. »Was geschah bei der Operation?«

Zwei Männer in den schwarzen Kombinationsanzügen der Schutztruppe kamen zur offenen Tür herein.

»Nichts zu finden«, sagte der eine.

»Im Nebenraum stehen mindestens zwei Dutzend Gasflaschen«, sagte der andere. »Sieben davon sind halb leer. Das Gas kann aus jeder von ihnen stammen.«

»Weitersuchen«, sagte Czerny, »und seht zu, daß die Informationen über die verdächtige Person bald bereit sind!«

Er drehte sich zum Arzt. »Gib ihr noch eine Injektion!«

»Ich kann schon sprechen.« Janets Stimme klang wie eingerostet, aber sie war verständlich.

»Dann vorwärts! Was gab es bei der Operation?«

»Alles war wie immer«, antwortete Janet. Ihre Worte tropften. Czerny hielt seine Ungeduld im Zaum, aber man sah sie ihm an. »Auf einmal... Mir wurde schwindelig... Bell fiel zu Boden... Vor meinen Augen wurde es schwarz, das ist alles.«

»So, das ist alles«, wiederholte Czerny. »Gab es nichts Besonderes, nichts Auffälliges, nichts Verdächtiges? War nicht doch irgend etwas anders bei dieser Operation?«

»Nein«, sagte Janet.

Czerny warf einen Blick auf Bell, der eben zu stöhnen begann. »Wenn er sprechen kann, wird mich jemand holen. Verstanden. Und keiner von denen verläßt den Raum.«

Seine Schritte dröhnten, als er hinausging.

Janet lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schloß die Augen. Sie hatte keine Schmerzen, und ihr war nicht übel, sie fühlte weder Gewissensbisse noch empfand sie Freude – sie war einfach müde, elendiglich müde, und sie überließ sich dieser Müdigkeit mit völligem Gleichmut allem dem gegenüber, was um sie herum vorgehen könnte. Sie hörte Schritte, Türenrollen, Klirren, Stimmen, doch sie verstand nichts und begriff nichts, und sie wollte auch nichts verstehen, alles verschmolz zu einem fernen einschläfernden Plätschern, ihr war, als triebe sie unter Wasser, und alle Dinge und Menschen wären in die Ferne gerückt und stünden in keinerlei Verbindung zu ihr. Sie war nicht wach, und sie schlief auch nicht, die Zeit verrann, ohne daß sie es wußte, einmal stieß sie jemand an, sie öffnete kurz die Augen, doch sah sie nichts, weil Licht und Schatten in der Flüssigkeit, in der sie schwamm, ein trübes konturenloses Bild nicht unterscheidbarer, ineinander verschachtelter Gegenstände malten.

Allmählich wurden die Geräusche um sie herum deutlicher, sie hörte das Stöhnen Bells und das Stottern Graudenz’, sie hörte Czernys stoßweises Kommandieren, und fast widerwillig nahm sie den Sinn der Worte und Töne auf, denn irgendwo in ihr versteckt, saß doch die Furcht vor dem Kommenden, vor Verhören, vor dem Lügendetektor, vor den chemischen Mitteln, die auf jeden warteten, der Verdacht erregt hatte. Ihr war nichts nachzuweisen, aber es wäre ein Wunder gewesen, wenn ihr Czerny getraut hätte. Er traute niemandem. Zwar kannte sie die Präparate, die den Geist töteten und den Willen brachen, und sie hatte ein Kuvert mit einem Gegenmittel unter dem Riemen ihrer Sandalen verborgen, aber der Kampf würde unmenschlich sein, und sie war nicht überzeugt davon, ob sie ihn bestehen könnte. Doch noch war ihr Denken nicht klar, und es war mehr Instinkt als Überlegung, daß sie sich jetzt schon gegen das Befürchtete auflehnte, wenn auch nur dadurch, daß sie sich gegen die Außenwelt abzukapseln versuchte.

Und so kam es, daß sie nicht begriff, als Czerny hereinkam und etwas zu allen im Zimmer sagte. Erst als er längst wieder gegangen war, wiederholte sie bei sich das Gehörte, und dann erst glaubte sie daran, daß das Unglaubliche geschehen war.

»Kollegen«, hatte Czerny gesagt, »der Fall ist geklärt. Der Täter ist Farmer. Schon während der Besprechung habe ich Verdacht geschöpft, daß etwas mit ihm nicht in Ordnung ist. Es war ganz offensichtlich, daß er Frost schützen wollte. Ich habe meinen Antrag, ihn der Erlebnisprüfung zu unterziehen, nur deshalb zurückgezogen, weil mir eine wirkliche strafbare Handlung lieber gewesen wäre. Er hat sich schneller geliefert, als ich gehofft hatte. Es war recht dumm von ihm, Frost zu befreien. Er hätte sich denken können, daß ich sofort auf ihn tippe. Als ich erfuhr, daß er sich heute vormittag tatsächlich im Block der Klinik aufgehalten hatte, griff ich zu. Bis jetzt behauptet er noch, in der Registratur gewesen zu sein – aber niemand hat ihn gesehen. Ich weiß noch nicht, wie er es gemacht hat, aber das finde ich rasch heraus. Jedenfalls brauche ich euch nicht mehr. Ihr könnt gehen.«

Janet war allein im Raum. Bell hatte etwas zu ihr gesagt, bevor er sich entfernt hatte, und einer der Ärzte hatte ihr Pillen in die Hand gedrückt. Sie stand auf, warf die vier in Cellophan eingewickelten weißen Kugeln in einen Abfalleimer und blickte auf die Uhr: achtzehn Uhr zehn.

Janet ging zum nächsten Duschraum und ließ die schmerzhaft harten heißen Wasserstrahlen auf ihren Körper prasseln, dann fuhr sie mit dem Lift ins Erdgeschoß und trat auf die Straße hinaus. Die Laufbänder beförderten sie einige Blöcke weiter, in einem Lebensmittelstore füllte sie einen großen Beutel mit Eiweißkuchen, Tortillas, Zuckerschnitten, Baninos und zwei Limonadeflaschen und bestieg einen Elektrowagen. Zuerst fuhr sie eine Weile planlos kreuz und quer in den Tunnelstraßen umher und überzeugte sich davon, daß ihr niemand folgte. Dann erst suchte sie die Gegend auf, in der Eric in seiner Rundfahrt begriffen war. Sie folgte der von ihr voreingestellten geschlossenen Route auf einem langsamen Band, obwohl das ungewöhnlich war. Aber es ging nicht anders – Eric fuhr mit der normalen, der unauffälligsten, der größten Geschwindigkeit, und wenn sie ihn treffen wollte, mußte sie langsamer fahren; in allen Straßen gab es nur eine Verkehrsrichtung. Sie bildeten ein quadratisches Gitter, die in Nord-Süd-Richtung führenden Stränge waren eine Etage höher als die in Ost-West-Richtung laufenden angelegt. Die Richtungen kehrten sich von Parallel- zu Parallelstraße um. An allen jenen Punkten, an denen eine Straße über die andere hinwegging, waren beide durch eine im Viertelkreis gebogene Fahrstrecke verbunden.

Der Verkehr war jetzt bedeutend stärker als tagsüber. Fast eine Stunde lang fuhr sie durch das unterirdische Labyrinth, weite Strecken ging es geradeaus, dazwischen schoben sich die kurzen gebogenen, stark überhöhten Straßenstücke, in denen der Wagen wie in einem Karussell emporgehoben wurde. Mehr als dreimal mußte sie den geschlossenen Kurvenzug von Erics Weg durchmessen, bevor sie die Nummer seines Wagens rechts hinter sich erspähte. Sie beschleunigte, wurde überholt, setzte auf die Außenbahn über und folgte ihm.

Sie hatte sich in Eric nicht getäuscht. Er hatte ihr Manöver beobachtet und verlangsamte nun sein Tempo. Beim nächsten Halteplatz bog er ein, stieg aus dem Wagen und betrat den ihren, der sich neben ihm in die Reihe geschoben hatte. Es waren ziemlich viele Leute unterwegs, die ankamen, abfuhren und plaudernd nebeneinanderstanden. Janet startete sofort und fingerte an der Tastatur der Straßenwahltafel. Dann lehnte sie sich zurück. Während der Zeit, in der sie etwas mit- oder füreinander getan oder aufeinander gewartet hatten, hatte es keine Fragen und keine Zweifel gegeben. In diesen leeren Sekunden des Nichtstuns aber trat ihr gegenseitiges Fremdsein wieder lähmend zwischen sie, wie schon während der zehn gemeinsamen Minuten im Lift.

Janet sagte: »Ich habe dir zu essen mitgebracht.«

Doch schon während sie sprach, fragte sie sich, was sie sich eigentlich erhoffte, und ärgerte sich über sich selbst.

»Warum hast du mich befreit?« fragte Eric.

Durch die Fenster sahen sie andere Fahrzeuge vor, neben und hinter sich her rollen, und durch die Fenster dieser Fahrzeuge konnten sie die Menschen erkennen, die in ihnen saßen, aber die zwei spiegelnden Trennungswände verschleierten sie hinter Lichtpfeilen und reflektierten Bildfetzen. Zwischen all diesen Menschen und Maschinen waren sie allein.

»Wenn ich bei klarem Verstand gewesen wäre, wäre ich nicht mitgekommen«, sagte Eric.

Janet zuckte zusammen. »Warum nicht?«

Eric blickte in das fischhafte Gleiten der Fahrzeuge hinein. »Ist es dir nicht aufgefallen, daß ich schon einmal geflohen war? Daß ich dann zurückgekommen bin?«

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Es ist sinnlos.«

»Und warum hast du überhaupt zu fliehen versucht?«

»Ja, warum?« fragte Eric.

»Ich will es dir sagen«, sagte Janet. »Weil du die Freiheit liebst! Weil dein Wunsch nach Freiheit größer war als die Hemmungen deines Verstandes. Weil deine Sehnsucht größer war als deine Weisheit.«

»Das mag sein, Janet. Du heißt doch Janet?«

Janet nickte.

»Ja, du kannst recht haben.« Er sprach wie zu sich selbst. »Meine Sehnsucht war größer. Und da gibt es sogar ein Mädchen, das das begreifen kann.«

Er sah Janet an, aber sie blickte auf das Schaltbrett; die Lichtstreifen darauf bildeten ein flimmerndes Muster.

»Ich hätte dich früher kennenlernen müssen... Aber jetzt ist es zu spät. Und früher... wußte ich doch selbst nicht, was mit mir los ist. Erst in den letzten Tagen habe ich darüber nachgedacht.«

Er hielt inne und begann von neuem. »Ihr habt mich unter dem Netz gehabt. Ich weiß jetzt wieder genau, was ich erlebt habe. Du warst doch die, die meine Erlebnisse geführt hat, nicht wahr?«

Janet nickte fast unmerklich.

»Ich habe vorher nie etwas erlebt«, sagt Eric. »Ich wußte gar nicht, wie das ist: etwas erleben. Aber jetzt weiß ich es. Natürlich, es war nur ein Traum. In diesem Traum hatte ich Freude und Angst. Früher hatte ich nie solche Freude und nie solche Angst. Im Traum habe ich geliebt und gehaßt. Ich wußte nicht, daß ich so lieben und so hassen kann. Im Traum habe ich gehandelt – wie ich noch nie in meinem Leben gehandelt hatte. Zum erstenmal hat mein Handeln mein Schicksal bestimmt – wenn auch nur ein Traumschicksal.

Denk einmal an die anderen Menschen, Janet. Wer von ihnen wird jemals so etwas erleben dürfen, wie ich es erlebt habe? Heute gibt es nichts mehr, was man erleben kann. Und darum danke ich dir. Vielleicht sind sie uns jetzt schon auf der Spur. Ganz gleich aber, wie lange es noch dauerte – ich bin mit meinem Leben zufrieden. Und du mußt auch mit dem zufrieden sein, was du getan hast.«

Janet erwachte aus ihrer Erstarrung.

»Ich habe nicht ganz ohne praktische Überlegung gehandelt«, sagte sie. »Ich habe einen Plan.«

»Du bringst dich in Gefahr«, erwiderte Eric. »Es ist am besten, ich gehe wieder freiwillig zurück.«

Janet hatte nicht zugehört.

»Es gibt noch einen ganzen unbewohnten Kontinent, die Antarktis. Dort könnten wir –«

»Wie sollen wir dorthin kommen?« unterbrach Eric.

»Wir benutzen einen Transkontinentalclipper.«

»Und wie willst du an einen herankommen?«

»Bei Bell, meinem Chef, kann ich einen Reiseauftrag erhalten – vielleicht schon in einigen Tagen. Mir steht sowieso eine Studienreise bevor. Dann habe ich eine Maschine zur Verfügung. Ich nehme dich irgendwo auf, wir stellen auf Handsteuerung, brechen aus dem Korridor aus und fliegen zum Südpol.«

»Wie sollen wir dort leben?«

»Ich habe im Geheimarchiv Mikrofilme gefunden. Auf ihnen sind die Aufzeichnungen einiger Expeditionen festgehalten. Vor der Zeit von Delius, als die Zahl der Menschen ständig anstieg, haben sie nach Neuland gesucht. Nun – es war nicht mehr notwendig, die Antarktis zu besiedeln. Heute ist sie Sperrgebiet. Aber damals sind Stützpunkte zurückgeblieben, Baracken, Treibstofflager, Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge, Arzneimittel, Konserven – mehr als wir in hundert Jahren verbrauchen können. Dort gibt es aber auch noch größere Tiere – Robben und Vögel, die man erlegen und zubereiten kann.«

»Tiere?« fragte Eric. »Zubereiten?«

»Ja, das haben die Menschen früher auch getan. Warum sollten wir es nicht können?«

»Du hast an alles gedacht«, sagte Eric.

Er überlegte. Bedenken und Hoffnung wanderten in sichtbaren Wellen über sein Gesicht.

»Ich weiß nicht...«, sagte er. »Es scheint mir unglaublich...«

Er dachte an die Erde, auf der es nur Meer und Stadt gab, und jenen vergessenen weißen Fleck im Süden. Er dachte an den endlosen Block der Häuser, die wie Aussatz an jedem Stück Festland klebten, die stellenweise wie Beulen ins Meer griffen, die die Täler erfüllten und die Berge bedeckten. Er dachte an das weite offene Netz der Gehstraßen, in denen die Laufbänder wie Schlangenrudel dahinglitten, an das versteckte Tunnellabyrinth der unterirdischen Straßen. Er dachte an die Menschen, die in dieser Stadt lebten, und an den Schutz, den sie ihnen bot – an die Glasdächer über den Straßen, die Klimaanlagen im geschützten für den Menschen bestimmten Raum, die Fabriken für Nahrungsmittel, die Pilz- und Hefekulturen, die Gärten mit den Gemüse- und Obstanpflanzungen, an die staatliche Organisation, die das alles austeilte und verschenkte, an die Filme und Stereos, die Spiele und Wettbewerbe, an die Geborgenheit im Schoß der Häuser, an die eigene Wohnkammer und das weiche, wohlige Bett.

Und dann hatte er eine Vision von blinkendem Weiß, von kaltem Licht, von blauen Schatten, von stechenden Eiskristallen, Sturm, Wetterschlag, aufflatternden Tieren, dahinhuschenden Robben, und er sah sich selbst darin stehen, sich und Janet... Und er schob alle Zweifel weit von sich. Vielleicht, dachte er, vielleicht...

Janet hatte ihn beobachtet.

»Wir müssen noch ein paar Tage Geduld haben«, sagte sie. Alles in ihr bebte vor aufgeregter Freude. »Die paar Tage muß ich mein gewohntes Leben weiterführen. Ich will mich nicht zu lange hier aufhalten. Laß mich bei der nächsten größeren Station aussteigen. Du fährst dann sofort weiter, du hast nichts zu befürchten. Die Schutztruppe verfolgt eine falsche Spur. Solange du nicht von der Straße heruntergehst, solange du kein Haus betrittst, brauchst du keine Erkennungsmarke und keinen Fingerabdruck, und niemand wird auf dich aufmerksam. Die Waschräume entlang der Straße sind nicht verschlossen. Wie gesagt – du fährst fort, irgendwohin, in die weitere Umgebung, wie es dir gerade einfällt. Und morgen um achtzehn Uhr kommst du wieder hierher. Hier treffen wir uns... Wenn ich nicht da bin, kommst du eine Stunde später wieder. Warte aber nicht auf mich!«

Sie waren in eine Halle eingebogen. Ihr Fahrzeug verlangsamte sich und hielt über dem Sperrfeld des Schienenendes. Noch immer waren viele Menschen auf den Beinen.

»Und wenn du auch um neunzehn Uhr nicht da bist?« fragte Eric.

»Dann komme ich um zwanzig Uhr. Leb wohl.«

Sie schob die Tür auf und stieg auf die Rampe hinaus. Sie winkte ihm zu. Er winkte zurück. Als sie die Sperre hinter sich hatte, drückte Eric auf den Starter.

Janet benutzte die Laufbänder, um in ihr Heim zu kommen. Mit geschickten, raschen Schritten bahnte sie sich ihren Weg zur Mitte, und sie spürte mit Wohlbehagen die Kraft, die sie vorwärtsriß, die Trägheit, die sie umzuwerfen drohte und derer sie geschickt Herr wurde, den lauen Wind, der in ihrem Haar wühlte. Sie würde zu Hause gemütlich essen und nachher einen Film ansehen. Oder sollte sie zu einer Partie Domino in den Spielklub gehen?

Sie erreichte ihren Wohnblock und fuhr mit dem Lift hoch. Als sie an den Aufenthaltsräumen vorbeikam, sprudelte gerade eine Schar Mädchen heraus, die sie vom Tischtennisspielen kannte; sie warf ihnen einen übermütigen Gruß zu. Als sie den Gang betrat, an dem ihr Kämmerchen lag, summte sie eine Melodie vor sich hin. Sie hielt vor ihrer Tür und steckte die Marke in den Schlitz daneben. Die Tür rollte auf, und das Lied erstarb in ihrer Kehle.

»Komm ‘rein«, sagte der Mann, der in ihrem Lehnsessel lümmelte. »Und mach die Tür zu. Aber schnell! Setz dich.«

Janet sank auf das Bett nieder.

»Du hältst mich für blöd«, sagte Czerny. »Allein dafür hättest du eine Untersuchung verdient.«

Janet faßte sich. »Was willst du? Ich verstehe nicht.«

Ich hätte es mir denken können, daß es noch nicht vorbei ist, dachte sie. Es fängt erst an.

»Wo ist Eric Frost?«

Das Verhör begann wieder. In Janet regte sich der Trotz.

»Wie soll ich das wissen?«

Czerny musterte sie wie ein schlecht funktionierendes Werkzeug.

»Wo ist Eric Frost?«

Er nahm eine Vase vom Tisch und drehte sie in der Hand.

»Ich weiß es nicht.«

Czerny öffnete die Hand. Die Vase fiel zu Boden und zersprang. Bauchige Scherben wiegten sich. Janet sprang auf, aber Czerny hob den Fuß zu ihrem Magen und drückte sie in ihre sitzende Haltung zurück.

»Jetzt will ich dir mal was sagen, Miststück«, sagte er. »Eric sitzt im Wagen sechsneunzehn sieben fünf sieben eins vierzehn. Vor fünf Minuten ist er in die Nord-Süd-Straße emil zeppelin drei elf acht neun zwei eingebogen – neunzehn Minuten, nachdem ihr euch am Parkplatz Ost der Schuhverteilungszentrale getrennt habt. Du hast das Theater in der Klinik aufgezogen. Du bist eine Verbrecherin.« – »Aber ich –«

»Halt den Mund! Du scheust nicht davor zurück, dem Staat aus persönlichen Motiven Schaden zuzufügen. Du bist eine Verbrecherin.«

Er wischte mit der Hand über die Tischplatte. Seine Stimme wurde leiser.

»Aber du hast unverschämtes Glück. Dir geschieht nichts – wenn du meinem Befehl gehorchst. Ich lasse sogar Frost entkommen. – Du brauchst mich nicht so verwundert anzuglotzen. Du hast dich sicher sehr gefreut, als du gehört hast, daß ich Farmer im Verdacht habe. Nun, Farmer ist in dieser Sache unschuldig. Aber auch er ist ein Anomaler, und er ist viel gescheiter als du. Er hat sich eine Position gesichert, in der ich nicht an ihn heran kann – wenn nichts Eindeutiges gegen ihn vorliegt. Diesmal aber habe ich ihn übertölpelt. Ich habe Indizien anbringen lassen, die ihm das Genick brechen. Aber, hörst du: Eric Frost muß verschwinden. Und du wirst dafür sorgen, daß das schnellstens geschieht.«

»Was soll ich tun?«

»Du hast doch sicher einen Plan. Wo sollte sich Frost verbergen?«

Czerny wartete zwei Sekunden, doch Janet antwortete nicht. »Wahrscheinlich wollte er aufs Meer oder in die Antarktis. Das haben die meisten vor.«

»Gibt es denn viele?« fragte Janet schnell.

»Ja. Zu viele. Also – wo wollte sich Frost verstecken?«

»Auf dem Meer – er wollte von Fischen leben.«

»Siehst du, ich hab’s gewußt. Aber daraus wird nichts. Er kommt hier nicht heraus. Er muß hier verschwinden, hier in der Stadt.«

Er wehrte eine fragende Bewegung Janets ab. »Paß auf! Du kennst doch das Wasserwerk im Industrieviertel?«

Janet nickte. Czerny zog eine Maske aus der Brusttasche seiner schwarzen Bluse.

»Hier hast du eine Erkennungsmarke für Frost. Sie ist auf seinen Fingerabdruck abgestimmt. Du bringst Frost ins Wasserwerk. Im unteren Stockwerk sind in vier Hallen die Verteilungsautomaten untergebracht. In die Südhalle, hinter dem Automaten Siegfried acht, mündet eine Falltür. Sie ist mit dieser Marke zu öffnen.« Er warf sie ihr zu. »Wir haben noch eine andere Sperre, aber morgen abend wird sie geöffnet sein. Das ist ein Zugang zu den unterirdischen Flüssen. Früher rann das Wasser oberirdisch ab. Die Flüsse, Bäche und Seen waren Sammelbecken des Unrats, Brutstätten von Krankheitskeimen und Ungeziefer. Beim Ausbau der Städte wurden sie reguliert und gereinigt, heute liegen sie tief unter den Häusern. Zum Teil sind sie ausgetrocknet, zum Teil enthalten sie noch etwas Wasser.«

»Was soll Eric im Flußbett?« fragte Janet.

»Die alten Wasserwege«, fuhr Czerny unbeirrt fort, »bilden ein unterirdisches Labyrinth, das niemand genau kennt. Es hatte keinen Sinn, sich damit zu beschäftigen, und so haben wir es abgemauert. Es gibt nur ganz wenige offizielle Zugänge.«

»Aber was soll Eric dort?« rief Janet.

»Das ist mir gleich«, antwortete Czerny. »Er muß verschwinden. Das ist die einzige Möglichkeit dazu. Und auf dich darf kein Verdacht fallen. Du mußt deine Arbeit tun, als wäre nichts geschehen.«

Janet dachte nach.

»Du handelst selbst gegen das Gesetz«, sagte sie lauernd.

»Farmer ist gefährlich«, sagte Czerny. »Wenn ich ihn unschädlich mache, diene ich dem Staat. Wie ich das zuwege bringe, ist meine eigene Sache.«

»Ich könnte dich anzeigen.«

»Das würde für dich die Lobotomie bedeuten, denn dein Verbrechen läßt sich nachweisen. Wo aber willst du Beweise gegen mich hernehmen?«

»Ich werde mit Eric sprechen.«

»Wann triffst du dich wieder mit ihm?«

Janet zögerte einen Augenblick. Es nützt nichts, etwas Falsches zu sagen, dachte sie.

»Morgen abend«, antwortete sie.

»Dann bringst du ihn morgen abend zum Fluß, und die Sache ist erledigt. Und versäume nicht eine einzige Dienststunde. Das ist ein Befehl. Ich hoffe, du verstehst.«

Jäh erhob er sich und ging zur Tür. Er hielt den Kopf steif emporgereckt, als schmerzte ihm der Hals vom langen Reden. Ohne sich umzudrehen, ging er hinaus.

In dieser Nacht fand Janet keinen Schlaf. Am Morgen hatte sie heftige Kopfschmerzen, doch sie kam pünktlich in der Klinik an. Sie nahm sich die Krankenkartei vor und konzentrierte sich auf die Ergänzungen, die sie eintrug. Die Arbeit lenkte sie ein wenig ab, aber in der Mittagspause standen die Fragen wieder vor ihr. Sie ging in einen Lagerraum und suchte zwei Handscheinwerfer und einige Ersatzbatterien. Sie schrieb sich selbst ein Rezept auf orthopädische Schuhe aus und erhielt darauf statt der Sandalen ein Paar stabile, über die Knöchel reichende Stiefel. In einem Kleidermagazin suchte sie zwei feste Overalls, wie sie die Maschinenprüfer bei der Arbeit trugen. In einem Laden füllte sie zwei Taschen mit verschiedenen, möglichst konzentrierten Eßwaren. In der Kantine steckte sie heimlich zwei Eßbestecke zu sich. Diese Dinge füllten vier Einholbeutel. Statt zu essen, fuhr sie mit einem Elektrowagen zum Wasserwerk und versteckte zwei der Beutel in der menschenleeren Halle hinter einer der Maschinen. Sie suchte auch den Automaten Siegfried acht und entdeckte an der von Czerny beschriebenen Stelle die Tür.

Den Nachmittag verbrachte sie wieder bei ihrer Kartei. Am Abend bemerkte sie, daß sie soviel wie nichts getan hatte. Sie zuckte die Schultern, wie um sich selbst ihre Gleichgültigkeit zu demonstrieren. Nach Dienstschluß hängte sie die zwei restlichen Beutel über die Schulter, fuhr hinunter zur Straße, wählte ein Fahrzeug und traf sich wie vereinbart mit Eric. Er stieg zu ihr um, und sie fuhren wieder los. Sie erzählte ihm alles.

»Ich bin nicht stolz darauf, daß ich recht behalten habe«, sagte Eric. »Es ist am besten, ich stelle mich jetzt.«

Janet hatte auch diese Möglichkeit bedacht und verworfen. »Wenn du das tust, sind wir alle beide verloren. Es bleibt uns keine Wahl. Wir flüchten ins Flußbett.«

»Du hast doch nicht vor, mitzukommen?« fragte Eric.

»Doch, ich komme mit.«

»Weißt du denn, ob man unten überhaupt leben kann?«

»Willst du mir Angst machen?«

»Und wenn ich es nicht zulasse?«

»Dann gehe ich eben allein.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Janet leise: »Eric, bitte, laß mich jetzt nicht allein zurück.«

Der Elektrowagen verlangsamte seine Fahrt und durchlief die Reihe der Fahrbahnen nach rechts. Fahrzeuge, die er eben noch überholt hatte, überholten jetzt ihn. Die Lichtflut einer Garage löste die Dämmerung des Tunnels ab – die Parkhalle Süd des Wasserwerks. Der Wagen hielt.

»Komm«, sagte Eric.

Janet holte tief und lautlos Luft. Sie kamen unangefochten durch die Sperre, stiegen die Treppen hinunter und betraten die Südhalle. Sie war leer wie zu Mittag, die beiden Beutel lagen unangetastet hinter der Maschine, wo sie Janet versteckt hatte. Jeder nahm zwei an sich. Eric führte die Marke in den Schlitz ein. Die Bodenluke öffnete sich wie ein hungriges Maul. Eric ließ den Handscheinwerfer aufflammen. Eine freihängende Leiter führte in die Tiefe. Eric stieg voran, Janet folgte. Unter ihnen gähnte es schwarz. Immer kleiner wurde das helle Quadrat über ihren Köpfen.

»Hier ist der Grund«, sagte Eric.

Janet stieg neben ihm von der Leiter. Eric leuchtete die Umgebung ab. Sie befanden sich in einem gigantischen unterirdischen Kanal, der von einer Betonwölbung überdacht war. Vor ihnen glänzte es matt – ein seichtes Gerinne schlängelte sich über den mit Rollschotter bedeckten Boden. Sie selbst standen auf einer Rampe aus rohbehauenen, aneinander zementierten Steinbrocken. Ein Geräusch ließ sie aufblicken: Es gab kein helles Quadrat mehr, und auch die Leiter war verschwunden.

Eric kletterte über die Böschung hinunter und leuchtete ins Wasser. Er hob die Hand.

»Das ist die Richtung flußabwärts.«

Janet blickte ins Dunkel. »Dort liegt das Meer.«

»Ja, zweihundert Kilometer flußabwärts.« Eric bückte sich und hielt die Finger ins Wasser. »Es scheint sauber zu sein.« Und er fügte hinzu: »Hier gibt es keine Wasserleitung.«

Janet hatte sich auf einen hervorstehenden Felsquader gesetzt.

Hier gibt es keine Wasserleitung, dachte sie. Sie spürte kühle, feuchtigkeitsgesättigte Luft in ihre Kleidung eindringen. Ein leichter Fäulnisgeruch stieg in ihre Nase. Hier gibt es kein Licht, keine Klimaanlage, keine Waschräume, keine Lebensmittelstores, keine Kinos und keine Stereos. Hier gibt es keine Menschen.

Sie irrte sich.

»Schau dir das an!« rief Eric.

Er hockte am Ufer auf einem flachen Hügel von angeschwemmtem Sand. Janet stieg, mühsam ums Gleichgewicht kämpfend, den Abhang hinunter. Da sah sie es auch. »Fußspuren!«

Sie schaltete ihre eigene Lampe ein. Die zwei Lichtkreise tanzten über den Sand. – »Vielleicht sind es deine eigenen?«

»Nein. Schau doch!« Eric wies auf eine abschweifende Fährte. Sie folgten ihr, bis sie sich auf den Steinen des Hanges verlor.

Noch einmal kniete Eric vor einem besonders deutlichen Abdruck nieder. »Er stammt von einem bloßen Fuß.«

Er richtete sich auf. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu erkennen. Unwillkürlich trat Janet näher an ihn heran. Sie spähten und lauschten.

»Es muß hier Menschen geben.«

Ihre Lampen warfen milchige Kegel in den Dunst. Unscharf begrenzte Lichtflecken hasteten über rauhe Mauern, flossen von den Decken herab, hüpften über Löcher, sprangen mit einem Satz in die Leere der Gangfortsetzungen. Nichts bewegte sich, aber plötzlich war etwas Lauerndes da. Oft streifte das Licht grell an unheimlichen Gebilden, die da und dort herumlagen – einem rostigen, auf der Seite liegenden Ölfaß, einem die Räder in die Luft streckenden, halbzerstörten Traktor –, es verlieh den Dingen gespenstisches Leben, sie schienen sich in der Finsternis heimlich zu bewegen und erst im Licht eingefangen zu erstarren. Aber nicht diese Dinge waren es, die eine beklemmende Atmosphäre erzeugten – es war die Anwesenheit von anderen, Verborgenen, Unbekannten, in deren Bereich sie nun eingebrochen waren.

»Czerny hat zugegeben, daß es viele Anomale gibt«, flüsterte Janet.

»Vielleicht konnten sich auch andere retten. Es sind Menschen wie wir. Wir müssen uns mit ihnen verständigen! Wir müssen sie finden!«

Eric schwang die Plastikbeutel über die Schulter.

»Komm, wir brechen auf! Trag die Taschen so wie ich – da wirst du nicht so schnell müde. Wenn wir zum Meer wollen, haben wir einen weiten Weg vor uns. Und lösch deine Lampe. Wir müssen sparen – mit allem.«

Er hob seinen Blick noch einmal an die Decke – der Einstieg blieb hinter Dunstschleiern verborgen.

Sie brachen auf.

Eric wanderte mit der Lampe voran. Er hatte auf halbe Intensität gestellt und beleuchtete den Boden vor seinen Füßen. Nur gelegentlich ließ er den Strahl in die Ferne schweifen.

Es war ein mühevolles Weiterkommen – es gab keinen Weg. Zuerst gingen sie über den Steinboden der Uferanlage, dann aber traten die Wände zusammen, und sie mußten hinunter ins Flußbett. Ihre Füße stapften durch feuchten Sand, in dem sich jede Spur sofort mit Wasser füllte, stolperten über rollende Kiesel, glitten in Lehm und Schlick aus, versanken im Schlamm. Es folgte eine riesige, flache Stelle, in der die Decke so tief herunterreichte, daß sie nur gebückt gehen konnten, es gab kluftartige Passagen, an denen sie durchs Wasser waten mußten, oft teilte sich die Strecke, von den Seiten kamen dünne Wasseradern aus schwarzen Löchern, oft von Schwaden ekelhaften Gestanks begleitet.

Manchmal blieben sie stehen und lauschten: An das Geplätscher des Flußlaufes hatten sie sich gewöhnt – sonst war es still, aber manchmal wehte von irgendwoher plötzlich ein Gurgeln und Röcheln an sie heran, als habe jemand eine versteckte Schleuse aufgetan und ließ nun schleimigen Unrat in das Wasser fließen, und einmal fuhren sie zusammen, denn es ertönte wie Gelächter, doch es hörte ebenso plötzlich auf, wie es begonnen hatte. Und dann erklang ein Ächzen...

Sie waren gerade an einer vielfach gewundenen trockenen Strecke – das Wasser hatte sich einen tiefen Canon gegraben und gluckste in der Tiefe. Sie hielten an, Eric blendete den Strahl des Scheinwerfers auf und leuchtete die vor ihnen liegenden Stellen ab. Wieder ächzte es. Weiter vorn lag etwas zusammengekauert an der Wand – eine menschliche Gestalt.

Es war ein alter Mann, fast schon ein Greis, er hielt die Augen geschlossen, von Zeit zu Zeit lief ein Zucken über seinen Körper, und dann drang das grauenvolle Stöhnen zwischen seinen Lippen hervor.

Sie bückten sich zu ihm nieder – er stank nach verfaultem Fisch und Dreck. Seine Kleidung bestand aus Lumpen, seine Füße waren unbedeckt. Die Hände preßte er auf den Magen.

»Bist du verwundet?« fragte Eric.

Er faßte ihn an der Schulter an und versuchte ihn aufzurichten, doch hielt er plötzlich einen Fetzen brüchigen Stoffes in der Hand.

Die Lippen öffneten sich noch ein wenig, gelbe Zahnstummel kamen zum Vorschein. Die Augen blinzelten unruhig im Licht. Er lallte etwas und deutete auf seinen Magen.

»Leuchte mir«, bat Eric Janet.

Er reichte ihr die Lampe, stellte seine Beutel ab und kniete vor dem Alten nieder. Er griff nach dessen vor den Magen gepreßten Händen.

Und dann geschah einiges zugleich: Eric erhielt einen Stoß, der ihn hintenüber kollern ließ, er sah gerade noch hastige Hände nach einer der Plastiktaschen langen, dann war es finster. Der Alte hatte Janet die Lampe aus der Hand geschlagen. Man hörte seine Fußsohlen auf den Geröllen klatschen.

Janet drehte ihr Licht auf. Eric rappelte sich zusammen. Er hob seine Lampe vom Boden und drückte den Knopf nieder – ohne Ergebnis, irgend etwas war beschädigt. Er riß die Lampe aus Janets Hand und setzte dem Flüchtenden nach.

»Laß mich im Dunkeln nicht allein«, rief Janet.

Sie belud sich mit den drei übrigen Vorratsbeuteln und lief stolpernd hinterdrein. Eric erwartete sie an der nächsten Biegung.

»Nichts mehr zu sehen. Komm, vielleicht holen wir ihn noch ein!«

Er nahm ihr zwei der Beutel ab und eilte vorwärts.

Es ging um einige Biegungen, dann fiel der Boden steil ab, der Raum verbreiterte sich, das Wasser rann wieder an der Oberfläche ab.

Eric packte Janet jäh am Arm. »Hörst du nichts?«

Jetzt war es deutlich. Schottergestein rasselte hell, verhaltene Rufe erschollen, etwas schlug und hallte... Es ging vorüber wie ein Spuk. Leises Schleifen auf den Steinen... dann Stille.

Eric ging wieder vor, vorsichtig schaute er um den Knick, ließ den Schein in einen Raum mit mehreren einmündenden Gängen fallen – am Boden bewegte sich eine Gestalt – der Greis richtete sich auf, humpelte davon...

Eric setzte ihm nach und hatte ihn nach einigen Sekunden eingeholt. Er riß ihn herum – ein zerfaltetes, blutiges Gesicht glotzte ihn an, ein geifernder Mund spie Schimpfworte aus, eine zittrige Greisenhand schlug wirkungslos auf ihn ein. Er versuchte ihn festzuhalten, sagte einige beruhigende Worte, doch der Alte wand sich und zappelte, ließ sich zu Boden fallen und trat mit den Füßen nach ihm. Ratlos trat Eric von ihm zurück – auf allen vieren kroch der Greis davon. Eric fühlte etwas Feuchtes auf seiner Hand – sie war an das Gesicht des Alten gekommen: Es war Hefebrei mit Spuren von Blut.

Eric wandte sich zu Janet. Sie zeigte auf den Boden. Der Sand war zerwühlt, darauf lagen ihr in Fetzen gerissener Plastikbeutel und eine offene halbleere Dose. Hefebrei quoll heraus.

»Er wurde überfallen«, sagte Eric. »Noch während des Handgemenges muß er versucht haben, möglichst viel von dem Hefebrei in sich hineinzuschlingen.«

Janet hatte die Augen vor Schreck weit aufgerissen, sie glänzten matt aus dem Schatten heraus.

»Was sollen wir tun?«

»Zum Umkehren ist es zu spät. Wir gehen weiter.«

Vor ihnen lag die Dunkelheit, und sie gingen in sie hinein.

Als die Leuchtscheibe von Erics Armbanduhr die Ziffern 2200 zeigte, steuerte Eric auf einen nischenartigen Raum zu und ließ seine Bündel zu Boden sinken.

»Hier übernachten wir.«

Er riß die Folie von einem Packen Zwiebackscheiben und ließ aus einer Tube Tomatenmark darauffließen. Er öffnete eine Dose eingelegter Feigen und eine andere mit Mandelmilch.

»Iß«, forderte er Janet auf.

»Sollten wir nicht sparsamer sein?« fragte sie.

»Iß«, sagte er noch einmal, und als sie ihm gehorchte, griff auch er zu. Dann rollte er die beiden von Janet mitgebrachten Overalls auseinander, einen breitete er am Boden aus, den anderen hielt er ihr entgegen.

»Zieh das an! Und dann leg dich schlafen!«

»Und du?« fragte sie.

»Ich bleibe noch etwas wach«, erwiderte er.

Als sie dann still lag, löschte er das Licht. Er konzentrierte sich auf die Geräusche, aber außer dem eintönigen Geplätscher hörte er nichts. Dafür trat ein unbestimmtes Leuchten aus der Schwärze heraus und wurde deutlicher, je mehr sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten – graudämmrige Streifen, die die ewige Nacht durchbrachen. Er ließ das Licht wieder aufblinken und trat an eine jener Stellen heran. Augenblicklich versiegte das Leuchten, statt dessen lagen feuchte, tropfenbesetzte Felder von farblosen Algen auf dem Stein. Eric stieg zum Flußrand hinab. Halb im Wasser hatte er dunkle Striche bemerkt, verbogene Aluminiumstangen. Er hob eine auf und ließ sie durch die Luft pfeifen. Dann ging er zu Janet zurück und setzte sich an die Wand.

Janet hatte sich auf die Steine gerollt und die Augen geschlossen. Aber trotz ihrer Müdigkeit fiel es ihr schwer, Ruhe zu finden. Sie hatte die sicheren Schritte Erics gehört und ihn durch die Lider blinzelnd beobachtet. Er ließ sich dicht bei ihr nieder, im Dunkeln ahnte sie seine Nähe, und sie rückte leise noch ein wenig an ihn heran, bis ihre Hand seine Ellbogen berührte. So fühlte sie sich dem Dunkel nicht so schutzlos preisgegeben. Sie döste ein wenig, doch dann flutete wieder Furcht in ihr hoch – Furcht vor der fremden Welt um sie herum, Furcht vor den unheimlichen Bewohnern dieser Verliese, Furcht vor dem, was ihr bevorstand. Endlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf, in dem die Träume das Wacherleben verzerrten, das Schreckenerregende noch erregender, das Erhoffte noch erhoffenswerter machten. Sie erwachte oft, feuchte Kälte kroch vom Boden her zu ihr hoch, eine Haut von Frösteln spannte sich um ihre eigene, von innen durchwärmte. Sie horchte auf die leisen Atemzüge Erics, plötzlich durchpulste sie ein eigenartiges, noch nie erlebtes Gefühl von Verlangen, Erwartung und Angst. Sie sehnte sich nach einer leisen Zärtlichkeit, ohne daß sich ihre Wünsche zu konkreten Vorstellungen verdichteten, und seltsamerweise war sie sich bewußt, daß sie im Moment über jede zu ihr gerichtete Bewegung Erics tödlich erschrocken wäre. So schirmte sie ein zerbrechlicher Panzer aus Traum und Wachtraum, Einbildung, Wissen und Ungewißheit vor der Drohung der Nacht.

Eric wachte, aber auch er ertappte sich beim Träumen, als er auf ein Geräusch aufmerksam wurde. Er hob die Handlampe und durchstach das Schwarz mit ihrem hellen Strahl. An einem Sandhaufen im trockenen Teil des Flußbetts bemerkte er Bewegung, die kein Trugbild war. Dort hockte ein Mann, der sich langsam hinter den Hügel zurückzog. Eric ließ den Lichtschein am Boden entlanggleiten – da saß noch eine Gestalt, grau und plump, wie aus Erde geformt, und dort löste sich jemand von der Wand und tauchte in der Finsternis unter.

Eric tastete nach Janets Arm. Er rüttelte ihn. Janet war sofort wach, ihr Herz klopfte ungestüm.

»Da sind sie«, flüsterte Eric.

Janet schaute angestrengt in die Schwärze und glaubte, tausend phosphoreszierende Augenpaare zu erkennen. Sie erinnerte sich an einen Film; wie die Wölfe, dachte sie.

Eric ließ mit der Linken den Scheinwerfer kreisen, seine Rechte umfaßte die Metallstange. Jetzt war es schon ein Dutzend ausgemergelter Gestalten, die ringsumher lungerten.

»Was wollt ihr?« rief Eric.

Niemand antwortete, doch der Kreis schloß sich zusehends.

Und dann fuhr von hinten ein brennendes Bündel vor Erics Beine, und es ging los. Einer schnellte vor und griff nach dem auf dem Boden liegenden Anzug... Eric schlug mit seiner Stange zu.

Ein anderer sprang von der Seite her an die Plastikbeutel heran, und bevor Eric etwas dagegen tun konnte, blinkte ein Messer vor ihm, gegen das er sich wehren mußte. Fünf, sechs Menschen stürmten auf ihn ein, auch zwei Frauen waren dabei, sie umklammerten seine Arme und Beine, legten sich wie klebriges Gewürm auf ihn – er schüttelte sie ab, er spürte ihre Schwäche, seine Überlegenheit, er trat um sich... Aber er konnte nicht schnell genug an allen Seiten sein, zwei Plastikbeutel waren verschwunden, ein Anzug fehlte, Janet saß mit dem zweiten Overall und mit den letzten Vorräten an der Wand und hielt sie krampfhaft fest, während magere Finger daran zerrten. Eric kämpfte sich zu ihr hin, der Widerstand wurde schwächer, vor ihm balgte sich ein Rudel um einen aufgerissenen Plastikbeutel, einige Schatten hetzten hinter einem her, der mit dem erbeuteten Overall davonlief. Eric sprang in den Tumult der Streitenden und riß den Sack an sich, rücksichtslos ließ er seine Waffe auf die Körper hinunterfallen, doch aus den Tiefen des Ganges kam Verstärkung, wieder hing ein halbes Dutzend von Räubern an ihm wie Kletten, und er schleuderte sie von sich, und wieder löste sich das Durcheinander in einzelne um Dosen, Schachteln und Flaschen streitende Gruppen auf.

Dann aber legte sich der Aufruhr wie von Geisterhand berührt. Einige Hände rafften noch verstreute Gegenstände zusammen, man hörte das Getrappel von Füßen und dann nichts mehr. Noch immer schlugen Flammen aus dem brennenden Bündel.

Janet lief zu Eric hinüber und hielt sich an seinem Arm fest.

»Es ist noch jemand da!« flüsterte sie.

»Meine Lampe ist verschwunden«, flüsterte er zurück.

»Hörst du nichts?«

»Nein.«

»Ich höre etwas...«

Sie lauschten.

Vor ihnen zuckte ein Flämmchen, und dann loderte es – eine Fackel, dahinter vier Männer.

»Sieh mal einer an – zwei Neulinge.« Die Stimme kam von der Seite – dort stand ein fünfter Mann. Er war klein, hatte pechschwarzes Haar und trug, soweit man es erkennen konnte, saubere Kleidung. Er hielt etwas in der Hand. »Ah, ein Mädchen, eine süße Blonde. Seht nach, was sie uns mitgebracht haben!«

Die vier kamen auf sie zu. Eric bückte sich nach der Stange.

»Halt, Bürschchen!« rief der Kleine. »Wirf die Stange fort! Na, wird’s bald!«

Eric gehorchte nicht. Der Anführer wandte sich an die Männer.

»He, Jungs, bleibt stehen. Der ist verrückt.« Er drehte sich zu Eric um. »Hast du nicht gehört, du komische Figur? Kannst du nicht sehen? Weißt du nicht, was das ist? Soll ich es dir erst zeigen?«

Er hob ein Ding, das er in der Hand hielt, hoch. »Das ist ein Revolver, Bürschchen. Weißt du, was man damit macht? Laß die Stange fallen, sonst knallt’s! Heb die Hände hoch!«

Eric kannte solche Waffen aus den Kinos, aber er war sich nicht recht im klaren über ihre Wirkungsweise. Er zögerte.

»Also gut!« sagte der Kleine und schoß. Eric spürte einen Schlag auf der rechten Brustseite. Die Stange entfiel seinen kraftlosen Fingern. Die Knie wurden weich und gaben nach. Er sank in sich zusammen.

»Also, was gibt es für uns?« fragte der Kleine.

»Konserven«, sagte der eine. »Mandelmilch, Zwieback, Zucker.«

»Schuhe, Chef«, sagte der zweite. »Feine Schuhe.«

»Die Anzüge sind prima Qualität«, sagte der dritte.

»Einen Scheinwerfer – leider kaputt«, sagte der vierte.

»Legt die Sachen auf einen Haufen. Und zieht ihnen die Klamotten aus.« Er blieb mit erhobener Waffe abseits stehen.

Gierige Hände faßten nach Janets Kleidern. Sie stieß nach einer tastenden Hand, doch eine andere riß ihren Kopf an den Haaren hinunter. Sie spürte Hände an ihren Schuhen und am Gürtel ihrer Kombination. Wie eine wildgewordene Katze wand sie sich aus den Griffen, sie kratzte und biß, ein Arm wurde ihr auf den Rücken gedreht.

»Vorwärts, Jungs«, hörte sie die Stimme des Anführers, »die Kleine ist für euch!«

Blitzschnell war sie wieder auf den Beinen und rammte einem der Gegner den Kopf in den Bauch. Sie spürte einen Schlag im Genick, und der Kampf war zu Ende. Alle ihre Muskeln wurden weich, sie sah einen roten Himmel lodern, hörte ein grölendes Lachen, und dann war nichts mehr in ihr als Betäubung und Schmerz.

Janet erwachte von einem leisen Ziehen an ihrem Haar. Sie konnte sich weder bewegen noch ihre Augen öffnen, aber sie spürte etwas Weiches an ihrem Kopf krabbeln, und ihre aufgereizte Phantasie malte ihr in den buntesten Farben ekelhafte Greuelwesen aus. Es atmete und schnupperte in der Nähe ihres Ohrs und zog in ihrem Haar. Wehrlos litt sie Höllenqualen.

Eric fiel ihr ein. Sie wollte schreien, aber ihre Stimmbänder versagten. So rief sie nur im Gedanken nach ihm.

Dann hörte sie Schritte und einen Ruf, etwas huschte von ihr weg, und etwas Großes, Beruhigendes näherte sich, sie spürte Hände auf ihren Schultern und Lippen auf ihrem Gesicht, sie konnte sich wieder bewegen und die Augen öffnen, aber sie bewegte sich nicht und sie öffnete auch die Augen nicht. Sie lag eingebettet in einem Gefühl von Verzweiflung, Trauer und Ratlosigkeit, sie hatte noch nie genug gelitten, um zu weinen, und sich nicht genug gefreut, aber jetzt weinte sie, und sie fragte nicht, ob es Freude oder Leid war, das an ihre Tränen rührte, oder beides – zu einem verschmolzen.

Dann war die Woge des Wohlwollens verströmt – es wurde still um sie. Jetzt machte sie die Augen auf. Zuerst sah sie nichts, erst allmählich wuchsen die Gegenstände empor, getragen von dem sanften Schimmer, der von den Wänden rann, und sie sah Eric neben sich am Boden liegen, und sie spürte etwas Feuchtes an ihrer Seite. Sie tastete danach, fühlte die Rippen und den verschorften Rand der Wunde. Leise schrie sie auf. Sie war wieder ganz wach. Sie zitterte vor Kälte. Ihre Kleider waren gestohlen. Um sie herum verstreut lagen einige Lumpen, die die Räuber achtlos fortgeworfen hatten. Sie klaubte sie zusammen, suchte ein paar für sich heraus und zog sich an. Das größte Stück riß sie der Länge nach in Streifen. Sie war Ärztin. Sie konnte es beurteilen: Die Wunde war nicht allzu schlimm. Eric hatte Glück gehabt, die Kugel war an einer Rippe abgeprallt; neben dem verschorften Loch war sie noch zu fühlen. Aber Janet hatte kein Reinigungsmittel, kein Verbandszeug, keine Instrumente – nicht einmal Licht. Sie legte ihren Mund an die Wundöffnung und leckte Blut und Schmutz weg. Dann zog sie die Haut mit dem Projektil in einer Falte von Erics Körper weg und quetschte es mit den Fingern zum Einschußkanal heraus. Eric bäumte sich vor Schmerz auf und stöhnte. Sie drückte ihn mit dem Knie hinunter und sog die Wunde noch einmal aus. Dann lief sie zum Wasser, wusch einen Plastikfetzen, wrang ihn aus, feuchtete ihn mit Speichel an, legte ihn auf die Wunde und band die Stoffstreifen darüber. Hierauf zog sie Eric, so gut es ging, die übrigen Lumpen über. Völlig erschöpft ließ sie sich zu Boden sinken.

Wieder rührte sich etwas, wieder schlich es sich heran. Es trieb sie aufzuspringen und zu schreien, aber ihre Selbstbeherrschung siegte. Sie drehte sich nur ein wenig herum, um in die Richtung blicken zu können, aus der sich die Geräusche näherten. Ein Schatten hockte auf dem Boden, trippelte einige Schritte näher, wartete, kam noch näher, ganz nah... Wieder zupfte es sanft an ihrem Haar.

Hart packte sie zu. Sie hielt etwas Zappelndes in den Armen, etwa Klapperdürres, Wieselflinkes, sich schwächlich Wehrendes – ein Kind, ein Mädchen mit langem, wirrem, strähnigem Haar, der Größe nach vielleicht zehn Jahre alt, dem Gewicht nach sechs... Aus seinen Fingern löste sich etwas, fiel zu Boden, Janet hielt das Mädchen mit der einen Hand fest, mit der anderen tastete sie herum...

Da war es: ihre gläserne Haarspange.

Sie redete dem Kind zu, doch die Furcht verschwand nicht aus seinen alten Augen.

»Ich tu’ dir nichts«, sagte sie. »Halt doch still! Wenn du nicht davonläufst, lasse ich dich los. Versprich mir, daß du nicht davonläufst! Die Spange darfst du behalten. Versprichst du es mir?«

Das Mädchen nickte heftig.

Janet ließ los. Einen Augenblick stand es regungslos, dann hetzte es davon.

»Du brauchst nicht wegzulaufen!« rief Janet.

Die Schritte waren verklungen.

»Ich habe die Spange noch. Willst du sie dir nicht holen?«

Schweigen.

Janet ging einige Schritte vor. »Du brauchst nicht zu mir zurückzukommen«, rief sie. »Schau, ich lege die Spange hier auf diesen Stein. Ich gehe wieder weg von hier. Du kannst sie dir holen.«

Sie drehte sich um und ging zu Eric zurück. Eine Weile rührte sich nichts, dann schnellte es heran, zum Stein mit dem glänzenden Gegenstand und wieder zurück in den Schutz der schwarzen Schatten. – »Wenn du willst, kannst du wiederkommen«, rief Janet.

Sie bückte sich zu Eric und fühlte seinen Puls. Er schlug schwach und langsam, aber regelmäßig. Sie begann seine Stirn zu massieren, knetete dann den Nacken und die Muskeln der Oberarme. Er seufzte, drehte sich im Liegen herum und murmelte etwas, was sie nicht verstand. Sie massierte ihn eifrig weiter. Draußen, unter dem ovalen Bogen des weiterführenden Ganges, erschien eine schmale Gestalt, doch Janet kümmerte sich nicht darum.

Eric schlug die Augen auf. Er griff die massierende Hand Janets und hielt sie fest, als müsse er sich davon überzeugen, daß sie aus Fleisch und Blut war. Da bemerkte er eine Bewegung im Gewölbe und versuchte, sich aufzurichten, doch sank er mit einem Ächzen wieder zur Erde.

»Alles in Ordnung, Eric«, beruhigte sie ihn. »Es ist nur ein Kind.« – Sie schaute nicht zur Seite.

»Du kannst herkommen, wenn du magst«, sagte sie. »Ich habe nichts mehr, was ich dir geben könnte, aber, wenn du willst, darfst du bei uns bleiben.«

»Warum tust du das?« fragte Eric.

»Sie kennt sich hier aus. Vielleicht können wir sie zum Reden bringen.«

»Denkst du noch an das Meer, Janet?«

»Ja«, sagte Janet. »Ja.«

»Hast du keine Angst?«

»Wovor? Wir haben nichts mehr, was man uns nehmen könnte.«

»Wie lange werden wir es hier aushalten können?«

Nicht lange, dachte sie, ich halte es hier nicht lange aus: selbst mit dir nicht, Eric. Aber sie sagte es nicht.

Das Mädchen war bis auf zwei Meter herangekommen. Es hockte im Sand und lauschte. Das Haar hatte es mit der Spange im Nacken befestigt.

»Wie heißt du?« fragte Janet. Und nach einer Pause: »Kannst du nicht sprechen?«

Das Kind nickte.

»Nun, wie heißt du denn?«

Das Gesicht schaute ihnen als fahler Fleck entgegen.

»Maus«, sagte das Mädchen. »Ich heiße Maus.«

»Bist du schon lange hier, Maus?«

»Schon immer.«

»Hier am Wasser ist es ziemlich unbequem. Weißt du keinen schöneren Platz?«

Das Kind stand auf.

»Komm«, sagte es.

Janet half Eric beim Aufstehen. Er stützte sich schwer auf sie.

Das Kind lief vor ihnen her. Es rannte ein Stück vor, kam zurück, winkte, lief wieder vor, streckte den Kopf witternd hoch, winkte...

Es schien im Dunkeln sehen zu können – als sie die Strecke, in denen es die leuchtenden Algen gab, verließen, nahm es Janet an der Hand und führte sie durch das flüssigdicke Schwarz. Vor ihnen rauschte es, und plötzlich war das Rauschen über ihren Köpfen. Wassernebel sprühte auf sie herab. Dann stießen sie plötzlich auf schmale Stufen aus roh übereinander geschichteten Steinen, warme trockene Luft wehte ihnen entgegen. Der Gang endete an einem siebartigen Gitter, aus dem der heiße Wind kam.

»Hier schlafe ich immer. Niemand kennt diese Stelle – nur ich«, sagte das Kind.

Eine endlos lange Zeit verstrich. Es gab kein Mittel, um festzustellen, wie lange sie währte, außer dem Hunger und der Müdigkeit. Die meiste Zeit verdösten sie, an das wärmespendende Gitter gepreßt, ohne zu sprechen, ohne zu denken. Mit Entsetzen stellte Janet von Zeit zu Zeit fest, wie rasch sie vertierten, aber die Finsternis, die Furcht, die Lebensgier, der Hunger und die Müdigkeit waren stärker und halfen ihr, ihren Ekel vor sich selbst abzutöten. Zuerst wuschen sie sich noch gelegentlich, wobei ihnen das Kind erstaunt zusah, doch dann vergaßen sie es. Ihre Haare wurden strähnig, ihre Zähne gelb, ihre Gesichter grau.

Sie lernten rasch. Sie tranken das Wasser des Flusses. Dem Kind schadete es nicht, aber Janet und Eric wanden sich anfangs stundenlang mit Darmkoliken.

Es gab die Mündungen von Abfallschächten, und wer sie kannte und darauf wartete, bis wieder eine Ladung von oben herunterklatschte, der konnte manches eßbare Stück erbeuten. Das Kind kannte viele. Es gab auch Fische im Fluß, weiß, augenlos und aalartig, man konnte sie zubereiten, aber man brauchte dazu Feuer. Sie sammelten brennbare Abfälle und schütteten sie vor dem Gitter zum Trocknen auf – so gewannen sie Brennstoff. Das Kind wußte nicht, wie man Feuer macht; sie mußten es sich holen. Sie suchten die Verstecke von anderen Gruppen und nahmen brennende Scheite mit – ob man sie ihnen geben wollte oder nicht. Sie merkten, daß sie stärker waren als die anderen, aber bald spürten sie ihre Kräfte schwinden. Gelegentlich lauerten sie anderen auf, überfielen sie und verschafften sich Kleidungsstücke, Messer, Bindfäden, Gefäße – einmal erbeuteten sie sogar eine Schachtel mit fünf Zündhölzern.

Nur vor einem mußten sie sich hüten – vor demjenigen, der den Revolver besaß. Es war nicht mehr der kleine, schwarzhaarige Mann, die Waffe wechselte oft ihren Besitzer. Wenn man sie behalten wollte, durfte man niemand näher als fünf Meter an sich herankommen lassen, man mußte sich stets den Rücken freihalten und durfte nur in sicheren Verstecken schlafen.

»Einmal werde ich den Revolver haben«, sagte das Kind.

An ihr früheres Leben dachte Janet selten. Einige Tage Dunkelheit und Brutalität hatten genügt, es aus ihrem Gedächtnis zu wischen. Nur eines hatte sie sich in ihre neue lichtlose Existenz herübergerettet: ihre Zuneigung zu Eric. Und demgemäß war die Sorge um seine Wunde das einzige, was sie aus ihrer Lethargie weckte. Die Entzündung breitete sich immer weiter aus, der klopfende Schmerz wurde stärker, das Fieber stieg. Sie mußte sich eingestehen, daß er verloren war, wenn er keine ärztliche Hilfe bekam.

»Maus«, sagte Janet, »was geschieht mit Leuten, die krank sind?«

Das Kind dachte nach.

»Sie werden wieder gesund oder sie sterben.«

»Eric ist krank. Willst du, daß er stirbt?«

»Hm.« Maus wiegte den Kopf.

»Oben, in der Stadt, von wo wir gekommen sind, gibt es Mittel, um Kranke gesund zu machen. Ich muß ein solches Mittel besorgen. Denk einmal scharf nach: Hast du je etwas von einem Weg zur Oberfläche gehört?«

Wieder überlegte das Kind. – »Es gibt keinen Weg«, sagte es.

»Es gibt doch Zugänge! In welcher Gegend sind denn Menschen aufgetaucht, die neu hier angekommen sind?«

»Das weiß ich nicht. Aber es nützt dir auch nichts, wenn du es erfährst, denn alle sind über Leitern von der Decke gestiegen. Wie willst du dort hinaufkommen?« – Janet begann zu verzweifeln.

»Hast du nie davon gehört, daß jemand von hier verschwunden ist?«

»Doch – einige sind verschwunden.«

»Weißt du, wo sie zuletzt waren, bevor sie verschwunden sind?«

In dem alten Kindergesicht arbeitete es.

»Gehst du von hier weg, wenn ich es dir sage?« fragte Maus.

»Ja, aber ich komme wieder.«

»Du kommst nicht wieder. Sie lassen dich nicht zurück.«

»Willst du nicht mitkommen?«

»Nein. Oben gibt es Polizei. Und man muß arbeiten. Und immer tun, was andere sagen. Nein, ich will nicht mitkommen.«

Janet seufzte. »Warum soll ich denn bei dir bleiben?«

»Ich allein bin zu schwach. Wenn du bei mir bist, geht es mir besser. Und Eric wird bald sterben.«

»Bist du auch schwach, wenn du den Revolver hast?« fragte Janet.

»Den Revolver?« Die Augen des Mädchens öffneten sich vor Verlangen. »Willst du mir den Revolver geben?«

»Zeigst du mir dann die Stelle, wo die Leute verschwunden sind?«

»Ja.«

»Ich besorge dir den Revolver«, sagte Janet.

Sie erhob sich von ihrem Lagerplatz am Gitter, den sie mit Stoff- und Plastikabfällen weich ausgepolstert hatte. Derzeit besaßen sie keine Fackel, und es war finster, aber sie fand sich zurecht. An der Mauer des Ganges tastete sie sich entlang, die Steintreppe hinunter bis unter ihren Schutzschild, den Wasserfall, der oben einem steilen Gerinne entsprang und eine schmale Kammer an der Wand abschloß. Diesen Raum und das Gangstück dahinter hatte das Kind entdeckt, als es vor einem Jungen davonlief, dem es, während er schlief, die Mütze heruntergerissen hatte.

Unter dem Wasservorhang wartete Janet minutenlang, um sich davon zu überzeugen, daß die Luft rein war. Dann trat sie hinaus. Sie achtete peinlich darauf, daß sie nicht auf weichen Boden trat und Fährten hinterließ, die den Zugang hätten verraten können. Einige Meter flußaufwärts stieg sie ins Wasser und watete zum Wasserfall zurück. Seine Temperatur war gegenüber der Umgebung merklich erwärmt, wenn auch noch immer unangenehm kühl. Aber sie achtete nicht auf die Schauer, die über ihre Haut liefen. Sorgfältig wusch sie sich, besondere Aufmerksamkeit widmete sie dabei ihrem Haar, das verknotet, verfilzt und voll Ungeziefer war. Auf demselben Weg, auf dem sie gekommen war, ging sie dann wieder zurück. Am Gitter, aus dem ununterbrochen die erhitzten Abgase irgendeiner Fabrik bliesen, schmiegte sie sich wieder in ihr Nest. Wie unter einem Fön trockneten die Haare und lockerten sich dabei zu einer seidigen, ihren Nacken streichelnden Masse.

Am schweren Atmen erkannte sie, daß Eric schlief. Was Maus tat, wußte sie nicht – wahrscheinlich beobachtete das Kind sie mit einem aus der Urzeit ererbten und wiedergeweckten Sinn.

»Ich hole den Revolver«, sagte sie. »Bleib hier. Sorge für Eric.«

Das Kind brummte etwas.

Janet entfernte sich wieder. Diesmal ging sie in einen Nebenast des Flusses hinein. Hier mußte einmal ein wichtiger Platz der alten Stadt gewesen sein – jener Stadt, in der der Fluß noch in mehreren Kanälen offen zwischen niedrigen Häusern seinen Weg fand. Im Wasser rosteten die Trümmer altmodischer Schiffe, am Kai gab es Ruinen von Krananlagen, Rohrleitungen, Geleisen, Baracken. Die Gerippe von Draisinen, Lastwagen, Schleppern und Hubschraubern lagen über die Betonebene verstreut. Überall klirrten Scherben aus Silikatglas unter den Schritten. Es war eine Wüste aus Stein und Metall, alles Brenn- oder sonst irgendwie Brauchbare war längst davongeschleppt, demoliert, zerstört. Dazwischen ragten wie in regelmäßigen Reihen angepflanzt, massige Stützpfeiler zur Decke empor. Hier war das Reich des gegenwärtigen Beherrschers der Unterwelt: des Revolverbesitzers.

Janet fand ihn mit seinen Leuten an einem Bahndamm sitzen. Seine Anhänger, drei Männer und eine Frau, unterhielten ein mächtiges, schwelendes Feuer. Darüber blähte sich eine schmutziggelbe Rauchfahne. Zehn Meter von ihnen brannte ein kleines Feuer. Daran hockte eine einsame gedrungene Gestalt – der Mann, dem es zuletzt gelungen war, den Revolver an sich zu bringen, und der sich jetzt an der Aufgabe verzehrte, ihn zu behüten. Ohne die Menschen seiner Umgebung aus den Augen zu lassen, wärmte er die Hände an den Flammen.

Janet trat in den Feuerschein. Einer der Versammelten, ein junger Mann, bemerkte sie zuerst und rief etwas. Alle drehten sich herum.

Der Bursche stand auf. »Was willst du hier, Kleine?«

Er kam näher.

»Verschwinde!« keifte die Frau schrill. »Mach dich davon! Wir brauchen niemanden mehr!«

Der Bursche kam langsam näher. Janet stand hochaufgerichtet da. Auf ihrem Haar hüpften rotgoldene Reflexe, ihr Gesicht drückte Stolz und Hochmut aus. Der Gedrungene schaute über die Flammen seines Feuers aufmerksam herüber.

Janet war sich ihrer Erscheinung bewußt. Zwar war sie abgemagert, und wenn sie ihre Finger aufs Gesicht legte, dann spürte sie Falten und Rillen, die vorher nicht dagewesen waren, aber das Flackerlicht verwischte diese Fehler, und sie unterschied sich noch immer von den Weibern, die hier herumstreunten, wie ein Engel von schäbigen, alten Hexen. Den Männern der Stadt fiel eine hübsche Frau unter vielen anderen nicht auf, Männer und Frauen waren gleichberechtigt, ihr Triebleben war gering, vor ihrer vom Staat befohlenen Vermählung kümmerten sie sich nicht umeinander. Aber hier sahen sie manche Männer anders an. Die Gesichter, die sie anstarrten, waren früh gealtert, häßlich, verwüstet, die Blicke, die sie trafen, gierig und gemein, aber es war doch ein Interesse an ihr, das sie noch nicht erfahren hatte, und sie hatte die Macht erkannt, die sie hier ausübte. Und obwohl sie vor diesem Charaktertief zurückschreckte, auf das sie jetzt gesunken war, konnte sie ein Gefühl der Befriedigung, mehr, besser und wertvoller zu sein als die anderen, sie zu übertreffen und spielend auszustechen, nicht unterdrücken.

»Sie soll verschwinden«, rief die Frau am Feuer.

Der Bursche vor Janet tappte nach ihrem Arm.

Inzwischen war aber der Besitzer des Revolvers aufgestanden. »Laß sie!« rief er.

Der Bursche trat zurück und sah sich geduckt um. Die Mündung der Waffe zeigte auf ihn. Knurrend zog er sich zurück.

»Komm her«, rief der Revolvermann.

Janet schritt vorwärts, nicht langsam und nicht schnell, mit zurückgeworfenem Kopf.

»Halt!« Der Revolver schwenkte herum, sein hohles Auge starrte.

Der Kopf des Mannes saß tief zwischen den unförmig breiten Schultern, Brust und Unterleib waren nicht voneinander abgesetzt, sein Körper wirkte wie ein Schrank. Trotzdem war seine Bewegung unerwartet gelenkig, als er sich jetzt bückte und einen stabförmigen Gegenstand ins Feuer stieß. Dann trat er rasch ein paar Schritte zurück.

»Nimm das!« befahl er.

Janet ergriff den aus dem Flammenspiel ragenden Stiel – es war ein Blechrohr, um das mit Fäden ölgetränkte Lumpen gebunden waren.

»Geh vor, dort hinüber!«

Janet erhob ihre Fackel und schlug die angegebene Richtung ein. Der Mann ging seitlich von ihr, in etwa drei Meter Abstand.

»Ihr bleibt da!« schrie er seinen Leuten zu.

Sie standen am Feuer, blickten ihnen böse nach und tuschelten.

An einer hochragenden Steilwand blieb der Breite stehen.

»Rühr dich nicht vom Fleck!«

Er kletterte über einige Mauervorsprünge auf einen hüttengroßen massiven Zementblock.

»Nachkommen!«

Er stand oben wie ein Monument, riesengroß hing hinter ihm sein Schatten an der Mauer.

Janet hatte Mühe, Halt zu finden. Ihr stand nur eine Hand zur Verfügung, mit der anderen mühte sie sich, die Fackel hochzubringen, ohne sich zu versengen.

Sie kam auf eine Plattform, auf der gleich Pilzen einige klobige Eisenpfeiler standen. Der Gedrungene nahm ein quadratmetergroßes, laut schepperndes Stück Eisenblech und ließ es über den Mauerabbruch zur letzten Stufe hinab, locker lehnte er es an die Wand. Er wandte sich zu Janet.

Sie hatte die Fackel zwischen zwei Glieder einer schweren Kette gesteckt und sich auf einen Haufen Zellfaserrollen gesetzt. Ihr Blick war herausfordernd.

Der Mann kam auf sie zu, er ließ sich vor ihr auf die Knie nieder. Seine Augen blickten ausdruckslos, tiefe Säcke hingen darunter. Er hat seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, dachte Janet. Wer den Revolver besitzt, darf nicht mehr richtig schlafen. Sein Gesicht kam auf ihres zu. Am liebsten hätte sie aufgeschrien, aber sie schrie nicht. Er drückte sie hintenüber und küßte sie. Sie bemühte sich, nicht darauf zu achten, aber es gelang ihr nicht. Und dann kam sie darauf, daß sie sich getäuscht hatte: denn sie spürte als ständige Mahnung den Revolververlauf an ihren Rippen.

Kurze Zeit hindurch zitterte die Panik in ihr, aber sofort fing sie sich wieder und konzentrierte sich darauf, ein rettungsverheißendes Anzeichen zu finden.

Sie fühlte die feuchten Lippen des Mannes auf ihren Wangen, er schloß die Augen und vergrub das Gesicht in ihrem Haar.

Wie in einem jäh anlaufenden Film schossen ihr einige Sätze aus ihren Lehrtexten durch den Kopf, einige Assoziationen flimmerten vorbei, der daumenlutschende Säugling, das Rhesusäffchen aus den alten Filmen, die Ersatzmutter aus Wolle und Draht. Zwei Sekunden lang, drei Sekunden lang bewegte sich der Mann nicht, eng an sie geschmiegt – wenn auch die Waffe für keinen Augenblick abglitt.

Janet besaß keine Drogen, die sie normalerweise bei ihrer Arbeit benutzte, keine Präparate und kein Gas. Aber die Bereitschaft des Mannes war da, und die Erschöpfung... Was schadete es? Sie mußte es versuchen.

Sie begann mit leiser, undeutlicher, singender Stimme zu reden, oft keine Worte, sondern nur Laute der Beruhigung und Beschwichtigung.

»Du bist müde... müde... müde, du willst schlafen... Schlafe, schlafe, schlafe, bleib ruhig, nur ruhig, du schläfst, jetzt schläfst du... Schlafe... schlafe...«

Ohne Hebungen und Senkungen leierte ihre Stimme. Der Mann hörte zu, er setzte diesen Verlockungen keinen Widerstand entgegen, vielleicht war er sich auch der Gefahr nicht bewußt.

»... müde, müde, müde... Ganz entspannen, schlafen, schlafen...«

Sie fühlte keine Bewegung mehr. Die Waffe drückte nur noch schwach, aber sie war noch da.

»... tief schlafen, tief, tief, tief schlafen... tief atmen, tief atmen... entspannen... entspannen...«

Die Atemzüge, die heiß an ihr Haar hauchten, waren noch unruhig, aber sie verlangsamten sich...

»... du spürst nichts mehr, du fühlst nichts mehr, du schläfst... du schläfst...«

Sie spürte den leisen Ruck in seinem Körper, der das plötzliche Erschlaffen einer Muskelpartie anzeigt.

»... du spürst nichts... du spürst nichts... du spürst nichts...«

Sein Arm lag kraftlos auf ihrer Hüfte, sie hob ihn auf und ließ ihn fallen... noch einmal... Die Atemzüge blieben tief und gleichmäßig...

»... tief schlafen... tief schlafen...«

Unten klirrte leise ein Stein. Sie lauschte, ohne von ihrem Singsang abzulassen.

»... schlafe... schlafe...«

Wieder regte sich unten etwas. Sie wußte, daß ein im Wachen gegebener Selbstbefehl noch im Traum als Reflex ausgelöst werden kann – und sie wußte auch, daß sie erst ein paar oberflächliche Bewußtseinsschichten ausgeschaltet hatte. Doch sie durfte nicht länger warten...

»... schlafe... schlafe...«

Sie tastete nach der Hand, die den Revolver hielt. Sie umfaßte sie sanft, aber bestimmt und zog sie ebenso bestimmt beiseite...

»... schlafe... schlafe...«

Etwas schlug an der Mauer auf und noch einmal, diesmal am Boden, etwas rollte... Die da unten witterten, daß sich hier ein Wechsel vollzog, und rotteten sich zusammen.

»... schlafe... schlafe...«

Janet hob die Hand mit dem Revolver und ließ los, der Arm sackte wie Gummi herab.

Bereit, jeden Augenblick aufzuspringen, berührte sie den Zeigefinger, der am Abzughebel lag. Unendlich behutsam löste sie ihn, löste auch den Daumen und die übrigen Finger und hielt die Waffe in der Hand. Unter der Brusttasche des schlafenden Mannes sah sie eine Erhebung, sie öffnete den Reißverschluß und holte zwei Magazine mit Patronen und ein Feuerzeug heraus. Auch zwei frische Fackeln, die herumlagen, steckte sie sich ein.

Jetzt prasselte ein Schauer von Steinen um sie, ein Stein traf das Blech, und es fiel mit Getöse von Stufe zu Stufe zur Erde nieder. Janet packte die brennende Fackel und warf sie hinunter. Dunkle Schatten flitzten auseinander.

»Ich habe den Revolver!« rief sie. »Ich schieße auf jeden, der sich blicken läßt!«

Als nichts darauf geschah, zielte sie und drückte ab. Sie hatte nie zuvor eine Schußwaffe in der Hand gehalten, und sie traf niemand – aber es wirkte.

Ein Huschen und Fegen, Gleiten und Schleifen, und der Platz war geräumt.

Janet warf einen letzten Blick auf die Plattform – der Mann schlief und atmete tief. Sie stieg vorsichtig hinunter und wanderte quer durch die Halle, dabei vermied sie es, nahe an die Pfeiler heranzukommen. Sie zog sich in eine Gangmündung zurück und wartete. Dem ersten Verfolger, der sich heranwagte, warf sie einen Schuß entgegen. Als sie sich herumdrehte, um lautlos davonzuschleichen, trennte sich ein Schatten von der Wand.

»Du hast den Revolver«, sagte Maus. »Gib ihn mir.«

»Zuerst dein Versprechen«, sagte Janet.

»Komm mit!« Behende lief Maus in den Gang hinein.

Bald kamen sie in eine Region, die Janet noch nicht kannte.

»Mach Licht«, befahl Maus.

Janet gehorchte.

Zwei Flußläufe vereinigten sich hier und setzten sich in einem breiten Bett fort.

In der Mitte lief eine gehörige Wassermenge in einem betonierten Gerinne.

Janet war stehengeblieben, doch das Kind drängte weiter.

Nach einem Weg von zwei Kilometern, an dem sich die Szenerie nicht veränderte, schwoll ein Rauschen auf, das mächtiger und mächtiger wurde, je weiter sie vordrangen.

»Maus«, fragte Janet, »ist es... das Meer?«

Das Kind lachte glucksend.

»Wirst schon sehen.«

Nach zehn Minuten war der Weg zu Ende.

»Da ist es«, schrie Maus.

Direkt vor ihnen klaffte ein Abgrund, in den sich tosend das Wasser ergoß. Aus dem schleierverwehten Hexenkessel dröhnte es schmerzhaft, es wehte in Stößen herauf, beängstigend und betäubend, es schien sich gegen überstarken Widerstand emporzuringen und sich dabei zu überschlagen, und dann entluden sich die konzentrierten Energien in einem Wirbel von knatternden Explosionen.

»Wir sind da!« schrie Maus. »Gib mir den Revolver!«

Janet kniete am Rand des Abgrundes nieder und leuchtete hinab – der Grund des Schachtes lag in unabsehbarer Tiefe. Ihr Blick suchte. Sie richtete sich enttäuscht auf. Der Raum war leer bis auf ein hoch hinaufgebautes Leiterngerüst an der rechten Wand.

»Wie sind die anderen von hier weitergekommen?« fragte Janet.

»Gib mir den Revolver«, rief das Kind.

»Weißt du es überhaupt?«

»Hier oben habe ich gesessen«, Maus deutete auf das Gerüst, »und ich hab’s gesehen. Ich sag’ es dir – aber zuerst gib mir den Revolver.«

Janet reichte dem Mädchen die Waffe. Die schmale Kinderhand umspannte sie kaum, aber sie hielt sie ruhig und fest. Der Lauf wies auf Janet.

»Laß die Dummheiten«, schrie Janet. »Wie geht es von hier weiter?«

»Hier hinunter!« Das Kind deutete zum Abgrund. »Hier geht es hinunter.«

»Aber wie?« Janet wollte näher kommen, aber ein Wink mit der Waffe verbot es ihr.

»Springen«, rief Maus. »Sie sind hinuntergesprungen.« Sie schüttelte sich vor Lachen. »Du mußt hinunterspringen! Spring doch! Spring!«

»Gib mir den Revolver zurück!« schrie Janet durch das Dröhnen.

»Spring doch!« schrie das Kind. »Ich brauche dich nicht mehr! Ich habe den Revolver, ich brauche dich nicht mehr.«

Es tänzelte einige kleine Schritte rückwärts, dann drehte es sich um und rannte davon. Seine Schreie übertönen noch eine Weile den Donner aus der Tiefe, der zwischen den Wänden hin und her rollte.

Janet stand stumm an der Stufe. Das ist der Weg zum Meer, dachte sie und ertappte sich dabei, wie sie bitter auflachte. Ein unbändiger Wunsch, sich hier hinunterzustürzen, irrlichterte in ihrem Gehirn. Der Kessel schien sie anzuziehen. Mühsam gewann sie die Herrschaft über sich selbst zurück.

Sie drehte die Feuerkrone ihrer Fackel erdwärts und ließ die Flammen am fettgetränkten Stoff lecken, bis er hell loderte. Dann riß sie einen brennenden Fetzen herunter und warf ihn in den Schacht. Es flatterte, zog einen Funkenschweif nach sich, sprang irgendwo auf und regnete in mehreren Stücken weiter – Lichtpunkte, die alsbald in das Nichts tauchten. Die Augen Janets blickten seltsam dunkel. Sie zog ihre Bluse über den Kopf, rollte sie zusammen, knüpfte einen Ärmel um die brennende Fackel und stieß das ganze Bündel hinab. Wieder starrte sie fasziniert in das Unergründliche, bis der letzte Funken erstarb. Es war völlig finster. Da trat sie ganz nah an die Stufe heran, holte tief Atem und sprang. Der Luftschlauch schoß mit Zischen hoch, sie hatte das Gefühl, im leeren Raum zu schweben... dann berührte sie etwas.

Fäden führten kreuz und quer, ein Draht lief über eine Rolle, ein Relais schnellte hart herab. Energie ergoß sich aus einer Batterie, Ströme wanderten durch Spulen, ein Magnetfeld richtete sich auf, zwei Widerhaken rafften ein Geflecht zusammen, zwei Stangen schoben sich zueinander. Ein grauer Klumpen baumelte stumm. Eine Klingel schrillte, Türen flogen, Schritte trabten. Ein Körper rollte in einen Behälter, ein Seil trug ihn dreihundertsiebzig Meter empor, ein Bodenstück hob sich, eine Gestalt kollerte in eine schaumgummigepolsterte flache Wanne, Hände massierten. Vier Männer in weißen Anzügen beobachteten amüsiert.

»Du hast rasch zurückgefunden«, sagte Czerny. »Eigentlich hättest du es länger verdient. Die meisten brauchen länger, bevor sie sich hinabstürzen. Einige brauchen ein Leben lang.«

»Farmer«, flüsterte Janet. – »Gewiß, Farmer ist auch hier«, bestätigte Czerny. »Die Geschichte über Farmer war natürlich Schwindel. Dein Fehler, daß du sie geglaubt hast.«

»Aber warum –«

»Wir strafen nicht mehr«, sagte Farmer, »obwohl viele Strafe verdienen. Wenn sich aber jemand selbst strafen will...« Er zuckte die Schultern. »Alle, die untertauchen, tun es freiwillig.«

»Hast du gut beobachtet, Trombe?« fragte Bell. »Das sind sie, die freien Menschen. Das ist die Freiheit. So sieht das Leben in Freiheit aus. Der Kampf ums Dasein. Die natürliche Auslese. Schau dich an!«

Er hielt ihr einen Spiegel vor. Janet blickte in ein abgezehrtes, verkniffenes Gesicht, das sie nicht kannte, das Haar klebte feucht am Schädel, ein zerfetztes Männerhemd war an ihrem Hals mit einer Schnur befestigt, die durch die Löcher im Stoff gefädelt war. Sie wandte den Blick zu Boden.

»Ich wünsche«, sagte Bell, »alle Psychologen könnten das sehen, was du gesehen hast. Es wäre der beste Anschauungsunterricht.«

»Und alle romantischen Schwärmer«, fügte Farmer hinzu, »die von der abenteuerlichen Vergangenheit ohne Gesetze träumen.«

»Alle Verbrecher sollten es mitmachen«, fiel Czerny ein, »damit sie vor der Lobotomie noch einsehen, wohin das führt, was sie tun.«

»Man sollte es nicht dem Zufall überlassen«, sagte Farmer. »Man sollte es gesetzlich verankern – nicht als Strafe: als Belehrung! Ich werde bei der nächsten Versammlung einen Antrag stellen.«

»Was machen wir mit Trombe?« fragte Bell.

»Sie soll sich entscheiden«, antwortete Farmer.

Bell hob die Hand und gab Graudenz ein Zeichen. »Frage sie!«

Graudenz trat dicht vor Janet. Er begann zu sprechen.

»Du bist zurückgekehrt. Du bist wieder in der Klinik. Eric Frost liegt unten, in irgendeinem Gang im Flußsystem. Du weißt, was du begangen hast – du hast die Gesetze gebrochen. Du hast dich gegen den Staat aufgelehnt. Du hast Eric befreit. Dann hast du noch einen Befehl mißachtet, Czernys Befehl: Du bist mit Eric ins Flußnetz geflüchtet. Aber der Beginn deiner Verfehlungen liegt noch weiter zurück – und dadurch hast du dich verraten: Du hast die Testergebnisse Erics gut ausgehen lassen – obwohl du gewußt hast, daß das verboten ist. Jetzt bist du wieder an deinem Arbeitsplatz. Wir sind bereit, zu vergessen. Willst du deiner Arbeit wieder nachgehen?«

»Eric...«, flüsterte Janet. Sie hatte die Augen geschlossen.

»Eric darfst du nicht wiedersehen. Du mußt ihn vergessen.«

»Nein«, flüsterte Janet.

»Eric ist ein Verbrecher. Er ist unheilbar. Ihm hilft nur die Lobotomie. Du hast noch eine Chance. Du kannst alles wieder rückgängig machen. Bedauerst du das, was du getan hast?«

»Nein«, flüsterte Janet.

»Hast du es dir gut überlegt? Bist auch du nicht normal? Dann bliebe auch für dich nur die Lobotomie!«

»Nein«, flüsterte Janet. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen.

»Du kannst Eric nicht mehr helfen. Wenn er mit dem Leben davonkommt, bleibt er unten – dort gehört er hin –, bis er sich in den Schacht stürzt, und dann blüht ihm die Lobotomie. Vergiß ihn!«

Janet antwortete nicht.

»Willst du wirklich zurück in die Unterwelt? Sollen wir dich hinunterbringen? Wir kennen genug Zugänge. Wir haben Fenster, durch die wir beobachten. Aber wir greifen nicht in das ein, was unten geschieht. Bis dorthin reicht das Gesetz nicht. Sollen wir dich zurückbringen? Dann kommst du niemals zur Erdoberfläche zurück. Sollen wir dich wirklich zurückbringen?«

»Ja«, sagte Janet und öffnete die Augen.

Sie sah gerade vor sich hin. Es kam ihr vor, als sei inzwischen ein Dunst verronnen, der im Zimmer gelegen hatte, sie erfaßte alles mit erhöhter Deutlichkeit, sie bemerkte eine Unmenge Einzelheiten, die vorher gefehlt hatten. Sie sah die gesprenkelten Pupillen der Augen von Graudenz, den bis oben geschlossenen Reißverschluß von Czernys Anzug, Farmers Notizbuch, das aus der Seitentasche hervorsah, und Bells vor dem Bauch gefaltete Hände...

... sie sah diese Hände...

Ihr Gesicht verzerrte sich. Sie riß die Augen weit auf.

Noch immer starrte sie Bells Hände an... Die Finger waren vollzählig, keiner fehlte...

Janet sprang auf, stieß Graudenz zurück, Czerny packte zu, von der anderen Seite Farmer, Bell rief nach Pflegepersonal. Durch die offene Tür rannten drei Männer, griffen ins Handgemenge ein und schleppten Janet schließlich hinaus.

»Ich will nicht«, schrie sie. »Ich will nicht... Es war alles nicht wahr! Alles war Lüge! Alles Lüge.«

Sie schluchzte und schrie dann wieder: »Ihr habt mich unterm Netz gehabt! Ich will nicht, ich will nicht...«

Dann glitt eine Tür zu, und ihr Schreien war nicht mehr zu hören.

Am nächsten Morgen schon wurde die Lobotomie an ihr vollzogen – zwei Tage später als an Eric.

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