MAUREEN UND AVERY

1

Luke versank in einen mit unangenehmen Traumfragmenten durchsetzten Schlaf und wachte erst auf, als das Dingdong das Abendessen ankündigte. Er war froh, es zu hören. Nicky hatte unrecht gehabt, er wollte durchaus etwas essen, und außerdem war er hungrig nach Gesellschaft. Dennoch blieb er auf dem Weg durch den Aufenthaltsraum stehen, um sich zu vergewissern, dass die anderen ihn nicht verarscht hatten. Das hatten sie nicht. Neben dem Snackautomaten stand ein gut bestückter Zigarettenautomat. Das Leuchtbild oben zeigte ein schick gekleidetes Paar, das lachend und rauchend auf einem Balkon stand. Daneben stand ein weiterer Automat mit alkoholischen Getränken in kleinen Flaschen – die alkoholgeneigten Kids an Lukes Schule hätten sie als »Flugzeugportionen« bezeichnet. Eine Packung Zigaretten bekam man für acht Münzen, ein Fläschchen Leroux Blackberry Wine für fünf. Auf der anderen Seite des Raums stand eine knallrote Coca-Cola-Kühltruhe.

Jemand packte Luke von hinten und hob ihn hoch. Als er erschreckt aufschrie, hörte er die lachende Stimme von Nicky in seinem Ohr.

»Zehn kleine Zappelmänner zappeln hin und her, zehn kleinen Zappelmännern fällt das gar nicht schwer.«

»Lass mich runter!«

Stattdessen schwenkte Nicky ihn hin und her. »Ein kleiner Zappel-Lukey zappelt auf und nieder, ein kleiner Zappel-Lukey tut das immer wieder!«

Er setzte Luke ab, wirbelte ihn herum, hob die Hände und begann im Takt der aus den Deckenlautsprechern dudelnden Fahrstuhlmusik zu tanzen. Kalisha und Iris, die hinter ihm standen, betrachteten das Ganze mit derselben vielsagenden Miene: Jungs halt!

»Na, wie wär’s mit einem kleinen Ringkampf, Lukey? Mal sehen, wie du auf und nieder zappelst!«

»Steck mir die Nase in den Hintern, dann kannst du nach Luft ringen«, sagte Luke und musste lachen. Egal ob Nicky in guter oder schlechter Stimmung war, auf jeden Fall war er lebendig.

»Guter Spruch«, sagte George und drängte sich zwischen die beiden Mädchen. »Den merke ich mir für später.«

»Denk dran, dass ich das Copyright hab«, sagte Luke.

Nicky hörte auf zu tanzen. »Mensch, hab ich ein Loch im Bauch! Los, setzen wir uns hin.«

Luke hob den Deckel der Cola-Truhe. »Limo gibt es umsonst, seh ich das richtig? Man zahlt bloß für Alkohol, Kippen und Snacks.«

»Das siehst du völlig richtig«, sagte Kalisha.

»Und, äh…« Er deutete auf den Snackautomaten. Die meisten Süßigkeiten gab es für eine einzelne Münze, aber für die, auf die er zeigte, brauchte man sechs. »Ist das etwa…«

»Du willst wissen, ob High Boy Brownies das sind, was du denkst?«, sagte Iris. »Ich hab sie zwar noch nie probiert, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du richtig liegst.«

»Korrekt«, sagte George. »Bei mir haben sie jedenfalls gewirkt, mir aber außerdem einen Ausschlag beschert. Ich bin offenbar allergisch dagegen. Aber jetzt auf zum Essen!«

Sie setzten sich an denselben Tisch wie mittags. Anstelle von NORMA wurden sie von SHERRY bedient. Luke bestellte sich Hacksteak mit panierten Champignons und Salat, außerdem etwas, was sich als Vanillecreme-Brület ausgab. In diesem finsteren Wunderland gab es zwar offenbar ein paar intelligente Leute – auf jeden Fall war ihm Mrs. Sigsby nicht gerade beschränkt vorgekommen–, aber die Person, von der die Speisekarte erstellt wurde, gehörte wohl nicht dazu. Oder war das intellektueller Snobismus von seiner Seite?

Luke gelangte zu dem Schluss, dass ihm das egal war.

Sie unterhielten sich eine Weile über die jeweilige Schule, die sie besucht hatten, bevor sie aus ihrem normalen Leben gerissen worden waren – ganz gewöhnliche Schulen, soweit Luke das beurteilen konnte, keine speziellen für außergewöhnliche Kinder – und über die Fernsehsendungen und Filme, die sie sich am liebsten ansahen. Alles war gut, bis Iris mit der Hand über ihre sommersprossige Wange strich und Luke merkte, dass sie weinte. Nicht heftig, nur ein bisschen, aber das waren eindeutig Tränen.

»Spritzen haben sie mir heute keine verpasst, aber das verdammte Arschthermo«, sagte sie. Als sie Lukes verwirrte Miene sah, grinste sie, wobei eine weitere Träne an ihrer Wange herabkullerte. »Die messen unsere Temperatur rektal.«

Die anderen nickten. »Keine Ahnung, wieso, aber es ist erniedrigend«, sagte George.

»Außerdem ist es total veraltet«, sagte Kalisha. »Bestimmt haben sie irgendeinen Grund, aber…« Sie hob die Schultern.

»Wer will Kaffee?«, fragte Nick. »Ich hole ihn, wenn ihr…«

»He!«

Das kam von der Tür her. Sie drehten sich um und sahen ein Mädchen in Jeans und einem ärmellosen Top. Ihre kurzen, stachligen Haare waren auf einer Seite grün und auf der anderen bläulich rot gefärbt. Trotz dieser punkigen Erscheinung sah sie aus wie ein Kind aus einer Märchengeschichte, das sich im Wald verirrt hatte. Luke schätzte, dass sie ungefähr in seinem Alter war.

»Wo bin ich? Weiß jemand von euch, was das hier für ein Ort ist?«

»Komm rüber, Sonnenschein!«, sagte Nicky und ließ sein strahlendes Lächeln aufblitzen. »Setz dich zu uns, und probier die Köstlichkeiten, die man uns serviert.«

»Ich bin nicht hungrig«, sagte die Neue. »Sagt mir bloß eins. Wen muss ich allemachen, um hier rauszukommen?«

So lernten sie Helen Simms kennen.

2

Nach dem Essen gingen sie hinaus auf den Spielplatz (Luke vergaß nicht, sich vorher dick mit Mückenmittel einzuschmieren) und klärten Helen auf. Wie sich herausstellte, war sie TK und wie George und Nicky positiv. Was sie bewies, indem sie mehrere Schachfiguren umkippen ließ, die Nicky aufs Brett gestellt hatte.

»Nicht bloß pos, sondern brutal pos«, sagte George. »Lass mich das auch mal versuchen.« Es gelang ihm, einen Bauern umfallen zu lassen, und der schwarze König schaukelte ein bisschen hin und her, aber das war alles. George lehnte sich zurück und blies die Wangen auf. »Okay, du hast gewonnen, Helen.«

»Ich glaub, wir sind alle Verlierer«, sagte sie. »Ziemlich sicher sogar.«

Luke fragte sie, ob sie sich Sorgen um ihre Eltern mache.

»Nicht besonders. Mein Vater ist Alkoholiker. Als ich sechs war, hat meine Mutter sich von ihm scheiden lassen und – wer hätte das gedacht – einen anderen Alkoholiker geheiratet. Offenbar dachte sie, wenn sie solche Typen sowieso nicht loswird, sollte sie lieber mitmachen, denn inzwischen säuft sie auch. Meinen Bruder vermisse ich aber schon. Meint ihr, dem ist was passiert?«

»Ach, bestimmt nicht«, sagte Iris ohne große Überzeugung, dann schlenderte sie zum Trampolin und begann zu hüpfen. Wenn Luke das so bald nach einer Mahlzeit getan hätte, wäre ihm schlecht geworden, aber Iris hatte nicht viel gegessen.

»Also noch mal zum Mitschreiben«, sagte Helen. »Ihr wisst nicht, wieso wir hier sind, außer dass es vielleicht mit gewissen übersinnlichen Fähigkeiten zu tun hat, mit denen man nicht mal die Vorrunde von America’s Got Talent überstehen würde.«

»Wir kämen nicht mal in Little Big Shots«, sagte George.

»Sie machen Tests an uns, bis wir Blitze sehen, aber ihr wisst nicht, weshalb.«

»Korrekt«, sagte Kalisha.

»Dann stecken sie uns in den sogenannten Hinterbau, aber was da läuft, wisst ihr auch nicht.«

»Jep«, sagte Nicky. »Kannst du eigentlich Schach spielen oder bloß die Figuren umschmeißen?«

Sie beachtete ihn nicht. »Und wenn sie mit uns fertig sind, kriegen wir eine Gehirnwäsche wie in einem Science-Fiction-Film und leben glücklich bis an unser Lebensende.«

»So sieht’s aus«, sagte Luke.

Helen dachte nach. »Hört sich beschissen an«, sagte sie dann.

»Tja«, sagte Kalisha. »Deshalb hat Gott uns wohl Alcopops und High Boy Brownies geschenkt.«

Luke hatte genug. Er würde bald wieder in Tränen ausbrechen; das fühlte er kommen wie ein nahendes Gewitter. Iris würde wohl nichts daran finden, wenn er das in Gesellschaft täte, weil sie ein Mädchen war, aber er hatte eine gewisse Vorstellung (theoretisch überholt, aber dennoch wirkungsvoll), wie Jungen sich zu verhalten hatten. Nämlich wie Nicky.

Er verzog sich in sein Zimmer, schloss die Tür, ließ sich aufs Bett fallen und legte den Arm über die Augen. Da fiel ihm völlig grundlos Richie Rocket in seinem silbernen Raumanzug ein. Richie Rocket, der so begeistert tanzte, wie Nicky Wilholm es vor dem Abendessen getan hatte, während die kleinen Kinder mit ihm zu »Mambo Number 5« tanzten, kreischend vor Lachen. Als ob nichts auf der Welt schieflaufen könnte, als ob ihr Leben immer voll harmloser Späße sein würde.

Dann kamen ihm die Tränen, weil er verängstigt und zornig war, aber vor allem, weil er Heimweh hatte. Bisher hatte er nie begriffen, was dieses Wort bedeutete. Das hier war nicht wie im Sommerlager und nicht wie bei einem Schulausflug. Das hier war ein Albtraum, und er wollte, dass der vorüberging. Er wollte aufwachen. Und weil das nicht möglich war, schlief er ein, während seine schmale Brust noch von ein paar letzten Schluchzern zuckte.

3

Weitere schlechte Träume.

Erschrocken wachte er aus einem auf, in dem ein kopfloser schwarzer Hund ihn den Wildersmoot Drive entlanggehetzt hatte. Einen kurzen, wunderbaren Moment lang dachte er, dass alles nur ein Traum gewesen war und dass er wieder in seinem echten Zimmer lag. Dann fiel sein Blick auf den Schlafanzug, der nicht seiner war, und auf die Wand, in der ein Fenster hätte sein sollen. Luke ging auf die Toilette, und weil er nicht mehr müde war, schaltete er anschließend den Laptop ein. Ob er wohl wieder eine Münze brauchte? Dem war nicht so. Vielleicht galt eine Münze für vierundzwanzig oder gar – wenn er Glück hatte – für achtundvierzig Stunden. Laut der Leiste am oberen Bildschirmrand war es Viertel nach drei Uhr morgens. Also noch lange hin bis zur Dämmerung. Daran war er selbst schuld, weil er erst einen Nachmittagsschlaf gehalten und dann so früh am Abend ins Bett gegangen war.

Er überlegte, ob er auf Youtube gehen und sich ein paar alte Zeichentrickfilme anschauen sollte, Sachen wie Popeye, bei denen er und Rolf sich immer lachend auf dem Boden wälzten und brüllten: »Wo ist mein Spinat?«, und: »Ack, ack, ack!« Aber er hatte so eine Ahnung, dass dann nur sein Heimweh zurückkehren würde, und zwar mit aller Macht. Was konnte er sonst anfangen? Wieder ins Bett gehen, um wach dazuliegen, bis es hell wurde? Durch die leeren Flure wandern? Den Spielplatz aufsuchen? Das war zwar möglich, Kalisha hatte gesagt, die Tür sei nie abgeschlossen, aber es wäre zu unheimlich gewesen da draußen.

»Wieso denkst du dann nicht einfach mal nach, du Arschloch?«

Das sagte er mit leiser Stimme, zuckte jedoch trotzdem zusammen, als er die Worte hörte. Er hob sogar halb die Hand, als wollte er sich den Mund zuhalten. Dann stand er auf und ging im Zimmer umher. Seine bloßen Füße klatschten über den Boden, die Pyjamahose flatterte. Wieso dachte er eigentlich nicht nach? Das war eine gute Frage, denn angeblich war er doch gut darin. Lucas Ellis, der kluge Junge. Das kleine Genie. Steht auf Popeye den Seemann und auf Call of Duty, spielt im Garten gern Baseball, beherrscht jedoch auch ziemlich gut Französisch, zumindest schriftlich – wenn er sich auf Netflix französische Filme anschaut, braucht er noch Untertitel, weil da alle so schnell sprechen und die Redewendungen schlicht irre sind. Avoir un chat dans la gorge zum Beispiel. Wieso sollte man eine Katze im Hals haben, wenn ein Frosch doch viel einleuchtender war? Er konnte eine ganze Schultafel mit mathematischen Gleichungen füllen, er konnte das gesamte Periodensystem der Elemente herunterrattern, er konnte jeden amerikanischen Vizepräsidenten bis hin zu dem von George Washington aufzählen, er konnte eine einleuchtende Erklärung dafür liefern, weshalb man nie mit Lichtgeschwindigkeit reisen würde außer in Filmen.

Weshalb saß er dann jetzt bloß da und tat sich leid?

Was könnte ich denn sonst tun?

Luke beschloss, das als echte Frage zu begreifen anstatt als Ausdruck von Verzweiflung. Zu fliehen war wahrscheinlich unmöglich, aber wie stand es damit, mehr über seinen Aufenthaltsort zu erfahren?

Als er versuchte, die New York Times aufzurufen, stieß er nur auf HAL 9000; für die Institutskids gab es keine Nachrichten. Die Frage war, ob er die Sperre umgehen konnte. Gab es eine Hintertür? Eventuell.

Probieren wir das doch mal, dachte er. Probieren wir es einfach aus. Er tippte #!cloakofGriffin!# in die Adresszeile von Firefox.

Griffin war die Hauptfigur in Der Unsichtbare von H. G. Wells, und die betreffende Website, von der Luke etwa ein Jahr zuvor erfahren hatte, bot die Möglichkeit, sich der elterlichen Kontrolle zu entziehen. Sie war nicht das Darknet, aber so etwas Ähnliches. Luke hatte sie verwendet, aber nicht um auf den Computern seiner Schule Porno-Portale aufzusuchen (wenngleich er und Rolf das ein paarmal getan hatten) oder um IS-Henkern beim Köpfen zuzusehen. Er hatte das Konzept einfach cool gefunden und herausbekommen wollen, ob es wirklich funktionierte. Zu Hause und in der Schule hatte es das getan, aber hier? Das konnte man nur herausfinden, wenn man es ausprobierte, weshalb er auf die Eingabetaste tippte.

Das WLAN des Instituts kaute eine Weile darauf herum – es war langsam–, aber gerade als Luke schon dachte, es sei aussichtslos, beförderte es ihn zu Griffin. Oben auf dem Bildschirm sah man den Unsichtbaren aus dem Wells-Roman, den Kopf mit Bandagen umwickelt und eine krasse Schutzbrille über den Augen. Darunter stand eine Frage, die zugleich eine Einladung darstellte: WELCHE SPRACHE SOLL ÜBERSETZT WERDEN? Die Liste war lang und reichte von Assyrisch bis Zulu. Schön daran war, dass es nicht darauf ankam, welche Sprache man auswählte; wichtig war lediglich, was im Suchverlauf aufgezeichnet wurde. Früher einmal war auf Google ein Geheimgang zur Vermeidung elterlicher Kontrolle verfügbar gewesen, doch den hatten die Weisen von Mountain View verrammelt. Daher die Tarnkappe von Griffin.

Luke wählte aufs Geratewohl Deutsch aus und erhielt die Aufforderung: PASSWORT EINGEBEN. Mithilfe dessen, was sein Vater manchmal als sein gespenstisches Gedächtnis bezeichnete, tippte Luke #x49ger194GbL4 ein. Das Internet kaute wieder eine kleine Weile vor sich hin, dann verkündete es: PASSWORT AKZEPTIERT.

Er gab New York Times ein und tippte auf Enter. Diesmal dachte das System noch länger nach, doch nach einer Weile erschien tatsächlich die Times auf dem Bildschirm. Die aktuelle Ausgabe und auf englisch, aber von diesem Punkt an würde im Suchverlauf des Computers lediglich eine Reihe von deutschen Wörtern und deren englische Übersetzung aufgezeichnet werden. Was vielleicht ein kleiner Sieg war oder ein großer. Momentan war Luke das völlig egal. Es war ein Sieg, was erst mal ausreichte.

Wie schnell würden seine Gefängniswärter wohl erkennen, was er da tat? Den Suchverlauf des Computers zu kaschieren würde nichts nützen, wenn sie seine Aktivität live beobachten konnten. Dann würden sie die Website der Zeitung sehen und ihm den Strom abstellen. Deshalb durfte er sich jetzt nicht um die New York Times mit ihrer Schlagzeile über Trump und Nordkorea kümmern; bevor er entdeckt wurde, musste er die Site der Star Tribune checken, ob da etwas über seine Eltern stand. Aber bevor er das tun konnte, hörte er draußen im Flur laute Schreie.

»Hilfe! Hilfe! Hilfe! Bitte helft mir doch! Helft mir, ich hab mich verirrt!«

4

Die Schreie stammten von einem kleinen Jungen in einem Star-Wars-Pyjama, der mit den Fäusten wie wild an die Türen hämmerte. Das musste Avery Dixon sein, der angeblich zehn Jahre alt war, aber eher wie sechs oder höchstens sieben aussah. Ein Bein seiner Schlafanzughose war vom Schritt abwärts klatschnass und klebte ihm an der Haut.

»Helft mir, ich will nach Hause!«

Luke blickte sich um, weil er erwartete, dass jemand – eventuell in der Mehrzahl – angerannt kommen würde, aber nichts dergleichen geschah. Später wurde ihm klar, dass es im Institut völlig normal war, wenn ein Kind schreiend nach seinem Zuhause verlangte. Momentan aber wollte er den Jungen bloß zum Schweigen bringen, denn der war panisch und versetzte Luke ebenfalls in Panik.

Er ging auf ihn zu, kniete sich vor ihn hin und nahm ihn bei den Schultern. »He. Ganz ruhig, Kleiner.«

Der Junge starrte Luke mit Augen an, die von weißen Ringen umgeben waren, aber Luke wusste nicht recht, ob er ihn wirklich sah. Die Haare standen ihm schweißnass vom Kopf ab; das Gesicht war tränennass, und auf der Oberlippe glänzte frischer Rotz.

»Wo ist Mama? Wo ist Daddy?«

Nur hörte sich das nicht nach Daddy an, sondern nach DAAAAAADY wie das Jaulen einer Luftschutzsirene. Der Junge stampfte mit den Füßen und schlug mit den Fäusten auf Lukes Schultern ein. Luke ließ ihn los, erhob sich, trat einen Schritt zurück und sah erschrocken, wie der Junge auf den Boden fiel und zu zappeln begann.

Gegenüber dem Poster, das einen TAG WIE IM PARADIES verkündete, ging die Tür auf, und Kalisha kam zum Vorschein, gekleidet in ein Batik-T-Shirt und überdimensionierte Basketballshorts. Sie stellte sich neben Luke und blickte auf den Neuankömmling hinunter, die Arme in die weitgehend inexistenten Hüften gestemmt. Nach einer Weile sah sie Luke an. »Ich hab zwar schon allerhand Wutanfälle erlebt, aber der da schießt den Vogel ab.«

Eine weitere Tür ging auf, und Helen Simms trat heraus, gekleidet – mehr oder weniger – in etwas, was man wohl einen Babydoll-Pyjama nannte. Sie hatte Hüften und noch andere interessante Merkmale.

»Hör auf, so zu glotzen, Lukey, und hilf mir ein bisschen«, sagte Kalisha. »Wenn der Kleine mir weiter so im Kopf herumbohrt, krieg ich Migräne.« Sie kniete sich hin, streckte die Hände nach dem Derwisch aus – dessen Worte sich inzwischen in ein wortloses Geheul verwandelt hatten–, zuckte aber zurück, als seine Faust auf ihren Unterarm prallte. »Scheiße, hilf mir doch endlich! Pack seine Hände!«

Luke kniete sich ebenfalls hin, versuchte zaghaft, die Hände des Jungen zu fassen, zog sich dann wieder zurück, bevor er beschloss, dass er vor dem gerade erschienenen Traum in Pink lieber kein Weichei sein wollte. Er packte den kleinen Jungen an den Ellbogen und drückte ihm die Arme seitlich an die Brust. Dabei spürte er dessen wild rasenden Herzschlag.

Kalisha beugte sich über den Jungen, nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und sah ihm in die Augen. Seine Schreie verstummten, und man hörte ihn nur noch hektisch atmen. Fasziniert starrte er Kalisha an, und plötzlich begriff Luke, was sie damit gemeint hatte, dass der Kleine ihr im Kopf herumbohrte.

»Der ist TP, stimmt’s? Genau wie du.«

Kalisha nickte. »Bloß dass er wesentlich stärker ist als ich oder jemand von den anderen TPs, die in meiner Zeit hier durchgekommen sind. Komm, schaffen wir ihn in mein Zimmer.«

»Darf ich mitkommen?«, fragte Helen.

»Klar doch, Süße«, sagte Kalisha. »Der Anblick wird unseren Lukey sicher freuen.«

Helen wurde rot. »Vielleicht sollte ich mir erst mal was anderes anziehen.«

»Mach, was du willst«, sagte Kalisha, dann wandte sie sich an den Kleinen: »Wie heißt du?«

»Avery.« Seine Stimme war vom Weinen und Brüllen ganz rau. »Avery Dixon.«

»Ich bin Kalisha. Wenn du willst, kannst du Sha zu mir sagen.«

»Hauptsache, du redest sie nicht mit Kumpel an«, fügte Luke hinzu.

5

Kalishas Zimmer war mädchenhafter, als Luke es angesichts ihrer toughen Redeweise erwartet hätte. Auf dem Bett lag eine rosa Tagesdecke, die Kissen waren mit Rüschen verziert. Auf der Kommode stand ein gerahmtes Bild von Martin Luther King.

Als sie sah, dass Luke zu dem Bild hinüberstarrte, lachte sie. »Eigentlich versuchen sie ja, alles so hinzukriegen wie bei uns zu Hause, aber der Typ, den ich eigentlich da stehen hatte, war ihnen wohl zu krass, deshalb haben sie ihn ausgetauscht.«

»Wer war’s denn?«

»Eldridge Cleaver. Schon mal von dem gehört?«

»Klar. Seele auf Eis. Gelesen habe ich das zwar noch nicht, aber ich hatte es mir vorgenommen.«

Sie hob die Augenbrauen. »Mann, du bist hier wirklich fehl am Platz.«

Schniefend machte sich Avery daran, aufs Bett zu steigen, aber sie ergriff ihn und zog ihn zurück, sanft, aber entschieden.

»Nix da, nicht mit der nassen Hose.« Sie wollte sie ihm ausziehen, aber er wich einen Schritt zurück und hielt sich schützend die Hände vor den Schritt.

Kalisha warf Luke einen Blick zu und hob die Schultern. Er tat dasselbe, dann hockte er sich vor Avery. »In welchem Zimmer bist du?«

Avery schüttelte nur den Kopf.

»Hast du die Tür aufgelassen?«

Diesmal nickte der Junge.

»Ich hole dir trockene Sachen«, sagte Luke. »Bleib schön hier bei Kalisha, okay?«

Das quittierte der Junge weder mit einem Kopfschütteln noch mit einem Nicken. Er starrte Luke nur erschöpft und verwirrt an, verzichtete jedoch glücklicherweise darauf, wieder eine Luftschutzsirene zu imitieren.

»Geh nur«, sagte Kalisha. »Ich kann ihn beruhigen, glaube ich.«

An der Tür tauchte Helen auf. Sie trug jetzt Jeans und war damit beschäftigt, ihr Wolljäckchen zuzuknöpfen. »Geht es ihm besser?«, fragte sie.

»Ein bisschen«, sagte Luke und trat auf den Flur. In die Richtung, die er mit Maureen gegangen war, um die Betten zu beziehen, führte eine Tröpfchenspur.

»Wo sind eigentlich die beiden anderen?«, fragte Helen. »Die müssen ja schlafen wie Tote.«

»Tun sie«, sagte Kalisha. »Geh doch mit Luke mit, Neue. Avery und ich begegnen uns jetzt mal im Geiste.«

6

»Der Kleine heißt Avery Dixon«, sagte Luke, während er mit Helen Simms in der offenen Tür von dessen Zimmer stand. Ganz in der Nähe ratterte der Eiswürfelspender vor sich hin. »Er ist schon zehn. Sieht nicht so aus, oder?«

Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Sag mal, bist du etwa doch TP?«

»Nein.« Er betrachtete das Poster mit Tommy Pickles und die Actionfiguren auf der Kommode. »Ich war mit Maureen schon mal hier drin. Die ist eine von den Haushälterinnen. Ich hab ihr geholfen, das Bett zu machen. Sonst war das Zimmer schon für ihn bereit.«

Helen grinste süffisant. »Ach, das bist du also – ein kleiner Streber.«

Luke dachte an die Ohrfeige, die Tony ihm verpasst hatte, und fragte sich, ob Helen wohl ebenso behandelt werden würde. »Nein, aber Maureen ist nicht wie manche von den anderen. Wenn du nett zu ihr bist, ist sie nett zu dir.«

»Wie lange bist du denn schon hier, Luke?«

»Ich bin erst kurz vor euch gekommen.«

»Woher willst du dann wissen, wer nett ist und wer nicht?«

»Maureen ist in Ordnung, mehr will ich gar nicht sagen. Hilf mir mal, ein paar Anziehsachen rauszusuchen.«

Helen nahm eine Hose und eine Unterhose aus der Kommode (wobei sie nicht versäumte, auch die anderen Schubladen durchzuschnüffeln), dann gingen sie zu Kalishas Zimmer zurück. Auf dem Weg dorthin fragte Helen, ob man mit Luke schon einen von den Tests gemacht habe, von denen George ihr erzählt habe. Das nicht, sagte er, aber er zeigte ihr den Chip in seinem Ohr.

»Wehr dich nicht dagegen. Ich hab’s getan und eine gewischt bekommen.«

Sie blieb abrupt stehen. »Erzähl keinen Scheiß!«

Er drehte den Kopf, um ihr die Stelle an seiner Wange zu zeigen, wo zwei von Tonys Fingern leichte Blutergüsse hinterlassen hatten.

»Mir wischt niemand eine«, sagte Helen.

»Das ist eine Theorie, die du lieber nicht auf die Probe stellen solltest.«

Sie warf ihre zweifarbigen Haare zurück. »Meine Ohren sind schon gepierct, also ist so ein Chip keine große Sache.«

Kalisha saß auf ihrem Bett, Avery neben ihr, den Hintern auf einem zusammengefalteten Handtuch. Sie streichelte ihm die verschwitzten Haare, während er verträumt zu ihr hochblickte, als wäre sie Prinzessin Tiana. Helen warf Luke die Klamotten zu. Weil er das nicht erwartet hatte, ließ er die Unterhose fallen, die mit Bildern von Spider-Man in verschiedenen dynamischen Posen bedruckt war.

»Ich hab kein Interesse dran, das Pimmelchen von dem Kleinen zu sehen«, sagte Helen. »Wenn ich aufwache, bin ich vielleicht wieder in meinem Zimmer, in meinem echten Zimmer, und das alles ist bloß ein Traum gewesen.«

»Viel Glück dabei«, sagte Kalisha.

Helen stolzierte davon. Luke hob Averys Unterhose gerade noch rechtzeitig auf, um ihren Hüftschwung in den ausgebleichten Jeans bewundern zu können.

»Geil, was?«, sagte Kalisha in ausdruckslosem Ton.

Luke spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss, als er ihr die Klamotten übergab. »Zugegeben, aber was ihre Persönlichkeit angeht, hat sie noch was aufzuholen.«

Damit wollte er Kalisha zum Lachen bringen – er mochte es, wenn sie lachte–, aber sie blickte traurig drein. »Das Rumzicken wird man ihr hier schnell austreiben. Bald wird sie sich automatisch ducken, wenn sie ’nen Typen in ’nem blauen Kittel sieht. Genau wie wir alle. Avery, du musst dich jetzt umziehen. Ich und Lukey drehen dir dabei den Rücken zu.«

Das taten sie, indem sie durch die offene Tür auf das Poster im Flur blickten, das einen Tag wie im Paradies verhieß. Hinter sich hörten sie es schniefen und rascheln. »Bin fertig«, sagte Avery schließlich. »Ihr könnt euch umdrehen.«

»Bring jetzt die nasse Hose ins Bad und häng sie über den Badewannenrand«, sagte Kalisha.

Avery machte sich ohne jede Widerrede auf den Weg. »Hab die Hose hingehängt, Sha«, sagte er, als er zurückgetrottet kam. Aus seiner Stimme war jede Spur von Zorn verschwunden. Jetzt hörte er sich verängstigt und erschöpft an.

»Gut gemacht. Jetzt darfst du wieder aufs Bett. Leg dich ruhig hin, das ist okay.«

Kalisha lehnte sich zurück, legte sich Averys Füße auf den Schoß und klopfte neben sich aufs Bett. Luke setzte sich hin und fragte Avery, ob es ihm jetzt besser gehe.

»Glaub schon.«

»Du weißt sogar, dass es dir besser geht«, sagte Kalisha und fing wieder an, die Haare des kleinen Jungen zu streicheln. Luke hatte irgendwie den Eindruck, dass sich zwischen den beiden eine Menge abspielte. Insiderkommunikation.

»Ach du Scheiße«, sagte Kalisha. »Erzähl ihm deinen Witz halt, wenn es sein muss, und schlaf dann ein, verdammt noch mal.«

»Du hast ein schlimmes Wort gesagt.«

»Habe ich wohl. Erzähl ihm jetzt den Witz.«

Avery sah Luke an. »Okay. Warum sieht ein Eskimo am hellen Tag seine Hand vor Augen nicht?«

Luke überlegte, ob er Avery erklären sollte, dass man inzwischen nicht mehr von Eskimos, sondern von Inuit und Yupik sprach, aber da es an diesem Ort eindeutig nicht um politische Korrektheit ging, sagte er nur: »Keine Ahnung.«

»Weil er Handschuhe anhat. Hast du kapiert?«

»Klar. Warum trinken Mäuse keinen Alkohol?«

»Weil sie bloß Wasser mögen?«

»Nein, weil sie Angst vor dem Kater haben. Schlaf jetzt.«

Avery wollte noch etwas sagen – vielleicht war ihm ein weiterer Witz eingefallen–, aber Kalisha wies ihn an, still zu sein. Dabei streichelte sie ihm weiter das Haar. Ihre Lippen bewegten sich. Averys Blick wurde trübe. Die Lider gingen zu, langsam wieder auf, dann wieder zu, um sich noch langsamer wieder zu heben. Beim nächsten Mal blieben sie unten.

»Hast du da gerade was gemacht?«, fragte Luke.

»Ich hab ihm ein Schlaflied vorgesungen, das meine Mama immer für mich gesungen hat.« Das sagte sie ganz leise, doch in ihrer Stimme lag unverkennbar ein freudiges Staunen. »Eigentlich bin ich total unmusikalisch, aber wenn es direkt von einem Kopf in den anderen geht, kommt es auf die Melodie offenbar nicht an.«

»Ich hab den Eindruck, dass er nicht besonders intelligent ist«, sagte Luke.

Sie warf ihm einen langen Blick zu, bei dem ihm wieder ebenso heiß im Gesicht wurde wie zuvor, als er auf den Hintern von Helen gestarrt hatte und dabei erwischt worden war. »Für dich ist wahrscheinlich die ganze Welt nicht besonders intelligent, hm?«

»Nein, so bin ich nicht«, protestierte Luke. »Ich hab bloß gemeint…«

»Nur die Ruhe. Ich weiß, was du meinst, aber es geht nicht darum, dass er nicht genügend Hirn hätte. Jedenfalls nicht so richtig. Wer so stark TP ist wie er, hat womöglich eher Nachteile. Normalerweise weißt du ja nicht, was andere Leute denken, und daher musst du früh lernen, wie man… hm…«

»Nonverbale Hinweise auffängt?«

»Ja, genau. Normale Leute müssen sich durchschlagen, indem sie sich den Gesichtsausdruck von anderen anschauen und deren Tonfall beurteilen, nicht nur das, was gesagt wird. Das ist so, wie wenn man Zähne bekommt, damit man was Hartes kauen kann. Der kleine Scheißer hier ist wie Klopfer in diesem Disneyfilm. Die Zähne, die er hat, taugen mehr oder weniger bloß zum Grasfressen. Leuchtet dir das irgendwie ein?«

Luke sagte, das tue es.

Kalisha seufzte. »So was wie das Institut ist ein übler Ort für Klopfer, aber vielleicht spielt es keine Rolle, weil wir doch alle irgendwann in den Hinterbau kommen.«

»Wie viel TP hat er denn – verglichen mit, sagen wir mal, dir?«

»Wesentlich mehr. Es gibt so einen Stoff, den sie messen – BDNF. Das hab ich einmal auf dem Laptop von Dr. Hendricks gesehen, und ich hab den Eindruck, dass es total wichtig ist, vielleicht sogar am allerwichtigsten. Du bist doch so ein Intelligenzmonster, weißt du vielleicht, was das ist?«

Das wusste Luke nicht, aber er hatte vor, es herauszubekommen. Falls man ihm nicht vorher seinen Computer wegnahm.

»Was immer es ist, der Kleine muss extrem viel davon haben. Ich hab ja mit ihm kommuniziert. Das war echte Telepathie!«

»Aber du bist doch bestimmt schon auf andere TPs getroffen, auch wenn das seltener ist als TK. Vielleicht nicht draußen, aber doch bestimmt hier drin.«

»Du kapierst es nicht. Kannst du vielleicht auch gar nicht. Für mich ist es so, wie wenn ich Musik aus ’ner ganz leise gestellten Stereoanlage höre oder wenn ich Leute draußen auf der Veranda reden höre, während ich in der Küche stehe und die Spülmaschine läuft. Manchmal ist es überhaupt nicht da, fällt einfach komplett weg. Bei dem Kleinen ist es so krass, wie man’s in Science-Fiction-Filmen sieht. Du musst dich um ihn kümmern, wenn ich nicht mehr da bin, Luke. Der Kleine ist echt wie Klopfer, und es wundert mich nicht im Geringsten, dass sein Verhalten nicht zu seinem Alter passt. Bisher hat er es leicht gehabt, aber damit ist es vorbei.«

Wenn ich nicht mehr da bin überlagerte alles andere. »Du… hat irgendjemand zu dir gesagt, dass du bald in den Hinterbau kommst? Maureen vielleicht?«

»Das ist gar nicht nötig. Gestern haben sie mit mir keinen einzigen von ihren schwachsinnigen Tests gemacht. Spritzen hat man mir auch keine verabreicht. Das ist ein sicheres Zeichen. Nick kommt auch bald rüber. George und Iris sind eventuell noch ein bisschen länger hier.«

Sie drückte Luke sanft den Nacken, was wieder das bekannte Kribbeln hervorrief.

»Ich will jetzt mal einen Moment deine Schwester sein, Luke, deine Seelenschwester, also hör gut zu. Wenn dich an diesem Punkgirl da drüben bloß interessiert, wie sie beim Gehen mit den Hüften wackelt, lass es dabei bewenden. Es ist schlecht, wenn man sich hier drin zu sehr an jemand hängt. Wenn der dann wegkommt, fühlt man sich beschissen, und irgendwann kommen alle weg. Aber um Avery musst du dich so lange kümmern, wie du kannst. Wenn ich mir vorstelle, dass jemand wie Tony oder Zeke oder Winona, dieses gemeine Stück, ihn schlägt, könnte ich heulen.«

»Ich tue, was ich kann, aber ich hoffe, dass du noch lange dableibst«, sagte Luke. »Ich würde dich vermissen.«

»Danke, aber das ist genau das, worauf ich rauswollte.«

Eine Weile saßen sie schweigend da. Luke dachte, er würde wohl bald gehen müssen, aber das wollte er noch nicht. Er war nicht in der Stimmung, allein zu sein.

»Ich glaube, ich kann Maureen helfen.« Das sagte er mit so leiser Stimme, dass sich seine Lippen kaum bewegten. »Bei ihren Schulden. Aber dazu müsste ich mit ihr reden.«

Kalisha riss die Augen auf und strahlte. »Echt? Das wäre super.« Sie brachte die Lippen so nah an sein Ohr, dass ihn ein Zittern überlief. Er hatte Angst, auf seine Arme zu blicken, weil sich da vielleicht eine Gänsehaut zeigte. »Aber tu’s bald. In ein oder zwei Tagen beginnt ihre freie Woche.« Jetzt legte sie ihm die Hand – o Gott! – auch noch weit oben auf den Oberschenkel und damit auf einen Bereich, den Lukes Mutter inzwischen mied. »Wenn sie wiederkommt, arbeitet sie drei Wochen woanders. Man sieht sie zwar auf dem Flur oder im Aufenthaltsraum, aber das ist alles. Sie redet nicht mal da mit einem, wo man nicht belauscht wird, also ist sie dann bestimmt im Hinterbau.«

Sie löste die Lippen von seinem Ohr und nahm die Hand von seinem Oberschenkel. Luke wünschte sich inbrünstig, dass sie ihm bald weitere Geheimnisse mitzuteilen hatte.

»Geh jetzt wieder auf dein Zimmer«, sagte sie. Das leichte Glitzern in ihren Augen ließ ihn vermuten, dass ihr die Wirkung, die sie auf ihn hatte, durchaus bewusst war. »Versuch, noch ein bisschen zu schlafen.«

7

Luke erwachte aus einem tiefen, traumlosen Schlaf, weil es laut an der Tür klopfte. Er setzte sich auf, sah sich verwirrt um und überlegte, ob er wohl an einem Schultag verschlafen hatte.

Die Tür ging auf, und ein lächelndes Gesicht spähte herein. Es war Gladys, die Frau, die ihn zum Chippen gebracht hatte. Die ihm erklärt hatte, er sei hier, um zu dienen. »Kuckuck!«, trällerte sie. »Raus aus den Federn! Du hast das Frühstück verpasst, aber ich hab dir Orangensaft mitgebracht. Den kannst du unterwegs trinken. Er ist frisch gepresst!«

Luke sah das grüne Lichtchen an seinem neuen Laptop. Der hatte sich zwar in den Ruhezustand versetzt, aber wenn Gladys hereinkam und auf irgendeine Taste tippte, um nachzuschauen, wo er gesurft hatte (das war ihr zuzutrauen), würde sie den Unsichtbaren von H. G. Wells mit seinem bandagierten Kopf und seiner dunklen Schutzbrille sehen. Zwar würde sie nicht wissen, was genau sie da vor sich hatte, und es womöglich für irgendeine Science-Fiction- oder Mystery-Website halten, aber sie würde wahrscheinlich Bericht erstatten. Und dann würde man jemand auf die Sache ansetzen, der cleverer war als sie. Jemand, der dafür bezahlt wurde, neugierig zu sein.

»Hab ich eine Minute Zeit, meine Hose anzuziehen?«

»Dreißig Sekunden. Der O-Saft soll ja nicht warm werden, oder?« Sie zwinkerte ihm schalkhaft zu und schloss die Tür.

Luke sprang aus dem Bett, schlüpfte in seine Jeans, griff sich ein T-Shirt, weckte den Laptop auf und warf einen Blick auf die Uhr. Erstaunt sah er, dass es schon neun war. So lange schlief er sonst nie. Einen Moment fragte er sich, ob man ihm wohl etwas ins Essen getan hatte, aber dann wäre er sicher nicht mitten in der Nacht aufgewacht.

Es ist der Schock, dachte er. Ich versuche immer noch, das Ganze zu verarbeiten – es in den Kopf zu kriegen.

Er fuhr den Computer herunter, wobei ihm klar war, dass seine Bemühungen, das Bild von Mr. Griffin zu verstecken, völlig sinnlos waren, wenn man seine Suchanfragen überwachte. Und wenn man seinen Computer spiegelte, wusste man bereits, dass er sich Zugang zur New York Times verschafft hatte. Sobald er jedoch so zu denken anfing, war alles vergeblich. Was wahrscheinlich genau die Denkweise war, zu der die Handlanger von Mrs. Sigsby ihn bringen wollten – ihn und alle anderen Kinder, die hier gefangen gehalten wurden.

Wenn sie Bescheid wüssten, hätten sie mir den Computer bereits weggenommen, sagte er sich. Und wenn sie das Ding spiegeln würden, müsste ihnen dann nicht auffallen, dass auf dem Begrüßungsbildschirm ein falscher Name steht?

Das klang einleuchtend, aber vielleicht wollten sie ihn nur an der langen Leine lassen. Der Gedanke war zwar regelrecht paranoid, aber das entsprach ja der Situation.

Als Gladys wieder den Kopf durch die Tür steckte, saß er auf dem Bett und zog sich seine Sneakers an. »Gut gemacht!«, rief sie, als wäre Luke ein Dreijähriger, der es gerade zum ersten Mal geschafft hatte, sich allein anzuziehen. Luke mochte sie immer weniger, aber als sie ihm den Saft gab, stürzte er ihn hinunter.

8

Als Gladys diesmal ihre Karte vor den Scanner hielt, befahl sie dem Aufzug, auf Ebene C zu fahren. »Meine Güte, was für ein wunderschöner Tag!«, rief sie, während die Kabine nach unten fuhr. Offenbar war das ihr üblicher Gesprächseinstieg.

Luke warf einen Blick auf ihre Hände. »Ich sehe, dass Sie einen Ehering tragen. Haben Sie Kinder, Gladys?«

Ihr Lächeln wurde vorsichtig. »Das ist meine Privatangelegenheit.«

»Ich hab mich bloß gefragt, wie es Ihnen gefallen würde, wenn Ihre Kinder an einem solchen Ort eingesperrt wären.«

»C«, verkündete die leise Frauenstimme. »Das ist Ebene C.«

Als Gladys ihn hinausgeleitete, lag kein Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie hielt seinen Arm ein bisschen fester als absolut notwendig.

»Außerdem hab ich mich gefragt, wie Sie mit dem, was Sie hier tun, leben können. Aber das ist wohl ein bisschen zu persönlich, hm?«

»Das reicht, Luke. Ich hab dir Orangensaft mitgebracht. Das hätte ich nicht tun müssen.«

»Was würden Sie eigentlich zu Ihren Kindern sagen, wenn jemand herausbekäme, was hier vor sich geht? Wenn es zum Beispiel in den Nachrichten käme. Wie würden Sie es denen erklären?«

Sie ging schneller und schleppte ihn beinahe mit, aber ihr Gesicht drückte keinerlei Ärger oder Zorn aus; wäre es anders gewesen, hätte er zumindest die zweifelhafte Befriedigung gehabt, zu ihr durchgedrungen zu sein. Aber nein. Ihr Gesicht war völlig leer. Es war ein Puppengesicht.

Vor Raum C17 blieben sie stehen. Die Regale waren vollgestellt mit medizinischen Geräten und Computern. In der Mitte stand ein gepolsterter Sessel, der wie ein Kinositz aussah; dahinter war auf einem Stahlpfosten eine Art Projektor montiert. Wenigstens waren die Armlehnen des Sessels nicht mit Gurten versehen.

Ein MTA erwartete die beiden. Laut dem Namensschild auf seinem blauen Kittel hieß er ZEKE. Den Namen kannte Luke schon. Maureen hatte gesagt, Zeke gehöre zu denen, die richtig gemein seien.

»Hallo, Luke!«, sagte Zeke. »Alles easy heute?«

Luke zuckte die Acheln, weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte.

»Du wirst doch keine Probleme machen, oder? Darauf will ich hinaus, Kumpel.«

»Nein. Keine Probleme.«

»Schön zu hören.«

Zeke öffnete eine mit einer blauen Flüssigkeit gefüllte Flasche. Der entstieg ein scharfer Alkoholgeruch, und im nächsten Moment hatte Zeke ein Thermometer in der Hand, das mindestens dreißig Zentimeter lang zu sein schien. Das konnte doch bestimmt nicht…

»Lass die Hosen runter, und beug dich über den Sessel, Luke. Die Unterarme auf die Sitzfläche.«

»Nicht wenn…«

Nicht wenn Gladys da ist, wollte er sagen, aber die Tür von C17 war zu. Gladys war verschwunden. Vielleicht, damit ich mich nicht schäme, dachte Luke, aber wahrscheinlich eher, weil sie genug von meinem Gelaber hatte. Was ihn aufgemuntert hätte, wäre da nicht der gläserne Stab gewesen, der bald – da war er sich sicher – die bisher unberührten Tiefen seiner Anatomie erforschen würde. Mit so einem Ding maß der Tierarzt wahrscheinlich die Temperatur bei Pferden.

»Nicht wenn was?« Zeke schwenkte das Thermometer hin und her wie den Stab eines Tambourmajors. »Nicht wenn ich das da nehme? Tut mir leid, Kumpel, das muss sein. Anordnung von oben, weißt du?«

»Wäre das mit einem Digitalthermometer nicht leichter?«, fragte Luke. »Im Drogeriemarkt kriegen Sie so was bestimmt schon für zwei, drei Dollar. Mit Ihrer Rabattkarte sogar noch bill…«

»Spar dir deine Sprüche für deine Freunde auf. Hose runter, und beug dich über den Sessel, sonst helfe ich dir dabei. Was dir nicht gefallen würde.«

Luke ging langsam zu dem Sessel, knöpfte seine Hose auf, schob sie nach unten und beugte sich vor.

»Na, da ist er ja, unser Vollmond!« Zeke stellte sich vor ihn, in einer Hand das Thermometer, in der anderen eine Dose Vaseline. Er tauchte das Thermometer in die Dose und zog es heraus. An der Spitze hing ein Klümpchen Glibber, das Luke wie die Pointe eines dreckigen Witzes vorkam. »Siehst du? Ordentlich Schmiermittel. Tut überhaupt nicht weh. Mach einfach deine Arschbacken locker, und denk dran: Solange du nicht meine beiden Hände auf dir spürst, bleibt dein Hintern Jungfrau.«

Er trat hinter Luke, der vornübergebeugt dastand, die Unterarme auf der Sitzfläche und das Gesäß nach hinten gereckt. Luke roch den Schweiß des Mannes, stark und ranzig. Er versuchte, sich klarzumachen, dass er nicht das erste Kind war, das im Institut so behandelt wurde. Das half ein bisschen… aber eigentlich doch nicht so recht. Der Raum, in dem er sich befand, war voller Hightechgeräte, und trotzdem machte dieser Mann sich daran, ihm auf die primitivste Art, die man sich vorstellen konnte, die Temperatur zu messen. Warum?

Um mich zu brechen, dachte Luke. Um mir unmissverständlich klarzumachen, dass ich ein Versuchskaninchen bin, und wenn man Versuchskaninchen hat, kann man die Daten auf jede beliebige Weise sammeln, die einem einfällt. Vielleicht wollen sie diese speziellen Daten nicht einmal haben. Vielleicht geht es nur darum, mir zu sagen: Wenn wir dir so was in den Arsch stecken können, was können wir dir sonst noch reinstecken? Antwort: Alles, was uns in den Sinn kommt.

»Du kommst fast um vor Spannung, stimmt’s?«, sagte Zeke hinter ihm. Der Dreckskerl klang dabei tatsächlich amüsiert.

9

Nach der Demütigung mit dem Thermometer, die unglaublich lange zu dauern schien, stellte Zeke bei Luke den Blutdruck fest, steckte ihm ein Sauerstoffmessgerät an den Zeigefinger und maß seine Körpergröße und sein Gewicht. Er spähte Luke in den Rachen und in die Nase. Während er die Ergebnisse notierte, summte er vor sich hin. Inzwischen war Gladys wieder hereingekommen. Sie trank Kaffee aus einem mit Gänseblümchen bedruckten Becher und lächelte ihr falsches Lächeln.

»Zeit für eine Spritze, Lukey, alter Junge«, sagte Zeke. »Du wirst mir doch weiterhin keine Probleme machen, oder?«

Luke schüttelte den Kopf. Er wollte jetzt absolut nichts anderes, als in sein Zimmer zurückkehren und sich die Vaseline aus dem Hintern wischen. Eigentlich gab es nichts, wofür er sich hätte schämen müssen, aber er schämte sich trotzdem. Er fühlte sich erniedrigt.

Zeke gab ihm eine Injektion. Diesmal war keinerlei Hitze zu spüren, nur ein kleiner Schmerz, der sofort wieder verschwand.

Zeke blickte auf seine Armbanduhr und bewegte die Lippen, während er die Sekunden abzählte. Das tat auch Luke, nur ohne die Lippen zu bewegen. Er war bei dreißig angelangt, als Zeke den Arm sinken ließ. »Spürst du Übelkeit?«

Luke schüttelte den Kopf.

»Hast du einen metallischen Geschmack im Mund?«

Das Einzige, was Luke schmecken konnte, waren die Reste vom Orangensaft. »Nein.«

»Okay, gut. Schau jetzt mal an die Wand. Siehst du irgendwelche Punkte? Vielleicht sehen sie auch größer aus, wie runde Flecke.«

Luke schüttelte wieder den Kopf.

»Du sagst doch die Wahrheit, Kumpel, oder?«

»Ja, keine Punkte. Keine runden Flecke.«

Zeke sah ihm mehrere Sekunden in die Augen (Luke hätte ihn am liebsten gefragt, ob er da drin vielleicht irgendwelche Punkte sah, hielt sich jedoch zurück). Dann richtete er sich auf, klopfte sich theatralisch die Hände ab und wandte sich an Gladys. »So, jetzt kannst du ihn rausschaffen. Heute Nachmittag will Dr. Evans ihn für die Augensache wieder dahaben.« Er deutete auf das projektorartige Gerät. »Sechzehn Uhr.«

Luke überlegte, ob er fragen sollte, worum es sich bei der Augensache handelte, aber eigentlich kümmerte es ihn nicht besonders. Er war hungrig, daran schien sich nichts zu ändern, egal was man ihm antat (zumindest bisher), aber vor allem wollte er sich reinigen. Er fühlte sich – man konnte es nicht anders ausdrücken – im Arsch.

»Na, war doch gar nicht so schlimm, oder?«, sagte Gladys, als sie im Aufzug nach oben fuhren. »Viel Theater um nichts.« Luke hätte sie gern gefragt, ob sie diese Meinung auch gehabt hätte, wenn es ihr eigener Arsch gewesen wäre. Nicky hätte die Frage vielleicht wirklich gestellt, aber er war nicht Nicky.

Sie setzte das falsche Lächeln auf, das ihm immer grässlicher vorkam. »Du lernst offenbar, dich zu benehmen, und das ist einfach wunderbar. Da hast du eine Wertmünze. Ach, nimm gleich zwei. Heute bin ich in Spendierlaune.«

Er nahm die Münzen entgegen.

Als er später mit gebeugtem Kopf unter der Dusche stand und sich das Wasser durch die Haare rinnen ließ, weinte er wieder ein bisschen. In mindestens einer Hinsicht war er wie Helen; er wollte, dass das Ganze nur ein Traum war. Er hätte alles hingegeben, vielleicht sogar seine Seele, wenn er aufwachen könnte, während das Sonnenlicht wie eine zweite Decke über sein Bett fiel und aus der Küche der Duft von brutzelndem Bacon heraufzog. Schließlich versiegten die Tränen, und er spürte etwas anderes als Kummer und Verlorenheit – etwas Härteres. Eine Art Grundgestein, das ihm bisher nicht bekannt gewesen war. Es war eine Erleichterung zu wissen, dass so etwas in ihm vorhanden war.

Das Ganze war kein Traum, es geschah wirklich und wahrhaftig, und von hier wegzukommen reichte nicht mehr aus. Der harte Untergrund in ihm wollte mehr. Er wollte den ganzen Haufen von Kidnappern und Kinderfolterern ans Messer liefern, von Mrs. Sigsby bis hinunter zu Gladys mit ihrem künstlichen Lächeln und Zeke mit seinem schleimigen Rektalthermometer. Er wollte das Institut auf die Köpfe dieser Typen herabstürzen lassen, wie Samson den Tempel des Dagon auf die Philister stürzen ließ. Dass das nur die rachsüchtige, ohnmächtige Fantasie eines zwölfjährigen Jungen war, wusste Luke durchaus, aber er wollte es trotzdem tun, und wenn es irgendeine Chance dazu gab, würde er sie ergreifen.

Wie sein Vater gern sagte, war es gut, Ziele zu haben. Die konnten einen durch harte Zeiten tragen.

10

Als er schließlich in den Aufenthaltsraum kam, war dort niemand außer einem Hausmeister (auf seinem Namensschild stand FRED), der den Boden wischte. Es war noch zu früh fürs Mittagessen, aber auf einem Tisch ganz vorn stand eine Schale mit Obst – Orangen, Äpfel, Trauben, ein paar Bananen. Luke nahm sich einen Apfel, dann ging er zu den Automaten und verwendete eine von seinen Münzen, um einen Beutel Popcorn zu ziehen. Ein Frühstück für Helden, dachte er. Mama würde einen Anfall kriegen.

Er ging mit seinem Essen in den Loungebereich und blickte auf den Spielplatz hinaus. An einem der Picknicktische saßen George und Iris; sie spielten Dame. Auf dem Trampolin stand Avery und versuchte sich an ziemlich vorsichtigen Sprüngen. Von Nicky und Helen war nichts zu sehen.

»Ich glaube, das ist die schlimmste Essenskombination, die ich je gesehen habe«, hörte er Kalisha hinter sich sagen.

Er zuckte zusammen, wobei eine Handvoll Popcorn aus dem Beutel auf den Boden fiel. »Mensch, hast du mich erschreckt!«

»Tut mir leid.« Sie hockte sich hin, hob ein paar Körner Popcorn auf und warf sie sich in den Mund.

»Vom Boden?«, sagte Luke. »Das glaub ich ja nicht!«

»Fünf-Sekunden-Regel.«

»Laut dem National Health Service – der ist in England – ist die Fünf-Sekunden-Regel ein Mythos. Kompletter Schwachsinn.«

»Ist man als Genie eigentlich verpflichtet, allen anderen Leuten ihre Illusionen zu nehmen?«

»Nein, ich hab bloß…«

Sie lächelte und stand auf. »War ein Scherz, Luke. Die Windpockentussi hat dich bloß veräppelt. Wie geht’s dir?«

»Ganz okay.«

»Hast du das Thermometer in den Hintern gekriegt?«

»Ja. Reden wir nicht darüber.«

»Alles klar. Willst du bis zum Mittagessen Cribbage spielen? Wenn du’s noch nicht kennst, kann ich’s dir beibringen.«

»Ach, das kenne ich schon, aber ich hab jetzt keine Lust. Ich glaube, ich gehe eine Weile in mein Zimmer.«

»Um über deine Lage nachzudenken?«

»So in der Richtung. Wir sehen uns beim Essen.«

»Wenn es dingdong macht«, sagte sie. »Alles klar. Kopf hoch, du Held! Klatsch ab!«

Sie hob die Hand, und Luke sah etwas zwischen ihrem Daumen und ihrem Zeigefinger stecken. Als er seine weiße Handfläche an ihre braune drückte, glitt ein zusammengefalteter Zettel von ihrer in seine Hand.

»Bis nachher, Alter.« Damit machte sie sich auf den Weg zum Spielplatz.

Sobald Luke in seinem Zimmer war, legte er sich aufs Bett, drehte sich zur Wand und faltete den Zettel auseinander. Die Handschrift von Kalisha war ebenso winzig wie säuberlich.

Triff dich so bald wie möglich am Eiswürfelspender beim Zimmer von Avery mit Maureen. Spül das hier im Klo runter.

Er zerknüllte den Zettel, ging ins Bad und ließ das Kügelchen in die WC-Schüssel fallen, während er die Hose herunterließ. Dabei kam er sich einerseits so lächerlich vor wie ein kleines Kind beim Spionagespielen, aber andererseits kam er sich überhaupt nicht lächerlich vor. Er hätte liebend gern geglaubt, dass es wenigstens in seinem Scheißhaus keine Überwachungskamera gab, aber so richtig glaubte er das nicht.

Der Eiswürfelspender. Wo Maureen gestern mit ihm gesprochen hatte. Das war interessant. Laut Kalisha gab es hier im Vorderbau mehrere Orte, wo die Audioüberwachung schlecht oder gar nicht funktionierte, aber Maureen schien diese Stelle zu bevorzugen. Vielleicht weil sich dort keine Kamera befand. Vielleicht fühlte sie sich dort auch am sichersten, weil der Spender so laut ratterte. Und vielleicht zog er selbst zu viele Schlüsse aus zu wenigen Informationen.

Bevor er sich mit Maureen traf, wollte er auf die Website der Star Tribune gehen und setzte sich an seinen Computer. Er kam bis zu Mr. Griffin, hielt dann jedoch inne. Wollte er wirklich Bescheid wissen? Um womöglich herauszufinden, dass diese Dreckschweine, diese Monster, ihn anlogen und dass seine Eltern tot waren? Wenn er auf die Website der Tribune ging, würde er sich damit verhalten wie jemand, der beim Roulette seine ganzen Ersparnisse auf eine einzigen Kugelwurf setzte.

Jetzt nicht, beschloss er. Vielleicht wenn die Erniedrigung durch das Thermometer etwas länger hinter ihm lag, aber jetzt nicht. Wenn das feige von ihm war, dann war es das eben. Er schaltete den Computer aus und machte sich auf den Weg in den anderen Trakt. In der Nähe des Eiswürfelspenders war Maureen zwar nicht zu sehen, aber ihr Wäschewagen stand in der Mitte des Flurs, den Luke für sich als Averys Flur bezeichnete, und er hörte sie etwas über Regentropfen singen, so viele Regentropfen. Als er dem Klang ihrer Stimme folgte, kam er zu einem Zimmer, wo sie das Bett machte. An der Wand hingen Wrestlingposter mit Fleischbergen in Elastan-Shorts. Sie sahen allesamt so fies aus, als würden sie Nägel kauen und Heftklammern ausspucken.

»Hi, Maureen, wie geht es Ihnen?«

»Ganz gut«, sagte sie. »Der Rücken tut mir ein bisschen weh, aber ich hab ja mein Ibuprofen.«

»Soll ich Ihnen helfen?«

»Danke, aber das ist das letzte Zimmer, und ich bin gleich fertig. Zwei Mädchen, ein Junge, die bald eintreffen werden. Das ist das Zimmer von dem Jungen.« Sie deutete auf die Poster und lachte. »Was du dir sicher schon gedacht hast.«

»Tja, ich wollte mir ein paar Eiswürfel holen, aber in meinem Zimmer ist kein Kübel.«

»Die sind in einem Schrank neben dem Spender.« Sie richtete sich auf, presste sich die Hände ans Kreuz und schnitt eine Grimasse. Luke hörte ihre Wirbelsäule knacken. »Ach, jetzt geht’s mir wesentlich besser. Komm, ich zeig dir, wo die Kübel sind.«

»Bloß wenn es keine Mühe macht.«

»Überhaupt nicht. Komm mit. Wenn du willst, kannst du meinen Wagen schieben.«

Während sie durch den Flur gingen, dachte Luke an seine Recherchen zu Maureens Problem. Auffällig war vor allem eine erschreckende Statistik: Zusammengenommen hatten die Bürger der Vereinigten Staaten mehr als zwölf Billionen Dollar Schulden. Geld, das ausgegeben worden war, ohne verdient worden zu sein; es war ein reines Versprechen. Ein Paradox, das nur ein Buchhalter lieben konnte. Ein großer Teil dieser Schulden bestand zwar aus Hypotheken auf Wohneigentum und Firmen, aber eine beträchtliche Menge hatte mit den kleinen Plastikkarten zu tun, die alle in ihrem Portemonnaie stecken hatten – mit dem Oxycodon des amerikanischen Verbrauchers.

Maureen öffnete einen kleinen Schrank rechts vom Eiswürfelspender. »Kannst du selbst einen rausholen, damit ich mich nicht bücken muss? Irgendein rücksichtsloser Mensch hat die verdammten Kübel ganz nach hinten geschoben.«

Luke griff in den Schrank. »Kalisha hat mir von Ihrem Problem mit den Kreditkarten erzählt«, sagte er dabei mit leiser Stimme. »Ich glaube, ich weiß, wie man es lösen kann, aber es hängt unter anderem davon ab, wo Sie behördlich angemeldet sind.«

»Behördlich angemeldet?«

»In welchem Staat wohnen Sie?«

»Ich…« Sie sah sich verstohlen um. »Wir dürfen den Insassen keine persönlichen Sachen verraten. Wenn jemand was erfährt, verliere ich meinen Job. Und nicht nur den. Kann ich dir vertrauen, Luke?«

»Ich werde bestimmt den Mund halten.«

»Ich wohne drüben in Vermont. In Burlington. Da fahre ich in meiner freien Woche hin.« Indem sie ihm das erzählte, schien sich etwas in ihr zu lösen. Sie sprach zwar leise weiter, aber die Worte purzelten nur so aus ihr heraus. »Wenn ich hier rauskomme, muss ich erst mal haufenweise verflixte Nachrichten von meinem Handy löschen. Und wenn ich zu Hause bin, vom Anrufbeantworter. Du weißt schon, der vom Festnetz. Wenn der Anrufbeantworter voll ist, hinterlassen sie Briefe – Warnungen, Drohungen – im Briefkasten oder unter der Tür. Mein Auto können sie von mir aus jederzeit einkassieren, das ist ’ne richtige Schrottmühle, aber jetzt reden sie von meinem Haus! Das ist abgezahlt, und zwar bestimmt nicht wegen meinem Mann. Ich hab die Hypotheken mit meinem Einstiegsbonus abgelöst, als ich hier angefangen hab, deshalb hab ich ja überhaupt hier angefangen, aber wenn sie mir das Haus wegnehmen, kriege ich nicht den richtigen Wert, wie nennt man den noch mal…«

»Den Marktwert«, flüsterte Luke.

»Genau den.« In ihre bleichen Wangen war Röte gekrochen, ob aus Scham oder Wut, war Luke nicht klar. »Und sobald sie das Haus haben, wollen sie sicher auch das, was ich zurückgelegt hab, und dabei ist das nicht für mich! Es ist nicht für mich, aber sie werden es mir trotzdem wegnehmen. Sagen sie jedenfalls.«

»Hat er denn so viel Schulden gemacht?« Luke war verblüfft. Dieser Typ musste mit Geld nur so um sich geworfen haben.

»Ja!«

»Nicht so laut!« Luke hielt den Plastikkübel mit einer Hand, während er mit der anderen den Eiswürfelspender öffnete. »Gut, dass Sie in Vermont wohnen. Das ist ein Staat, in dem es keine Gütergemeinschaft gibt.«

»Was bedeutet das?«

Etwas, wovon die Leute nichts wissen sollen, dachte Luke. Es gibt so viel, was man nicht wissen soll. Sobald man in der Falle sitzt, soll man darin stecken bleiben. Er griff nach der Plastikschaufel, die innen an der Tür des Spenders steckte, und tat so, als würde er zusammengebackene Eiswürfel voneinander lösen. »Die Kreditkarten, die er verwendet hat, waren die auf seinen Namen ausgestellt oder auf Ihren?«

»Auf seinen natürlich, aber diese Typen sind trotzdem hinter mir her, weil wir offiziell noch verheiratet sind, und das Konto ist dasselbe!«

Luke fing an, den Kübel mit Eis zu füllen… ganz langsam. »Diese Leute behaupten, dass sie Ihr Geld einkassieren können, und das klingt ja auch plausibel, aber in Wirklichkeit können sie es gar nicht. In Vermont geht das nicht und in den meisten anderen Staaten auch nicht. Wenn er seine Karten verwendet hat und wenn auf den Belegen seine Unterschrift steht, dann sind das seine Schulden.«

»Aber sie sagen, es sind unsere! Die von uns beiden!«

»Da lügen sie«, sagte Luke grimmig. »Was die Anrufe angeht, von denen Sie gesprochen haben – kommen die manchmal nach acht Uhr abends?«

Ihre Stimme sank zu einem scharfen Flüstern herab. »Soll das ein Witz sein? Manchmal rufen die sogar um Mitternacht an! Zahlen Sie, oder die Bank nimmt Ihnen nächste Woche Ihr Haus weg! Wenn Sie heimkommen, hat man das Schloss ausgewechselt, und Ihre Möbel liegen draußen auf dem Rasen!«

Von solchen Geschichten und noch schlimmeren hatte Luke bereits gelesen. Inkassounternehmen drohten Schuldnern damit, ihre betagten Eltern aus dem Pflegeheim zu werfen. Oder sich an ihre erwachsenen Kinder zu halten, die noch kaum etwas verdienten. Solche Unternehmen taten alles, um ihren Anteil am Kuchen zu ergattern. »Es ist gut, dass Sie meistens weg sind und dass die Anrufe auf die Mailbox gehen. Hier drin dürfen Sie Ihr Handy nicht verwenden, oder?«

»Nein! Du lieber Himmel, nein! Das liegt in meinem Auto drüben im… äh, also nicht hier. Ich hab mir einmal eine neue Nummer besorgt, aber die haben sie irgendwie rausgekriegt. Wie haben sie das bloß geschafft?«

Mit links, dachte Luke. »Löschen Sie die Nachrichten nicht. Heben Sie sie auf. Es ist nicht erlaubt, dass Inkassounternehmen irgendwelche Kunden – so nennt man Leute wie Sie, Kunden – nach acht Uhr abends anrufen.«

Er leerte den Kübel aus, um ihn noch langsamer wieder zu füllen. Maureen sah ihn erstaunt und leicht hoffnungsvoll an, doch das nahm er kaum wahr. Er hatte sich tief in das Problem versenkt und verfolgte dessen Verstrickungen bis zu dem Knoten, an dem sie durchtrennt werden konnten.

»Sie brauchen einen Anwalt, aber nehmen Sie bloß keinen von den billigen Kanzleien, die im Kabelfernsehen Werbung machen. Die würden Sie bloß nach Strich und Faden ausnehmen und in die Privatinsolvenz treiben. Dann wären Sie nie wieder kreditwürdig. Wenden Sie sich an einen ganz normalen Anwalt aus Vermont, der sich mit Entschuldung auskennt, alles über inkorrekte Inkassopraktiken weiß und diese Blutsauger hasst. Ich werde ein bisschen recherchieren und jemand für Sie finden.«

»Das kannst du tun?«

»Ich glaube schon.« Falls man ihm nicht vorher seinen Computer wegnahm, jedenfalls. »Der Anwalt muss herausbekommen, welche Inkassounternehmen damit beauftragt sind, an Ihr Geld zu gelangen. Wer Ihnen da Angst einjagt und Sie mitten in der Nacht anruft. Die Banken und Kreditkartenfirmen geben die Namen von ihren Handlangern zwar nicht gerne preis, aber falls das entsprechende Gesetz nicht geändert wird – das versuchen mächtige Leute in Washington nämlich gerade–, kann ein guter Anwalt sie dazu zwingen. Die Leute, die Sie anrufen, übertreten permanent das Gesetz. Das sind ein Haufen Drecksäcke, die in Callcentern hocken.«

Und die sich nicht besonders von den hier arbeitenden Drecksäcken unterscheiden, dachte Luke.

»In Callcentern?«

»Ja, aber das ist nicht so wichtig.« Das Ganze dauerte schon viel zu lange. »Ein guter Anwalt wird sich mit den Aufzeichnungen auf Ihrer Mailbox an die Banken wenden und denen sagen, dass sie zwei Möglichkeiten haben – Ihnen die Schulden zu erlassen oder verklagt zu werden, weil sie gesetzwidrige Geschäftspraktiken anwenden. Banken hassen solche Gerichtsverfahren, weil dann bekannt wird, dass sie Leute anheuern, die kaum was anderes sind als die Schläger in einem Scorsese-Film.«

»Du meinst also, ich muss nicht bezahlen?« Maureen blickte benommen drein.

Er sah ihr direkt in ihr müdes, allzu bleiches Gesicht. »Haben Sie denn etwas Unrechtes getan?«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber es ist so viel Geld! Er hat sich in Albany eine eigene Wohnung eingerichtet, hat Stereoanlagen und Computer und Fernseher gekauft, er hat eine Geliebte, irgendein Flittchen, und der kauft er auch ständig was, er geht gern ins Spielcasino, und so geht es schon jahrelang. Ich war bloß so dämlich und vertrauensselig, dass ich es erst gemerkt hab, als es zu spät war.«

»Es ist nicht zu spät, das will ich Ihnen ja gerade…«

»Hi, Luke.«

Luke fuhr zusammen, drehte sich um und sah Avery Dixon vor sich stehen. »Hi. Wie war es auf dem Trampolin?«

»Erst gut, aber dann langweilig. Weißt du was? Ich hab ’ne Spritze gekriegt und nicht mal geweint.«

»Freut mich für dich.«

»Willst du drüben bis zum Mittagessen Fernsehen gucken? Da läuft Nickelodeon, hat Iris gesagt. SpongeBob und Rusty Rivets und Willkommen bei den Louds.«

»Jetzt nicht«, sagte Luke. »Aber viel Spaß dabei.«

Avery beäugte die beiden noch einen Moment, bevor er den Flur entlangging.

Sobald er fort war, wandte Luke sich wieder an Maureen. »Es ist nicht zu spät, wollte ich sagen. Aber Sie müssen bald handeln. Kommen Sie morgen wieder hierher, dann sag ich Ihnen, welchen Anwalt Sie nehmen können. Einen, der gut ist. Der Erfahrung hat. Versprochen.«

»Das… ach, Sohnemann, das ist zu schön, um wahr zu sein.«

Dass sie Sohnemann zu ihm sagte, gefiel ihm. Es vermittelte ihm ein warmes Gefühl. Vielleicht war das dämlich, aber es war trotzdem so.

»Ganz im Gegenteil«, sagte er. »Was die versuchen, Ihnen anzutun, ist zu gemein, um wahr zu sein. Jetzt muss ich aber wirklich los. Gleich gibt’s Mittagessen.«

»Das werde ich dir nie vergessen«, sagte sie und drückte ihm die Hand. »Wenn du…«

Am hinteren Ende des Flurs sprang knallend die Tür auf. Mit einem Mal war Luke sich sicher, dass dort gleich zwei Pfleger erscheinen würden, zwei von den fiesen – Tony und Zeke zum Beispiel. Die würden ihn irgendwo hinbringen und über das ausfragen, worüber er mit Maureen gesprochen hatte, und wenn er es ihnen nicht sofort verriet, würden sie das anwenden, was man als erweiterte Verhörmethoden bezeichnete, bis er alles ausplauderte. Wonach er Probleme bekommen würde, aber die Konsequenzen für Maureen würden eventuell noch schlimmer sein.

»Nur die Ruhe, Luke«, sagte Maureen. »Das sind bloß die neuen Insassen.«

Drei blau gekleidete Pfleger kamen durch die Tür. Sie zogen jeweils eine Rolltrage. Auf den ersten beiden lagen Mädchen, beide blond, auf der dritten lag ein muskelbepackter, rothaariger Junge, offensichtlich der Wrestlingfan. Alle drei schliefen. Als sie näher kamen, sagte Luke: »Wahnsinn, ich glaube, die Mädchen sind Zwillinge! Eineiig!«

»Stimmt. Sie heißen Gerda und Greta. Geh jetzt zum Essen. Ich muss den Pflegern da helfen, die Neuen unterzubringen.«

11

Avery saß auf einem der Sessel im Aufenthaltsraum, ließ die Beine baumeln und futterte eine Minisalami, während er das fröhliche Treiben in Bikini Bottom beobachtete. »Ich hab zwei Münzen gekriegt, weil ich bei meiner Spritze nicht geweint hab!«, verkündete er.

»Fein.«

»Du kannst die zweite haben, wenn du willst.«

»Nein danke. Behalt sie für später.«

»Okay. SpongeBob ist cool, aber ich will nach Hause.« Avery schluchzte und heulte nicht, doch aus seinen Augenwinkeln quollen Tränen.

»Ja, ich auch. Rück rüber.«

Das tat Avery, worauf Luke sich neben ihn setzte. Es war eng auf dem Sessel, aber das war okay. Luke legte Avery den Arm um die Schultern und drückte ihn kurz an sich. Avery reagierte, indem er Luke den Kopf auf die Schulter legte, was ihn auf eine Weise berührte, die er nicht recht beschreiben konnte. Jedenfalls hätte er gern selbst ein bisschen geweint.

»Weißt du was?«, sagte Avery. »Maureen hat einen Sohn.«

»Echt? Meinst du?«

»Klar. Der war klein, aber jetzt ist er groß. Noch älter als Nicky.«

»Mhm, okay.«

»Es ist ein Geheimnis.« Avery blickte unverwandt auf den Bildschirm, wo Patrick sich gerade mit Mr. Krabs stritt. »Sie spart für ihn Geld.«

»Wirklich? Und woher weißt du das?«

Avery sah ihn an. »Ich weiß es einfach. So wie ich weiß, dass dein bester Freund Rolf heißt und dass du im Wilderschmus Drive gewohnt hast.«

Luke riss die Augen auf. »Mann, Avery!«

»Ich bin gut, was?«

Und obwohl Avery noch Tränen auf den Wangen hatte, kicherte er.

12

Nach dem Essen schlug George ein Badmintonmatch mit zwei Dreierteams vor: er, Nicky und Helen gegen Luke, Kalisha und Iris. Als Bonus, sagte er, könne das Team von Nicky auch noch Avery haben.

»Der ist kein Bonus, sondern ein Defizit«, sagte Helen und wedelte die Wolke aus Mücken weg, von der sie bedrängt wurde.

»Was ist ein Defizit?«, fragte Avery.

»Wenn du es wissen willst, kannst du ja meine Gedanken lesen«, sagte Helen. »Außerdem ist Badminton was für Weicheier, die nicht Tennis spielen können.«

»Bist ’ne echte Stimmungskanone«, sagte Kalisha.

Helen marschierte zu den Picknicktischen und dem Spieleschrank, wobei sie den Mittelfinger über die Schulter reckte, ohne sich umzublicken. Dabei bewegte sie den Finger auf und ab. Iris sagte, es könnten ja Nicky und George gegen Luke und Kalisha spielen, während sie selbst sich als Schiedsrichterin betätigte. Avery wollte sie dabei unterstützen. Nachdem alle zugestimmt hatten, begann das Spiel. Es stand zehn zu zehn, als krachend die Tür zum Aufenthaltsraum aufging und der neue Junge herauskam. Er schaffte es beinahe, geradeaus zu gehen, wirkte jedoch noch benommen von der Droge, mit der man ihn vollgepumpt hatte. Außerdem war er stinksauer. Luke schätzte ihn auf gut ein Meter achtzig und etwa sechzehn Jahre. Er trug eine ziemliche Wampe vor sich her, aus der sich vielleicht ein Bierbauch entwickeln würde, wenn er erwachsen war, aber seine sonnenverbrannten Arme waren mit Muskeln bepackt, und er hatte ausgesprochen eindrucksvolle Schultern, wohl vom Gewichtheben. Seine Wangen waren mit Sommersprossen und Akne überzogen, seine Augen sahen entzündet aus. Der rote Haarschopf war vom Schlaf verwuschelt. Alle hielten inne, um ihn in Augenschein zu nehmen.

»Der Typ ist ein echter Kleiderschrank«, flüsterte Kalisha, ohne die Lippen zu bewegen, wie jemand auf einem Gefängnishof.

Neben dem Trampolin blieb der Neue stehen und musterte die anderen. Als er den Mund aufmachte, sprach er so stoßweise, als hätte er es mit Urwaldbewohnern zu tun, die kaum Englisch verstanden. Er hatte einen Südstaatenakzent. »Was… zum Henker… ist das hier?«

Avery trottete zu ihm hinüber. »Das ist das Institut. Hi, ich bin Avery. Und wie heißt…«

Der Neue legte Avery die Handfläche ans Kinn und schob ihn von sich weg. Das geschah nicht besonders heftig, ja beinahe geistesabwesend, aber Avery fiel trotzdem rücklings auf eines der Polster rings um das Trampolin und starrte geschockt zu dem Neuen empor. Der beachtete weder ihn noch die Badmintonspieler, Iris oder Helen, die dabei erstarrt war, eine Patience zu legen. Er schien mit sich selbst zu sprechen.

»Was… zum Henker… ist das hier?« Gereizt wedelte er die Stechmücken weg. Wie Luke hatte er sich bei seinem ersten Besuch auf dem Spielplatz nicht mit Mückenmittel eingeschmiert. Die Biester umschwärmten ihn nicht nur, sie landeten auf ihm und kosteten seinen Schweiß.

»He, Mann«, sagte Nicky. »Du hättest den Avester nicht so umstoßen sollen. Der wollte bloß nett zu dir sein.«

Das weckte die Aufmerksamkeit des Neuen wenigstens einigermaßen. Er wandte sich Nick zu. »Wer… zum Henker… bist du?«

»Nick Wilholm. Hilf Avery auf.«

»Hä?«

Nicky sah ihn geduldig an. »Du hast ihn umgestoßen, also hilfst du ihm auch auf.«

»Das mache ich schon«, sagte Kalisha und eilte zum Trampolin. Als sie sich bückte, um Avery am Arm zu ergreifen, stieß der Neue sie ebenfalls um. Sie verfehlte das Kissen und stürzte stattdessen auf den Kies, wobei sie sich ein Knie aufschrammte.

Nicky ließ seinen Badmintonschläger fallen, ging auf den Neuen zu und stemmte die Arme in die Hüften. »Jetzt darfst du beiden aufhelfen. Bestimmt bist du total desorientiert, aber das ist keine Entschuldigung.«

»Und wenn ich das nicht tu?«

Nicky lächelte. »Dann mach ich dich fertig, Fettsack.«

Helen Simms betrachtete die Szene interessiert vom Picknicktisch aus. George hingegen hatte offenbar beschlossen, sich auf sicheres Gelände zu begeben. Er schlenderte auf die Tür zum Aufenthaltsraum zu, wobei er deutlich Abstand von dem Neuen hielt.

»Gib dich doch nicht mit dem ab, wenn er sich als Arschloch outen will«, sagte Kalisha zu Nicky. »Mit dir ist doch alles okay, Avery, oder?« Sie half ihm auf die Beine und zog sich dann langsam zurück.

»Klar«, sagte Avery, obwohl ihm wieder Tränen über die Pausbacken rollten.

»Wen nennst du ein Arschloch, Bitch?«

»Offenbar dich, da du hier das einzige Arschloch bist«, sagte Nicky und tat einen weiteren Schritt auf den Neuen zu. Der Gegensatz zwischen den beiden faszinierte Luke. Der Neue war wie ein Hammer, Nicky wie ein Messer. »Deshalb musst du dich entschuldigen.«

»Fick dich und fick deine Entschuldigung«, sagte der Neue. »Ich weiß zwar nicht, wo ich hier bin, aber ich weiß, dass ich nicht bleiben werde. Und jetzt verzieh dich!«

»Du kannst nirgendwohin«, sagte Nicky. »Du sitzt hier fest, genau wie wir anderen.« Er lächelte, ohne die Zähne zu entblößen.

»Hört auf, ihr beiden«, sagte Kalisha. Sie hatte Avery den Arm um die Schultern gelegt, und Luke musste kein Gedankenleser sein, um zu wissen, was sie dachte, denn er dachte dasselbe: der Neue war mindestens dreißig, wenn nicht gar vierzig Kilo schwerer als Nicky, und er hatte zwar eine ansehnliche Wampe, aber seine Arme waren wie Stahl.

»Letzte Warnung«, sagte der Neue. »Verschwinde, sonst hau ich dich um.«

George hatte anscheinend nicht mehr vor, sich nach drinnen zu verkrümeln. Er schlenderte auf den Neuen zu, nicht hinter ihn, sondern von der Seite her. Von hinten schlich sich dagegen Helen an, langsam und mit dem hübschen kleinen Hüftschwung, den Luke so bewunderte. Und mit einem kleinen Lächeln.

George verzog das Gesicht zu einer konzentrierten Grimasse. Seine Lippen pressten sich zusammen, seine Stirn legte sich in Falten. Die Mücken, die die beiden Kontrahenten umkreist hatten, zogen sich plötzlich zusammen und sausten auf das Gesicht des Neuen zu wie von einem unsichtbaren Windhauch getragen. Als der Neue die Hand zu den Augen hob, um sie wegzuwedeln, ließ Helen sich hinter ihm auf die Knie fallen, während Nicky ihm einen Stoß versetzte. Er krachte der Länge nach auf den Boden, halb auf Kies und halb auf Asphalt.

Helen sprang auf und tänzelte davon. Lachend zeigte sie mit dem Finger auf den Neuen. »Wir ham dich, wir ham dich, Dicker, wir ham dich voll im Sack!«

Mit wütendem Gebrüll wollte der Neue aufstehen. Bevor ihm das gelang, trat Nicky auf ihn zu und kickte ihn in den Oberschenkel. Mit aller Kraft. Der Neue schrie auf, ließ sich auf den Rücken fallen, umklammerte sein Bein und zog die Knie zur Brust.

»Scheiße, hört doch auf!«, rief Iris. »Haben wir nicht schon genug Probleme?«

Der alte Luke hätte wohl zugestimmt; der neue Luke – der Luke im Institut – tat das nicht. »Er hat angefangen«, sagte er. »Und vielleicht hat er’s gebraucht.«

»Ich mach euch fertig!«, schluchzte der Neue. »Ich mach euch alle fertig, euch mit euren schmutzigen Tricks!« Sein Gesicht hatte eine erschreckend dunkelrote Färbung angenommen. Luke fragte sich, ob ein übergewichtiger Sechzehnjähriger wohl einen Schlaganfall erleiden konnte, und stellte – beängstigend, aber wahr – fest, dass ihm das völlig am Arsch vorbeiging.

Nicky ließ sich auf ein Knie nieder. »Einen Scheiß machst du«, sagte er. »Und jetzt hör mir mal gut zu, Fettsack. Dein Problem sind nicht wir. Dein Problem sind die da.«

Luke blickte sich um und sah drei Pfleger Schulter an Schulter vor der Tür zum Aufenthaltsraum stehen: Joe, Hadad und Gladys. Hadad wirkte nicht mehr besonders freundlich, und das künstliche Lächeln von Gladys war verschwunden. In der Hand hielten alle drei schwarze Dinger, aus denen Drähte herausragten. Vorläufig griffen sie noch nicht ein, waren jedoch bereit dazu. Weil ihr nicht zulasst, dass eure Versuchskaninchen sich gegenseitig wehtun, dachte Luke. Da habt ihr was dagegen. Versuchskaninchen sind wertvoll.

»Hilf mir mal mit diesem Volltrottel, Luke«, sagte Nicky.

Luke nahm einen Arm des Neuen und legte ihn sich um die Schultern, Nicky tat dasselbe mit dem anderen Arm. Die Haut des Kleiderschranks war erhitzt und ölig vor Schweiß. Mit zusammengebissenen Zähnen rang er nach Atem. Gemeinsam hievten Luke und Nicky ihn auf die Beine.

»Nicky?«, rief Joe. »Alles in Ordnung? Ist euer Streit vorüber?«

»Absolut«, sagte Nicky.

»Das will ich auch hoffen«, sagte Hadad und ging mit Gladys wieder hinein. Joe blieb stehen, wo er war, in der Hand weiterhin das schwarze Ding.

»Alles ist gut«, sagte Kalisha. »Es war kein echter Streit, bloß eine kleine…«

»Meinungsverschiedenheit«, sagte Helen.

»Er hat’s nicht bös gemeint«, sagte Iris. »Er war bloß durcheinander.« In ihrer Stimme lag echte Freundlichkeit. Luke schämte sich ein bisschen, weil er so befriedigt gewesen war, als Nicky dem Neuen ans Bein getreten hatte.

»Ich muss kotzen«, verkündete der Neue.

»Nicht aufs Trampolin, das kommt nicht infrage«, sagte Nicky. »Das benutzen wir nämlich. Komm, Luke. Hilf mir, ihn zum Zaun rüberzuschaffen.«

Der Neue machte Würggeräusche, während sein ansehnlicher Bauch sich hob und senkte. Luke und Nicky führten ihn zu dem Zaun, der den Spielplatz vom Wald trennte. Sie erreichten ihn gerade noch rechtzeitig. Der Neue legte das Gesicht an den Maschendraht und spuckte die letzten Reste dessen, was er in Freiheit zu sich genommen hatte, durch die Lücken.

»Iiih«, machte Helen. »Da hat jemand Maisbrei mit Sahne gefuttert. Widerlich.«

»Geht’s besser?«, fragte Nicky.

Der Neue nickte.

»Fertig?«

Der Neue schüttelte den Kopf und erbrach sich noch einmal, nur weniger heftig. »Ich glaub…« Er räusperte sich, wobei ihm weiterer Glibber aus dem Mund spritzte.

»Ach du Schande«, sagte Nicky und wischte sich die Wange ab. »Hast du vielleicht ein Handtuch dabei?«

»Ich glaub, ich kippe um.«

»Das glaub ich nicht«, sagte Luke. Ganz sicher war er sich da nicht, hielt es jedoch für am besten, positiv zu bleiben. »Komm mal hier rüber in den Schatten.«

Gemeinsam schafften sie den Neuen zum nächsten Picknicktisch. Kalisha setzte sich neben ihn und forderte ihn auf, den Kopf zu senken. Was er ohne Widerrede tat.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Nicky.

»Harry Cross.« Die Aggressivität war von ihm gewichen. Er hörte sich erschöpft und gedemütigt an. »Ich bin aus Selma. Das ist in Alabama. Hab keinen Schimmer, wie ich hier gelandet bin und was hier läuft. Absolut keinen blassen Schimmer.«

»Manches können wir dir schon erklären, aber du musst so ’n Scheiß wie vorhin bleiben lassen«, sagte Luke. »Reiß dich zusammen. Es ist hier schon schlimm genug, ohne dass wir uns gegenseitig verkloppen.«

»Und du musst dich bei Avery entschuldigen«, sagte George. Jetzt hörte er sich überhaupt nicht wie der Klassenclown an. »Das ist das Erste.«

»Ist schon okay«, sagte Avery. »Mir ist ja nichts passiert.«

Kalisha achtete nicht auf ihn. »Entschuldige dich!«

Harry Cross hob den Kopf und fuhr sich mit der Hand über sein gerötetes, einfältiges Gesicht. »Tut mir leid, dass ich dich umgestoßen hab, Kleiner.« Er ließ den Blick in die Runde schweifen. »Okay?«

»Halb okay.« Luke deutete auf Kalisha. »Bei der auch.«

Harry stieß einen Seufzer aus. »Tut mir leid, du, wie immer du auch heißt.«

»Ich heiße Kalisha. Falls wir Freunde werden sollten, was mir momentan nicht gerade wahrscheinlich vorkommt, kannst du mich Sha nennen.«

»Hauptsache, du sagst nicht Kumpel zu ihr«, sagte Luke. George lachte und schlug ihm auf den Rücken.

»Von mir aus«, murmelte Harry. Er wischte sich etwas vom Kinn.

»Nachdem die Aufregung jetzt vorüber ist«, sagte Nicky, »können wir ja das verdammte Badmintonspiel be…«

»Hallo, ihr zwei«, sagte Iris. »Wollt ihr nicht mal hier rüberkommen?«

Luke blickte sich um. Joe war verschwunden, und an seiner Stelle standen dort zwei kleine, blonde Mädchen. Sie hielten sich an der Hand und hatten den gleichen entsetzten Ausdruck im Gesicht. Überhaupt war alles an ihnen gleich, mit Ausnahme ihrer T-Shirts. Das eine war grün, das andere rot. Luke musste an Dr. Seuss denken: Ding 1 und Ding 2.

»Kommt nur her«, sagte Kalisha. »Alles ist gut. Der Zoff ist vorüber.«

Wenn das nur wahr wäre, dachte Luke.

13

Am selben Nachmittag saß Luke um Viertel nach vier in seinem Zimmer und informierte sich über Anwälte in Vermont, die sich speziell mit Entschuldung beschäftigten. Bisher hatte ihn noch niemand gefragt, weshalb er sich derart für ausgerechnet dieses Thema interessierte. Auch nach dem Unsichtbaren von H. G. Wells hatte sich niemand erkundigt. Wahrscheinlich hätte er testen können, ob er überwacht wurde – zum Beispiel, indem er mit Google nach Methoden suchte, sich umzubringen–, aber das wäre idiotisch gewesen. Wieso sollte man schlafende Hunde wecken? Und da es keine großen Auswirkungen auf das Leben hatte, das er jetzt führte, war es wohl besser, darüber nicht Bescheid zu wissen.

Es klopfte resolut an der Tür, dann ging sie auf, bevor er herein rufen konnte. Im Zimmer stand eine Pflegerin, groß und dunkelhaarig. Das Namensschildchen auf ihrem rosa Kittel identifizierte sie als PRISCILLA.

»Die Sache mit den Augen, stimmt’s?«, sagte Luke und schaltete den Laptop aus.

»Genau. Gehen wir.« Kein Lächeln, kein vergnügtes Trällern. Nach Gladys empfand Luke das als Erleichterung.

Gemeinsam gingen sie zum Aufzug und fuhren hinunter zu Ebene C.

»Wie weit in den Untergrund geht es hier eigentlich?«, fragte Luke.

Priscilla warf ihm einen kurzen Blick zu. »Geht dich nichts an.«

»Ich wollte mich bloß ein bisschen unter…«

»Lass das. Halt einfach den Mund.«

Luke hielt den Mund.

Im guten alten Raum C17 angelangt, fand Luke nicht Zeke vor, sondern einen MTA, auf dessen Schildchen BRANDON stand. Anwesend waren außerdem zwei Anzugträger, der eine mit einem I-Pad, der andere mit einem Klemmbrett. Da sie keine Namensschildchen trugen, handelte es sich offenbar um Ärzte. Der eine war extrem groß und hatte eine Wampe, mit der er die von Harry Cross problemlos in den Schatten stellte. Er trat auf Luke zu und bot ihm die Hand.

»Hallo, Luke. Ich bin Dr. Hendricks und leite die medizinischen Maßnahmen.«

Luke betrachtete die ausgestreckte Hand und spürte keinerlei Drang, sie zu ergreifen. Er lernte hier allerhand neue Verhaltensweisen, was interessant war, wenn auch auf ziemlich fürchterliche Weise.

Dr. Hendricks stieß ein merkwürdig wieherndes Lachen aus, bei dem er halb aus- und halb einatmete. »Schon in Ordnung, absolut in Ordnung. Das ist Dr. Evans, der Leiter der ophthalmologischen Maßnahmen.« Worauf er wieder wieherte, weshalb Luke annahm, dass es sich bei dem Ausdruck ophthalmologische Maßnahmen um irgendeinen Ärztewitz handelte.

Evans, ein klein gewachsener Mann mit struppigem Schnurrbart, lachte nicht darüber. Er lächelte nicht einmal und bot Luke auch nicht die Hand. »Du bist also einer von unseren neuen Rekruten. Willkommen. Setz dich, bitte.«

Luke gehorchte. Sich auf den Sessel zu setzen war eindeutig besser, als sich darüber zu beugen und den nackten Hintern in die Luft zu recken. Außerdem war er sich ziemlich sicher, worum es sich handelte; beim Augenarzt war er nämlich schon gewesen. In Filmen trug das nerdige Wunderkind immer eine dicke Brille, aber Lukes Sehvermögen war ausgezeichnet, zumindest bisher. Deshalb war er einigermaßen entspannt, bis Hendricks mit einer Spritze auf ihn zutrat. Als er die sah, rutschte ihm das Herz in die Hose.

»Keine Sorge, das ist wieder nur ein kleiner Einstich.« Als Hendricks diesmal wieherte, entblößte er seine vorstehenden Zähne. »Hier kriegt man einfach viele Spritzen, genau wie beim Militär.«

»Klar, weil ich zum Dienst eingezogen worden bin«, sagte Luke.

»Richtig, völlig richtig. Halt still.«

Luke nahm die Injektion hin, ohne zu protestieren. Diesmal spürte er keine Hitze, doch dann geschah etwas anderes. Etwas Schlimmes. Als Priscilla sich über ihn beugte, um ihm ein durchsichtiges Pflaster auf die Einstichstelle zu kleben, fing er zu würgen an. »Ich kann nicht…« Er wollte schlucken sagen, aber das gelang ihm nicht. Seine Kehle verkrampfte sich.

»Alles in Ordnung«, sagte Hendricks. »Das geht vorüber.« Was sich gut anhörte, doch nun näherte sich der andere Arzt mit einem Tubus, den er Luke offensichtlich in den Rachen rammen wollte, falls das nötig wurde. Hendricks legte seinem Kollegen eine Hand auf die Schulter. »Lassen Sie ihm ein paar Sekunden Zeit.«

Luke starrte die beiden verzweifelt an und spürte, wie ihm der Speichel am Kinn herunterrann. Er war sich sicher, dass dies die letzten Gesichter waren, die er zu sehen bekam… aber dann entkrampfte seine Kehle sich wieder. Gierig holte er tief Luft.

»Siehst du?«, sagte Hendricks. »Alles prima. Sie müssen nicht intubieren, Jim.«

»Was… was haben Sie mit mir gemacht?«

»Nicht das Geringste. Es geht dir bestens.«

Evans reichte Brandon den Tubus und stellte sich vor Luke. Zuerst leuchtete er ihm in beide Augen, dann zog er ein kleines Lineal aus der Tasche und maß deren Abstand. »Du trägst keine Kontaktlinsen, richtig?«

»Ich will wissen, was das war! Ich konnte nicht mehr atmen! Nicht mal mehr schlucken!«

»Es geht dir doch prächtig«, sagte Evans. »Du schluckst wie ein Weltmeister. Deine Gesichtsfarbe normalisiert sich auch wieder. Also, trägst du nun Kontaktlinsen oder nicht?«

»Ich trage keine«, sagte Luke.

»Gut. Schön für dich. Blick jetzt nach vorn, bitte.«

Luke starrte auf die Wand. Das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wie man atmete, war verschwunden. Brandon zog eine Projektionsfläche von der Raumdecke, dann dimmte er das Licht.

»Blick immer weiter geradeaus«, sagte Evans. »Wenn du einmal wegschauen solltest, kriegst du von Brandon eine Ohrfeige. Beim zweiten Mal verpasst er dir einen Elektroschock – niedrige Spannung, aber sehr schmerzhaft. Hast du kapiert?«

»Ja«, sagte Luke. Er schluckte. Das ging ganz gut, seine Kehle fühlte sich normal an, aber sein Herz schlug immer noch schneller als sonst. »Weiß eigentlich die Ärztekammer Bescheid, was hier passiert?«

»Halt bloß die Klappe«, sagte Brandon.

Die Klappe zu halten war offenbar die Standardhaltung hier. Er redete sich ein, das Schlimmste wäre vorüber, der Rest wär bloß noch ein Augentest, andere Kinder hätten dasselbe durchgemacht und überlebt, aber trotzdem schluckte er immer wieder, um sich zu bestätigen, dass auch er es schaffen würde. Man würde eine Sehtafel projizieren, er würde die Buchstaben lesen, und dann war es vorüber.

»Direkt geradeaus«, sagte Evans beinahe säuselnd. »Den Blick auf die Leinwand und nirgendwo anders hin.«

Musik ertönte – Geigen mit irgendeinem klassischen Stück. Das sollte wohl beruhigend wirken.

»Priscilla, schalten Sie den Projektor ein«, sagte Evans.

Anstatt einer Sehtafel erschien auf der Mitte der Leinwand ein runder blauer Punkt, der wie ein Herzschlag leicht pulsierte. Darunter tauchte ein roter Punkt auf, bei dem Luke an HAL denken musste – »Es tut mir leid, Dave.« Als Nächstes kam ein grüner Punkt. Der rote und der grüne Punkt pulsierten erst synchron mit dem blauen, dann blitzten alle drei abwechselnd auf und erloschen. Weitere Punkte erschienen, zuerst nacheinander, dann zu zweit, dann dutzendweise. Bald war die Leinwand von mehreren Hundert blinkenden Farbpunkten überzogen. Bunte Blitze.

»Auf den Bildschirm«, säuselte Evans. »Den Biiildschirm. Nirgendwo andershin.«

»Wenn ich die Dinger nicht von selbst sehe, werden sie also projiziert? Wie um einen Motor anzukurbeln oder so? Das kommt mir…«

»Klappe!« Diesmal war es Priscilla.

Jetzt fingen die Punkte an zu wirbeln. Sie jagten wild hintereinander her. Manche schienen Spiralen zu bilden, manche scharten sich zusammen, manche bildeten Kreise, die nach oben stiegen, sich senkten und sich kreuzten. Auch die Geigen spielten schneller, wodurch sich die leichte klassische Melodie in eine Art Tanzmusik verwandelte. Nun bewegten sich die Punkte nicht mehr nur, sie waren zu einer gewaltigen elektronischen Werbetafel geworden, deren Schaltkreise verrücktspielten. Luke hatte den Eindruck, dass er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Er dachte daran, wie Harry Cross durch den Maschendrahtzaun gekotzt hatte, und wusste, er würde dasselbe tun, wenn er weiter auf diese wild dahinrasenden Farbpunkte starrte, aber er wollte nicht kotzen, sonst landete alles auf seinem Schoß, und deshalb…

Brandon verpasste ihm eine kräftige Ohrfeige. Das dabei entstehende Geräusch war wie ein Knallfrosch, der zugleich in der Nähe und weit weg explodierte. »Schau auf die Leinwand, Kumpel!«

Etwas Warmes rann Luke über die Oberlippe. Da hat dieser Dreckskerl nicht nur meine Wange erwischt, sondern auch meine Nase, dachte Luke, aber eigentlich kam ihm das nicht weiter wichtig vor. Die wirbelnden Punkte waren ihm in den Kopf gestiegen, sie überfluteten sein Gehirn wie Enzephalitis oder Meningitis. Wie irgendeine Itis jedenfalls.

»Okay, Priscilla, schalten Sie aus«, sagte Evans, doch offenbar hörte sie ihn nicht, denn die Punkte verschwanden nicht. Sie blühten abwechselnd auf und schrumpften wieder zusammen, wobei jede Blüte größer als die vorherige war: wuuusch und zack, wuuusch und zack. Die Blüten wurden dreidimensional, lösten sich von der Leinwand, rasten auf ihn zu und wieder zurück, rasten hin und her…

Er glaubte zu hören, wie Brandon etwas über Priscilla sagte, aber das fand doch bestimmt nur in seinem Kopf statt, oder? Und schrie da wirklich jemand? Falls ja, war das möglicherweise er selbst?

»Braver Junge, Luke, sehr gut, das machst du prima.« Das war die Stimme von Evans, die von weit her in seine Ohren dröhnte. Von irgendwo hoch oben in der Stratosphäre. Vielleicht sogar von der anderen Seite des Mondes her.

Weitere farbige Punkte. Jetzt waren sie nicht mehr nur auf der Leinwand, sondern auch an den Wänden; sie wirbelten über die Zimmerdecke, überall um ihn herum, sogar in ihm. In den letzten Sekunden, bevor Luke bewusstlos wurde, hatte er den Eindruck, dass sie sein Gehirn ersetzten. Er sah seine Hände zwischen den Punkten nach oben fliegen, sah die Punkte hüpfend über seine Haut rasen, wurde sich bewusst, dass er im Sessel von einer Seite zur anderen zuckte.

Ich habe einen Krampfanfall, wollt ihr mich etwa umbringen? Das versuchte er zu sagen, aus seinem Mund kam jedoch nur ein klägliches kleines Gurgeln. Dann waren die Punkte verschwunden, er stürzte aus dem Sessel, stürzte in die Dunkelheit, und das war eine Erleichterung. O Gott, was für eine Erleichterung.

14

Eine Reihe Ohrfeigen weckte ihn aus der Bewusstlosigkeit. Es waren keine harten Schläge, ganz im Gegensatz zu dem, von dem ihm vorhin die Nase geblutet hatte (falls das tatsächlich passiert war), aber als liebevoll gingen diese Klapse auch nicht durch. Als er die Augen öffnete, stellte er fest, dass er auf dem Boden lag, und zwar in einem anderen Raum als vorher. Neben ihm hatte Priscilla sich auf ein Knie niedergelassen. Von ihr stammten also die Ohrfeigen. Brandon und die beiden Ärzte standen daneben und beobachteten die Prozedur. Hendricks hatte immer noch sein I-Pad in den Händen, Evans sein Klemmbrett.

»Er ist wach«, sagte Priscilla. »Kannst du aufstehen, Luke?«

Luke wusste nicht, ob er das konnte oder nicht. Vor vier oder fünf Jahren hatte er eine Halsentzündung mit hohem Fieber gehabt. Jetzt fühlte er sich wie damals, so als ob die Hälfte von ihm aus seinem Körper in die Luft geglitten wäre. Er hatte einen fauligen Geschmack im Mund, und die neueste Einstichstelle juckte wie verrückt. Noch immer spürte er, wie seine Kehle zugeschwollen war und wie grässlich sich das angefühlt hatte.

Brandon ließ ihm keine Chance, seine Standfestigkeit zu testen, er packte ihn einfach am Arm und zerrte ihn auf die Beine. Schwankend stand Luke da.

»Wie heißt du?«, fragte Hendricks.

»Luke… Lucas… Ellis.« Die Wörter schienen nicht aus seinem Mund zu kommen, sondern von der losgelösten Hälfte von ihm, die über seinem Kopf schwebte. Er war erschöpft. Sein Gesicht pochte von den wiederholten Schlägen, und die Nase tat ihm weh. Er hob die Hand (sie stieg langsam nach oben wie durch Wasser hindurch), rieb an der Haut über seiner Oberlippe und betrachtete dann ohne Überraschung die Spuren von getrocknetem Blut an seinem Zeigefinger. »Wie lange war ich bewusstlos?«, fragte er.

»Setzt ihn hin«, sagte Hendricks.

Brandon ergriff ihn an einem Arm, Priscilla am anderen. So führten sie ihn zu einem Stuhl (einem einfachen Küchenstuhl ohne Riemen zum Anschnallen, Gott sei Dank), der an einem Tisch stand. Evans ließ sich ihm gegenüber auf einem weiteren Küchenstuhl nieder. Vor sich hatte der Arzt einen Stapel Spielkarten liegen. Sie waren so groß wie Taschenbücher und hatten eine schlichte blaue Rückseite.

»Ich will wieder in mein Zimmer«, sagte Luke. Noch immer schien seine Stimme nicht aus seinem Mund zu kommen, aber immerhin war sie jetzt ein bisschen näher. Eventuell. »Ich will mich hinlegen. Mir ist übel.«

»Deine Desorientiertheit wird vorübergehen«, sagte Hendricks. »Allerdings könnte es klug sein, aufs Abendessen zu verzichten. Jetzt will ich erst einmal, dass du dich auf Dr. Evans konzentrierst. Wir haben einen kleinen Test für dich. Sobald der fertig ist, darfst du wieder in dein Zimmer, um dich zu… äh… entspannen.«

Evans griff nach der ersten Karte und betrachtete sie. »Was ist das?«, fragte er.

»Eine Karte«, sagte Luke.

»Spar dir die Scherze für deinen Youtube-Kanal auf«, sagte Priscilla und versetzte ihm eine Ohrfeige. Die war wesentlich härter als die Klapse, mit denen sie ihn aufgeweckt hatte.

In seinem Ohr klingelte es, aber wenigstens fühlte er sich ein bisschen klarer im Kopf. Er blickte zu Priscilla hoch und sah keinerlei Zögern. Kein Bedauern. Null Empathie. Nichts. Ihm wurde klar, dass er für sie kein Kind war. Sie hatte in ihrem Kopf eine entscheidende Trennung vorgenommen. Er war eine Testperson. So eine Person zwang man, das zu tun, was man von ihr wollte, und wenn sie das nicht tat, bediente man sich einer Methode, die in der Psychologie als negative Verstärkung bezeichnet wurde. Und wenn die Tests vorüber waren? Dann ging man in den Pausenraum, um sich bei einem Kaffee und einem Stück Gebäck über die eigenen Kinder zu unterhalten (die echte Kinder waren) oder um über Politik, Sport oder wer weiß was zu lästern.

Aber hatte er das nicht bereits gewusst? Wahrscheinlich schon, aber etwas zu wissen war etwas anderes, als es schmerzhaft auf der Haut zu spüren. Luke sah in nicht allzu ferner Zukunft einen Zeitpunkt kommen, an dem er jedes Mal zusammenzuckte, wenn jemand ihm gegenüber die geöffnete Hand hob, selbst wenn das nur geschah, um ihm die Hand zu schütteln oder ihn abzuklatschen.

Evans legte die Karte sorgfältig beiseite und nahm eine andere vom Stapel. »Wie steht es mit der hier, Luke?«

»Ich hab doch schon gesagt, das weiß ich nicht! Wie kann ich wissen, was…«

Priscilla schlug wieder zu. Jetzt klingelte es ihm stärker im Ohr, und er begann zu weinen. Dagegen konnte er nichts machen. Er hatte gedacht, das Institut wäre ein Albtraum, aber der wahre Albtraum bestand darin, sich nur halb im eigenen Körper zu befinden und gefragt zu werden, was sich auf Karten befand, die er nicht sehen konnte. Und dann geschlagen zu werden, wenn er sagte, dass er es nicht wusste.

»Versuch es, Luke«, sagte Hendricks ihm in das Ohr, in dem es nicht klingelte.

»Ich will in mein Zimmer. Ich bin müde. Und mir ist übel.«

Evans legte die zweite Karte weg und griff nach einer dritten. »Was ist da drauf?«

»Sie haben einen Fehler gemacht«, sagte Luke. »Ich bin TK, nicht TP. Vielleicht könnte Kalisha Ihnen sagen, was auf den Karten ist, und Avery könnte das bestimmt, aber ich bin nicht TP!«

Evans hob die vierte Karte auf. »Was ist da drauf? Jetzt gibt’s keine Schläge mehr. Sag’s mir, sonst wird Brandon dich mit seinem Schockstock traktieren, und das wird wehtun. Wahrscheinlich würde das keinen weiteren Krampfanfall auslösen, aber vielleicht doch, also sag es mir, Luke, was ist da drauf?«

»Die Brooklyn Bridge!«, brüllte Luke. »Der Eiffelturm. Brad Pitt in einem Smoking, ein Hund, der kackt, die Indy 500, ich weiß es nicht!«

Er wartete auf den Schockstock, bei dem es sich um eine Art Taser handeln musste. Vielleicht würde das Ding knistern, vielleicht ein Summen von sich geben. Vielleicht würde es auch gar kein Geräusch machen, und er würde einfach zusammenzucken und auf den Boden stürzen, zappelnd und sabbernd. Stattdessen legte Evans die Karte weg und wies Brandon mit einer Handbewegung an, zur Seite zu treten. Luke empfand keinerlei Erleichterung.

Ich wünschte, ich wäre tot, dachte er. Tot, dann wäre das zu Ende.

»Priscilla«, sagte Hendricks. »Bringen Sie Luke in sein Zimmer zurück.«

»Jawohl, Doktor. Brandon, hilf mir, ihn in den Aufzug zu schaffen.«

Als sie dort ankamen, fühlte Luke sich wieder einigermaßen vollständig und konnte klare Gedanken fassen. Hatten die den Projektor wirklich ausgeschaltet? Und hatte er trotzdem weiterhin die blitzenden Punkte gesehen?

»Das war ein Irrtum.« Er spürte, dass sein Mund und Hals ganz trocken waren. »Ich bin nicht, was ihr hier als TP bezeichnet. Das wisst ihr doch, oder etwa nicht?«

»Was weiß ich«, sagte Priscilla gleichgültig. Sie sah Brandon an und hatte ein echtes Lächeln auf dem Gesicht, mit dem sie ein ganz neuer Mensch wurde. »Wir sehen uns später, ja?«

Brandon grinste. »Und ob!« Er wandte sich Luke zu, ballte blitzschnell die Faust und ließ sie auf Lukes Gesicht zusausen. Zwei, drei Zentimeter vor der Nase stoppte er ab, aber Luke zuckte trotzdem zusammen und schrie auf. Brandon lachte herzhaft, während Priscilla ihm ein verständnisvolles Lächeln schenkte. Nach dem Motto: Männer halt.

»Nimm’s locker, Luke«, sagte Brandon und stolzierte den Flur von Ebene C entlang wie ein Westernheld im B-Movie. Sein im Holster steckender Schockstock klopfte ihm dabei an den Oberschenkel.

Im Hauptflur oben – wo offenbar alle Insassen untergebracht waren – standen Gerda und Greta und blickten mit weit aufgerissenen Augen verängstigt durch die Gegend. Die beiden kleinen Mädchen hielten sich an der Hand und drückten Puppen an sich, die ebenso genau gleich aussahen wie sie selbst. Sie erinnerten Luke an die Zwillinge in irgendeinem alten Horrorfilm.

Priscilla begleitete ihn zu seiner Tür und marschierte wortlos davon. Luke ging hinein, sah, dass inzwischen niemand hereingekommen war, um ihm seinen Laptop wegzunehmen, und plumpste aufs Bett, ohne auch nur die Schuhe auszuziehen. So schlief er die nächsten fünf Stunden.

15

Mrs. Sigsby wartete bereits, als Dr. Hendricks alias Donkey Kong die kleine Privatwohnung neben ihrem Büro betrat. Sie thronte auf dem kleinen Sofa. Er überreichte ihr einen Aktenordner. »Ich weiß, dass Sie Ausdrucke schätzen, daher bitte sehr. Mögen sie Ihnen nützen.«

Sie öffnete den Ordner nicht. »Die können mir weder nützen noch schaden, Dan. Schließlich sind es Ihre Tests, Ihre sekundären Experimente, und die scheinen sich nicht bezahlt zu machen.«

Er schob trotzig den Unterkiefer vor. »Agnes Jordan. William Gortsen. Veena Patel. Zwei oder drei weitere, deren Namen mir momentan entfallen sind. Donna soundso zum Beispiel. Bei denen allen haben wir positive Resultate erzielt.«

Sie seufzte und zupfte an ihren dünner werdenden Haaren. Hendricks fand, dass Siggers ein Vogelgesicht hatte – zwar eine scharfe Nase anstatt eines Schnabels, aber dieselben gierigen Äuglein. Ein Vogelgesicht mit einem Bürokratenhirn dahinter. Eigentlich hoffnungslos. »Dafür haben Sie bei mehreren Dutzend Pinks überhaupt keine Resultate erhalten.«

»Das mag stimmen, aber denken Sie doch mal nach«, sagte er, weil das, was er eigentlich sagen wollte – wie können Sie bloß so dämlich sein?–, ihn schwer in die Bredouille gebracht hätte. »Wenn wirklich ein Zusammenhang zwischen Telepathie und Telekinese besteht, wie meine Experimente es vermuten lassen, gibt es vielleicht noch andere paranormale Fähigkeiten, die latent vorhanden sind und nur darauf warten, hervorgelockt zu werden. Das, wozu selbst die talentiertesten unter den Kindern hier imstande sind, ist eventuell nur die Spitze des Eisbergs. Angenommen, eine Heilung mit paranormalen Methoden wäre eine echte Möglichkeit? Angenommen, ein Glioblastom wie das, an dem John McCain gestorben ist, könnte nur durch die Kraft des Geistes kuriert werden? Angenommen, diese Fähigkeiten könnten dazu eingesetzt werden, das Leben zu verlängern, vielleicht auf hundertfünfzig Jahre oder gar mehr? Das, wofür wir diese Kinder einsetzen, muss nicht das Ende sein; womöglich ist es erst der Anfang!«

»Das höre ich alles nicht zum ersten Mal«, sagte Mrs. Sigsby. »Außerdem habe ich es in dem Schriftstück gelesen, das Sie so hübsch als Ihre Leitvorstellung bezeichnen.«

Aber du kapierst es nicht, dachte er. Genauso wenig wie Stackhouse. Evans kapiert es zwar einigermaßen, aber nicht einmal der erkennt das gewaltige Potenzial. »Es ist ja nicht so, als ob dieser Knabe namens Ellis oder jemand wie Iris Stanhope besonders wertvoll wären. Schließlich gibt es einen guten Grund, weshalb wir sie als Pinks bezeichnen.« Er machte pff und wedelte mit der Hand.

»Das entsprach vor zwanzig Jahren mehr der Wahrheit als heute«, erwiderte Mrs. Sigsby. »Noch vor zehn Jahren.«

»Aber…«

»Es reicht, Dan. Hat der kleine Ellis nun irgendwelche Anzeichen dafür erkennen lassen, dass er TP ist, oder nicht?«

»Nein, aber er hat die Lichter auch dann noch gesehen, als der Projektor längst ausgeschaltet war, was wir für einen Indikator halten. Für einen starken Indikator. Dann hatte er leider einen Krampfanfall. Was nicht ungewöhnlich ist, wie Sie wissen.«

Sie seufzte. »Ich habe keine Einwände dagegen, dass Sie Ihre Tests mit den Stass-Lichtern fortsetzen, Dan, aber Sie müssen die Dinge nüchtern betrachten. Unser Hauptzweck besteht darin, die Rekruten für den Hinterbau vorzubereiten. Das ist das Wichtigste, das eigentliche Ziel. Irgendwelche Nebenwirkungen sind da nicht von großer Bedeutung. Das Management hat kein Interesse an dem paranormalen Pendant von Minoxidil.«

Hendricks fuhr zusammen, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. »Ein blutdrucksenkendes Mittel, das nebenbei dazu verwendet wird, auf dem Schädel von kahlen Spießbürgern wieder Haare sprießen zu lassen, ist wohl kaum mit einem Verfahren vergleichbar, das den Lauf der Menschheitsgeschichte verändern könnte!«

»Mag sein, und wenn Ihre Tests häufiger Ergebnisse erbracht hätten, würden ich und die Leute, die unser Gehalt bezahlen, wohl mehr Begeisterung an den Tag legen. Bisher haben Sie jedoch nur einige Zufallstreffer vorzuweisen.«

Er machte den Mund auf, um zu widersprechen, schloss ihn aber gleich wieder, weil sie ihm ihren schärfsten Blick zuwarf.

»Vorläufig können Sie Ihre Tests weiterführen, geben Sie sich damit zufrieden«, sagte sie. »Das ist schon deshalb angebracht, weil wir wegen diesen Tests mehrere Kinder verloren haben.«

»Pinks«, sagte er und gab wieder ein wegwerfendes Pff von sich.

»Sie tun so, als gäbe es die wie Sand am Meer«, sagte sie. »Das war vielleicht mal so, aber damit ist es vorbei, Dan. Definitiv vorbei. Übrigens habe ich was für Sie.«

Es war ein roter Aktenordner, der den Stempel VERLEGUNG trug.

16

Als Luke am Abend in den Aufenthaltsraum kam, saß Kalisha auf dem Boden und hatte den Rücken an eines der großen Fenster gelehnt, durch die man den Spielplatz sah. Sie nuckelte an einer kleinen Flasche. Einer von den Alcopops, die man aus dem Automaten ziehen konnte.

»Trinkst du das Zeug etwa?«, fragte er, während er sich neben ihr niederließ. Draußen vergnügten sich Avery und Helen auf dem Trampolin; offenbar brachte sie ihm gerade bei, wie man eine Rolle vorwärts machte. Bald würde es zu dunkel sein, dann mussten die beiden hereinkommen. Die Tür zum Spielplatz wurde zwar nie abgeschlossen, aber draußen gab es keinerlei Beleuchtung, was von nächtlichen Besuchen abschreckte.

»Zum ersten Mal. Hab meine ganzen Münzen dafür aufgebraucht. Schmeckt ziemlich furchtbar. Willst du probieren?« Sie streckte ihm die Flasche hin, die ein Getränk namens Twisted Tea enthielt.

»Lieber nicht. Hör mal, Sha, wieso hast du mir nicht erzählt, dass der Lichtertest so schlimm ist?«

»Sag doch lieber Kalisha zu mir. Du bist der Einzige, der das tut, und ich mag es.« Ihre Stimme klang ein winziges bisschen verwaschen. Sie hatte bestimmt erst ein paar Schlucke von dem alkoholischen Gesöff getrunken, war aber offensichtlich nicht daran gewöhnt.

»Na gut. Kalisha. Also, wieso hast du es mir nicht gesagt?«

Sie zuckte die Achseln. »Sie zwingen dich dazu, irgendwelche herumtanzenden farbigen Lichter anzuschauen, bis dir ein bisschen schwindlig wird. Was ist so schlimm daran?« Das daran verschluckte sie halb.

»Echt? Ist das alles, was bei dir passiert ist?«

»Ja. Wieso? Was ist denn bei dir passiert?«

»Zuerst haben sie mir eine Spritze verpasst, auf die ich ziemlich heftig reagiert hab. Ich hab keine Luft mehr gekriegt. Einen Moment lang dachte ich, dass ich sterbe.«

»Hm. Mir haben sie vor dem Test auch was gespritzt, aber das hatte keine Wirkung. Das klingt ja wirklich schlimm. Tut mir leid, Lukey.«

»Das war nur der Anfang. Während ich auf die Lichter geschaut hab, bin ich bewusstlos geworden. Ich glaube, ich hatte einen Krampfanfall.« Außerdem hatte er sich ein bisschen in die Hose gemacht, aber diese spezielle Information wollte er lieber für sich behalten. »Nachdem ich wieder zu mir gekommen bin…« Er hielt inne, um sich zu beruhigen. Schließlich hatte er nicht die Absicht, vor diesem hübschen Mädchen mit ihren schönen braunen Augen und ihren glänzenden schwarzen Haaren in Tränen auszubrechen. »Nachdem ich wieder zu mir gekommen bin, haben sie mich geschlagen.«

Sie setzte sich auf. »Was sagst du da?«

Er nickte. »Einer von den Ärzten… Evans, kennst du den?«

»Der mit dem kleinen Schnurrbart.« Sie rümpfte die Nase und nahm einen weiteren Schluck.

»Genau, der. Er hatte einen Stapel Karten und wollte mich dazu bringen, ihm zu sagen, was drauf ist. Es waren Zenerkarten. Höchstwahrscheinlich jedenfalls. Du hast mir davon erzählt, weißt du noch?«

»Klar. Mit denen haben sie mich bestimmt ein Dutzend Mal getestet. Eher zwei Dutzend Male. Aber nicht direkt nach den Lichtern. Danach haben sie mich einfach in mein Zimmer zurückgebracht.« Sie nippte wieder an der Flasche. »Offenbar haben sie ihre Unterlagen durcheinandergebracht und dachten, du bist TP statt TK.«

»Das hab ich anfangs auch gedacht und es ihnen gesagt, aber sie haben mich weiter geschlagen. Als ob sie dächten, ich würde simulieren.«

»So was Verrücktes hab ich noch nie gehört«, sagte sie, wieder leicht verwaschen.

»Ich glaube, es ist passiert, weil ich nicht pos bin, wie ihr sagt. Ich bin bloß ganz normal. Uns normale Kids nennen sie Pinks.«

»Ja. Pinks. Das stimmt.«

»Was ist mit den anderen? Ist denen so was schon passiert?«

»Ich hab sie nie danach gefragt. Bist du dir sicher, dass du nichts abhaben willst?«

Luke nahm die Flasche entgegen und trank einen Schluck, aber in erster Linie, damit Kalisha nicht alles trank. Nach seiner Einschätzung hatte sie bereits genug. Das Gesöff schmeckte genauso scheußlich, wie er erwartet hatte. Er gab ihr die Flasche zurück.

»Willst du nicht wissen, was ich feiere?«, fragte sie.

»Was denn?«

»Iris. Ihr Andenken. Sie ist jemand wie du, nichts Besonderes, bloß ein bisschen TK. Vor einer Stunde sind sie gekommen und haben sie mitgenommen. Und wie George sagen würde, werden wir sie nie wiedersehen.«

Sie fing an zu weinen. Luke umarmte sie. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Sie ließ es zu und senkte den Kopf an seine Schulter.

17

Später ging Luke wieder auf die Website mit Mr. Griffin, tippte die Internetadresse der Star Tribune ein und starrte beinahe drei Minuten darauf, bevor er sie löschte, ohne die Eingabetaste zu drücken. Feigling, dachte er. Ich bin ein Feigling. Wenn sie tot sind, sollte ich das herausfinden. Nur wusste er nicht, wie er dann mit der Nachricht umgehen sollte, ohne völlig zusammenzubrechen. Und abgesehen davon – was würde es ihm nützen?

Stattdessen tippte er Vermont Anwalt Entschuldung ein. Das hatte er bereits recherchiert, sagte sich jedoch, dass es immer eine gute Idee war, seine Ergebnisse noch einmal nachzuprüfen. Außerdem konnte er sich damit die Zeit vertreiben.

Zwanzig Minuten später loggte er sich aus und überlegte gerade, ob er einen Spaziergang machen und sich umschauen sollte, wer unterwegs war (Kalisha war seine erste Wahl, falls die nicht ihren Rausch ausschlief), als die farbigen Punkte wiederkamen. Sie wirbelten ihm vor den Augen herum, und seine Umgebung wich zurück. Genauer gesagt, brauste sie davon wie ein Zug, der den Bahnhof verließ, während man ihn vom Bahnsteig aus beobachtete.

Er ließ den Kopf auf den zugeklappten Laptop sinken, machte tiefe, langsame Atemzüge und befahl sich durchzuhalten, durchzuhalten, einfach durchzuhalten. Es würde schon vorübergehen, sagte er sich und sperrte sich gegen jeden Gedanken daran, was geschehen würde, wenn es nicht vorüberging. Immerhin konnte er schlucken. Das tat gut, und irgendwann ging das Gefühl, von sich selbst wegzutreiben – und in ein Universum aus wirbelnden Lichtblitzen zu entschweben–, tatsächlich vorüber. Er wusste nicht, wie lange es angedauert hatte. Vielleicht waren es nur eine oder zwei Minuten gewesen, aber es kam ihm wesentlich länger vor.

Er ging ins Bad, putzte sich die Zähne und betrachtete sich dabei im Spiegel. Dass er die Punkte gesehen hatte, wussten sie womöglich, das wussten sie sogar ziemlich sicher, aber das andere konnten sie nicht wissen. Er hatte nämlich zwar tatsächlich keine Ahnung gehabt, was auf der ersten und der dritten Karte gewesen war, aber auf der zweiten war ein Junge auf einem Fahrrad gewesen und auf der vierten ein kleiner Hund mit einem Ball im Maul. Schwarzer Hund, roter Ball. Anscheinend war er doch TP.

Oder er war es inzwischen geworden.

Luke spülte sich den Mund, schaltete das Licht aus, zog sich im Dunkeln aus und legte sich aufs Bett. Die Lichter hatten etwas an ihm verändert. Offenbar vermuteten seine Peiniger das, waren sich jedoch nicht sicher. Er wusste zwar nicht, wie er das verifizieren konnte, aber…

Er war ein Versuchskaninchen, wahrscheinlich waren sie das alle, aber schwach ausgeprägte TPs und TKs – Pinks – wurden zusätzlichen Tests unterzogen. Weshalb? Weil sie weniger wertvoll waren? Weil man leichter auf sie verzichten konnte, wenn etwas schiefging? Das war zumindest wahrscheinlich. Auf jeden Fall dachten die Ärzte bestimmt, das Experiment mit den Karten wäre gescheitert. Das war gut. Es waren schlechte Menschen, und etwas vor solchen Menschen geheim zu halten musste gut sein, oder etwa nicht? Allerdings hatte er so eine Ahnung, dass die Lichter noch einem anderen Zweck dienten als nur dazu, die Talente von Pinks zu steigern, denn stärkere TPs und TKs wie Kalisha und George wurden ebenfalls damit traktiert. Was mochte dieser andere Zweck wohl sein?

Da fiel ihm erst mal nichts ein. Er wusste nur, dass die Punkte verschwunden waren. Auch Iris war verschwunden, aber die Punkte kehrten womöglich wieder, im Gegensatz zu Iris. Iris war in den Hinterbau verlegt worden, und er würde sie nie wiedersehen.

18

Am folgenden Morgen saßen neun Kinder beim Frühstück, doch da Iris fort war, wurde nur wenig gesprochen und gelacht. George Iles riss keine Witze. Helen Simms beschränkte ihr Frühstück auf Zuckerzigaretten. Harry Cross holte sich einen Berg Rührei vom Büfett und schaufelte ihn (samt Bacon und Bratkartoffeln) in sich hinein, ohne von seinem Teller aufzublicken, als würde er Schwerstarbeit verrichten. Greta und Gerda Wilcox, die beiden kleinen Mädchen, aßen gar nichts, bis Gladys mit ihrem sonnigen Lächeln auftauchte und sie dazu brachte, ein paar Bissen zu verzehren. Über die Zuwendung schienen die Zwillinge sich zu freuen, sie lachten sogar ein bisschen. Luke überlegte, ob er sie später beiseitenehmen und davor warnen sollte, diesem Lächeln zu trauen, aber das würde ihnen nur Angst machen, und was würde das nützen?

Was würde das nützen war zu einem weiteren Mantra geworden. Luke wurde klar, dass das eine schlechte Denkweise war, ein Schritt dahin, den Ort hier zu akzeptieren. Diesen Schritt wollte er nicht tun, auf gar keinen Fall, doch an der Logik führte kein Weg vorbei. Wenn die kleinen Mädchen sich durch die Aufmerksamkeiten von Gladys getröstet fühlten, war das vielleicht gut, aber wenn er daran dachte, wie man eben diese Mädchen mit dem Rektalthermometer traktierte… und Lichtern…

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Nicky. »Du siehst aus, als hättest du in eine Zitrone gebissen.«

»Nichts. Hab bloß an Iris gedacht.«

»Die ist Geschichte, Alter.«

Luke sah ihn an. »Das ist aber brutal.«

Nicky zuckte die Achseln. »Ist die Wahrheit oft. Sollen wir rausgehen und Basketball spielen?«

»Nein.«

»Komm schon. Ich lass dir ’nen Vorsprung.«

»Keine Lust.«

»Angst zu verlieren?«, fragte Nicky ohne Groll.

Luke schüttelte den Kopf. »Ich würde mich dabei bloß schlecht fühlen. Das hab ich nämlich oft mit meinem Dad gespielt.« Ihm wurde klar, dass er in der Vergangenheit gesprochen hatte, und das hasste er.

»Okay, das versteh ich.« Nicky sah Luke mit einem Ausdruck an, den er kaum ertrug, vor allem weil ihn jemand wie Nicky Wilholm auf dem Gesicht hatte. »Hör mal…«

»Was denn?«

Nicky seufzte. »Komm einfach nach draußen, wenn du’s dir anders überlegst.«

Luke verließ den Aufenthaltsraum, wanderte seinen Flur entlang – den mit dem TAG WIE IM PARADIES – und ging dann weiter in den nächsten, den er für sich nun Eisspender-Flur nannte. Keine Spur von Maureen, weshalb er weiterging. Er kam an weiteren aufmunternden Postern und weiteren Zimmern vorüber, insgesamt neun auf jeder Seite. Sämtliche Türen standen offen, dahinter sah man ungemachte Betten und kahle Wände ohne Poster. Dadurch entpuppten die Räume sich als das, was sie tatsächlich waren: Gefängniszellen für Kinder. Luke ging am Aufzug und weiteren Zimmern vorüber. Bestimmte Schlüsse schienen unausweichlich, zum Beispiel, dass das Institut einmal wesentlich mehr »Insassen« beherbergt hatte. Falls man bei der Errichtung nicht übertrieben optimistisch gewesen war.

Schließlich kam Luke in einen zweiten Aufenthaltsraum, wo der Hausmeister namens Fred in weiten, schlampigen Kreisen eine Poliermaschine über den Boden schob. Auch hier gab es Automaten für Snacks und Getränke, die jedoch leer und ausgesteckt waren. Draußen sah man keinen Spielplatz, sondern nur eine mit Kies bestreute Fläche, einen Maschendrahtzaun mit einigen Bänken davor (wahrscheinlich für Angestellte, die in den Pausen draußen sitzen wollten) und in etwa siebzig Meter Entfernung das mattgrüne Verwaltungsgebäude. Die Höhle von Mrs. Sigsby, die ihm erklärt hatte, er sei hier, um zu dienen.

»Wo willst du hin?«, fragte Fred der Hausmeister.

»Ich geh bloß durch die Gegend«, sagte Luke. »Schauen, was es zu sehen gibt.«

»Hier gibt’s nichts zu sehen. Geh wieder dahin, wo du herkommst. Spiel mit den anderen Kindern.«

»Und wenn ich das nicht will?« Das hörte sich eher kläglich als trotzig an, weshalb Luke sich wünschte, er hätte den Mund gehalten.

An einer Hüfte trug Fred ein Walkie-Talkie, an der anderen einen Schockstock. Er klopfte an Letzteren. »Geh zurück. Ich sag’s dir nicht noch mal.«

»Okay. Einen schönen Tag noch, Fred.«

»Den kannst du dir irgendwohin stecken.« Die Poliermaschine heulte wieder auf.

Während Luke den Rückzug antrat, staunte er darüber, wie schnell seine ganzen unerschütterlichen Annahmen über Erwachsene – zum Beispiel, dass sie nett zu einem waren, wenn man nett zu ihnen war – in Stücke geflogen waren. Er versuchte, nicht in die vielen leeren Zimmer zu blicken, an denen er vorüberkam. Die waren unheimlich. Wie viele Kinder darin wohl gewohnt hatten? Was war mit denen geschehen, nachdem man sie in den Hinterbau verlegt hatte? Und wo waren sie jetzt? Zu Hause?

»Scheiße, das sind sie nicht«, murmelte er und wünschte sich, seine Mutter wäre hier und würde wegen seiner Ausdrucksweise mit ihm schimpfen. Dass er seinen Vater nicht bei sich hatte, war schlimm. Dass seine Mutter nicht da war, war so, als hätte man ihm einen Zahn gezogen.

Als er in den Eisspenderflur kam, sah er Maureens Wäschewagen vor Averys Zimmer stehen. Er steckte den Kopf durch die Tür, und sie lächelte ihn an, damit beschäftigt, die Bettdecke glatt zu streichen. »Alles okay, Luke?«

Eine dämliche Frage, aber er wusste, dass sie es gut meinte; vielleicht hatte es etwas mit der gestrigen Lightshow zu tun. Ihr Gesicht sah heute bleicher aus, die Linien um ihren Mund waren tiefer. Der geht es nicht gut, dachte Luke.

»Klar. Und wie geht’s Ihnen?«

»Bestens.« Sie log. Das fühlte sich nicht wie eine Ahnung oder eine Einsicht an, sondern wie eine unumstößliche Tatsache. »Bis darauf, dass der hier – Avery – heute Nacht ins Bett gemacht hat.« Sie seufzte. »Damit ist er nicht der Erste und wird auch nicht der Letzte sein. Gott sei Dank ist es nicht durch die Matratzenauflage gegangen. Na, dann tschüs, Luke. Einen schönen Tag noch.« Mit hoffnungsvollen Augen blickte sie ihm direkt ins Gesicht, nur dass der hoffnungsvolle Ausdruck eigentlich hinter diesen Augen lag. Sie haben mich verändert, dachte er wieder. Ich weiß nicht, wie, und ich weiß auch nicht, wie stark, aber sie haben mich eindeutig verändert. Etwas Neues ist hinzugekommen. Er war unheimlich froh, dass er bei den Karten gelogen hatte, und erst recht darüber, dass sie die Lüge geschluckt hatten. Zumindest vorläufig.

Luke tat so, als wollte er davongehen, dann drehte er sich wieder um. »Ich glaube, ich besorge mir noch ein bisschen Eis. Gestern hat man ziemlich auf mich eingedroschen, und mein Gesicht tut weh.«

»Tu das, Sohnemann. Tu das.«

Wieder tat es ihm gut, so genannt zu werden. Beinahe hätte er gelächelt.

Er holte den Eiskübel, der noch in seinem Zimmer war, goss das restliche Wasser im Bad ins Waschbecken und machte sich auf den Weg zum Eiswürfelspender. Dort wartete Maureen. Nach unten gebeugt, lehnte sie mit dem Hintern an der Betonwand und hatte die Hände auf die Schienbeine gestützt, fast schon an den Knöcheln. Luke eilte auf sie zu, aber sie wedelte beschwichtigend mit der Hand. »Ich strecke bloß den Rücken. Dann zwickt es nicht mehr so.«

Luke öffnete die Tür des Spenders und griff nach der Schaufel. Von Kalisha hatte er einen Zettel zugesteckt bekommen, aber Maureen konnte er keinen schreiben, weil er zwar einen Laptop hatte, aber weder Papier noch Kugelschreiber. Nicht mal einen Bleistiftstummel. Vielleicht war das gut so. Hier drin stellten Zettel eine Gefahr dar.

»Leah Fink in Burlington«, murmelte er, während er Eis in den Kübel schaufelte. »Oder Rudolph Davis in Montpellier. Beide haben fünf Sterne auf Legal Eagle, das ist ein Verbraucherportal. Können Sie sich die Namen merken?«

»Leah Fink, Rudolph Davis. Herzlichen Dank, Luke.«

Luke wusste, dass er es darauf beruhen lassen sollte, aber er war neugierig. Das war er immer schon gewesen. Anstatt sich davonzumachen, stieß er mit der Schaufel nach dem Eis, als wollte er die Stücke auseinanderbrechen. Das war zwar absolut nicht nötig, machte aber schön viel Krach. »Avery sagt, das Geld, das Sie gespart haben, ist für ein Kind. Es geht mich zwar nichts an…«

»Der kleine Dixon gehört zu den Gedankenlesern, stimmt’s? Er muss ganz schöne Kräfte haben, auch wenn er ins Bett pinkelt. Auf seinem Bogen ist jedenfalls kein rosa Punkt.«

»Ja, das kann er.« Luke hantierte weiter mit der Schaufel herum.

»Tja, er hat recht. Ich hab meinen Jungen gleich nach der Geburt über die Kirche zur Adoption freigegeben. Ich wollte ihn behalten, aber der Pfarrer und meine Mutter haben es mir ausgeredet. Der Dreckskerl, den ich später geheiratet hab, wollte keine Kinder, deshalb hab ich in meinem Leben bloß das bekommen, das ich weggegeben hab. Interessiert dich das denn wirklich, Luke?«

»Ja.« Was stimmte, aber es war womöglich eine schlechte Idee, sich zu lange zu unterhalten. Selbst wenn sie nicht abgehört wurden, wurden sie sicher beobachtet.

»Als meine Rückenschmerzen anfingen, kam mir der Gedanke, dass ich rauskriegen muss, was aus meinem Jungen geworden ist, und das hab ich auch geschafft. Die Behörden sagen, sie dürfen dir nicht mitteilen, wo die Babys hingekommen sind, aber die Kirche hat alle Adoptionsunterlagen bis zu den Fünfzigerjahren, und ich hab das Computerpasswort gefunden. Der Pfarrer hat es direkt unter der Tastatur in seinem Büro liegen. Mein Junge lebt bloß zwei Städte weiter von da, wo ich in Vermont wohne. Er ist in der letzten Klasse von seiner Highschool und will aufs College gehen. Das hab ich auch herausgekriegt. Mein Sohn will aufs College! Dafür ist das Geld da, nicht dafür, die Schulden von diesem Dreckskerl abzuzahlen.«

Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, eine schnelle, beinahe verstohlene Geste.

Er klappte die Tür des Eiswürfelspenders zu und richtete sich auf. »Passen Sie auf Ihren Rücken auf, Maureen.«

»Mach ich.«

Aber wenn sie nun Krebs hatte? Das dachte er nämlich, er wusste es sogar.

Als er sich abwandte, tippte sie ihn an die Schulter und beugte sich nah zu ihm. Ihr Atem roch schlecht; es war der Atem einer Kranken. »Mein Junge muss nicht mal erfahren, woher das Geld kommt, aber er muss es bekommen. Und… Luke? Tu, was sie sagen. Alles, was sie sagen.« Sie zögerte. »Und wenn du mit jemand über irgendwas sprechen willst… tu es hier.«

»Ich dachte, es gibt noch andere Stellen, wo…«

»Tu es hier«, wiederholte sie und schob ihren Wagen in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war.

19

Als Luke auf den Spielplatz kam, sah er voller Erstaunen, dass Nicky mit Harry Cross Basketball spielte. Die beiden lachten und rempelten sich an, als wären sie Kindergartenfreunde. Helen und Avery saßen an einem Picknicktisch und spielten Krieg und Frieden, die Variante mit zwei Kartensätzen. Luke setzte sich neben Helen und fragte, wer am Gewinnen sei.

»Schwer zu sagen«, antwortete Helen. »Das letzte Mal hat Avery mich geschlagen, aber das jetzt ist eine Zitterpartie.«

»Sie findet es total langweilig, aber sie will nett zu mir sein«, sagte Avery. »Stimmt doch, Helen, oder?«

»Durchaus, mein kleiner Mentalist, durchaus. Anschließend spielen wir übrigens Schnipp-Schnapp, und das wird dir nicht gefallen, denn da schnappe ich dich.«

Luke blickte sich um und spürte plötzlich einen Stich, der zu einem ganzen Schwarm aus gespenstischen Punkten vor seinen Augen aufblühte und gleich wieder verschwand. »Wo ist Kalisha? Hat man die etwa…«

»Nein, nein, die hat man nirgendwo hingeschafft. Sie duscht bloß gerade.«

»Luke mag sie«, verkündete Avery. »Er mag sie sogar sehr.«

»Avery?«

»Was ist, Helen?«

»Über manche Dinge spricht man lieber nicht.«

»Warum?«

»Warum ist die Banane krumm?« Unvermittelt wandte sie den Blick ab und fuhr sich mit der Hand durch ihr zweifarbiges Haar, vielleicht um zu verbergen, dass ihr Mund zitterte. Falls dem so war, klappte es nicht.

»Was ist denn?«, fragte Luke.

»Wieso fragst du nicht unseren kleinen Mentalisten? Der sieht und weiß bekanntlich alles.«

»Man hat ihr ein Thermometer in den Hintern gesteckt«, sagte Avery.

»Oh«, sagte Luke.

»Genau«, sagte Helen. »Beschissen, das.«

»Erniedrigend«, sagte Luke.

»Aber auch erfreulich und erhebend«, sagte Helen, und dann lachten beide. Helen tat das mit Tränen in den Augen, aber Lachen war Lachen, und es an diesem Ort tun zu können war eine Kostbarkeit.

»Das kapier ich nicht«, sagte Avery. »Wie kann es erfreulich und erhebend sein, ein Thermometer in den Hintern zu kriegen?«

»Es ist erfreulich, dran zu lecken, wenn es wieder rauskommt«, sagte Luke, worauf alle sich vor Lachen ausschütteten.

Helen schlug auf den Tisch, dass die Karten durch die Gegend flogen. »O Gott, ich mach mir in die Hose! Iih, eklig, schaut bloß nicht hin!« Sie rannte davon und stieß dabei fast George um, der gerade durch die Tür kam. Er mampfte einen Erdnussriegel.

»Was ist denn mit der los?«, fragte George.

»Hat in die Hose gemacht«, sagte Avery nüchtern. »Ich hab heute Nacht ins Bett gepinkelt, also kann ich sie verstehen.«

»Danke, dass du mich darüber informiert hast«, sagte Luke grinsend. »Geh doch mal rüber, und spiel mit Nicky und dem Neuen Basketball.«

»Spinnst du? Die sind viel zu groß, und Harry hat mich schon mal auf den Boden geschubst.«

»Dann stell dich aufs Trampolin.«

»Ist langweilig.«

»Hüpf trotzdem ein bisschen drauf herum. Ich muss mit George sprechen.«

»Über die Lichter? Was für Lichter?«

Der Kleine wurde Luke allmählich richtig unheimlich. »Jetzt geh mal hüpfen, Avester. Zeig mir ein paar Rollen vorwärts.«

»Und versuch, dir dabei nicht den Hals zu brechen«, sagte George. »Wenn du’s doch tust, singe ich bei deiner Beerdigung ›You Are So Beautiful‹.«

Avery starrte ihn einen Moment an. »Aber du hasst das Lied doch«, sagte er dann.

»Ja«, sagte George. »Ja, das stimmt. Was ich gesagt hab, war satirisch gemeint. Vielleicht auch ironisch. Die beiden Wörter verwechsle ich ständig. Jetzt mach dich mal vom Acker, oder soll ich dir ein Taxi rufen?«

Die beiden sahen zu, wie er zum Trampolin trottete.

»Der Kleine ist zehn, aber bis auf das mit dem Gedankenlesen benimmt er sich wie sechs«, sagte George. »Crazy, oder?«

»Total. Wie alt bist du denn, George?«

»Dreizehn«, sagte George brummig. »Aber hier fühle ich mich wie hundert. Hör mal, Luke, die behaupten, dass unseren Eltern nichts passiert ist. Glaubst du denen das?«

Das war eine heikle Frage. »Nicht… so richtig«, sagte Luke schließlich.

»Wenn du’s rauskriegen könntest, würdest du das dann tun?«

»Weiß nicht.«

»Also, ich würd es nicht tun«, sagte George. »Hab schon genug, womit ich fertigwerden muss. Wenn ich erfahren würde, dass sie… du weißt schon… das würde mich plattmachen. Aber ich muss ständig darüber nachdenken. Die ganze Zeit.«

Ich könnte es für dich herausfinden, dachte Luke. Ich könnte es für uns beide herausfinden. Beinahe hätte er sich vorgebeugt und es George ins Ohr geflüstert, doch dann dachte er daran, dass George gesagt hatte, er müsse schon mit genug anderem fertigwerden. »Sag mal, dieser Augentest… musstest du den auch machen?«, fragte er stattdessen

»Klar. Den muss jeder machen. So wie jeder das Thermometer in den Arsch kriegt, ein EEG und ein EKG und ein MRT und ein XYZ, die Bluttests und die Reflextests und die ganzen tollen Sachen, die sie sonst noch so auf Lager haben, Lukey.«

Luke hätte George gern gefragt, ob er die Punkte auch dann noch gesehen hatte, nachdem der Projektor ausgeschaltet worden war, verzichtete jedoch darauf. »Hattest du einen Krampfanfall? Ich hatte nämlich einen.«

»Nee. Danach hat man mich bloß an einen Tisch gesetzt, und Evans, dieses Arschloch mit dem Schnurrbart, hat ein paar Kartentricks vorgeführt.«

»Du meinst, er hat dich gefragt, was drauf ist.«

»Genau das meine ich. Ich glaube, es waren Zenerkarten, müssen’s eigentlich gewesen sein. Mit denen hat man mich nämlich vor ein paar Jahren getestet, was der Grund sein könnte, weshalb ich in diesem charmanten Höllenloch gelandet bin. Meine Eltern hatten spitzgekriegt, dass ich manchmal wirklich Sachen bewegen kann, indem ich sie anschaue. Sobald sie sich sicher waren, dass das kein Trick von mir war, um sie auf die Palme zu treiben, und auch keiner von meinen kleinen Scherzen, wollten sie feststellen, was mit mir los ist. Deshalb haben sie mich nach Princeton gebracht, wo es so ein Institut für Anomalienforschung gibt.«

»Anomalien… soll das ein Witz sein?«

»Ganz und gar nicht. Soll wohl wissenschaftlicher klingen als paranormale Forschung. Gehört übrigens zur Fakultät für Ingenieurwissenschaften, kaum zu glauben, was? Als wollten sie versuchen, es zu tarnen, und vielleicht tun sie das auch. Ein paar ältere Studenten haben mich mit den Zenerkarten genervt, aber ich hab praktisch nichts erkannt. War an dem Tag nicht mal in der Lage, irgendwelche Sachen zu verschieben. Manchmal ist es einfach so.« Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich haben sie gedacht, ich simuliere, was okay für mich war. Klar, an einem guten Tag kann ich einen Stapel Bauklötze umschmeißen, allein indem ich es mir vorstelle, aber Mädchen kriegt man mit so was auch nicht rum. Ist doch so, oder?«

Als jemand, dessen großer Trick darin bestand, ein Pizzablech von einem Restauranttisch zu schieben, ohne es anzufassen, konnte Luke nur zustimmen. »Hat man dich eigentlich geschlagen?«

»Ein Mal, und das war ein echter Hammer«, sagte George. »Als ich versucht hab, einen Witz zu reißen. Priscilla, diese Bitch, hat mir ’ne Ohrfeige verpasst.«

»Die hab ich auch schon kennengelernt. Stimmt, die ist ’ne Bitch, wie sie im Buche steht.«

Diesen Ausdruck hasste seine Mutter noch mehr als Scheiße und verfickt, und als er ihn jetzt aussprach, vermisste er sie wieder ganz furchtbar.

»Und du hast nicht gewusst, was auf den Karten war.«

George warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. »Ich bin TK, nicht TP. Genau wie du. Wie hätte ich da etwas wissen sollen?«

»Hab ich mir schon gedacht.«

»Weil ich die Zenerkarten schon von Princeton her kannte, hab ich erst Kreuz geraten, dann Stern und dann Wellenlinien. Priscilla hat mir gesagt, ich soll aufhören zu lügen, und als Evans sich die nächste Karte angeschaut hat, hab ich ihm deshalb gesagt, es ist ein Foto von Priscillas Titten. Worauf sie mich geschlagen hat. Dann haben sie mich auf mein Zimmer gehen lassen. Ehrlich gesagt, kamen sie mir nicht besonders interessiert vor. Eher so, als wollten sie auf Nummer sicher gehen.«

»Vielleicht haben sie gar nichts von dir erwartet«, sagte Luke. »Kann sein, dass du bloß als Kontrollperson gedient hast.«

George lachte. »Scheiße, Mann, hier kann ich überhaupt nichts kontrollieren. Wovon redest du da?«

»Ist nicht so wichtig. Hast du sie später noch mal gesehen? Die Lichter, meine ich? Diese farbigen Punkte?«

»Nein.« George sah ihn neugierig an. »Du etwa?«

»Nein.« Luke war froh, dass Avery nicht mehr da war, und hoffte inständig, dass der Gehirnradar des Kleinen keine große Reichweite hatte. »Es ist bloß so… ich hatte so einen Krampfanfall… glaub ich jedenfalls… und ich hatte Angst, dass sie womöglich wiederkommen könnten.«

»Ich kapiere überhaupt nicht, was die hier treiben«, sagte George brummiger denn je. »Es muss praktisch eine Regierungseinrichtung sein, aber… Meine Mutter hat mal ein Buch gekauft, ja? Kurz bevor sie mit mir nach Princeton gefahren sind. Paranormale Geschichten und Schwindel hieß es. Ich hab’s gelesen, als sie damit fertig war. In einem Kapitel ging es um Regierungsexperimente zu dem, wozu wir fähig sind. In den Fünfzigerjahren hat die CIA nämlich welche durchgeführt. Da ging’s um Telepathie, Telekinese und Präkognition, sogar um Levitation und Teleportation. Dabei hat man teilweise LSD verwendet. Es ist ein bisschen was dabei herausgekommen, aber nichts Besonderes.« Er beugte sich vor und richtete seine blauen Augen auf die grünen von Luke. »Das sind wir ebenfalls – nichts Besonderes. Sollen wir etwa die Weltherrschaft der Vereinigten Staaten sichern, indem wir die Seiten von einem Buch umblättern oder Crackerschachteln verschieben, und das auch bloß, wenn die leer sind?«

»Man könnte Avery nach Russland schicken«, sagte Luke. »Dann könnte er Putin sagen, was der zum Frühstück hatte und ob er gerade Boxershorts oder einen Slip anhat.«

Das brachte George zum Lächeln.

»Was unsere Eltern angeht…«, fing Luke an, doch dann kam Kalisha aus der Tür gelaufen und fragte, wer Völkerball spielen wolle.

Es stellte sich heraus, dass das alle wollten.

20

An diesem Tag wurde Luke auf nichts getestet bis auf seinen Mumm, und dabei versagte er erneut. Zwei weitere Male ging er auf die Website der Star Tribune, und zweimal machte er einen Rückzieher. Immerhin schielte er beim zweiten Mal auf die Schlagzeile, in der es um einen Typen ging, der mit einem Pick-up mehrere Leute über den Haufen gefahren hatte, um zu beweisen, wie religiös er war. Das war zwar furchtbar, aber immerhin etwas, was außerhalb des Instituts vor sich gegangen war. Die Außenwelt war immer noch vorhanden, und hier drin hatte sich wenigstens eines geändert: Auf dem Begrüßungsbildschirm des Laptops stand nun sein eigener Name anstatt jener der entschwundenen Donna.

Früher oder später würde er nach Informationen über seine Eltern suchen müssen. Das war ihm klar, weshalb ihm der alte Spruch, dass keine Nachrichten gute Nachrichten waren, voll und ganz einleuchtete.

Am folgenden Tag brachte man ihn wieder auf Ebene C, wo ein MTA namens Carlos ihm drei Ampullen Blut abzapfte, ihm eine Spritze verpasste (keinerlei Reaktion) und ihn dann anwies, in eine Toilettenkabine zu gehen, um in ein Becherchen zu pinkeln. Anschließend eskortierten Carlos und eine finster dreinblickende Pflegerin namens Winona ihn auf Ebene D. Da Winona als eine von den Fiesen galt, machte Luke erst gar keinen Versuch, sich mit ihr zu unterhalten. Die beiden führten ihn in einen großen Raum mit einer MRT-Röhre, die sicher ein Vermögen gekostet hatte.

Es muss praktisch eine Regierungseinrichtung sein, hatte George gesagt. Wenn das zutraf, was würden die braven amerikanischen Bürger darüber denken, wofür ihre Steuergelder ausgegeben wurden? Tja, wahrscheinlich nichts Besonderes, schließlich lebten sie in einem Land, wo man schon vom Überwachungsstaat schwadronierte, wenn es um eine popelige Verordnung ging wie die, einen Motorradhelm zu tragen oder sich eine Lizenz zum verdeckten Tragen einer Waffe zu besorgen.

Ein neuer MTA wartete bereits, doch bevor er Luke mithilfe von Carlos in die Röhre stecken konnte, wuselte Dr. Evans in den Raum, untersuchte Lukes Arm an der Einstichstelle der neuesten Spritze und verkündete, Luke sei »in prächtiger Verfassung«. Was immer das bedeuten sollte. Anschließend erkundigte er sich, ob Luke weitere Krampf- oder Ohnmachtsanfälle gehabt habe.

»Nein.«

»Was ist mit den farbigen Lichtern? Sind die wieder aufgeblitzt? Zum Beispiel beim Sport, während du auf deinen Laptop geschaut oder beim Stuhlgang gepresst hast? Damit meine ich…«

»Ich weiß, was Sie damit meinen. Nein.«

»Lüg mich nicht an, Luke!«

»Das tue ich doch gar nicht.« Wobei Luke sich fragte, ob das MRT wohl eine Veränderung in seiner Gehirnaktivität feststellen und ihn als Lügner entlarven würde.

»Na, dann ist es ja gut.« Nein, du findest es nicht gut, dachte Luke. Du bist enttäuscht. Was mich glücklich macht.

Evans kritzelte etwas auf sein Klemmbrett. »Wieder ans Werk, meine Dame und meine Herren, nur wieder ans Werk!« Womit er wie ein weißes Kaninchen hinausflitzte, das dringend zu einer sehr wichtigen Verabredung musste.

Der MRT-Techniker – auf seinem Namensschildchen stand DAVE – fragte Luke, ob er klaustrophobisch veranlagt sei. »Was das bedeutet, weißt du wahrscheinlich auch.«

»Bin ich nicht«, sagte Luke. »Phobisch bin ich nur dagegen, eingesperrt zu sein.«

Dave war ein ernst wirkender Bursche im mittleren Alter, trug eine Brille und war weitgehend kahl. Er sah wie ein Buchhalter aus. So hatte Adolf Eichmann allerdings auch ausgesehen. »Es geht bloß darum, falls du… äh… klaustrophobisch bist, kann ich dir eine Valium geben. Das ist zulässig.«

»Ist nicht nötig.«

»Du solltest trotzdem eine nehmen«, sagte Carlos. »Schließlich bist du lange da drin, mehrfach sogar, und so eine Pille macht die ganze Sache angenehmer. Vielleicht schläfst du sogar ein, obwohl es ziemlich laut ist. Es wummert und knallt, weißt du?«

Das wusste Luke. Er hatte zwar noch nie in einer MRT-Röhre gesteckt, aber mehr als genug Arztserien gesehen. »Danke, ich verzichte.«

Nach dem Mittagessen (das von Gladys hereingebracht wurde) nahm er die Valium-Tablette aber doch, teilweise aus Neugier, hauptsächlich jedoch aus Langweile. Inzwischen war er bereits dreimal im MRT gewesen und hatte laut Dave drei weitere Besuche vor sich. Er fragte erst gar nicht, was man da testete, suchte oder zu finden hoffte. Als Antwort hätte er doch nur zu hören bekommen, dass ihn das nichts angehe. Eventuell wussten diese Typen es nicht einmal selbst.

Das Valium versetzte ihn in eine schwebende, träumerische Stimmung, und bei seinem letzten Aufenthalt in der Röhre verfiel er in ein leichtes Dösen, obwohl die Maschine laut knallte, wenn sie ihre Bilder machte. Als Winona erschien, um ihn auf die Wohnebene zurückzubringen, hatte die Wirkung des Medikaments nachgelassen, und er fühlte sich nur noch benebelt.

Winona griff in ihre Hosentasche und zog eine Handvoll Münzen heraus. Als sie sie ihm reichte, fiel eine auf den Boden und rollte davon.

»Heb sie auf, du Tollpatsch.«

Er gehorchte.

»Es war ein langer Tag für dich«, sagte sie und lächelte sogar. »Wie wär’s, wenn du dir was zu trinken besorgst? Zum Chillen und Entspannen. Ich empfehle Harveys Bristol Cream.«

Sie war Ende dreißig, Anfang vierzig, auf jeden Fall alt genug, ein Kind in Lukes Alter zu haben. Vielleicht auch zwei. Ob sie denen wohl eine ähnliche Empfehlung gegeben hätte? So nach dem Motto: Heute hattet ihr bestimmt einen harten Tag in der Schule, da solltet ihr erst mal abhängen und euch ’nen Alcopop genehmigen, bevor ihr euch an die Hausaufgaben setzt? Er überlegte, das laut zu sagen, mehr als ihm eine Ohrfeige verpassen würde sie ihm wahrscheinlich nicht, aber…

»Was würde das nützen?«

»Hä, was?« Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Was würde was nützen?«

»Irgendwas«, sagte er. »Was auch immer, Winnie.« Er wollte keine Flasche Harveys Bristol Cream oder Twisted Tea oder gar Stump Jump Grenache, ein Name, an den John Keats hätte denken können, als er schrieb, etwas werde so romantisch genannt »wie jener gen Westen ziehende Mond im dahinschwindenden Band der Nacht«.

»Pass auf, dass du dir nicht das freche Maul verbrennst, Luke.«

»Ich arbeite daran.«

Er steckte sich die Münzen in die Hosentasche. Soweit er gesehen hatte, waren es neun. Drei würde er Avery schenken und je drei den beiden Wilcox-Zwillingen. Genug für ein paar Snacks, nicht genug für irgendetwas von dem anderen Zeug. Für sich selbst wollte er momentan nur eine anständige Portion Eiweiß und Kohlenhydrate. Es war ihm egal, was es zum Abendessen gab, Hauptsache, es gab eine Menge davon.

21

Am folgenden Morgen brachten Joe und Hadad ihn wieder auf Ebene C, wo man ihm befahl, eine Bariumlösung zu trinken. Tony stand mit seinem Schockstock daneben, jederzeit bereit, Luke eine Ladung zu verpassen, wenn er irgendeinen Widerspruch äußerte. Sobald Luke den Becher vollständig geleert hatte, führte man ihn in eine Kabine, die etwa so groß war wie die in einem Raststättenklo. Dort machte man ein Röntgenbild. Das klappte gut, doch als er die Kabine verließ, bekam er einen Krampf und krümmte sich vor Schmerzen.

»Kotz bloß nicht auf den Boden«, sagte Tony. »Wenn’s unbedingt sein muss, nimm das Waschbecken in der Ecke.«

Zu spät. Lukes halb verdautes Frühstück kam in einem Bariumpüree zum Vorschein.

»Ach du Scheiße. Das wirst du jetzt aufwischen, und wenn du fertig bist, will ich den Boden so sauber haben, dass man davon essen kann.«

»Ich mach das schon«, sagte Hadad.

»Kommt nicht in die Tüte«, sagte Tony. Hadad zuckte zusammen, obwohl Tony ihn weder angesehen noch die Stimme erhoben hatte. »Du kannst den Mopp und den Eimer holen. Den Rest wird Luke erledigen.«

Hadad besorgte die Putzgeräte. Luke schaffte es, den Eimer am Waschbecken in der Ecke zu füllen, aber er hatte immer noch Magenkrämpfe, und seine Arme zitterten so stark, dass er das Ding nicht auf den Boden heben konnte, ohne massenhaft Seifenwasser zu verschütten. Deshalb half Joe ihm, wobei er ihm »durchhalten, Junge« ins Ohr flüsterte.

»Gib ihm einfach den Mopp«, sagte Tony, und Luke begriff – mit seiner neuen Fähigkeit, die Dinge zu begreifen–, dass der gute alte Tony das Ganze genoss.

Luke wischte und drückte den Mopp aus. Tony begutachtete seine Arbeit, bezeichnete sie als unannehmbar und befahl ihm, noch einmal von vorn anzufangen. Die Krämpfe hatten sich gelegt, weshalb er diesmal in der Lage war, den Eimer selbst hochzuheben und auf den Boden zu stellen. Hadad und Joe saßen da und debattierten über die Chancen der New York Yankees und der San Diego Padres, offenbar ihre jeweilige Lieblingsmannschaft. Auf dem Weg zurück zum Aufzug schlug Hadad ihm auf den Rücken und sagte: »Gut gemacht, Luke! Hast du ein paar Münzen für ihn, Joey? Ich bin gerade blank.«

Joe gab Luke vier davon.

»Wozu sind die Tests eigentlich gut?«, fragte Luke.

»Für so allerhand«, sagte Hadad. »Mach dir keine Sorgen darüber.«

Was, dachte Luke, womöglich der dümmste Rat war, den er jemals erhalten hatte. »Komme ich jemals hier raus?«

»Aber natürlich«, sagte Joe. »Allerdings wirst du dich dann an nichts mehr erinnern.«

Er log. Erneut war das kein Gedankenlesen, zumindest nicht so, wie Luke es sich immer vorgestellt hatte, nämlich Wörter im Kopf zu hören (oder sie zu sehen wie die am unteren Rand des Bildschirms dahinkriechende Zeile bei Nachrichtensendungen). Es war schlichtes Wissen, so unleugbar wie die Schwerkraft oder die Irrationalität der Quadratwurzel aus 2.

»Wie viele Tests wird man noch mit mir machen?«

»Ach, wir beschäftigen dich schon«, sagte Joe.

»Hauptsache, du kotzt nicht auf einen Boden, über den Tony Fizzale marschieren muss«, sagte Hadad und lachte herzhaft.

22

Als Luke in sein Zimmer kam, war eine neue Haushälterin damit beschäftigt, Staub zu saugen. JOLENE, wie sie laut ihrem Schildchen hieß, war dick und in den Zwanzigern.

»Wo ist Maureen?«, fragte Luke, obwohl er genau Bescheid wusste. Maureen hatte ihre freie Woche, und wenn sie wiederkam, arbeitete sie womöglich nicht in diesem Teil des Instituts, zumindest vorläufig nicht. Er hoffte, dass es ihr in Vermont gelang, den Mist ihres davongelaufenen Ehemanns zu beseitigen, aber er würde sie vermissen… wenngleich er sie eventuell im Hinterbau wiedersah, wenn man ihn dorthin verfrachtete.

»Mo-Mo dreht gerade einen Film mit Johnny Depp«, sagte Jolene. »Einen von diesen Piratenstreifen, die alle Kinder mögen. Sie spielt den Jolly Roger.« Sie lachte. »Warum verziehst du dich nicht woandershin, während ich hier sauber mache?«

»Weil ich mich hinlegen will. Ich fühle mich nicht gut.«

»Ach, du jemine«, sagte Jolene. »Ihr Kids seid wirklich total verwöhnt. Ihr habt jemand, der euer Zimmer putzt und euch das Essen kocht, ihr habt euren eigenen Fernseher… Meinst du etwa, ich hatte einen Fernseher in meinem Zimmer, als ich klein war? Oder mein eigenes Bad? Nein, ich hatte drei Schwestern und zwei Brüder, und wir haben uns um alles gestritten.«

»Außerdem dürfen wir Barium schlucken und dann auskotzen. Möchten Sie das vielleicht auch mal versuchen?«

Ich höre mich mit jedem Tag mehr wie Nicky an, dachte Luke, aber das kann nichts schaden, oder? Ist schließlich gut, positive Vorbilder zu haben.

Jolene drehte sich zu ihm um und schwenkte die Staubsaugerdüse. »Willst du wissen, wie es sich anfühlt, damit eins an den Schädel zu kriegen?«

Luke machte sich davon. Langsam wanderte er durch die Flure des Wohnbereichs und musste sich zweimal an die Wand lehnen, wenn er von Krämpfen gepackt wurde. Immerhin waren die jetzt weniger häufig und intensiv. Kurz vor dem nicht verwendeten Aufenthaltsraum, von dem aus man das Verwaltungsgebäude sehen konnte, trat er in ein leeres Zimmer, legte sich auf die Matratze dort und schlief ein. Als er aufwachte, erwartete er zum ersten Mal nicht, vor seinem Schlafzimmerfenster das Haus von Rolf Destin zu sehen.

Nach Lukes Meinung war das ein Schritt in genau die falsche Richtung.

23

Am nächsten Morgen bekam er eine Spritze, dann schloss man ihn an ein Herzfrequenz- und Blutdruckmessgerät an und stellte ihn auf ein Laufband. Carlos und Dave, von denen die Prozedur überwacht wurde, beschleunigten das Laufband, bis er nach Atem rang und in Gefahr war, am Ende herunterzutaumeln. Die Messergebnisse wurden auch auf dem kleinen Display des Bandes wiedergegeben, und kurz bevor Carlos das Tempo reduzierte, sah Luke, dass er hundertsiebzig Schläge pro Minute erreicht hatte.

Während er ein Glas Orangensaft trank und langsam wieder zu Atem kam, tauchte ein großer, kahlköpfiger Typ auf und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. Er trug einen braunen Anzug, der teuer aussah, und ein weißes Hemd ohne Krawatte. Mit dunklen Augen musterte er Luke von dessen rotem, verschwitztem Gesicht bis hinunter zu seinen neuen Sneakers. »Man hat mir gesagt, dass du dich nur langsam anpasst, junger Mann«, sagte er. »Vielleicht hat ja Nick Wilholm was damit zu tun. Den sollte nämlich niemand zum Idol machen. Du weißt doch, was das Wort bedeutet, oder? Idol, meine ich.«

»Ja.«

»Der ist aufsässig und unfreundlich zu Männern und Frauen, die nur versuchen, ihre Arbeit zu machen.«

Luke sagte nichts. Das war immer am sichersten.

»Lass dich von seiner Haltung nicht anstecken, rate ich dir. Das rate ich dir dringend. Und beschränke den Umgang mit dem Servicepersonal auf ein Minimum.«

Luke erschrak, doch dann wurde ihm klar, dass der Kahlkopf damit nicht Maureen meinte. Er sprach von Fred dem Hausmeister. Das wusste Luke mit absoluter Gewissheit, obwohl er nur ein einziges Mal mit Fred gesprochen hatte, mit Maureen hingegen mehrere Male.

»Außerdem hast du im westlichen Aufenthaltsraum und in den leeren Zimmern nichts zu suchen. Wenn du schlafen willst, tu das in deinem Zimmer. Mach dir deinen Aufenthalt so angenehm wie möglich.«

»An dem Ort hier ist nichts angenehm«, sagte Luke.

»Natürlich hast du ein Recht auf deine Meinung«, sagte der Kahlkopf. »Wie du bestimmt schon gehört hast, sind Meinungen wie Arschlöcher, jeder hat eine. Aber ich glaube, du bist so schlau zu kapieren, dass es einen großen Unterschied zwischen Dingen gibt, die nicht angenehm, und solchen, die unangenehm sind. Behalt das im Blick.«

Er ging davon.

»Wer war das?«, fragte Luke.

»Stackhouse«, sagte Carlos. »Der Sicherheitschef des Instituts. Dem solltest du nicht auf die Zehen treten.«

Dave kam mit einer Spritze auf Luke zu. »Ich muss dir noch ein bisschen Blut abzapfen. Dauert bloß eine Minute. Nimm’s wie ein guter Kumpel, ja?«

24

Auf das Laufband und die letzte Blutentnahme folgten einige Tage ohne Tests, zumindest für Luke. Er erhielt mehrere Injektionen – nach einer juckte sein ganzer Arm eine Stunde lang heftig–, aber das war alles. Die Wilcox-Zwillinge gewöhnten sich allmählich ein, vor allem nachdem Harry Cross Freundschaft mit ihnen schloss. Er war TK und prahlte damit, er könne massenhaft Sachen durch die Gegend schieben, aber Avery erklärte, das sei völliger Quatsch. »Der kann weniger als du, Luke.«

Luke verdrehte die Augen. »Sei bloß nicht allzu diplomatisch, Avery, sonst überanstrengst du dich.«

»Was heißt diplomatisch?«

»Setz eine Münze ein, und schau’s auf deinem Computer nach.«

»Es tut mir leid, Dave, aber das kann ich nicht tun«, sagte Avery mit einer erstaunlich guten Imitation der leicht unheimlichen Stimme von HAL 9000 und begann zu kichern.

Harry war nett zu Greta und Gerda, das war nicht zu leugnen. Jedes Mal wenn er die beiden sah, breitete sich auf seinem Gesicht ein großes, trotteliges Grinsen aus. Er hockte sich hin, breitete die Arme weit aus, und die Mädchen rannten auf ihn zu.

»Der fummelt doch hoffentlich nicht an ihnen rum, oder?«, fragte Nicky eines Morgens auf dem Spielplatz, als Harry die Mädchen auf dem Trampolin bewachte.

»Uuuh, ist das eklig«, sagte Helen. »Du hast zu viele Lifetime-Filme gesehen.«

»Nee«, sagte Avery, der gerade Schokobällchen futterte und davon einen braunen Schnurrbart bekommen hatte. »Der will nicht…« Er legte seine kleinen Hände an den Hintern und bewegte rhythmisch die Hüften. Avery ist ein gutes Beispiel dafür, wieso Telepathie keine gute Sache ist, dachte Luke bei diesem Anblick. Man weiß viel zu viel, und man weiß es viel zu früh.

»Uuuh«, machte Helen wieder und legte sich die Hand vor die Augen. »Das will ich absolut nicht sehen, Avester.«

»Er hatte zwei Cockerspaniels«, sagte Avery. »Zu Hause. Die Mädchen da sind sein… Wie heißt das noch?«

»Ersatz«, sagte Luke.

»Genau.«

Beim Mittagessen sagte Nicky zu Luke: »Ich weiß zwar nicht, wie Harry mit seinen Hunden umgegangen ist, aber die beiden Mädchen wickeln ihn um den Finger. Es ist, als hätte ihnen jemand eine neue Puppe geschenkt. Eine mit roten Haaren und einer Wampe. Schau dir das an!«

Die Zwillinge saßen links und rechts neben Harry und fütterten ihm stückweise Hackbraten von ihren Tellern.

»Also, ich finde das irgendwie süß«, sagte Kalisha.

Nicky schenkte ihr ein Lächeln, und zwar das, bei dem sein ganzes Gesicht aufleuchtete (heute war es mit einem blauen Auge verziert, das irgendein Mitglied des Personals ihm verpasst hatte). »Typisch Sha.«

Sie erwiderte das Lächeln, und Luke spürte ein bisschen Eifersucht. Ziemlich bescheuert unter den gegebenen Umständen… aber so war es eben.

25

Am nächsten Tag wurde Luke von Priscilla und Hadad hinunter auf Ebene E eskortiert, wo er bisher noch nicht gewesen war. Dort schloss man ihn an einen Tropf an, dessen Inhalt ihn, wie Priscilla sagte, ein bisschen entspannen würde. Stattdessen wurde er bewusstlos. Als er zitternd und nackt wieder zu sich kam, waren sein Bauch, sein rechtes Bein und die rechte Seite seines Brustkorbs mit Pflastern bandagiert. Eine ihm bislang unbekannte Ärztin – laut dem Schildchen auf ihrem weißen Kittel hieß sie RICHARDSON – beugte sich über ihn. »Wie fühlst du dich, Luke?«

»Was habt ihr mit mir gemacht?« Das versuchte er zu schreien, aber er brachte nur ein ersticktes Knurren zustande. Man hatte ihm auch noch etwas in den Schlund geschoben, wahrscheinlich einen Atemschlauch. Verspätet bedeckte er seine Genitalien mit den Händen.

»Wir haben nur ein paar Proben entnommen.« Dr. Richardson riss sich die mit einem Paisleymuster geschmückte Operationshaube vom Kopf. Zum Vorschein kam eine Flut von dunklen Haaren. »Das heißt, wir haben keine von deinen Nieren entfernt, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verhökern, falls du dir darum Sorgen machen solltest. Du wirst ein bisschen Schmerzen haben, vor allem zwischen den Rippen, aber das geht vorüber. Bis dahin kannst du das da einnehmen.« Sie reichte ihm ein nicht gekennzeichnetes Gläschen mit einigen Pillen darin.

Dr. Richardson verschwand. Zeke kam mit Lukes Klamotten herein. »Zieh dich an, sobald du das schaffst, ohne umzukippen.« Damit ließ er, rücksichtsvoll wie immer, die Sachen auf den Boden fallen.

Nach einer Weile war Luke in der Lage, alles aufzuheben und sich anzuziehen. Priscilla – diesmal in Gesellschaft von Gladys – begleitete ihn auf die Wohnebene. Als man ihn nach unten gebracht hatte, war es Tag gewesen, doch jetzt war es dunkel. Womöglich schon spät nachts, aber das konnte er nicht beurteilen, sein Zeitgefühl war völlig durcheinander.

»Kannst du alleine zu deinem Zimmer gehen?«, fragte Gladys. Ohne breites Lächeln, vielleicht hatte das in der Nachtschicht frei.

»Klar.«

»Dann mach dich auf die Socken. Nimm eine von den Tabletten da. Das ist Oxycodon. Wirkt gegen Schmerzen und sorgt außerdem für ein gutes Gefühl. Als Dreingabe. Morgen früh geht’s dir wieder prima.«

Er ging den Flur entlang, griff nach dem Türknauf seines Zimmers und hielt inne. Da weinte jemand, irgendwo in der Nähe dieses dämlichen Paradiestagposters, was bedeutete, dass es wahrscheinlich aus dem Zimmer von Kalisha kam. Er debattierte einen Moment mit sich, weil er eigentlich nicht wissen wollte, weshalb sie weinte, und sich erst recht nicht in der Lage fühlte, jemand zu trösten. Aber da ausgerechnet sie es war, ging er zu ihrer Tür und klopfte leise. Als keine Antwort kam, drehte er den Knauf und steckte den Kopf ins Zimmer. »Kalisha?«

Sie lag auf dem Rücken und hatte die Hand über die Augen gelegt. »Geh weg, Luke. Ich will nicht, dass du mich so siehst.«

Fast hätte er getan, worum sie ihn bat, aber das war nicht das, was sie wollte. Anstatt zu gehen, trat er deshalb ins Zimmer und setzte sich neben sie. »Was hast du denn?«

Aber auch das wusste er. Nur ohne die Einzelheiten.

26

Die Kinder waren draußen auf dem Spielplatz gewesen – alle außer Luke, der bewusstlos unten auf Ebene E lag, während Dr. Richardson ihm irgendwelche Proben entnahm. Da waren zwei Männer aus dem Aufenthaltsraum gekommen. Sie trugen rote Krankenhausuniformen anstatt rosa und blaue wie die Pfleger und MTAs im Vorderbau, und auf ihren Shirts waren keine Namensschildchen. Die drei Veteranen – Kalisha, Nicky und George – wussten, was das bedeutete.

»Ich war mir sicher, dass sie wegen mir gekommen sind«, sagte Kalisha zu Luke. »Schließlich bin ich am längsten hier, und sie haben seit mindestens zehn Tagen keine Tests mehr an mir gemacht, obwohl ich die Windpocken hinter mir hab. Nicht mal Blut haben sie mir abgezapft, und du weißt ja, wie geil diese verdammten Vampire darauf sind. Aber sie sind wegen Nicky gekommen. Wegen Nicky!«

Dass ihre Stimme brach, als sie das sagte, machte Luke traurig, weil er ziemlich verrückt nach ihr war, aber es überraschte ihn nicht. Nick Wilholm hätte die Rolle des attraktiven, rebellischen Helden in einem von diesen dystopischen Teenagerstreifen spielen können. Sobald er in Sicht kam, hatte Helen sich jedes Mal wie eine Kompassnadel in seine Richtung gedreht, Iris ebenso; selbst die Zwillinge hatten ihn mit offenem Mund und leuchtenden Augen begafft. Kalisha aber war am längsten mit ihm zusammen gewesen, die beiden waren die wahren Veteranen des Instituts und außerdem etwa gleich alt. Als Paar waren sie zumindest denkbar.

»Er hat sich gewehrt«, sagte Kalisha. »Hat ihnen einen harten Kampf geliefert.« Sie setzte sich so plötzlich auf, dass sie Luke fast vom Bett gestoßen hätte. Ihre Lippen waren so angespannt, dass man die Zähne sah, und über der Andeutung ihrer Brüste ballte sie die Hände.

»Ich hätte auch mit ihnen kämpfen sollen! Das hätten wir alle tun sollen!«

»Aber es ist zu schnell passiert, stimmt’s?«

»Einen von denen hat Nicky hoch oben mit der Faust erwischt, am Hals, aber da hat der andere ihm ’nen Elektroschock an die Hüfte verpasst. Das hat ihm wohl das Bein gelähmt, aber er hat sich an einem Seil vom Seilgarten festgehalten, um nicht hinzufallen, und dann hat er mit seinem guten Bein nach dem Dreckskerl getreten, bevor der ihn noch mal mit seinem Schockstock treffen konnte.«

»Er hat ihm das Ding aus der Hand gekickt«, sagte Luke. Das konnte er sehen, doch es auszusprechen war ein Fehler, denn es verriet etwas, was Kalisha nicht wissen sollte. Glücklicherweise schien es ihr nicht aufzufallen.

»Genau. Aber da hat der andere, den er am Hals erwischt hatte, seinen Stock auf Nicky gerichtet. Das verdammte Ding war bestimmt bis zum Anschlag hochgedreht, weil ich es knistern gehört hab, obwohl ich ziemlich weit weg auf dem Shuffleboard-Feld war. Nicky ist hingefallen, und da haben sie sich über ihn gebeugt und ihm noch einen Schock verpasst. Er ist zusammengezuckt. Obwohl er bewusstlos dalag, ist er zusammengezuckt! Helen ist hingerannt und hat gebrüllt: ›Ihr bringt ihn um, ihr bringt ihn um‹, aber einer von den beiden hat sie ganz oben ans Bein getreten und dabei hai gemacht wie beim Karate. Als Helen weinend hingefallen ist, hat er gelacht, und dann haben sie Nicky aufgehoben und weggetragen. Aber bevor sie ihn durch die Tür geschafft haben…«

Sie unterbrach sich. Luke wartete. Er wusste, was als Nächstes geschehen war, es war eine seiner neuen Ahnungen, die mehr als eine Ahnung waren, aber er musste es Kalisha selbst sagen lassen. Weil sie nicht wissen durfte, was er jetzt war; das durfte niemand wissen.

»Er ist wieder ein bisschen zu sich gekommen«, sagte sie. An ihren Wangen kullerten Tränen herab. »So weit, dass er uns gesehen hat. Er hat gelächelt und gewinkt. Er hat gewinkt. So tapfer war er.«

»Ja«, sagte Luke. Sie hatte war statt ist gesagt, und er dachte: Und wir werden ihn nie wiedersehen.

Sie packte ihn am Nacken und zog seinen Kopf so unerwartet und heftig zu sich heran, dass er mit der Stirn an ihre knallte. »Das darfst du nicht sagen!«

»Tut mir leid«, sagte Luke und fragte sich, was sie sonst noch in seinem Kopf gesehen hatte. Hoffentlich nicht besonders viel. Hoffentlich war sie zu durcheinander, weil die zwei rot gekleideten Typen Nicky in den Hinterbau geschafft hatten. Was sie als Nächstes sagte, beruhigte ihn einigermaßen.

»Haben sie bei dir etwa Proben entnommen? Das haben sie, oder? Du hast überall Pflaster.«

»Ja, haben sie.«

»Das war dieses schwarzhaarige Biest, stimmt’s? Richardson. Wie viele?«

»Drei. Eine aus meinem Arm, eine aus dem Bauch, eine zwischen den Rippen. Da tut es am meisten weh.«

Sie nickte. »Mir haben sie was aus der rechten Brust entnommen, wie bei ’ner Biopsie. Hat total wehgetan. Bloß was ist, wenn sie gar nichts rausnehmen? Was ist, wenn sie was reintun? Sie behaupten zwar, dass sie Proben entnehmen, aber sie lügen uns doch ständig an!«

»Du meinst, noch irgendwas, um uns zu orten? Wieso sollten sie das tun, wo wir doch schon die Dinger da drin haben?« Er betastete den Chip an seinem Ohrläppchen. Der tat nicht mehr weh, war jetzt einfach ein Teil von ihm.

»Keine Ahnung«, sagte sie kläglich.

Luke griff in seine Hosentasche und zog das Pillengläschen hervor. »Die Pillen hat man mir gegeben. Vielleicht solltest du eine nehmen. Ich glaube, das wird dich beruhigen. Die helfen beim Einschlafen.«

»Oxys?«

Er nickte.

Sie griff nach dem Gläschen, dann zog sie die Hand zurück. »Das Problem ist, dass ich nicht eine haben will und auch nicht zwei. Ich will sie alle. Aber ich glaube, ich sollte fühlen, was ich gerade fühle. Ich glaube, das ist richtig so, meinst du nicht auch?«

»Ich weiß nicht recht«, sagte Luke, was die Wahrheit war. Das war eine schwerwiegende Frage, und so schlau er auch war, er war erst zwölf.

»Geh jetzt, Luke. Ich muss heute Nacht alleine traurig sein.«

»Okay.«

»Morgen geht’s mir bestimmt besser. Und wenn sie mich als Nächstes holen…«

»Das werden sie schon nicht.« Was eine ziemlich dämliche Behauptung war. Schließlich war Kalisha fällig. Überfällig sogar.

»Falls sie es doch tun, sei ein Freund für Avery. Der braucht nämlich einen Freund.« Sie sah ihm fest in die Augen. »Und du brauchst auch einen.«

»Okay.«

Kalisha versuchte zu lächeln. »Du bist echt super. Komm her.« Er beugte sich zu ihr, und sie küsste ihn erst auf die Wange und dann auf den Mundwinkel. Ihre Lippen waren salzig. Das machte Luke überhaupt nichts aus.

Als er die Tür öffnete, sagte sie: »Mich hätten sie holen sollen. Oder George. Nicht Nicky. Das war der von uns, der ihren Scheiß nie hingenommen hat. Der nie aufgegeben hat.« Sie hob die Stimme. »Seid ihr da? Hört ihr zu? Hoffentlich, denn ich hasse euch, und ich will, dass ihr das wisst! ICH HASSE EUCH!«

Sie sank auf ihr Bett zurück und schluchzte los. Luke überlegte, ob er zu ihr zurückgehen sollte, ließ es aber bleiben. Er hatte sie so gut getröstet, wie er konnte, und er litt selbst, nicht nur wegen Nicky, sondern auch an den Wunden, die Dr. Richardson ihm zugefügt hatte. Ob die Frau mit den dunklen Haaren ihm Gewebeproben entnommen oder ihm etwas in den Körper implantiert hatte (ein Ortungschip wäre sinnlos gewesen, aber es konnte sich um ein experimentelles Enzym oder einen Impfstoff handeln), war ohne Belang, weil keiner von den Tests und Injektionen irgendeinen Sinn zu haben schien. Er dachte an die Konzentrationslager der Nazis und deren ebenso grässliche wie unsinnige Experimente – das Verursachen von Erfrierungen oder Brandwunden und das Infizieren mit Krankheiten.

In seinem Zimmer angelangt, überlegte er, ob er eine oder gar zwei von den Oxycodon-Tabletten einnehmen sollte, entschied sich aber dagegen.

Er überlegte, ob er mithilfe von Mr. Griffin auf die Website der Star Tribune gehen sollte, und ließ auch das bleiben.

Er dachte an Nicky, den Schwarm aller Mädchen. An Nicky, der Harry Cross erst einen Dämpfer verpasst und dann Freundschaft mit ihm geschlossen hatte, was wesentlich mutiger war, als ihn zu verprügeln. An Nicky, der sich gegen die Tests gewehrt und gegen die Männer aus dem Hinterbau gekämpft hatte, als sie ihn holen wollten. Der nie aufgab.

27

Am nächsten Tag wurden Luke und George von Joe und Hadad in Raum C11 gebracht, wo man sie eine Weile allein ließ. Als die beiden Pfleger wiederkamen, jetzt mit Kaffeebechern ausgerüstet, war Zeke bei ihnen, der rotäugig und verkatert aussah. Er setzte den beiden Jungen EEG-Hauben auf und befestigte deren Bänder stramm unter dem Kinn. Nachdem er das Display überprüft hatte, mussten die Jungen sich abwechselnd in einem Fahrsimulator betätigen. Dr. Evans kam herein, stellte sich mit seinem treuen Klemmbrett daneben und machte sich Notizen, während Zeke verschiedene Zahlen rief, die mit der Reaktionszeit zu tun haben mochten (oder auch nicht). Luke überfuhr mehrere rote Ampeln und verursachte massenhaft Unfälle, bevor er den Dreh heraushatte, aber dann machte ihm der Test tatsächlich einigermaßen Spaß – ein neues Erlebnis im Institut.

Als es vorbei war, gesellte sich Dr. Richardson zu Dr. Evans. Heute trug sie ein dreiteiliges Kostüm und High Heels, als wollte sie zu einer wichtigen geschäftlichen Besprechung. »Auf einer Skala von eins bis zehn – wie stark sind deine Schmerzen heute Morgen, Luke?«

»Die sind bei zwei«, sagte er. »Mein Wunsch, hier endlich rauszukommen, steht auf einer Skala von eins bis zehn übrigens bei elf.«

Sie gluckste, als hätte er einen mittelmäßig lustigen Witz gemacht, verabschiedete sich von Evans (wobei sie ihn Jim nannte) und verschwand.

»Na, wer von uns beiden hat gewonnen?«, erkundigte George sich bei Dr. Evans.

Der Arzt lächelte nachsichtig. »Darum geht es bei dem Test nicht.«

»Klar, aber wer hat gewonnen?«

»Ihr wart beide ziemlich schnell, sobald ihr euch mit dem Simulator vertraut gemacht hattet, was bei TKs zu erwarten ist. Keine weiteren Tests heute, Jungs, ist das nicht fein? Hadad, Joe, bitte bringen Sie die jungen Männer nach oben.«

Auf dem Weg zum Aufzug sagte George: »Ich hab, glaub ich, sechs Fußgänger überfahren, bevor ich den Bogen raushatte. Wie viele hast du erledigt?«

»Bloß drei, aber dafür bin ich in einen Schulbus gekracht. Dabei hat’s eventuell auch Tote gegeben.«

»Du Penner! Ich bin dem Bus problemlos ausgewichen.« Der Aufzug kam, und die vier traten hinein. »Eigentlich hab ich sogar sieben Fußgänger überfahren, den letzten absichtlich. Dabei hab ich mir vorgestellt, dass es Zeke ist.«

Joe und Hadad sahen sich an und lachten. Dafür mochte Luke sie ein bisschen. Das wollte er nicht, tat es jedoch trotzdem.

Als die beiden Pfleger oben wieder im Aufzug verschwunden waren, wahrscheinlich unterwegs zum Pausenraum, sagte Luke: »Nach der Sache mit den Lichtern haben sie dir doch die Karten vorgelegt. Als Telepathietest.«

»Stimmt, hab ich dir ja erzählt.«

»Haben sie dich eigentlich schon mal auf TK getestet? Dir gesagt, du sollst eine Lampe einschalten oder eine Reihe Dominosteine umfallen lassen?«

George kratzte sich am Kopf. »Tja, wo du jetzt fragst… nein. Aber wieso sollten sie das tun, wo sie doch schon wissen, dass ich so was kann? An einem guten Tag jedenfalls. Was ist mit dir?«

»Bei mir haben sie das auch nicht getan. Und natürlich hast du recht, aber es ist trotzdem unlogisch, dass sie irgendwie kein Interesse daran haben, rauszukriegen, wo unsere Grenzen liegen.«

»Logisch ist hier absolut gar nichts, Luckey-Loo. Damit angefangen, dass wir überhaupt hier sind. Komm, gehen wir was futtern.«

Die meisten Kinder saßen in der Cafeteria beim Mittagessen, aber Kalisha und Avery waren auf dem Spielplatz. Den Rücken an den Maschendrahtzaun gelehnt, saßen sie auf dem Kies und sahen sich an. Luke sagte George, er solle sich schon mal zum Essen setzen, und ging nach draußen. Das hübsche schwarze Mädchen und der kleine weiße Junge redeten nicht miteinander… und taten es doch. Das wusste Luke, aber worüber sie sich unterhielten, konnte er nicht sagen.

Ihm kam die Zulassungsprüfung in den Sinn und das Mädchen, das ihn dort nach einer mathematischen Gleichung gefragt hatte, in der es um jemand namens Aaron ging und darum, wie viel er für ein Hotelzimmer bezahlen musste. Die Erinnerung stammte wie aus einem anderen Leben, aber Luke erinnerte sich deutlich daran, dass er nicht begriffen hatte, dass ein Problem, das für ihn so einfach zu lösen war, für jemand anderes so schwer sein konnte. Jetzt begriff er es. Das, was sich da drüben am Zaun zwischen Kalisha und Avery abspielte, ging weit über seinen Horizont hinaus.

Kalisha blickte sich um und scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort. »Ich rede später mit dir, Luke. Geh was essen.«

»Okay«, sagte er, aber beim Essen konnte er dann nicht mit ihr sprechen, weil sie das ausließ. Als er später, nach einem tiefen Mittagsschlaf (er hatte schließlich nachgegeben und eine von den Schmerztabletten genommen), durch den Flur zum Aufenthaltsraum ging, blieb er an ihrer Tür stehen, die offen stand. Die rosa Tagesdecke und die Kissen mit den Rüschen waren verschwunden, das gerahmte Foto von Martin Luther King ebenfalls. Mit weit aufgerissenen Augen stand Luke da, die Hand auf dem Mund, und ließ den Anblick auf sich wirken.

Wenn sie sich gewehrt hätte wie Nicky, hätte der Lärm ihn wohl trotz der Tablette aufgeweckt. Die Alternative, dass sie bereitwillig mitgegangen war, war zwar weniger erfreulich, aber – das musste er zugeben – wahrscheinlicher. Jedenfalls war das Mädchen, das ihn zweimal geküsst hatte, nun fort.

Er ging in sein Zimmer zurück und vergrub das Gesicht im Kopfkissen.

28

Am Abend hielt Luke eine seiner Münzen vor die Kamera des Laptops, um ihn aufzuwecken, dann begab er sich zu Mr. Griffin. Dass er den noch erreichen konnte, war ein Hoffnungsschimmer. Natürlich war es möglich, dass die Scheißkerle, die den Laden hier führten, von seiner Hintertür wussten, aber welchen Sinn sollte das ergeben? Was zu einer Schlussfolgerung führte, die ihm belastbar vorkam: Irgendwann erwischten ihn die Handlanger von Mrs. Sigsby eventuell dabei, wie er in die Außenwelt spähte, das war sogar wahrscheinlich, aber bisher war es nicht geschehen. Man überwachte seinen Computer also nicht ständig. Bei manchen Dingen sind sie lax, dachte er. Vielleicht bei vielen Dingen, und wieso auch nicht? Schließlich haben sie es nicht mit militärischen Gefangenen zu tun, sondern bloß mit einem Haufen von verängstigten, desorientierten Kindern.

Über die Website von Mr. Griffin verschaffte er sich Zugang zur Star Tribune. Im heutigen Hauptartikel ging es um den Streit über die Krankenversicherung, der nun schon seit Jahren tobte. Dann ergriff ihn die vertraute Furcht davor, was er jenseits der Homepage finden könnte, und um ein Haar hätte er auf den Desktopbildschirm gewechselt. Dann hätte er den neuesten Verlauf löschen, den Rechner ausschalten und ins Bett gehen können. Vielleicht nach einer weiteren Tablette. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, lautete ein bekannter Spruch, und hatte er für einen einzigen Tag nicht schon genug erfahren?

Dann dachte er an Nicky Wilholm. Hätte der wohl einen Rückzieher gemacht, wenn er eine Hintertür wie Mr. Griffin gekannt hätte? Wahrscheinlich nicht, fast sicher nicht – nur war er selbst nicht so tapfer wie Nicky.

Ihm fiel ein, wie ihm eine Münze auf den Boden gefallen war, als Winona ihm einen ganzen Haufen davon gegeben hatte. Als Tollpatsch hatte sie ihn da bezeichnet und ihm gesagt, er soll das Ding aufheben, was er ohne einen Piep getan hatte. So hätte Nicky sich ebenfalls nicht verhalten. Luke hörte ihn fast sagen: Heb sie doch selbst auf, Winnie. Die folgende Ohrfeige hätte er klaglos hingenommen, ja vielleicht hätte er sogar zurückgeschlagen.

Aber so ein Typ war Luke Ellis nicht. Luke Ellis war ein typischer braver Junge, der tat, was man ihm sagte, ob er nun bei der Hausarbeit helfen oder bei der Schulband mitmachen sollte. Er hasste seine verfluchte Trompete, weil er bei jedem dritten Ton danebenlag, aber er blieb dabei, weil Mr. Greer meinte, er müsse wenigstens an einer zusätzlichen Aktivität teilnehmen, bei der es sich nicht um Hallensport handle. Luke Ellis war jemand, der sich alle Mühe gab, gesellig zu sein, damit die Leute nicht dachten, er sei nicht nur eine Intelligenzbestie, sondern auch ein Spinner. Erst nachdem er sich ausreichend kommunikativ verhalten hatte, setzte er sich wieder an seine Bücher. Denn da war jener Abgrund, und Bücher enthielten magische Anrufungen, mit denen man ans Licht heben konnte, was dort verborgen war – alle großen Geheimnisse. Für Luke hatten diese Geheimnisse Bedeutung. Irgendwann in der Zukunft würde er vielleicht selbst Bücher schreiben.

Aber hier bestand die einzige Zukunft im Hinterbau. Hier lautete die Wahrheit der Existenz: Was würde das nützen?

»Scheiß drauf«, flüsterte er und ging auf die Lokalnachrichten der Star Tribune, während ihm sein Herzschlag in den Ohren pochte und in den kleinen Wunden pulsierte, die sich unter den Heftpflastern bereits schlossen.

Er brauchte gar nicht suchen; sobald er sein Schulfoto vom letzten Jahr sah, wusste er alles, was es zu wissen gab. Die Überschrift zu lesen war nicht nötig, aber er las sie trotzdem:

Suche nach vermisstem Sohn von ermordetem Ehepaar aus Falcon Heights geht weiter

Die farbigen Lichter kamen wieder, wirbelnd und pulsierend. Luke schielte durch sie hindurch, schaltete den Laptop aus, erhob sich auf Beine, die sich nicht wie die eigenen anfühlten, und ging mit zwei zittrigen Schritten zu seinem Bett. Dann lag er im sanften Schein der Nachttischlampe da und starrte an die Zimmerdecke. Dabei verblassten die ekelhaften Pop-Art-Punkte endlich.

Sohn von ermordetem Ehepaar aus Falcon Heights.

Er fühlte sich, als hätte sich mitten in seinem Kopf eine zuvor ungeahnte Falltür geöffnet, und nur ein einziger Gedanke – klar, fest und stark – hielt ihn davon ab hindurchzustürzen: Womöglich wurde er von denen gerade beobachtet. Wahrscheinlich wussten sie nichts über die Website mit Mr. Griffin, durch die er einen Zugang zur Außenwelt hatte. Und wahrscheinlich wussten sie auch nicht, dass die Farbblitze eine fundamentale Veränderung in seinem Gehirn hervorgerufen hatten; sie dachten, das Experiment wäre gescheitert. Bisher jedenfalls noch. Das waren Dinge, die nur ihm gehörten, und die konnten sich noch als wertvoll erweisen.

Die Handlanger von Mrs. Sigsby waren nicht allmächtig. Das bewies die Tatsache, dass er weiterhin auf Mr. Griffin zugreifen konnte. Die einzige Rebellion, die sie von ihren »Gästen« erwarteten, war eine, die offen zutage trat. Sobald man den Kindern so etwas durch Einschüchterung, Schläge oder Elektroschocks ausgetrieben hatte, konnte man sie sogar während kurzer Perioden allein lassen, so wie Joe und Hadad Luke und George in C11 allein gelassen hatten, um sich Kaffee zu besorgen.

Ermordet.

Dieses Wort war die Falltür, und es wäre so leicht gewesen hindurchzufallen. Schon von Anfang an war sich Luke fast sicher gewesen, dass man ihn anlog, aber dieses fast hatte die Falltür bisher geschlossen gehalten. Es hatte ihm ein kleines bisschen Hoffnung ermöglicht. Die nüchterne Überschrift setzte jeder Hoffnung ein Ende, und da seine Eltern tot – ermordet – waren, wen würde man da wahrscheinlich verdächtigen? Den vermissten Sohn natürlich. Die Polizei, die das Verbrechen untersuchte, wusste inzwischen sicher, dass er ein besonderes Kind war, ein Genie, und galten Genies nicht als anfällig? Neigten sie nicht dazu auszuflippen?

Kalisha hatte ihren Trotz herausgebrüllt, doch das würde Luke nicht tun, sosehr es ihn auch danach verlangte. In seinem Herzen konnte er schreien, so viel er wollte, aber nicht laut. Er wusste nicht, ob seine Geheimnisse ihm etwas nützen würden, aber immerhin wusste er, dass es Risse in den Wänden dessen gab, was George Iles so passend als Höllenloch bezeichnet hatte. Wenn er diese Geheimnisse – und seine angeblich überlegene Intelligenz – als Brecheisen verwenden konnte, gelang es ihm vielleicht, einen von diesen Rissen zu erweitern. Ob es möglich war, zu fliehen, wusste er nicht, aber wenn er eine Möglichkeit dazu fand, würde seine Flucht nur der erste Schritt zu einem größeren Ziel sein.

Dann werde ich alles über denen zusammenstürzen lassen, dachte er. So wie Samson, nachdem Delila ihn dazu überredet hat, sich einen Haarschnitt verpassen zu lassen. Alles zusammenstürzen lassen und sie zermalmen. Sie alle zermalmen.

Irgendwann sank er in einen leichten Schlaf. Er träumte, dass er zu Hause war und dass seine Eltern noch lebten. Das war ein guter Traum. Sein Vater sagte zu ihm, er solle nicht vergessen, die Mülltonnen rauszustellen. Seine Mutter machte Pfannkuchen, und Luke ertränkte seinen in Brombeersirup. Sein Vater aß einen mit Erdnussbutter, während er sich die Morgennachrichten auf CBS anschaute – mit Gayle King und Norah O’Donnell, die sexy war–, und fuhr dann zur Arbeit, nachdem er Luke auf die Wange und seine Frau auf den Mund geküsst hatte. Ein guter Traum. Rolfs Mutter sollte die beiden Jungen zur Schule bringen, und als sie vor dem Haus hupte, schnappte Luke sich seinen Rucksack und rannte zur Tür. »He, vergiss das Geld fürs Mittagessen nicht«, rief seine Mutter und drückte es ihm in die Hand, nur war es kein Geld, es waren Wertmünzen, und da wachte er auf und merkte, dass jemand in seinem Zimmer war.

29

Wer, konnte Luke nicht erkennen, weil er offenbar irgendwann die Nachttischlampe ausgeschaltet hatte, obwohl er sich nicht daran erinnerte. In der Nähe vom Schreibtisch hörte er leise schlurfende Schritte und dachte zuerst, es sei einer von den Pflegern, der gekommen war, um ihm seinen Laptop wegzunehmen, weil man ihn die ganze Zeit über doch überwacht hatte und er nur so dumm gewesen war, etwas anderes anzunehmen. So extrem bescheuert.

Zorn erfüllte ihn wie Gift. Er sprang aus dem Bett, um den, der da in sein Zimmer eingedrungen war, zu attackieren. Sollte der Eindringling ihn doch schlagen, treten oder mit seinem verdammten Schockstock traktieren; Luke würde zumindest ein paar gute Schläge anbringen. Den wahren Grund, weshalb er zuschlug, würde der Typ vielleicht nicht begreifen, aber das machte nichts; ihm selbst war er völlig klar.

Nur war es kein Erwachsener. Er prallte auf einen kleinen Körper auf, den er zu Boden stieß.

»Autsch, Lukey, nicht! Tu mir nicht weh!«

Avery Dixon. Der Avester.

Luke tastete nach ihm, zog ihn hoch und führte ihn zum Bett, wo er die Lampe einschaltete. Avery blickte ihn entsetzt an.

»Mannomann, was hast du hier zu suchen?«

»Ich bin aufgewacht und hab Angst gekriegt. Zu Sha kann ich nicht gehen, weil sie die weggeholt haben. Deshalb bin ich hierhergekommen. Darf ich bleiben? Bitte?«

Das stimmte alles, aber es war nicht die ganze Wahrheit. Luke begriff das mit einer Klarheit, die alles andere, was er auf diese Weise erfahren hatte, matt und trübe erscheinen ließ. Weil Avery stark TP war, wesentlich stärker als Kalisha, und in diesem Moment war Avery… tja… auf Sendung.

»Ja, du darfst bleiben«, sagte er, doch als Avery ins Bett steigen wollte, fügte er hinzu: »Na-hein, zuerst aufs Klo bitte. Du wirst nicht in mein Bett pinkeln.«

Avery widersprach nicht, und bald hörte Luke den Urin in die Schüssel plätschern. Eine ganze Menge. Als Avery wiederkam, schaltete Luke das Licht aus. Avery kuschelte sich an ihn. Es war schön, nicht allein zu sein. Wunderschön sogar.

»Das mit deiner Mama und deinem Papa tut mir leid, Luke«, flüsterte Avery ihm ins Ohr.

Für einen Moment konnte Luke nichts sagen. Als das vorüberging, flüsterte er zurück: »Hast du gestern auf dem Spielplatz mit Kalisha über mich gesprochen?«

»Ja. Sie hat mir gesagt, ich soll zu dir ins Zimmer gehen. Und dass sie dir Briefe schicken wird, und ich soll der Briefträger sein. George und Helen kannst du das verraten, wenn du meinst, dass es ungefährlich ist.«

Doch das würde er nicht tun, weil hier nichts ungefährlich war. Nicht einmal zu denken war ungefährlich. Dabei fiel ihm ein, was er gesagt hatte, als Kalisha ihm von Nickys Kampf gegen die rot gekleideten Pfleger aus dem Hinterbau berichtet hatte: Er hat ihm das Ding aus der Hand gekickt. Womit er den Schockstock gemeint hatte. Kalisha hatte ihn nicht gefragt, wie er das wissen konnte, weil sie mit einiger Sicherheit längst über ihn Bescheid wusste. Und vor ihr hatte er seine neuen TP-Fähigkeiten geheim halten wollen? Vor den anderen war das vielleicht möglich, aber nicht vor Kalisha. Und nicht vor Avery.

»Schau hin!«, flüsterte Avery.

Luke konnte nirgendwo hinschauen, weil die Lampe nicht brannte und es kein Fenster gab, durch das irgendwelches Licht von außen hätte hereindringen können. Es war also völlig dunkel im Zimmer, aber er schaute trotzdem hin und glaubte Kalisha zu sehen.

»Geht es ihr gut?«, flüsterte er.

»Ja. Vorläufig.«

»Ist Nicky auch dort?«

»Ja«, flüsterte Avery. »Und Iris auch. Bloß kriegt sie Kopfschmerzen. Andere Kinder da auch. Sha meint, das kommt von den Filmen. Und von den Blitzen.«

»Was für Filme?«

»Weiß nicht, Sha hat noch keine gesehen, aber Nicky schon. Iris auch. Kalisha meint, es gibt da noch andere Kinder – vielleicht im hinteren Teil vom Hinterbau – aber da, wo sie jetzt ist, sind nur ein paar. Jimmy und Len. Und Donna.«

Ich habe den Computer von Donna, dachte Luke. Hab ihn geerbt.

»Zuerst war noch Bobby Washington da, aber der ist jetzt fort. Iris hat Kalisha erzählt, dass sie ihn gesehen hat.«

»Den und die anderen kenne ich nicht.«

»Kalisha sagt, Donna ist, ein paar Tage bevor du gekommen bist, im Hinterbau gelandet. Deshalb hast du ihren Computer.«

»Du bist wirklich unheimlich«, sagte Luke.

Avery, der wahrscheinlich wusste, dass er unheimlich war, reagierte nicht darauf. »Sie kriegen Spritzen, die wehtun. Spritze für Blitze, Spritze für Blitze. Sha sagt, sie meint, dass im Hinterbau schlimme Dinge passieren können. Vielleicht kannst du was dagegen tun, sagt sie. Sie sagt…«

Er beendete den Satz nicht und musste das auch nicht. Luke sah kurz, aber blendend klar ein Bild vor Augen, das ihm bestimmt von Kalisha Benson über Avery Dixon gesendet worden war: einen Kanarienvogel im Käfig. Die Tür ging auf, und der Vogel flog heraus.

»Sie sagt, du bist der Einzige, der dafür klug genug ist.«

»Wenn ich kann, werde ich etwas unternehmen«, sagte Luke. »Was hat sie dir sonst noch erzählt?«

Darauf erhielt er keine Antwort. Avery war eingeschlafen.

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