ERSTER TEIL OBEN UND UNTEN

1

Der Sklave, der an jenem für die Jahreszeit außergewöhnlich warmen Frühlingsmorgen zu mir kam, war ein junger Mann von kaum mehr als zwanzig Jahren.

Für gewöhnlich lassen meine Klienten durch die gemeinsten Haussklaven nach mir schicken - schmutzige Malocher, Krüppel, schwachsinnige Knaben, die nach dem Dung der Ställe stinken und von den Strohresten in ihrem Haar niesen müssen. Es ist gewissermaßen eine Frage der Etikette; wenn man sich um die Dienste von Gordianus dem Sucher bemüht, wahrt man eine gewisse Distanz und Zurückhaltung. Als ob ich leprös oder Priester irgendeines unreinen orientalischen Kults wäre. Daran bin ich gewöhnt. Es macht mir nichts aus - solange mein Honorar pünktlich und vollständig gezahlt wird.

Der Sklave, der an diesem speziellen Morgen vor meiner Tür stand, war jedoch sehr sauber und makellos gewandet. Er hatte eine stille Art und ein Benehmen, das zwar respektvoll, aber keineswegs unterwürfig war - die Höflichkeit eben, die man von einem jungen Mann gegenüber einem zehn

Jahre älteren erwarten konnte. Sein Latein war tadellos (besser als meins), und die Stimme, mit der er es vortrug, klang melodiös wie eine Flöte. Kein Stallknecht also, sondern ganz offenkundig der gebildete Diener eines Herrn, der ihm zugetan war. Der Sklave hieß Tiro.

»Ich komme aus dem Haushalt des hochgeschätzten Marcus Tullius Cicero«, fügte er hinzu und hielt, den Kopf leicht geneigt, kurz inne, um zu sehen, ob ich den Namen kannte. Das war jedoch nicht der Fall. »Mit dem Auftrag, um deine Dienste nachzusuchen«, sagte er noch, »auf Empfehlung von -«

Ich nahm seinen Arm, legte meinen Zeigefinger auf seine Lippen und führte ihn ins Haus. Der brutale Winter war einem drückend heißen Frühling gewichen; trotz der frühen Stunde war es bei weitem zu warm, um ungeschützt auf der Türschwelle stehen zu bleiben. Außerdem war es viel zu früh, dem Geplapper dieses jungen Sklaven zu lauschen, egal wie melodiös seine Stimme sein mochte. Meine Schläfen pochten wie grollender Donner, und hinter meinen Augen zuckten spinnwebartige Blitze auf und verschwanden gleich wieder.

»Kennst du zufällig ein Rezept gegen Kater?« fragte ich.

Der junge Tiro musterte mich verstohlen von der Seite, verwirrt über den abrupten Themenwechsel und argwöhnisch ob meiner plötzlichen Vertrautheit. »Nein, Herr.«

Ich nickte. »Vielleicht hattest du noch nie einen Kater?«

Er errötete leicht. »Nein, Herr.«

»Dein Herr erlaubt dir keinen Wein?«

»Doch, natürlich. Aber wie er immer sagt, Mäßigung in allen Dingen -«

Ich nickte, und der Schmerz ließ mich zusammenzucken. Die geringste Kopfbewegung bereitete mir furchtbare Qualen. »Mäßigung in allen Dingen, ausgenommen der Tageszeit, zu der er mir seine Sklaven vorbeischickt, nehme ich an.«

»Oh, Verzeihung, Herr. Soll ich später wiederkommen?«

»Das wäre eine Verschwendung deiner und meiner Zeit. Von der deines Herrn ganz zu schweigen. Nein, bleib nur, aber sprich nicht vom Geschäft, bis ich es dir sage. Solange kannst du mir beim Frühstück Gesellschaft leisten, im Garten, da ist die Luft angenehmer.«

Ich ergriff erneut seinen Arm, führte ihn durch das Atrium, einen verdunkelten Flur hinunter ins Peristylium im Zentrum des Hauses. Ich sah, wie er erstaunt die Brauen hochzog, war mir allerdings nicht sicher, ob ihn die Größe oder der Zustand des Gartens überraschte. Ich war natürlich daran gewöhnt, aber auf einen Fremden muß er wie der reinste Urwald gewirkt haben - wildwuchernde Weidenbäume, deren herabhängende Ranken das hoch aus dem staubigen Boden sprießende Unkraut berührten; in der Mitte der vor Jahren ausgetrocknete Brunnen mit der kleinen marmornen Pan-Statue, auf der die Zeit ihre Narben hinterlassen hatte; der schmale, vom Wildwuchs ägyptischen Schilfs überwucherte Teich, der träg und trüb durch den Garten mäanderte. Die Anlage war schon verwildert, lange bevor ich das Haus von meinem Vater geerbt hatte, und ich hatte nichts zu ihrer Instandsetzung unternommen. Mir gefiel der Garten, wie er war - ein Ort unkontrollierten Grüns verborgen inmitten des ordentlichen Roms, ein stilles Plädoyer für das Chaos angesichts gemauerter Ziegel und gehorsamen Buschwerks. Außerdem hätte ich mir die Arbeitskräfte und Materialien, den Garten in einen gepflegten Zustand zu versetzen, nie leisten können.

»Ich nehme an, es ist schon etwas ganz anderes als das Haus deines Herrn.« Ich setzte mich auf einen der Stühle, behutsam, um meinen Kopf nicht zu erschüttern, und machte Tiro ein Zeichen, auf dem anderen Platz zu nehmen. Ich klatschte in die Hände und bereute es wegen des Lärms augenblicklich. Ich biß die Zähne aufeinander und rief: »Bethesda! Wo steckt das Mädchen bloß wieder? Sie wird uns jeden Moment das Frühstück servieren. Deswegen mußte ich ja selbst an die Tür kommen - sie war in der Speisekammer beschäftigt. Bethesda!«

Tiro räusperte sich. »Es ist, ehrlich gesagt, viel größer als das meines Herrn.«

Ich stierte ihn leeren Blicks an, mein Magen rumpelte jetzt mit meinen Schläfen um die Wette. »Wie bitte?«

»Das Haus, Herr. Es ist größer als das meines Herrn.«

»Überrascht dich das?«

Er schlug seinen Blick nieder aus Angst, mich beleidigt zu haben.

»Weißt du, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene, junger Mann?«

»Nicht genau, Herr.«

»Aber du weißt, daß es etwas nicht ganz Ehrenhaftes ist -zumindest soweit es in Rom heutzutage überhaupt noch Ehrbarkeit gibt. Aber nicht illegal -zumindest soweit der Begriff der Legalität in einer Stadt, die von einem Diktator regiert wird, noch eine Bedeutung hat. Meine geräumige Wohnstatt überrascht dich also, ungeachtet ihres verfallenen Zustands. Das ist völlig in Ordnung. Sie überrascht mich manchmal selbst. Da bist du ja, Bethesda. Stell das Tablett hier ab, zwischen mir und meinem unerwarteten, aber absolut willkommenen jungen Gast.«

Bethesda gehorchte, allerdings nicht ohne einen verstohlenen Seitenblick und ein leises, verächtliches Schnauben. Bethesda war selbst eine Sklavin und fand es anstößig, daß ich mich mit Sklaven gemein machte und sie, schlimmer noch, aus meiner Speisekammer beköstigte. Nachdem sie den Tisch gedeckt hatte, blieb sie vor uns stehen, als erwarte sie weitere Anweisungen. Das war allerdings nur eine Pose. Für mich, wenn schon nicht für Tiro, war es offensichtlich, daß sie hauptsächlich daran interessiert war, meinen Gast näher in Augenschein zu nehmen.

Bethesda starrte also Tiro an, der ihrem Blick offenbar auswich. Sie zog die Mundwinkel zurück. Ihre Oberlippe wurde schmal und wölbte sich zu einem feinen Bogen. Sie grinste.

Bei den meisten Frauen bedeutet ein Grinsen eine wenig anziehende Geste des Abscheus. Bei Bethesda konnte man sich da nie so sicher sein. Ein Grinsen tat ihrem dunklen und sinnlichen Charme keinen Abbruch. Im Gegenteil, es konnte ihn manchmal erhöhen, und in Bethesdas beschränkter, aber einfallsreicher Körpersprache konnte ein Grinsen von einer Drohung bis zu einer unverhohlenen Einladung fast alles bedeuten.

In diesem Fall war es meiner Vermutung nach eine Reaktion auf Tiros höflich gesenkten Blick, eine Reaktion auf seine schüchterne Bescheidenheit -das Grinsen, mit dem eine schlaue Füchsin ein wohlgenährtes Kaninchen mustert. Ich hätte gedacht, daß all ihr Hunger in der vergangenen Nacht gestillt worden sei. Meiner war es jedenfalls.

»Braucht mein Herr sonst noch irgend etwas?« Sie stand da, die Hand in die Hüfte gestützt, die Brüste vorgestreckt, die Schultern zurückgezogen. Ihre Lider, von der Nacht noch immer schwer geschminkt, hingen müde herab. Sie sprach mit dem glutvollen, leicht lispelnden Akzent des Orients. Noch mehr Posen. Bethesda hatte sich entschieden. Der junge Tiro war, Sklave oder nicht, jemand, den zu beeindrucken sich lohnte.

»Das wäre alles, Bethesda. Du kannst gehen.«

Sie neigte den Kopf, wandte sich um und bahnte sich zwischen den herabhängenden Weidenzweigen einen kurvenreichen Weg durch den Garten ins Haus. Sobald sie uns den Rücken zugewandt hatte, schwand Tiros Schüchternheit. Ich folgte seinem Blick, von dessen Ursprung in seinen weitgeöffneten Augen bis zu seinem Brennpunkt irgendwo direkt oberhalb von Bethesdas sanft wiegendem Gesäß. Ich beneidete ihn um seine Bescheidenheit und Schüchternheit, seinen Hunger, sein gutes Aussehen und seine Jugend.

»Wenn dir dein Herr schon das Trinken verbietet, zumindest das exzessive«, sagte ich, »erlaubt er dir wenigstens hin und wieder, eine Frau zu genießen?«

Die tiefe, lebhafte Röte, die sich auf sein Gesicht legte, so blutrot wie ein Sonnenuntergang über dem offenen Meer, traf mich unvorbereitet. Nur die Jungen mit ihren glatten, weichen Wangen und ihrer glatten Stirn können so erröten. Selbst Bethesda war zu alt, um je wieder so zu erröten, falls sie überhaupt noch in der Lage war, rot zu werden.

»Vergiß es«, sagte ich. »Ich habe kein Recht, dir so eine Frage zu stellen. Nimm etwas von dem Brot hier. Bethesda backt es selbst, und es ist besser, als man vermuten könnte. Ein Rezept von ihrer Mutter aus Alexandria. Behauptet sie jedenfalls - obwohl ich den Verdacht hege, daß sie nie eine Mutter gehabt hat. Und obwohl ich sie in Alexandria gekauft habe, ist ihr Name weder griechisch noch ägyptisch. Die Milch und die Pflaumen müßten frisch sein, für den Käse kann ich allerdings nicht garantieren.«

Wir aßen schweigend. Der Garten lag noch immer im Schatten, aber ich konnte schon zum Greifen nahe, fast bedrohlich die Sonne spüren, die sich über das bogenrandige Ziegeldach tastete wie ein Einbrecher, der seinen Abstieg plant. Bis zum Mittag würde der gesamte Garten von Licht durchflutet sein, unerträglich heiß und hell, aber jetzt war es hier draußen noch kühler als im Haus, das noch die Hitze des gestrigen Tages speicherte. Plötzlich regten sich in einem Winkel des Gartens die Pfauen; das größte der männlichen Tiere stieß einen schrillen Ruf aus, stolzierte auf und ab und präsentierte sein farbenprächtiges Gefieder. Tiro erblickte den Vogel und fuhr, auf den Anblick unvorbereitet, zusammen. Ich kaute und litt still unter dem stechenden Schmerz, der gelegentlich von meinen Kiefern zu meinen Schläfen zuckte. Ich warf einen Blick auf Tiro, dessen Aufmerksamkeit inzwischen von dem Pfau zu der leeren Tür gewandert war, in der Bethesda eben verschwunden war.

»Ist das das Mittel gegen einen Kater, Herr?«

»Was, Tiro?«

Er wandte sich mir zu. Die völlige Unschuld seines Gesichts blendete mich mehr als die Sonne, die plötzlich über dem Dach hervorbrach. Sein Name mochte griechisch sein, aber mit Ausnahme seiner Augen waren seine Züge klassisch römisch - die Stirn, Wangen und Kinn sanft geschwungen, Lippen und Nase etwas zu stark ausgeprägt. Aber es waren seine Augen, die mich wirklich faszinierten, eine Schattierung von blassem Lavendelblau, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte und wie sie in Rom bestimmt nicht heimisch war - der Beitrag einer Mutter oder eines Vaters, die man zu Sklaven gemacht und von, die Götter wissen woher, ins Herz des römischen Weltreichs gebracht hatte. Diese Augen waren viel zu unschuldig und vertrauensselig, als daß sie einem Römer gehören konnten.

»Ist das das Mittel gegen einen Kater?« wiederholte Tiro. »Morgens eine Frau zu haben?«

Ich lachte laut auf. »Wohl kaum. Meistens sind sie Teil der Krankheit. Oder der Ansporn zur Genesung, fürs nächste Mal.«

Er betrachtete das vor ihm aufgedeckte Essen und nahm sich höflich, aber ohne Begeisterung ein Stück Käse. Offenbar war er selbst als Sklave Besseres gewohnt. »Also Brot und Käse?«

»Essen hilft, wenn man es im Magen behalten kann. Aber die einzig wahre Kur gegen einen Kater hat mich vor fast zehn Jahren ein weiser Arzt aus Alexandria gelehrt - ich war vermutlich ungefähr in deinem Alter, und Wein war mir nicht fremd. Das Rezept hat mir seither gute Dienste geleistet. Dieser Arzt vertrat die Theorie, daß beim exzessiven Trinken bestimmte Säfte des Weines sich nicht im Bauch auflösen, sondern wie giftige Gase in den Kopf aufsteigen, wo sie den vom Hirn sekretierten Schleim verhärten, so daß das Hirn anschwillt und sich entzündet. Diese Säfte lösen sich im Lauf der Zeit auf, und der Schleim wird wieder weich. Deswegen stirbt auch niemand an einem Kater, egal wie furchtbar die Schmerzen sind, die er zu erleiden hat.«

»Dann ist die Zeit das einzige Heilmittel, Herr?«

»Es gibt noch ein schnelleres: Denken. Die konzentrierte Übung des Gehirns. Laut meinem Freund, dem Arzt, findet das Denken im Hirn statt, und es wird durch den abgesonderten Schleim geschmeidiger gemacht. Wenn dieser Schleim nun verunreinigt oder verhärtet wird, bekommt man Kopfschmerzen. Aber das eigentliche Denken produziert frischen Schleim, der den alten aufweicht und ersetzt: je intensiver man nachdenkt, desto größer die Schleimproduktion. Deshalb beschleunigt intensive Konzentration den natürlichen Heilungsprozeß nach einem Kater, indem es die Säfte aus dem entzündeten Gewebe spült und die Befeuchtung der Membranen wieder instandsetzt.«

»Ich verstehe.« Tiro sah skeptisch, aber beeindruckt aus. »Klingt völlig logisch, wenn man die Prämisse akzeptiert, die nicht bewiesen werden kann.«

Ich lehnte mich zurück und verschränkte, auf einer Brotkruste herumkauend, die Arme. »Der Beweis ist die Heilung selbst. Weißt du, ich fühle mich bereits besser, nachdem ich aufgefordert war, den Mechanismus dieser Heilmethode zu erklären. Und ich gehe davon aus, daß ich in ein paar Minuten völlig kuriert sein werde, nachdem ich dir erklärt habe, weswegen du zu mir gekommen bist.«

Tiro lächelte vorsichtig. »Ich fürchte, das Mittel versagt, Herr.«

»Ach?«

»Du hast die Pronomen durcheinandergebracht, Herr. Ich bin derjenige, der zu erklären hat, warum ich zu dir gekommen bin.«

»Ganz im Gegenteil. Es stimmt wohl, wie du in meinem Gesichtsausdruck gelesen hast, daß ich noch nie zuvor von deinem Herrn gehört habe - wie war noch der Name, Marcus irgendwas Cicero? Ein völlig Fremder. Nichtsdestoweniger kann ich dir ein paar Dinge über ihn erzählen.« Ich machte eine Pause, lange genug, um mich der vollen Aufmerksamkeit des Jungen zu vergewissern. »Er stammt aus einer stolzen Familie, ein Charakterzug, der auch bei ihm voll ausgeprägt ist. Er lebt in Rom, aber seine Familie stammt ursprünglich nicht von hier, sondern möglicherweise aus dem Süden und wohnt seit höchstens einer Generation in der Stadt. Sie sind mehr als wohlhabend, aber nicht unermeßlich reich. Liege ich soweit richtig?«

Tiro beäugte mich mißtrauisch. »Soweit schon.«

»Dieser Cicero ist ein junger Mann deines Alters, vermutlich ein wenig älter als du. Er ist ein eifriger Student der Redekunst und bis zu einem gewissen Maße Anhänger der griechischen Philosophen. Wohl kein Epikuräer, sondern eher ein Stoiker, wenngleich kein strikter. Korrekt?«

»Ja.« Tiro machte zunehmend den Eindruck, als sei ihm nicht wohl in seiner Haut.

»Was den Grund deines Kommens angeht, du bist hier, um dich meiner Dienste zu vergewissern in einem Rechtsstreit, den dieser Cicero vor die

Rostra bringen will. Cicero ist ein Anwalt, der gerade am Anfang seiner Karriere steht. Trotzdem ist dies ein wichtiger Fall, und ein komplizierter dazu. Meine Dienste empfohlen hat wahrscheinlich der bedeutendste aller römischen Anwälte. Hortensius, natürlich.«

»Na...türlich«, hauchte Tiro, kaum mehr flüsternd. Seine Augen waren zusammengekniffen, sein Mund stand sperrangelweit offen. »Aber woher kannst du -«

»Und der spezielle Fall? Wahrscheinlich ein Mord...«

Tiro starrte mich mit unverhohlenem Erstaunen von der Seite an.

»Und nicht bloß ein Mord. Nein, schlimmer als das. Viel schlimmer...«

»Ein Trick«, flüsterte Tiro. Er wandte seinen Blick ab, den Kopf heftig zur Seite reißend, als bedürfe es einer großen Anstrengung, seine Augen von meinen loszureißen. »Das machst du irgendwie, indem du mir in die Augen blickst. Magie...«

Ich preßte die Fingerspitzen gegen die Schläfen, die Ellenbogen ausgestreckt - zum Teil, um den Druck und das Pochen hinter meiner Stirn zu lindern, aber auch um die theatralische Pose eines Sehers zu imitieren. »Ein ruchloses Verbrechen«, flüsterte ich. »Abscheulich. Unaussprechlich. Ein Sohn, der seinen eigenen Vater tötet. Vatermord!«

Ich ließ meine Schläfen los und sank in meinen Stuhl zurück. Ich sah meinem jungen Gast direkt in die Augen. »Du, Tiro aus dem Haus des Marcus Tullius Cicero, bist gekommen, um meine Dienste zur Unterstützung deines Herrn bei der Verteidigung eines gewissen Sextus Roscius aus Ameria zu erbitten, der angeklagt ist, seinen Vater, dessen Namen er trägt, ermordet zu haben. Und siehe da - mein Kater ist völlig verschwunden.«

Tiro blinzelte. Und blinzelte noch einmal. Er lehnte sich zurück und fuhr mit dem Zeigefinger über seine Oberlippe, die Stirn nachdenklich gerunzelt. »Es ist ein Trick, nicht wahr?«

Ich schenkte ihm das dünnste Lächeln, dessen ich fähig war. »Warum? Glaubst du, ich sei nicht in der Lage, deine Gedanken zu lesen?«

»Cicero sagt, so etwas wie Gedankenlesen oder das zweite Gesicht oder die Zukunft Vorhersagen gibt es nicht. Er sagt, alle Seher und Zeichendeuter und Orakel seien schlimmstenfalls Scharlatane, bestenfalls Schauspieler, die die Leichtgläubigkeit der Masse ausnutzen.«

»Und du glaubst alles, was dein Herr Cicero sagt?« Tiro errötete erneut. Bevor er etwas sagen konnte, hob ich die Hand. »Schweig. Ich würde dich nie auffordern, etwas gegen deinen Herrn zu sagen. Aber sag mir dies: Hat Marcus Tullius Cicero je das Orakel in Delphi besucht? Hat er den Schrein der Magna Mater in Ephesus gesehen und die Milch gekostet, die aus ihren marmornen Brüsten fließt? Hat er in der Stille der Nacht die großen Pyramiden bestiegen und der Stimme des durch die alten Gemäuer wehenden Windes gelauscht?«

»Nein, ich glaube nicht.« Tiro senkte den Blick. »Cicero hat Italien nie verlassen.«

»Aber ich, junger Mann.« Einen Moment lang verlor ich mich in meinen Gedanken, unfähig, mich loszureißen von der Flut der Anblicke, Klänge und Gerüche aus der Vergangenheit. Ich sah mich im Garten um und erkannte auf einmal, wie schäbig er in Wahrheit war. Ich starrte auf das Frühstück, und mir wurde plötzlich klar, wie trocken und fade das Brot, wie sauer der Käse schmeckte. Ich betrachtete Tiro, erinnerte mich daran, wer er war, und kam mir dumm vor, soviel Energie aufgewendet zu haben, einen einfachen Sklaven zu beeindrucken.

»Ich habe all diese Dinge getan und all diese Orte gesehen.

Trotzdem bin ich in vielerlei Hinsicht vermutlich ein noch größerer Zweifler als dein skeptischer Herr. Ja, es ist nur ein Trick. Eine schlichte Frage der Logik.«

»Aber wie kann schlichte Logik neues Wissen hervorbringen? Du hast gesagt, daß du vor meinem Besuch noch nie von Cicero gehört hast. Ich habe dir nichts von ihm erzählt, und doch kannst du mir genau sagen, warum ich gekommen bin. Es ist, als würdest du Münzen aus der Luft zaubern. Wie kann man etwas aus dem Nichts schaffen? Oder die Wahrheit ohne jeden Hinweis offenbaren?«

»Darum geht es nicht, Tiro. Aber das kannst du nicht wissen. Ich bin sicher, du läßt dir in logischem Denken so schnell von keinem was vormachen. Das Problem liegt in der Art von Logik, wie sie von römischen Rhetorikern gelehrt wird. Uralte Fälle noch einmal verhandeln, uralte Schlachten noch einmal schlagen, das Auswendiglernen von Gesetzen und Grammatik, und alles stets mit dem Ziel, das Recht zugunsten des eigenen Klienten zu beugen, ohne auf recht oder unrecht oder auf oben und unten zu achten. Gerissenheit hat die Weisheit ersetzt. Der Sieg rechtfertigt jedes Mittel. Selbst die Griechen haben das Denken verlernt.«

»Wenn es nur ein Trick ist, verrate mir, wie es gemacht wird.«

Ich lachte und nahm ein Stück Käse. »Wenn ich es dir erkläre, wirst du weniger Respekt vor mir haben, als wenn ich es für mich behalte.«

Tiro runzelte die Stirn. »Ich finde, du solltest es mir sagen, Herr. Wie sollte ich mich sonst kurieren für den Fall, daß ich einmal in die glückliche Lage komme, einen Kater zu haben?« Ein Lächeln zeigte sich unter der gerunzelten Stirn. Auch Tiro hatte ein paar Posen auf Lager, die nicht weniger beeindruckend waren als Bethesdas. Oder meine.

»Also gut.« Ich stand auf, streckte meine Arme in die Höhe und war überrascht, die heiße Sonne auf ihnen zu spüren, so sengend, als hätte ich meine Hände in kochendheißes Wasser getaucht. Mittlerweile lag der halbe Garten im Sonnenlicht. »Wir werden ein wenig auf und ab wandeln, solange es noch kühl ist. Bethesda! Ich werde meine Schlußfolgerungen erläutern, Bethesda wird das Frühstück abräumen - Bethesda! -, und alles wird wieder in Ordnung sein.«

Wir gingen langsam um den Teich herum. Am anderen Ufer lauerte Bast, die Katze, den Libellen auf, ihr schwarzer Schwanz glänzte in der Sonne.

»Also, woher weiß ich, was ich über Marcus Tullius Cicero weiß? Ich sagte, er stamme aus einer stolzen Familie. Das ergibt sich aus dem Namen. Nicht aus dem Familiennamen Tullius, den ich schon einmal gehört habe, sondern aus dem Beinamen Cicero. Der dritte Name eines römischen Bürgers kennzeichnet normalerweise den Zweig einer Familie -in diesem Fall den Zweig der Cicero aus der Tullius-Familie. Oder, falls kein Familienzweig dieses Namens existiert, auch eine einzelne Person, wobei damit für gewöhnlich eine charakteristische Äußerlichkeit benannt wird. Naso für einen Mann mit einer großen Nase, oder Sulla, der Name unseres geschätzten und ehrenwerten Diktators, der sich auf seine blühende Gesichtsfarbe bezieht. So oder so ist Cicero ein höchst seltsam klingender Name. Das Wort bezieht sich auf die verbreitete Kichererbse und ist auf eine Person angewandt wohl kaum schmeichelhaft gemeint. Wie verhält sich die Sache bei deinem Herrn?«

»Cicero ist ein alter Familienname. Man sagt, er stammt von einem Vorfahren, der einen häßlichen, in der Mitte wie eine Kichererbse gespaltenen Knubbel auf der Nasenspitze hatte. Du hast recht, es klingt wirklich merkwürdig, obwohl ich mich so daran gewöhnt habe, daß es mir kaum noch auffällt. Einige Freunde meines Herrn meinen, er sollte den Namen ablegen, wenn er in die Politik oder die Juristerei geht, aber er will nichts davon wissen. Cicero sagt, wenn seine Familie es für passend gehalten hat, einen solch sonderbaren Namen anzunehmen, muß der erste Mann, der ihn getragen hat, recht außergewöhnlich gewesen sein, selbst wenn sich niemand mehr daran erinnern kann, warum. Er sagt, er will dafür sorgen, daß der Name in ganz Rom bekannt und geachtet wird.«

»Stolz, wie ich schon sagte. Aber das gilt praktisch für jede römische Familie und bestimmt für jeden römischen Rechtsanwalt. Davon, daß er in Rom lebt, bin ich selbstverständlich ausgegangen. Daß die Wurzeln seiner Familie irgendwo im Süden liegen, habe ich wegen des Namens Tullius vermutet. Ich erinnere mich daran, ihn auf der Straße nach Pompei mehr als einmal gehört zu haben - möglicherweise in Aquinum, Interamna, Arpinum -«

»Genau«, bestätigte Tiro nickend. »Cicero hat überall in der Gegend Verwandte. Er selbst wurde in Arpinum geboren. «

»Aber er hat dort nicht länger als bis zu seinem, mhm, neunten oder zehnten Lebensjahr gelebt.«

»Ja - er war acht, als seine Familie nach Rom gezogen ist. Aber woher weißt du das?«

Bast hatte die Jagd nach Libellen aufgegeben und strich um meine Knöchel. »Denk mal nach, Tiro. Mit zehn beginnt die formelle Ausbildung eines Bürgers, und angesichts seiner Kenntnisse der Philosophie und deiner eigenen Gelehrsamkeit vermute ich, daß dein Herr nicht in einem verschlafenen, kleinen Nest an der Straße nach Pompei ausgebildet worden ist. Und was die Tatsache betrifft, daß seine Familie seit höchstens einer Generation in Rom lebt, so bin ich davon ausgegangen, weil mir der Name Cicero nicht bekannt ist. Hätte sie seit meiner Jugend hier gelebt, hätte ich zumindest irgendwann einmal von ihr gehört - und einen solchen Namen würde ich nicht vergessen. Und was Ciceros Alter, seinen Reichtum und sein Interesse an Rhetorik und Philosophie angeht, so läßt sich das leicht an deiner Person ablesen, Tiro.«

»An mir?«

»Ein Sklave ist der Spiegel seines Herrn. Deine fehlende Vertrautheit mit den Gefahren übermäßigen Weinkonsums, deine Schüchternheit gegenüber Bethesda, all das deutet darauf hin, daß du einem Haus dienst, in dem auf Zurückhaltung und Anstand der größte Wert gelegt wird. Diese Atmosphäre kann nur der Herr selbst schaffen. Cicero ist offensichtlich ein Mann von rigiden Moralvorstellungen. Das wiederum könnte auf rein römische Tugenden hinweisen, aber deine Bemerkung über die Mäßigung in allen Dingen läßt eine Wertschätzung griechischer Tugenden und griechischer Philosophie erahnen. Außerdem wird im Haus Ciceros viel Wert auf Grammatik, Sprach-und Redekunst gelegt. Ich wage zu bezweifeln, daß du je selbst formell in einer dieser Disziplinen unterrichtet worden bist, aber ein Sklave kann sich sehr viel dadurch aneignen, daß er regelmäßig mit diesen Dingen in Berührung kommt. Darauf deuten deine Art zu reden, deine Manieren und deine gepflegte Stimme hin. Cicero hat ganz offensichtlich lange und fleißig an den Rednerschulen studiert.

Was zusammen genommen nur eins bedeuten kann: Er möchte Anwalt werden und Fälle vor der Rostra präsentieren. Das hätte ich schon daraus geschlossen, daß du überhaupt zu mir gekommen bist, um meine Dienste zu erbitten. Die meisten meiner Klienten - zumindest die anständigen -sind entweder Politiker oder Rechtsanwälte oder beides.«

Tiro nickte. »Aber du wußtest auch, daß Cicero jung ist und noch am Anfang seiner Karriere steht.«

»Ja. Nun, wenn er ein etablierter Anwalt wäre, hätte ich schon von ihm gehört. Wie viele Fälle hat er vertreten?«

»Nur einen«, räumte Tiro ein, »und nichts, wovon du etwas gehört hättest -eine einfache Partnerschaftssache.«

»Was seine Jugend und Unerfahrenheit nur bestätigt. Genau wie die Tatsache, daß er dich überhaupt geschickt hat. Könnte man sagen, daß du Ciceros verläßlichster Sklave bist? Sein Lieblingsdiener?«

»Sein persönlicher Sekretär. Ich bin schon mein ganzes Leben lang bei ihm.«

»Hast seine Bücher zu den Unterrichtsstunden getragen, ihn in Grammatik abgefragt, seine Unterlagen für seinen ersten Fall vor der Rostra vorbereitet.«

»Genau.«

»Dann gehörst du nicht zu der Sorte Sklave, wie sie die meisten Advokaten losschicken würden, wenn sie die Dienste von Gordianus dem Sucher bemühen wollen. Nur ein Grünschnabel von einem Anwalt, dem die allgemeinen Gepflogenheiten peinlicherweise unbekannt sind, würde sich die Mühe machen, seine rechte Hand zu mir zu senden. Ich fühle mich geschmeichelt, auch wenn das gar nicht beabsichtigt war. Als Zeichen meiner Dankbarkeit verspreche ich, niemandem zu erzählen, daß Marcus Tullius Cicero sich zum Trottel gemacht hat, indem er seinen besten Sklaven ausgesandt hat, um den erbärmlichen Gordianus abzuholen, den Erforscher von Misthaufen und Eindringling in Hornissennester. Das würde sie mehr amüsieren, als Ciceros Name das je könnte.«

Tiro runzelte die Stirn. Ich blieb mit der Spitze einer Sandale an einer Weidenwurzel unweit des Ufers hängen, stieß mir den Zeh und unterdrückte einen Fluch.

»Du hast recht«, sagte Tiro leise und klang sehr ernst. »Er ist ziemlich jung, genau wie ich. Er kennt noch längst nicht all die kleinen Tricks der juristischen Profession, die albernen Gesten und leeren Förmlichkeiten. Aber er weiß, woran er glaubt, und das ist mehr, als man von den meisten Anwälten behaupten kann.«

Ich betrachtete meinen Zeh und war überrascht, daß er nicht blutete.

In meinem Garten gab es Götter, bäuerlich, wild und unzivilisiert wie der Garten selbst. Sie hatten mich bestraft, weil ich einen jungen, naiven Sklaven gehänselt hatte. Ich hatte es verdient.

»Loyalität steht dir gut, Tiro. Wie alt genau ist dein Herr?«

»Cicero ist sechsundzwanzig.« - »Und du?«

»Dreiundzwanzig.«

»Beide ein wenig älter, als ich geschätzt hätte. Dann bin ich nicht zehn Jahre älter als du, Tiro, sondern nur sieben. Aber auch sieben Jahre können einen Riesenunterschied machen«, sagte ich und sinnierte über die Leidenschaft junger Männer, die Welt zu verändern. Eine Welle der Nostalgie erfaßte mich wie der leichte Luftzug, der durch die Weidenblätter über unseren Köpfen raschelte. Ich warf einen Blick auf den Teich und sah unsere Spiegelbilder im Wasser, das in der Sonne glitzerte. Ich war größer als Tiro, mit breiteren Schultern und auch um die Hüfte kräftiger gebaut. Mein Kinn war ausgeprägter, meine Nase platter und gebogener, und meine Augen waren kein bißchen lavendelblau. Sie waren von einem dunklen römischen Braun. Bis auf unsere ungebändigten schwarzen Locken hatten wir anscheinend nichts gemeinsam, wobei meine von ersten grauen Strähnen durchzogen wurden.

»Du hast eben Quintus Hortensius erwähnt«, sagte Tiro. »Woher wußtest du, daß er dich Cicero empfohlen hat?«

Ich lachte leise. »Das wußte ich nicht. Nicht sicher jedenfalls. Dein erstaunter Gesichtsausdruck hat mir jedoch sofort bestätigt, daß ich richtig lag. Und nachdem ich sicher wußte, daß Hortensius mit der Sache zu tun hatte, war mir alles klar.

Laß mich erklären. Einer von Hortensius’ Männern war vor etwa zehn Tagen hier und hat mich wegen eines Falles ausgehorcht. Der Typ, der immer kommt, wenn Hortensius meine Hilfe braucht - nur der Gedanke an die Kreatur läßt mich erschaudern. Wo finden Männer wie Hortensius bloß immer so abscheuliche Gestalten? Warum landen sie am Ende immer alle in Rom, wo sie sich gegenseitig die Kehle durchschneiden? Aber von dieser Seite der juristischen Zunft wirst du natürlich nichts wissen. Noch nicht.

Wie dem auch sei, dieser Mann von Hortensius kommt also zu mir. Stellt einen Haufen unzusammenhängender Fragen und sagt mir nichts - große Geheimniskrämerei, großes Getue, das übliche Herumscharwenzeln, das diese Typen vom Stapel lassen, wenn sie herauskriegen wollen, ob sich die Gegenseite mit dir wegen eines Falls schon in Verbindung gesetzt hat. Sie denken immer, daß der Feind eher da war und du trotzdem so tust, als wolltest du ihnen helfen, um ihnen im letzten Moment in den Rücken zu fallen. Ich vermute, das würden sie an meiner Stelle tun.

Schließlich zieht er wieder seiner Wege und hinterläßt einen Gestank im Foyer, den Bethesda nicht mit drei Tagen Schrubben wieder auslöschen kann. Die beiden einzigen Hinweise darauf, wovon er eigentlich geredet hat, waren der Name Roscius und die Stadt Ameria. Ob ich ihn kennen würde oder schon einmal dort gewesen sei? Roscius ist natürlich der Name eines berühmten Komikers, einer von Sullas Lieblingskomödianten, wie jedermann weiß. Aber den hatte er nicht gemeint. Ameria ist ein kleines Städtchen oben im umbrischen Bergland, etwa fünfzig Meilen nördlich von Rom. Außer der Landwirtschaft gibt es wenig, was einen dorthin ziehen könnte. Also lautete meine Antwort zweimal nein.

Ein oder zwei Tage verstrichen, und Hortensius’ Faktotum kam nicht zurück. Mein Interesse war geweckt. Ein paar Fragen hier und da - es bedurfte keiner großen Nachforschungen, um herauszufinden, worum es ging: der Fall eines Vatermordes, der vor der Rostra zur Verhandlung anstand. Sextus Roscius aus der Stadt Ameria ist angeklagt, hier in Rom die Ermordung seines Vaters geplant zu haben. Seltsam - niemand scheint viel über die Sache zu wissen, aber jeder erklärt mir, daß ich lieber die Finger davon lassen sollte. Ein häßliches Verbrechen, sagen sie, und daß es garantiert einen häßlichen Prozeß geben würde. Ich wartete die ganze Zeit darauf, daß Hortensius erneut mit mir in Kontakt trat, aber sein Monster tauchte nie wieder auf. Vor zwei Tagen hörte ich dann, daß Hortensius die Verteidigung niedergelegt hat.«

Ich warf einen Seitenblick zu Tiro. Er hatte die Augen gesenkt und sah mich kaum an, aber ich konnte die Intensität seiner Konzentration förmlich spüren. Er war ein ausgezeichneter Zuhörer. Wäre er etwas anderes als ein Sklave gewesen, hätte er sicher einen guten Schüler abgegeben, dachte ich; und in einem anderen Leben, in einer anderen Welt wäre ich vielleicht ein guter Lehrer junger Männer gewesen.

Ich schüttelte den Kopf. »Hortensius und seine Kreatur und dieser geheimnisvolle Prozeß - ich hatte sie komplett aus meinen Gedanken verbannt. Dann stehst du auf einmal vor meiner Tür und sagst etwas von einer >Empfehlung<. Von wem? Möglicherweise von Hortensius, dachte ich, der es offenbar für klüger gehalten hat, diesen Fall von Vatermord an einen Kollegen abzugeben. An einen jüngeren Advokaten mit vermutlich geringerer Erfahrung. Einen Anwalt am Beginn seiner Karriere, der die Aussicht auf einen bedeutenden Fall oder zumindest einen Fall, bei dem eine so grausame Strafe droht, aufregend finden könnte. Einen Anwalt, der es nicht besser weiß - der nicht in einer Position ist zu wissen, was immer Hortensius weiß. Nachdem du bestätigt hattest, daß in der Tat Hortensius mich empfohlen hatte, war der Rest der Erklärung leicht, geleitet von den Reaktionen in deinem Gesicht - das übrigens so klar und leicht zu lesen ist wie Catos Latein.« Ich zuckte die Schultern. »Ein wenig Logik, ein wenig Instinkt. In meinem Gewerbe habe ich beides anzuwenden gelernt.«

Wir gingen eine Weile schweigend weiter. Dann lächelte Tiro und lachte schließlich. »Du weißt, warum ich gekommen bin. Und du weißt, was ich dich fragen wollte. Ich mußte kaum etwas sagen. Du machst es mir sehr leicht.«

Ich zuckte erneut die Schultern und spreizte meine Hände in einer typisch römischen Geste falscher Bescheidenheit.

Tiro runzelte die Stirn. »Wenn ich jetzt nur deine Gedanken lesen könnte -aber ich fürchte, da muß ich noch ein wenig üben. Oder bedeutet die Tatsache, daß du mich so gut behandelt hast, schon, daß du einverstanden bist - daß du Cicero deine Dienste zur Verfügung stellen wirst? Hortensius hat ihm erklärt, wie du arbeitest und welches Honorar du erwartest. Wirst du es tun?«

»Was tun? Ich fürchte, meine Fähigkeit, Gedanken zu lesen, endet hier. Du wirst dich schon etwas präziser ausdrücken müssen.«

»Wirst du mitkommen?«

»Wohin?«

»Zu Ciceros Haus.« Tiro sah mein ausdrucksloses Gesicht und bemühte sich um eine noch deutlichere Erklärung. »Um ihn zu treffen und den Fall mit ihm zu besprechen.«

Ich blieb so abrupt stehen, daß meine Sandalen tatsächlich eine kleine Staubwolke aufwirbelten. »Dein Herr hat wirklich nicht die leiseste Ahnung von Etikette, was? Er bittet mich in sein Haus. Mich, Gordianus den Sucher? Als Gast? Sehr merkwürdig. Ja, ich glaube, ich möchte diesen Marcus Tullius Cicero unbedingt kennenlernen. Und er braucht weiß der Himmel meine Hilfe. Das muß ja ein ganz seltsamer Mensch sein. Ja, natürlich werde ich kommen. Laß mir nur ein wenig Zeit, mich passender zu kleiden. Meine Toga am besten. Und Schuhe, keine Sandalen. Es dauert nur einen Moment. Bethesda! Bethesda!«

2

Die Strecke von meinem Haus auf dem Esquilinischen Hügel zu Ciceros Anwesen unweit des Kapitolinischen würde zu Fuß mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen. Wahrscheinlich hatte Tiro nur halb so lange gebraucht, aber er war auch schon bei Dämmerung aufgebrochen. Wir machten uns hingegen zur geschäftigsten Morgenstunde auf den Weg, in der die Straßen Roms vor Menschen wimmeln, die von den ewigen Antriebskräften Hunger, Gehorsam und Gier aus dem Schlaf gerissen worden sind.

Zu dieser Tageszeit sieht man mehr Haussklaven auf den Straßen als irgendwann sonst. Sie huschen auf unzähligen Botengängen durch die Stadt, überbringen Nachrichten, tragen Pakete, machen Besorgungen und Einkäufe von Markt zu Markt. Sie tragen mit sich den Geruch von Brot, frisch gebacken in Tausenden von Steinöfen, aus denen schlanke Rauchfahnen aufsteigen wie ein tägliches Opfer für die Götter. Sie tragen den Geruch von Fisch, frisch gefangenem Süßwassergetier aus den nahen Fluten des Tibers oder auch exotischeren Exemplaren, die über Nacht aus dem Hafen von Ostia flußaufwärts geschifft werden - schlammbedeckte Mollusken und große Meeresfische, glitschige Kraken und Tintenfische. Sie tragen den Geruch von Blut, der von abgetrennten Gliedmaßen oder sorgfältig ausgelösten Organen von Rindern, Hühnern, Schweinen und Schafen stammt, in Tuch gewickelt oder über die Schulter geworfen, bestimmt für die Tische ihrer Herren und deren ohnehin schon geschwollene Bäuche.

Keine andere Stadt kann es an schierer Lebenskraft aufnehmen mit Rom zur Hauptgeschäftszeit am Vormittag. Rom erwacht mit einem selbstzufriedenen Räkeln und tiefem Einatmen, das die Lungen belebt und den Puls beschleunigt. Rom erwacht mit einem Lächeln aus rosigen Träumen, weil Rom jeden Abend mit dem Traum vom Imperium einschläft. Am Morgen schlägt es dann die Augen auf, bereit, diesen Traum am hellichten Tag wahr werden zu lassen. Andere Städte klammern sich an den Schlaf - Alexandria und Athen an die wohligen Träume der Vergangenheit, Pergamon und Antiochia an eine Tagesdecke von orientalischer Pracht, die kleinen Städte Pompei und Herculaneum an den Luxus, bis mittags liegenbleiben zu können. Rom hingegen schüttelt glücklich den Schlaf ab und beginnt sein Tagewerk. Rom muß sich an die Arbeit machen. Rom ist ein Frühaufsteher.

Rom ist viele Städte in einer. Wenn man die Stadt zu einer beliebigen Tageszeit durchquert, wird man stets zumindest einige ihrer Facetten entdecken. Für Menschen, die in einer Stadt vor allem Gesichter sehen, ist es zuerst und vor allem eine Sklavenstadt, weil es viel mehr Sklaven als Bürger und Freigelassene gibt. Sklaven sind überall, so allgegenwärtig und lebenswichtig für das Leben der Stadt wie das Wasser des Tibers oder das Licht der Sonne. Sklaven sind Roms Lebenssaft.

Sie sind von jeder Rasse und Art. Einige sind ihrer Herkunft nach nicht von ihren Herren zu unterscheiden. Sie gehen besser gekleidet und edler gewandet durch die Straßen als viele freie Bürger. Ihnen mag zwar die Toga fehlen, doch ihre Tuniken sind aus mindestens ebenso kostbarem Material. Andere sehen unvorstellbar erbärmlich aus, wie die pockennarbigen, halb schwachsinnigen Arbeiter, die sich in unordentlicher Formation durch die Straßen schleppen, nackt bis auf ein Stück Stoff, das ihr Geschlecht bedeckt, mit Ketten an den Fußgelenken aneinandergeschmiedet und schwere Gewichte tragend, bewacht von Schlägern mit langen Peitschen und zusätzlich gequält von den Fliegenschwärmen, die sie wie Wolken umschwirren, wohin sie auch gehen. Sie sind unterwegs zu den Minen oder Galeeren oder um das tiefe Fundament für das Haus eines reichen Mannes auszuschachten, unterwegs zu einem frühen Grab.

Wer beim Betrachten einer Stadt keine Menschen, sondern Stein sieht, für den ist Rom eine überwältigende Stadt des Kultes. Rom ist schon immer eine fromme Stadt gewesen, in der man jedem Helden und allen Göttern, die man für den Traum vom Imperium möglicherweise als Verbündete gewinnen konnte, stets freigiebig (wenn auch nicht immer ehrlich) geopfert hat. Rom verehrt die Götter und liebt seine Toten. Tempel, Altäre, Schreine und Statuen im Überfluß. An jeder Ecke kann einem unvermittelt der Duft von Weihrauch entgegenschlagen. Man kann eine schmale, gewundene Straße hinuntergehen in einem Viertel, das man seit Kindheitstagen kennt, und plötzlich ein Wahrzeichen entdecken, das man nie zuvor bemerkt hat - eine winzige, grobschlächtige Statue irgendeines vergessenen etruskischen Gottes, die in einer Mauernische aufgestellt oder hinter einem wilden Fenchelstrauch verborgen ist, ein Geheimnis, das nur die Kinder kennen, die in diesen Gassen spielen, und die Bewohner des Hauses, in denen dieser vergessene und machtlose Gott als Hausgottheit verehrt wird. Man kann sich unvermittelt vor einem kompletten Tempel wiederfinden, unvorstellbar alt, so alt, daß er nicht aus Ziegel oder Marmor, sondern aus wurmzerfressenem Holz gebaut ist, der düstere Innenraum längst jeden Hinweises auf das göttliche Wesen beraubt, das hier einst residierte, aber trotzdem aus irgendeinem Grund, an den sich kein Lebender mehr erinnern kann, noch immer für heilig gehalten.

Andere Sehenswürdigkeiten sind Besonderheiten ihres speziellen Viertels. Nehmen Sie beispielsweise meine Nachbarschaft mit ihrer seltsamen Mischung aus Tod und Lust. Mein Haus liegt ein kleines Stück den Esquilin hinauf. Oberhalb befindet sich das Quartier der Arbeiter aus der Leichenhalle, die sich um das Fleisch der Toten kümmern - Einbalsamierer, Parfümierer und Heizer der Öfen. Tag und Nacht steigt vom Gipfel des Hügels eine fette Rauchsäule auf, dicker und schwärzer als irgendeine andere in dieser Stadt des Qualms, und mit dem seltsam-süßlichen Geruch versengenden Fleisches, den man sonst nur auf Schlachtfeldern wahrnimmt.

Unterhalb meines Hauses, am Fuß des Hügels, liegt die berüchtigte Subura, die größte Ansammlung von Tavernen, Spielhäusern und Bordellen westlich von Alexandria. Die Nähe solch ungleicher Nachbarn - die Krämer des Todes auf der einen, die Händler der niedersten Gelüste des Lebens auf der anderen Seite - kann bisweilen zu sonderbaren Begegnungen führen.

Tiro und ich stiegen den gepflasterten Pfad hinunter, der steil von meiner Haustür entlang den grobverputzten Mauern meiner Nachbarn abfiel. »Sei an dieser Stelle vorsichtig«, warnte ich und zeigte auf einen Fleck, an dem uns, wie ich wußte, eine frische Ladung Exkremente erwartete, die von den Bewohnern des Hauses zur Linken über die Mauer geworfen worden war. Tiro wich nach rechts aus, den Haufen nur knapp verfehlend, und rümpfte die Nase.

»Das lag auf dem Hinweg aber noch nicht da«, sagte er lachend.

»Nein, sieht ziemlich frisch aus. Die Dame des Hauses«, erklärte ich ihm seufzend, »stammt aus einem hinterwäldlerischen Kaff in Samnium. Ich habe ihr schon hundertmal erklärt, wie das öffentliche Abwassersystem funktioniert, aber sie erwidert immer nur: So haben wir es in Plutos Loch, oder wie dieses Drecksnest sonst heißen mag, auch immer gemacht. Es bleibt nie lange liegen; irgendwann im Laufe des Tages sammelt der Mann, der hinter der Mauer zur Rechten wohnt, den Mist auf und transportiert ihn weg. Ich weiß auch nicht, warum; dieser Pfad führt nur zu meiner Tür - ich bin der einzige, der den Anblick ertragen muß, und der einzige, der ständig Gefahr läuft hineinzutreten. Vielleicht stört ihn der Gestank. Vielleicht düngt er auch seinen Garten damit. Ich weiß nur, daß es einer der vorhersagbaren Abläufe meines Lebens ist - die Dame aus Plutos Loch schmeißt jeden Morgen die Familienscheiße über die Mauer, und der Mann von gegenüber schleppt sie vor Anbruch des Abends weg.« Ich schenkte Tiro mein freundlichstes Lächeln. »Das erkläre ich jedem, der mich möglicherweise zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang besucht. Sonst könntest du dir noch deine guten Schuhe ruinieren.«

Der Pfad wurde breiter. Die Häuser wurden kleiner und duckten sich näher aneinander. Schließlich erreichten wir den Fuß des Esquilin und traten auf die breite Via Subura. Ein Trupp Gladiatoren mit bis auf einen barbarischen Haarkamm kahlgeschorenen Köpfen taumelte aus der Höhle der Venus. Die Höhle ist berüchtigt dafür, ihre Gäste zu neppen, vor allem Touristen, aber auch Einheimische. Ich habe sie trotz der bequemen Nähe zu meinem Haus nie frequentiert. Geneppt oder nicht, die Gladiatoren sahen jedenfalls zufrieden aus. Sie stolperten auf die Straße, hielten sich gegenseitig an den Schultern und grölten, noch immer betrunken von einer offenbar langen und ausschweifenden Nacht, ein Lied, das so viele Melodien hatte wie ihr Chor Stimmen.

Am Rande der Straße löste sich eine Gruppe junger Trigon-Spieler in alle Richtungen auf, um den Gladiatoren Platz zu machen, bevor sie sich zur nächsten Runde versammelten, wobei jeder seine Position an einem Eckpunkt eines Dreiecks einnahm, das sie in den Staub gemalt hatten. Sie schlugen laut lachend einen Ball hin und her. Es waren fast noch Kinder, aber ich hatte sie oft genug den Seiteneingang der Höhle betreten oder verlassen sehen, um zu wissen, daß sie dort angestellt waren. Es war ein Zeugnis für die Energie der Jugend, daß sie nach einer langen Arbeitsnacht im Bordell schon so früh wieder auf den Beinen waren und Ball spielten.

Wir bogen rechts ab und folgten den betrunkenen Gladiatoren auf der Via Subura in westlicher Richtung. Vor uns mündete eine weitere Straße vom Esquilin in eine breite Kreuzung. In Rom gilt die Regel: Je breiter eine Straße oder ein Platz, desto voller und unpassierbarer. Tiro und ich mußten hintereinander gehen und uns einen Weg durch das Gedrängel von Wagen und Tieren und improvisierten Marktständen bahnen. Ich beschleunigte meinen Schritt und mahnte ihn über die Schulter, dicht hinter mir zu bleiben. Bald hatten wir die Gladiatoren eingeholt. Wie nicht anders zu erwarten, teilte sich die Menge vor ihnen wie Nebelfetzen in einer heftigen Böe. Tiro und ich folgten in ihrem Windschatten.

»Platz da!« rief auf einmal eine laute Stimme. »Macht Platz für die Toten!« Eine Schar Einbalsamierer in weißen Roben drängte sich, von rechts den Esquilin herabkommend, neben uns. Sie schoben eine schmale, längliche Karre, in der ein in Gaze eingewickelter Leichnam lag und in einem Kokon aus Wohlgerüchen zu schweben schien - Rosenöl, Nelkensalbe und unbekannte orientalische Gewürze. Wie immer hing der Gestank von Rauch an der Kleidung der Einbalsamierer und vermischte sich mit dem Geruch verbrennenden Fleischs, das von dem riesigen Krematorium auf dem Hügel hinabwehte.

»Platz da!« rief ihr Anführer und fuchtelte mit einer schmalen Rute herum, wie man sie etwa zur milden Bestrafung eines Sklaven oder Hundes verwenden würde. Er hieb lediglich in die Luft, aber die Gladiatoren nahmen Anstoß daran. Einer von ihnen riß dem Einbalsamierer die Rute aus der Hand. Sie segelte rotierend durch die Luft und hätte mich getroffen, wenn ich mich nicht geduckt hätte. Ich hörte einen überraschten Schmerzensschrei hinter mir, drehte mich jedoch nicht um. Ich blieb in der Hocke und faßte nach Tiros Ärmel.

Das Gedränge in der Masse war zu dicht, um zu entkommen. Anstatt sich still abzuwenden, wie es die Umstände nahelegten, drängten plötzlich von allen Seiten Fremde hinzu, die die in der Luft liegende Schlägerei witterten und Angst hatten, sie zu verpassen. Sie wurden nicht enttäuscht.

Der Einbalsamierer war ein kleiner Mann mit Kugelbauch, Falten und beginnender Glatze. Er erhob sich zu voller Größe und auf Zehenspitzen noch ein wenig darüber hinaus. Er schob sein Gesicht, außer sich vor Wut, vor das des Gladiators, verzog angeekelt die Nase, als er dessen Fahne wahrnahm -selbst dorthin, wo ich stand, wehte noch ein Hauch von Knoblauch und abgestandenem Wein herüber -und zischte ihn an wie eine Schlange. Der Anblick war völlig absurd, jämmerlich und alarmierend. Der riesige Gladiator

antwortete mit einem lauten Rülpser und einem Schlag, der den

Einbalsamierer rückwärts gegen den Karren schleuderte. Man hörte ein

durchdringendes Knacken von Holz oder Knochen oder beidem, und dann brachen sowohl der Karren als auch der Einbalsamierer zusammen.

Ich packte Tiros Ärmel fester. »Hier entlang«, zischte ich und wies auf eine Lücke, die sich plötzlich in der Menschenmasse aufgetan hatte. Bevor wir sie erreichen konnten, war sie bereits wieder von neu herandrängenden Schaulustigen blockiert.

Tiro gab ein seltsames Geräusch von sich. Ich fuhr herum. Sein Gesichtsausdruck war eher noch seltsamer. Er blickte nach unten. Ich spürte einen harten, schweren Stoß gegen meine Knöchel. Die Karre hatte ihren Inhalt auf die Straße entleert. Das Leichentuch aus Gaze hatte sich entrollt, und der Leichnam war mit dem Gesicht nach oben vor meine Füße gekullert.

Es war die Leiche einer Frau, fast noch ein Mädchen. Sie war blond und blaß, wie alle blutleeren Leichen blaß sind. Trotz ihres wachsartigen Fleisches sah sie aus, als sei sie einst eine bemerkenswerte Schönheit gewesen. Der Sturz hatte ihr Gewand zerrissen und eine einzelne Brust freigelegt, weiß und hart wie Alabaster, mit einer Brustwarze von der Farbe verblichener Rosen.

Ich warf einen Blick in Tiros Gesicht, der die Lippen vor spontaner, gedankenloser Lust geöffnet und doch in den Mundwinkeln aus

gleichermaßen impulsivem Ekel herabgezogen hatte. Ich blickte auf und

entdeckte eine weitere Lücke in der Menschenmenge. Ich machte einen Schritt darauf zu und zupfte an Tiros Ärmel, aber er blieb wie angewurzelt stehen. Ich zog fester. Jetzt würde es garantiert richtigen Ärger geben.

In diesem Moment vernahm ich das unverwechselbare metallische Gleiten eines Dolches, der aus der Scheide gezogen wurde, und in meinem Augenwinkel blitzte Stahl auf. Nicht einer der Gladiatoren hatte seine Waffe gezogen - die Gestalt stand auf der anderen Seite der Karre inmitten der Einbalsamierer. Ein Leibwächter? Ein Verwandter des toten Mädchens? Einen Augenblick später - so rasch, daß man nicht die Bewegung an sich, sondern nur die Verschiebung der Szenerie wahrnehmen konnte - tauchten Gestalt und Stahl auf unserer Seite der Karre auf. Man hörte ein seltsames, schlitzendes Geräusch, winzig, aber irgendwie endgültig. Der Gladiator krümmte sich, die Hände vor dem Bauch, vornüber. Er grunzte und stöhnte, aber das Geräusch ging in einem lauten kollektiven Kreischen unter.

Ich hatte das eigentliche Verbrechen oder den Täter gar nicht gesehen; ich war zu sehr damit beschäftigt, mir einen Weg durch die Menge zu bahnen, die beim ersten Blutstropfen auf dem Pflaster auseinandergestoben war wie Getreidekörner aus einem aufgerissenen Sack.

»Los, komm!« rief ich, Tiro hinter mir herziehend. Er starrte noch immer über die Schulter, auf das tote Mädchen und hatte, so glaubte ich, gar nicht gemerkt, was geschehen war. Aber als wir in Sicherheit waren, dem Gedrängel und Durcheinander, das weiter um den umgestürzten Karren tobte, glücklich entronnen, zog er mich zur Seite und sagte leise: »Wir sollten doch lieber umkehren, Herr. Wir waren schließlich Zeugen!«

»Zeugen von was?«

»Zeugen eines Mordes!«

»Ich hab nichts gesehen. Und du auch nicht. Du hast die ganze Zeit dieses tote Mädchen angestarrt.«

»Nein, ich habe alles gesehen.« Er schluckte schwer. »Ich habe einen Mord gesehen.«

»Das weißt du doch gar nicht. Vielleicht erholt sich der Gladiator ja wieder. Außerdem war er wahrscheinlich sowieso nur ein Sklave.« Der Ausdruck von Schmerz, der in Tiros Augen aufflammte, ließ mich innerlich zusammenzucken.

»Wir sollten trotzdem zurückgehen«, sagte Tiro nicht ohne Schärfe. »Die Messerstecherei war erst der Anfang. Es ist noch immer im Gange, siehst du? Inzwischen ist der halbe Marktplatz darin verwickelt.« Er zog die Brauen hoch, als sei ihm eine Idee gekommen. »Prozesse! Vielleicht braucht einer der Beteiligten einen guten Anwalt.«

Ich starrte ihn erstaunt an. »Meister Cicero kann sich wahrlich glücklich schätzen. Wie praktisch du doch bist, Tiro. Vor deinen Augen findet eine brutale Messerstecherei statt, und was siehst du? Geschäftliche Perspektiven.«

Tiro war durch mein Lachen gekränkt. »Aber einige Anwälte machen so eine Menge Geld. Cicero sagt, daß sich Hortensius nicht weniger als drei Sklaven hält, deren einzige Aufgabe es ist, durch die Straßen zu schlendern und die Augen nach potentiellen Fällen offen zu halten.«

Ich lachte erneut. »Ich wage zu bezweifeln, daß dein Cicero Lust hätte, den Gladiator oder dessen Besitzer zu vertreten. Oder, was wesentlicher ist, daß sie Lust hätten, mit deinem Herrn oder sonst einem Advokaten zu verhandeln. Die betroffenen Parteien werden sich auf übliche Weise um Gerechtigkeit bemühen: Blut für Blut. Wenn sie sich nicht selbst um die Sache kümmern -obwohl die Freunde des Ermordeten auf mich keineswegs einen feigen oder zaghaften Eindruck gemacht haben -, werden sie tun, was jeder tut: Sie heuern eine der Banden an. Die Bande spürt den Täter oder seinen Bruder auf und erdolcht im Gegenzug ihn, worauf die Familie des Opfers eine rivalisierende Bande anheuert, um diese Gewalttat zur vergelten, und so weiter. Das, Tiro, ist römische Justiz.«

Ich brachte ein Lächeln zustande, damit Tiro das Ganze als Witz betrachten konnte. Statt dessen bewölkte sich sein Gesicht weiter. »Römische Justiz«, sagte ich ernster, »für diejenigen, die sich keinen Anwalt leisten können oder vielleicht noch nicht einmal wissen, was ein Anwalt ist. Oder es wissen und ihnen nicht über den Weg trauen, weil sie alle Gerichte für einen großen Schwindel halten. Die beobachteten Ereignisse können genausogut die Fortsetzung wie der Beginn einer blutigen Fehde gewesen sein. Vielleicht hatte der Mann mit dem Messer gar nichts mit den Einbalsamierern oder dem toten Mädchen zu tun. Vielleicht hat er nur auf einen passenden Moment gewartet, seinen Schlag zu führen, und wer weiß, wie weit zurück dieser Streit schon reicht? Aus so etwas hält man sich am besten raus. Außerdem gibt es niemanden, an den man sich wenden könnte, um dem Ganzen Einhalt zu gebieten.«

Letzteres war tatsächlich wahr und ein unablässiger Quell des Erstaunens für Besucher aus fremden Hauptstädten oder sonst jemanden, der mit dem Leben in einer Republik unvertraut war: Rom hat keine Polizei. Es gibt keine bewaffnete städtische Körperschaft, die innerhalb der Stadtmauern für Ordnung hätte sorgen können. Gelegentlich schlägt ein der Gewalt überdrüssiger Senator die Aufstellung einer derartigen Truppe vor, aber sofort hält man ihm von allen Seiten entgegen: »Aber wem soll diese Polizei unterstellt werden?« Und die Kritiker haben recht. In einem Land, das von einem König regiert wird, verläuft eine klare und gerade Linie der Loyalität vom einzelnen Polizisten bis zum Monarchen selbst. Rom hingegen ist eine Republik (die zwar zu der Zeit, von der ich schreibe, von einem Diktator regiert wurde, aber im Einklang mit der Verfassung und nur vorübergehend). In Rom würde derjenige, der sich mittels Intrigen und Komplotten zum Chef einer solchen Polizei ernennen ließe, die Truppe schlicht für die Beförderung seiner eigenen Interessen benutzen, während seine Günstlinge die größten Probleme hätten zu entscheiden, von wem sie das fetteste Bestechungsgeld annehmen und ob sie dem großzügigen Spender tatsächlich loyal dienen oder ihm doch in den Rücken fallen sollten. Eine Polizei würde bloß als Machtinstrument im Kampf einer Fraktion gegen die andere dienen und damit lediglich eine weitere Bande darstellen, mit der die Öffentlichkeit sich herumzuschlagen hätte. Rom zieht es vor, ohne Polizei zu leben.

Wir entfernten uns von dem Platz und verließen auch die Via Subura. Ich führte Tiro durch eine enge Gasse, die ich kannte, eine Abkürzung. Wie die meisten Straßen Roms ist sie namenlos. Ich nenne sie einfach die enge Gasse.

Die Straße war düster und moderig, kaum mehr als ein Spalt zwischen zwei hohen Mauern. Die Ziegel und Pflastersteine waren mit kleinen Wasserperlen und Schimmel überzogen. Die Mauern selbst schienen zu schwitzen; die Pflastersteine atmeten einen feuchten Dunst aus, einen fast animalischen Geruch, ranzig und nicht völlig unangenehm. Es war eine Straße, die das Sonnenlicht nie sah, die nie von ihrer Wärme getrocknet, nie von ihrem Licht gereinigt wurde - im Hochsommer dunstig wie eine Waschküche, im Winter von Eis bedeckt, und immerzu feucht. Es gibt Tausende solcher Straßen in Rom, winzige Mikrokosmen, von der großen Welt abgeteilt, zurückgezogen und selbstgenügsam.

Die Gasse war zu schmal, um nebeneinander zu gehen. Tiro marschierte hinter mir. An seiner Stimme konnte ich hören, daß er sich weiter fortwährend über die Schulter umsah, und an dem leichten Zittern darin, wie nervös er war. »Passieren in diesem Viertel viele Messerstechereien?«

»In der Subura? Dauernd. Am hellichten Tag. Das ist in diesem Monat schon die vierte, von der ich gehört habe, obwohl es die erste ist, die ich tatsächlich gesehen habe. Das bringt das Wetter mit sich. Aber eigentlich ist es in der Subura nicht schlimmer als überall sonst. Man kann genausogut auf dem Palatin die Kehle durchgeschnitten bekommen oder, was das angeht, auch mitten auf dem Forum.«

»Cicero sagt, daß es Sullas Schuld ist.« Der Satz hatte in kühnem Tonfall begonnen, endete jedoch merkwürdig zurückgenommen und mit einem Stocken in der Stimme. Ich mußte Tiros Gesicht nicht sehen, um zu wissen, daß er wieder rot geworden war. Das war unbesonnen von einem Bürger, unseren geliebten Diktator zu kritisieren. Und noch unbesonnener von einem Sklaven, es so sorglos zu wiederholen.

Ich hätte es dabei belassen sollen, aber meine Neugier war geweckt.

»Dann ist dein Herr also kein Bewunderer Sullas?« Ich bemühte mich um einen möglichst beiläufigen Ton, um Tiro zu beruhigen, aber er antwortete nicht.

»Cicero hat Unrecht, weißt du, wenn er das wirklich glaubt - daß alles Verbrechen und Chaos in Rom Sullas Schuld ist -, obwohl Sulla bestimmt seinen Teil dazu beigetragen hat.« Damit hatte ich mich selbst auf dünnes Eis begeben. Aber Tiro sagte noch immer nichts. Hinter mir gehend, mußte er mir nicht in die Augen sehen und konnte einfach so tun, als habe er nichts gehört. Sklaven lernen früh, Taubheit und Geistesabwesenheit vorzutäuschen. Ich hätte stehenbleiben, mich umdrehen und ihn direkt ansehen können, aber das hätte der Sache doch zuviel Gewicht verliehen.

Trotzdem konnte ich nicht von dem Thema lassen. Irgend etwas an der bloßen Erwähnung des Namens Sulla entfacht ein Feuer in jedem Römer, egal ob Freund oder Feind, Komplize oder Opfer.

»Die meisten Menschen halten Sulla zugute, daß er die Ordnung in Rom wiederhergestellt hat. Vielleicht zu einem sehr hohen Preis und nicht ohne ein Blutbad - aber Ordnung ist Ordnung, und es gibt nichts, was die Römer höher schätzen. Doch ich nehme an, Cicero sieht das anders?«

Tiro sagte nichts. Die enge Gasse wand sich nach rechts und links, so daß man nie mehr als ein paar Meter weit sehen konnte. Hin und wieder kamen wir an einer Tür oder einem Fenster vorbei, die ein Stück in die Mauer eingelassen und ausnahmslos geschlossen waren. Wir hätten kaum ungestörter sein können.

»Natürlich ist Sulla ein Diktator«, sagte ich. »Das beunruhigt den römischen Geist. Wir sind alle freie Bürger - zumindest diejenigen von uns, die keine Sklaven sind. Aber schließlich ist ein Diktator kein König, versichern uns jedenfalls die Gesetzgeber. Eine Diktatur ist völlig legal, solange der Senat seine Zustimmung erteilt. Und natürlich nur im Fall eines Notstands. Zeitlich begrenzt. Wenn Sulla seine Vollmachten jetzt schon drei Jahre ausübt, anstatt der gesetzlich vorgeschriebenen zwölf Monate - na, dann ist es vielleicht das, was deinen Herrn stört. Daß es nicht korrekt ist.«

»Bitte«, flüsterte Tiro angespannt. »Du solltest nicht weiter davon reden. Man weiß nie, wer mithört.«

»Ah, die Mauern selbst haben Ohren - noch so eine Weisheit von Meister Kichererbses vorsichtigen Lippen?«

Das brachte ihn schließlich doch in Wallung. »Nein! Cicero sagt immer, was er denkt - er hat genausowenig Angst, offen seine Meinung zu äußern, wie du. Und er weiß sehr viel mehr über Politik, als du ihm zuzutrauen scheinst. Aber er ist nicht tollkühn. Cicero sagt: Wenn ein Mann nicht äußerst versiert in der Kunst der Rhetorik ist, können seine öffentlich geäußerten Worte so rasch seiner Kontrolle entfliehen wie Blätter im Wind. Eine unschuldige Wahrheit kann zu einer fatalen Lüge verdreht werden. Deswegen hat er mir verboten, außerhalb seines Hauses über Politik zu reden. Oder mit nicht vertrauenswürdigen Fremden.«

Jetzt hatte er es mir gegeben. Sowohl sein Schweigen wie auch sein Zorn waren berechtigt. Ich hatte ihn absichtlich geködert. Aber ich entschuldigte mich nicht, nicht einmal in der weitschweifigen und steifen Art, in der sich Freigeborene manchmal bei ihren Sklaven entschuldigen. Alles, was zu einem genaueren Bild von Cicero beitrug, bevor ich ihn persönlich traf, war den geringfügigen Preis wert, seinen Sklaven zu beleidigen. Außerdem sollte man einen Sklaven sehr gut kennen, bevor man ihn wissen läßt, daß einem seine Frechheit gefällt.

Wir gingen weiter. Die enge Gasse verbreiterte sich gerade so weit, daß zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Tiro holte ein wenig auf, hielt sich jedoch nach wie vor ein Stückchen links hinter mir, um einen formellen Abstand zu wahren. In der Nähe des Forums stießen wir wieder auf die Via Subura. Tiro sagte, es sei kürzer, direkt über das Forum zu gehen, anstatt einen Bogen darum zu machen. Also durchquerten wir das Herz der Stadt, das Rom der Touristen mit seinen großzügig angelegten Höfen und Brunnen, Tempeln und Plätzen, wo die Gesetze gemacht und die bedeutendsten Götter in ihren prächtigen Häusern verehrt wurden.

Wir kamen auch an der Rostra selbst vorbei, einem hohen, mit den Schnäbeln erbeuteter Schiffe verzierten Sockel, von dem aus die Redner und Advokaten bei den wichtigsten Streitfällen der römischen Justiz ihre Plädoyers hielten. Wir erwähnten den Diktator Sulla mit keinem weiteren Wort, aber ich fragte mich unwillkürlich, ob Tiro, genau wie ich, an den Anblick dachte, der sich nur ein Jahr zuvor an genau dieser Stelle geboten hatte, als die abgeschlagenen und auf Stöcke gespießten Köpfe von Sullas Feinden täglich zu Hunderten das Forum gesäumt hatten. Das Blut seiner Opfer war noch immer in Form rostfarbener Flecken auf dem ansonsten makellos weißen Stein zu sehen.

3

Ciceros Haus war, wie Tiro gesagt hatte, um einiges kleiner als meines. Von außen wirkte es fast demonstrativ bescheiden und gesetzt, ein

einstöckiges Gebäude ohne eine einzige Verzierung. Die Fassade zur Straße war völlig nackt, nichts weiter als eine gelblich verputzte Mauer mit einer schmalen Holztür.

Die offenkundige Bescheidenheit von Ciceros Haus bedeutete nicht viel. Denn natürlich befanden wir uns in einer der teuersten Wohngegenden Roms, wo das Ausmaß eines Anwesens wenig über den Wohlstand seines Besitzers aussagt. Hier konnte selbst das kleinste Haus genausoviel kosten wie ein ganzer Straßenzug von Villen in der Subura. Außerdem vermeiden die wohlhabenden Schichten Roms bei ihren Häusern traditionell jeden Prunk, zumindest nach außen. Sie halten das für eine Frage des guten Geschmacks. Ich habe allerdings eher den Verdacht, daß es etwas mit ihrer Furcht zu tun hat, eine vulgäre Zurschaustellung ihres Reichtums könnte den Neid des Pöbels wecken. Überdies sollte man bedenken, daß eine kostspielige Außendekoration wesentlich leichter zu stehlen ist als das, was man sicher im Innern des Hauses ausstellt.

Solche Kargheit und Zurückhaltung gelten nach wie vor als ein Ideal. Trotzdem habe ich im Verlauf meines Lebens eine deutliche Neigung zur öffentlichen Opulenz feststellen können. Das gilt besonders für die Jungen und Ehrgeizigen, vor allem diejenigen, deren Reichtum mit dem Erwachen des Bürgerkriegs und Sullas Triumph zu sprudeln begonnen hatte. Sie stocken ihre Häuser um eine Etage auf, legen auf ihren Dächern Porticos an und stellen aus Griechenland importierte Statuen auf.

Nichts dergleichen in der Straße, in der Cicero lebte. Der Anstand regierte. Die Häuser drehten der Straße ihren Rücken zu und waren nach innen gewandt; einem Fremden, der vorbeikam, hatten sie nichts zu sagen, sie bewahrten ihr geheimes Innenleben für die Privilegierten, die Zutritt hatten.

Die Straße war kurz und ruhig. An keinem Ende gab es Marktstände; fliegende Händler wußten, daß sie die Stille besser nicht störten. Unter mir graue Pflastersteine, über mir der blaßblaue Himmel und zu beiden Seiten ausgebleichter Putz, vom Regen verwaschen und von der Hitze rissig; sonst waren keine Farben erlaubt, am allerwenigsten grün - kein einziges unbotmäßiges Kraut sproß irgendwo aus dem Pflaster, von einer Blume oder einem Baum ganz zu schweigen. Sogar die Luft, die geruchlos und heiß vom Boden aufstieg, atmete die sterile Reinheit römischer Tugend.

Selbst inmitten solch allgemeiner Zurückhaltung wirkte Ciceros Haus besonders karg. Es war ironischerweise so unauffällig, daß es einem schon wieder ins Auge fiel - dort, so könnte man meinen, dort steht die ideale Wohnstatt für einen wohlhabenden Römer von äußerst seltener römischer

Tugendhaftigkeit. Das kleine Haus sah so schmal und bescheiden aus, daß man es für die Behausung einer vormals reichen römischen Matrone hätte halten können, die jetzt als Witwe zu einer bescheideneren Lebensführung gezwungen war; oder vielleicht das Stadthaus eines vermögenden Bauern vom Lande, der nur gelegentlich geschäftlich in der Stadt zu tun hatte und bestimmt nie Urlaub machte; oder aber (und so war es in der Tat) ein solch bescheidenes Haus in einer so unauffälligen Straße gehörte einem Junggesellen mit erheblichen Mitteln und altmodischen Wertvorstellungen, ein in die Stadt gezogener Sohn auf dem Lande lebender Eltern, der sich aufgemacht hatte, sein Glück in den besseren Kreisen Roms zu machen, ein junger Mann von strenger römischer Tugend, der so selbstbewußt war, daß nicht einmal seine Jugend und sein Ehrgeiz ihn zu vulgären modischen Fehltritten verlocken konnten.

Tiro klopfte an die Tür.

Kurz darauf wurde sie von einem Sklaven mit grauem Bart geöffnet. Der Alte hatte wohl eine Art Schüttellähmung, denn sein Kopf war in ständiger Bewegung, wackelte auf und ab und von links nach rechts und zurück. Es brauchte eine Weile, bis er Tiro erkannt hatte, wobei er linste und blinzelte und seinen Kopf mit dem schlanken Hals vorstreckte wie eine Schildkröte. Das Nicken hörte gar nicht auf. Schließlich lächelte er ein zahnloses Lächeln, trat zur Seite und riß die Tür weit auf.

Das Foyer war halbkreisförmig angelegt, wobei sich die gerade Wand in unserem Rücken befand. In der geschwungenen Wand vor uns waren drei Türen, jeweils flankiert von schmalen Säulen und von einem Giebel gekrönt. Die dahinter liegenden Korridore wurden von prächtigen roten Vorhängen verdeckt, deren Saum kunstvoll mit einem gelben Akanthus-Motiv bestickt war. Griechische Stehlampen in beiden Ecken und ein nicht sonderlich originelles Bodenmosaik (Diana auf der Jagd nach einem Eber) vervollständigten die Inneneinrichtung. Es war genau, was ich erwartet hatte. Die Vorhalle war ähnlich zurückhaltend und geschmackvoll eingerichtet, um einen Gegensatz zu der strengen Fassade zu vermeiden, und doch so teuer ausgestattet, daß sich jeder Gedanke an Armut von vornherein verbot.

Der alte Türsteher machte uns ein Zeichen zu warten. Schweigend und lächelnd verschwand er hinter dem Vorhang, der die Tür zu unserer Linken verhängte. Dabei hüpfte sein verschrumpelter Kopf auf und ab wie ein Korken auf seichten Wellen.

»Ein altes Familienfaktotum?« fragte ich. Ich wartete, bis er außer Sicht war und hielt meine Stimme gesenkt. Der Alte hatte offensichtlich bessere

Ohren als Augen, denn er hatte unser Klopfen sehr wohl gehört, so daß es unhöflich gewesen wäre, in seiner Gegenwart über ihn zu reden, als ob er ein Sklave wäre, was er nicht war. Ich hatte an seinem Finger den Ring bemerkt, der ihn als Freigelassenen und Bürger kenntlich machte.

»Mein Großvater«, sagte Tiro mit mehr als nur ein wenig Stolz in der Stimme. »Marcus Tullius Tiro.« Er reckte seinen Hals und blickte zur Tür, als könne er durch den roten Vorhang sehen und den trippelnden Gang des alten Mannes den Flur hinunter beobachten. Ein Luftzug hob den bestickten Saum kurz an. Daraus schloß ich, daß die Tür zur Linken irgendwie an die frische Luft führen mußte, wahrscheinlich zum Atrium im Zentrum des Hauses, wo es sich Meister Cicero vermutlich in der Morgenhitze bequem machte.

»Dann dient deine Familie seit mindestens drei Generationen im Haushalt der Tullii?« sagte ich.

»Ja, obwohl mein Vater bereits starb, als ich noch sehr klein war, so daß ich ihn nie richtig kennengelernt habe. Genausowenig wie meine Mutter. Der alte Tiro ist alles, was ich an Familie habe.«

»Und wie lange ist es her, daß dein Herr ihn freigelassen hat?« fragte ich, weil es Ciceros Vor- und Familienname war, den der alte Mann zusätzlich zu seinem angestammten Sklavennamen trug. Es ist Tradition, daß ein freigelassener Sklave die ersten beiden Namen des Mannes übernimmt, der ihm die Freiheit schenkt, und sie vor seinen eigenen stellt.

»Das ist jetzt fünf Jahre her. Bis dahin gehörte er Ciceros Großvater in Arpinum. Auch ich gehörte ihm, obwohl ich seit meiner Kindheit bei Cicero bin. Der alte Herr hat Cicero die Eigentumsrechte übertragen, als Geschenk zum Abschluß seines Studiums und seinem ersten eigenen Haushalt hier in Rom. Damals hat Cicero ihn auch freigelassen. Ciceros Großvater hätte sich nie die Mühe gemacht. Er glaubt nicht an die Freilassung, egal wie alt ein Sklave ist und wie lange und gewissenhaft er seinem Herrn gedient hat. Die Tullius-Familie mag ja aus Arpinum stammen, aber sie sind römisch bis ins Mark, eine sehr strenge und altmodische Familie.«

»Und du?«

»Ich?«

»Glaubst du, daß Cicero dich auch eines Tages freilassen wird?«

Tiro lief rot an. »Du stellst die merkwürdigsten Fragen, Herr.«

»Das ist nun mal meine Art. Und mein Beruf. Du mußt dir diese Frage doch schon selbst gestellt haben, mehr als einmal.«

»Tut das nicht jeder Sklave?« In Tiros Stimme lag keine Bitterkeit, nur ein blasser, unaufdringlicher Ton der Trauer, eine ganz spezielle Melancholie, die mir schon früher begegnet war. In diesem Augenblick wurde mir klar, daß der junge Tiro einer jener Sklaven war, die, weil sie über eine natürliche Intelligenz verfügten und inmitten von Wohlstand aufgewachsen waren, den Fluch der Erkenntnis zu tragen hatten, wie willkürlich und kapriziös die Launen des Schicksals sein konnten, die einen Menschen ein Leben lang zum Sklaven machten und einen anderen zum König, obwohl es zunächst keinen erkennbaren Unterschied zwischen beiden gab. »Eines Tages«, sagte er leise, »wenn mein Herr sich etabliert hat und ich älter bin. Welchen Sinn hat es überdies, frei zu sein, wenn man keine Familie gründen will? Das ist der einzige Vorteil, den ich sehen kann. Und das ist etwas, worüber ich nicht nachdenke. Jedenfalls nicht oft.«

Tiro wandte sein Gesicht ab und blickte zu der Tür, wo sein Großvater hinter dem Vorhang verschwunden war. Dann sah er mich an, seine Miene wieder unter Kontrolle. Ich brauchte eine Weile, bis ich bemerkte, daß er lächelte. »Außerdem«, sagte er, »es ist besser zu warten, bis mein Großvater stirbt. Sonst gibt es zwei Freigelassene mit dem Namen Marcus Tullius Tiro, und wie würde man uns dann auseinanderhalten ?«

»Wie hält man euch jetzt auseinander?«

»Ich bin Tiro, und er ist natürlich der alte Tiro.« Sein Lächeln wurde aufrichtiger. »Großvater reagiert nicht auf den Namen Marcus. Er glaubt, daß es Unglück bringt, wenn man ihn so nennt. Eine Versuchung der Götter. Außerdem ist er zu alt, sich an einen neuen Namen zu gewöhnen, obwohl er sehr stolz darauf ist. Es ist sowieso zwecklos, ihn zu rufen. Er geht nur noch an die Tür, und das kann ziemlich lange dauern. Ich glaube, meinem Herrn gefällt das. Cicero hält es für ein Zeichen guter Manieren, Gäste an der Tür warten zu lassen, und ein Ausdruck noch besserer Manieren, sie hier im Vorraum auf und ab marschieren zu lassen, während der alte Tiro sie anmeldet, zumindest bei ihrem ersten Besuch.«

»Ist es das, worauf wir im Moment warten? Angemeldet zu werden?«

Tiro verschränkte die Arme und nickte. Ich sah mich in dem Raum um. Es gab nicht einmal eine Bank, auf die man sich hätte setzen können. Überaus römisch, dachte ich.

Nach einer ganzen Weile kam der alte Tiro schließlich zurück und hob den Vorhang für seinen Herrn. Wie soll ich Marcus Tullius Cicero beschreiben? Die Schönen sehen alle gleich aus, aber ein häßlicher Mann ist auf ganz eigene Weise häßlich. Cicero hatte eine ausgeprägte Stirn, eine fleischige Nase, und sein Haar lichtete sich. Er war mittelgroß mit einer schmächtigen Brust, schmalen Schultern und einem langen Hals mit kräftigem Adamsapfel. Er sah wesentlich älter aus als sechsundzwanzig.

»Gordianus«, stellte Tiro mich vor. »Den sie den Sucher nennen.«

Ich nickte. Cicero lächelte freundlich. In seinen Augen lag ein rastloses, neugieriges Funkeln. Ich war sofort beeindruckt, ohne recht zu wissen, warum.

Und im nächsten Augenblick entsetzt, als Cicero den Mund aufmachte, um zu sprechen. Er sagte nur zwei Worte, aber das reichte. Er hatte eine schrille, kratzende Stimme. Tiro mit seinen wohlklingenden Modulationen hätte der Redner sein sollen. Cicero hatte eine Stimme, die einem Auktionator oder Komiker gut gestanden hätte, eine Stimme so seltsam wie sein Name. »Hier entlang«, sagte er und machte uns ein Zeichen, ihm durch den roten Vorhang zu folgen.

Der Flur war recht kurz, praktisch gar kein richtiger Flur. Wir gingen nur ein paar Schritte zwischen kargen Wänden entlang, bevor die Mauern abrupt endeten. Rechts von uns hing ein breiter Vorhang von blaßgelber Gaze, so fein, daß ich dahinter ein kleines, aber makellos gepflegtes Atrium erkennen konnte. Unter offenem Himmel und in der prallen Sonne wirkte das Atrium wie ein aus dem Haus herausgeschnittener Brunnen, ein Speicher, der vor Hitze und Licht überzuquellen schien. In der Mitte plätscherte ein kleiner Quell vor sich hin. Der Gazevorhang bauschte sich und wogte sanft wie ein Nebel im Wind, wie eine lebende Membran, die beim leichtesten Luftzug aufseufzt.

Gegenüber dem Atrium lag ein großer, luftiger Raum, lichtdurchflutet durch die hohen, schmalen Dachfenster. Die Wände waren weiß getüncht. Die Möbel waren rustikal und aus dunklem, poliertem Holz, verziert mit feinen Schnitzarbeiten, silbernen Griffen und Intarsien aus Perlmutt, Karneol und Azurstein.

Im ganzen Raum war eine erstaunliche Anzahl von Schriftrollen gelagert. Wir befanden uns in Ciceros Bibliothek und Arbeitszimmer. Solche Räume sind oft die intimsten Zimmer im Haus wohlhabender Männer, die mehr über ihre Bewohner verraten als Schlaf- oder Eßzimmer, welche die Domäne der Frauen und Sklaven sind. Es war ein privater Raum, ganz individuell geprägt von dem Mann, der darin lebte, gleichzeitig aber auch ein öffentlicher Ort -wofür die Anzahl der Stühle sprach, die vereinzelt im Zimmer verteilt standen oder zu kleinen Gruppen zusammengerückt waren, so als wären sie eben erst von einer beieinanderhockenden Besucherschar verlassen worden. Cicero wies auf eine Gruppe von drei Stühlen, setzte sich und forderte uns auf, ebenfalls Platz zu nehmen. Welche Art Mensch empfängt seine Gäste in der Bibliothek anstatt im Eßzimmer oder auf der Veranda? Ein Mann mit einer Vorliebe für die griechische Kultur, dachte ich. Ein Gelehrter. Ein Liebhaber des Wissens und der Weisheit. Ein Mann, der eine Konversation mit einem ihm völlig Fremden mit der beiläufig listigen Frage eröffnet:

»Sag mir, Gordianus - hast du je daran gedacht, deinen Vater zu ermorden?«

4

Wie mag mein Gesicht ausgesehen haben? Vermutlich konnte man Staunen, Erschrecken und Entsetzen darin aufleuchten sehen. Cicero sah alles und lächelte das gelassene Lächeln eines Redners, der weiß, daß er sein Publikum erfolgreich manipuliert hat. Schauspieler (und ich habe in meinem Leben eine ganze Reihe von ihnen gekannt) empfinden eine sehr ähnliche Befriedigung, den gleichen Kitzel der Macht. Der Hirte offenbart Ödipus die Wahrheit und löst mit einem einzigen Wort ein Aufstöhnen des Schocks und der Bestürzung aus, tausend Kehlen, die alle aufs Stichwort reagieren. Hinter seiner Maske lächelt der Hirte und geht ab.

Ich gab vor, geistesabwesend auf ein paar Rollen in der Nähe zu starren; aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, daß Cicero mich noch immer beobachtete, um jede meiner Reaktionen abzuschätzen. Redner glauben immer, sie könnten jeden und alles mit ihren Worten kontrollieren. Ich setzte eine möglichst ausdruckslose Miene auf.

»Mein Vater«, setzte ich an, mußte jedoch innehalten, um mich zu räuspern, und haßte diese Unterbrechung, weil sie wie ein Zeichen von Schwäche wirken mußte. »Mein Vater ist bereits tot, geschätzter Cicero. Er starb vor vielen Jahren.« Der Schalk in seinen Augen schwand. Er legte die Stirn in Falten.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er leise, mit einer angedeuteten Verbeugung. »Ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Das hast du auch nicht.«

»Gut.« Nach einer angemessenen Frist glättete sich seine Stirn wieder. Ein verschmitzter Ausdruck nistete sich erneut in seinen Augen ein. »Dann hast du sicherlich nichts dagegen, wenn ich dieselbe Frage noch einmal stelle -rein hypothetisch natürlich. Mal angenommen also, nur angenommen, du hättest einen Vater, den du loswerden wolltest. Wie würdest du es anstellen?«

Ich zuckte die Schultern. »Wie alt ist der alte Herr?«

»Sechzig, fünfundsechzig.«

»Und wie alt bin ich - rein hypothetisch?«

»Um die vierzig.«

»Ich würde die Zeit für mich arbeiten lassen«, sagte ich. »Was immer das Problem sein mag, die Zeit wird sich seiner annehmen, so sicher wie jedes andere Heilmittel.«

Cicero nickte. »Einfach warten, meinst du. Sich zurücklehnen und der Natur ihren Lauf lassen. Ja, das wäre unbedingt die einfachste Lösung. Und möglicherweise, wenn auch nicht unbedingt, die sicherste. Es wäre auf jeden Fall das, was die meisten Menschen tun würden, wenn sie sich mit einem Zeitgenossen konfrontiert sehen, dessen Existenz sie kaum ertragen können -besonders, wenn diese Person älter und schwächer ist als sie, besonders, wenn es sich um ein Mitglied der eigenen Familie handelt. Ganz besonders, wenn es der eigene Vater ist. Man erträgt die Unbilden und übt sich in Geduld. Soll die Zeit das Problem lösen. Schließlich lebt niemand ewig, und Kinder überleben normalerweise ihre Eltern.«

Cicero hielt inne. Die gelbe Gaze hob und senkte sich sanft, als habe das ganze Haus ausgeatmet. Der Raum wurde von Hitze durchströmt. »Aber die Zeit kann sich als ein kostspieliger Luxus erweisen. Sicher haucht ein alter Mann von fünfundsechzig Jahren sein Leben irgendwann von alleine aus, wenn man lange genug wartet - obwohl er darüber möglicherweise ein Greis von fünfundachtzig wird.«

Cicero erhob sich aus seinem Stuhl und begann, auf und ab zu gehen. Er war kein Mann, der beim Reden stillsitzen konnte. Im Laufe der Zeit begann ich seinen ganzen Körper als Maschine zu begreifen - die entschlossenen Schritte seiner Beine, die fuchtelnden Arme, die Hände, die kleine nachdenkliche Gesten in der Luft formten, der geneigte Kopf, die auf und ab schwingenden Brauen.

Keine dieser Bewegungen geschah aus Selbstzweck. Sie waren vielmehr alle irgendwie miteinander verbunden und in den Dienst seiner Stimme gestellt, jener seltsamen, erregenden und völlig faszinierenden Stimme - als ob sie ein Instrument und sein Körper die Maschinerie wären, die den Klang erzeugten; als ob seine Gliedmaßen und Finger die Hebel und Rädchen wären, die zur Hervorbringung der Töne nötig waren, die aus seinem Mund kamen. Der Körper war in Bewegung, und die Stimme ertönte.

»Stell dir vor«, sagte er - eine leichte Neigung des Kopfes, ein subtiler Schnörkel der Hand - »der Mann ist fünfundsechzig und lebt als Witwer hier in Rom. Keineswegs zurückgezogen. Er geht gerne zu Abendessen und Festen. Er liebt die Arena und das Theater. Er frequentiert die Bäder. Er ist sogar Stammgast - ich schwöre, mit fünfundsechzig! - in einem nahegelegenen Bordell. Sein Leben besteht nur aus Vergnügen. Er hat seinen Beruf aufgegeben. Oh, es gibt genug Geld, wertvolle Güter auf dem Land, Weinberge und Bauernhöfe - aber das kümmert ihn alles nicht mehr. Er hat die Verwaltung schon lange einem Jüngeren übertragen.«

»Mir«, sagte ich.

Cicero lächelte schwach. Wie alle Redner haßte er Unterbrechungen, aber die Frage bewies zumindest, daß ich zuhörte. »Ja«, sagte er, »rein hypothetisch. Dir. Seinem hypothetischen Sohn. Das Leben des alten Herrn besteht, wie gesagt, nur aus Vergnügungen, bei deren Verfolgung er Tag und Nacht, lediglich von seinen Sklaven begleitet, durch die Straßen zieht.«

»Er hat keine Leibwächter?« fragte ich.

»Keine nennenswerten. Zwei Sklaven begleiten ihn. Mehr aus Bequemlichkeitsgründen als des Schutzes wegen.«

»Bewaffnet?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Mein hypothetischer Vater fordert das Unglück geradezu heraus.«

Cicero nickte. »In der Tat. Die Straßen Roms sind wohl kaum der Ort, an dem ein anständiger Bürger mitten in der Nacht herumgeistern sollte, schon gar nicht ein alter Mann. Vor allem, wenn er nach Geld aussieht und keinen bewaffneten Wächter hat. Tollkühn, so was! Sein Leben in die eigenen Hände legen, Tag für Tag - so ein alter Narr. Früher oder später wird er ein böses

Ende finden, sollte man meinen. Doch er benimmt sich jahraus, jahrein so empörend fahrlässig, und nichts geschieht. Man beginnt zu glauben, ein unsichtbarer Geist oder Dämon schützt ihn, weil ihm nie etwas zustößt. Nicht ein einziges Mal wird er beraubt. Noch nicht einmal bedroht. Das Gefährlichste, was ihm begegnet, ist ein Bettler oder ein Betrunkener oder eine nachts durch die Straßen streifende Hure, und damit wird er mit einer Münze oder einem Wort zu seinen Sklaven fertig. Nein, die Zeit zeigt sich offenbar wenig kooperativ. Wenn man ihn sich selbst überläßt, könnte der alte Herr genausogut ewig leben. «

»Und wäre das so schlimm? Ich glaube, ich fange an, ihn zu mögen.«

Cicero zog eine Braue hoch. »Ganz im Gegenteil, du haßt ihn. Egal warum. Stell dir für den Augenblick nur vor, daß du ihn, aus welchem Grund auch immer, tot sehen willst. Unbedingt.«

»Die Zeit wäre noch immer die einfachste Lösung. Fünfundsechzig, hast du gesagt - wie steht es mit seiner Gesundheit?«

»Ausgezeichnet. Wahrscheinlich besser als deine. Und warum auch nicht? Alle sagen ständig, wie überarbeitet du bist, die Verwaltung der Güter, die Familie, du arbeitest dich in ein frühes Grab - während der alte Herr sich um rein gar nichts zu sorgen braucht. Er amüsiert sich nur noch. Am Morgen ruht er. Am Nachmittag plant er seine Abendunterhaltung. Und am Abend stopft er sich mit teurem Essen voll, trinkt bis zum Exzeß und zieht mit Männern, die gerade mal halb so alt sind wie er, durch die Tavernen. Am nächsten Morgen erholt er sich in den Bädern, und dann geht das Ganze von vorne los. Wie steht es um seine Gesundheit, willst du wissen? Ich habe dir ja erzählt, daß er Stammkunde im Bordell ist.«

»Essen und Wein haben schon manchen Mann umgebracht«, sagte ich. »Und wie man hört, sollen schon etliche Huren das Herz eines alten Mannes zum Stillstand gebracht haben.«

Cicero schüttelte den Kopf. »Das ist nicht gut genug, zu unzuverlässig. Du haßt ihn, verstehst du? Vielleicht hast du auch Angst vor ihm. Du erwartest ungeduldig seinen Tod.«

»Die Politik?« schlug ich vor.

Cicero blieb einen Moment stehen, lächelte und nahm dann seinen Gang wieder auf. »Ja, dieser Tage in Rom könnte die Politik einen Mann gewiß schneller und sicherer ins Grab bringen als das wilde Leben, die Umarmung einer Hure oder sogar ein mitternächtlicher Spaziergang durch die Subura.«

Er streckte voll rhetorischer Verzweiflung die weit gespreizten Hände von sich. »Leider ist der alte Herr eines jener bemerkenswerten Wesen, denen es gelungen ist, durchs Leben zu kommen, ohne je etwas mit der Politik zu tun gehabt zu haben.«

»Hier in Rom?« sagte ich. »Als Bürger und Großgrundbesitzer? Unmöglich.«

»Dann laß uns sagen, er ist einer dieser Karnickeltypen -freundlich, hohl und harmlos. Hat nie Aufmerksamkeit oder Anstoß erregt. Es lohnt sich nicht, ihn zur Strecke zu bringen, solange noch fettere Beute frei herumläuft. Obwohl er auf allen Seiten von Politik und Politikern umgeben ist, wie von einem Dickicht aus Nesseln, schafft er es trotzdem ohne Kratzer durch das Gestrüpp.«

»Es hört sich schlau an. Ich mag diesen alten Herrn mehr und mehr.«

Cicero runzelte die Stirn. »Schlauheit hat gar nichts damit zu tun. Der alte Mann verfolgt keine besondere Strategie, sondern er will nur so bequem wie möglich durchs Leben kommen. Er hat Glück gehabt, das ist alles. Nichts kommt an ihn ran. Die Italiker erheben sich gegen Rom? Er stammt aus Ameria, einem Dorf, das bis zum letzten Augenblick wartet, bevor es sich dem Aufstand anschließt, und dann die ersten Früchte der Versöhnung erntet; so hat er die Bürgerrechte erworben. Bürgerkrieg zwischen Marius und Sulla und dann zwischen Sulla und Cinna? Der alte Herr schwankt in seiner Loyalität -ein Realist und ein Opportunist wie die meisten Römer heutzutage - und kommt aus der Sache heraus wie die zarte Maid, die von Fels zu Fels hüpfend einen reißenden Strom überquert, ohne sich auch nur die Sandalen naß zu machen. Diejenigen, die gar keine Meinung haben, sind die einzigen Menschen, die sich heute noch in Sicherheit wiegen können. Ein Karnickel, wie gesagt. Wenn du darauf wartest, daß ihn die Politik in Gefahr bringt, wird er mindestens hundert.«

»So nichtssagend, wie du ihn beschreibst, kann er doch bestimmt nicht sein. Jeder geht heutzutage Risiken ein, indem er einfach lebt. Du sagst, er sei ein Großgrundbesitzer mit Interessen in Rom. Er muß der Klient einer einflußreichen Familie sein. Wer sind seine Patrone?«

Cicero lachte. »Selbst darin hat er sich die fadeste und sicherste Familie überhaupt als Verbündete gesucht - die Metelli. Sullas Schwäger - zumindest waren sie das, bis Sulla sich von seiner vierten Frau hat scheiden lassen. Und nicht bloß irgendwelche Metelli, sondern den ältesten, trägsten und unendlich anständigen Zweig dieser weitverzweigten Familie. Irgendwie hat er sich bei Caecilia Metella eingeschmeichelt. Hast du schon von ihr gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das wirst du noch«, sagte er geheimnisvoll. »Nein, nie und nimmer wird die Politik den alten Herrn für dich erledigen. Sulla kann das ganze Forum mit Köpfen auf Stöcken vollstellen, das Marsfeld kann vor lauter Blut überlaufen und sich in den Tiber ergießen - du wirst den alten Herrn noch immer nach Einbruch der Dunkelheit durch die übelsten Gegenden der Stadt schlendern sehen, vollgestopft von einem Abendessen bei Caecilia und ungeniert auf dem Weg ins Bordell.«

Cicero setzte sich abrupt hin. Die Maschine, so kam es mir vor, brauchte gelegentlich eine Pause, aber das angeknackste Instrument tönte weiter. »Wie du siehst, wird dir das Schicksal nicht zur Hand gehen, wenn es gilt, den verhaßten alten Mann loszuwerden. Außerdem gibt es möglicherweise einen dringenden Grund, ihn tot sehen zu wollen - nicht bloß Haß oder Groll, sondern eine unmittelbar bevorstehende Krise. Du mußt selbst handeln.«

»Du schlägst vor, ich soll meinen Vater ermorden?«

»Genau.«

»Unmöglich.«

»Aber du mußt.«

»Unrömisch!«

»Das Schicksal zwingt dich.«

»ln diesem Fall - Gift?«

Er zuckte die Schultern. »Möglich, wenn du normalen Umgang mit ihm pflegtest. Aber ihr habt kein gewöhnliches Vater-Sohn-Verhältnis, bei dem der eine im Haus des anderen verkehrt. Zwischen euch herrscht beträchtliche Bitterkeit. Stell dir vor, der alte Mann hat sein eigenes Stadthaus und schläft selten irgendwo anders. Du lebst auf dem alten Familienbesitz in Ameria, und bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen dich deine Geschäfte in die Stadt führen, schläfst du nie im Haus deines Vaters. Statt dessen wohnst du bei einem Freund oder sogar in einem Gasthaus - so tief geht der Streit zwischen euch. Also kommst du auch nicht leicht an das Abendessen des alten Herrn, bevor man es ihm serviert. Sollst du einen seiner Sklaven bestechen? Unwahrscheinlich und sehr unsicher - in einer zerstrittenen Familie schlagen sich die Sklaven immer auf eine Seite. Sie werden ihm gegenüber viel loyaler sein als dir. Gift ist eine unbrauchbare Lösung.«

Der gelbe Vorhang kräuselte sich. Eine warme Windbö huschte unter seinem Saum hindurch und erfüllte den Raum wie ein am Boden haftender Nebel. Ich spürte, wie er einem Strudel gleich um meine Füße wirbelte, schwer vom Duft des Jasmins. Der Vormittag war vorüber. Die heißeste Zeit des Tages brach an. Ich fühlte mich auf einmal schläfrig. Genau wie Tiro; ich sah, wie er ein Gähnen unterdrückte. Vielleicht langweilte ihn die Geschichte auch nur. Er hörte seinen Herrn wahrscheinlich nicht das erste Mal die Kette von Argumenten durchspielen, die Logik verfeinern und am ganz speziellen Glanz jedes Satzes feilen.

Ich räusperte mich. »Dann scheint es nur eine naheliegende Lösung zu geben, werter Cicero. Wenn der Vater ermordet werden muß - auf Anstiftung seines eigenen Sohnes, ein Verbrechen, das fast zu abscheulich ist, um darüber nachzudenken -, dann sollte es in dem Moment geschehen, in dem der alte Mann am leichtesten verwundbar ist. Eine mondlose Nacht, auf dem Heimweg von einem Empfang oder unterwegs zu einem Bordell. Um diese Tageszeit dürfte es kaum Zeugen geben, zumindest keine, die gern vor Gericht auftreten würden. Banden ziehen durch die Straßen. Ein solcher Tod würde keinen Verdacht erregen. Es wäre leicht, ihn einer zufällig vorbeikommenden, anonymen Bande von Schlägern in die Schuhe zu schieben.«

Cicero beugte sich in seinem Stuhl vor. Die Maschine kam wieder in Gang. »Du würdest das Verbrechen also nicht selbst, mit eigener Hand begehen?«

»Bestimmt nicht: Ich wäre nicht einmal in Rom. Ich würde mich etliche Meilen weiter nördlich in meinem Haus in Ameria aufhalten - und hätte wahrscheinlich Alpträume.«

»Du würdest also gedungene Mörder anheuern?«

»Natürlich.«

»Menschen, die du kennst und denen du vertraust?«

»Ist es wahrscheinlich, daß ich solche Leute kennen würde? Ein hart arbeitender Bauer aus Ameria?« Ich zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich würde ich mich auf irgendwelche Fremden verlassen. Ein Bandenführer, den ich in einer Taverne in der Subura getroffen habe. Ein namenloser Bekannter eines Bekannten eines fernen Freundes...«

»So macht man das also?« Cicero beugte sich noch weiter vor und schien ernsthaft neugierig. Er sprach jetzt nicht mehr mit dem hypothetischen Vatermörder, sondern mit Gordianus dem Sucher. »Man hat mir gesagt, daß du tatsächlich über die eine oder andere Einzelheit in dieser Branche Bescheid weißt. Man sagte: >Ja, wenn du Kontakt zu Menschen suchst, die nichts dagegen haben, sich die Hände blutig zu machen, ist Gordianus der zuständige Mann.<«

»Man? Wen meinst du, Cicero? Wer sagt, daß ich aus demselben Becher trinke wie Mörder?«

Er biß sich auf die Unterlippe, unsicher, wieviel er mir jetzt schon erzählen sollte. Ich beantwortete die Frage für ihn. »Ich glaube, du meinst Hortensius, stimmt’s? Da es doch auch Hortensius war, der mich dir empfohlen hat?«

Cicero warf einen scharfen Blick zu Tiro, der plötzlich wieder ziemlich hellwach zu sein schien.

»Nein, Herr. Ich habe ihm nichts erzählt. Er hat es geraten. « - Zum ersten Mal an diesem Tag klang Tiro für mich wie ein Sklave.

»Geraten? Was soll das heißen?«

»Erschlossen wäre wohl das passendere Wort. Tiro sagt die Wahrheit. Ich weiß sowieso, warum du mich gerufen hast, mehr oder weniger jedenfalls. Ein Mordfall, bei dem es um Vater und Sohn geht, die beide Sextus Roscius heißen.«

»Du hast geraten, daß das der Grund war, warum ich dich zu mir gebeten habe? Aber wie? Ich habe mich erst gestern entschlossen, Roscius als Mandanten anzunehmen.«

Ich seufzte. Der Vorhang seufzte. Die Hitze kroch an meinen Beinen hoch wie Wasser, das langsam in einem Brunnen aufsteigt.

»Vielleicht solltest du dir das später von Tiro erklären lassen. Ich glaube, es ist mir zu heiß, um es noch einmal Schritt für Schritt durchzugehen. Aber ich weiß, daß zunächst Hortensius den Fall übernommen hatte und daß du ihn jetzt hast. Ich vermute, das ganze Gerede über hypothetische Intrigen hat etwas mit dem tatsächlichen Mord zu tun?«

Cicero sah bedrückt aus. Ich glaube, er kam sich vor wie ein Idiot, nachdem er erfahren hatte, daß ich die tatsächlichen Umstände die ganze Zeit gekannt hatte. »Ja«, sagte er. »Es ist heiß. Tiro, bring uns ein paar Erfrischungen.

Etwas Wein mit kaltem Wasser. Vielleicht ein paar Früchte. Magst du getrocknete Äpfel, Gordianus?«

Tiro erhob sich von seinem Stuhl. »Ich werde Athalena Bescheid sagen.«

»Nein, Tiro. Hol es selbst. Und laß dir Zeit.« Dieser Befehl war demütigend, und das mit Absicht; das konnte ich an dem verletzten Blick in Tiros Augen erkennen, aber auch an Ciceros Miene, der Tiro unter schweren, nicht nur wegen der Hitze herabhängenden Lidern hervor fixierte. Tiro war es nicht gewohnt, mit solch niederen Aufgaben betraut zu werden. Und Cicero? Man sieht es häufig, daß ein Herr seine kleinen Enttäuschungen an den ihn umgebenden Sklaven ausläßt. Die Gewohnheit ist inzwischen so verbreitet, daß sie es tun, ohne nachzudenken; und auch die Sklaven haben gelernt, es ohne Verletztheit und Hader hinzunehmen, als ob es eine göttergesandte Unannehmlichkeit des Lebens sei, wie Regen an einem Markttag.

So weit fortgeschritten waren Cicero und Tiro noch längst nicht. Bevor sich Tiro schmollend verzog, lenkte Cicero so weit ein, wie es ihm ohne Gesichtsverlust möglich war. »Tiro!« rief er ihm nach. Er wartete, bis der Sklave sich umdrehte, und sah ihn direkt an. »Und bring dir selbst auch eine Portion mit.«

Ein grausamer Mann hätte den Satz mit einem Lächeln gesprochen. Ein geringerer hätte die Augen zu Boden geschlagen. Cicero tat weder das eine noch das andere, und in diesem Augenblick verspürte ich das erste Fünkchen Respekt für ihn.

Tiro verließ den Raum. Einen Moment lang spielte Cicero mit einem Ring an seinem Finger, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu.

»Du wolltest mir gerade erzählen, wie man einen Mord in den Straßen Roms arrangiert. Verzeih mir, wenn die Frage unverschämt klingt. Ich will natürlich keineswegs andeuten, daß du je selbst die Götter durch die Verwicklung in ein derartiges Verbrechen beleidigt hast. Aber man sagt -Hortensius sagt -, daß du dich in derlei Angelegenheiten ein wenig besser auskennst. Wer, wie und wieviel... «

Ich zuckte die Schultern. »Wenn einer einen anderen ermorden lassen will, ist daran nichts besonders Schwieriges. Wie gesagt, ein Wort zum richtigen Mann, ein Goldstück wechselt von Hand zu Hand, und die Sache ist erledigt.«

»Aber wo findet man den richtigen Mann?«

Ich hatte vergessen, wie jung und unerfahren er trotz seiner Bildung und seines Witzes noch war. »Es ist leichter, als du denkst. Seit Jahren kontrollieren die Banden nach Einbruch der Dunkelheit die Straßen, manchmal sogar bei Tageslicht.«

»Aber diese Banden kämpfen doch gegeneinander.«

»Die Banden kämpfen gegen jeden, der ihnen in die Quere kommt.«

»Ihre Verbrechen sind politischer Natur. Sie verbünden sich mit einer bestimmten Partei -«

»Sie haben keine politischen Anschauungen, es sei denn die desjenigen, der sie anheuert. Sie kennen auch keine Loyalität außer der, die man mit Geld kauft. Denk nach, Cicero. Wo kommen die Banden her? Einige sind direkt hier in Rom entstanden, wie Maden unter einem Stein - die Armen, die Kinder der Armen, ihre Enkel und Urenkel. Ganze Verbrecherdynastien, Generationen von Schurken, die reinrassig kriminelle Stammbäume hervorbringen. Sie verhandeln miteinander wie kleine Nationen und heiraten untereinander wie Adelsfamilien. Und sie verdingen sich wie Söldner für den Politiker oder General, der ihnen die größten Versprechungen macht.«

Cicero blickte zur Seite und durch die durchsichtigen Falten des gelben Vorhangs, als könne er dahinter den gesamten menschlichen Abschaum Roms ausmachen. »Wo kommen sie bloß alle her?« murmelte er.

»Sie sprießen aus dem Pflaster«, sagte ich. »Wie Unkraut. Oder es treibt sie vom Land in die Stadt, Flüchtlinge der endlosen Folge von Kriegen. Denk mal darüber nach: Sulla gewinnt seinen Krieg gegen die aufständischen italienischen Verbündeten und bezahlt seine Soldaten mit Land. Aber um dieses Land zu bekommen, müssen die besiegten Verbündeten erst vertrieben werden. Wo enden sie, wenn nicht als Bettler und Sklaven in Rom? Und wofür das Ganze? Das Land ist vom Krieg verwüstet. Die Soldaten haben keine Ahnung, wie man es bestellt; in ein oder zwei Jahren verkaufen sie ihren Gutsbesitz an den Meistbietenden und kehren in die Stadt zurück. Das Land fällt in die Hände von einigen wenigen Großgrundbesitzern; Kleinbauern, die sich gegen die Konkurrenz wehren, werden niedergerungen und enteignet - und auch sie finden den Weg nach Rom. Immer öfter habe ich das in meinem Leben mit angesehen, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Winzigkeit des einen, die Größe des anderen. Rom ist wie eine Frau von sagenumwobenem Reichtum und legendärer Schönheit, in Gold gewandet und mit Juwelen behängen, den Bauch dick mit einem Fötus namens Imperium - und von Kopf bis Fuß mit Millionen herumkrabbelnder Läuse verseucht.«

Cicero runzelte die Stirn. »Hortensius hatte mich gewarnt, daß du politische Reden schwingen würdest.«

»Das liegt nur daran, daß Politik die Luft ist, die wir atmen - ich atme, also was sollte sonst herauskommen? In anderen Städten ist es vielleicht anders, aber nicht in der Republik und nicht, so lange wir denken können. Nenn es Politik, nenn es Realität. Die Banden existieren nicht ohne Grund. Niemand kann sie vertreiben. Jeder fürchtet sie. Ein Mann, der zum Mord entschlossen ist, findet einen Weg, sie für seine Zwecke zu nutzen. Er müßte nur dem Vorbild erfolgreicher Politiker nacheifern.«

»Du meinst... «

»Ich meine keinen bestimmten Politiker. Alle benutzen die Banden oder versuchen es zumindest.«

»Aber du meinst Sulla.«

Cicero hatte den Namen als erster ausgesprochen. Ich war überrascht. Ich war beeindruckt. An irgendeinem Punkt war das Gespräch unserer Kontrolle entglitten und hatte rasant eine aufwieglerische Richtung genommen.

»Ja«, sagte ich. »Wenn du darauf bestehst: Sulla.« Ich wandte mich ab. Mein Blick fiel auf den gelben Vorhang. Ich ertappte mich dabei hindurchzustarren, als könnte ich dahinter Bilder eines alten Alptraums erkennen. »Warst du in Rom, als die Proskriptionen begannen?«

Cicero nickte.

»Ich auch. Dann weißt du ja, wie es war. Jeden Tag wurde eine neue Liste Geächteter auf dem Forum angeschlagen. Und wer stand immer ganz vorne, um die Namen zu lesen? Nein, niemand, der vielleicht aufgeführt gewesen sein könnte. Die hatten sich alle zu Hause verkrochen oder sich klugerweise auf dem Land verbarrikadiert. Die ersten in der Schlange waren immer die Banden und ihre Anführer - weil es Sulla egal war, wer seine Feinde oder vermeintlichen Feinde vernichtete, solange sie nur vernichtet wurden. Man mußte sich nur den Kopf eines Geächteten über die Schulter werfen und eine Quittung unterschreiben, um einen Sack Silber in Empfang zu nehmen. Es gab nichts, was man nicht tun durfte, um an diesen Kopf zu kommen. Die Haustür eines Bürgers aufbrechen, seine Kinder schlagen, seine Frau vergewaltigen - nur die Wertsachen mußten an Ort und Stelle verbleiben, denn wenn der Kopf erst vom Rumpf getrennt war, fiel der Besitz eines geächteten Römers an Sulla.«

»Nicht ganz...«

»Ich habe mich natürlich falsch ausgedrückt. Ich wollte sagen, wenn ein Feind des Staates enthauptet wird, wird sein Anwesen beschlagnahmt, und sein Besitz fällt dem Staat zu -was bedeutet, daß es zum frühestmöglichen Termin auf einer Auktion zu Schleuderpreisen an Sullas Freunde verkauft wird.«

Daraufhin erbleichte selbst Cicero. Er verbarg seine Erregung geschickt, aber ich beobachtete, wie seine Augen für den Bruchteil einer Sekunde unruhig hin und her schossen, als habe er Sorge, daß sich zwischen den Papyrusrollen Spione verbergen könnten. »Du bist ein Mann von radikalen Ansichten, Gordianus. Die Hitze löst deine Zunge. Aber was hat das mit dem erörterten Thema zu tun?«

Ich mußte lachen. »Und was ist das Thema? Ich glaube, ich hab es vergessen.«

»Wie man einen Mord arrangiert«, gab Cicero ungehalten zurück und klang ganz wie der Lehrer einer Rednerschule, der einen widerspenstigen Schüler zum vorgegebenen Thema zurücksteuern will. »Einen Mord aus rein persönlichen Motiven. «

»Nun gut. Ich versuche ja nur zu zeigen, wie leicht es heutzutage ist, einen Mörder zu finden. Und nicht nur in der Subura. Du kannst dich an jeder Straßenecke umsehen - ja, sogar an dieser. Ich würde jede Wette eingehen, daß ich nur dein Haus verlassen und genau einmal um den Block gehen müßte, um mit einem neuen Freund zurückzukehren, der mehr als bereit wäre, meinen vergnügungssüchtigen, mit Huren verkehrenden, hypothetischen Vater zu ermorden.«

»Du übertreibst, Gordianus. Wärst du in Rhetorik ausgebildet, würdest du die Grenzen einer Hyperbel kennen.«

»Ich übertreibe nicht. So dreist sind die Banden inzwischen tatsächlich. Das ist einzig und allein Sullas Schuld. Er hat sie zu seinen persönlichen Kopfgeldjägern gemacht. Er hat sie von der Leine gelassen, auf daß sie in Rom herumstreunen wie ein Rudel Wölfe. Bis zum Ende der Proskriptionen im letzten Jahr hatten die Banden praktisch unbegrenzte Macht zu jagen und zu töten. Gut, hin und wieder bringen sie den Kopf eines Mannes, der nicht auf der Liste steht - na und? So was kann Vorkommen. Setzt man seinen Namen eben auf die Liste. Der Tote wird posthum zum Feind des Staates erklärt. Keine große Sache, wenn deswegen seine Familie enterbt wird, seine

Kinder ruiniert und in die Armut getrieben werden, frisches Blut für die Banden. Irgendein Freund Sullas wird ein neues Stadthaus erwerben.«

Cicero sah aus, als habe er Zahnschmerzen. Er hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich hob die Hand, um seinen Protest abzuwehren.

»Ich komme erst zu dem, was ich eigentlich sagen will. Es sind nämlich nicht nur die Reichen und Mächtigen, die seit den Proskriptionen gelitten haben und noch immer leiden. Wenn die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet ist, kann niemand sie wieder schließen. Verbrechen wird zur Gewohnheit. Das Undenkbare wird gewöhnlich. Von hier, wo du lebst, siehst du es nicht. Die Straße ist zu eng und zu ruhig. Kein Unkraut sprießt zwischen den Pflastersteinen vor deiner Tür. Oh, in der schlimmsten Zeit sind ohne Zweifel ein paar Nachbarn mitten in der Nacht aus ihren Häusern gezerrt worden, vielleicht hat man vom Dach einen Blick über das Forum, und du hast an klaren Tagen die Köpfe gezählt, die man neu aufgespießt hatte.

Aber ich sehe tagtäglich ein anderes Rom, Cicero, das andere Rom, das Sulla der Nachwelt hinterlassen hat. Man sagt, er plane sich in Kürze zur Ruhe zu setzen und wolle uns eine neue Verfassung geben, die die oberen Schichten stärken und den Plebs auf seinen Platz verweisen soll. Und wo ist der, wenn nicht in dem von Verbrechen heimgesuchten Rom, das Sulla uns vermacht? Mein Rom, Cicero. Ein Rom, das im Schatten brütet, sich nachts bewegt und die Luft des Lasters atmet ohne die Masken der Politik oder des Wohlstands. Deswegen hast du mich doch schließlich kommen lassen, oder nicht? Um dich in diese Welt zu führen oder sie für dich zu betreten und zu beschaffen, was immer es ist, was du suchst. Das kann ich dir bieten, wenn du die Wahrheit suchst.«

In diesem Moment kam Tiro zurück mit einem silbernen Tablett mit drei Bechern, einem runden Laib Brot, getrockneten Äpfeln und weißem Käse. Seine Anwesenheit ernüchterte mich schlagartig. Wir waren auf einmal nicht mehr zwei Männer, die allein in einem Zimmer saßen und über Politik diskutierten, sondern zwei Bürger und ein Sklave, oder zwei Männer und ein Junge, wenn man Tiros Unschuld bedachte. Ich hätte mich nie zu solch gewagten Äußerungen hinreißen lassen, wenn er den Raum nicht verlassen hätte. Ich fürchtete, daß ich schon zuviel gesagt hatte.

Tiro stellte das Tablett auf dem niedrigen Tisch zwischen uns ab. Cicero musterte es gelangweilt. »So viel zu essen, Tiro?«

»Es ist fast Mittag, Herr. Gordianus wird hungrig sein.«

»Nun gut. Dann müssen wir ihm unsere Gastfreundschaft erweisen.« Er starrte auf das Tablett, schien es jedoch nicht wirklich wahrzunehmen. Er rieb sich sanft die Schläfen, als ob ich seinen Kopf mit zu vielen aufrührerischen Gedanken belastet hätte.

Der Fußweg hatte mich hungrig gemacht. Vom Sprechen war meine Zunge dick und trocken. Von der Hitze hatte ich großen Durst. Trotzdem wartete ich geduldig, bis Cicero das Mahl eröffnete - meine politischen Ansichten mögen radikal sein, doch meine Manieren sind noch nie in Zweifel gezogen worden -, als Tiro mich dadurch entsetzte, daß er sich freudig in seinem Stuhl vorbeugte, sich ein Stück Brot abbrach und nach seinem Becher griff.

In solchen Augenblicken erlebt man, wie tief die Wurzeln der Konvention reichen. Denn obwohl mich das Leben die Willkür des Schicksals und die Absurdität der Sklaverei gelehrt hatte, trotz all meiner Bemühungen, Tiro vom Moment unseres Kennenlernens an als gleichwertigen Menschen zu behandeln, hielt ich doch die Luft an, als ich sah, wie ein Sklave sich zuerst etwas zu essen vom Tisch nahm, während sein Herr noch nicht soweit war.

Sie bemerkten es beide. Tiro blickte erstaunt auf. Cicero lachte leise.

»Gordianus ist schockiert. Er ist nicht an unsere Umgangsformen gewöhnt, Tiro, oder an deine Manieren. Es ist in Ordnung, Gordianus. Tiro weiß, daß ich mittags nie esse. Er ist es gewohnt, ohne mich anzufangen. Bitte, bedien dich. Der Käse ist recht gut, direkt aus einer Molkerei in Arpinum und mit den besten Wünschen meiner Großmutter hierher gesandt.

Was mich angeht, werde ich nur einen Schluck Wein zu mir nehmen. Nur ein wenig: bei der Hitze schlägt er mir sonst garantiert auf den Magen. Bin ich der einzige, der an dieser speziellen Krankheit leidet? Ich kann den ganzen Hochsommer über nichts essen; manchmal faste ich tagelang. In der Zwischenzeit, während dein Mund mit Essen statt mit Hochverrat beschäftigt ist, habe ich vielleicht eine Chance, etwas näher zu erläutern, warum ich dich hergebeten habe.«

Cicero nahm einen Schluck und verzog leicht das Gesicht, als würde ihm schon in dem Moment übel, in dem der Wein seinen Gaumen berührte. »Wir sind schon vor einiger Zeit vom Thema abgekommen, oder nicht? Was wohl Didotus dazu sagen würde, Tiro? Wofür bezahle ich diesen alten Griechen seit Jahren, wenn ich es nicht einmal zu Hause schaffe, ein wohlgeordnetes Gespräch zu führen? Ungeordnete Rede ist nicht nur unschicklich, sie kann am falschen Ort und zur falschen Zeit sogar tödlich sein.«

»Ich war mir nie ganz im klaren darüber, was eigentlich das Thema unseres Geprächs war, werter Cicero. Ich meine, mich zu erinnern, daß wir die Ermordung des Vaters von irgend jemandem geplant haben. Meines Vaters oder Tiros? Nein, die sind ja beide schon tot. Vielleicht deines Vaters?«

Das fand Cicero nicht komisch. »Ich habe ein hypothetisches Modell in den Raum gestellt, Gordianus. Ich wollte nur deine Meinung bezüglich einiger Faktoren hören - methodisches Vorgehen, Praktikabilität, Plausibilität - im Zusammenhang mit einem sehr realen und tödlichen Verbrechen. Einem Verbrechen, das bereits begangen worden ist. Es ist leider eine tragische Tatsache, daß ein gewisser Bauer aus dem Dörfchen Ameria -«

»Der jenem hypothetischen Bauern, den du mir eben beschrieben hast, ähnelt?«

»Bis aufs Haar. Wie ich gerade sagen wollte, vor fast acht Monaten wurde in den Straßen Roms ein gewisser Bauer aus Ameria in einer Vollmondnacht an den Iden des September ermordet. Seinen Namen scheinst du bereits zu kennen: Sextus Roscius. In heute genau acht Tagen - an den Iden des Mai -wird der Prozeß gegen seinen Sohn eröffnet, der angeklagt ist, die Ermordung seines Vaters geplant zu haben. Ich habe seine Verteidigung übernommen.«

»Bei einer solchen Verteidigung ist der Ankläger überflüssig, sollte man meinen.«

»Was soll das heißen?«

»Nach allem, was du gesagt hast, scheint es offenkundig, daß du den Sohn für schuldig hältst.«

»Unsinn! War ich so überzeugend? Das sollte mich wohl freuen. Ich wollte dir nur eine Vorstellung von dem Bild geben, das seine Ankläger zeichnen könnten.«

»Willst du etwa sagen, du glaubst, dieser Sextus Roscius ist unschuldig?«

»Natürlich! Warum sollte ich ihn sonst gegen diese haarsträubenden Anschuldigungen verteidigen?«

»Cicero, ich kenne genug Advokaten und Redner, um zu wissen, daß sie nicht notwendigerweise an die Sache glauben müssen, die sie vertreten. Genausowenig wie sie einen Mann für unschuldig halten müssen, um seine Verteidigung zu übernehmen.«

Plötzlich starrte mich Tiro wütend quer über den Tisch an.

»Du hast kein Recht, so zu sprechen«, sagte er mit einem kleinen Kiekser in der Stimme. »Marcus Tullius Cicero ist ein Mann von allerhöchsten Prinzipien und unzweifelhafter Integrität, ein Mann, der sagt, was er denkt, und jedes Wort glaubt, das er sagt, was heutzutage in Rom vielleicht selten ist, aber trotzdem -«

»Das reicht!« Ciceros Stimme klang ungeheuer kräftig, aber nicht besonders zornig. Er hob die Hand in der typischen Rhetorengeste Haltet ein!, schien dabei jedoch ein Lächeln nicht unterdrücken zu können.

»Du mußt dem jungen Tiro verzeihen«, sagte er und beugte sich mit einem Anflug von Vertraulichkeit näher zu mir. »Er ist ein loyaler Diener, und dafür bin ich dankbar. Das ist heutzutage selten genug.« Er sah Tiro voller Zuneigung an, offen, ehrlich und ohne Scham. Tiro fand es auf einmal angemessen, woanders hinzusehen - auf den Tisch, das Tablett und zu dem sanft wogenden Vorhang.

»Aber vielleicht ist er manchmal auch ein wenig zu loyal. Was meinst du, Gordianus? Was denkst du, Tiro - vielleicht sollten wir dieses Thema Diodotus bei seinem nächsten Besuch vorschlagen und sehen, was der Meister der Redekunst daraus macht. Ein durchaus passendes Stück für eine gelehrte Debatte: Kann ein Sklave seinem Herrn gegenüber zu loyal sein? Will sagen, zu enthusiastisch in seiner Hingabe, zu bereitwillig in der Verteidigung seines Herrn?«

Ciceros Blick streifte das Tablett, und er nahm sich ein Stück getrockneten Apfel. Er hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger hoch und betrachtete es, als überlegte er, ob seine empfindliche Konstitution in der Mittagshitze einen so winzigen Happen vertragen konnte. Es entstand ein Schweigen, nur unterbrochen vom Gezwitscher eines Vogels draußen im Atrium. In der Stille schien der Raum um uns herum erneut zu atmen oder es zumindest zu versuchen, er rang vergeblich um einen Hauch frischer Luft; der Vorhang bauschte sich zögernd nach innen und wieder nach außen, nie weit genug, um wirklich ein Lüftchen in der einen oder anderen Richtung durchzulassen, als sei der Wind ein warmes und greifbares Wesen, das sich in dem bestickten Saum verheddert hatte. Cicero runzelte die Stirn und legte das Apfelstückchen wieder auf das Tablett zurück.

Plötzlich gab der Vorhang ein vernehmbares Schnalzen von sich. Ein Hauch warmer Luft strömte über die Fliesen und meine Füße. Der Raum hatte seinen zurückgehaltenen Seufzer endlich getan.

»Du fragst, ob ich Sextus Roscius des Mordes an seinem Vater für schuldig halte?« Cicero spreizte seine Finger und preßte die Spitzen gegeneinander. »Die Antwort lautet nein. Wenn du ihn kennenlernst, wirst du ebenfalls von seiner Unschuld überzeugt sein.«

Offenbar sollten wir jetzt endlich zur Sache kommen. Ich hatte auch langsam genug von den Spielchen in Ciceros Arbeitszimmer, genug von dem gelben Vorhang und der drückenden Hitze.

»Wie genau ist er ums Leben gekommen, der alte Herr? Knüppel, Messer, Steine? Wie viele Angreifer? Gab es Zeugen? Hat man die Täter identifiziert? Wo hielt sich der Sohn zum Zeitpunkt der Tat genau auf, und wie hat er davon erfahren? Wer hatte sonst noch Grund, den Alten umzubringen? Wer führt die Anklage gegen seinen Sohn und warum?« Ich machte eine kurze Pause, allerdings nur um einen Schluck Wein zu nehmen. »Und noch etwas -«

»Gordianus«, sagte Cicero lachend, »wenn ich all das wüßte, müßte ich deine Dienste wohl kaum in Anspruch nehmen, oder?«

»Aber ein bißchen mußt du doch wissen.«

»Mehr als ein bißchen, aber noch immer nicht genug. Nun gut, zumindest deine letzte Frage kann ich beantworten. Die Anklage ist eingebracht worden von einem Anwalt namens Gaius Erucius. Wie ich sehe, hast du schon von ihm gehört - oder ist dir der Wein im Mund zu Essig geworden?«

»Ich habe mehr als nur von ihm gehört«, sagte ich. »Hin und wieder habe ich sogar schon für ihn gearbeitet, aber nur, weil ich hungrig war. Erucius wurde als Sklave auf Sizilien geboren; jetzt ist er ein Freigelassener und der größte Winkeladvokat in ganz Rom. Es kommt ihm nur auf das Honorar an. Er würde einen Mann verteidigen, der seine Mutter vergewaltigt hat, wenn es um genug Gold ginge, und die alte Frau hinterher der Verleumdung anklagen, wenn er irgendeinen Profit darin sehen könnte. Hast du irgendeine Ahnung, wer ihn engagiert hat, den Fall zu übernehmen?«

»Nein, aber wenn du Sextus Roscius triffst -«

»Du redest dauernd davon, daß ich irgendwelche Leute treffen soll - zuerst Caecilia Metella, jetzt Sextus Roscius, werden sie bald zu uns stoßen?«

»Eigentlich wäre es das beste, wenn wir sie aufsuchen.«

»Was macht dich so sicher, daß ich mitkommen werde? Ich bin unter dem Eindruck hierhergekommen, du hättest Arbeit für mich, aber bis jetzt hast du mir noch nicht einmal erklärt, was du eigentlich willst. Von Bezahlung war bisher ebensowenig die Rede.«

»Ich kenne dein übliches Honorar, zumindest soweit Hortensius mich davon unterrichten konnte. Ich bin davon ausgegangen, daß er Bescheid weiß.«

Ich nickte.

»Was den Auftrag anbetrifft, geht es um folgendes: Ich möchte einen Beweis für Sextus Roscius’ Unschuld. Mehr noch, ich will wissen, wer die wahren Mörder sind. Mehr noch, ich will wissen, wer diese Mörder beauftragt hat und warum. Und all das binnen acht Tagen, vor den Iden.«

»Du tust so, als hätte ich den Auftrag schon angenommen. Vielleicht bin ich nicht interessiert, Cicero.«

Er schüttelte den Kopf und lächelte ein dünnlippiges Lächeln. »Du bist nicht der einzige, der Schlüsse über den Charakter eines anderen Menschen ziehen kann, bevor er ihn getroffen hat, Gordianus. Ich weiß das eine oder andere über dich. Genaugenommen drei Dinge. Jedes dieser drei würde dich veranlassen, den Fall anzunehmen. Erstens brauchst du Geld. Ein Mann mit deinen Mitteln, der in einem großen Haus auf dem Esquilin lebt - da kann es gar nicht genug Geld geben. Hab ich recht?«

Ich zuckte die Schultern.

»Zweitens hat Hortensius mir erzählt, daß du Geheimnisse liebst. Oder vielmehr Geheimnisse haßt. Du bist der Typ, der das Ungewisse nicht ertragen kann, der sich getrieben fühlt, die Wahrheit der Unwahrheit zu entreißen, im Chaos nach einer verborgenen Ordnung zu suchen. Wer hat den alten Roscius ermordet, Gordianus? Du hängst schon am Haken wie ein Fisch an der Angel. Gib’s zu.«

»Na ja... «

»Drittens bist du ein Mann, der die Gerechtigkeit liebt.«

»Hat dir das auch Hortensius gesagt? Hortensius könnte einen Gerechten nicht von -«

»Das hat mir keiner gesagt. Das habe ich in der letzten halben Stunde selbst herausbekommen. Kein Mensch, der die Gerechtigkeit nicht liebt, würde so offen seine Meinung sagen wie du. Ich biete dir eine Gelegenheit, etwas dafür zu tun.« Er beugte sich in seinem Stuhl vor. »Könntest du mit ansehen, wie ein Unschuldiger hingerichtet wird? Wirst du den Fall also übernehmen oder nicht?«

»Das werde ich.«

Cicero klatschte in die Hände und sprang auf. »Gut. Sehr gut! Wir machen uns sofort auf den Weg zu Caecilias Haus.«

»Jetzt sofort? In der Hitze? Es ist gerade Mittag vorbei.«

»Wir dürfen keine Zeit vergeuden. Wenn dir die Hitze zu viel ist, könnte ich eine Sänfte für dich kommen lassen - aber nein, das würde zu lange dauern. Es ist nicht weit, Tiro, hol uns zwei breitkrempige Hüte.«

Tiro warf seinem Herrn einen kläglichen Blick zu.

»Na gut, dann hol drei.«

6

»Was läßt dich annehmen, daß sie zu dieser Stunde überhaupt wach ist?«

Das Forum lag völlig verlassen da. Die Pflastersteine schimmerten in der Hitze. Keine Menschenseele war unterwegs mit Ausnahme von uns dreien, die wir wie Diebe über die Steinplatten schlichen. Ich ging schneller. Die Hitze brannte durch die dünnen Sohlen meiner Schuhe. Meine beiden Begleiter trugen teures Schuhwerk, wie ich bemerkte, mit dickeren Sohlen zum Schutz ihrer Füße.

»Caecilia wird bestimmt wach sein«, versicherte mir Cicero. »Sie leidet unter hoffnungsloser Schlaflosigkeit - soweit ich das beurteilen kann, schläft sie nie.«

Wir erreichten den Fuß der Via Sacra. Mein Mut sank, als ich die steile, schmale Straße hinaufblickte, die zu den imposanten Villen auf dem Palatin führte. Die Straße bestand nur aus Steinen und Sonne und war völlig ohne jeden Schatten. Die Schichten flirrender Hitze ließen den Gipfel des Palatin im Dunst verschwimmen, sehr hoch und sehr weit weg.

Wir begannen den Aufstieg. Tiro ging voran und schien die Anstrengung nicht zu bemerken. Der Eifer, mit dem er sich als Begleiter angeboten hatte, kam mir merkwürdig vor. Es war mehr als bloße Neugierde und der Wunsch, seinem Herrn zu folgen. Aber es war zu heiß, um weiter darüber zu grübeln.

»Um eines muß ich dich bitten, Gordianus.« Cicero zeigte erste Anzeichen von Ermattung, aber er redete darüber hinweg wie ein wahrer Stoiker. »Mir hat die Offenheit gefallen, mit der du eben in meinem Arbeitszimmer gesprochen hast. Niemand könnte behaupten, daß du kein ehrlicher Mann bist. Aber hüte deine Zunge in Caecilias Haus. Ihre Familie ist seit langem mit Sulla verbunden - seine verstorbene vierte Frau war eine Metella.«

»Du meinst die Tochter von Delmaticus? Von der er sich hat scheiden lassen, als sie auf dem Sterbebett lag?«

»Genau. Die Metelli waren über die Scheidung nicht eben glücklich, trotz Sullas Ausflüchten.«

»Die Auguren haben in eine Schale mit Schafeingeweiden geblickt und ihm gesagt, die Krankheit seiner Frau würde das ganze Haus verpesten.«

»Das hat Sulla jedenfalls behauptet. Caecilia selbst würde wahrscheinlich an nichts, was du sagen könntest, Anstoß nehmen, aber man kann nie wissen. Sie ist eine alte Frau, unverheiratet und kinderlos. Sie hat bisweilen merkwürdige Anwandlungen - wie alle Frauen, die zu lange sich selbst überlassen bleiben, ohne Ehemann und Familie, die sie mit vernünftigen Aufgaben beschäftigt halten könnten. Momentan gehört ihre Leidenschaft jedem orientalischen Kult, der gerade neu und schick in Rom ist, je entlegener und bizarrer, desto besser. Rein irdische Angelegenheiten berühren sie nicht so besonders.

Aber es ist durchaus wahrscheinlich, daß noch jemand mit besseren Ohren und schärferen Augen im Haus ist, ich denke an meinen guten jungen Freund Marcus Messalla - wir nennen ihn wegen seines roten Haares Rufus. Er ist kein Fremder in Caecilia Metellas Haus; er kennt sie seit seiner Kindheit, und sie ist beinahe so etwas wie eine Tante für ihn. Ein prächtiger junger Mann -oder mit seinen sechzehn Jahren noch nicht ganz ein junger Mann. Rufus kommt recht häufig zu Zusammenkünften, Vorträgen und dergleichen in mein Haus, und er kennt sich bei Gericht schon ziemlich gut aus. Er möchte unbedingt bei der Verteidigung von Sextus Roscius helfen.«

»Aber?«

»Aber seine familiären Verbindungen machen ihn gefährlich. Hortensius ist sein Halbbruder - als er den Fall abgab, schickte er den jungen Rufus zu mir, um mir die Sache anzudienen. Noch entscheidender jedoch ist, daß die ältere Schwester des Jungen eben jene Valeria ist, die Sulla vor kurzem zur fünften Frau genommen hat. Der arme Rufus empfindet wenig Zuneigung für seinen neuen Schwager, aber die Heirat hat ihn in eine prekäre Lage gebracht. Ich möchte dich bitten, dich in seiner Gegenwart mit Beleidigungen unseres geschätzten Diktators zurückzuhalten.«

»Natürlich, Cicero.« Als ich das Haus am Morgen verlassen hatte, hätte ich im Leben nicht angenommen, in Kürze mit solch hochadeligen Zeitgenossen wie den Metelli und den Messalli zu verkehren. Ich betrachtete meine Kleidung, eine gewöhnliche Bürgertoga über einer schlichten Tunika. Der einzige Tupfer Purpur war ein Rotweinflecken knapp über dem Saum. Bethesda behauptete, Stunden mit dem vergeblichen Versuch zugebracht zu haben, ihn zu entfernen.

Als wir den Gipfel erklommen hatten, zeigte selbst Tiro Zeichen von Erschöpfung. Schweiß klebte seine dunklen Locken auf seine Stirn. Sein Gesicht war vor Anstrengung gerötet - oder vielleicht auch vor so etwas wie erregter Erwartung. Erneut fragte ich mich, warum es ihn so zu Caecilia Metellas Haus drängte.

»Hier ist es«, keuchte Cicero und blieb stehen, um zu Atem zu kommen. Das Haus vor uns war ein riesiger, langgezogener Bau, rosafarben verputzt und umgeben von uralten Eichen. Die Tür war unter einem Portico in die Mauer eingelassen und wurde von zwei behelmten Soldaten in voller Kampfausrüstung mit Schwertern in den Gürteln und Speeren in den Fäusten flankiert. Ergraute Veteranen von Sullas Armee, wie ich erschrocken bemerkte.

»Die Wachen«, sagte Cicero und machte eine vage Handbewegung, während er die Stufen hinaufstieg. »Ignoriere sie einfach. Unter dem ganzen Leder müssen sie ja vor Hitze vergehen. Tiro?«

Tiro, der fasziniert die Ausrüstung der Soldaten angestarrt hatte, sprang vor seinem Herrn die Stufen hoch, um an die schwere Eichentür zu klopfen. Geraume Zeit verstrich, in der wir alle drei zu Atem zu kommen suchten und im Schatten des Porticos unsere Hüte abnahmen. Lautlos öffnete sich nach einer Weile die Tür. Von drinnen wehte uns kühle Luft und der Duft von Weihrauch zur Begrüßung entgegen.

Tiro und der Sklave an der Tür tauschten die üblichen Förmlichkeiten aus -»mein Herr ist gekommen, deine Herrin zu besuchen« -, dann warteten wir einen weiteren Moment, bevor der Sklave in der Halle uns hereinbat. Er nahm uns unsere Hüte ab und verschwand, um einen weiteren Sklaven zu holen, der uns anmelden würde. Über die Schulter warf ich einen Blick auf den Türsteher, der auf einem Hocker neben dem Portal saß und mit irgendeiner Bastelarbeit beschäftigt war. Sein Fuß war an die Wand gekettet, und die Kette war eben lang genug, daß er die Tür erreichen konnte.

Der Empfangssklave erschien, offensichtlich enttäuscht, daß es Cicero war und nicht irgendein unterwürfiger Klient, dem man ein paar Denar abpressen konnte, bevor man ihm den weiteren Zutritt ins Haus genehmigte. An Kleinigkeiten -seiner hohen Stimme, den sichtbar vergrößerten Brüsten -erkannte ich, daß er ein Eunuch war. Während sie im Orient ein uralter und unverzichtbarer Bestandteil der Sozialstruktur waren, blieben die Geschlechtslosen in Rom eine Seltenheit und wurden mit großem Abscheu betrachtet. Cicero hatte zwar gesagt, daß Caecilia eine Anhängerin orientalischer Kulte war, aber sich einen Eunuchen im Haus zu halten, kam mir trotzdem reichlich bizarr und affektiert vor.

Wir folgten ihm um das zentrale Atrium herum und eine Marmortreppe hinauf. Der Sklave zog einen Vorhang zurück, und ich trat hinter Cicero in eine Kammer, die in einem alexandrinischen Luxusbordell keineswegs fehl am Platze gewirkt hätte.

Wir schienen in ein großes und überdekoriertes Zelt geraten zu sein, überall Plüsch und Kissen und Teppiche und Vorhänge. In den Ecken standen Roste, an denen Duftlampen aus Messing hingen, die dünne Rauchfäden ausatmeten.

Aus diesem Zimmer drang der Duft von Weihrauch durch das ganze Haus. Die verschiedenen Gewürze wurden ohne jedes Gefühl für Dosierung oder Geruchseigenschaften verbrannt. Die derbe Konzentration von Sandelholz und Myrrhe war ekelerregend. Jede ägyptische Hausfrau hätte das besser hingekriegt.

»Herrin«, flüsterte der Eunuch. »Der geschätzte Anwalt Marcus Tullius Cicero.« Er zog sich rasch zurück.

Am anderen Ende des Raums lag unsere Gastgeberin bäuchlings zwischen den Kissen auf dem Boden. Links und rechts neben ihr knieten zwei Sklavinnen. Sie waren dunkelhäutig und nach ägyptischer Mode gekleidet, mit durchsichtigen Gewändern und heftig geschminkt. Über ihnen thronte, den gesamten Raum dominierend, das Objekt, vor dem Caecilia hingestreckt lag.

Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie gesehen. Es war ganz offensichtlich die Verkörperung einer der orientalischen Erdgöttinnen, Cybele oder Astarte oder Isis, obwohl ich diese spezielle Mutation noch nie gesehen hatte. Die Statue war knapp drei Meter hoch, und ihre Spitze berührte fast die Decke. Sie hatte ein strenges, fast männliches Gesicht und trug eine Krone aus Schlangen. Auf den ersten Blick hielt ich die hängenden Objekte, die ihren Leib verzierten, für zahllose Brüste. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich jedoch an ihrer seltsamen Anordnung, daß es sich um Hoden handeln mußte. In einer Hand hielt die Göttin eine Sense, deren Klinge knallrot angemalt war.

»Was?« erhob sich eine gedämpfte Stimme aus den Kissen. Caecilia zappelte einen Moment unbeholfen, bis die Sklavinnen sie bei den Armen nahmen und ihr aufhalfen. Sie fuhr herum und sah uns entsetzt an.

»Nein, nein!« kreischte sie. »Dieser dumme Eunuch! Aus dem Zimmer, Cicero! Du durftest nicht reinkommen, du solltest vor dem Vorhang warten. Wie hat er nur einen so törichten Fehler begehen können? Männer sind im Heiligtum der Göttin nicht erlaubt. Oje, jetzt ist es wieder passiert. Nun, gerechterweise solltet ihr zur Bestrafung alle drei geopfert oder doch zumindest ausgepeitscht werden, aber ich nehme an, das kommt nicht in Frage. Natürlich könnte einer von euch, stellvertretend für die anderen, bestraft werden -aber nein, ich werde dich nicht einmal darum bitten. Ich weiß doch, wie sehr du an dem jungen Tiro hängst. Vielleicht der andere Sklave -« Ihr Blick streifte meinen eisernen Ring, das Zeichen eines gemeinen Bürgers, sie erkannte, daß ich niemandes Sklave war und warf enttäuscht die Hände in die Luft. Ihre Nägel waren ungewöhnlich lang und in ägyptischer Manier mit Henna rot gefärbt.

»Oje, das heißt, ich werde wohl statt eurer eines der armen Sklavenmädchen auspeitschen lassen müssen, genau wie letzte Woche, als dieser dämliche Eunuch den gleichen dummen Fehler mit Rufus gemacht hat. Oje, und sie sind so zartfühlend. Die Göttin wird sehr zornig sein...«

*

»Ich kann einfach nicht verstehen, wie er denselben Fehler zweimal machen konnte. Glaubst du, er macht das absichtlich?« Wir saßen in Caecilias Empfangsraum, einem hohen, langen, mit Oberlichtern versehenen Saal, an dessen gegenüberliegenden Enden die Türen offenstanden, um Luft hereinzulassen. Die Wände waren mit der realistischen Darstellung eines Gartens bemalt - grünem Gras, Bäumen, Pfauen, Blumen und einem blauen Himmel darüber. Der Boden war grün gefliest, die Decke mit blauem Tuch verhangen.

»Nein, sag lieber nichts, Cicero. Ich weiß sowieso, was du antworten würdest. Aber Ahausarus ist viel zu wertvoll für mich, als daß ich ihn aufgeben könnte, und zu empfindlich, um bestraft zu werden. Wenn er nur nicht so schusselig wäre.«

Wir saßen zu viert um ein kleines, silbernes Tischchen, auf dem Wasser und Granatäpfel aufgedeckt worden waren - Cicero, meine Wenigkeit, Caecilia und der junge Rufus, der Metellas Heiligtum wohlweislich gemieden und statt dessen im Garten gewartet hatte. Tiro stand ein kleines Stück hinter dem Stuhl seines Herrn.

Metella war eine große, kräftige Frau. Trotz ihres Alters wirkte sie recht robust. Welche Farbe ihr Haar ursprünglich auch immer gehabt haben mochte, jetzt leuchtete es in flammendem Rot und war unter dem Henna wahrscheinlich weiß. Sie trug es mit einer langen silbernen Nadel spiralförmig hochgesteckt. Die Spitze der Nadel ragte auf einer Seite hervor, das andere Ende war mit einem Karneol verziert. Metella trug eine teuer aussehende Stola und jede Menge Schmuck. Ihr Gesicht war mit Puder und Rouge bedeckt. In einer Hand hielt sie einen Fächer, mit dem sie in der Luft herumwedelte, als wolle sie ihren Duft um den ganzen Tisch verteilen.

Rufus war ebenfalls ein Rotschopf, mit braunen Augen, geröteten Wangen und einer von Sommersprossen bedeckten Nase. Er war so jung, wie Cicero es angedeutet hatte. Tatsächlich konnte er nicht älter als sechzehn sein, denn er trug noch immer das Einheitsgewand der minderjährigen Jungen und Mädchen - weiße Wolle und lange Ärmel, um die Blicke der Lüstlinge abzuwehren. In ein paar Monaten würde er die Toga der Männer anlegen, aber im Augenblick war er vor dem Gesetz noch ein Kind. Es war nicht zu übersehen, daß er Cicero bewunderte, was Cicero ebenso offensichtlich gefiel.

Keinem der beiden Adeligen schien es unangenehm, mit mir an einem Tisch zu sitzen. Natürlich brauchten sie meine Hilfe bei einem Problem, bei dem keiner von ihnen irgendwelche Erfahrung hatte. Sie behandelten mich mit demselben Respekt, mit dem ein Senator, dem zu Hause ein Torbogen in seinem Schlafzimmer einzustürzen drohte, einen Maurer behandelt hätte. Tiro ignorierten sie.

Cicero räusperte sich. »Caecilia, heute ist ein wirklich heißer Tag. Wenn wir uns jetzt lange genug mit der bedauernswerten Verletzung deines Heiligtums beschäftigt haben, könnten wir vielleicht zu irdischeren Angelegenheiten kommen.«

»Aber natürlich, Cicero. Du bist wegen des armen Sextus hier.«

»Ja. Gordianus kann uns vielleicht bei der Klärung der Tatumstände behilflich sein, während ich die Verteidigung vorbereite.«

»Die Verteidigung. O ja. Oje. Vermutlich stehen sie immer noch draußen, oder nicht, diese schrecklichen Wachen. Ihr müßt sie doch bemerkt haben.«

»Ich fürchte, ja.«

»Es ist mir ja so peinlich. Am Tag ihrer Ankunft habe ich ihnen geradeheraus erklärt, daß ich das nicht hinnehmen würde. Aber das hat natürlich nichts genützt. Anordnung des Gerichts, so sagen sie. Wenn Sextus Roscius sich hier aufhalten würde, müsse er unter Hausarrest gestellt werden, mit Soldaten vor jeder Tür, Tag und Nacht. >Arrest?< sagte ich. >Wie im Gefängnis, wie ein gefangener Soldat oder ein entflohener Sklave? Ich kenne das römische Recht ziemlich gut, und es gibt kein Gesetz, das es erlauben würde, einen römischen Bürger in seinem eigenen Haus oder in dem seiner Patronin festzuhalten.< So ist es schon immer gewesen: Ein Bürger, der eines Verbrechens angeklagt ist, hat stets die Möglichkeit zur Flucht gehabt, wenn er sich dem Prozeß nicht stellen wollte und bereit war, seinen Besitz zurückzulassen.

Also haben sie einen Delegierten des Gerichts zu mir geschickt, der mir alles ganz elegant erklären konnte - aus deinem Mund hätte es nicht geschliffener klingen können, Cicero. >Sie haben völlig recht< sagt er, >außer in bestimmten Fällen. Bei Kapitalverbrechens Und was sollte das heißen, wollte ich wissen. >Kapital<, sagte er, >wie in capito, das Haupt - also sämtliche Verbrechen, auf die Enthauptung oder die Entfernung anderer lebenswichtiger Organe mit Todesfolge als Höchststrafe steht. <«

Caecilia Metella lehnte sich zurück und fächerte sich Luft zu. Rufus beugte sich vor und legte seine Hand sanft auf ihren Arm.

»Da ist mir erst klar geworden, wie schrecklich das Ganze ist. Der arme junge Sextus, der einzig überlebende Sohn meines lieben Freundes, der nach dem Verlust seines Vaters jetzt auch noch Gefahr läuft, seinen Kopf zu verlieren. Und schlimmer noch! Dieser kleine Beamte, diese Person, dieser Delegierte erklärt mir in allen Einzelheiten, was das Wort kapital bedeutet, wenn man des Vatermordes für schuldig befunden wird. Oh! Ich hätte es nie geglaubt, wenn du mir es nicht persönlich bestätigt hättest, Cicero, Wort für Wort. Einfach zu schrecklich, zu schrecklich, um es auszusprechen!«

Caecilia wedelte sich wie wild Luft zu. Ihre Augenlider, schwer von ägyptischem Antimon, flatterten wie Mottenflügel. Sie schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen.

Rufus griff nach einem Becher Wasser. Sie winkte ab. »Ich gebe nicht vor, diesen jungen Mann zu kennen; es war sein Vater, den ich als sehr, sehr guten Freund liebte und verehrte. Aber er ist der Sohn von Sextus Roscius, und ich habe ihm in meinem Haus Zuflucht gewährt. Und die Prozedur, die dieser Mann, dieser Delegierte, diese abscheuliche Person mir beschrieben hat, sollte nur den erbärmlichsten, übelsten und niedrigsten Mördern widerfahren.«

Sie klimperte mit den Wimpern und streckte dann aufs Geratewohl den Arm aus. Rufus tastete einen Moment hektisch umher, bis er einen Becher fand und in ihre Hand drückte. Sie nahm einen Schluck und gab ihm den Becher zurück.

»Also habe ich diese Kreatur, diesen Delegierten meines Erachtens höflich gefragt, ob es zuviel Mühe bereiten würde, diese Soldaten zumindest in einem gewissen Abstand von meinem Haus zu postieren, anstatt sie direkt neben der Tür herumlungern zu lassen. Es ist demütigend! Ich weiß doch, wie gern meine Nachbarn klatschen. Jeden Morgen kommen Klienten und andere Schützlinge an meine Pforte, um kleine Gefälligkeiten zu erbitten - und die Soldaten schrecken sie ab. Meine Nichten und Neffen haben schon Angst herzukommen. Oh, diese Soldaten haben gelernt, ihren Mund zu halten, aber ihr solltet sehen, wie sie die jungen Mädchen anstieren! Kannst du nicht etwas dagegen unternehmen, Rufus?«

»Ich?«

»Natürlich du. Du mußt doch einen gewissen Einfluß haben... bei Sulla. Sulla hat die Gerichtshöfe eingerichtet. Und er ist mit deiner Schwester Valeria verheiratet.«

»Ja, aber das heißt nicht...« Rufus lief tiefrot an.

»Na, komm schon.« Caecilias Stimme nahm einen verschwörerischen Klang an. »Du bist doch ein recht gutaussehender Junge, allemal so schön wie Valeria. Und wir wissen doch, daß Sulla auf beiden Ufern des Flusses grast.«

»Caecilia!« Ciceros Augen flammten wütend auf, aber seine Stimme blieb fest.

»Ich will ja gar nichts Unschickliches vorschlagen. Nur ein bißchen Charme, Cicero. Eine Geste, ein Blick. Natürlich soll Rufus nicht wirklich etwas machen. Ich meine, Sulla ist alt genug, um sein Großvater zu sein. Noch ein Grund mehr, warum er sich zu einer kleinen Gefälligkeit für einen so bezaubernden Jungen herablassen könnte.«

»Sulla findet mich nicht bezaubernd«, sagte Rufus.

»Und warum nicht? Er hat doch Valeria wegen ihres Aussehens geheiratet, oder nicht? Und du siehst ihr so ähnlich, daß du ihr Bruder sein könntest.«

Man hörte ein seltsam prustendes Geräusch. Es war der hinter dem Stuhl seines Herrn stehende Tiro, der die Lippen aufeinanderpreßte, um ein Lachen zu unterdrücken. Cicero überdeckte es mit einem lauten Räuspern.

»Wenn wir vielleicht auf einen Punkt zurückkommen könnten, der vor einer Weile erwähnt wurde«, sagte ich. Drei Augenpaare wanderten zu mir. Cicero sah erleichtert aus, Tiro aufmerksam und Caecilia verwirrt. Rufus starrte auf den Boden und war noch immer knallrot.

»Du sprachst von der Strafe, die auf das Verbrechen des Vatermordes steht. Damit kenne ich mich nicht aus. Vielleicht könntest du mir das noch einmal erläutern, Cicero.«

Die Stimmung wurde plötzlich düster, als ob eine Wolke die Sonne verdunkelt hätte. Caecilia wandte sich ab und versteckte sich hinter ihrem Fächer. Rufus wechselte unbehagliche Blicke mit Tiro.

Cicero füllte seinen Becher und trank einen großen Schluck Wasser. »Kein Wunder, daß dir das Thema unvertraut ist, Gordianus. Vatermord ist unter Römern ein sehr seltenes Verbrechen. Die letzte Verurteilung datiert aus der Zeit, als mein Großvater noch ein junger Mann war.

Traditionell wird die Todesstrafe durch Enthauptung exekutiert, für einen Sklaven durch Kreuzigung. Im Fall eines Vatermords jedoch kennt das Gesetz eine uralte und sehr strenge Strafe, die vor Jahrhunderten nicht von Juristen, sondern von Priestern festgeschrieben worden ist, um den Zorn des Vaters Jupiter gegen jeden Sohn auszudrücken, der es wagen sollte, den Träger des nämlichen Samens niederzustrecken, der ihn erschaffen hat.«

»Bitte, Cicero.« Caecilia linste über ihren Fächer und ließ ihre bemalten Lider klimpern. »Es einmal zu hören reicht völlig. Es verursacht mir Alpträume.«

»Aber Gordianus sollte es erfahren. Zu wissen, daß es um das Leben eines Menschen geht, ist eine Sache; aber zu wissen, wie er sterben wird, wieder eine ganz andere. Das Gesetz schreibt folgendes vor: Der verurteilte Vatermörder ist direkt im Anschluß an seine Verurteilung auf das Marsfeld außerhalb der Stadtmauern unweit des Tibers zu führen. Die Bevölkerung soll mit Fanfaren und Zimbelklängen aufgefordert werden, Zeuge der Hinrichtung zu sein.

Wenn das Volk versammelt ist, soll der Vatermörder nackt ausgezogen werden wie am Tag seiner Geburt. Zwei kniehohe Podeste sollen in einigem Abstand voneinander aufgestellt werden. Der Vatermörder soll jedes mit einem Fuß betreten und sich, die Flände hinter dem Rücken mit Ketten gefesselt, hinhocken. Auf diese Weise ist jede Stelle seines Körpers den Henkersknechten zugänglich, die, so schreibt es das Gesetz vor, den Täter mit geknoteten Peitschen zu schlagen haben, bis das Blut wie Wasser aus seinem Körper rinnt. Wenn der Delinquent von seinem Sitz fällt, muß er ihn wieder besteigen. Die Peitschen sollen ihn an jeder Stelle seines Körpers treffen, selbst unter seinen Füßen und am Unterleib zwischen den Beinen. Das Blut, das von seinem Körper tropft, ist dasselbe Blut, das in den Adern seines Vaters rann und ihm sein Leben geschenkt hat. Während er es aus seinen eigenen Wunden quellen sieht, kann er über die Verschwendung nachdenken.«

Cicero blickte unbestimmt in die Ferne, während er sprach. Caecilia starrte ihn an, die Augen hinter ihrem Fächer konzentriert zusammengekniffen.

»Ein Sack ist vorzubereiten, groß genug, einen Menschen aufzunehmen, aus Fellen und so dicht genäht, daß er wasser-und luftdicht ist. Wenn die Auspeitscher ihr Werk vollendet haben - das heißt, wenn der Vatermörder von oben bis unten mit Blut bedeckt ist, daß man nicht mehr sagen kann, wo das Blut endet und das rohe Fleisch beginnt -, muß der Verurteilte dazu gebracht werden, in diesen Sack zu kriechen. Der Sack soll in einiger Entfernung von den Podesten bereitgehalten werden, damit das versammelte Volk ihn kriechen sehen, mit Kot und Abfall bewerfen und verfluchen kann.

Wenn er den Sack erreicht hat, soll er gezwungen werden, hineinzukriechen. Wenn er Widerstand leistet, wird er zurück zu den Podesten geschleift, und die Bestrafung beginnt von vorne.

Innerhalb des Sacks ist der Vatermörder gleichsam in den Mutterleib zurückgekehrt, ungeboren gemacht. Die Geburt, so sagen uns die Philosophen, ist eine Qual. Ungeboren gemacht zu werden ist eine noch größere Qual. In den Sack, der an dem zerfetzten, blutenden Fleisch des Vatermörders scheuert, werden jetzt vier lebendige Tiere getrieben. Zunächst ein Hund, das sklavischste und verachtenswerteste aller Tiere, und ein Hahn mit besonders geschärftem Schnabel und Krallen. Diese Symbole sind uralt: Hund und Hahn, Wächter und Wecker, Beschützer von Heim und Herd; weil sie beim Schutz des Vaters vor dem Sohn versagt haben, müssen sie ihren Platz zusammen mit dem Mörder einnehmen. Hinzu kommt noch eine Schlange, das männliche Prinzip, das, selbst wenn es Leben gibt, noch töten kann, und ein Affe, die grausamste Parodie der Götter auf die Menschheit.«

»Stell dir das vor!« seufzte Caecilia hinter ihrem Fächer. »Stell dir diesen Lärm vor!«

»Alle fünf sollen gemeinsam in den Sack eingenäht und zum Ufer des Flusses getragen werden. Der Sack darf nicht gerollt oder mit Stöcken geschlagen werden - die Tiere darin müssen lebendig bleiben, damit sie den Vatermörder so lange wie möglich quälen können. Während die Priester die letzten Flüche aussprechen, wird der Sack in den Tiber geworfen. Am ganzen Flußlauf bis Ostia sollen Beobachtungsposten eingerichtet werden; wenn der Sack auf Grund läuft, muß er sofort wieder in die Strömung zurückgestoßen werden, bis er das offene Meer erreicht hat und aus dem Blickfeld verschwunden ist.

Der Vatermörder zerstört den Quell seines eigenen Lebens. So sollen ihm, wenn er sein Leben aushaucht, eben jene Elemente vorenthalten werden, die der Welt Leben schenken -ohne Erde, Luft und Wasser, ja sogar ohne Sonnenlicht soll er seine letzten qualvollen Stunden oder Tage zubringen, bis der Sack schließlich an den Nähten platzt, sein Inhalt vom Meer verschlungen wird und seine Überreste von Jupiter zu Neptun und weiter an Pluto gereicht werden, jenseits der Zuwendung, Erinnerung und selbst des Ekels der Menschheit.«

Der Raum war in Schweigen verfallen. Schließlich atmete Cicero lange und tief ein. Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen, und ich fand, daß er selbstzufrieden aussah, wie ein Schauspieler oder Redner nach einer erfolgreichen Rezitation.

Caecilia senkte ihren Fächer. Unter ihrer Schminke war sie aschfahl. »Wenn du ihn kennenlernst, Gordianus, wirst du ihn jetzt verstehen. Der arme junge Sextus, du wirst begreifen, warum er so verzweifelt ist. Wie ein Kaninchen, das gelähmt ist vor Angst. Der arme Junge. Das werden sie ihm antun, wenn man sie nicht aufhält. Du mußt ihm helfen, junger Mann. Du mußt Rufus und Cicero helfen, sie daran zu hindern.«

»Natürlich. Ich werde tun, was ich kann. Wenn die Wahrheit Sextus Roscius retten kann - ich vermute, er hält sich irgendwo hier im Haus auf?«

»Oh, ja, er darf das Haus nicht verlassen; du hast die Wachen gesehen. Er wäre jetzt auch hier bei uns, wenn...«

»Ja?«

Rufus räusperte sich. »Wenn du ihn triffst, wirst du ja sehen.«

»Was werde ich sehen?«

»Der Mann ist ein Wrack«, sagte Cicero. »Völlig in Panik, wirr und restlos verzweifelt. Beinahe wahnsinnig vor Angst.«

»Hat er solche Angst, verurteilt zu werden? Die Anklage gegen ihn muß auf sehr starken Füßen stehen.«

»Natürlich hat er Angst.« Caecilia schlug mit dem Fächer nach einer Fliege, die sich auf ihrem Arm niedergelassen hatte. »Hättest du etwa keine Angst, wenn dir etwas derart Entsetzliches droht. Und nur weil er unschuldig ist, heißt das ja noch lange nicht... nun ja, was ich sagen will, wir alle kennen Fälle, besonders seit... ich meine, seit einem Jahr oder so... wenn man unschuldig ist, heißt das in diesen Tagen kaum, daß man sich in Sicherheit wiegen kann.« Sie warf Rufus einen kurzen Blick zu, den er angestrengt ignorierte.

»Der Mann fürchtet sich vor seinem eigenen Schatten«, sagte Cicero. »Er hatte schon Angst, als er herkam, aber jetzt hat er noch mehr Angst. Angst, verurteilt zu werden, und Angst vor einem Freispruch. Er behauptet, daß derjenige, der seinen Vater ermordet hat, entschlossen ist, auch ihn umzubringen, und daß der Prozeß selbst eine Intrige sei, ihn zu erledigen. Wenn die Justiz versagt, werden sie ihn auf offener Straße ermorden.«

»Er wacht mitten in der Nacht schreiend auf«, sagte Caecilia, nach der Fliege schlagend. »Ich kann ihn durchs ganze Haus rüber bis in den Westflügel hören. Alpträume. Ich glaube, der Affe ist das schlimmste. Bis auf die Schlange... «

Rufus schüttelte sich. »Caecilia sagt, daß er sogar erleichtert war, als man die Wachen vor der Tür postiert hat - als ob sie hier wären, um ihn zu beschützen, anstatt seine Flucht zu verhindern. Von wegen Flucht! Er verläßt nicht einmal sein Zimmer.«

»Das stimmt«, sagte Cicero. »Sonst hättest du ihn in meinem Arbeitszimmer kennengelernt, Gordianus, ohne daß wir unsere Gastgeberin hätten belästigen müssen.«

Caecilia lächelte spröde, um das Kompliment zu würdigen. Im nächsten Moment schoß ihr Blick zum Tisch, und ihr Fächer klatschte auf die Platte. Diese Fliege würde sie jedenfalls nicht mehr belästigen.

»Ich hätte sie im Laufe meiner Ermittlungen ohnehin früher oder später aufsuchen müssen.«

»Aber warum?« wandte Cicero ein. »Caecilia weiß nichts über den Mord. Sie ist lediglich eine Freundin der Familie, keine Zeugin.«

»Nichtsdestoweniger war Caecilia Metella eine der letzten, die den älteren Roscius lebend gesehen hat.«

»Ja, das stimmt.« Sie nickte. »Er hat sein letztes Mahl in genau diesem Raum eingenommen. Oh, wie er diesen Raum geliebt hat. Er hat mir einmal erzählt, daß er mit der freien Natur nichts anzufangen wüßte. Felder und Weiden und das Landleben in Ameria haben ihn unendlich gelangweilt. >Das hier reicht mir als Garten vollkommen< hat er einmal erklärt.« Sie wies auf die bemalten Wände. »Siehst du den Pfau, der dort drüben auf der Südwand ein Rad schlägt? Da, die Sonne fällt eben darauf. Wie er dieses Bild geliebt hat, die Farben - ich weiß noch, er nannte ihn immer seinen Gaius und wollte, daß ich dasselbe tat. Gaius liebte diesen Raum auch sehr.«

»Gaius?«

»Ja. Sein Sohn.«

»Ich dachte, der Tote hätte nur einen Sohn.«

»O nein. Nun, ja, ein Sohn verblieb ihm, nachdem Gaius gestorben war.«

»Und wann war das?«

»Laß mich nachdenken. Vor drei Jahren? Ja, ich kann mich noch gut daran erinnern, weil es der Abend von Sullas Triumph war. Überall auf dem Palatin fanden Feste statt. Menschen zogen von einer Versammlung zur nächsten. Jeder feierte - der Bürgerkrieg war endlich vorbei. Ich habe selbst einen Empfang gegeben, in diesem Raum, alle Türen zum Garten standen offen. Es war ein lauer Abend - das Wetter war, wie es zur Zeit ist. Sulla persönlich war eine Weile hier. Ich erinnere mich noch an den Witz, den er machte. >Heute abend<, sagte er, >gibt es für jeden, der in Rom Rang und Namen hat, nur eine Alternative: feiern oder fliehen !< Natürlich gab es einige, die gefeiert haben, obwohl sie besser geflohen wären. Aber wer hätte sich damals auch vorstellen können, daß die Dinge sich so weit entwickeln würden?« Sie zog die Brauen hoch und seufzte.

»Dann ist Gaius Roscius also hier gestorben?«

»O nein, darum geht es ja. Deswegen fällt mir das Ganze wieder ein. Gaius und sein Vater hätten hier sein sollen - oh, das hätte der gute Sextus wirklich aufregend gefunden, Seite an Seite mit Sulla in diesem Raum zu stehen, die Gelegenheit zu haben, ihm seinen Sohn Gaius vorzustellen. Und wenn man den Geschmack des Diktators kennt« - sie vermied es, jemand Bestimmten anzusehen - »hätten sie sich vielleicht ganz prima verstanden.«

»Sulla und der Junge, meinst du.«

»Was denn sonst.«

»Dann war es ein wohlgestalteter Bursche?«

»O ja. Blond und gutaussehend, intelligent und mit guten Manieren. Alles, was sich der liebe Sextus von einem Sohn gewünscht hatte.«

»Wie alt war Gaius?«

»Laß mich überlegen, er hatte schon eine Weile vorher seine Männertoga angelegt. Neunzehn, nehme ich an, vielleicht zwanzig.«

»Also deutlich jünger als sein Bruder?«

»O ja, ich vermute, der arme Sextus ist - was, mindestens vierzig? Er hat zwei Töchter, mußt du wissen. Die ältere ist schon fast sechzehn.«

»Standen sie sich nahe, die beiden Brüder?«

»Gaius und der junge Sextus? Das glaube ich nicht. Ich wüßte nicht wie -sie haben sich praktisch nie gesehen. Gaius hat die meiste Zeit hier mit seinem Vater in der Stadt gelebt, während Sextus das Gut in Ameria geleitet hat.«

»Ich verstehe. Du wolltest erzählen, wie Gaius ums Leben gekommen ist.«

»Ich weiß wirklich nicht, was all das mit dem anstehenden Fall zu tun hat.«

Cicero rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.

»Es ist im Grunde nichts weiter als Klatsch.«

Ich sah ihn kurz und nicht ohne Sympathie an. Bisher hatte er mich mit ungewöhnlicher Höflichkeit behandelt, zum Teil, weil er naiv war, zum Teil aber auch, weil es in seinem Wesen lag. Doch daß ich so freimütig mit einer Frau sprach, die so weit über mir stand (einer Metella!), war selbst für sein liberales Gefühl zuviel. Er erkannte den Dialog als das, was er war, ein Verhör nämlich, und nahm daran Anstoß.

»Nein, nein, Cicero, laß ihn fragen.« Caecilia wies ihn mit ihrem Fächer zurück und gönnte mir ein Lächeln. Sie war glücklich, ja richtiggehend begierig, über ihren verstorbenen Freund zu reden. Ich mußte mich unwillkürlich fragen, welcher Art ihre Beziehung zu dem Feste feiernden, das Vergnügen liebenden, alten Sextus dereinst gewesen war.

»Nein. Gaius Roscius ist nicht in Rom gestorben.« Caecilia seufzte. »Sie hätten an jenem Tag eigentlich herkommen sollen, um den frühen Abend auf meinem Empfang zu verbringen; dann wollten wir alle gemeinsam zu Sullas Villa gehen, um an dem Triumphbankett teilzunehmen. Tausende von Gästen waren eingeladen. Sullas Großzügigkeit kannte keine Grenzen. Sextus Roscius war ganz besonders daran gelegen, einen guten Eindruck zu machen; wenige Tage zuvor war er noch mit dem jungen Gaius vorbeigekommen, um meinen Rat hinsichtlich der angemessenen Kleidung einzuholen. Wenn alles nur wie geplant vonstatten gegangen wäre, würde der junge Gaius heute noch leben...« Ihre Stimme erstarb. Sie hob ihren Blick und ließ ihn zu dem sonnenbeschienenen Pfau schweifen.

»Die Parzen haben eingegriffen«, schlug ich vor.

»Wie es ihre schlechte Angewohnheit ist. Zwei Tage vor dem Triumph erhielt Sextus pater eine Nachricht von Sextus filius in Ameria, der ihn drängte, nach Hause zu kommen. Irgendein Notfall - ein Brand, eine Flut, ich weiß nicht mehr. Jedenfalls so dringend, daß Sextus zusammen mit Gaius zum Familienanwesen zurückeilte. Er hoffte, zu den Feierlichkeiten zurück zu sein. Statt dessen blieb er bis zur Beerdigung in Ameria.«

»Wie ist es passiert?«

»Eine Lebensmittelvergiftung. Ein Glas verdorbener eingelegter Pilze. Sextus hat mir das Unglück später in allen Einzelheiten beschrieben. Wie sein Sohn zusammenbrach und pure Galle zu erbrechen begann. Wie Sextus ihm in den Rachen griff, weil er glaubte, sein Sohn würde ersticken. Daß der Schlund des Jungen glühend heiß gewesen sei und seine Finger, als er sie wieder herauszog, blutig. Gaius spuckte weitere Galle, diesmal dickflüssig und schwarz, und war wenige Minuten später tot. Sinnlos, tragisch. Der gute Sextus war danach nie mehr ganz der alte.«

»Du hast gesagt, Gaius sei neunzehn oder zwanzig gewesen, und ich dachte, sein Vater war Witwer. Wann ist die Mutter des Jungen gestorben?«

»Oh - aber sicher, woher sollst du das wissen? Sie starb bei der Geburt von Gaius. Ich glaube, das war einer der Gründe, warum Sextus den Jungen so sehr liebte. Er ähnelte seiner Mutter sehr. Sextus hat Gaius als ihr letztes Geschenk an ihn betrachtet.«

»Und die beiden Söhne - sie müssen im Abstand von fast zwanzig Jahren geboren sein. Von derselben Mutter?«

»Nein. Sagte ich das nicht? Gaius und der junge Sextus waren Halbbrüder. Die erste Frau starb vor Jahren an einer Krankheit.« Caecilia zuckte die Schultern. »Das ist vielleicht auch ein Grund, warum sie sich nie besonders nahestanden.«

»Ich verstehe. Und hat Gaius’ Tod Sextus Roscius und seinen älteren Sohn einander wieder nähergebracht?«

Caecilia wandte traurig den Blick ab. »Nein, ganz im Gegenteil, fürchte ich. Manchmal hat eine Tragödie diese Wirkung auf eine Familie, daß sie die alten Wunden wieder aufreißt. Manchmal liebt ein Vater einen Sohn mehr als den anderen - wer kann daran etwas ändern? Als Gaius starb, machte Sextus den Bruder des Jungen für den Tod verantwortlich. Natürlich war es ein Unfall, aber einem alten, von Schmerz geschüttelten Mann fehlt bisweilen die Stärke, den Göttern die Schuld zu geben. Er kehrte nach Rom zurück und vergeudete seine Zeit - und sein Vermögen. Er hat mir einmal erzählt, daß er nach Gaius’ Tod niemanden mehr hatte, dem er ein Erbe hinterlassen wollte, also war er entschlossen, seinen Reichtum durchzubringen, bevor er starb. Grausame Worte, ich weiß. Während Sextus filius das Anwesen leitete, verpraßte Sextus pater blindlings, soviel er nur konnte. Die Verbitterung auf beiden Seiten läßt sich vorstellen.«

»Genug Verbitterung für einen Mord?«

Caecilia zuckte müde die Schultern. Ihre Lebhaftigkeit war von ihr gewichen. Die Maske von Henna und Schminke verblaßte rapide und gab den Blick frei auf die runzelige alte Frau, die sich darunter verbarg. »Ich weiß nicht. Es wäre fast undenkbar, daß Sextus Roscius von seinem eigenen Sohn ermordet worden ist.«

»An jenem Abend im letzten September - an den Iden, oder nicht? - hat Sextus Roscius hier gespeist... vor seinem Tod?«

»Ja.«

»Wann hat er dein Haus verlassen?«

»Ich weiß noch, daß er früh ging. Normalerweise blieb er stets bis spät in die Nacht, aber an jenem Abend hat er sich noch vor dem letzten Gang verabschiedet. Eine Stunde nach Anbruch der Dunkelheit.«

»Und weißt du, wohin er wollte?«

»Nach Hause, nehme ich an...« Ihre Stimme verlor sich auf eine durch und durch unnatürliche Art. Caecilia Metella, die so viele Jahre allein gelebt hatte, mangelte es an zumindest einer Fertigkeit, über die alle römischen Ehefrauen verfügen. Caecilia Metella konnte nicht lügen.

Ich räusperte mich. »Vielleicht hat sich Sextus Roscius an jenem Abend doch nicht auf den Heimweg gemacht, als er dein Haus verließ. Vielleicht gab es einen Grund, warum er früher aufbrechen mußte. Eine Verabredung? Eine Botschaft?«

»Nun, ja, in der Tat.« Caecilia runzelte die Stirn. »Mir ist, als wäre da ein Bote gekommen. Ja, ein ganz gewöhnlicher Bote, wie man ihn sich von der Straße holen kann. Er meldete sich beim Personaleingang. Ahausarus kam zu mir und sagte, draußen in der Küche warte ein Mann mit einer Botschaft für Sextus Roscius. Ich habe an jenem Abend eine kleine Gesellschaft gegeben; wir waren höchstens zu sechst oder acht und noch nicht mit dem Essen fertig. Sextus wirkte entspannt, fast als ob er dösen würde. Ahausarus flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sextus sah ein wenig erstaunt aus, stand jedoch sofort auf und verließ den Raum, ohne mich um Erlaubnis zu bitten.«

»Ich vermute, du hast nicht zufällig auf irgendeine Weise in Erfahrung bringen können, wie die Botschaft lautete?«

Cicero stöhnte leise auf. Caecilia richtete sich gerade auf, und die natürliche Farbe kehrte in ihre Wangen zurück.

»Junger Mann, Sextus Roscius und ich waren sehr alte, sehr enge Freunde.«

»Ich verstehe, Caecilia Metella.«

»Tatsächlich? Ein alter Mann braucht jemanden, der sich um seine Interessen kümmert und ein wenig Neugier zeigt, wenn fremde Boten ihn mitten in der Nacht stören. Natürlich bin ich ihm gefolgt und habe gelauscht.«

»Ah. Dann könntest du mir vielleicht sagen, wer den Boten geschickt hat?«

»Seine genauen Worte lauteten: >Elena bittet dich auf der Stelle, ins Haus der Schwäne zu kommen. Es ist sehr wichtige Und dann zeigte er Sextus ein Pfand.«

»Was für ein Pfand?«

»Einen Ring.«

»Einen Ring?«

»Den Ring einer Frau - klein, silbern, ganz schlicht. Die Art Ringe, wie sie ein armer Mann seiner Geliebten geben würde oder die Art kleines Geschenk, die ein reicher Mann einer...«

»Ich verstehe.«

»Tatsächlich? Nach Gaius’ Tod begann Sextus, sehr viel Zeit und Geld in Lokalen dieser Art zu verbringen und auszugeben. Ich rede natürlich von Bordellen. Du hältst das für jämmerlich bei einem Mann seines Alters? Aber verstehst du nicht, daß es wegen Gaius war. Als ob er von dem plötzlichen und überwältigenden Bedürfnis ergriffen war, einen weiteren Sohn zu zeugen. Völlig absurd natürlich, aber manchmal muß ein Mensch sich seiner Natur beugen. Heilung geschieht an den seltsamsten Orten.«

Wir saßen eine Weile schweigend. »Ich glaube, du bist eine weise Frau, Caecilia Metella. Weißt du sonst noch irgend etwas über diese Elena?«

»Nein.«

»Oder das Haus der Schwäne?«

»Nichts, außer daß es in der Nähe der Pallacina-Thermen liegt, in der Nähe von Sextus’ Haus beim Circus Flaminius. Du hast doch nicht etwa geglaubt, er hätte irgendeinen ordinären Schuppen in der Subura frequentiert, oder?«

Cicero räusperte sich. »Ich denke, es ist vielleicht an der Zeit, daß Gordianus den jungen Sextus Roscius kennenlernt.«

»Nur noch ein paar kurze Fragen«, sagte ich. »Sextus Roscius hat das Abendessen unmittelbar danach verlassen?«

»Ja.«

»Aber nicht alleine.«

»Nein, er ging mit zwei Sklaven, die ihn hierher begleitet hatten. Seine Lieblingssklaven. Sextus hat sie immer mitgebracht.«

»Du kannst dich nicht zufällig an ihre Namen erinnern?«

»Natürlich kann ich das, sie sind jahrelang in meinem Haus ein- und ausgegangen. Chrestus und Felix. Überaus loyal. Sextus hat ihnen völlig vertraut.«

»Waren sie als Leibwächter geeignet?«

»Ich nehme an, sie haben irgendwelche Messer bei sich getragen. Aber sie waren nicht wie Gladiatoren gebaut, wenn du das meinst. Nein, ihre Hauptaufgabe bestand darin, die Lampen zu tragen und ihren Herrn ins Bett zu bringen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie gegen eine Bande bewaffneter Schläger viel hätten ausrichten können.«

»Und mußte ihr Herr ins Bett gebracht oder auf seinem Weg durch die Straßen begleitet oder gestützt werden?«

»Du meinst, ob er so betrunken war?« Caecilia lächelte nachsichtig. »Sextus war kein Mann, der sich in seinen Genüssen Mäßigung auferlegt hätte.«

»Vermutlich trug er eine edle Toga.«

»Seine beste.«

»Und Schmuck?«

»Sextus trat nicht bescheiden auf. Ich nehme an, daß an seiner Person auch Gold zu sehen war.«

Ich schüttelte meinen Kopf über soviel Kühnheit: Ein alter Mann, der praktisch unbewacht nach Anbruch der Dunkelheit durch die Straßen Roms läuft, vom Wein berauscht und seinen Reichtum fröhlich herzeigend, auf dem Weg zu der geheimnisvollen Einladung einer Hure. An den Iden des September hatte Sextus Roscius sein Glück schließlich verlassen, aber wer war das Werkzeug des Schicksals gewesen und zu welchem Zweck?

Sextus Roscius und seine Familie waren in einem entfernten Flügel des großen Hauses untergebracht worden. Ahausarus, der Eunuch, führte uns durch ein Labyrinth immer schmalerer und weniger prachtvollerer Flure. Schließlich gelangten wir in einen Bereich, in dem die Wandgemälde dringend der Restaurierung bedurften, bis sie ganz verschwanden und durch gewöhnlichen Putz ersetzt wurden, der entweder abgefallen oder zumindest bröckelig war. Die Fliesen unter unseren Füßen wurden uneben und rissig mit faustgroßen Löchern. Wir waren weit entfernt von den gepflegten Gärten und lauschigen Speisesälen, in denen Caecilia uns empfangen hatte, weit jenseits sogar von Küchen und Sklavenquartieren. Die Gerüche in diesem Teil des Hauses waren weniger köstlich als die von gerösteter Ente und gegartem Fisch. Wir mußten uns irgendwo in der Nähe des zum Hause gehörigen Aborts befinden.

Wie jede aufrechte römische Patronin der alten Schule schien Caecilia gewillt, Peinlichkeit und sogar Skandal zu ertragen, um die Familie eines Klienten zu schützen, aber es war offenkundig, daß sie keinerlei Wunsch verspürte, den jungen Sextus Roscius irgendwo in ihrer Nähe zu wissen oder ihn mit ihrem Reichtum zu verwöhnen. Ich begann mich zu fragen, ob Caecilia selbst von der Unschuld des Mannes überzeugt war, wenn sie ihm ein so schäbiges Dach zuwies.

»Wie lange lebt Roscius schon unter Metellas Dach?« fragte ich Cicero.

»Ich bin nicht sicher. Rufus?«

»Noch nicht lange. Zwanzig Tage vielleicht; er ist keinesfalls vor den Iden des April hier eingetroffen. Ich besuche Caecilia recht häufig und wußte trotzdem nichts von seiner Anwesenheit, bis die Wachen vor der Tür postiert wurden und sie sich zu einer Erklärung genötigt sah. Vorher hatte sie keinerlei Anstrengung unternommen, uns bekannt zu machen. Ich glaube, sie mag ihn nicht besonders, und seine Frau ist natürlich sehr gewöhnlich.«

»Und was tut er hier in der Stadt, wenn er das Landleben so liebt?«

Rufus zuckte die Schultern. »Das weiß ich auch nicht so genau, und Caecilia weiß es bestimmt nicht. Er stand plötzlich eines Nachmittags mit seiner Familie vor ihrer Tür und bat um Einlaß. Ich bezweifle, daß sie ihn je vorher getroffen hat, aber als ihr klar wurde, daß es sich um Sextus’ Sohn handelte, hat sie ihn sofort hereingelassen. Wie es scheint, kocht der Ärger wegen dem Tod des Alten schon seit einiger Zeit vor sich hin, schon seit Ameria. Ich vermute, daß sie ihn aus dem Dorf vertrieben haben; er tauchte praktisch ohne Besitz hier in Rom auf, mit nicht einmal einem Haussklaven. Wenn man ihn fragt, wer sich um seine Ländereien in Ameria kümmert, sagt er, daß er das meiste verkauft hat und irgendwelche Vettern den Rest verwalten. Wenn man ihn darum bittet, ein wenig präziser zu werden, bekommt er einen seiner Anfälle. Meiner Meinung nach hat Hortensius den Fall aus reiner Frustration aufgegeben.«

Ahausarus bat uns mit großem Getue und viel Trara durch den letzten Vorhang. »Sextus Roscius, der Sohn des Sextus Roscius«, sagte er und nickte einer Gestalt zu, die in der Mitte des Raumes saß, »ein hochgeschätzter Klient meiner Herrin. Ich bringe Besucher«, sagte er mit einer vage abschätzigen Geste in unsere Richtung. »Der junge Massala und Cicero, der Anwalt, die du bereits kennengelernt hast. Und ein weiterer Herr namens Gordianus.« Tiro überging er natürlich, genauso wie er die Frau, die im Schneidersitz nähend in einer Ecke des Raumes auf dem Boden saß, sowie die beiden Mädchen ignorierte, die unter dem Oberlicht knieten und spielten.

Ahausarus zog sich zurück. Rufus trat vor. »Du siehst besser aus heute, Sextus Roscius.«

Der Mann nickte matt.

»Vielleicht hast du uns heute nachmittag mehr zu erzählen. Cicero muß mit der Vorbereitung deiner Verteidigung beginnen - in acht Tagen fängt dein Prozeß an. Deswegen ist auch Gordianus mitgekommen, den man den Sucher nennt. Er verfügt über die besondere Fähigkeit, die Wahrheit zu ergründen. «

»Ein Magier?« Zwei traurige Augen blickten mich an.

»Nein«, sagte Rufus. »Ein Ermittler. Mein Bruder Hortensius bedient sich des öfteren seiner Talente.«

Die traurigen Augen wandten sich Rufus zu. »Hortensius - der Feigling, der den Schwanz zwischen die Beine geklemmt hat und geflüchtet ist? Was soll mir ein Freund von Hortensius nutzen?«

Rufus’ blasses, sommersprossiges Gesicht nahm die Farbe reifer Kirschen an. Er klappte seinen Mund auf, aber ich hob meine Hand. »Sag mir eins«, sprach ich mit lauter Stimme. Cicero runzelte die Stirn und schüttelte den

Kopf, aber ich winkte ab. »Sag es mir jetzt, bevor wir fortfahren. Sextus Roscius von Ameria: Hast du deinen Vater ermordet oder seine Ermordung in irgendeiner Weise geplant und vorbereitet?«

Ich baute mich direkt vor ihm auf, so daß er zu mir aufblicken mußte, was er auch tat. Was ich sah, war ein einfaches Gesicht von der Art, wie römische Politiker es gerne und lustvoll preisen, ein von Sonne, Wind und Wetter gegerbtes Gesicht. Roscius mochte ein reicher Bauer sein, er war nichtsdestoweniger ein Bauer. Kein Mann kann Landarbeiter befehligen, ohne selbst das Aussehen eines Landarbeiters anzunehmen und sich die Fingernägel schmutzig zu machen, selbst wenn er Sklaven kommandiert. Sextus Roscius hatte etwas Ungeschliffenes an sich, ein charakteristisches Phlegma, so leer und unbeweglich wie Granit. Dies war der Sohn, den man auf dem Lande zurückgelassen hatte, um die Rücken der störrischen Sklaven zu peitschen und dafür zu sorgen, daß die Ochsen ausgespannt wurden, während der hübsche junge Gaius als verhätschelter Stadtjunge mit großstädtischen Manieren im Haus seines vergnügungssüchtigen Vaters aufwuchs.

Ich suchte in seinen Augen nach Groll, Verbitterung, Eifersucht oder Habgier. Und ich sah nichts. Statt dessen sah ich die Augen eines Tieres, das mit einem Fuß in eine Falle geraten ist und die näherkommenden Jäger hört.

Roscius antwortete mir zu guter Letzt mit einem leisen, heiseren Flüstern: »Nein.« Er sah mir unentwegt in die Augen. Angst war alles, was ich darin sah, und obwohl die Angst einen eher als alles andere zum Lügen verleitet, glaubte ich, daß er mir die Wahrheit sagte. Cicero mußte dasselbe gesehen haben; Cicero hatte mir erklärt, daß Roscius unschuldig war und daß ich ihn nur treffen müßte, um es selbst zu sehen.

Sextus Roscius war von mittlerem Alter, und wenn man davon ausging, daß er ein hart arbeitender Mann von beträchtlichem Reichtum war, konnte ich seine heutige Erscheinung nur für untypisch halten. Die schreckliche Last seiner ungewissen Zukunft - oder die schreckliche Schuld seines Verbrechens - lag schwer auf seinen Schultern. Seine Haare und sein Bart waren länger, als selbst die Mode auf dem Land es vorschrieb, zottig, ungepflegt und voller grauer Strähnen. Er saß zusammengesunken auf einem Stuhl, gebeugt und zerbrechlich, obwohl ich mit einem Seitenblick auf Cicero und Rufus feststellen konnte, daß er ein vergleichsweise sehr viel größerer Mann mit kräftigen Muskeln war. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Seine Haut wirkte teigig. Seine Lippen waren trocken und aufgesprungen.

Caecilia Metella behauptete, daß er nachts schreiend aufwachte. Sie hatte zweifelsohne nach dem ersten Blick entschieden, daß er den Verstand verloren hatte. Aber Caecilia war nie durch die endlosen, von Menschen wimmelnden Straßen der Armen in Rom oder Alexandria gewandert. Verzweiflung kann in Wahnsinn übergehen, aber für die Augen desjenigen, der zuviel von beidem gesehen hat, gibt es einen klaren Unterschied. Sextus Roscius war kein Verrückter. Er war verzweifelt.

Ich sah mich nach einer Sitzgelegenheit um. Roscius schnippte mit den Fingern in Richtung der Frau. Sie war ebenfalls mittleren Alters, stämmig und unansehnlich. An der Art, wie sie es wagte, wütend zurückzustarren, erkannte ich, daß es seine Frau war. Sie schnippte ihrerseits mit den Fingern in Richtung der beiden Mädchen, die sich vom Boden erhoben und davonhuschten. Roscia Majora und Roscia Minora, nahm ich an, die einfallslose Namensgebung der Römer voraussetzend, bei der alle Töchter der Familie den Zunamen des Vaters erhielten und lediglich der Reihenfolge nach unterschieden wurden.

Roscia, die Ältere, war vermutlich etwa so alt wie Rufus oder ein wenig jünger, ein Kind auf der Schwelle zur Mannbarkeit. Wie Rufus trug sie ein schlichtes, weißes Gewand, das ihre Gliedmaßen verbarg. Eine wallende Mähne kastanienbraunen Haars war im Nacken zu einem Knoten geflochten und fiel von dort in Wellen bis zu ihrer Hüfte; nach ländlicher Sitte war es noch nie geschnitten worden. Sie hatte ein hübsches Gesicht, aber um ihre Augen hatte sich derselbe gehetzte Blick eingenistet wie bei ihrem Vater.

Das jüngere der beiden Mädchen war das Ebenbild ihrer Schwester in klein, mit demselben Gewand, demselben langen, geflochtenen Haar. Sie folgte den anderen Frauen quer durch das Zimmer, war jedoch noch zu klein, um ebenfalls einen Stuhl zu tragen. Statt dessen kicherte sie und zeigte auf Cicero.

»Spaßmachergesicht!« rief sie und bedeckte dann hastig ihren Mund mit der Hand. Ihre Mutter knurrte und trieb sie aus dem Zimmer. Ich warf einen Blick auf Cicero, der den Spott mit stoischer Gelassenheit hinnahm. Rufus, der neben Cicero so schön wie Apollo aussah, errötete und blickte zur Decke.

Das ältere Mädchen folgte ihrer Mutter, aber bevor sie durch den Vorhang schlüpfte, wandte sie sich noch einmal um. Cicero und Rufus setzten sich gerade und schienen sie nicht zu bemerken. Erneut war ich von der Schönheit ihres Gesichtes fasziniert - der volle Mund und die glatte Stirn, die tiefbraunen, von Trauer getönten Augen. Sie mußte mich beim Starren ertappt haben, denn sie erwiderte meinen Blick mit einer Offenheit, den man bei Mädchen ihrer Klasse und ihres Alters nur selten sieht. Sie zog die Lippen zurück, ihre Augen wurden schmal, und ihr Gesichtsausdruck war auf einmal eine Einladung - sinnlich, kalkuliert und provozierend. Sie lächelte. Sie nickte. Ihre Lippen bewegten sich, doch ich konnte die Worte nicht lesen.

Cicero und Rufus saßen am anderen Ende des Raumes und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen.

Ich sah mich über die Schulter um, wo lediglich Tiro nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Sie konnte nur mich gemeint haben, dachte ich.

Als ich mich erneut umwandte, war Roscia Majora verschwunden, und nur der sanft wiegende Vorhang und ein Hauch von Jasmin erinnerte an sie. Die Vertraulichkeit ihres Abschiedsblicks ließ mich erstaunt und verwirrt zurück. Es war ein Blick, wie Liebende ihn einander zuwerfen, dabei hatte ich sie nie zuvor getroffen.

Ich ging zu dem Stuhl, den man für mich aufgestellt hatte. Tiro folgte mir und schob ihn mir hin. Ich schüttelte den Kopf, um wieder klare Gedanken fassen zu können. Ein weiterer Blick auf den Vater des Mädchens ernüchterte mich vollends.

»Wo sind deine Sklaven, Sextus Roscius? Zu Hause würde es dir auch wohl im Traum nicht einfallen, deine Frau und deine Töchter zu bitten, Stühle für den Besuch heranzuschleppen. «

Die traurigen Augen leuchteten auf. »Warum nicht? Glaubst, daß sie dafür zu schade sind? Es tut einer Frau gut, von Zeit zu Zeit an ihren Platz gemahnt zu werden. Vor allem Frauen wie den meinen, mit einem Ehemann und Vater, der reich genug ist, daß sie den ganzen Tag herumsitzen und tun können, was sie wollen.«

»Verzeihung, Sextus Roscius. Ich wollte dich nicht beleidigen. Du sprichst weise. Vielleicht sollten wir das nächste Mal Caecilia Metella bitten, uns die Stühle zu holen.«

Rufus unterdrückte ein Lachen. Cicero zuckte zusammen ob meiner Unverschämtheit.

»Du bist ein echter Klugschwätzer, was?« bellte Sextus Roscius. »Ein schlauer Stadtmensch wie die anderen auch. Was willst du?«

»Nur die Wahrheit, Sextus Roscius. Die herauszufinden ist nämlich mein Beruf, und weil die Wahrheit das einzige ist, das einen unschuldigen Mann retten kann - einen Mann wie dich.«

Roscius sank tiefer in seinen Stuhl. Er hätte es an Muskelkraft mit zwei von uns aufnehmen können, selbst in seinem geschwächten Zustand, aber mit Worten war er leicht zu schlagen.

»Was willst du wissen?«

»Wo sind deine Sklaven?«

Er zuckte die Schultern. »Zu Hause in Ameria natürlich. Auf den Gütern.«

»Alle? Du hast keine Sklaven mitgebracht, die kochen, saubermachen und sich um deine Töchter kümmern? Das verstehe ich nicht.«

Tiro neigte sich zu Cicero und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Cicero nickte und winkte ab. Tiro verließ den Raum.

»Was für einen wohlerzogenen kleinen Sklaven du hast.« Roscius kräuselte die Lippen. »Fragt seinen Herrn um Erlaubnis, wenn er mal pissen muß. Hast du die sanitären Anlagen hier gesehen? Absolut einzigartig. Fließendes Wasser direkt im Haus. Mein Vater hat ständig davon geredet - du weißt ja, wie sehr alte Männer es hassen, nachts nach draußen zu müssen, um Wasser zu lassen. Das braucht man hier nicht! Der Abort ist viel zu edel, als daß Sklaven hier scheißen sollten, wenn du mich fragst. Normalerweise stinkt es auch nicht so übel, außer wenn es so verdammt heiß ist.«

»Wir sprachen von deinen Sklaven, Sextus Roscius. Mit zweien von ihnen würde ich ganz besonders gerne reden. Die beiden Lieblingsdiener deines Vaters, die in der Nacht seines Todes bei ihm waren. Felix und Chrestus. Sind die auch in Ameria?«

»Woher soll ich das wissen?« gab er mürrisch zurück. »Die sind wahrscheinlich längst abgehauen. Oder man hat ihnen die Kehle durchgeschnitten.«

»Und wer sollte so etwas tun?«

»Ihnen die Kehle durchschneiden? Dieselben Männer, die meinen Vater ermordet haben, natürlich.«

»Und warum?«

»Weil die Sklaven Augenzeugen waren, du Dummkopf.«

»Und woher weißt du das?«

»Weil sie es mir gesagt haben.«

»Hast du so vom Tod deines Vaters erfahren - durch die Sklaven, die bei ihm waren?«

Roscius zögerte. »Ja. Sie haben mir einen Boten aus Rom geschickt.«

»Du warst in Ameria in der Nacht, in der er getötet wurde?«

»Natürlich. Das können mindestens zwanzig Leute bezeugen.«

»Und wann hast du von dem Mord erfahren?«

Roscius zögerte erneut. »Der Bote traf am übernächsten Morgen ein.«

»Und was hast du dann gemacht?«

»Ich bin noch am selben Tag in die Stadt gekommen. Ein anstrengender Ritt. Man kann es in acht Stunden schaffen, wenn man ein gutes Pferd hat. Ich bin bei Tagesanbruch losgeritten und in der Abenddämmerung hier angekommen -im Herbst sind die Tage kurz. Die Sklaven haben mir die Leiche gezeigt. Die Wunden...« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern.

»Und haben sie dir auch die Straße gezeigt, in der er ermordet wurde?«

Sextus Roscius starrte zu Boden. »Ja.«

»Den genauen Tatort?«

Er schauderte. »Ja.«

»Ich muß ihn persönlich in Augenschein nehmen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht noch einmal dorthin gehen.«

»Ich verstehe. Die beiden Sklaven können es mir zeigen, Felix und Chrestus.« Ich beobachtete sein Gesicht. Ein Leuchten blitzte in seinen Augen auf, und ich war auf einmal argwöhnisch, obwohl ich nicht sagen konnte, weswegen. »Ah«, sagte ich, »aber die Sklaven sind ja in Ameria, oder nicht?«

»Das habe ich dir doch schon gesagt.« Roscius schien trotz der Hitze zu zittern.

»Aber ich muß den Tatort so bald wie möglich inspizieren. Ich kann nicht warten, bis diese Sklaven nach Rom gebracht worden sind. Soweit ich weiß, war dein Vater auf dem Weg zu einem Etablissement, das man das Haus der Schwäne nennt. Vielleicht hat sich das Verbrechen ja in der Nähe ereignet. «

»Ich hab noch nie von dem Lokal gehört.« Log er mich an oder nicht? Ich betrachtete sein Gesicht, aber mein Instinkt versagte.

»Vielleicht könntest du mir trotzdem erklären, wie ich zum Tatort komme?«

Er konnte und er tat es. Das überraschte mich ein wenig, wenn ich in Betracht zog, wie wenig er sich in der Stadt auskannte. Es gibt tausend Straßen in Rom, und nur eine Handvoll von ihnen hat Namen. Aber anhand der markanten Punkte, an die Roscius sich erinnern konnte, tüftelten Cicero und ich mit vereinten Kräften die Route aus. Es war so kompliziert, daß wir es aufschreiben mußten. Cicero sah sich um und murmelte etwas von Tiros Abwesenheit; zum Glück hatte Tiro seine Wachstafel und seinen Stylus hinter Ciceros Stuhl auf dem Boden liegenlassen. Rufus erklärte sich bereit, die Schreibarbeit zu übernehmen.

»Nun sag mir, Sextus Roscius: Weißt du, wer deinen Vater ermordet hat?«

Er senkte den Blick und sagte sehr lange nichts. Vielleicht war es nur die Hitze, die ihn erschöpft hatte. »Nein.«

»Trotzdem hast du Cicero erzählt, daß du dasselbe Schicksal befürchtest -daß irgendwelche Männer entschlossen seien, auch dich zu töten. Daß die Anklage selbst ein Angriff auf dein Leben sei.«

Roscius schüttelte den Kopf und schlang die Arme um sich. Das trotzige Leuchten in seinen traurigen Augen wurde matt. »Nein, nein«, murmelte er. »So was hab ich nie gesagt.« Cicero warf mir einen erstaunten Blick zu. Roscius’ Gemurmel wurde lauter. »Gebt es auf, alle miteinander! Gebt es auf! Ich bin ein todgeweihter Mann. Man wird mich in den Tiber werfen, in einen Sack eingenäht, und wofür? Für nichts! Was soll nur aus meinen beiden kleinen Töchtern werden, meinen hübschen kleinen Töchtern, meinen schönen Mädchen?« Er fing an zu weinen.

Rufus trat neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter, doch Roscius schüttelte sie heftig ab.

Ich erhob mich und verbeugte mich förmlich. »Kommt, meine Herren, ich glaube, wir sind hier für heute fertig.«

Cicero stand widerwillig auf. »Aber du hast doch sicher gerade erst angefangen. Frag ihn -«

Ich legte einen Finger auf meine Lippen, wandte mich zum Gehen und rief Rufus, der noch immer versuchte, Sextus Roscius zu trösten. Ich hielt den Vorhang für Cicero und Rufus zur Seite und warf dann einen letzten Blick zurück zu Roscius, der zitternd auf seinen Fingerknöcheln herumkaute.

»Über dir schwebt ein schrecklicher Schatten, Sextus Roscius von Ameria. Ob es Schuld, Scham oder Furcht ist, kann ich nicht erkennen, und du hast offenbar nicht die Absicht, es zu erklären. Aber ob es dich nun tröstet oder quält: Ich verspreche dir, daß ich alles in meinen Kräften Stehende unternehmen werde, um den Mörder deines Vaters zu entlarven, wer immer es sei; und ich werde erfolgreich sein.«

Roscius hieb mit der Faust auf die Lehne. Seine Augen waren noch immer feucht, aber er weinte nicht mehr. Das Feuer war wieder aufgelodert.

»Mach, was du willst!« fuhr er mich an. »Noch so ein Großstadtidiot. Ich hab dich nicht um deine Hilfe gebeten. Als ob die Wahrheit von irgendeiner Wichtigkeit oder Bedeutung wäre. Geh schon, geh und begaffe seine Blutflecken auf dem Boden! Geh und schau dir an, wo der Alte auf dem Weg zu seiner Hure gestorben ist! Was für einen Unterschied macht das schon? Selbst hier bin ich nicht sicher!«

Das war nicht alles. Ich ließ meinen Arm sinken, und der schwere Vorhang verschluckte den Rest seiner Beschimpfungen.

»Mir kommt es so vor, als wüßte er mehr, als er uns sagt«, sagte Rufus, als wir durch den Flur zu Caecilias Flügel gingen.

»Natürlich tut er das. Aber was?« Cicero verzog das Gesicht. »Ich beginne zu verstehen, warum Hortensius den Fall abgegeben hat.«

»Tatsächlich?« fragte ich.

»Der Mann ist unmöglich. Wie soll ich ihn verteidigen? Verstehst du jetzt, warum Caecilia ihn in diesen stinkigen Winkel des Hauses verbannt hat. Am liebsten würde ich den Fall auch wieder abgeben.«

»Davon würde ich dir abraten.«

»Wieso?

»Weil meine Ermittlung eben erst begonnen hat und wir bereits einen vielversprechenden Anfang gemacht haben.«

»Aber wie kannst du so etwas sagen? Wir haben nichts herausbekommen, weder von Caecilia noch von Roscius selbst. Caecilia weiß nichts und ist nur wegen ihrer sentimentalen Anhänglichkeit an den Toten in den Fall verwickelt. Roscius weiß etwas, sagt es uns aber nicht. Was könnte ihn so sehr ängstigen, daß er seinen eigenen Verteidigern nicht hilft? Wir wissen nicht einmal genug, um zu entscheiden, worüber er lügt.« Cicero zog eine verzweifelte Miene.

»Aber trotzdem, beim Herkules, ich glaube noch immer, daß er unschuldig ist. Hast du nicht auch das Gefühl?«

»Ja, schon möglich. Aber du irrst, wenn du glaubst, daß wir nichts von Bedeutung entdeckt haben. Ich habe bloß aufgehört, ihm weitere Fragen zu stellen, weil ich schon genug lose Enden zum Entwirren habe. Ich habe heute nachmittag genug erfahren, um mich die nächsten zwei Tage beschäftigt zu halten.«

»Zwei Tage?« Cicero stolperte über eine lockere Fliese.

»Aber in acht Tagen fängt bereits der Prozeß an, und ich habe noch immer nichts, worauf ich meine Verteidigung aufbauen kann.«

»Ich verspreche dir, Marcus Tullius Cicero, in acht Tagen werden wir nicht nur wisen, wo Sextus Roscius ermordet wurde - was für sich genommen kein unwesentliches Detail ist -, sondern auch warum, von wem und zu welchem Zweck. Im Augenblick jedoch würde es mich sehr glücklich machen, ein weit simpleres, jedoch keineswegs weniger dringendes Geheimnis zu lüften.«

»Und das wäre?«

»Wo finde ich den vielgepriesenen überdachten Abort?«

Rufus lachte. »Wir sind bereits daran vorbeigegangen. Du mußt umkehren. Die zweite Tür links wird dich dorthin führen. Du kannst es an den blauen Kacheln und einem kleinen Relief von Triton über der Tür erkennen.«

Cicero kräuselte die Nase. »Vermutlich wird der Gestank dich leiten. Und wenn du gerade dabei bist«, rief er mir nach, »schau, ob du herausfinden kannst, wo Tiro abgeblieben ist. Beim letzten Mal, als wir hier waren, ist genau das gleiche passiert - er hat behauptet, er hätte sich in den Fluren verirrt. Wenn er noch immer auf dem Abort ist, muß er ja schwer zu leiden haben. Sag ihm, das kommt davon, daß er sich weigert, meinem Beispiel zu folgen und mittags zu fasten. So viel Nahrung ist eine völlig unnatürliche Belastung für den Körper, vor allem in dieser Hitze...«

Eine Wendung nach links und ein kurzer Gang einen schmalen Flur hinunter führten mich zu der blau gekachelten Tür, in kleinen Nischen im

Durchgang sah ich Aschehäufchen und die Überreste von Weihrauch und süß brennenden Hölzern, die die übelriechenden Düfte, die aus dem Innern drangen, überdecken sollten. An einem so drückenden Tag wie heute mußte der Weihrauch ständig nachgefüllt werden, aber Caecilias Sklaven legten bei der Erfüllung ihrer Pflichten eine gewisse Lässigkeit an den Tag, oder aber sämtliehe Weihrauchvorräte waren für das Heiligtum der Herrin beansprucht worden. Ich trat durch den schweren blauen Vorhang.

Es gibt kein Volk der Welt, das bei der Organisation von Wasser und Abfällen eine größere Geschicklichkeit entwickelt hat als das römische. »Wir werden«, wie es ein athenischer Spaßvogel einmal formuliert hat, »von einer Nation von Klempnern regiert.« Trotzdem mangelte es hier, in einem der feinsten Häuser im Herzen der Stadt, an einigem. Die blauen Fliesen mußten dringend geschrubbt werden. Die steinerne Rinne war verstopft, und als ich auf das Ventil drückte, tröpfelte nur ein kleines Rinnsal heraus. Ein summendes Geräusch ließ meinen Blick nach oben wandern. Über dem Dachfenster zur Luftzufuhr spannte sich ein riesiges Spinnennetz, in dem sich zahllose Fliegen gefangen hatten.

Ich erledigte, weswegen ich gekommen war, und nahm einen tiefen Atemzug, als ich wieder durch den blauen Vorhang trat. Ich hielt die Luft an, als ich durch die gegenüberliegende Tür gedämpfte Stimmen wahrnahm. Eine der Stimmen gehörte Tiro.

Ich schlich mich hinüber und neigte den Kopf näher zu dem dünnen gelben Vorhang. Die andere Stimme gehörte einer jungen Frau, sie sprach einen ländlichen Akzent, jedoch nicht ohne eine gewisse Vornehmheit. Sie tuschelte ein paar Worte, dann keuchte sie und stöhnte auf.

Ich begriff sofort.

Ich hätte mich zurückziehen können. Statt dessen trat ich näher an den Vorhang und preßte mein Gesicht gegen den dünnen gelben Stoff. Ich hatte geglaubt, ihr überraschender, verführerischer Blick hätte mir gegolten und sie wäre wegen mir noch einen Moment im Zimmer verharrt. Ich hatte geglaubt, ihre stumme Botschaft sei an mich gerichtet gewesen. Aber sie hatte die ganze Zeit durch mich hindurchgesehen, als wäre ich Luft. Es war der hinter mir ste hende Tiro, dem sie diesen Blick zugeworfen hatte, die Botschaft, die Einladung.

Sie flüsterten leise, vielleicht drei Meter entfernt. Ich konnte die Worte kaum verstehen.

»Hier gefällt es mir nicht«, sagte sie. »Es stinkt.«

»Aber es ist der einzige Raum in der Nähe des Aborts -das war der einzige Vorwand, der mir blieb - wenn mein Herr nach mir sucht, muß ich in der Nähe sein... «

»Schon gut, schon gut«, keuchte sie. Ich hörte, wie sie sich umarmten. Ich schob den Vorhang ein wenig zur Seite und linste in den Raum.

Es war ein kleiner Vorratsraum. Durch ein schmales, hohes Fenster fiel weißes Licht herein, ohne ihn wirklich erleuchten zu können. Staubkörnchen tanzten durch die dicke, schwere Luft. Zwischen den übereinandergestapelten Kartons, Kästen und Säcken sah ich nacktes Fleisch aufblitzen: Tiros Hüften und Gesäß. Seine dünne Baumwolltunika war hochgerutscht und wurde auf seinem Rücken von den Fingern des Mädchens umklammert. Er preßte seinen Unterleib gegen ihren, zog ihn zurück und stieß wieder nach vorn in dem uralten, eindeutigen Rhythmus.

Ihre vereinten Gesichter lagen im Schatten. Das Mädchen war nackt. Das geschlechtlose Gewand lag zusammengeknüllt und verlassen auf dem Boden. Man hatte die sinnliche Figur und die atemberaubende Schönheit ihres weißen Fleisches darunter nicht ahnen können, leuchtend und fest wie Alabaster glitzerte es von Schweiß in dem heißen, stickigen Raum, als hätte sie sich von Kopf bis Fuß eingeölt. Ihr Körper reagierte auf seine Bewegungen, schraubte sich in einer seltsam krampfhaften Bewegung an der Wand hoch wie eine Schlange, die sich über das heiße Pflaster windet.

»Komm«, flüsterte Tiro mit heiserer, tonloser Stimme, die ich nie erkannt hätte - weder die Stimme eines Sklaven noch die eines Freiers, die Stimme des Tieres, des Ungeheuers, des Körpers.

Das Mädchen packte seine Hinterbacken mit beiden Händen und drückte ihn fester an sich. Ihr Kopf war zurückgeworfen, ihre Brüste vorgestreckt. »Nur noch ein wenig länger«, flüsterte sie.

»Nein, jetzt, man wird schon auf mich warten...«

»Dann denk dran, du hast versprochen, wie letztes Mal -nicht in mir - mein Vater würde...«

»Jetzt!« sagte Tiro mit einem langgezogenen Stöhnen.

»Nicht in mir!« zischte das Mädchen. Ihre Finger krallten sich in das zarte Fleisch seiner Hüften, und sie schob ihn weg. Tiro taumelte erst rückwärts, dann wieder nach vorn und sank in ihre Arme. Er preßte sein Gesicht gegen ihre Wange, dann gegen ihren Hals, ihre Brüste, bevor er weiter nach unten glitt. Er küßte ihren Nabel und fuhr mit der Zunge über die glänzenden Samenfäden, die an der glatten Haut ihres Bauches klebten. Er umfing ihre Hüften und preßte sein Gesicht zwischen ihre Beine.

Ich sah sie nackt, entblößt im weichen, dunstigen Licht. Nur ihr Gesicht war im Schatten verborgen. Ihr Körper war vollkommen, schlank und geschmeidig, blaß und makellos wie satter Rahm; weder der Körper eines Mädchens noch der einer Frau, sondern der eines Mädchens, deren Weiblichkeit erwacht ist, von der Unschuld befreit, doch noch unverdorben von Zeit.

Ohne Tiro zwischen uns beiden kam ich mir auf einmal ebenso nackt vor wie das Mädchen. Ich zog mich zurück. Der dünne gelbe Vorhang fiel lautlos und kräuselte sich sanft, als habe sich ein vom Weg abkommender Windhauch in diesen Flur verirrt.

8

»Sie haben es also gleich dort getrieben, im Haus der reichen Frau, direkt vor der Nase seines Herrn? Gut für die beiden!«

»Nein, Bethesda. Direkt vor meiner Nase.« Ich schob meine Schale beiseite und blickte in den Himmel. Der Widerschein der Lichter der Stadt überstrahlte die kleineren Sterne, aber die größeren Sternbilder leuchteten hell und funkelnd in der warmen Abendluft. Weiter westlich war ein Band dunkler Gewitterwolken aufgezogen wie die Staubwolke einer berittenen Armee. Ich lag mit geschlossenen Augen auf einem Sofa und lauschte der Stille des Gartens mit all seinen verborgenen Geräuschen: das leise Flackern der Fackel, das Zirpen einer Zikade am Teich, das laute Schnurren von Bast, die sich am Tischbein rieb. Ich hörte das beruhigende Klappern von Geschirr, und Bethesdas leisen Schritt, als sie sich ins Haus zurückzog. Die Katze folgte ihr, das Schnurren wurde einen Moment lang lauter, bevor es in der Stille verklang.

Bethesda kehrte zurück. Ich hörte das Rascheln ihres Gewands und spürte ihre Nähe, als sie sich zu mir auf das Sofa setzte. Ihr Gewicht ließ meinen Kopf nach unten sinken, dann hob sie ihn mit zarten Händen an und bettete ihn in ihren Schoß, ein weiteres Gewicht ließ sich am Fußende nieder. Warmes Fell strich gegen meine nackten Füße, und ich konnte die Vibration ebenso spüren wie hören - das laute, zufriedene Schnurren einer Katze, die von den Köstlichkeiten vom Teller ihres Herrn fett geworden ist.

»Hat dir das Essen nicht geschmeckt, Herr? Du hast fast gar nichts gegessen.« Bethesda streichelte zart meine Schläfe.

»Das Essen war köstlich«, log ich. »Die Hitze hat mir den Appetit verdorben. Und das ganze Herumlaufen heute.«

»Du hättest bei dem heißen Wetter nicht soviel laufen sollen. Du hättest die reiche Frau dazu bringen sollen, dir eine Sänfte zu bestellen.«

Ich zuckte mit den Achseln. Bethesda streichelte meinen Hals. Ich ergriff ihre Hand und strich mit ihren Fingern über meine Lippen. »So zart und weich. Du arbeitest hart, Bethesda - ich necke dich zwar oft wegen deiner Faulheit, aber eigentlich weiß ich, daß das nicht stimmt -, und trotzdem sind deine Hände so zart wie die einer Vestalin.«

»Das hat mir meine Mutter beigebracht. In Ägypten weiß selbst das ärmste Mädchen, wie es ihren Körper pflegt und sich schön hält. Nicht wie die römischen Frauen.« Auch ohne die Augen zu öffnen, konnte ich die Miene sehen, zu der sie ihr Gesicht verzog, verächtlich und hochmütig. »Schmieren sich Cremes und Schminke ins Gesicht, als ob sie Mörtel zum Mauern verstreichen würden.«

»Die Römer haben keinen Stil«, gab ich ihr recht. »Keine Eleganz. Vor allem die Frauen. Die Römer sind viel zu schnell zu reich geworden. Sie sind ein primitives und vulgäres Volk, dem die ganze Welt gehört. Früher einmal hatten sie wenigstens Manieren. Ein paar haben vermutlich immer noch welche.«

»Wie du?«

Ich lachte. »Nein, nicht ich. Ich habe weder Manieren noch Geld. Ich habe nur eine Frau, eine Katze und ein Haus, das ich mir nicht leisten kann. Ich dachte an Cicero.«

»Nach deiner Beschreibung scheint er ein sehr anspruchsloser Mann zu sein.«

»Ja, Bethesda, Cicero hat nichts, was dich interessieren würde.«

»Aber der Junge... «

»Nein, Bethesda, Rufus Messalla ist selbst für deinen Geschmack zu jung, und viel zu reich.«

»Ich meinte den Sklavenjungen. Der dich abgeholt hat. Den du mit dem Mädchen gesehen hast. Wie sieht er ohne Kleidung aus?«

Ich zuckte die Schultern. »Ich hab ihn kaum gesehen. Zumindest nicht die Teile, die dich interessieren würden.«

»Vielleicht weißt du ja nicht, welche Teile mich interessieren würden.«

»Vielleicht nicht.« Mit geschlossenen Augen sah ich sie wieder vor mir, gegen die Wand gedrückt, sich zuckend gemeinsam bewegend, zitternd in einem Rhythmus, von dem die ganze Welt ausgeschlossen war. Bethesda ließ ihre Hand unter meine Tunika gleiten und begann, meine Brust zu streicheln.

»Was ist danach passiert? Sag mir nicht, daß man sie erwischt hat, sonst werde ich ganz traurig.«

»Nein, man hat sie nicht erwischt.«

»Hast du dem Jungen zu verstehen gegeben, daß du ihn beobachtet hast?«

»Nein. Ich bin dann den Flur entlanggegangen, bis ich auf Cicero und Rufus gestoßen bin, die mit Caecilia im Garten saßen und allesamt sehr ernste Gesichter machten. Tiro kam wenig später hinzu und sah aus, als sei ihm das Ganze angemessen peinlich. Cicero hat nichts gesagt. Niemand hat Verdacht geschöpft.«

»Natürlich nicht. Sie glauben, sie wissen so viel und er, der er nur ein Sklave ist, weiß so wenig. Du wärst überrascht, was Sklaven so alles anstellen können, ohne erwischt zu werden.«

Eine Strähne ihres Haares fiel auf meine Wange, und ich atmete den Duft von Henna und Kräutern ein. »Wäre ich wirklich überrascht, Bethesda?«

»Nein. Du nicht. Dich überrascht gar nichts.«

»Weil ich von Natur aus argwöhnisch bin. Den Göttern sei Dank dafür.« Bast schnurrte laut an meinen Füßen. Ich lehnte meine Schulter gegen Bethesdas Hüfte.

»So müde«, sagte sie sanft. »Soll ich dir etwas Vorsingen?« »Ja, Bethesda, sing etwas Leises und Beruhigendes. Sing etwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe.«

Ihre Stimme war wie ein stilles Wasser, rein und tief. Ich hatte das Lied nie zuvor gehört, und obwohl ich kein Wort verstand, wußte ich, daß es ein Wiegenlied sein mußte. Vielleicht war es ein Lied, das ihre Mutter ihr vorgesungen hatte. Ich lag halb träumend in ihrem Schoß, während Bilder grausamster Gewalttaten harmlos vor meinem inneren Auge vorüberzogen. Die Bilder waren ungewöhnlich lebhaft und gleichzeitig irgendwie weit weg, als ob ich sie durch eine dicke Scheibe getönten Glases sehen würde. Ich sah die betrunkenen Gladiatoren und die Einbalsamierer und die Messerstecherei, die sich am Morgen auf der Straße ereignet hatte. Und ich sah Tiros vor Erregung gerötetes Gesicht. Ich sah einen alten Mann, der in irgendeiner Gasse von Banditen überfallen wurde, die wieder und wieder auf ihn einstachen. Ich sah einen nackten gefesselten Mann, der ausgepeitscht, mit Exkrementen beworfen und mit Tieren in einen Sack eingenäht wurde, um lebendigen Leibes in den Tiber geworfen zu werden.

Irgendwann war das Wiegenlied zu Ende und ging in ein anderes Lied über, das ich schon oft gehört hatte, ohne die Worte je verstanden zu haben. Es war eines der Lieder, die Bethesda sang, um mich zu erregen, und während sie sang, spürte ich an den Bewegungen ihres Körpers, daß sie ihr Gewand abgelegt hatte, und ich roch den starken Moschusduft ihrer nackten Haut. Sie erhob sich, stieg über mich und legte sich dann eng neben mich auf das Sofa. Sie schob meine Tunika bis zu den Hüften hoch, genau wie die Tochter von Sextus Roscius es bei Tiro getan hatte. Ich hielt meine Augen die ganze Zeit geschlossen, selbst als sie sich nach unten beugte und mich in den Mund nahm, selbst als ich sie wieder nach oben zog, auf sie rollte und in sie drang. Ich umarmte Bethesdas Körper, aber hinter meinen geschlossenen Augen sah ich das Mädchen, das nackt und vom Samen eines Sklaven besudelt vor mir stand.

Wir blieben lange Zeit regungslos liegen, die Körper von Hitze und Schweiß vereint, als ob unser Fleisch schmelzen und ineinanderfließen könnte. Bast, die irgendwann geflohen war, kehrte zurück und bettete sich schnurrend auf unsere miteinander verflochtenen Beine. Ich hörte ein Donnergrollen und glaubte, nur geträumt zu haben, bis einige Spritzer warmen Regens, der vom Garten hereingeweht war, auf meine Haut fielen. Die Fackel flackerte und verlosch. Erneut donnerte es, Bethesda kuschelte sich enger an mich und murmelte irgend etwas in ihrer Geheimsprache. Der Regen fiel in fetten Tropfen gerade vom Himmel, platschte auf Dachziegel und Pflastersteine, ein langer, stetiger Guß, kräftig genug, die übelriechendsten Abflüsse und Straßen Roms sauberzuspülen, läuternder Regen, der, wie die Poeten und

Priester beschwören, von den Göttern gesandt wird, um Väter wie Söhne von ihren Sünden reinzuwaschen.

9

Am nächsten Morgen stand ich früh auf und wusch mich in dem Brunnen im Garten. Der ausgetrocknete Boden war vom Regen der Nacht aufgeweicht und feucht. Dicker Tau überzog die Pflanzen. Der Himmel glänzte matt wie eine milchige Perle mit einem Tupfer Koralle und schimmerte wie das Innere einer Muschel. Ich beobachtete, wie die farbige Glasur sich in Dunst auflöste und die Farbe des Himmels unmerklich in ein richtiges Blau überging, wolkenlos in gleißendes Licht getaucht, ein Vorbote der heraufziehenden Hitze. Ich zog meine leichte Tunika und meine sauberste Toga an und aß einen Happen Brot. Ich ließ Bethesda auf dem Sofa schlafen. Sie hatte sich zum Schutz gegen den noch immer kühlen Morgen in ihr Gewand gewickelt, und Bast hatte sich um ihren Hals gelegt wie ein Kragen aus schwarzem Fell.

Schnellen Schritts ging ich zu Ciceros Haus. Wir hatten am Abend zuvor verabredet, daß ich auf meinem Weg zum Schauplatz des Mordes an Sextus Roscius bei ihm vorbeischauen würde. Aber als ich bei Cicero eintraf, ließ er mir durch Tiro mitteilen, daß er nicht vor Mittag aufstehen würde. Er litt unter akuten Verdauungsstörungen und machte eine Backpflaume, die er entgegen seiner strengen Diät bei Caecilia Metella gegessen hatte, für seine vorübergehende Unpäßlichkeit verantwortlich. Freundlicherweise bot er mir Tiros Dienste für den Tag an.

Die Straße glänzte nach dem Regenguß, und die Luft roch sauber und wie frisch gewaschen, als wir aufbrachen. Nachdem wir den Fuß des Kapitolinischen Hügels erreicht, die Porta Fontinalis passiert und das Viertel des Circus Flaminius betreten hatten, machte die Hitze des Tages bereits wieder erste Ansprüche auf die Macht über die Stadt geltend. Die Pflastersteine begannen zu dampfen. Die Mauern fingen an zu schwitzen und Feuchtigkeit abzusondern. Der frische Morgen wurde langsam schwül und stickig.

Ich wischte mir mit dem Saum meiner Toga die Stirn und verfluchte die Hitze. Ich warf einen Seitenblick auf Tiro und sah, daß er lächelte und mit einem dümmlichen Blick stur geradeaus stierte. Ich konnte mir vorstellen, warum er so gut gelaunt war, sagte aber nichts.

Um den gesamten Circus Flaminius herum spannt sich ein Netz labyrinthartiger Straßen. In der Nähe des Circus, vor allem direkt gegenüber dem langgezogenen Gebäude, wo der meiste Verkehr durchkommt, wimmelt es von Geschäften, Tavernen, Bordellen und Gasthäusern. Die Straßenzüge, die den Rand des Viertels markieren, sind mit zwei- und dreistöckigen Gebäuden zugebaut, von denen viele die engen Straßen überragen und das Sonnenlicht verdecken. Eine Straße sieht ziemlich genauso aus wie die andere, ein Mischmasch sämtlicher Architekturstile und Preisklassen. Bei der Häufigkeit von Bränden und Erdbeben wird Rom praktisch permanent neu erbaut; mit dem Wachstum der Bevölkerung sind ganze Straßenzüge in die Hand großer Grundstücks- und Hauseigentümer gekommen, wobei sich die jüngsten Gebäude in aller Regel durch die ärmlichste Architektur und Bauweise auszeichnen. Manchmal stößt man auf ehrwürdige Backsteinhäuser, die ein Jahrhundert von Katastrophen unbeschadet überstanden haben, umgeben von baufälligen Mietshäusern ohne jede Verzierung, die aussehen, als seien sie lediglich aus Lehm und Stöcken gebaut. Unter Sulla war das alles natürlich nur noch schlimmer geworden.

Wir folgten dem Weg, den Sextus Roscius uns erklärt und den der junge Messala niedergeschrieben hatte. Rufus’ Aufzeichnungen waren eine kaum lesbare Katastrophe. Ich sagte zu Tiro, es sei bedauerlich, daß er anderweitig beschäftigt und daher nicht in der Lage gewesen sei, die Notizen in seiner klaren, sauberen Handschrift niederzulegen. »Als Adliger hat sich Rufus natürlich nie die Mühe gemacht, ordentlich schreiben zu lernen, zumindest nicht so, daß irgend jemand anders es lesen könnte, während du ein bemerkenswertes Talent darin zu haben scheinst, deinen Griffel zu führen. « Die Bemerkung sollte so beiläufig wie möglich klingen, doch ich registrierte lächelnd, wie Tiro errötete.

Ich war mir sicher, daß wir auf dem richtigen Weg waren, denn er führte uns durch breite Straßen und unter Vermeidung engerer und gefährlicherer Abkürzungen auf natürlichem Weg von Caecilias Haus in die Nähe des Circus. Wir kamen an etlichen Tavernen vorbei, bei denen Sextus Roscius jedoch wahrscheinlich nicht haltgemacht hatte, zumindest nicht in jener Nacht, nicht, wenn er es so eilig gehabt hatte, den Absender der geheimnisvollen Botschaft zu erreichen.

Wir kamen auf einen breiten, sonnenüberfluteten Platz. Die Läden lagen der zentralen Zisterne zugewandt, zu der die Anwohner kamen, um ihr tägliches Wasser zu zapfen. Eine große Frau mit breiten Schultern in schmuddeligen Gewändern schien die selbsternannte Herrin der Zisterne zu sein und die kurze Schlange von Sklaven und Hausfrauen zu regulieren, die tratschend umherstanden und darauf warteten, an die Reihe zu kommen. Einer der Sklaven warf einen halbvollen Eimer Wasser in Richtung einer zerlumpten Rasselbande, die in der Nähe herumlungerte. Die Kinder kreischten vergnügt auf und schüttelten sich wie Hunde.

»Hier durch«, sagte Tiro. Er studierte die Wegbeschreibung und runzelte die Stirn. »Glaube ich zumindest.«

»Ja, daran kann ich mich noch erinnern: ein schmaler Durchgang zwischen einem Weinladen und einem hohen, rotgetünchten Mietshaus.« Ich überblickte den asymmetrischen Platz und die sechs einmündenden Straßen. Die Gasse, die der alte Sextus in jener Nacht genommen hatte, war die engste von allen und wegen einer scharfen Biegung nach wenigen Metern die am wenigsten einsehbare. Vielleicht war es der kürzeste Weg zu der Frau namens Elena. Vielleicht war es der einzige Weg.

Ich sah mich um und entdeckte einen Mann, der den Platz überquerte. Ich hielt ihn für einen kleinen Kaufmann oder Ladenbesitzer, ein Mann von einigem Vermögen, jedoch keineswegs reich, wenn man nach seinen abgetragenen, aber solide verarbeiteten Schuhen ging. An seinem entspannten Gang und der Art, wie er sich auf dem Platz umsah, ohne offenbar etwas wahrzunehmen, schloß ich, daß es sich um einen Anwohner handeln mußte, der oft, wenn nicht täglich hier vorbeikam. Neben der öffentlichen Sonnenuhr, die auf einem kleinen Sockel aufgestellt war, blieb er stehen, runzelte die Stirn und verzog die Nase. Ich trat zu ihm.

»Verflucht sei der«, zitierte ich, »der die Stunden erfunden und die erste Sonnenuhr in Rom aufgestellt!«

»Ah!« Er blickte mit einem breiten Lächeln auf und nahm den Refrain sofort auf. »Erbarmen, Erbarmen! Man hat meinen Tag zerstückelt wie die Zähne eines Kamms!«

»Oh, du kennst das Stück«, begann ich, aber er ließ sich nicht unterbrechen.

»Als ich klein war, war mein Magen meine Uhr und führte mich nie in die Irre; doch heute gibt es nichts zu essen, selbst wenn die Tische überquellen, bis die Schatten länger werden. Es ist die Sonnenuhr, die Rom regiert; die Römer hungern und dursten derweil!«

Wir lachten leise. »Bürger«, sagte ich, »kennst du dich in diesem Viertel aus?«

»Aber sicher. Ich lebe schon seit Jahren hier.«

»Dann kannst du mir sicher helfen. Zwar leide ich weder Hunger noch Durst, doch es gibt ein anderes Bedürfnis, das ich zu befriedigen suche. Ich bin ein Liebhaber von Vögeln.«

»Vögel? Hier gibt es nur Tauben. Zu sehnig für meinen Geschmack.« Er lächelte und gab den Blick auf eine Zahnlücke frei.

»Ich dachte an eleganteres Geflügel. Daheim zu Wasser, zu Lande oder am Himmel. Ein Freund eines Freundes hat mir erzählt, daß es hier in der Gegend Schwäne gibt.«

Er begriff sofort. »Das Haus der Schwäne, meinst du.«

Ich nickte.

»Einfach nur diese Straße entlang.« Er wies auf die Lücke zwischen dem Weinladen und dem roten Mietshaus.

»Führt mich vielleicht eine der anderen Straßen genauso bequem dorthin?«

»Nicht, wenn du nicht doppelt so lange wie nötig laufen willst. Nein, diese Straße ist der einzig praktische Weg. Es ist ein einzelner Häuserblock, von dem nur ein paar Sackgassen abgehen. Und der Spaziergang lohnt sich bestimmt«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

»Das will ich hoffen. Komm, Tiro.« Wir wandten uns der engen Straße zu. Man konnte sie nur ein kleines Stück einsehen. Die Gebäude zu beiden Seiten waren hoch. Selbst im hellen Morgenlicht schienen sich die Wände um uns zu schließen, feucht und modrig, eine düstere Seite aus Backstein und Mörtel.

Die Gebäude, die die Straße säumten, waren hauptsächlich langgezogene Mietshäuser, von denen die meisten nur eine Tür und keine Fenster im Erdgeschoß hatten, so daß wir lange an nackten Wänden entlangliefen. Alle fünfzig Schritte waren Nischen in die Mauer eingelassen, in denen noch immer die Überreste der Fackeln der letzten Nacht glommen. Unter jeder Fackel war eine kleine Steinplatte angebracht, auf der die groben Umrisse eines Schwans eingraviert waren, die primitive Arbeit eines billigen Kunsthandwerkers. Die Kacheln waren Reklametafeln. Die Fackeln sollten die nächtliche Klientel zum Haus der Schwäne geleiten.

»Wir müssen bald da sein«, sagte Tiro und blickte von dem Wachstäfelchen auf. »Wir haben bereits eine nach links abgehende Straße passiert und kommen jetzt zu einer weiteren nach rechts. Laut Rufus’ Wegbeschreibung hat Sextus Roscius mitten auf der Straße einen großen Blutfleck gefunden. Aber nach der langen Zeit kann man wohl nicht davon ausgehen, daß er noch immer -«

Tiro kam nicht mehr dazu, die Frage zu beenden. Statt dessen brach seine Stimme beim letzten Wort, als er nach unten blickte und abrupt stehenblieb. »Hier«, flüsterte er und schluckte vernehmlich.

Der Körper eines Menschen enthält viel Blut. Auch sind die Pflastersteine porös und die Abflüsse der meisten römischen Straßen nicht der Rede wert, vor allem in den niedrig gelegenen Vierteln. Zudem hatte es in jenem Winter nur wenig geregnet. Trotzdem mußte der alte Sextus Roscius eine ganze Zeitlang stark blutend mitten auf der Straße gelegen haben, um einen derart großen und unauslöschlichen Fleck zu hinterlassen.

Der Fleck war fast völlig rund, und sein Durchmesser entsprach der Armlänge eines großen Mannes. Zu den Rändern hin war er ausgebleicht und verwischt und ging unmerklich in den allgemeinen Schmutz über. Aber zur Mitte hin war er noch immer recht ausgeprägt, ein sehr dunkles, fast schwarzes Rot. Die täglich vorüberlaufenden Füße hatten die Oberfläche der Steine wieder zu ihrer üblichen öligen Glätte abgeschliffen, aber als ich mich niederkniete, um einen genaueren Blick auf die Stelle zu werfen, konnte ich in den Spalten noch immer winzige, vertrocknete Partikel geronnenen Blutes entdecken.

Ich blickte nach oben. Selbst von der Mitte der Straße war es nur aus einem extrem schrägen Winkel möglich, eines der Fenster im ersten Stock zu sehen. Umgekehrt hätte man sich weit über den Sims lehnen müssen, um aus den Fenstern auf die Straße zu blicken.

Die nächste Tür war wenige Meter die Straße hinauf, der Eingang zu dem langgezogenen Mietshaus zu unserer Linken. Die Mauer auf der rechten Seite war genauso nichtssagend mit Ausnahme eines kleinen Lebensmittelladens an der Ecke, wo die Straße sich mit einer schmalen Sackgasse kreuzte. Der Laden war noch nicht offen. Die gesamte Vorderseite bestand aus einer durchgehenden, sehr hohen und sehr breiten blaßgelb getünchten Holztür, die oben mit verschiedenen Hieroglyphen für Getreide, Gemüse und Gewürze verziert war. Viel weiter unten in einer Ecke der Tür entdeckte ich eine weitere Markierung, die meinen Atem stocken ließ.

»Sieh dir das an, Tiro!« Ich eilte zurück und hockte mich neben die Tür. Von Hüfthöhe abwärts war das Holz mit einem Schmutz- und Staubfilm überzogen, der zum Boden hin in eine immer dicker werdende Dreckschicht überging. Trotzdem konnte man den Handabdruck in Kniehöhe noch recht deutlich erkennen. Ich legte meine Hand darauf und verspürte ein eigenartiges Schaudern, als mir ohne jeden Zweifel klar wurde, daß ich einen blutigen Handabdruck berührte, den Sextus Roscius vor Monaten hier hinterlassen hatte.

Tiro blickte erst auf den Handabdruck, dann auf den Fleck auf der Straße. »Sie sind recht weit voneinander entfernt«, flüsterte er.

»Ja. Aber dieser Fleck war zuerst da.« Ich stand auf und ging an der Tür vorbei bis zur Ecke. Die kleine, enge Abzweigung war überhaupt keine Straße oder, wenn sie es je gewesen war, zumindest jetzt mit einer soliden, zwei Stockwerke hohen Mauer zugemauert. Der Zwischenraum bis zur Ecke war vielleicht sieben oder acht Meter lang und keine zwei Meter breit. Am Ende hatte jemand Müll verbrannt; Abfall- und Knochenreste ragten aus einem hüfthohen Haufen weißer und grauer Asche. Hier hinaus lagen keine Fenster, weder von den Mauern zur Linken und Rechten noch von dem Mietshaus gegenüber. Die nächste Fackel war mindestens vierzig Schritte entfernt aufgestellt. In der Nacht würde die kleine Sackgasse völlig im Dunkeln liegen und erst dann eingesehen werden können, wenn man sie direkt passierte -ein perfekter Ort für einen Hinterhalt.

»Hier haben sie gewartet, Tiro, genau an dieser Stelle, in dieser Einbuchtung, weil sie wußten, daß er auf dem Weg zu dieser Elena, die ihn benachrichtigt hatte, hier vorbeikommen würde. Wahrscheinlich haben sie gewußt, wie er aussah, gut genug, um ihn im Licht der Fackeln seiner Sklaven zu erkennen. Sie haben keinen Moment gezögert, sich an dieser Ecke auf ihn zu stürzen und auf ihn einzustechen.«

Ich ging langsam zu dem Handabdruck. »Die erste Verletzung muß eine Brust- oder Bauchwunde gewesen sein - ich vermute, sie haben ihm direkt ins Gesicht geblickt, um sicherzugehen -, denn er konnte sie mühelos mit der Hand berühren, hineinpacken, sich die ganze Hand mit Blut beschmieren. Irgendwie riß er sich los. Vielleicht hat er geglaubt, diese Tür aufstoßen zu können, aber er muß auf die Knie gefallen sein - du siehst ja, wie niedrig der Abdruck ist.« Ich warf einen Blick auf die Straße hoch. »Aber das eigentliche Gemetzel hat dort, mitten auf der Straße stattgefunden. Irgendwie hat er sich noch einmal auf die Füße gerappelt und ist bis dorthin getaumelt, bevor sie ihn zu Boden streckten.«

»Vielleicht haben die Sklaven versucht, die Angreifer abzuwehren«, sagte Tiro.

»Vielleicht«, sagte ich, obwohl ich mir gut vorstellen konnte, daß sie beim ersten Blitzen von Stahl in blinder Panik davongestoben waren.

Ich bückte mich erneut, um den Handabdruck zu untersuchen. Plötzlich begann die hohe und breite Tür zu zittern, sprang auf und traf mich voll auf die Nase.

»Hey, was ist denn das?« vernahm ich eine Stimme von drinnen. »Schon wieder ein Strolch, der vor meinem Laden schläft? Ich laß dich verprügeln. Los, verschwinde, laß mich die Tür aufmachen!«

Die Tür rumpelte erneut. Ich blockierte sie mit dem Fuß, bis ich aufgestanden und zur Seite getreten war.

Ein knorriges Gesicht lugte dahinter hervor. »Verschwinde, hab ich gesagt!« knurrte der Mann. Die Tür schwang in den Angeln zitternd in weitem Bogen auf und schlug gegen die Mauer auf der anderen Seite der Sackgasse, so daß der kleine Gang, in dem die Mörder sich versteckt hatten, völlig versperrt war.

»Oh, doch kein Strolch«, murmelte der alte Mann und musterte mich von oben bis unten. Ich rieb mir noch immer die Nase. »Ich bitte um Verzeihung.« Seiner Stimme war keine Andeutung von Freundlichkeit oder Bedauern anzuhören.

»Ist das dein Laden?«

»Sicher ist das mein Laden. Seit mein Vater gestorben ist, und das war wahrscheinlich lange vor deiner Geburt. Davor hat er seinem Vater gehört.« Er blinzelte in die Sonne und schüttelte wie angeekelt ob so viel Helligkeit den Kopf, bevor er zurück in den Laden schlurfte.

»Du machst erst jetzt deinen Laden auf«, sagte ich, ihm nach drinnen folgend. »Das kommt mir reichlich spät vor.«

»Das ist mein Laden. Ich fange an, wenn ich soweit bin.«

»Wenn er soweit istl« kreischte eine Stimme vor einer Ladentheke im hinteren Teil. Der lange Raum lag im Dunkel. Nach dem blendenden Licht auf der Straße starrte ich wie ein Blinder in die Finsternis. »Wenn er soweit ist, sagt er!

Wenn ich ihn endlich dazu bringen kann, aufzustehen und sich anzuziehen, heißt das. Wenn ich soweit bin, könnte er genausogut sagen. Eines Tages werde ich mir auch nicht mehr die Mühe machen, aus dem Bett zu steigen, und statt dessen einfach nur rumliegen wie er, und was soll dann werden?«

»Halt’s Maul, Alte!« Der Mann stieß gegen einen flachen Tisch, ein Korb stürzte um, und getrocknete Oliven wurden über den ganzen Boden verteilt. Tiro trat vor und begann, sie einzusammeln.

»Wer ist das?« fragte der alte Mann, sich vorbeugend und blinzelnd. »Dein Sklave?«

»Nein.«

»Na ja, benimmt sich jedenfalls wie ein Sklave. Du willst ihn nicht vielleicht verkaufen?«

»Ich hab dir doch gesagt, er ist nicht mein Sklave.«

Der Alte zuckte die Schultern. »Wir hatten auch mal einen Sklaven. Bis mein dummer Sohn den faulen Hund freigelassen hat. Er hat früher immer morgens den Laden aufgemacht. Was ist schon Schlimmes dabei, wenn ein alter Mann gerne ausschläft, solange er einen Sklaven hat, der den Laden für ihn aufmacht? Er hat auch nicht viel gestohlen, selbst wenn er ein fauler Hund war. Eigentlich sollte er immer noch hier sein, Sklave oder nicht. Ein Freigelassener hat gewisse Verpflichtungen gegenüber demjenigen, der ihn freigelassen hat, das weiß doch jeder, gesetzliche Verpflichtungen, jawohl, Sklave oder nicht, und im Moment brauchen wir ihn. Statt dessen treibt er sich irgendwo in Apulia herum und hat sich eine Frau genommen. Gib ihnen die Freiheit und das erste, was ihnen einfällt, ist loszuziehen und Nachwuchs in die Welt zu setzen wie anständige Leute auch. Er hat den Laden immer aufgemacht. Hat auch nicht viel gestohlen.«

Während er so weiterleierte, gewöhnten sich meine Augen langsam an die Dunkelheit. Der Laden befand sich in einem Zustand fortgeschrittenen Verfalls, staubig und ungefegt.

Die runzligen, schwarzen Oliven, die Tiro wieder eingesammelt hatte, waren mit Staub bedeckt. Ich hob den Deckel einer tönernen Urne und nahm mir eine getrocknete Feige. Das Fruchtfleisch war mit grauem Schimmel überzogen. Der ganze Raum war vom muffigen Gestank eines lange leerstehenden Hauses erfüllt, vermischt mit dem süßsauren Geruch verfaulter Früchte.

»Woher willst du das denn wissen?« krähte eine schrille Stimme aus dem hinteren Teil des Ladens. Ich konnte die Frau jetzt deutlicher erkennen. Sie trug ein schwarzes Kopftuch und schien irgend etwas mit einem Messer kleinzuhacken, so daß sie jeden Satz mit einem scharfen Hieb auf den Tresen unterstrich. »Du weißt doch gar nichts, Alter, oder du kannst dich nicht mehr daran erinnern. Dein Kopf ist doch wie ein Sieb. Dieser Nichtsnutz von Gallius hat dauernd geklaut. Ich hätte ihm wegen Diebstahl die Hände abhacken lassen, aber wem hätte das etwas genutzt? Einen Sklaven ohne Hände kann man nicht verkaufen, und einen Dieb will auch niemand haben, außer die Minen und die Galeeren, und totes Fleisch bringt nichts ein, wie man sagt. Er war nicht gut für uns. Ohne jemand wie ihn sind wir besser dran.«

Der Mann wandte sich langsam wieder mir zu und zog eine Grimasse hinter dem Rücken der Frau. »Tja, bist du nun hier, um etwas zu kaufen, oder willst du dir anhören, wie eine alte Frau Unsinn redet?«

Ich sah mich nach etwas halbwegs Eßbarem um. »Eigentlich waren es die Zeichen an deiner Tür, die meine Aufmerksamkeit erregt haben. Die kleinen Symbole für Früchte, Getreide...«

»Ah, die hat auch Gallius gemacht. Kurz bevor mein Sohn ihn freigelassen hat. Er war ein talentierter Sklave, selbst wenn er faul war. Und er hat praktisch nie etwas gestohlen.«

»Ein Zeichen ist mir besonders aufgefallen. Es ist anders als die übrigen. Ganz unten auf der Tür - der Handabdruck.«

Sein Gesicht wurde hart. »Den hat Gallius nicht gemalt.«

»Das hab ich auch nicht angenommen. Es sieht fast aus wie Blut.«

»Das ist es auch.«

»Alter, du redest zuviel«, knurrte die Frau und hieb ihr Messer auf den Tresen. »Manche Dinge kann man sehen, aber man sollte nicht darüber reden.«

»Halt’s Maul, Alte! Ich hätte es doch schon lange abwaschen lassen, aber du wolltest ja, daß es dran bleibt, und solange es noch da ist, ist es auch nicht verwunderlich, daß die Leute es bemerken.«

»Wie lange ist es denn schon da?«

»Oh, seit Monaten. Seit letztem September, glaub ich.«

Ich nickte. »Und wie -«

»Ein Mann ist mitten auf der Straße ermordet worden, ein reicher Mann, wie ich gehört habe. Stell dir das vor, direkt vor meinem Laden erstochen.«

»Im Dunkeln?«

»Natürlich - sonst wäre die Tür doch offen gewesen, oder nicht? Bei Herkules - stell dir vor, er wäre hier hereingewankt, als der Laden noch auf war! Der Klatsch und der Ärger hätten kein Ende mehr genommen.«

»Alter, du weißt doch gar nichts über die Sache, also warum bist du nicht einfach still? Frag den werten Herrn, ob er etwas kaufen möchte.« Die Frau hielt den Kopf weiter gesenkt und starrte mich wie ein Stier unter ihren buschigen Augenbrauen an.

»Natürlich weiß ich, daß ein Mann umgebracht wurde, wenn du nichts dagegen hast«, bellte der Alte sie an.

»Wir haben nichts gesehen und nichts gehört. Nur den Tratsch am nächsten Morgen.«

»Tratsch?« fragte ich. »Dann hat es also im Viertel Gerede gegeben. Stammte der Tote von hier?«

»Nicht daß ich wüßte«, sagte der Mann. »Es heißt nur, daß ein paar Stammkunden der Schwäne dabei waren, als man am nächsten Morgen seine Leiche umdrehte, und die sollen sein Gesicht erkannt haben.«

»Die Schwäne?«

»Ein Vergnügungslokal für Männer. Ich selbst weiß nichts weiter darüber.« Er rollte mit den Augen, wies verstohlen auf seine Frau und senkte die Stimme. »Obwohl mein Junge mir ein paar ziemlich wilde Geschichten über den Laden erzählt hat.«

Das Messer sauste mit besonderer Grimmigkeit auf den Tresen nieder.

»Es ist jedenfalls irgendwann passiert, nachdem wir den Laden abgeschlossen hatten und nach oben ins Bett gegangen waren.«

»Und du hast gar nichts gehört? Man sollte doch annehmen, daß es Schreie oder andere Geräusche gegeben hat.«

Der Mann wollte antworten, aber seine Frau unterbrach ihn. »Unsere Zimmer liegen nach hinten hinaus. Wir haben kein Fenster zur Straße. Was interessiert dich das eigentlich so?«

Ich zuckte die Schulter. »Ich bin nur vorbeigekommen und habe den Handabdruck bemerkt.«

»Meine Frau«, sagte der Mann mit Leidensmiene. »Abergläubisch wie die meisten Frauen.«

Das Messer sauste nach unten. »Ich hab ihn aus einem ganz praktischen Grund dran gelassen. Hatten wir irgendwelche Diebstähle, seit es passiert ist? Na?«

Der alte Mann verzog den Mund. »Sie glaubt, es würde bei Nacht die Diebe abschrecken. Ich hab ihr gesagt, daß es wahrscheinlich eher die Kunden abhält.«

»Wenn die Tür offen ist, kann man es ja nicht sehen, weil es auf der Rückseite ist. Nur bei geschlossener Tür kann man es von der Straße aus sehen, und dann brauchen wir schließlich Schutz. Du nennst mich abergläubisch? Ein gewöhnlicher Verbrecher wird es sich zweimal überlegen, bevor er einen Laden mit einem blutigen Handabdruck am Eingang ausraubt. Man schlägt einem Dieb die Hände ab, weißt du. Das macht Eindruck, das sag ich dir aber. Wenn wir es uns selbst ausgedacht hätten und es etwas anderes als Blut gewesen wäre, wäre es ohne Bedeutung, kein Schutz, gar nichts. Aber der Abdruck eines Sterbenden, der hat schon eine gewisse Macht. Frag den Fremden hier. Er hat es auch gespürt, oder nicht?

»Ich hab es gespürt!« Es war der hinter mir stehende Tiro. Drei Augenpaare wandten sich ihm zu und sahen, wie sein Gesicht tomatenrot anlief.

»Du bist sicher, daß du ihn nicht verkaufen willst?« fragte der alte Mann, und sein Atem ging auf einmal pfeifend.

»Ich hab dir doch schon gesagt -«

»Eine Macht!« kreischte die alte Frau.

»Sag mir: Wer hat den Mord gesehen? Es muß doch Klatsch gegeben haben. Tagein, tagaus kommen die Leute in deinen Laden. Wenn tatsächlich jemand Zeuge dieses Mordes war, müßtest du das doch wissen.«

Der Alte atmete plötzlich wieder normal. Er starrte mich lange an und wandte sich dann seiner Frau zu. Soweit ich es erkennen konnte, starrte sie ihn nur wütend an, aber vielleicht hatte sie ihm auch ein unmerkliches Zeichen gegeben, das meinen Augen entgangen war, denn als er sich erneut umdrehte, schien er die widerwillige Erlaubnis zum Reden erteilt bekommen zu haben.

»Es gibt eine Person... eine Frau. Sie lebt in dem Mietshaus gegenüber. Ihr Name ist Polia. Eine junge Frau, eine Witwe. Sie lebt allein mit ihrem Sohn, einem kleinen stummen Jungen. Mir ist, als hätte ein anderer Kunde gesagt, daß Polia direkt danach mit jedem über den Mord geredet hätte und wie sie ihn mit eigenen Augen von ihrem Fenster aus gesehen habe. Natürlich hab ich sie danach gefragt, als die beiden das nächste Mal in meinen Laden kamen. Und weißt du was? Sie wollte kein Wort darüber verlieren, wurde so stumm wie der Junge. Sie sagte nur, ich solle sie nie wieder danach fragen und niemandem irgend etwas erzählen, das möglicherweise...« Er biß mit einem schuldbewußten Zucken die Zähne aufeinander.

»Nur noch eins«, sagte ich, während ich die getrockneten Feigen nach einigen eßbaren Exemplaren durchwühlte, »mag der kleine stumme Junge Feigen? Tiro, gib dem Mann eine Münze aus meiner Börse.«

Tiro, der meinen Beutel über seiner Schulter getragen hatte, griff hinein und zog ein Kupferstück hervor. »Oh, nein, mehr als ein As, Tiro. Gib dem Mann eine Sesterze und sag ihm, er soll das Wechselgeld behalten. Schließlich zahlt dein Herr meine Spesen.«

Der alte Mann nahm die Münze entgegen und beäugte sie mißtrauisch. Hinter ihm konnte ich seine Frau sehen, die mit einem Ausdruck grimmiger Befriedigung weiter auf den Tresen einhieb.

»So ein stiller Sklave mit so guten Manieren. Und du bist völlig sicher, daß du ihn mir nicht vielleicht doch verkaufen willst?«

Ich lächelte nur und machte Tiro ein Zeichen, mir zu folgen. Bevor ich nach draußen trat, wandte ich mich noch einmal um. »Wenn dein Sohn euren einzigen Sklaven unbedingt verkaufen mußte, warum ist er dann nicht hier, um euch selbst zu helfen?«

Sobald die Frage ausgesprochen war, wußte ich die Antwort. Ich biß mir auf die Unterlippe und wünschte, die Worte ungesagt machen zu können.

Die Frau schleuderte das Messer quer durch den Raum, wo es zitternd in einer Wand steckenblieb. Sie warf ihre Arme gen Himmel und stürzte sich kopfüber auf die Theke. Der alte Mann neigte den Kopf und rang seine Hände. Im düsteren Licht des verfallenen Ladens boten die beiden ein unheimliches Bild, eingefroren in einem plötzlichen Ausbruch von Trauer, der beinahe erschütternd und gleichzeitig fast komisch war.

»Die Kriege«, murmelte der Alte leise. »In den Kriegen gefallen ...«

Ich drehte mich um, legte meinen Arm um Tiro, der wie vom Donner gerührt dastand. Gemeinsam schlichen wir uns hinaus auf die sonnenbeschienene Straße.

10

Das Mietshaus gegenüber war von vergleichsweise neuer Bauart. Die fensterlose Fassade zur Straße war bisher nur mit einer bescheidenen Anzahl von Wahlslogans beschmiert worden (da Wahlen während der Diktatur Sullas zwar weiter stattfanden, jedoch ohne große Begeisterung). Häufiger waren es erlesen-zotige Kritzeleien, die, ihrem Inhalt nach zu urteilen, wahrscheinlich von zufriedenen Kunden aus dem Haus der Schwäne auf dem Heimweg hinterlassen worden waren. Ich sah, wie der junge Tiro seinen Kopf verrenkte, um einen der obszöneren Sprüche zu lesen und dann wie ein Schulmeister mißbilligend zu schnalzen. Mit einem Auge überflog auch ich die Litaneien, neugierig, ob ein bestimmter Name auftauchen würde; aber jene Elena, die Sextus Roscius herbeizitiert hatte, oder besondere Talente, über die sie möglicherweise verfügte, waren nicht erwähnt.

Ein kurzer Treppenabsatz führte zur Tür des Hauses, die in der morgendlichen Hitze offenstand. Von einem kleinen, kargen Vorraum gingen zwei Gänge nach links ab. Einer führte ins Treppenhaus. Der andere war ein dunkler Flur, der bis zum anderen Ende des Gebäudes führte und von zahlreichen Kammern gesäumt wurde, die von zerlumpten, nicht zueinander passenden Vorhängen verdeckt waren.

Am Ende des Gangs erhob sich ein großer, hagerer Mann von seinem Platz am Boden und kam auf uns zugetrottet, wobei er verstohlen links und rechts blickte und sein Kinn kratzte. Er war ein Wächter, wie es in jedem Mietshaus mindestens einen gibt, in größeren Gebäuden manchmal auch einen pro Etage - ein ansonsten arbeitsloser Mieter, der von seinen Hausgenossen oder dem Vermieter einen kleinen Obolus kassiert, um die Besitztümer der Mieter zu bewachen, die den Tag über außer Haus sind, und außerdem ein Auge auf Fremde und Besucher zu haben. Manchmal wird auch ein Sklave für diesen Dienst angestellt, aber dieses Haus sah kaum aus wie eines, in dem Sklavenbesitzer wohnten, außerdem erkannte ich auf den ersten Blick, daß er den eisernen Ring eines freien Römers trug.

»Bürger«, sagte er und blieb abrupt vor uns stehen. Er war sehr groß und mager mit angegrautem Bart und wirrem Blick.

»Bürger«, sagte ich ebenfalls. »Ich suche eine Frau.«

Er lächelte dümmlich. »Wer tut das nicht?«

»Eine Frau namens Polia.«

»Polia?«

»Ja. Sie wohnt im ersten Stock, glaube ich.«

»Polia«, wiederholte er und kratzte sein Kinn.

»Eine Witwe mit einem Jungen. Der Sohn ist stumm.«

Der Mann zuckte die Schultern, eine Geste, die völlig übertrieben wirkte. Gleichzeitig hielt er langsam seine rechte Hand auf.

»Tiro«, setzte ich an, aber Tiro war mir bereits zuvorgekommen. Er griff in die Ledertasche über seiner Schulter, zog ein paar Kupfermünzen hervor und zeigte sie mir. Ich nickte, machte ihm jedoch ein Zeichen, er solle noch warten. Derweil baute der hagere Riese sich vor uns auf und starrte mit unverhohlener Gier auf Tiros Faust.

»Es gibt also eine Frau namens Polia, die auch noch hier wohnt?« fragte ich.

Der Mann schürzte die Lippen und nickte dann. Ich neigte meinen Kopf zu Tiro, der ihm ein As gab.

»Und sie ist jetzt auf ihrem Zimmer?«

»Das weiß ich nicht genau. Eine aus den oberen Etagen. Hat eine Kammer mit Tür und allem Drum und Dran.«

»Eine verschlossene Tür?« - »Ach, ist nicht der Rede wert.«

»Dann werde ich mich oben auf der Treppe wahrscheinlich mit einem weiteren Wächter abgeben müssen, oder nicht? Vielleicht sollte ich die übrigen Münzen für ihn aufbewahren.« Ich wandte mich Richtung Treppe.

Der Riese hielt mich mit einem überraschend sanften Händedruck auf der Schulter zurück. »Du würdest dein Geld nur verschwenden. Er ist ein Nichtsnutz, trinkt schon nach dem Aufstehen den ersten Wein. Wahrscheinlich schläft er gerade mal wieder, bei der Hitze. Um ihn zu fragen, wo Polias Zimmer ist, müßtest du ihn bloß aufwecken. Das kann ich dir auch selbst zeigen, ihr müßt nur leise die Treppe hochgehen.«

Der Riese ging voran und nahm locker zwei Stufen auf einmal, wobei er übertriebenerweise auf Zehenspitzen ging und bei fast jedem Schritt das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Wie er vorhergesagt hatte, war der andere Wächter oben eingeschlafen. Es war ein runder, kleiner Mann, der mit ausgestreckten Pummelbeinchen gegen die Wand gelehnt saß, auf einem Knie ein Weinschlauch und zwischen die Beine ein Tongefäß geklemmt. Der Riese stieg behutsam über ihn hinweg und rümpfte die Nase.

Der schmale Flur war von den beiden kleinen Fenstern an jedem Ende nur schwach beleuchtet. Die Decke war so niedrig, daß unser Führer sich unter den niedrigsten Balken ducken mußte.

Wir folgten ihm bis zu einer Tür etwa in der Mitte des Flures und warteten, während er leise klopfte. Bei jedem Klopfen sah er sich nervös in Richtung des schlafenden Wächters auf dem Treppenabsatz um, und als Tiro einmal auf eine knarrende Diele trat, bedeutete er ihm mit beiden Händen, ruhig zu sein. Ich konnte nur annehmen, daß der kleine Säufer über Vergeltungsmöglichkeiten verfügte, die einem Fremden verborgen blieben.

Nach einer Weile öffnete sich die schmale Tür einen Finger breit. »Oh, du«, sagte die Frau. »Ich hab dir doch schon tausendmal gesagt, nein. Warum läßt du mich nicht einfach in Ruhe? Es muß noch mindestens fünfzig andere Frauen in diesem Haus geben.«

Der Riese sah mich an und wurde tatsächlich rot. »Ich bin nicht allein. Du hast Besuch«, zischte er.

»Besuch? Doch nicht etwa meine Mutter?«

»Nein. Ein Mann. Und sein Sklave.«

Ihr Atem stockte. »Nicht die, die schon mal hier waren.«

»Natürlich nicht. Sie stehen hier direkt neben mir.«

Die Tür ging ein Stück weiter auf, so daß man jetzt das ganze Gesicht der Witwe sehen konnte. In der Dunkelheit war außer zwei verängstigten Augen jedoch nicht viel zu erkennen. »Wer bist du?«

Am Ende des Flures rutschte der betrunkene Wächter unruhig hin und her, so daß das Tongefäß zwischen seinen Beinen umfiel. Es drehte sich und rollte auf die Stufen zu.

»Beim Herkules!« Der Riese keuchte und sprang dann auf Zehenspitzen zu dem Treppenabsatz. Als er ihn eben erreicht hatte, kullerte das Tongefäß über die Kante und begann mit lautem Gepolter die Stufen hinunterzurollen.

Der kleine Wächter war auf der Stelle hellwach. »Was ist los? Du!« Er rutschte nach vorn und kämpfte sich auf die Füße. Der Riese eilte bereits die Treppen hinab, seinen Kopf mit den Händen schützend, aber der Kleine war zu schnell für ihn. Blitzschnell hatte er sich eine Latte gepackt und drosch dem Riesen damit auf Schultern und Kopf, wobei er mit lauter Stimme kreischte: »Hast du wieder Fremde auf meine Etage gebracht! Mir meine Trinkgelder geklaut! Hab ich dich wieder erwischt! Du nutzloser Haufen Scheiße! Los, zieh ab, verschwinde, oder muß ich dich durchprügeln wie einen Hund?«

Der Anblick war absurd, mitleiderregend und peinlich. Tiro und ich mußten gleichzeitig lachen und hörten gleichermaßen abrupt wieder auf, als wir uns umdrehten und in das aschfarbene Gesicht der jungen Witwe blickten.

»Wer bist du? Und was willst du hier?« - »Mein Name ist Gordianus. Ich handle im Auftrag des hochgeschätzten Anwalts Marcus Tullius Cicero. Dies ist sein Sekretär Tiro. Ich möchte dir nur ein paar Fragen stellen betreffs eines gewissen Ereignisses im letzten September.«

Ihr Gesicht wurde noch blasser. »Ich wußte es. Frag mich nicht, wie, aber ich wußte es. Ich habe letzte Nacht davon geträumt... Aber ihr müßt wieder gehen. Ich kann im Moment mit niemandem reden.«

Ihr Gesicht verschwand hinter der Tür. Sie wollte sie zuschlagen, aber ich stellte meinen Fuß auf die Schwelle. Das Holz war so dünn und billig, daß es unter dem Druck knackte.

»Komm schon, laß mich doch rein. Da vorne an der Treppe lauert doch ein ganz beeindruckender Wachhund, ich höre ihn gerade wieder hochkommen. Ich bin überzeugt, daß du völlig sicher bist - du mußt nur schreien, wenn ich etwas Unschickliches tue.«

Die Tür schwang abrupt auf, aber es war nicht die Witwe, die vor uns stand. Es war ihr Sohn, und obwohl er höchstens acht Jahre alt sein konnte, sah er nicht eben klein aus, vor allem mit dem erhobenen Dolch in der rechten Hand.

»Nein, Eco, nein!« Die Frau packte den Arm des Jungen und zog ihn zurück. Er starrte mich weiter direkt an, ohne mit der Wimper zu zucken. Überall auf dem Flur gingen klappernd Türen auf. Der kleine Wächter, der die Treppe hinaufkam, lallte laut: »Was ist denn da los?«

»Oh, um Cybeles willen, kommt rein.« Der Frau gelang es, ihrem Sohn das Messer zu entreißen. Sie verriegelte rasch die Tür hinter uns.

Der Junge starrte mich weiter feindselig an. »Schnitz lieber an denen rum«, sagte ich, zog die Feigen aus der Tasche und warf sie ihm zu. Er fing sie alle mit einer Hand.

Das Zimmer war klein und eng wie die meisten Wohnungen in derartigen Häusern, aber es gab ein Fenster mit Läden und Platz auf dem Boden, wo zwei Personen schlafen konnten, ohne sich auch nur zu berühren.

»Lebt ihr allein hier?« fragte ich. »Nur ihr beiden?« Ich ließ meinen Blick über die wenigen Habseligkeiten wandern, die im Raum verteilt lagen: Kleidung zum Wechseln, ein kleiner Korb mit Schönheitsmitteln, ein paar Holzspielzeuge. Ihre Sachen, seine Sachen.

»Was geht dich das an?« Sie stand in der Ecke des Zimmers in der Nähe des Fensters, und der Junge stand vor ihr. Sie hatte einen Arm um ihn gelegt, um ihn zu liebkosen und gleichzeitig zurückzuhalten.

»Gar nichts«, sagte ich. »Hast du was dagegen, wenn ich mal aus deinem Fenster sehe? Du ahnst gar nicht, wie gut du es hast, einen Blick auf die Straße zu haben, oder doch?« Der Junge zuckte, als ich näher kam, aber die Frau hielt ihn fest.

»Es ist natürlich kein überwältigender Ausblick«, sagte ich, »aber die Straße ist nachts vermutlich recht ruhig, und frische Luft ist ein Segen.«

Die Fensterbank reichte mir bis zur Hüfte. Das Fenster war einen knappen halben Meter in die Mauer eingelassen, so daß es eine Art Sitzbank bildete; die Frau hatte ein dünnes Kissen darauf gelegt. Ich mußte mich weit Vorbeugen, um hinausblicken zu können. Wegen des Überhangs konnte ich die Außenmauer des Mietshauses selbst nicht sehen, aber ich hatte einen guten Blick auf den Eingang des kleinen Lebensmittelladens ein Stück weiter nach rechts gegenüber: Die alte Frau kehrte mit derselben Aggressivität, mit der sie auf das Hackbrett eingedroschen hatte, die Straße vor dem Laden. Direkt unter uns war der große Fleck von Sextus Roscius’ Blut, der sich aus dieser Entfernung deutlich von den Pflastersteinen abhob.

Ich klopfte auf das Kissen.

»Ist bestimmt ein gemütliches Plätzchen, vor allem an einem so heißen Tag wie heute. Muß auch im Herbst ganz nett sein, an warmen Abenden hier zu sitzen und die Passanten zu beobachten. In einer klaren Nacht kann man am Himmel bestimmt auch die Sterne erkennen.«

»Nach Anbruch der Dunkelheit halte ich die Läden geschlossen«, sagte sie, »egal wie das Wetter ist. Und auf die Leute auf der Straße achte ich schon gar nicht. Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten.«

»Du heißt doch Polia, nicht wahr?«

Sie ließ sich gegen die Wand sacken, packte den Jungen fester und fuhr ihm unbeholfen durchs Haar. Er verzog das Gesicht, sah zu ihr hoch und versuchte aufgeregt, ihren Arm wegzudrücken. »Ich kenne dich nicht. Woher weißt du meinen Namen?«

»Sag mir, Polia, die kluge Devise, dich um deine eigenen Angelegenheiten zu kümmern - seit wann genau befolgst du die? Schon immer, oder ist es ein jüngerer Vorsatz? Vielleicht etwas, was du, sagen wir, seit dem letzten September beherzigst?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Als der Wächter mich hochgeführt hat, hast du geglaubt, wir wären jemand anders.«

»Ich habe nur gefragt, ob es meine Mutter ist. Sie kommt dauernd her, um mich um Geld anzubetteln, und ich habe nichts mehr, was ich ihr geben könnte.«

»Nein, ich habe die Worte deutlich gehört. Er sagte, es sei ein Bürger und sein Sklave, und du sagtest: »Nicht die, die schon mal hier waren.< Die Vorstellung, sie noch einmal zu treffen, schien dich ziemlich aufzuregen.«

Das Gezappel des Jungen eskalierte in einen regelrechten Ringkampf. Sie packte ihn hart und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Kopf. »Warum verschwindet ihr nicht einfach wieder und laßt uns in Ruhe?«

»Weil ein Mann ermordet worden ist und ein anderer dafür sterben soll.«

»Was kümmert mich das?« fuhr sie mich an. Verbitterung verunstaltete, was noch von ihrer Schönheit übrig war. »Was hatte mein Mann verbrochen, als er an Fieber starb? Was hat er getan, daß er den Tod verdient? Das wissen nicht einmal die Götter. Denen ist es egal. Menschen sterben jeden Tag.«

»Dieser Tote ist im September direkt unter deinem Fenster erstochen worden. Ich glaube, du hast gesehen, wie es passiert ist.«

»Nein, und wie sollte ich mich auch an so etwas erinnern?« Die Frau und ihr Kind schienen bei ihrem Kampf in der Ecke einen seltsamen, zuckenden Tanz aufzuführen. Polias Atem ging mühsamer. Der Junge nahm seinen Blick die ganze Zeit nicht von mir.

»So etwas würdest du bestimmt nicht vergessen. Man kann sogar den Blutfleck noch erkennen, wenn man aus dem Fenster sieht. Das muß ich dir ja nicht sagen, oder?«

Plötzlich riß sich der Junge los. Ich zuckte zurück. Tiro trat vor mich, um mich abzuschirmen, aber das war gar nicht notwendig. Der Junge brach in Tränen aus und rannte aus dem Zimmer.

»Da, siehst du, was du angerichtet hast? Du hast mich dazu gebracht, seinen Vater zu erwähnen. Bloß weil Eco nicht sprechen kann, vergessen die Leute immer, daß er genausogut hört wie irgend jemand sonst. Es gab eine Zeit, da konnte er auch noch sprechen. Aber seit dem Tod seines Vaters hat er kein Wort mehr gesagt. Das Fieber hat sie beide erwischt. Und jetzt raus. Sonst hab ich euch nichts zu sagen. Verschwindet!«

Sie fuchtelte mit dem Messer herum, während sie sprach, und schien dann plötzlich zu bemerken, was sie in der Hand hatte. Sie hielt es ungelenk und mit zitternden Fingern auf uns gerichtet, und es sah so aus, als würde sie sich eher selbst verletzen als auf jemand einzustechen.

»Komm, Tiro«, sagte ich. »Für uns gibt es hier nichts weiter zu erfahren.«

Der kleine Wächter hatte seinen Weinschlauch wieder gefüllt und saß, den Wein schmatzend zwischen seine Lippen gießend, auf der oberen Treppenstufe. Er murmelte irgend etwas und streckte die Hand aus, als wir an ihm vorbeikamen. Ich schenkte ihm keine Beachtung. Der Wächter für das Erdgeschoß saß wieder da, wo wir ihn entdeckt hatten, auf dem Boden kauernd am Ende des Flures. Er schenkte uns keine Beachtung.

Auf der Straße war es unmenschlich heiß. Tiro stieg nur zögernd die letzten Stufen hinab. Er sah verdutzt aus.

»Was ist los?« fragte ich.

»Warum hast du ihr kein Geld angeboten? Wir wissen, daß sie Zeugin des Mordes war, der alte Mann hat es doch gesagt. Sie könnte das Silber bestimmt gut gebrauchen.«

»In meiner Börse ist nicht genug Geld, um sie zum Reden zu bringen. Hast du das nicht gesehen? Sie ist total verängstigt. Ich glaube ohnehin nicht, daß sie Geld angenommen hätte. Sie ist es nicht gewohnt, arm zu sein, zumindest nicht arm genug, um zu betteln. Noch nicht jedenfalls. Wer weiß, was für eine Geschichte sie zu erzählen hat?« Ich versuchte, möglichst hart zu klingen. »Und wen kümmert es schon? Was immer es sein mag, es gibt tausend andere Witwen in der Stadt, die die gleiche Geschichte erzählen könnten, und eine ist mitleiderregender als die andere. Für uns ist allein die Tatsache von Interesse, daß irgend jemand sie schon vor geraumer Zeit zum Schweigen gebracht hat. Sie nutzt uns nichts mehr.«

Ich hatte fast erwartet, daß Tiro mich zur Rede stellen würde, aber das war natürlich undenkbar. Er war ein Sklave, und ein sehr junger dazu, und hatte deshalb nicht bemerkt, wie völlig falsch ich die Frau behandelt hatte. Ich war mit ihr genauso rüde umgegangen wie mit dem Ladenbesitzer oder dem Wächter.

Vielleicht hätte sie geredet, wenn es mir gelungen wäre, in ihr eine andere Saite zum Klingen zu bringen als die der Angst. Ich ging mit hastigen Schritten voran, ohne den Blutfleck zu beachten, und zu wütend, um mich darum zu kümmern, wohin ich lief. Die Sonne knallte mir vom Himmel wie ein Faustschlag in den Nacken. Ich rannte geradewegs in den Jungen.

Wir machten beide einen erschreckten Satz zurück, atemlos von dem Zusammenstoß. Ich fluchte. Eco gab einen unterdrückten, rauhen, kehligen Laut von sich.

Ich war so geistesgegenwärtig, einen besorgten Blick auf seine Hände zu werfen. Sie waren leer. Ich sah ihm einen Moment in die Augen und trat dann zur Seite, um weiterzugehen. Er packte den Ärmel meiner Tunika, schüttelte den Kopf und zeigte auf das Fenster.

»Was willst du? Wir haben deine Mutter in Ruhe gelassen. Du solltest jetzt besser zu ihr gehen.«

Eco schüttelte den Kopf und stampfte mit dem Fuß auf. Er machte uns ein Zeichen zu warten und rannte nach drinnen.

»Was glaubst du, was er will?« fragte Tiro.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich, und noch während ich sprach, ahnte ich die Wahrheit und verspürte ein kitzelndes Gefühl der Angst.

Im nächsten Augenblick tauchte der Junge wieder auf mit einem schwarzen Umhang über dem Arm und einem Gegenstand, den er in einer Falte seiner Tunika verbarg. Er zog seine Hand hervor, und die lange Klinge glitzerte in der Sonne. Tiro stockte der Atem, und er packte meinen Arm. Ich hielt ihn sanft zurück, weil ich wußte, daß das Messer nicht für uns bestimmt war.

Der Junge kam langsam auf mich zu. Sonst war niemand auf der Straße; um diese Tageszeit war es zu heiß.

»Ich glaube, er möchte uns etwas mitteilen«, sagte ich.

Eco nickte.

»Über jenen Septemberabend.«

Er nickte erneut und wies mit der Klinge auf den Blutfleck.

»Über den Tod des alten Mannes auf der Straße. Der Mord passierte ein oder zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit, hab ich recht?«

Er nickte.

»Und wie hätte man dann mehr als einen Schatten erkennen sollen?«

Er wies auf die Fackelnischen entlang der Straße und dann nach oben, während seine Hände eine Kugel in der Luft formten.

»Ah, ja, es war an den Iden - der Mond stand ziemlich hoch und voll am Himmel«, sagte ich. Er nickte.

»Wo sind die Mörder hergekommen?«

Eco wies auf die Sackgasse, die jetzt von der Tür des Lebensmittelladens versperrt war.

»Genau wie ich dachte. Und wie viele waren es?«

Er hielt drei Finger hoch.

»Nur drei? Bist du sicher?«

Er nickte heftig. Dann begann die Pantomime.

Er rannte ein Stück die Straße hinauf und stolzierte dann mit wichtigtuerischem Blick auf uns zu. Er machte schnörkelige Gesten in beide Richtungen.

»Der alte Sextus Roscius«, sagte ich. »Begleitet von seinen beiden Sklaven zur Rechten und zur Linken.«

Der Junge klatschte in die Hände und nickte. Er rannte zur Tür des Ladens, klemmte seine Schulter dahinter und stieß sie zu. Durch das Holz konnte ich die alte Frau hinter ihrem Tresen fluchen hören. Der Junge warf sich den dunklen Umhang über die Schulter und drängte sich, das lange Messer gezückt, gegen die Wand der Sackgasse. Ich folgte ihm.

»Drei Angreifer, sagst du. Und wer bist du jetzt, ihr Anführer?«

Er nickte und machte mir ein Zeichen, ich solle den Part des alten Sextus übernehmen, der die mondbeschienene Straße entlanggeschlendert kam.

»Los, Tiro«, sagte ich, »du bist Felix oder Chrestus oder wer immer zur Rechten seines Herrn stand, den Angreifern am nächsten.«

»Hältst du das für klug, Herr?«

»Sei still, Tiro, und spiel mit.«

Wir gingen nebeneinander durch die enge Straße. Aus der Sicht des Opfers lauerte die schmale Sackgasse ohne jede Warnung; selbst in einer Vollmondnacht mußte sie ein unsichtbares, schwarzes Loch gewesen sein. Als ich daran vorbeikam, hielt ich den Blick stur geradeaus gerichtet und nahm aus den Augenwinkeln nicht einmal das leiseste Zucken einer Bewegung wahr, und dann war es auch schon zu spät. Ohne jede Warnung war der stumme Junge auf einmal hinter uns, packte Tiro bei der Schulter und schob ihn zur Seite. Das tat er zweimal, einmal rechts und einmal links von mir; zwei Täter, die zwei Sklaven aus dem Weg schafften. Das zweite Mal schubste Tiro zurück.

Ich wollte mich umdrehen, aber Eco gab mir einen Stoß gegen die Schulter, damit ich meine Position nicht veränderte. Von hinten hakte er sich bei mir unter, als wolle er mich festhalten. Mit einem Klaps auf meinen Arm machte er sich los, um eine neue Rolle einzunehmen. Er kreiste jetzt vor mir, das Messer gezückt, das Gesicht von einer Kapuze verborgen und humpelnd.

Er griff mit der anderen Hand nach oben, um mein Kinn zu packen, und sah mir direkt ins Gesicht. Er hob den Dolch und stieß zu.

»Wo?« sagte ich. »Wo wurde er zuerst getroffen?«

Er tippte auf einen Punkt zwischen Schlüsselbein und Brust, direkt über meinem Herzen. Unwillkürlich fuhr ich mit der Hand an die Stelle. Eco nickte, das Gesicht noch immer im Schatten der Kapuze verborgen. Dann wies er auf den Handabdruck an der Ladentür.

»Dann muß Sextus sich losgerissen haben -«

Er schüttelte heftig den Kopf und deutete eine Wurfbewegung an.

»Man hat ihn zu Boden geschleudert?« Nicken. »Und irgendwie fand er die Kraft, zu der Tür zu kriechen -«

Eco schüttelte erneut den Kopf und wies auf die Stelle, wo der alte Mann zu Boden gefallen war. Er begann, heftig auf den imaginären Körper einzutreten, wobei er eigenartig kehlige Geräusche von sich gab. Höhnisch grinsend und knurrend imitierte er - wie mir plötzlich mit einem Gefühl der Übelkeit klar wurde - ein Lachen.

»Dann war er also hier«, sagte ich und nahm meinen Platz zu Füßen des Jungen ein. »Entsetzt, verwirrt, blutend. Sie trieben ihn weiter voran, mit Tritten, Flüchen, Spott und Gelächter. Er griff nach oben und erreichte die Tür... «

Zum zweiten Mal an diesem Vormittag schlug mir die Tür vor die Nase, als sie quietschend aufschwang.

»Was denkst du, was du hier machst?« Es war die Frau. »Du hast kein Recht -«

Eco sah sie und erstarrte. »Weiter«, sagte ich, »beachte sie gar nicht. Weiter. Sextus war zu Boden gestürzt und stützte sich jetzt gegen die Tür. Was dann?«

Der Junge kam, erneut humpelnd, auf mich zu und machte eine Bewegung, als würde er mit beiden Händen meine Toga packen und mich direkt auf die Straße schleudern. Er hinkte rasch zu dem am Boden liegenden Phantom und fuhr fort, auf es einzutreten, wobei er mit jedem Tritt ein Stück nach vorn ging, bis er direkt auf dem riesigen Blutfleck stand. Dabei wies er auf seine beiden imaginären Begleiter.

»Drei«, sagte ich, »alle drei Täter haben ihn umringt. Aber wo waren die beiden Sklaven? Tot?« Nein. »Verwundet?« Nein. Der Junge tat die Frage mit einer angeekelten Geste der Verachtung ab. Die Sklaven waren geflohen. Ich warf einen Seitenblick auf Tiro, der darüber sehr enttäuscht schien.

Eco hockte sich auf den Blutfleck, zog das Messer hervor und hielt es hoch über seinen Kopf, bevor er es wieder und wieder bis fast auf das Pflaster niedersausen ließ. Er begann am ganzen Körper zu zittern und fiel auf die Knie. Er machte ein Geräusch wie ein leise wiehernder Esel. Er weinte.

Ich kniete mich neben ihn und legte meine Hand auf seine Schulter. »Ist ja schon gut«, sagte ich. »Ist ja gut. Ich möchte, daß du dich nur noch ein wenig weiter erinnerst.« Er entzog sich meiner Hand und wischte sich das Gesicht ab, wütend über seine eigenen Tränen. »Nur noch ein wenig mehr. Hat sonst noch jemand den Vorfall beobachtet? Jemand aus dem Mietshaus oder von der anderen Straßenseite?«

Er starrte die Frau des Ladenbesitzers an, die uns vom Eingang des Ladens wütend beobachtete. Er hob die Hand und zeigte auf sie.

»Ha!« Die Frau verschränkte die Arme und senkte wie ein angriffsbereiter Stier den Kopf. »Der Junge lügt. Entweder das, oder er ist genauso blind wie stumm.«

Der Kleine zeigte erneut auf sie, als könne er sie mit seinem ausgestreckten Finger zu einem Geständnis bewegen. Dann wies er auf ein kleines Fenster über dem Laden, wo für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht des Alten auftauchte, bevor es abrupt hinter einem Paar Fensterläden verschwand, die von innen zugezogen wurden.

»Ein Lügner«, knurrte die Frau. »Er hat eine Tracht Prügel verdient.«

»Du hast doch gesagt, daß die Zimmer nach hinten heraus liegen und es keine Fenster zur Straße gibt«, sagte ich.

»Hab ich das? Dann ist es auch die reine Wahrheit.« Sie konnte nicht wissen, daß ich eben erst ihren Mann gesehen hatte, der direkt über ihr zu schweben schien, wie der vom Rumpf getrennte Kopf eines deus ex mackina im Theater.

Ich wandte mich wieder Eco zu. »Drei, hast du gesagt. Hatten sie außer ihren Umhängen noch irgendwelche besonderen Kennzeichen? Waren sie groß oder klein? Ist dir irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Einer von ihnen hat gehinkt, sagst du, der Anführer. Welches war das verkrüppelte Bein, das linke oder das rechte?«

Der Junge dachte einen Moment lang nach und zeigte dann auf sein linkes Bein. Er kämpfte sich auf die Füße und humpelte im Kreis um mich herum.

»Das linke? Bist du sicher?«

»Lächerlich!« schrie die alte Frau. »Der dumme Junge weiß überhaupt nichts! Es war das rechte Bein, das er nachgezogen hat, sein rechtes!« Ehe sie sich versah, waren ihr die Worte herausgerutscht. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Ein triumphierendes Lächeln kroch auf mein Gesicht und erstarb gleich wieder, als sie mich mit einem Blick bedachte, wie Medusa ihn Perseus hätte zuwerfen können. Einen Moment stand sie ratlos da, dann ergriff sie entschlossen die Initiative. Sie stürmte auf die Straße, packte den Griff der breiten Tür, stampfte in den Laden zurück und zog die Tür in breitem Bogen hinter sich zu, so daß Tiro aus dem Weg springen mußte. »Wir werden wieder öffnen«, rief sie niemand im besonderen zu, »wenn dieser Pöbel von der Straße verschwunden ist!« Nicht mit einem lauten Knall, sondern mit einem Rumpeln und einem dumpfen Schlag fiel die Tür zu.

»Sein linkes«, sagte ich wieder zu dem Jungen gewandt. Er nickte. Eine Träne kullerte über seine Wangen, die er wütend mit seinem Ärmel wegwischte. »Und die Hand - in welcher Hand hatte er das Messer? Denk nach!«

Eco schien in eine unergründbare Tiefe zu starren, die sich unter dem Blutfleck zu unseren Füßen verbarg. Langsam, wie in Trance legte er den Dolch von der rechten in die linke Hand. Seine Augen wurden schmal. Seine linke Hand zuckte in winzigen, stechenden Bewegungen durch die Luft. Er blinzelte, blickte dann nickend auf und sah mich wieder direkt an.

»Ein Linkshänder! Gut, ein Linkshänder mit einem lahmen linken Bein -damit sollte man ihn leicht genug identifizieren können. Und sein Gesicht -hast du auch sein Gesicht gesehen?«

Er schauderte und schien mit den Tränen zu kämpfen. Er nickte langsam und schwer, ohne mir direkt in die Augen zu blicken.

»Genau? So genau, daß du ihn wiedererkennen würdest, wenn du ihn siehst?«

Er warf mir einen erschrockenen Blick zu, während er sich rasch abwandte. Ich packte seinen Arm und zog ihn wieder näher an den Blutfleck heran.

»Aber wie hättest du ihn so genau erkennen sollen? Wo warst du, am Fenster in eurem Zimmer?«

Er nickte. Ich sah nach oben.

»Selbst am hellichten Tag könntest du von dort das Gesicht eines Menschen nicht genau erkennen. Und in der besagten Nacht war es dunkel, selbst wenn wir Vollmond hatten.«

»Dummkopf! Begreifst du denn nicht?« Die Stimme kam von oben, aus dem Fenster über dem Laden. Der alte Mann hatte die Läden geöffnet und beobachtete uns erneut. Er sprach in einem heiseren Flüstern. »Nicht in jener Nacht hat er das Gesicht des Mannes genau gesehen. Sie sind noch einmal zurückgekommen, ein paar Tage später.«

»Und woher weißt du das?« fragte ich, den Hals reckend.

»Sie... Sie sind in meinen Laden gekommen.«

»Und wie hast du sie erkannt? Hast du das Verbrechen auch beobachtet?«

»Nein, ich nicht, o nein.« Der Alte sah sich besorgt über die Schulter um. »Aber in dieser Straße passiert nichts, was meine Frau nicht sieht. Sie hat sie in jener Nacht beobachtet, von diesem Fenster aus, wo ich jetzt stehe. Und sie hat sie wiedererkannt, als sie ein paar Tage später bei Sonnenlicht zurückkamen, dieselben drei - sie hat den Anführer an seinem Humpeln erkannt und einen der beiden anderen an der Größe - ein blonder Riese mit einem roten Gesicht. Der dritte hatte, glaube ich, einen Bart, aber mehr kann ich euch auch nicht sagen. Der Anführer hat überall in der Gegend Fragen gestellt, genau wie du. Nur daß wir ihm nichts erzählt haben, ich schwöre, kein Sterbenswörtchen, auch nichts von Polia und daß sie behauptet hat, sie hätte den ganzen Mord beobachtet. Die haben mir gar nicht gefallen. Ich wenigstens hab ihnen nichts erzählt; nur - jetzt, wo ich drüber nachdenke, glaube ich, mußte ich den Laden verlassen, nur für einen Moment, während meine Alte sie schließlich abgewimmelt hat - du glaubst doch nicht, daß sie ihr großes Maul wieder nicht...«

Hinter mir hörte ich einen seltsamen, fast tierischen Laut. Ich drehte mich um und bückte mich, als ich Ecos Messer auf mich zufliegen sah. Auch die Reflexe des Alten waren erstaunlich schnell. Das Messer zischte in Richtung eines offenen Fensters, traf jedoch statt dessen auf zugeschlagene Läden. Die Klinge bohrte sich in das Holz, blieb einen Moment lang stecken und fiel dann mit einem metallischen Klirren auf das Pflaster. Ich wandte mich um und starrte Eco an, überrascht von der Wucht, mit der der kleine Junge das

Messer geschleudert hatte. Er hatte das Gesicht in den Händen vergraben und weinte.

»Die sind alle verrückt hier«, flüsterte Tiro.

Ich packte Ecos Handgelenk und riß ihm die Hände vom Gesicht. Er warf den Kopf von der einen Seite zur anderen und wollte seine Tränen verbergen. Er versuchte, sich loszureißen. Aber ich hielt ihn fest.

»Die Männer sind zurückgekommen«, sagte ich. »Sie sind wegen dir gekommen. Könnte es sein, daß sie gesehen haben, daß du sie in der Nacht des Mordes beobachtet hast?«

Er schüttelte heftig den Kopf.

»Nein. Dann haben sie es von der alten Frau in dem Laden erfahren. Sie hat sie zu dir geführt. Aber nach dem, was die Leute so erzählen, hat deine Mutter den Mord gesehen. Hat sie das? Stand sie mit dir am Fenster?«

Er schüttelte erneut den Kopf. Er weinte.

»Dann warst du der einzige, der es gesehen hat. Du und die Alte von gegenüber. Aber die Frau war schlau genug, sich da rauszuhalten und sie woandershin zu schicken. Du hast deiner Mutter ein paar Einzelheiten berichtet, oder nicht? Genau wie uns? Und sie fing an, sie weiterzuerzählen, als habe sie das Verbrechen selbst beobachtet. Hab ich recht?«

Er zitterte und schluchzte.

»Verflixt«, flüsterte ich. »Verflixt. Also kamen sie zurück, um sie zu suchen, nicht dich. Und sie haben sie in eurer Wohnung gefunden. Warst du auch dort?«

Er brachte ein Nicken zustande.

»Und was dann? Drohungen, Bestechungen?« fragte ich und wußte schon, daß es etwas viel Schlimmeres war.

Der Junge riß sich los. Schluchzend und jammernd begann er sich links und rechts ins Gesicht zu schlagen. Tiro drängte sich näher an mich und sah entsetzt zu. Schließlich hörte der Junge auf. Er stampfte mit dem Fuß auf und sah mich direkt an. Mit zusammengebissenen Zähnen verzog er sein Gesicht zu einer Maske des Hasses und hob beide Arme. Seine Hände bewegten sich steif, wie gegen seinen Willen. Er machte eine obszöne Geste und ballte seine Hände zu Fäusten, als ob sie im Feuer verdorrt wären.

Sie hatten seine Mutter vergewaltigt, die gar nichts gesehen hatte, die nichts von dem Mord wissen konnte, wenn er es ihr nicht erzählt hätte, deren einziges Verbrechen es gewesen war, ein bißchen Klatsch aus zweiter Hand an eine alte Frau von gegenüber weiterzugeben. Sie hatten sie vergewaltigt, und Eco hatte es mit angesehen.

Ich blickte zu Tiro, um mich zu vergewissern, daß er verstanden hatte. Er hatte seine Hand auf den Mund gelegt und seinen Blick abgewendet.

Plötzlich stieß mich der Junge zur Seite und rannte los, das auf der Straße liegende Messer aufzuheben. Er kam zurück, nahm meine Hand und legte meine Finger um den Knauf. Bevor ich ihm Geld geben oder auch nur eine tröstende oder verständnisvolle Geste machen konnte, war er zurück in das Mietshaus gelaufen, wobei er den hageren Wächter aus dem Weg schubste, der aus der Tür trat, um frische Luft zu schnappen.

Ich betrachtete das Messer in meiner Hand. Ich seufzte und schloß die Augen, mir war auf einmal ganz schwindlig von der Hitze. »Für seine Rache«, flüsterte ich. »Er glaubt, wir bringen Gerechtigkeit, Tiro.«

11

Wir verbrachten die Stunden der schlimmsten Nachmittagshitze in einer kleinen Taverne. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, mich gleich weiter auf die Suche nach der Hure Elena zu machen - das Haus der Schwäne konnte vom Tatort aus nur noch ein paar Schritte entfernt sein -, aber mir fehlte der Mut. Statt dessen kehrten wir um und trotteten zurück die schmale Straße hinunter bis zu dem offenen Platz.

Er lag fast verlassen da. Die Krämer hatten ihre Läden geschlossen. Die Hitze war so stechend, daß selbst die fliegenden Händler mit ihren Karren verschwunden waren. Nur ein paar Kinder und ein Hund planschten weiter in den großen Pfützen um die öffentliche Zisterne. Sie hatten den Eisendeckel des Brunnens beiseite geschoben, und einer der Jungen stand gefährlich nahe an seinem Rand. Ohne sich auch nur umzusehen, hob er seine Tunika und begann in das Loch zu pinkeln.

Ein im Eckstein eines kleinen Mietshauses eingelassenes Mosaik, das eine Rebe roter Weintrauben zeigte, pries eine Taverne in der Nähe an. Vereinzelte violette und weiße Fliesen führten uns um die Ecke und eine kurze Treppe hinab. Die Taverne war ein kleiner, muffiger Raum, düster, feucht und leer.

Die Hitze hatte mich völlig erschöpft. Nach dem vielen Laufen hätte ich etwas essen sollen, aber ich hatte keinen Hunger. Statt dessen bestellte ich Wasser und Wein und beschwatzte Tiro, mitzuhalten. Ich bestellte noch mehr, und mittlerweile mußte auch Tiro nicht mehr lange überredet werden. Jetzt, wo seine Zunge gelöst und er nicht mehr so auf der Hut war, verspürte ich den Drang, ihn direkt nach seinem Stelldichein mit der Tochter von Sextus Roscius zu fragen. Wenn ich es nur getan hätte! Aber dieses eine Mal unterdrückte ich meine Neugier.

Tiro war keinen Wein gewohnt. Eine Zeitlang wurde er recht lebhaft und schwatzte munter über die Ereignisse des Vormittags und des vorherigen Tages, wobei er sich hin und wieder selbst unterbrach, um ein Wort des Lobes auf seinen weisen Herrn auszusprechen, während ich dösend dabeisaß und nur mit halbem Ohr zuhörte. Dann wurde er schlagartig still und starrte trübsinnig in seinen Becher. Er nahm einen letzten Schluck, stellte den Becher ab, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und war auf der Stelle eingeschlafen.

Nach einer Weile schloß auch ich die Augen, schlief zwar nicht fest ein, dämmerte jedoch scheinbar längere Zeit vor mich hin und öffnete nur gelegentlich die Augen für die gleichbleibende Aussicht auf Tiro, der mit hängendem Unterkiefer in den Stuhl gegenüber gefläzt saß und den tiefen Schlaf der Jungen und Unschuldigen schlief.

Die Halbträume, in die ich teils versank, teils mir ihrer bewußt blieb, waren düster, unbehaglich und alles andere als unschuldig. Ich saß im Haus von Caecilia Metella und verhörte Sextus Roscius; er stammelte und murmelte vor sich hin, und obwohl er anscheinend Lateinisch sprach, konnte ich kaum ein Wort von dem verstehen, was er sagte. Als er sich von seinem Stuhl erhob, bemerkte ich, daß er einen schweren Umhang trug und beim Weggehen das linke Bein nachzog. Ich wandte mich entsetzt ab und rannte in den Flur. Korridore gabelten und vereinigten sich wie Gänge in einem Labyrinth. Ich hatte mich verirrt. Ich schob einen Vorhang zur Seite und sah ihn von hinten. Dahinter stand die junge Witwe nackt und weinend an die Wand gedrückt, während er sie brutal vergewaltigte.

Aber wie so häufig in Träumen veränderten sich die Dinge, und mir wurde mit Schrecken klar, daß die Frau nicht die Witwe war, sondern Roscius’ eigene Tochter, die, als sie mich bemerkte, keinerlei Scham zeigte, sondern mir statt dessen Küsse zuwarf und ihre Zunge zeigte.

Ich öffnete die Augen und sah den schlafenden Tiro. Ein Teil von mir wollte aufwachen, aber ich war zu schwach.

Meine Lider waren zu schwer, und mir fehlte der Wille, die Augen offenzuhalten. Vielleicht gehörte es aber auch zu dem Traum.

Im Lagerraum von Caecilias Haus kopulierten der Mann und die Frau weiter. Ich sah ihnen von der Schwelle aus zu wie ein verschreckter Junge. Der Mann in dem Umhang sah sich über die Schulter um. Ich lächelte still in mich hinein, weil ich erwartete, Tiros vor Erregung gerötetes, unschuldiges, beschämtes Gesicht zu sehen. Statt dessen sah ich Sextus Roscius mit lüsternem Blick und durchdrungen von einer Leidenschaft, für die es keine Worte gab.

Ich schlug mir die Hand vor den Mund und wich angeekelt zurück. Irgend jemand zupfte mich am Ärmel. Es war der stumme Junge, der sich mit verheulten Augen auf die Lippen biß, um nicht zu wimmern. Er versuchte, mir ein Messer zu geben, aber ich weigerte mich, es anzunehmen. Er schubste mich wütend beiseite und stürzte sich dann auf die kopulierenden Gestalten.

Er stach wahllos und brutal auf sie ein. Doch sie wollten nicht aufhören, als ob die Stiche ein geringfügigeres Ärgernis wären, verglichen mit der Lust, die es sie kosten würde, voneinander abzulassen und den Jungen beiseite zu stoßen. Ich wußte, daß sie nicht loslassen konnten, als ob ihr Fleisch irgendwie eins geworden wäre. Während sie ineinanderdrangen und sich wanden, bildete sich eine Lache von Blut, das von ihren verschlungenen Körpern rann. Es breitete sich auf dem Boden aus wie ein tiefroter Teppich. Es floß unter meine Füße. Ich versuchte, einen Schritt nach vorn zu machen, war aber wie festgewachsen, unfähig, mich zu bewegen oder auch nur zu sprechen, starr wie eine Leiche.

Ich öffnete die Augen, aber - nichts schien sich zu ändern. Alles, was ich sah, war eine rote Flut. Mir wurde klar, daß meine Augen immer noch geschlossen waren und ich gegen meinen Willen weiterträumte. Ich hob die Hand, um meine Augen mit den Fingern zu öffnen, aber die Lider blieben fest geschlossen. Ich kämpfte, keuchend und außer Atem, ohne mich aus dem Traum reißen zu können.

Im nächsten Augenblick war ich dann auf einmal wach. Meine Augen waren offen. Meine Hände waren auf dem Tisch. Tiro saß mir gegenüber und schlief friedlich.

Mein Mund war trocken wie Alaun. Mein Kopf fühlte sich an wie mit Wolle ausgestopft. Mein Gesicht und meine Hände waren taub. Ich versuchte, nach dem Wirt zu rufen, brachte jedoch kaum einen Ton heraus. Es war sowieso egal; der Mann war selbst auf einem Stuhl in der Ecke eingedöst, die Arme verschränkt und das Kinn auf der Brust.

Ich stand auf. Meine Glieder fühlten sich an wie trockenes Holz. Ich taumelte auf den Eingang zu, die Treppe hoch, auf die Gasse und um die Ecke auf den Platz. Er lag jetzt völlig verlassen im blendenden Sonnenlicht; selbst die Bengels waren verschwunden. Ich schleppte mich zu der Zisterne, kniete mich nieder und starrte ins Schwarze. Das Wasser war zu tief unten, um ein Spiegelbild zurückzuwerfen, aber ich spürte die aufsteigende Kühle im Gesicht. Ich zog den Eimer hoch, spritzte mir Wasser ins Gesicht und goß den Rest über meinen Kopf.

Danach fühlte ich mich langsam wieder wie ein Mensch. Ich wollte nur noch zu Hause sein und nichts tun, unter dem Portico sitzen und in den Garten blicken, mit Bast, die an meinen Füßen döste, und Bethesda, die mir ein kühles Tuch für meine erhitzte Stirn brachte.

Statt dessen spürte ich eine zögernde Hand auf meiner Schulter. Es war Tiro.

»Alles in Ordnung, Herr?«

Ich atmete tief ein. »Ja.«

»Es ist die Hitze. Die schreckliche, unnatürliche Hitze. Wie eine Strafe. Sie macht einen ganz dumm im Kopf, sagt Cicero, und dörrt den Geist aus.«

»Komm, Tiro, hilf mir auf die Beine.«

»Du solltest dich hinlegen und schlafen.«

»Nein! Bei dieser Hitze ist der Schlaf der schlimmste Feind des Menschen. Bringt schreckliche Träume...«

»Sollen wir lieber zurück in die Taverne gehen?«

»Nein. Oder doch: ich nehme an, wir schulden dem Mann etwas für den Wein.«

»Nein. Ich habe aus deiner Börse gezahlt, bevor ich gegangen bin. Er hat selbst geschlafen, aber ich habe das Geld auf den Tresen gelegt.«

Ich schüttelte den Kopf. » Und hast du ihn geweckt, bevor du gegangen bist, damit ihn niemand bestiehlt, während er schläft?«

»Natürlich.«

»Tiro, du bist ein Ausbund an Tugendhaftigkeit. Du bist die Rose inmitten der Dornen. Die süße Beere zwischen den stacheligen Zweigen.«

»Ich bin lediglich ein Spiegel meines Herrn«, sagte er und klang dabei eher stolz als bescheiden.

12

Eine Weile wurde die noch immer hochstehende Sonne von einem Band weißer Wolken verhüllt, die aus dem Nichts aufgezogen waren. Die schlimmste Hitze war vorüber, aber die Stadt gab jetzt nach und nach die im Laufe des Tages gespeicherte Wärme ab, Pflastersteine und Ziegel glühten wie Wände eines Ofens; wenn nicht ein erneutes Gewitter sie abkühlte, würden die Steine die ganze Nacht über Wärme abgeben und die Stadt und alle, die in ihr lebten, ausdörren.

Tiro drängte mich, kehrtzumachen, eine Sänfte für meinen Heimweg zu mieten oder doch zumindest zu Fuß zu Ciceros Haus zurückzugehen. Aber es wäre unsinnig gewesen, sich dem Haus der Schwäne so weit zu nähern, ohne ihm einen Besuch abzustatten.

Wir gingen ein weiteres Mal durch die enge Straße, vorbei an der kleinen Sackgasse, in der die Mörder gelauert hatten und die jetzt wieder von der Tür des Lebensmittelladens verdeckt war. Aus seinen düsteren Winkeln drang der übersüße Geruch verdorbener Früchte; ich blickte nicht hinein. Wir mieden den Blutfleck und passierten die Tür, die zu der Wohnung der Witwe führte. Der hagere Wächter saß dösend auf der Treppe. Als wir vorbeikamen, öffnete er die Augen und sah uns erstaunt und übellaunig an, als ob unser Gespräch bereits so lange zurückläge, daß er unsere Gesichter schon wieder vergessen hatte.

Das Haus der Schwäne lag sogar noch näher, als ich vermutet hatte. Die Straße verengte sich und bog, den Blick auf das hinter uns liegende Stück

Weges verdeckend, nach links ab. Unser Ziel lag gleich rechts und war nicht zu verfehlen.

Wie luxuriös mußte es auf Männer mit bescheidenen Mitteln wirken, die hergelockt von Mund-zu-Mund-Propaganda und geleitet von den Fackeln und primitiven Schwan-Emblemen, die die Straße säumten, nachts hier ankamen. Wie herrlich ordinär mußte es einem Mann von gewisser Vornehmheit wie dem alten Sextus Roscius erschienen sein, wie einladend für die fleischlichen Gelüste, von denen er besessen war.

Die Fassade hob sich deutlich von allen anderen in der Straße ab. Die Gebäude in der Nachbarschaft waren verputzt und in blassen Schattierungen von Safran, Rost oder fleckigem Weiß getüncht. Die verputzte Fassade des Hauses der Schwäne war von einem leuchtenden, schrillen Rosa, hier und da, wie etwa um die Giebeldreiecke über den Fenstern, mit roten Kacheln verschönert. Eine halbkreisförmige Säulenhalle ragte auf die Straße. Auf der Spitze der Halbkuppel thronte eine Venusstatue, die für den zur Verfügung stehenden Platz viel zu klein war; die bildhauerischen Bemühungen waren wahrhaft schmerzlich anzusehen, ja beinahe blasphemisch zu nennen. Selbst Tiro kicherte, als er sie entdeckte. Von der Kuppel der Säulenhalle hing eine Lampe, die man wohlwollend als schiffsförmig bezeichnen konnte, obwohl ich wegen der leichten Krümmung und der abgeflachten Spitze des Objekts argwöhnte, daß es ein menschliches Anhängsel darstellen sollte, das auf obszöne Weise zu groß geraten war. In wie vielen Nächten war Sextus Roscius ihrem Schein wie einem Leuchtfeuer gefolgt, drei Marmorstufen hinauf zu dem schwarzen Rost, auf dem ich jetzt mit Tiro stand und schamlos im hellen Tageslicht an die Tür klopfte?

Ein Sklave öffnete die Tür, ein großer, muskulöser junger Mann, der eher den Eindruck eines Leibwächters oder Gladiators als den eines Türstehers machte. Er hatte ekelhaft unterwürfige Manieren. Er hörte gar nicht auf zu lächeln, sich zu verbeugen und zu nicken, während er uns zu einem flachen Diwan in dem plüschig eingerichteten Vorraum führte. Wir mußten nicht lange auf den Eigentümer warten.

Mein Gastgeber war eine in jeder Beziehung rundliche Erscheinung, vom Bauch bis zur Nase und der kahlen Krone seines Hauptes. Das wenige verbliebene Haar war sorgfältig geölt und frisiert worden. Seine Wangen waren auf groteske Weise gepudert und mit Rouge überzogen. Seine Vorliebe für Schmuck schien von derselben Vulgarität wie sein Geschmack in allen Fragen der Inneneinrichtung. Alles in allem bot er den Anblick eines heruntergekommenen Epikureers, und seine Bemühungen, die Atmosphäre eines levantinischen Bordells nachzuempfinden, grenzten ans Parodistische. Der Versuch der Römer, den Orient nachzuahmen, gelingt selten. Eleganz und echter Luxus sind nicht so leicht zu kopieren oder zu Großhandelspreisen zu kaufen.

»Bürger«, sagte er, »du kommst zu einer ungewöhnlichen Tageszeit. Die meisten unserer Kunden treffen eher gegen Sonnenuntergang ein. Aber umso besser für dich - so hast du die Auswahl aller Mädchen, ohne warten zu müssen. Die meisten von ihnen schlafen noch, aber ich werde sie für dich gerne aus ihren Betten scheuchen. So gefallen sie mir selbst auch am besten, eben erwacht und noch vom Duft des Schlafes umfangen wie feuchte Rosen vom Morgentau.«

»Eigentlich komme ich wegen eines ganz bestimmten Mädchens.«

»Ja?«

»Sie ist mir empfohlen worden. Ein Mädchen namens Elena.«

Der Mann stierte mich mit leerem Blick an und nahm sich für seine Antwort Zeit. Als er schließlich sprach, konnte ich keine Arglist ausmachen, sondern lediglich die ehrliche Vergeßlichkeit eines Mannes, der im Laufe der Jahre so viele Körper ge- und verkauft hatte, daß man nicht erwarten konnte, daß er sich an sie erinnerte. »Elena«, sagte er, als ob es sich dabei um ein Fremdwort handeln würde, dessen Bedeutung ihm entfallen war. »Und ist sie dir kürzlich empfohlen worden, Herr?«

»Ja. Es ist allerdings schon eine Weile her, daß mein Freund sie zuletzt besucht hat. Er weilt zur Zeit nicht in Rom, sondern ist mit der Verwaltung seiner Landgüter beschäftigt. Geschäftliche Angelegenheiten halten ihn davon ab, in die Stadt zu kommen, aber er schreibt voll angenehmer Erinnerung von dieser Elena. Er sagt, er wäre froh, auf dem Land eine Frau zu finden, deren Liebkosungen ihm nur einen Bruchteil jener Befriedigung schenken würden.«

»Ah.« Der Mann legte seine Fingerspitzen aufeinander, schürzte die Lippen und sah aus, als würde er seine Ringe an jeder Hand zählen. Ich ertappte mich dabei, daß ich ein Gemälde an der gegenüberliegenden Wand anstarrte, auf dem Priapus einer Schar nackter Kurtisanen den Hof machte, die alle mit angemessener Ehrfurcht auf den überdimensionierten Stab zu blicken schienen, der sich steil zwischen den Beinen des Gottes erhob.

»Vielleicht könntest du diese Elena ein wenig genauer beschreiben.«

Ich dachte einen Moment lang nach und schüttelte dann den Kopf. »Es ist zwar seltsam, aber mein Freund hat mir ihre Erscheinung nie beschrieben. Er nennt nur ihren Namen und versichert mir, daß ich nicht enttäuscht sein werde.«

Die Laune meines Gastgebers schien sich zu bessern. »Ah, ja, das kann ich dir von allen meinen Mädchen versprechen.«

»Dann bist du sicher, daß du keine Elena hast?«

»Also, der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Ja, ich meine mich vage an das Mädchen zu erinnern. Aber ich bin sicher, daß wir schon seit geraumer Zeit keine Elena mehr haben.«

»Aber was könnte ihr denn passiert sein? Bist du sicher, daß deine Mädchen gesund sind?«

»Natürlich sind sie gesund; ich habe noch nie ein Mädchen wegen Krankheit verloren. Sie wurde verkauft, wenn ich mich recht erinnere - an einen Privatmann, nicht an ein Haus der Konkurrenz«, fügte er noch hinzu, um mich davon abzuhalten, meine Suche anderen Orts fortzusetzen.

»Ein Privatmann? Da wird mein Freund aber enttäuscht sein. Ich frage mich, ob ich den Käufer wohl kenne - vielleicht spielt mir irgend jemand hinter meinem Rücken einen Streich. Du könntest mir nicht zufällig sagen, wer der Mann ist?«

»Ich fürchte, ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an die Einzelheiten erinnern, ohne meinen Buchhalter zu konsultieren. Außerdem ist es ein Prinzip unseres Hauses, den Verkauf von Sklavinnen nie öffentlich zu erörtern, es sei denn mit einem potentiellen Käufer.«

»Ich verstehe.«

»Ah, seht, Stabius hat eine kleine Auswahl zusammengestellt. Vier wunderschöne Mädchen. Dein einziges Problem wird sein, dich für eine zu entscheiden. Vielleicht willst du ja auch zwei auf einmal. Oder gleich alle vier, eine nach der anderen. Meine Mädchen machen selbst aus dem gewöhnlichsten Mann noch einen Satyrn, und du, mein Herr, siehst nicht aus wie ein gewöhnlicher Mann.«

Verglichen mit den Bordellen von Antiochia oder Alexandria war das erste Angebot meines Gastgebers enttäuschend durchschnittlich. Alle vier Mädchen waren brünett. Zwei von ihnen wirkten gewöhnlich, fast hausbacken, obwohl sie für Männer, die nur vom Kopf abwärts gucken, ihre schlichten Reize hatten. Die anderen beiden waren durchaus attraktiv, wenngleich keine von ihnen so schön war wie die Witwe Polia oder zumindest so schön, wie die junge Witwe gewesen sein mußte, bevor ihr Gesicht von Narben des Kummers gezeichnet wurde.

Alle vier trugen ärmellose, farbige Gewänder aus einem so anschmiegsamen und durchsichtigen Stoff, daß kaum ein Detail ihres Körpers verborgen blieb. Mein Gastgeber berührte die jüngste und hübscheste Frau an der Schulter und forderte sie auf vorzutreten.

»Hier, mein Herr, biete ich dir die zarteste Knospe in meinem Garten an, meine neueste, frischeste Blüte: Talia. Niedlich und verspielt wie ein Kind. Aber schon eine Frau, da kannst du gewiß sein.« Er stand hinter ihr und hob das Gewand vorsichtig von ihren Schultern. Es teilte sich in der Mitte, und einen kurzen Augenblick lang stand sie völlig nackt da, den Kopf gesenkt, den Blick abgewandt. Hinter mir hörte ich Tiro nach Luft schnappen.

Der Bordellbesitzer spielte fröhlich mit ihren Brüsten und ließ seine Finger ihren Unterleib hinabwandern. Ich sah, wie sich die samtige Haut unter ihrem Nabel mit einer Gänsehaut überzog.

»Sie errötet noch, siehst du - wie ihr die Farbe in die Wangen schießt. Talia errötet auch noch an anderen Stellen, die zu erwähnen zu delikat wäre.« Er bedeckte sie wieder. »Aber trotz ihrer kindlichen Schüchternheit ist sie im Bett völlig schamlos, wie ich dir versichern kann.«

»Wie lange ist sie schon bei dir?«

»Oh, noch gar nicht lange, mein Herr. Höchstens einen Monat. Praktisch

noch eine Jungfrau, und doch schon erstaunlich versiert mit jeder Öffnung. Vor allem mit dem Mund ist sie überaus talentiert -«

»Ich bin nicht interessiert.«

»Nicht?«

»Ich war ganz auf Elena eingestellt.«

Mein Gastgeber biß die Zähne aufeinander.

»Aber wenn sie nicht hier ist, bring mir deine erfahrenste Hure. Ihr Aussehen ist mir egal. Diese Mädchen sind viel zu jung, um zu wissen, was sie tun; ich hab kein Interesse an Kindern. Bring mir deine älteste Hure. Zeig mir eine voll erblühte, eine heißblütige Frau, der keine erdenkliche Spielart der Liebe fremd ist. Außerdem muß sie passables Latein sprechen. Der

Austausch von Worten macht den halben Spaß für mich aus. Gibt es im Haus

der Schwäne eine solche Frau?«

Mein Gastgeber klatschte in die Hände. Der Sklave namens Stabius drängte die Mädchen aus dem Raum. Talia, die junge Blüte, die unser Gastgeber für uns entschleiert hatte und die so überzeugend errötet war und sich abgewandt hatte, bedeckte im Gehen ihren Mund mit der Hand und unterdrückte ein Gähnen.

»Stabius!« Der Sklave wandte sich noch einmal um.

»Stabius, bring uns Elektra!«

Die Frau, die Elektra hieß, ließ sich Zeit. Als unser Gastgeber sie schließlich ankündigte, wußte ich, daß es die Frau war, die ich gesucht hatte.

Am auffälligsten war ihr Haar, eine wallende Mähne schwarzer Locken, die von weißen Strähnen an beiden Schläfen akzentuiert wurde. Sie hatte ihre Schminke mit der Zurückhaltung aufgelegt, die man nur durch jahrelange Praxis erwirbt; mein Gastgeber hätte ruhig einige Stunden bei ihr nehmen können. Selbst wenn ihre Züge zu ausgeprägt waren, um fein genannt zu werden, auch wenn ihre Haut nicht mehr zart war, so ließ sich doch im weichen Licht des Atriums mit voller Überzeugung feststellen, daß sie eine Schönheit war. Mit den Jahren hatte sie sich den Vorzug verdient, ein weniger enthüllendes Gewand zu tragen als die jungen Mädchen, ein langärmeliges, weites, weißes Kleid, das in der Taille mit einer Schnur zusammengebunden war. Die Kurven ihrer Hüften und Brüste waren auch ohne den Blick durch hauchzarten Stoff verführerisch genug.

In jedem Bordell traf man zumindest eine Frau wie diese, und in den Städten, die sich den Verfeinerungen der Lust verschrieben hatten, gab es ganze Häuser von ihnen. Elektra war die große Mutter. Nicht die Mutter eines erwachsenen Mannes, sondern die Mutter, an die er sich aus seiner Kindheit erinnert; nicht alt, sondern weise, mit einem Körper, der weder schlank und mädchenhaft noch gealtert jenseits der Schönheit ist, sondern voll ausgereift und von verschwenderischer Fülle.

Ich warf einen Blick zu Tiro, der von ihrer Erscheinung recht erstaunt war. Sie war wahrscheinlich nicht der Typ Frau, den er im Dienste eines Herrn wie Cicero sehr oft zu Gesicht bekommen würde.

Ich trat mit meinem Gastgeber beiseite und verhandelte. Er verlangte natürlich zuviel. Erneut klagte ich über die abwesende Elena. Er verzog das Gesicht und ging mit dem Preis herunter. Ich äußerte weitere Bedenken, und er senkte ihn erneut. Schließlich willigte ich ein und gab Tiro Anweisung, ihn zu bezahlen. Er überreichte die Münzen mit einem schockierten

Gesichtsausdruck. Ob er den Preis für extravagant hielt (vor allem, da er aus der Börse seines Herrn beglichen wurde) oder ob ihm klar war, daß ich ein gutes Geschäft gemacht hatte, wußte ich nicht zu sagen.

Elektra ging voran, um uns zu ihrer Kammer zu führen. Ich folgte ihr und machte Tiro ein Zeichen, mit uns zu kommen.

Tiro wirkte überrascht. Genau wie mein Gastgeber.

»Bürger, Bürger, ich hatte keine Ahnung, daß du vorhattest, den Jungen mitzunehmen. Dann muß ich natürlich auf einer Zuzahlung bestehen.«

»Unsinn. Der Sklave geht überall hin, wo ich auch hingehe.«

»Herr -«

»Der Junge ist ein Sklave, nicht mehr als ein persönlicher Besitz. Genausogut könntest du mir berechnen, daß ich meine Sandalen anbehalte. Ich war in dem Glauben, daß dies ein seriöser Laden ist. Natürlich war ich auch in dem Glauben, ein bestimmtes Mädchen hier zu finden -«

Mein Gastgeber spielte mit den Münzen in seiner Hand. Ihr Geklimper vermischte sich mit dem Klirren seiner Ringe, er schnalzte mit den Lippen und wandte sich ab.

Elektras Zimmer war mit dem Vorraum und den Fluren nicht zu vergleichen. Ich vermutete, daß sie es selbst dekoriert hatte; es atmete die unfehlbare Schlichtheit griechischen Geschmacks und die behagliche Aura eines lange bewohnten Zimmers. Sie ließ sich auf einem breiten Diwan nieder. Davor standen zwei Stühle. Ich machte Tiro ein Zeichen, auf einem von ihnen Platz zu nehmen, und setzte mich selbst auf den anderen.

Sie lächelte und lachte still in sich hinein, vielleicht glaubte sie, wir seien schüchtern oder wir würden zumindest so tun. »Hier ist es viel bequemer«, sagte sie und strich mit der Hand über den abgewetzten Bezug des Diwans. In ihrer Stimme konnte man den Hauch eines Akzents heraushören.

»Da bin ich sicher. Aber ich möchte zuerst reden.«

Das war offenbar nichts Neues für sie. »Natürlich. Soll ich mich ausziehen?«

Ich warf einen Blick auf Tiro, der bereits zu erröten begann. »Ja«, sagte ich. »Zieh dein Kleid aus, während wir reden. Aber langsam.«

Elektra erhob sich. Sie warf ihre Haare zurück und griff sich in den Nacken, um die Klammer zu lösen. Hinter ihr entdeckte ich auf einem kleinen Tisch neben dem Diwan eine winzige Sanduhr. Die obere Kammer war voll, und der Sand rieselte fröhlich hinab. Als wir den Raum betreten hatten, mußte sie sie so elegant und unauffällig umgedreht haben, daß ich es nicht bemerkt hatte. Elektra war ein echter Profi.

»Erzähl mir etwas über Elena«, sagte ich.

Sie zögerte nur einen Herzschlag lang. »Bist du ein Freund von ihr? Ein Kunde?«

»Nein.«

»Kennst du sie?«

»Auch nicht.«

Das schien sie zu amüsieren. »Warum fragst du dann nach ihr?« Das Kleid war von ihren Schultern geglitten und fiel, von der Schnur gehalten, in Falten um ihre Taille. Ihre Haut war erstaunlich glatt, das Fleisch überraschend fest. Gegen die blasse Haut hob sich ihr Schmuck besonders gut ab, silberne Armreife um die Handgelenke und eine schmale Kette, die die üppige Wölbung ihrer Brüste betonte. Möglicherweise war es nicht ihr Schmuck, aber sie hatte ihn garantiert selbst ausgesucht. Wieder stellte sie den Geschmack ihres Herrn in den Schatten.

Sie schien Tiro bewußt zu ignorieren, was ihm die Freiheit ließ, sie anzustarren. Er beobachtete sie mit einer Art hilfloser Intensität, die Lippen geschürzt, die Augenbrauen zusammengezogen, als ob er Schmerzen litte.

»Vielleicht beantwortest du einfach nur die Frage. Schließlich habe ich schon für dich bezahlt. Wenn ich unzufrieden bin, werde ich mich bei deinem Herrn beschweren und mein Geld zurückverlangen. Vielleicht schlägt er dich dann.«

Sie lachte laut. »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Und du auch nicht.« Sie nahm einen Kamm zur Hand, der vor einem kleinen Spiegel auf dem Tisch lag, setzte sich auf das Bett, betrachtete ihr Spiegelbild und kämmte sich das Haar. Sie war in der Tat ganz außergewöhnlich. Mein Gastgeber hätte das Doppelte seines ursprünglichen Preises verlangen sollen.

»Du hast recht. Ich hab das nur gesagt, um den Jungen zu erregen.«

Sie wandte ihren Blick gerade lange genug vom Spiegel ab, um mich mit hochgezogener Braue zu mustern. »Du hast eine verdorbene Phantasie. Ich glaube, wir verschwenden mit diesem Gerede nur unsere Zeit.«

Ich schüttelte den Kopf. »Erzähl mir von Elena. Wann hat sie hier aufgehört?«

»Irgendwann im Herbst. Vor dem Winter.«

»Im September vielleicht?«

»Ja, ich glaube schon. Ja, es war kurz nach den römischen Festspielen. Ich kann mich noch daran erinnern, weil an den Feiertagen hier immer viel Betrieb ist. Das müßte dann so Ende September gewesen sein.«

»Wie alt ist Elena?«

»Ein Kind.«

»So jung wie Talia?«

»Ich habe gesagt ein Kind, kein Kleinkind.«

»Und wie sieht sie aus?«

»Sehr hübsch. Eines der hübschesten Mädchen im ganzen Haus, hab ich immer gesagt. Sehr blond mit einer Hautfarbe wie heller Honig. Ich nehme an, ihre Eltern waren Skythen. Sie hatte einen schönen Körper, sehr sinnlich für ihr Alter mit vollen Brüsten, breiten Hüften und einer winzigen Taille. Wie eitel sie wegen ihrer schmalen Taille war!«

»Hatte sie einen speziellen Kunden? Einen Mann, der sie auf eine besondere Art mochte?«

Elektra musterte mich. »Bist du deswegen hier?«

»Ja.«

»Bist du ein Freund dieses Mannes? Wie hieß er noch, Sextus?«

»Ja, so hieß er. Nein, ich war kein Freund von ihm.«

»Du redest, als ob er tot wäre.«

»Das ist er auch.«

Sie legte Kamm und Spiegel in den Schoß. »Und Elena? War sie bei ihm, als er starb? Weißt du, wo sie jetzt ist?«

»Ich weiß gar nichts über sie, außer dem, was du mir über sie sagen kannst.«

»Sie war ein wunderschönes Mädchen. So zart.« Elektra sah auf einmal sehr traurig und sehr schön aus. Nach einem kurzen Moment nahm sie erneut Kamm und Spiegel zur Hand.

»So lange war sie gar nicht hier. Etwa ein Jahr, würde ich sagen. Mein Herr hat sie bei einer Auktion vor dem Tempel des Kastor gekauft, zusammen mit einem halben Dutzend anderer Mädchen, die alle etwa gleich alt waren und dieselbe Hautfarbe hatten. Aber sie war etwas Besonderes, auch wenn er das nie gesehen hat.«

»Aber Sextus hat es gesehen?«

»Der alte Mann? O ja. Nach dem ersten Mal kam er mindestens alle fünf oder sechs Tage. Zum Ende hin tauchte er fast täglich hier auf.«

»Zum Ende?«

»Seitdem sie schwanger war. Bevor sie uns verlassen hat.«

»Schwanger? Wer war der Vater?«

Elektra lachte. »Dies ist ein Bordell, falls du es vergessen hast. Nicht jeder Kunde gibt sich damit zufrieden, einer Frau einfach nur beim Kämmen zuzusehen.« Sie zuckte die Schultern. »An einem Ort wie diesem weiß ein Mädchen nie, welcher Mann der Vater gewesen sein könnte, obwohl einige Mädchen anfangen zu träumen. Bei Elena war es das erste Mal. Ich hab ihr gesagt, sie sollte es wegmachen lassen, aber sie wollte nicht. Eigentlich hätte ich es dem Herrn erzählen müssen.«

»Aber das hast du nicht getan. Warum nicht?«

»Ich hab dir doch schon gesagt: Elena war wunderschön und so zart. Sie wollte dieses Baby so sehr. Ich hab mir gedacht, wenn sie es lange genug vor dem Herrn geheimhalten kann, muß er sie es bekommen lassen, selbst wenn sie es hinterher nicht behalten darf.«

»Aber Elena hat es auch noch einem anderen außer dir erzählt. Einige Mädchen fangen an zu träumen, hast du gesagt. Wovon hat sie denn geträumt?«

Ihre Augen blitzten wütend auf.

»Du weißt es doch schon. Das höre ich an der Art, wie du fragst.«

»Ich weiß nur, was du mir erzählst.«

»Also gut. Sie hat dem alten Mann, Sextus, erzählt, daß sie schwanger ist und daß das Baby von ihm sei. Und der Dummkopf hat ihr geglaubt. Männer in seinem Alter wollen manchmal ganz verzweifelt ein Kind zeugen. Er hat seinen Sohn verloren, weißt du; er hat ihr gegenüber ständig davon geredet. Wer weiß, vielleicht war es ja wirklich sein Kind.«

»Und inwiefern hätte das Elena geholfen?«

»Na wie schon? Das ist das, wovon jedes Mädchen in so einem Haus träumt, zumindest bis sie eines besseren belehrt wird. Ein reicher Mann verliebt sich in sie, kauft sie dem Herrn ab und nimmt sie in sein Haus auf. Vielleicht läßt er sie sogar frei und richtet ihr eine eigene Wohnung ein, wo sie das Kind als Bürgerin großziehen kann. In ihren wildesten Phantasien erkennt er den Bastard vielleicht sogar als sein eigenes Kind an und macht ihn zum Erben. Man hat schon von derartigen Wundern gehört. Elena war noch jung genug, davon zu träumen.«

»Und wie ist ihr Traum ausgegangen?«

»Sextus hat ihr versprochen, daß er sie kaufen und freilassen würde. Er sprach sogar von Heirat. Das hat sie mir jedenfalls erzählt, und ich glaube nicht, daß sie sich das nur ausgedacht hat.«

»Und dann?«

»Er ist einfach nicht mehr gekommen. Elena hat eine Zeitlang gute Miene zum bösen Spiel gemacht, aber ihre Schwangerschaft wurde langsam sichtbar, und die Tage verstrichen. Ich hab sie in den Armen gehalten, wenn sie nachts weinte. Männer sind grausam...«

»Wo ist sie jetzt?« - »Na ja, der Herr hat sie weiterverkauft.«

»An wen?«

»Ich weiß es nicht. Ich dachte, daß es vielleicht Sextus gewesen wäre, der sie schließlich doch noch gekauft hat. Aber jetzt erzählst du mir, daß er tot ist -und du weißt nichts von Elena.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ende September hat man sie abgeholt. Ohne Ankündigung, ohne Vorbereitung. Stabius kam reingeplatzt und sagte, sie solle ihre Sachen zusammenpacken. Der Herr hätte sie verkauft, und sie müsse das Haus auf der Stelle verlassen. Sie zitterte wie ein kleines Kätzchen. Sie weinte vor

Glück, und ich weinte mit ihr. Sie hat sich nicht mal die Mühe gemacht, ihre Sachen mitzunehmen, sie sagte, Sextus würde ihr schon alles kaufen. Ich bin ihr bis zum Ende des Flures gefolgt. Sie haben in der Halle auf sie gewartet. Als ich sie gesehen habe, wußte ich, daß irgend etwas nicht stimmte. Ich glaube, sie wußte es auch, aber sie hat versucht, es zu überspielen. Sie gab mir einen Kuß und lächelte mir zu, während sie mit ihnen durch die Tür ging.«

»Nicht Sextus«, sagte ich. »Zu diesem Zeitpunkt war Sextus Roscius bereits tot.«

»Nein, nicht der alte Herr. Zwei Männer, deren Aussehen mir gar nicht gefallen hat. Weder der große Blonde noch der mit dem Hinkebein.«

Ich mußte, ohne es zu merken, ein Geräusch oder Zeichen von mir gegeben haben. Elektra hörte auf, ihre Haare zu kämmen, und starrte mich an. »Was ist los? Kennst du ihn -den Mann mit dem Hinkebein?«

»Noch nicht.«

Sie legte ihren Kamm beiseite und starrte mich mit durchdringendem Blick an. »Was für eine Art Rätsel ist das? Du weißt, wo Elena ist, oder nicht? Weißt du, wer sie gekauft hat?«

»Ich hab dir doch schon gesagt, alles, was ich über Elena weiß, ist das, was du mir erzählt hast.«

»Das ist eine Lüge«, sagte sie.

Tiro rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Ich glaube, er hatte noch nie einen Sklaven so mit einem Bürger reden hören.

»Ja«, gab ich nickend zu. »Es gibt etwas, das ich über Elena weiß: deswegen bin ich hier. Ich werde es dir erzählen. An dem Abend, als Sextus Roscius ermordet wurde - nicht weit von hier, Elektra, nur ein paar Schritte die Straße hinunter - an jenem Abend war er Gast bei einem Essen im Haus einer wichtigen Patrizierin - Caecilia Metella. Hast du von ihr gehört? Hat Elena sie einmal erwähnt?«

»Nein.«

»Nach Einbruch der Dunkelheit kam ein Bote. Er brachte eine schriftliche Botschaft für Sextus. Sie stammte von Elena, die ihn drängte, sofort ins Haus der Schwäne zu kommen.«

»Ausgeschlossen.«

»Warum?«

»Elena konnte nicht schreiben.«

»Aber vielleicht sonst jemand im Haus.«

»Stabius kann ein bißchen schreiben. Und die Buchhalter, aber die kriegen wir nie zu Gesicht. Ist ja auch egal. Eine Botschaft an einen wohlhabenden Mann senden, ihn wie einen Hund vom Haus einer vornehmen Dame abholen zu lassen - Elena war eine Träumerin, aber sie war nicht verrückt. So etwas hätte sie nie getan, bestimmt nicht ohne meinen Rat einzuholen.«

»Bist du sicher?«

»Absolut.«

Ich nickte und warf einen Blick auf die Sanduhr. Es war noch immer eine beträchtliche Menge Sand übrig. »Ich glaube, wir haben genug geredet«, sagte ich.

Jetzt war es an Elektra, einen Blick auf die Sanduhr zu werfen. Sie schloß einen Moment die Augen. Die Anspannung und Sorge wichen langsam aus ihrem Gesicht. »Nur noch eins.« Sie stand auf und löste die Schnur um ihre Hüfte. »Wenn du irgend etwas über Elena und das Baby in Erfahrung bringst, würdest du es mich wissen lassen? Selbst wenn es eine schlechte Nachricht ist. Du müßtest mich noch nicht einmal wiedertreffen, wenn du nicht willst. Du kannst einfach einen Sklaven zu Stabius schicken. Er wird schon dafür sorgen, daß ich deine Botschaft erhalte.«

»Wenn ich etwas herausfinde, sorge ich dafür, daß du es erfährst.«

Sie nickte dankbar und ließ das Kleid von ihren Hüften gleiten.

Ich sah sie lange an. Sie stand bewegungslos, den Kopf gesenkt, einen Fuß ein wenig vor den anderen gesetzt und die Hände in die Hüften gestützt, damit ich die Linien ihres Körpers betrachten und ihren verführerischen Duft einatmen konnte.

»Du bist eine wunderschöne Frau, Elektra.«

»Das haben schon einige Männer gesagt.«

»Aber ich bin nicht hergekommen, weil ich eine Frau wollte. Ich bin auf der Suche nach Elena.«

»Ich verstehe.«

»Und obwohl ich deinen Herrn dafür bezahlt habe, war es nicht dein Körper, den ich wollte.«

»Ich weiß.« Sie hob ihren Kopf und sah mich an. »Aber uns bleibt immer noch reichlich Zeit.«

»Nein. Nicht für mich. Nicht heute. Aber du kannst mir ein Geschenk machen. Einen Gefallen tun.«

»Ja.«

»Der Junge.« Ich wies auf Tiro, der meinen Blick mit einem Ausdruck von Lust und Verblüffung erwiderte. Sein Gesicht war sehr rot.

»Natürlich«, sagte Elena. »Willst du uns Zusehen?«

»Nein.«

»Willst du uns beide zusammen nehmen?« Sie neigte den Kopf und schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Ich könnte mit einem Teil von dir vorliebnehmen.«

»Du mißverstehst mich. Ich werde in der Halle warten. Ausschließlich der Junge soll seinen Spaß haben, nicht ich. Und du vielleicht auch.«

Sie zog skeptisch die Brauen hoch. Was für eine Art Mann bezahlte schließlich gutes Geld dafür, seinen Sklaven von einer Hure verwöhnen zu lassen?

Ich wandte mich zum Gehen. Tiro wollte ebenfalls aufstehen. »Aber, Herr

»Still, Tiro. Bleib da. Ein Geschenk. Nimm es dankbar an.«

Ich ging und schloß die Tür hinter mir. Ich blieb noch eine ganze Weile im Flur stehen, weil ich halbwegs erwartete, daß Tiro mir doch folgen würde. Er tat es nicht.

In der Halle war das Geschäft in Gang gekommen. Der Besitzer begrüßte neue Gäste; Stabius und ein weiterer Sklave führten die Ware vor. Alle Stühle waren besetzt, und einige Kunden mußten sogar stehen. Ich gesellte mich zu ihnen, hielt mich jedoch unauffällig im Hintergrund. Es dauerte nicht lange, bis Tiro rasch den Flur hinuntergelaufen kam, wobei er mit unbeholfenen Bewegungen seine Tunika an den Schultern zurechtzupfte. Sein Gesicht war feucht von Schweiß und sein Haar zerzaust. Er hatte sich nicht einmal die Zeit gelassen, seine Kleider zu richten, bevor er aus dem Zimmer gestürzt war.

»Fertig?« fragte ich.

Ich erwartete ein Grinsen, aber er sah mich kaum an, bevor er in die kleine Menge eintauchte und unbarmherzig zur Tür drängte. Ich folgte ihm, nachdem ich einen Blick über die Schulter auf die neueste Auswahl von Mädchen geworfen hatte. Unter ihnen war auch die junge Talia. Ihr Besitzer hatte ihr das Gewand von der Schulter gezogen und tätschelte sanft ihre Brüste. »Sie errötet noch, siehst du?« hörte ich ihn sagen. »Wie ihr die Farbe in die Wangen schießt. Sie errötet auch noch an anderen Stellen, die zu erwähnen zu delikat wäre...«

Auf der Straße ging Tiro so schnell, daß ich rennen mußte, um ihn einzuholen. »Ich hätte es nicht tun dürfen«, sagte er kopfschüttelnd und stur nach vorne starrend.

Ich legte meine Hand auf seine Schulter. Obwohl er zunächst wegzuckte, verlangsamte er doch seinen Schritt wie ein gehorsames Pferd. »Fandest du sie nicht begehrenswert, Tiro?«

»Natürlich fand ich das. Sie ist...« Er suchte nach einem Wort und zuckte, als er kein angemessenes fand, mit den Schultern.

»Hat es dir keinen Spaß gemacht?«

»Doch, natürlich.«

»Dann hättest du dich wenigstens bedanken können.«

»Aber ich hätte es nicht tun dürfen«, murrte er. »Es war schließlich Ciceros Geld, nicht deins. Du wirst ihm die Kosten berechnen, was glaubst du, würde er sagen, wenn er davon wüßte? Daß du sein Geld benutzt, eine Frau für mich zu kaufen...«

»Er muß es ja nicht erfahren. Außerdem hatte ich sowieso schon für die Hure bezahlt; es war eine legitime Ausgabe, das mußt du zugeben. Es war nur vernünftig, daß einer von uns auch Gebrauch von ihr gemacht hat.«

»Ja, wenn du es so sehen willst. Trotzdem...« Er sah mich direkt an, nur einen Augenblick lang, aber lange genug, um in ihn hineinzusehen. Nicht wegen des Vertrauensbruchs gegenüber Cicero fühlte er sich schuldig, sondern wegen des Betrugs an jemand anderem.

Da wurde mir zum ersten Mal klar, wie stark Tiro für die Tochter von Sextus Roscius entflammt war.

Erneut kamen wir an dem Mietshaus der Witwe Polia vorbei, an dem Blutfleck und dem Laden des Alten und seiner Frau. Tiro war in der Stimmung, schnell zu gehen; ich hielt zunächst Schritt und beschleunigte unser Tempo dann noch. Für einen Tag hatte ich genug von Fremden und ihren Tragödien. Ich wollte endlich wieder zu Hause sein.

Wir betraten den Platz. Die Läden hatten wieder aufgemacht; die Straßenhändler waren zurückgekehrt. Die Sonne stand immer noch über den Dächern und fiel auf die öffentliche Sonnenuhr. Bis zur Dämmerung blieb noch eine Stunde.

Um die Zisterne spielten Kinder; Hausfrauen und Sklaven standen Schlange, um Wasser für das Abendessen zu holen. Der Platz hallte von Lärm und Getriebe wider, doch irgend etwas fehlte. Erst allmählich wurde mir klar, daß die Hälfte der Menschen ihr Gesicht in dieselbe Richtung gewandt hatten. Einige von ihnen zeigten auf etwas.

Rom ist eine Stadt der Brände und des Rauchs. Die Leute leben vom Brot, Brot wird in Öfen gebacken, und Öfen stoßen Rauchwolken aus. Aber der Rauch eines brennenden Mietshauses sieht völlig anders aus. Er ist dick und schwarz; an klaren Tagen steigt er in fetten Säulen auf. Ascheströme treiben und wirbeln am Himmel, um ins Herz des Feuers eingesogen und um so höher hinaufgeschleudert zu werden.

Das Feuer lag direkt auf unserem Weg, irgendwo zwischen unserem jetzigen Standpunkt und dem Kapitolinischen Hügel. Als Tiro es erblickte, schien er auf einmal von allen Sorgen befreit. Sein Gesicht wurde vom glatten, gesunden Glanz der Erregung überzogen, und er beschleunigte seinen Schritt. Es ist der natürliche Impuls des Menschen, Feuer zu fliehen, aber das Stadtleben zerstört die tierischen Instinkte; auf unserem Weg zum Brandherd kam uns keine einzige Person entgegen, sondern wir wurden statt dessen in einen ständig anschwellenden Sog von Fußgängern und Pferdewagen aus allen Richtungen hineingezogen, in dem die Leute von überall herbeigeeilt kamen, um die Katastrophe auf ihrem Höhepunkt zu erleben.

Die Brandstelle befand sich nahe am Fuß des Kapitolinischen Hügels, direkt jenseits der Servianischen Mauer, in einem Block von schicken Wohnungen südlich des Circus Flaminius. Ein dreistöckiges Mietshaus stand völlig in Flammen. Sie schlugen aus den Fenstern und tanzten auf dem Dach. Wenn es ein Drama von der Art gegeben hatte, wie die Menge es so liebte, hatten wir es verpaßt; man sah keine hilflosen Opfer, die von den oberen Fenstern herunterschrien, keine Babys, die auf die Straße geworfen wurden. Die Bewohner waren entweder bereits geflohen oder lagen tot im Innern.

Hier und da sah ich in der Menge Frauen, die sich die Haare rauften, weinende Männer und eng umeinander gescharte Familien. Die Trauernden und Mittellosen wurden von der allgemeinen Menschenansammlung verschluckt, die die lodernden Flammen mit unterschiedlichen Mienen beobachteten, die alle Regungen von Ehrfurcht bis Entzücken widerspiegelten.

»Angeblich ist es im Lauf des Nachmittags ausgebrochen«, sagte ein Mann in unserer Nähe, »und hat so lange gebraucht, das ganze Gebäude zu erfassen.« Sein Freund nickte ernst. »Trotzdem sollen mehrere Familien in den oberen Stockwerken eingeschlossen worden und bei lebendigem Leibe verbrannt sein. Man hat sie schreien hören. Ein brennender Mann hat sich noch vor knapp einer Stunde aus einem der oberen Fenster auf die Straße gestürzt und ist mitten in der Menge gelandet. Wenn wir dort hinübergehen, können wir vielleicht noch die Stelle erkennen, wo er aufgeschlagen ist...«

In einem Korridor zwischen den Flammen und den Schaulustigen rannte ein graubärtiger Mann hektisch hin und her und engagierte Passanten, ihm beim Löschen zu helfen. Der angebotene Lohn war kaum mehr als die symbolische Honorierung eines freiwilligen Einsatzes, und nur wenige gingen darauf ein. Es bestand kaum Gefahr, daß sich das Feuer in nördlicher Richtung den Hügel hinauf ausdehnte; es wehte kein Wind, der die Flammen dorthin hätte tragen können, und die großen Freiflächen zwischen den einzelnen Gebäuden boten hinreichend Schutz. Aber in südlicher Richtung zum Circus hin grenzte ein weiteres, kleineres Mietshaus an das brennende Gebäude und war nur durch einen schmalen Spalt von den Flammen getrennt, die ein großer Mann mit ausgestreckten Armen hätte überbrücken können. Die gegenüberliegende Wand war bereits rauchgeschwärzt, und als das brennende Haus einzustürzen begann, fielen kleine Asche- und Schutthäufchen in den Zwischenraum, wobei einige brennende Teilchen auf dem Dach des niedrigeren Gebäudes gegenüber landeten, von wo eine Mannschaft von Sklaven sie hastig auf die Straße schaufelte.

Ein vornehmer, gutgekleideter Mann, der von einer großen Gefolgschaft von Sklaven, Sekretären und Gladiatoren begleitet wurde, trat aus der Menge hervor und sprach den verzweifelten Graubärtigen an. »Bürger«, rief er ihm zu, »bist du der Besitzer dieser Häuser?«

»Nicht von dem brennenden Haus«, gab der ungehalten zurück. »Das gehört meinem dummen Nachbarn Varius. Er ist ein Idiot, der seinen Mietern auch am heißesten Tag des Jahres erlaubt, Feuer zu machen. Er ist nicht etwa hier und bekämpft das Feuer. Wahrscheinlich macht er gerade Ferien in Baiae. Das andere Haus gehört mir, das, das noch steht.«

»Aber vielleicht nicht mehr sehr lange.« Der Patrizier sprach mit fester Stimme, die auch auf dem Forum jederzeit einen guten Eindruck gemacht hätte. Sein Gesicht war mir unbekannt, aber ich wußte, um wen es sich handelte.

»Crassus«, flüsterte ich.

»Ja«, sagte Tiro, »Crassus. Mein Herr kennt ihn.« In seiner Stimme klang eine Spur von Stolz mit, der Stolz derjenigen, die die Tuchfühlung mit der Prominenz genießen, egal, worauf sich deren Berühmtheit gründet. »Kennst du das Lied: >Crassus, Crassus, reich wie Kroesus<. Man sagt, er sei schon jetzt der reichste Mann Roms, Sulla nicht mitgerechnet natürlich, womit er reicher ist als die meisten Könige unserer Zeit, und er wird jeden Tag reicher. Sagt jedenfalls Cicero.«

»Und was sagt dein Herr sonst noch über Crassus?« Das Objekt unserer Erörterungen hatte einen Arm um die Schulter des Graubärtigen gelegt. Gemeinsam gingen sie zu einer Stelle, von wo aus sie einen besseren Blick auf die Lücke zwischen den beiden Gebäuden hatten. Ich folgte ihnen und starrte an ihnen vorbei in die Spalte, die wegen des fortwährenden Regens von Asche und glühenden Ziegeln unpassierbar war.

»Man sagt, daß Crassus über viele Tugenden verfügt und nur ein Laster hat, und das ist seine Habgier. Aber Cicero sagt, daß Gier nur das Symptom eines noch tiefer liegenden Lasters ist: des Neides. Reichtum ist alles, was Crassus hat. Er scheffelt ihn, weil er mißgünstig ist auf die Qualitäten anderer Männer, als ob sein Neid eine tiefe Grube wäre und er sie nur mit genug Gold und Vieh und Häusern und Sklaven zuschütten müßte, um endlich auf einer Stufe mit seinen Rivalen zu stehen.«

»Dann sollten wir also Mitleid mit Marcus Crassus haben? Dein Herr ist wirklich sehr mitfühlend.«

Wir ließen die Menge der Schaulustigen hinter uns und drängten uns näher heran, um zu hören, was sich Crassus und der Besitzer des Mietshauses über dem Prasseln der Flammen zuriefen. Das Feuer schlug mir wie heißer Atem ins Gesicht, und ich mußte die Augen wegen der durch die Luft wirbelnden Ascheteilchen zukneifen.

Wir standen im Herzen der Krise. Es schien ein seltsamer Ort, um ein Geschäft abzuschließen,wenn man den Vorteil außer acht ließ, den er Crassus bot. Der arme Graubärtige sah nicht so aus, als würde er einen harten Verhandlungspartner abgeben. Über dem Knistern der Flammen konnte ich Crassus’ ausgebildete Rednerstimme hören wie Glockengeläut.

»Zehntausend Denar«, tönte er. Ich konnte die Antwort des Hauseigentümers nicht verstehen, las jedoch in seiner Miene und seinen Gesten Empörung. »Also gut.« Crassus zuckte die Schultern. Er schien gerade einen höheren Preis anbieten zu wollen, als vor dem gefährdeten Gebäude eine Flammenwand hochschlug. Ein Trupp Arbeiter rannte sofort zu der Stelle, schlug mit Lumpen auf die Flammen ein, während Eimer voll Wasser von Hand zu Hand gereicht wurden. Ihre Bemühungen schienen den neuen Brandherd zu ersticken, als die Flammen plötzlich an einer ganz anderen Stelle erneut aufloderten.

»Achttausendfünfhundert«, sagte Crassus. »Mein letztes Angebot. Mehr als der Preis für das kahle Grundstück, was nach Lage der Dinge bald alles sein könnte, was noch übrig ist. Und bedenke die Kosten für den Abtransport des ganzen Schutts.« Er starrte in das Flammenmeer und schüttelte den Kopf. »Achttausend, nicht mehr. Wenn du interessiert bist, mußt du jetzt zuschlagen. Wenn die Flammen erst einmal Ernst machen, werde ich dir kein As mehr bieten.«

Der Graubärtige verzog gequält das Gesicht. Ein paar tausend Denar waren kaum ein angemessener Preis. Aber wenn das Gebäude völlig ausgebrannt war, war es völlig wertlos.

»Trommle mein Gefolge zusammen«, rief Crassus seinem Sekretär zu. »Sag ihnen, sie sollen sich zum Abmarsch bereit halten, ich bin hergekommen, um zu kaufen, nicht um ein Haus in Flammen aufgehen zu sehen.«

Der Graubärtige brach zusammen. Er packte Crassus’ Ärmel und nickte. Der machte seinem Sekretär ein Zeichen, worauf jener sofort eine fette Börse hervorzog und den Mann an Ort und Stelle bezahlte.

Crassus hob die Hand und schnippte mit den Fingern. Sofort geriet seine ganze Mannschaft in Bewegung. Gladiatoren und Sklaven huschten zwischen den Gebäuden hin und her wie Ameisen, rissen den erschöpften Freiwilligen die Eimer aus der Hand, lösten Pflastersteine und warfen Steinbrocken, Lehm und alles Unbrennbare, was sich sonst finden ließ, in die Lücke zwischen den beiden Häusern.

Crassus machte auf dem Absatz kehrt und kam direkt auf uns zu. Ich hatte ihn schon oft auf dem Forum gesehen, aber noch nie aus solcher Nähe. Er war kein schlecht aussehender Mann, dessen Haare sich lichteten, ein wenig älter als ich, mit einer ausgeprägten Nase und einem hervorstehenden Kinn. »Bürger!« rief er mir zu. »Schließ dich dem Kampf an. Ich werde dir den zehnfachen Tageslohn eines Arbeiters zahlen, die eine Hälfte jetzt, die andere später, und das gleiche für deinen Sklaven.«

Ich war zu überrascht, um zu antworten. Crassus ging völlig unbeeindruckt weiter und machte jedem halbwegs kräftigen Mann in der Menschenmenge dasselbe Angebot. Sein Sekretär folgte ihm auf dem Fuß und zahlte die Honorare aus.

»Sie müssen den Rauch gesehen haben und vom Forum direkt über den Hügel gekommen sein«, sagte Tiro.

»Eine Chance, ein Haus am Fuß des Kapitols praktisch umsonst zu erwerben - warum nicht? Ich hab gehört, daß er auf allen Hügeln Sklaven postiert hat, um nach Bränden Ausschau zu halten, damit er als erster an der Brandstelle ist und die Überreste aufkaufen kann.«

»Das ist noch längst nicht die übelste Geschichte, die man sich über Crassus erzählt.« Tiros Gesicht wurde fahl, entweder wegen meines kritisch musternden Blicks oder wegen der Hitze des Feuers.

»Was soll das heißen?«

»Nun ja, nur daß er sein Vermögen durch die Proskriptionen gemacht hat. Als Sulla seine Feinde enthaupten ließ, wurde ihr Besitz vom Staat beschlagnahmt. Ganze Güter wurden zur Versteigerung freigegeben. Sullas Freunde konnten sie zu skandalös niedrigen Preisen kaufen. Und sonst wagte keiner mitzubieten.«

»Das weiß doch jeder, Tiro.«

»Aber Crassus ist eines Tages zu weit gegangen. Selbst für Sulla.«

»Inwiefern?« Tiro senkte die Stimme, obwohl uns vermutlich niemand bei dem Knattern der Flammen und dem plötzlichen Lärm von Crassus’ Mietlingen hätte hören können. »Eines Tages habe ich mitbekommen, was Rufus meinem Herrn erzählt hat. Wie du weißt, ist Rufus Sullas Schwager, seit der mit Valeria verheiratet ist; er hört alle möglichen Sachen, die sonst Sullas Haus nie verlassen würden.«

»Ja, und weiter?«

»Man erzählt sich, daß Crassus den Namen eines Unschuldigen auf die Listen setzen ließ, damit er die Grundstücke des Mannes in die Finger kriegen konnte. Es handelte sich um einen alten Patrizier, der niemanden mehr hatte, der seine Interessen wahrnahm; seine Söhne waren in den Kriegen gefallen -im Kampf für Sulla! Der arme Mann wurde von Schlägern aufgegriffen und noch am selben Tag geköpft. Ein paar Tage später wurden seine Güter versteigert, und Crassus sorgte dafür, daß sonst niemand mitbieten durfte. Die Proskriptionen waren ursprünglich nur für politische Feinde gedacht, und das war schon schlimm genug, aber Crassus hat sie benutzt, um seine persönliche Gier zu befriedigen. Sulla raste vor Wut oder hat zumindest so getan. Und er hat Crassus seither nicht mehr für ein öffentliches Amt kandidieren lassen, weil er Angst hat, daß der Skandal publik wird.«

Ich suchte die geschäftige Menge nach Crassus ab. Er stand inmitten der pulsierenden Masse von Sklaven und Gladiatoren und starrte, ohne das Durcheinander um ihn herum zu beachten, wie ein stolzer Vater auf seine Neuerwerbung. Ich drehte mich um und folgte seinem Blick. Gemeinsam beobachteten wir, wie die Grundmauer des brennenden Mietshauses mit einem sprühenden Funkenregen in sich zusammenstürzte. Das Feuer war unter Kontrolle. Das kleinere Gebäude war gerettet.

Wieder blickte ich zu Crassus. Seine Miene war von einer fast inbrünstigen Freude gerötet - die Ekstase über einen günstigen Handel stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Im rötlichen Schein des lodernden Feuers sahen seine Züge glatter und jünger aus, als es seinem Alter entsprach, siegestrunken und mit Augen, die vor unstillbarer Gier leuchteten. Ich starrte in das Antlitz von Marcus Licinius Crassus und sah die Zukunft Roms.

14

Cicero war noch immer unpäßlich, als ich mit Tiro zu seinem Haus auf dem Kapitol zurückkehrte. Sein alter Diener teilte uns mit ernster Miene mit, daß sein Herr gegen Mittag aufgestanden sei und sogar den Abstieg bis zum Forum bewältigt habe, um irgendwelchen Geschäften nachzugehen, jedoch von seiner Darmverstimmung geschwächt und von der Hitze erschöpft nach kurzer Zeit zurückgekehrt sei. Cicero hatte sich zu Bett begeben und

Anweisung erteilt, daß nicht einmal Tiro ihn stören solle. Das konnte mir nur recht sein. Mir war überhaupt nicht danach, die Ereignisse und die Akteure des Tages vor Ciceros kritischem Auge Revue passieren zu lassen.

Tiro machte sich stark, mir Essen und Trinken und sogar ein Bett anzubieten, falls ich zu erschöpft sei, um nach Hause zu gehen. Ich lehnte ab. Ich erklärte ihm, daß er mich frühestens übermorgen Wiedersehen würde. Ich hatte beschlossen, dem Städtchen Ameria und den Landgütern des Sextus Roscius einen Besuch abzustatten.

Der Spaziergang den Hügel hinab und über das Forum verschaffte mir wieder einen klaren Kopf. Es war Abendessenszeit, und von jeder Ecke wehte der laue Wind mir den Duft diverser Gerichte um die Nase. Auf dem Forum ging ein weiterer, langer geschäftiger Tag zu Ende. Die tiefstehende Sonne warf lange Schatten auf die offenen Plätze. Hier und dort ging das Geschäft noch ein wenig weiter. Bankiers standen in kleinen Gruppen am Fuße der Tempelstufen und tauschten den letzten Tagesklatsch aus; Freunde riefen sich kurzfristige Einladungen zum Abendessen zu; ein paar vereinzelte Bettler saßen in windgeschützten Ecken und zählten ihre Tageseinnahmen.

Vielleicht ist Rom zu dieser Stunde am angenehmsten. Das wahnwitzige Getriebe des Tages ist vorüber, die Mattigkeit eines warmen Abends steht bevor. Zur Dämmerung bewegt Rom errungene Siege und bevorstehende Annehmlichkeiten in seinem Herzen. Egal, ob sich die Siege als trivial und flüchtig, die Annehmlichkeiten als unbefriedigend erweisen, zu dieser Stunde ist Rom im Frieden mit sich selbst. Sind die Denkmäler von Göttern und Helden der glorreichen römischen Vergangenheit von Verfall und Vernachlässigung gezeichnet? In diesem Licht erscheinen sie wie frisch gemeißelt, die bröckelnden Kanten geglättet, die Risse vom sanften Zwielicht gekittet. Ist die Zukunft ungewiß und unvorhersehbar, ein fiebriger Sprung in das Dunkel? Gewiß, die Dunkelheit lauert schon, doch noch ist sie nicht herabgesunken, und Rom kann sich immer noch einbilden, daß die Nacht der Stadt nur süße Träume bringen wird und die Alpträume für ihre Untertanen bereithält.

Ich verließ das Forum und folgte gewöhnlicheren Straßen. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, die Sonne könne am Horizont stehenbleiben, wie ein Feuerball, der auf einer Fensterbank liegt, und die Dämmerung könne immerfort verweilen. Zu welch geheimnisvoller Stadt sich Rom dann verwandeln würde, auf ewig in blaue Schatten getaucht, die unkrautbewachsenen Gänge und Gassen kühl und wohlriechend wie moosige

Ufer, die großen Straßen mit dunklen schattigen Narben kleinerer Nebenstraßen gesäumt, in denen die Römer sich finden und fortpflanzen.

Ich kam zu dem langen, gewundenen und kahlen Durchgang, durch den ich Tiro am Vortag geführt hatte, die enge Gasse. Mein Gefühl von Frieden und heiterer Erwartung verließ mich. Die enge Gasse bei Sonnenaufgang zu passieren ist eine Sache, in der Dunkelheit jedoch ist sie ein völlig anderer Ort. Nach wenigen Schritten war ich bereits von verfrühter Finsternis umfangen, mit schwarzen Mauern zu beiden Seiten, ein vages Grau vor und hinter und ein dünnes Band dämmrig blauen Flimmels über mir.

An einem solchen Ort bildet man sich leicht nicht nur alle möglichen Geräusche und Gestalten ein, sondern auch einen ganzen Katalog anderer Phänomene, die von namenlosen und feineren Sinnen als Augen und Ohren wahrgenommen werden. Wenn ich nun also glaubte, Schritte in meinem Rücken zu hören, war das nicht das erste Mal, daß mir das in der engen Gasse passierte. Wenn es mir so vorkam, daß die Schritte jedesmal verharrten, wenn ich stehenblieb, um zu lauschen, und ihren Gang wieder aufnahmen, wenn auch ich mich entschloß, weiterzueilen, so war das keine neue Erfahrung. Aber an jenem Abend verspürte ich auf einmal eine ungewohnte Sorge, fast eine Panik. Ich ging, ohne es recht zu merken, schneller und schneller und sah mich häufig über die Schulter um, um mich zu vergewissern, daß das Nichts, das ich vor wenigen Augenblicken gesehen hatte, noch immer dasselbe Nichts war, das mich zäh verfolgte. Als ich zu guter Letzt aus der engen Gasse auf die breitere Straße trat, kamen mir die letzten Spuren der Dämmerung hell und einladend vor wie die Mittagssonne.

Ich mußte noch eine Sache erledigen, bevor ich mich auf meinen Weg den Esquilin hinauf begab. In der Via Subura gibt es nicht weit von dem Pfad, der zu meinem Haus führt, Stallungen, in denen in der Stadt zu Besuch weilende Bauern einen Stand und Stroh für ihre Klepper finden und Reiter ihre Pferde wechseln. Der Besitzer ist ein alter Bekannter. Ich erklärte ihm, daß ich am nächsten Tag ein Reittier für einen kurzen Ausflug nach Ameria und zurück brauchte.

»Nach Ameria?« Er hockte auf einer Bank und prüfte im Licht einer frisch entzündeten Lampe seinen Tagesumsatz. »Da mußt du mindestens mit acht Stunden rechnen.«

»Mehr Zeit darf ich nicht brauchen. Wenn ich erst einmal dort bin, muß ich den restlichen Tag nutzen, um meine Geschäfte zu erledigen, und dann ganz früh am nächsten Morgen wieder zurück nach Rom aufbrechen. Es sei denn, ich muß schon vorher eine überstürzte Flucht antreten.«

Der Stallmeister sah mich mißtrauisch an. Er ist sich bis heute nicht sicher, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene, vermutet jedoch wegen der abseitigen Tageszeiten, zu denen ich komme und gehe, wahrscheinlich, daß es irgend etwas Anrüchiges sein muß. Trotzdem bin ich immer absolut zuvorkommend bedient worden.

»Ich nehme an, du machst dich allein auf den Weg wie ein verdammter Idiot?«

»Ja.«

Er räusperte sich und spuckte auf den mit Stroh bedeckten Boden. »Dann brauchst du ein schnelles, kräftiges Pferd.«

»Dein schnellstes und kräftigstes«, stimmte ich ihm zu. »Vespa.«

»Und wenn Vespa nicht zur Verfügung steht?«

»Ich kann ihren Schwanz von hier aus über ihr Gatter hängen sehen.«

»Ach, tatsächlich. Eines Tages kommst du wahrscheinlich mit der Geschichte von ihrem traurigen Ende zu mir zurück und wie du alles in deinen Kräften Stehende getan hast, sie vor Schlimmerem zu bewahren. Eine >überstürzte Flucht<, was du nicht sagst. Wovor? Aber das wirst du mir natürlich nicht sagen. Sie ist meine beste Stute. Ich sollte sie nicht an einen Mann ausleihen, der sie überstrapazieren und außerdem noch in Gefahr bringen wird.«

»Es ist viel wahrscheinlicher, daß Vespa eines Tages von einem Ausritt mit mir unversehrt, aber ohne Reiter zu dir zurückkehrt, worüber du allerdings kaum eine Träne vergießen dürftest. Ich werde morgen früh vor Anbruch der Dämmerung hier sein. Halte das Pferd für mich bereit.«

»Zum üblichen Preis?«

»Nein«, sagte ich und sah, wie sein Kinn herunterfiel. »Der übliche Preis -plus einen besonderen Zuschlag.« Im blauen Zwielicht und dem blassen Schein der Lampe konnte ich in seinem Gesicht die Falten eines widerwilligen Lächelns ausmachen. Ich würde Cicero das Zusatzhonorar in Rechnung stellen.

Auf den Kuppen der sieben Hügel Roms hält sich der Tag am längsten. Die Sonne war endgültig untergegangen, aber der Hügel des Esquilin erstrahlte noch immer in hellerem Licht, als die schmale, in tiefem Schatten liegende Ader, die zu seinen Füßen pulsierte. Als ich den holprigen Pfad zu meinem Haus hinaufeilte, betrat ich einen Raum verbliebenen, blaßbläulichen Zwielichts. Über dem Hügel leuchteten bereits schwach die ersten Sterne an einem Himmel von tiefstem Blau.

Meine Nase witterte es zuerst. Der Geruch von lange in der Sonne gebackenen Exkrementen schlug mir über die Pflastersteine entgegen. Irgendwann im Laufe des Tages hatte meine Nachbarin vom Lande ihre Gabe über die Mauer auf den Pfad zu meinem Haus geworfen, und mein anderer Nachbar hatte sie noch nicht eingesammelt. Aus alter Gewohnheit hielt ich die Luft an, raffte meine Toga und trat ein wenig zur Seite, als ich mich der dunklen Masse näherte, die wie eine brütende Kröte im Weg hockte. Zufällig warf ich einen Blick nach unten und erinnerte mich lächelnd daran, wie ich Tiro davor bewahrt hatte, seine Schuhe zu ruinieren.

Ich blieb stehen. Trotz des verblassenden Lichtes und der weichen Schatten waren die Fußabdrücke in den Exkrementen von beinahe übernatürlicher Klarheit. Zumindest zwei Männer hatten mir in meiner Abwesenheit einen Besuch abgestattet. Und beide hatten es auf dem Rückweg geschafft, in die Scheiße zu treten.

Aus keinem vernünftigen Grund beschleunigte ich meine Schritte. Mein Herz pochte plötzlich laut in meinen Ohren. Gleichzeitig bildete ich mir ein, die Stimme einer Frau zu hören, die von irgendwo weiter unten am Fuße des Hügels meinen Namen rief.

Meine Haustür stand weit offen. Von außen hatte jemand am Türrahmen einen dunklen, leuchtenden Händeabdruck hinterlassen. Ich mußte ihn nicht berühren; selbst im farblosen Zwielicht konnte ich noch erkennen, daß es der Abdruck einer blutigen Hand war.

Im Haus war alles still. Keine Lampen oder Kerzen brannten; nur das letzte Licht der Dämmerung im Garten beleuchtete die Szenerie, eine riesige Raute gespenstischen Blaus, das zwischen den Säulen in die offenen Räume sickerte. Unter mir erstreckte sich der Fußboden düster und ungewiß wie die Oberfläche eines Teiches, aber direkt vor meinen Füßen konnte ich deutlich Blutflecken erkennen - dicke Tropfen, einige unberührt, andere verschmiert, als habe jemand hineingetreten. Die Tropfen bildeten eine Spur, die an der Wand von Bethesdas Zimmer endeten.

Genau in der Mitte der Wand war ein riesiger Blutspritzer, pechschwarz auf dem weißen Verputz, mit winzigen, bis zur Decke ausfächernden Fäden und einer breiten Schmierspur, die bis zum Boden führte. Daneben hatte jemand mit Blut eine Botschaft gekritzelt. Die Buchstaben waren klein, unregelmäßig und plump. In der Dunkelheit konnte ich sie nicht entziffern.

»Bethesda?« flüsterte ich. Das Wort hallte dumm und nutzlos in meinen Ohren nach. Ich wiederholte es lauter und lauter und war erschreckt, wie schrill meine Stimme klang. Niemand antwortete.

Ich rührte mich nicht. Die Stille war umfassend. Dunkelheit schien sich in jeder Ecke zu sammeln, aufzusteigen und den Raum zu erfüllen. Unter dem Licht des Mondes und der Sterne war der Garten aschgrau geworden. Die Dämmerung war vorüber. Die Nacht hatte sich gesenkt.

Ich machte ein paar Schritte von der Wand weg und versuchte zu überlegen, wo ich eine Lampe und Zünder finden konnte. Bethesda hatte sich stets um alle Feuer im Haus gekümmert. Der Gedanke an sie riß ein schwarzes Loch der Angst in meinen Magen. Im selben Moment stolperte ich über irgend etwas, das auf dem Boden lag.

Es war klein, weich und rührte sich nicht. Ich machte einen Schritt zurück und rutschte in einer Blutlache aus. Die Gestalt zu meinen Füßen war fast völlig ins Dunkel getaucht und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, aber ich wußte sofort, was es war oder gewesen war.

In der Tür erschien ein flackerndes Licht. Ich wich zurück und verfluchte mich dafür, daß ich keine Waffe bei mir hatte. Dann fiel mir das Messer ein, das mir der stumme Junge gegeben hatte und das noch immer in den Falten meiner Tunika steckte. Ich griff danach, tastete blindlings umher, bis meine Hand auf den Knauf stieß. Ich zog das Messer und ging mit schnellen, festen Schritten zur Tür, wo ich auf das aus dem Dunkel auftauchende Licht der Lampe stieß, es mit einer raschen Bewegung umkreiste und dem, der sie trug, von hinten meinen Arm um den Hals schlang.

Sie kreischte auf und biß mich in den Unterarm. Ich versuchte, mich loszureißen, aber ihre Zähne waren tief in mein Fleisch gegraben. »Bethesda«, flehte ich, »laß mich los!«

Sie öffnete den Mund und fuhr herum, den Rücken zur Wand. Sie wischte sich das Blut von den Lippen. Irgendwie war es ihr gelungen, die Lampe aufrecht und am Brennen zu halten, ohne einen Tropfen Öl zu vergießen.

»Warum hast du das getan?« schrie sie. Sie hämmerte mit der Faust gegen die Wand in ihrem Rücken. Aus ihrem Blick sprach eine Art Wahnsinn.

Im Licht der Lampe sah ich die Wunden in ihrem Gesicht und an ihrem Hals. Der Kragen ihres Kleids war völlig zerfetzt.

»Bethesda, bist du verletzt? Blutest du?«

Sie schloß die Augen und atmete tief ein. »Nur ein bißchen.« Sie hielt die Lampe hoch, blickte in den Raum und verzog das Gesicht zu einer so entsetzten Grimasse, daß ich glaubte, eine neue Gefahr sei in das Haus eingedrungen. Doch als ich ihrem Blick zum Boden folgte, sah ich nur die zerschmetterte und blutgetränkte Leiche ihrer geliebten Bast.

*

Ich versuchte, sie festzuhalten, aber Bethesda ließ sich nicht halten. Zitternd riß sie sich los und eilte von Raum zu Raum, um mit ihrer Lampe jede Kerze und Lampe im Haus anzuzünden. Als es überall hell war und sie sich vergewissert hatte, daß niemand mehr in dunklen Ecken lauerte, verriegelte sie die Tür und ging erneut durchs ganze Haus, um alle Fenster zu schließen.

Ich sah ihr schweigend zu. Im flackernden Licht sah ich die Zerstörung, die im Haus angerichtet worden war: umgestürzte Möbel, von der Wand gerissene Vorhänge, zertrümmerte Gegenstände. Ich senkte den Blick, vom Chaos betäubt, und ertappte mich dabei, der Blutspur von der verstümmelten Leiche Basts über den Boden bis zu der Schrift an der Wand zu folgen. Die Buchstaben waren unterschiedlich groß, viele waren unförmig oder spiegelverkehrt, aber die Rechtschreibung war korrekt, möglicherweise ein totaler Analphabet, der die Zeichen von einer Vorlage abgeschrieben hatte. Es tat mir in den Augen weh, sie zu lesen:

Schweig oder stirb Lass der römischen Justiz IHREN GERECHTEN LAUF

Bethesda ging an mir vorbei, wobei sie einen großen Bogen um die tote Katze machte und ihren Blick von der Wand abgewandt hielt. »Du mußt recht hungrig sein«, sagte sie. Ihre Stimme war seltsam sachlich und ruhig.

»Sehr hungrig«, gab ich zu. Ich folgte ihr in die Küche im hinteren Teil des Hauses.

Sie nahm den Deckel von einem Topf, nahm einen ganzen Fisch und warf ihn auf den Tisch, wo er einen strengen Geruch in der warmen, stehenden Luft verströmte. Daneben lagen eine Handvoll frische Kräuter, eine Zwiebel und einige Weinblätter. »Siehst du«, sagte Bethesda, »ich war gerade vom Markt zurückgekommen.«

»Wann sind sie gekommen? Wie viele waren es?«

»Zwei Männer.« Sie griff nach einem Messer, ließ es auf den Fisch niedersausen und trennte seinen Kopf mit einem einzigen sauberen Schlag ab. »Sie waren zweimal hier. Das erste Mal am späteren Vormittag. Ich habe getan, was du mir immer aufträgst, die Tür verriegelt und durch das kleine Fenster mit ihnen gesprochen. Ich hab ihnen gesagt, daß du weg bist und wahrscheinlich erst sehr spät wiederkommst. Sie haben ihren Namen nicht gesagt. Sie meinten, sie würden später noch mal wiederkommen.«

Ich beobachtete, wie sie mit ihren Fingernägeln und der scharfen Spitze des Messers den Fisch säuberte. Sie war außergewöhnlich geschickt mit ihren Händen.

»Später bin ich dann zum Markt gegangen. Ich hab den Fisch ganz billig bekommen. Es war so heiß, und der Markt war staubig, so daß der Mann Angst hatte, der Fisch würde verderben, bevor er ihn verkaufen könnte. Ganz frisch aus dem Fluß. Ich habe meine Einkäufe erledigt und bin den Hügel hochgelaufen. Die Tür war geschlossen, der Riegel an Ort und Stelle. Ich hab das extra überprüft, genau wie du mir immer sagst.«

Sie begann, mit festen, schnellen Hieben die Kräuter zu hacken. Die alte Frau des Ladenbesitzers fiel mir ein.

»Aber der Tag war so heiß und windstill. Kein Lüftchen aus dem Garten. Ich konnte mich kaum wachhalten. Also hab ich die Tür offen gelassen. Ich wollte nur kurz lüften, und dann hab ich sie wohl vergessen. Ich war so müde, daß ich mich in meinem Zimmer hingelegt habe. Ich weiß nicht, ob ich wirklich eingeschlafen bin, aber nach einer Weile hörte ich sie in der Halle. Irgendwie hab ich gleich gewußt, daß es dieselben Männer waren. Sie fingen an, deinen Namen zu rufen und Unverschämtheiten zu brüllen. Ich hab mich in meinem Zimmer versteckt. Ich konnte hören, wie sie im ganzen Haus herumgetrampelt sind, alle Möbel umgeschmissen und Dinge gegen die Wand geworfen haben. Dann sind sie in mein Zimmer gekommen. Man denkt ja immer, man kann sich verstecken, wenn’s drauf ankommt, aber sie haben mich sofort gefunden.«

»Und was dann?« Mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust.

»Nicht was du denkst.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Die Zwiebel«, sagte sie. Ich sah die Quetschung um ihr Handgelenk, wie ein Armband, vom Griff eines kräftigen Mannes.

»Aber sie haben dir weh getan.«

»Sie haben mich rumgeschubst. Ein paarmal geschlagen. Einer hat mich von hinten festgehalten. Sie haben mich gezwungen zuzusehen.« Sie starrte auf den Tisch. Ihr Tonfall wurde bitter. »Ich habe mich den ganzen Tag über mit Bast gekabbelt. Der Geruch von dem Fisch hat sie völlig verrückt gemacht. Einer der beiden hat sie in der Küche aufgespürt und in die Halle gebracht. Sie hat ihn gebissen und ihm das Gesicht zerkratzt. Er hat sie gegen die Wand geschleudert. Dann hat er ein Messer gezogen.« Sie blickte von ihrer Arbeit auf. »Sie haben etwas aufgeschrieben. Mit dem Blut. Sie meinten, es sei für dich und du solltest es nicht vergessen. Was steht denn da? Ein Fluch?«

»Nein. Eine Drohung. Aber sie ergibt keinen Sinn.«

»Es hat mit dem jungen Sklaven zu tun, der gestern hier war, stimmt’s? Der neue Klient, der Vatermörder?«

»Vielleicht, obwohl ich nicht weiß, wie. Cicero hat erst gestern nach mir geschickt, und ich habe erst heute angefangen, ein wenig herumzustochern. Trotzdem müssen sie schon hierher unterwegs gewesen sein, noch bevor ich mit dem Ladenbesitzer und seiner Frau gesprochen hatte... Wie bist du ihnen entwischt?«

»Genau wie dir eben. Mit meinen Zähnen. Der Große, der mich festgehalten hat, war ein ziemlicher Feigling. Er hat gequiekt wie ein Schwein.«

»Wie haben sie ausgesehen?«

Sie zuckte die Schultern. »Leibwächter, Gladiatoren. Kämpfer. Kräftige Männer. Häßlich.«

»Und einer von ihnen hat gehinkt.« Ich sprach die Worte mit großer Gewißheit aus, aber Bethesda schüttelte den Kopf.

»Nein. Gehinkt hat keiner. Beim ersten Mal hab ich sie beide Weggehen sehen.«

»Bist du sicher? Kein steifes Bein?«

»Den, der mich festgehalten hat, hab ich nicht so genau gesehen. Aber derjenige, der die Wand beschmiert hat, war sehr groß und blond, ein Riese. Sein Gesicht hat geblutet, wo Bast ihn gekratzt hat. Ich hoffe, er behält eine Narbe.« Sie warf den Fisch zurück in den Topf, bestreute ihn mit den Kräutern und Weinblättern, goß aus einem Krug ein wenig Wasser hinzu, stellte den Topf auf den Ofen und bückte sich, um nach dem Feuer zu sehen. Ich

bemerkte, daß ihre Hände zu zittern begonnen hatten.

»Männer wie die«, sagte sie, »würden sich wohl kaum damit

zufriedengeben, eine Katze zu töten, was meinst du?

»Nein. Wahrscheinlich nicht.«

Sie nickte. » Die Tür stand noch immer offen. Ich wußte, daß ich fliehen mußte, während der blonde Riese noch damit beschäftigt war, die

Buchstaben an die Wand zu schmieren, also hab ich den Kerl, der mich festhielt, gebissen so fest ich konnte, hier.« Sie zeigte auf die dickste Stelle ihres Unterarms. »Ich riß mich los und rannte nach draußen. Sie folgten mir. Aber als sie zwischen den Mauern der beiden Nachbarn vorbeikamen, blieben sie plötzlich stehen. Ich konnte hören, wie sie hinter mir angewiderte Geräusche von sich gaben und wie die Schweine grunzten.«

»Dann sind sie wahrscheinlich in den Kothaufen getreten.«

»Ja. Stell dir das vor, Männer, die ihre Hände mit dem Blut einer Katze beschmieren können, werden wegen ein bißchen Scheiße an den Sandalen zu empfindlichen Weibern. Römer!« Sie spuckte das Wort aus wie Gift. Nur eine gebürtige Alexandrinerin konnte den Namen der Hauptstadt der Welt mit solch vernichtendem Abscheu aussprechen.

»Ich hab mich auf der Straße herumgetrieben, bis ich dachte, daß sie jetzt weg sein müßten. Aber als ich unten an dem Pfad stand, hatte ich auf einmal Angst hochzugehen. Statt dessen bin ich in die Taverne gegenüber gegangen. Ich kenne eine Frau, die dort kocht, vom Ansehen vom Markt. Sie hat mir erlaubt, mich in einem der leeren Zimmer im ersten Stock zu verstecken, bis ich dich nach Hause kommen sah. Sie hat mir eine Lampe geliehen, und ich hab von unten deinen Namen gerufen, um dich zu warnen, bevor du das Haus erreicht hattest, aber du hast mich nicht gehört.« Sie starrte ins Feuer. »Werden sie zurückkommen?«

»Heute nacht bestimmt nicht«, versicherte ich ihr, ohne zu wissen, ob das stimmte oder nicht.

Nach dem Essen sehnte ich mich nach Schlaf, aber Bethesda gab keine Ruhe, bis die tote Katze entfernt war.

Wir Römer haben tierische Wesen nie als Götter verehrt. Wir sind auch, was unsere Haustiere anbetrifft, nicht übermäßig sentimental. Wie sollte es auch anders sein bei einem Volk, das dem Leben eines Menschen so wenig Wert beimißt?

Unter der betäubenden Apathie ihrer Herren verlieren die aus aller Welt, jedoch vor allem aus dem Orient importierten Sklaven häufig jeden Sinn für das Heilige, den sie in ihrer Kindheit in fernen Ländern vielleicht entwickelt haben. Aber Bethesda hatte sich angesichts des Todes eines Tieres ein Gefühl für Anstand und Ehrfurcht bewahrt und trauerte auf ihre Weise um Bast.

Sie bestand darauf, daß ich in der Mitte des Gartens einen Scheiterhaufen errichtete. Sie nahm ein Kleid aus dem Schrank, ein edles Gewand aus weißem Leinen, das ich ihr erst vor einem Jahr geschenkt hatte. Ich zuckte innerlich zusammen, als ich sah, wie sie es an den Nähten zu einem Leichentuch zerriß. Sie legte Lage nach Lage um den zerschundenen Körper, bis kein Blut mehr durchsickerte. Dann plazierte sie das Bündel auf dem Scheiterhaufen, murmelte vor sich hin und sah zu, wie die Flammen hochloderten. In der windstillen Nacht stieg der Rauch gerade nach oben auf und verdeckte die Sicht auf die Sterne.

Ich wollte nur noch schlafen. Ich befahl Bethesda, sich mir anzuschließen, aber sie weigerte sich, bis sie alles Blut vom Boden gewaschen hatte. Sie kniete sich neben einen Eimer heißes Wasser und schrubbte bis tief in die Nacht. Ich konnte sie immerhin davon überzeugen, die Botschaft an der Wand unangetastet zu lassen, obwohl sie ganz offensichtlich dachte, daß das alle möglichen magischen Katastrophen geradezu heraufbeschwor.

Sie ließ nicht zu, daß ich auch nur eine einzige Lampe oder Kerze löschte, so daß ich schließlich in einem festlich erleuchteten Haus einschlief. Irgendwann war Bethesda mit dem Schrubben fertig und legte sich zu mir, aber ihre Nähe brachte mir keine Ruhe. Die ganze Nacht hindurch stand sie immer wieder auf, um die Riegel an Fenstern und Türen zu überprüfen, die Lampen nachzufüllen und die abgebrannten Kerzen zu ersetzen.

Ich schlief unruhig und schreckte häufig hoch. Ich träumte.

Ich ritt durch endlose Meilen kahler Wüste auf einem weißen Roß, ohne mich erinnern zu können, wann oder wie ich aufgebrochen war, und ohne je mein Ziel zu erreichen. Mitten in der Nacht wachte ich noch einmal auf und fühlte mich schon jetzt erschöpft von einer langen, unangenehmen Reise.

15

Es kam überhaupt nicht in Frage, daß Bethesda während meiner Abwesenheit allein zu Hause blieb. Vor einem Jahr wäre das Problem erst gar nicht aufgetaucht; damals hielt ich mir noch zwei junge, kräftige Sklaven. Mit Ausnahme der seltenen Anlässe, zu denen ich eine Leibwache oder Gefolgschaft brauchte, waren sie bei Bethesda geblieben - einer hatte sie auf Besorgungsgängen begleitet, der andere derweil das Haus bewacht, und alle beide waren ihr im Haushalt zur Hand gegangen und hatten sie beschützt. Vor allem jedoch hatte sie jemanden zum Herumkommandieren; wenn sie mir abends ihr Leid mit den beiden klagte und sich ausmalte, was sie hinter ihrem Rücken tratschten, mußte ich oft ein Lächeln unterdrücken.

Aber Sklaven sind ein permanenter Kostenfaktor und eine wertvolle Ware, vor allem für jemand, der sie sich kaum leisten kann. Ein günstiges Angebot eines Klienten zu einem Zeitpunkt, als ich es nötig hatte, ließ mich schwach werden, und ich hatte sie beide verkauft. Im letzten Jahr war Bethesda ohne jeden Zwischenfall gut alleine zurechtgekommen, bis heute.

Ich konnte sie nicht allein lassen. Aber was hätte sie davon, wenn ich einen Leibwächter für sie engagierte. Es war nicht unwahrscheinlich, daß die Täter zurückkamen; würde ein einzelner Leibwächter oder zwei oder drei etwas gegen Menschen ausrichten können, die zum Mord entschlossen waren? Wenn ich Bethesda anderweitig unterbrachte, würde das Haus leer stehen. Und wenn ihre Hoffnung auf Beute sich als vergeblich erwiesen hatte, waren Männer dieser Art durchaus fähig, mein gesamtes Hab und Gut in Brand zu stecken.

Lange vor dem ersten Hahnenschrei lag ich wach und überlegte, was zu tun sei. Die einzige Lösung, die mir in den Sinn kam, während ich an die kerzenbeleuchtete Decke starrte, war, den Fall abzugeben. Es würde keinen Ritt nach Ameria geben. Ich konnte im ersten Licht der Dämmerung in die Subura hinabsteigen, einen Boten zu Cicero schicken, ihm mitteilen lassen, daß ich von dem Auftrag zurückgetreten sei, und ihn bitten, meine Unkosten zu begleichen. Dann konnte ich mich den ganzen Tag mit Bethesda in meinem Haus verbarrikadieren, mich mit ihr im Bett tummeln, über die Hitze lamentieren und durch den Garten schlendern; und wenn irgendein

Eindringling an meine Tür klopfte, würde ich einfach sagen: »Ja, ja, ich habe mich für das Schweigen und gegen den Tod entschieden! Soll die römische Justiz ihren gerechten Lauf nehmen! Und jetzt verschwinde!«

Auf meinem Hügel gibt es einen Hahn, der viel früher kräht als alle anderen; ich habe den Verdacht, er gehört meiner Nachbarin vom Lande, die alltäglich ihren Abfall über die Mauer schmeißt - ein Hahn vom Land mit ländlichen Sitten, ganz anders als die fauleren und luxuriöseren römischen Vögel. Wenn er krähte, waren es noch gut zwei Stunden bis zum Anbruch der Dämmerung. Ich beschloß, mit seinem ersten Schrei aufzustehen und dann eine Entscheidung zu treffen.

Wenn die Welt schläft, verändert sich das Wesen der Zeit. Augenblicke gerinnen und schmelzen wieder, wie Klümpchen in magerem Käse. Die Zeit wird ungleichmäßig, schwer faßbar und unsicher. Für den Schlaflosen dauert jede Nacht ewig und ist trotzdem zu kurz. Ich lag lange wach und betrachtete die flackernden Schatten über meinem Kopf, konnte weder schlafen noch einen der Gedanken zu Ende denken, die mir durch den Kopf huschten. So wartete ich auf den Hahnenschrei, bis ich anfing zu glauben, der Vogel hätte verschlafen. Dann ließ er sich schließlich doch vernehmen, klar und schrill in der stillen, warmen Morgenluft.

Ich sprang auf und stellte überrascht fest, daß ich tatsächlich geschlafen oder mich doch an der Grenze zum Schlaf bewegt hatte. Einen verwirrten Moment lang fragte ich mich, ob ich das Krähen vielleicht nur geträumt hatte. Dann hörte ich ihn erneut.

Im Licht der vielen Kerzen wechselte ich meine Tunika und spritzte mir ein wenig Wasser ins Gesicht. Bethesda war schließlich doch noch zur Ruhe gekommen; ich sah sie inmitten eines Kreises von Kerzen auf einer Strohmatte unter dem Säulengang am anderen Ende des Gartens liegen, endlich schlafend. Sie hatte sich einen Fleck gesucht, der möglichst weit von jener Wand entfernt war, wo Bast gestorben war.

Ich durchquerte leise den Garten, um sie nicht zu wecken. Sie lag in sich zusammengerollt auf der Seite, ihre Gesichtszüge weich und entspannt. Eine schimmernde Strähne ihres blauschwarzen Haars fiel auf ihre Wange. Im Schein der Kerzen wirkte sie auf mich mehr als je zuvor wie ein Kind. Ein Teil von mir sehnte sich danach, sie in meine Arme zu nehmen und zu ihrem Bett zu tragen, sie warm und sicher zu halten, neben ihr zu liegen und zu träumen, bis die Morgensonne auf unseren Gesichtern uns weckte. Die ganze schmutzige Geschichte, in die Cicero mich hineingezogen hatte, zu vergessen und ihr den Rücken zu kehren. Ich wurde von einer Welle so intensiver

Zärtlichkeit übermannt, daß Tränen einen Schleier vor meine Augen zogen. Das Bild ihres Gesichts verschwamm; das Licht der Kerzen verschmolz zu glitzerndem Nebel. Man sagt, es sei eine Sache, seine Geschicke mit einer freien Frau in der Ehe zu teilen, jedoch eine ganz andere, eine Frau als Sklavin zu besitzen, und ich habe mich oft gefragt, welches von beiden bitterer und welches süßer ist.

Der Hahn krähte erneut, diesmal zusammen mit einem anderen von weiter her. In diesem Augenblick traf ich meine Entscheidung.

Ich kniete mich neben Bethesda und weckte sie so sanft wie möglich. Trotzdem schreckte sie hoch und starrte mich einen Moment lang an, als wäre ich ein Fremder. Ich spürte einen Stich des Zweifels und wandte mich ab, weil ich wußte, daß mein Zögern, wenn sie es bemerkte, ihre Angst nur verschlimmern würde, bis sie gar nicht mehr zur Ruhe kam. Ich sagte ihr, sie solle sich anziehen, ihr Haar kämmen und sich etwas Brot nehmen, wenn sie hungrig wäre; sobald sie fertig sei, würden wir einen kurzen Spaziergang machen.

Ich wandte mich rasch ab und beschäftigte mich damit, sämtliche Kerzen zu löschen. Es wurde dunkel im Haus. Nach einer Weile kam Bethesda aus ihrem Zimmer und verkündete, sie sei fertig. In ihrer Stimme klang noch Angst mit, jedoch kein Hauch von Vorwurf oder Mißtrauen. Ich murmelte ein stilles Gebet, daß ich mich richtig entschieden hatte, und fragte mich, zu wem ich eigentlich betete.

Der Pfad den Hügel hinab war von Schatten gesäumt, Schwarz in Schwarz. Im Schein der Fackel warfen die Steine wirre Schatten, während ihre Kanten tückisch und spitz aufragten. Es wäre fast sicherer gewesen, den Weg im Dunkeln zurückzulegen. Bethesda stolperte und klammerte sich an meinen Arm. Sie schielte nervös von einer Seite zur anderen, vor Angst, daß irgend etwas in der Dunkelheit lauern könnte, und achtete nicht darauf, wohin sie ihre Füße setzte.

Auf halbem Weg den Hügel hinab stießen wir auf eine Nebelbank, die Strudel bildete wie ein Fluß in einer Schlucht, so dicht, daß sie den Schein der Fackel zurückwarf und uns in einen milchigweißen Kokon einhüllte. Wie die unheimliche Hitze, die Rom gepackt hielt, hatte auch der Nebel etwas Irreales. Er war kein bißchen erfrischend oder erleichternd, eine feuchtwarme Masse, die von Abschnitten mit kühler Luft durchsetzt war. Sie verschlang das Licht und verschluckte Geräusche. Das Knirschen der losen Steine unter unseren

Füßen klang gedämpft und wie von ferne. Selbst die Grillen hatten aufgehört zu zirpen, und für einen Moment waren alle Hähne verstummt.

Neben mir schauderte Bethesda, aber ich war im stillen ganz froh über den Nebel. Wenn er sich bis zum Sonnenaufgang hielt, konnte ich die Stadt vielleicht unbeobachtet verlassen, unbemerkt selbst von Augen, die dazu engagiert waren, mich zu beobachten.

Der Stallmeister schlief noch, als wir eintrafen, aber ein Sklave erklärte sich bereit, ihn zu wecken. Zunächst war der Mann mürrisch; ich war eine Stunde früher gekommen als erwartet, und der Sklave hätte meine Abreise auch regeln können, ohne seinen Herrn zu wecken. Aber als ich ihm mein Ansinnen erläuterte und mein Angebot machte, war er plötzlich hellwach und zuvorkommend.

Für die nächsten beiden Tage würde er Bethesda in seinem Haus aufnehmen. Ich warnte ihn, sie nicht zu hart arbeiten zu lassen, da sie ihren eigenen Rhythmus habe und schwere Arbeit nicht gewohnt sei. (Das war eine Lüge, aber ich hatte nicht die Absicht, Bethesda für ihn bis an ihre Grenzen schuften zu lassen.) Wenn er sie zum Beispiel etwas nähen ließe, würde sie ihm mehr einbringen als ihre Unterbringung kostete.

Für diese Zeit wollte ich zwei kräftige Sklaven zur Bewachung meines Hauses. Er beharrte jedoch darauf, lediglich einen entbehren zu können. Ich war skeptisch, bis er den Jungen aus dem Bett scheuchte. Einen häßlicheren und größeren jungen Mann hatte ich noch nie gesehen. Ich hatte keine Ahnung, wo er wohl herkommen mochte. Er hörte auf den seltsamen Namen Scaldus. Sein Gesicht war wund und rot, von der heißen Sonne der vergangenen Woche verbrannt; sein Haar stand in strähnigen Büscheln von seinem Kopf ab und war von der gleichen Beschaffenheit und Farbe wie die Strohhalme, die daran hingen. Wenn seine schiere Größe nicht ausreichte, jeden Besucher einzuschüchtern, dann bestimmt sein Gesicht. Er sollte seinen Posten vor meiner Tür beziehen und ihn bis zu meiner Rückkehr nicht verlassen; eine Frau aus dem Stall würde ihm tagsüber Nahrung und Wasser bringen. Selbst wenn er ein Feigling oder nicht so stark war, wie er aussah, konnte er zumindest Alarm schlagen, wenn Einbrecher sich meinem Haus näherten. Was die Bezahlung anging, willigte der Stallmeister ein, meinen Kreditrahmen zu erweitern. Die Mehrkosten würde ich Cicero belasten.

Es bestand keine Notwendigkeit, zum Haus zurückzukehren. Ich hatte alles mitgebracht, was ich für die Reise brauchte. Ein Sklave holte Vespa aus dem Stall. Ich stieg auf, drehte mich um und sah, daß Bethesda mich mit verschränkten Armen anstarrte. Sie war mit dem getroffenen Arrangement offensichtlich nicht glücklich, wie ich an ihren dünnen Lippen und dem wütenden Flackern in ihren Augen erkennen konnte. Ich lächelte erleichtert. Sie begann sich bereits von dem Schock des vergangenen Abends zu erholen.

Ich verspürte den Drang, mich hinabzubeugen und sie zu küssen, selbst vor dem Stallmeister und seinen Sklaven; statt dessen wandte ich meine Aufmerksamkeit Vespa zu, suchte ihre frühmorgendliche Verspieltheit zu dämpfen und führte sie im ruhigen Trott durch die Straßen. Ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß die Geste, mit der ein Herr öffentlich seine Zuneigung für seinen Sklaven bekundet, stets mißlingt. Egal wie ehrlich er sie meint, sie gerät ihm immer herablassend und peinlich, eine Parodie seiner wahren Gefühle. Trotzdem packte mich plötzlich die Angst, daß ich es auf ewig bereuen könnte, mir diesen Abschiedskuß versagt zu haben.

Der Nebel war so dicht, daß ich mich verirrt hätte, wenn ich den Weg nicht auch mit verbundenen Augen gefunden hätte. Dicke Schwaden wirbelten um uns herum, verschluckten das Getrappel von Vespas Hufen und verbargen uns vor der Million römischer Augenpaare. Um uns schien die Stadt zu erwachen, aber das war eine Illusion; die Stadt war nie ganz eingeschlafen. Die ganze Nacht hindurch kommen und gehen Männer und Pferde und Wagen durch die in tiefem Schatten liegenden Straßen. Ich passierte die Porta Fontinalis. Als ich die Abstimmungshalle am Marsfeld hinter mir gelassen hatte, verfiel ich in einen leichten Trab und nahm die große Via Flaminia in nördlicher Richtung.

Hinter mir verschwand Rom, unsichtbar, in der Ferne. Der verhaltene Gestank der Stadt wurde von dem Geruch bestellter Äcker und frischen Taus abgelöst. Im Nebel verborgen, schien die Welt offen und grenzenlos, ein Ort ohne Mauern oder selbst Menschen. Dann ging die Sonne über den schwarzen und grünen Feldern auf und vertrieb den sanften Dunstschleier, der sie umfing. Als ich den breiten, sich nach Norden windenden Arm des Tibers erreicht hatte, war der Himmel bereits wieder hart wie Kristall, wolkenlos und hitzeschwanger.

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