27
Etwas bemerkenswert Hartes und Großes sauste mir entgegen und stieß von unten gegen mich; fester, trockener Boden. Wie von der Hand eines Riesen geworfen, wurde ich nach vorn geschleudert, überschlug mich und blieb abrupt liegen. Neben mir hörte ich Tiro stöhnen. Er klagte über irgend etwas, aber die Worte klangen verwischt und undeutlich. Für den Augenblick hatte ich Magnus völlig vergessen. Ich konnte nur denken, wie erstaunlich dünn die Luft war und wie außergewöhnlich fest im Gegensatz dazu die Erde. Dann kam ich zu mir und blickte auf.
Magnus’ wütendes Gesicht schien unglaublich weit weg; wie konnte ich nur so tief gesprungen sein? Es bestand keine Gefahr, daß er mir folgen würde -kein vernünftiger Mensch würde einen solchen Satz wagen, es sei denn, es ginge um sein Leben. Magnus würde es auch nicht wagen, Alarm zu schlagen, nicht solange Sulla sich im Haus aufhielt - sonst bestand die Gefahr, daß zu viele Fragen gestellt wurden. Wir waren so gut wie frei, dachte ich. In der Zeit, die Magnus brauchen würde, um durch die Flure und Treppen hinabzueilen, wären wir längst in der Dunkelheit verschwunden. Warum lächelte er dann auf einmal?
Ein stöhnendes Geräusch ließ mich den Blick zu Tiro wenden, der zitternd auf allen vieren neben mir im verdorrten Gras hockte. Er richtete sich auf und versuchte es zumindest, bevor er hilflos nach vorn stürzte, er probierte es wieder und fiel erneut. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. » Mein Knöchel«, flüsterte er heiser und fluchte dann. Ich blickte zum Balkon hoch. Magnus war nicht mehr da.
Ich kämpfte mich auf die Füße und zog Tiro hoch. Er biß die Zähne zusammen und gab ein seltsam gurgelndes Geräusch von sich - ein Schmerzensschrei, den er mit schierer Willenskraft unterdrückte.
»Kannst du gehen?« fragte ich.
»Natürlich.« Tiro stieß sich von mir ab und fiel prompt auf die Knie. Ich zog ihn wieder hoch, legte seinen Arm um meine Schulter und begann, so schnell ich konnte, zu gehen, dann zu traben. Irgendwie schaffte er es, an meiner Seite zu humpeln, wobei er vor Schmerz zischte. Wir gelangten etwa dreißig Meter weit, bevor ich weit hinter uns ein Geräusch hörte. Mein Mut sank.
Ich blickte mich um und sah Magnus im Schein der Fackeln vor Chrysogonus’ Portikus auf die Straße stürzen. Hinter ihm kam eine weitere Gestalt aus dem Haus - ich erkannte den massigen Körper von Mallius Glaucia. Einen Augenblick lang konnte ich das Gesicht des blonden Riesen genau erkennen, blutverschmiert, vom blaßblauen Mondlicht beleuchtet und eingerahmt von den flackernden Fackeln, sah es kaum menschlich aus. Die beiden blieben in der Mitte der Straße stehen und sahen sich in alle Richtungen um. Ich zog Tiro in den Schatten des Baumes, unter dem wir zuvor die Ankunft Sullas beobachtet hatten, und glaubte, die Dunkelheit würde uns schützen, aber Magnus mußte die Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben. Ich hörte einen Schrei und das Klappern von Sandalen auf den Pflastersteinen.
»Auf meine Schultern!« zischte ich. Tiro begriff sofort und humpelte in Position. Ich bückte mich zwischen seinen Beinen, hob ihn hoch und begann zu rennen, überrascht von meiner eigenen Stärke. Mühelos glitt ich über die glatten Steine. Ich atmete tief ein und lachte laut, weil ich glaubte, eine ganze Meile so laufen und meinen Vorsprung auf Magnus mit jedem Schritt vergrößern zu können. Ich hörte sie hinter mir rufen, aber nur leise; vor allem hörte ich das Blut in meinen Ohren pochen.
Dann war der Kitzel des Augenblicks mit einem einzigen Atemzug, der flacher kam als die anderen, plötzlich vorbei. Schritt für Schritt verpuffte mein Energieschub. Der ebene Boden schien sich erst bergauf zu neigen und dann zu schmelzen, als ob ich durch Schlamm laufen würde. Anstatt zu lachen, hustete ich jetzt und konnte mit einemmal meine Füße kaum vom Boden heben; Tiro war schwer wie eine Bronzestatue. Ich hörte Magnus und Glaucia näherkommen.
Wir stolperten an einer hohen, efeubewachsenen Mauer entlang. Dann war die Mauer zu Ende. Und plötzlich erkannte ich zu meiner Linken Caecilia Metellas Haus. Der Portikus war von einer einzelnen Kohlenpfanne beleuchtet, flankiert von den beiden Wärtern, die zur Bewachung von Sextus Roscius hier postiert waren.
»Helft uns!« brachte ich keuchend hervor. »Caecilia Metella kennt mich. Zwei Männer sind hinter uns her - Kriminelle - Mörder!«
Die beiden Soldaten bauten sich, die Schwerter gezückt, vor uns auf, machten jedoch keine Anstalten, mich aufzuhalten, als ich mich bückte und Tiro von meinen Schultern auf seine Füße gleiten ließ. Er tat einen wackeligen Schritt nach vorn und brach stöhnend vor der Tür zusammen. Ich ging an ihm vorbei und hämmerte gegen die Tür, sah mich dann um und beobachtete, wie Magnus und Glaucia eben noch im Lichtschein zum Stehen kamen.
Bei ihrem Anblick wichen selbst die bewaffneten Männer einen Schritt zurück - Magnus mit seinem wirren Haar, dem vernarbten Gesicht und den bebenden Nüstern, Glaucia mit blutverschmierter Stirn, beide die Dolche gezückt. Ich schlug erneut gegen die Tür.
Magnus ließ seine Waffe sinken und machte Glaucia ein Zeichen, dasselbe zu tun. »Dies sind zwei Diebe«, sagte er und zeigte auf mich. Trotz seiner wüsten Erscheinung klang seine Stimme gesetzt und moderat, ja, er war nicht einmal außer Atem. »Einbrecher«, erklärte er. »Wir haben sie er wischt, als sie sich gewaltsam Zutritt zum Haus von Lucius Cornelius Chrysogonus verschaffen wollten. Übergebt sie uns.«
Die beiden Soldaten tauschten verwirrte Blicke aus. Sie hatten den Befehl, einen Gefangenen zu bewachen, waren jedoch nicht angehalten, irgend jemand am Betreten des Hauses zu hindern oder für Ordnung auf der Straße zu sorgen. Sie hatten keinen Grund, zwei wild dreinblickenden Männern mit Messern zu helfen. Genausowenig wie sie Grund hatten, zwei unerwarteten nächtlichen Besuchern zu helfen. Magnus hätte ihn erzählen sollen, daß wir zwei entsprungene Sklaven waren; das hätte die Soldaten als Mitbürger verpflichtet, uns auszuliefern. Aber jetzt war es zu spät, seine Geschichte zu ändern. Statt dessen griff er, als die Wachen nicht reagierten, in seine Tunika und zog eine schwer aussehende Börse hervor. Die Wächter betrachteten die Börse, sahen einander an und musterten dann ohne große Zuneigung Tiro und mich. Ich hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür.
Schließlich öffnete sich ein Sichtschlitz, und hindurch blickten die berechnenden Augen des Eunuchen Ahausarus. Sein Blick wanderte von mir zu Tiro und dann weiter zu den beiden Mördern auf der Straße. Ich suchte noch immer stammelnd und keuchend nach Worten, als er die Tür öffnete, uns hereinließ und sie krachend wieder zuwarf.
Ahausarus weigerte sich, seine Herrin zu wecken. Er wollte uns auch nicht erlauben, über Nacht zu bleiben. Magnus konnte noch immer dort draußen auf der Lauer liegen; schlimmer noch, er konnte Glaucia losgeschickt haben, Verstärkung zu holen. Je schneller wir hier wegkamen, desto besser. Nach hastigen Verhandlungen war Ahausarus hocherfreut, uns zusammen mit einer Mannschaft gähnender Sänftenträger, die Tiro tragen sollten, sowie einigen Gladiatoren aus der persönlichen Leibwache seiner Herrin wieder loszuwerden.
»Keine weiteren Abenteuer mehr!« sagte Cicero streng. »Es ist völlig sinnlos. Wenn Caecilia am Morgen davon erfährt, wird sie entrüstet sein. Tiro hat sich verletzt. Und es ist gar nicht auszudenken, welche Konsequenzen die Sache noch hätte nach sich ziehen können - Chrysogonus in seinem eigenen Haus nachzuspionieren, während Sulla persönlich anwesend ist. Mein eigener Sklave und ein anrüchiger Spießgeselle werden dabei erwischt, wie sie in einer Privatvilla auf dem Palatin herumschleichen, während dort eine Gesellschaft zu Ehren Sullas stattfindet. Daraus ließe sich mit Leichtigkeit ein Staatsverbrechen konstruieren, oder etwa nicht? Was, wenn man euch erwischt und vor Chrysogonus geschleift hätte? Man hätte euch genausogut als Mörder wie als Einbrecher bezeichnen können. Wollt ihr meinen Kopf auf seinem Stock sehen? Und das Ganze für nichts und wieder nichts - die Eskapade hat keinerlei neue Erkenntnisse gebracht, oder doch? Nichts von Bedeutung, soweit ich erkennen kann. Deine Arbeit ist erledigt, Gordianus. Gib es auf! Alles hängt jetzt von Rufus und mir ab. In drei Tagen beginnt der Prozeß. Bis dahin will ich nichts von weiteren absurden Abenteuern hören! Halte dich raus und versuch, am Leben zu bleiben. Ich verbiete dir ausdrücklich, dieses Haus zu verlassen.«
Manche Menschen sind nicht unbedingt bester Laune, wenn sie mitten in der Nacht aus dem Bett geholt werden. Seit wir die Halle betreten hatten und Cicero von einem Sklaven geweckt worden war, um die bizarre nächtliche Heimsuchung durch trampelnde Leibwächter und seinen Sklaven in einer Sänfte zu begutachten, war er bissig und unhöflich gewesen. Er hatte tiefe schwarze Ringe unter den Augen. Müde oder nicht, Cicero redete ununterbrochen, während er gleichzeitig wie eine brütende Henne um Tiro herumgluckte, der bäuchlings auf dem Tisch lag, während der Hausarzt, der außerdem der Chefkoch des Haushalts war, seinen Knöchel untersuchte und ihn behutsam in verschiedene Richtungen drehte. Tiro zuckte vor Schmerz und biß sich auf die Lippen. Der Arzt nickte ernst.
»Nicht gebrochen«, sagte er schließlich, »nur verstaucht. Er hat Glück gehabt; sonst hätte er vielleicht ein Leben lang gehumpelt. Am besten man gibt ihm reichlich Wein zu trinken - das verdünnt das angestaute Blut und entspannt die Muskeln. Heute nacht sollte der Knöchel in kaltem Wasser liegen, je kälter, desto besser, damit die Schwellung abklingt. Wenn du willst, kann ich jemanden losschicken, frisches Quellwasser zu besorgen. Morgen muß der Knöchel fest verbunden werden, und dann darf er nicht belastet werden, bis der Schmerz völlig abgeklungen ist. Ich werde morgen den Schreiner beauftragen, ihm eine Krücke zu schnitzen.«
Cicero nickte erleichtert. Plötzlich begann sein Kiefer zu zittern. Seine Lippen bebten. Sein Kinn überzog sich mit Grübchen. Er öffnete den Mund zu einem breiten Gähnen, während er gleichzeitig versuchte, ihn geschlossen zu halten. Er blinzelte verschlafen. Er warf mir durch schwere Lider einen letzten abschätzigen Blick zu, schüttelte mißbilligend den Kopf in Tiros Richtung und begab sich wieder zur Ruhe.
*
Müde schlich ich in mein Zimmer. Bethesda saß hellwach im Bett und wartete auf mich. Sie hatte hinter der geschlossenen Tür gelauscht, jedoch nur Bruchteile unseres nächtlichen Abenteuers verstehen können. Sie bombardierte mich mit Fragen, und ich antwortete und antwortete. Auch dann noch, als meine gemurmelten Erwiderungen längst keinen Sinn mehr ergaben.
Irgendwann begann ich zu träumen.
In meinem Traum ruhte mein Kopf im Schoß der Göttin, die mir sanft die Stirn streichelte. Ihre Haut war wie Alabaster, ihre Lippen wie Kirschen. Obwohl meine Augen geschlossen waren, wußte ich, daß sie lächelte, weil ich ihr Lächeln wie warmes Sonnenlicht auf meinem Gesicht spüren konnte.
Eine Tür ging auf, und der Raum wurde mit Licht durchflutet. Apollo von Ephesos trat ein wie ein Schauspieler, der eine Bühne betritt, nackt und golden und von blendender Schönheit. Er kniete neben mir und kam mit dem Mund so nah an mein Ohr, daß seine weichen Lippen meine Haut berührten. Sein Atem war warm wie das Lächeln der Göttin. Er murmelte süße Worte des Trostes, die dahinplätscherten wie ein Gebirgsbach.
Unsichtbare Hände zupften eine unsichtbare Lyra, während ein unsichtbarer Chor das schönste Lied sang, das ich je gehört hatte - Strophe für Strophe von Liebe und Lobpreis, alles zu meinen Ehren. Irgendwann irrte ein wilder Riese mit einem Messer durch den Raum, die Augen mit Blut verklebt, das aus einer Wunde an seinem Kopf sickerte; aber sonst geschah nichts, was die absolute Perfektion dieses Traumes hätte verderben können.
Ein Hahn krähte. Ich schreckte zusammen und fuhr hoch, weil ich glaubte, zurück in meinem Haus auf dem Esquilin zu sein, wo ich vermeintlich Fremde im Grau der Dämmerung herumtappen hörte. Aber es waren nur Ciceros Sklaven, die sich auf den kommenden Tag vorbereiteten. Neben mir schlief Bethesda wie ein Stein, ihr schwarzes Haar wie feine Zweige auf dem Kopfkissen ausgebreitet. Ich legte mich wieder neben sie, fest überzeugt, unmöglich wieder einschlafen zu können.
*
Bevor ich die Augen geschlossen hatte, war ich schon fast wieder bewußtlos.
Um mich herum dehnte sich der Schlaf in alle Richtungen aus - formlos, traumlos, bar jeden Marksteins.
So ein Schlaf ist wie die Ewigkeit; nichts, was den Fortgang der Zeit mißt, nichts, um das Ausmaß des Raumes zu bezeichnen, ein Augenblick ist wie Äonen, ein Atom so groß wie das ganze Universum. Die ganze Vielfalt des
Lebens, Lust und Schmerz gleichermaßen, verschmilzt in eine Ureinheit, die selbst das Nichts in sich aufnimmt. Fühlt sich auch der Tod so an?
Und dann wachte ich plötzlich auf.
Bethesda saß in einer Ecke des Zimmers und flickte den Saum der Tunika, die ich am Vorabend getragen hatte. Irgendwann, vielleicht als ich gesprungen war, hatte ich ihn aufgerissen. Neben Bethesda lag ein halbes Stück Brot mit Honig.
»Wie spät?« fragte ich.
»Ungefähr Mittag.«
Ich rekelte mich. Meine Arme waren steif und schmerzten. Ich bemerkte einen großen violetten Bluterguß auf meiner rechten Schulter.
Ich stand auf. Meine Beine taten genauso weh wie meine Arme. Vom Atrium hörte ich Bienen summen und Cicero deklamieren.
»Fertig«, verkündete Bethesda. Sie hielt meine Tunika hoch und sah sehr zufrieden aus. » Ich habe sie heute morgen gewaschen. Ciceros Wäscherin hat mir eine neue Methode gezeigt. Sogar die Grasflecken sind rausgegangen. Die Luft ist so warm, daß sie schon wieder trocken ist.« Sie stellte sich hinter mich und hielt die Tunika über meinen Kopf, damit ich hineinschlüpfen konnte. Ich hob die Arme und stöhnte.
»Essen, Herr?«
Ich nickte. »Ich werde es im Peristylium im hinteren Teil des Hauses zu mir nehmen«, sagte ich. »So weit wie möglich entfernt von den Rhetorikübungen unseres Gastgebers.«
Bethesda hielt sich in meiner Nähe, bot mir an, dieses oder jenes zu holen, und las mir jeden meiner Wünsche von den Augen ab - eine Schriftrolle, etwas zu trinken, einen breitkrempigen Hut. Als sie mir einen Becher kaltes Wasser brachte, legte ich die Schriftrolle zur Seite, in der ich gelesen hatte, sah ihr in die Augen und strich mit den Fingern über ihre Hand. Sie zog ihre Hand zurück, als der alte Tiro direkt vor meinen Augen quer über den Hof ging, ohne sich an die Anstandsregeln zu halten, die Sklaven vorschrieb, sich still und unauffällig unter dem Säulengang zu bewegen. Er ging kopfschüttelnd und vor sich hin murmelnd vorbei und verschwand im Haus.
Kurz nach dem alten Freigelassenen tauchte sein Enkel auf. Tiro kam quer über den Hof gewankt, er stütze sich auf eine Holzkrücke und hielt den fest verbundenen Knöchel in die Höhe. Er lächelte dümmlich, stolz auf seine Behinderung wie ein Soldat auf seine erste Verwundung. Bethesda holte einen Stuhl und half ihm, Platz zu nehmen.
»Die ersten Narben und Wunden der Männlichkeit sind wie Abzeichen der Reife«, sagte ich. »Aber mit der Wiederholung werden sie mühsam und dann deprimierend. Die Jugend verschenkt stolz ihre Beweglichkeit, Kraft und Schönheit wie Opfer auf dem Altar des Erwachsenwerdens und bereut erst viel später.«
Der Denkspruch ließ ihn offenbar kalt. Tiro runzelte, noch immer lächelnd, die Stirn und musterte in dem Glauben, ich würde Epigramme zitieren, die Schriftrolle, die ich zur Seite gelegt hatte. »Wer hat das gesagt?«
»Jemand, der auch einmal jung war. Ja, so jung wie du jetzt bist, und genauso unverwüstlich. Du scheinst gutgelaunt zu sein.«
»Ich denke, ja.«
»Keine Schmerzen?«
»Ein wenig, aber was soll’s. Es ist alles so aufregend.«
»Ja?«
»Mit Cicero, meine ich. Die ganzen Papiere, die fertiggestellt werden müssen, die Leute, die vorbeikommen -Freunde der Verteidigung, gute Männer wie Marcus Metellus und Publius Scipio. Von seiner Rede ganz zu schweigen, der Versuch, die Argumente der Anklage vorauszuahnen -eigentlich bleibt gar nicht genug Zeit für alles. Es ist ein einziges Gehetze. Rufus sagt, daß das immer so geht, selbst bei einem erfahrenen Anwalt wie Hortensius.«
»Dann hast du Rufus heute schon gesehen?«
»Am Morgen, als du noch geschlafen hast. Cicero hat mit ihm geschimpft, weil er Sulla auf der Feier eine Szene gemacht hat und rausgestürmt ist. Er meinte, Rufus sei zu unbesonnen und dünnhäutig - genauso wie er dich gestern nacht getadelt hat.«
»Mit dem Unterschied, daß Cicero insgeheim stolz auf das ist, was Rufus getan hat, da bin ich mir sicher, während er über mich ernsthaft empört war. Wo ist Rufus jetzt?«
»Unten auf dem Forum. Cicero hat ihn losgeschickt wegen irgendeines Schriftsatzes, der Chrysogonus zugestellt werden soll, damit er seine
Erlaubnis zur Vorführung und Vereidigung der beiden Sklaven Felix und Chrestus erteilt. Das wird Chrysogonus natürlich nicht tun, aber damit macht er sich verdächtig, verstehst du, und Cicero kann das in seine Rede einbauen. An diesem Teil haben wir den ganzen Vormittag gearbeitet. Er will Chrysogonus tatsächlich beim Namen nennen. Das erwarten sie natürlich am wenigsten, weil sie glauben, daß jeder viel zuviel Angst hat, die Wahrheit auszusprechen. Er wird sich sogar Sulla vornehmen. Du solltest ein paar von den Sachen hören, die er gestern abend geschrieben hat, während wir unterwegs waren, über die freie Hand, die Sulla Verbrechern gegeben und wie er zu Korruption und offenem Mord ermutigt hat. Das kann Cicero natürlich nicht alles verwenden; das wäre Selbstmord. Das muß er noch irgendwie abmildern, aber trotzdem, wer sonst hätte den Mut, auf dem Forum für die Wahrheit einzutreten?«
Er lächelte erneut und zog sich an der Krücke hoch, bis er auf einem Bein stand. Bethesda eilte ihm zur Hilfe, und er ließ sie errötend gewähren. » Ich muß jetzt gehen. Ich kann nicht bleiben. Cicero wird mich brauchen. Er wird Rufus noch mit einem Dutzend Aufträgen zum Forum schicken, und wir drei werden wahrscheinlich die ganze Nacht wach bleiben.«
»Während ich meinen Schlaf nachhole. Aber warum bleibst du nicht noch ein wenig? Ruh dich aus, du wirst deine Kraft heute abend noch brauchen. Außerdem, mit wem sollte ich mich sonst unterhalten?«
Tiro wackelte mit seiner Krücke. »Nein, ich muß jetzt wirklich zurück.«
»Ach so. Vermutlich hat Cicero dich nur geschickt, um mal kurz nach mir zu sehen.«
Tiro zuckte, so gut es auf die Krücke gestützt ging, mit den Schultern. »Eigentlich hat Cicero mich mit einer Botschaft zu dir gesandt.«
»Eine Botschaft? Warum schickt er dich mit deinem verstauchten Knöchel?«
»Vermutlich dachte er, daß die anderen Sklaven... das heißt, ich bin sicher, er hätte auch selbst kommen können, nur - er hat mir jedenfalls aufgetragen, dich daran zu erinnern, was er letzte Nacht gesagt hat. Weißt du noch?«
»Was soll ich noch wissen?« Mir war plötzlich wieder nach Spotten zumute.
»Er sagt, du sollst das Haus nicht verlassen. Was immer Ciceros Haushalt zu deinem Wohlbefinden beitragen kann, steht dir selbstverständlich zur
Verfügung, und wenn du etwas von draußen brauchst, kannst du jederzeit einen Haussklaven losschicken.«
»Ich bin es nicht gewohnt, den ganzen Tag und die ganze Nacht im Haus zu bleiben. Vielleicht begleite ich Rufus bei einem seiner Gänge zum Forum.«
Tiro wurde rot. »Also, das ist so, Cicero hat den Wächtern, die er zum Schutz des Hauses gemietet hat, gewisse Anweisungen erteilt.«
»Anweisungen?«
»Er hat ihnen befohlen, dafür zu sorgen, daß du das Haus nicht verläßt.«
Ich starrte ihn ungläubig an, bis Tiro den Blick senkte. »Er will mich im Haus festhalten? So wie die Wächter von Caecilias Haus Sextus Roscius festhalten?«
»Naja, vermutlich schon.«
»Ich bin ein römischer Bürger, Tiro. Wie kann Cicero es wagen, einen Bürger in seinem Haus gefangenzuhalten? Was werden diese Wächter tun, wenn ich versuche, das Haus zu verlassen?«
»Ich weiß nur, daß Cicero ihnen befohlen hat, wenn nötig Gewalt anzuwenden. Ich glaube nicht, daß sie dich tatsächlich schlagen würden...«
Ich spürte, wie mein Gesicht und meine Ohren so rot wurden wie Tiros. Ich warf einen Seitenblick zu Bethesda und sah, daß sie verstohlen lächelte und recht erleichtert aussah. Tiro atmete tief ein und machte ein paar Schritte zurück, als hätte er mit seiner Krücke eine Linie in den Sand gezogen, hinter die er zurück mußte.
»Du mußt das verstehen, Gordianus. Das ist jetzt Ciceros Fall. Es war immer sein Fall. Du hast dich in seinen Diensten in Gefahr begeben, und dafür bietet er dir seinen Schutz. Er hat dich beauftragt, die Wahrheit herauszufinden, und das hast du getan. Jetzt muß diese Wahrheit vom Gesetz beurteilt werden. Das ist Ciceros Gebiet. Die Verteidigung von Sextus Roscius ist das wichtigste Ereignis in seinem Leben. Er glaubt ernsthaft, daß du jetzt eher eine Gefahr als eine Hilfe für ihn bist. Du darfst dich ihm nicht widersetzen. Du darfst ihn nicht auf die Probe stellen. Tu einfach, was er verlangt. Verlaß dich auf ihn.«
Tiro wandte sich zum Gehen, ohne mir Zeit für eine Antwort zu lassen, wobei er seine Unbeholfenheit mit der Krücke zum Vorwand nahm, sich weder umzudrehen noch eine Abschiedsgeste zu machen. Eine Zeitlang war der Hof noch von seiner Gegenwart erfüllt: eloquent, loyal, beharrlich und selbstbewußt - in jeder Beziehung der Sklave seines Herrn.
Ich nahm erneut die Chronik von Polybius zur Hand, in der ich gelesen hatte, aber die Worte schienen zu verschwimmen und vom Pergament zu rutschen. Ich hob meinen Blick und ließ ihn in den Schatten des Säulengangs wandern. Bethesda saß mit geschlossenen Augen da und genoß wie eine Katze das warme Sonnenlicht. Sie schien förmlich zu schnurren. Ich rief ihren Namen.
»Bring diese Schriftrolle zurück«, sagte ich. »Sie langweilt mich. Geh ins Arbeitszimmer. Bitte unseren Gastgeber um Verzeihung für die Störung, und frage Tiro, ob er etwas von Plautus für mich finden kann oder vielleicht eine dekadente griechische Komödie.«
Bethesda ging los und murmelte den unvertrauten Namen vor sich hin, damit sie ihn nicht vergaß. Sie hielt die Rolle in jener eigentümlichen Art, in der alle Analphabeten Schriftstücke tragen - vorsichtig, weil sie wissen, daß sie wertvoll sind, aber auch nicht zu behutsam, in der Gewißheit, daß sie nicht zerbrechen können, und ohne jede Zuneigung, ja sogar mit einem gewissen Abscheu. Als sie im Haus verschwunden war, drehte ich mich um und ließ meinen Blick über den Säulengang wandern. Niemand war in der Nähe. Die Hitze des Tages hatte ihren Höhepunkt erreicht. Alle ruhten oder hatten zumindest in den kühlen Innenräumen des Hauses Zuflucht gesucht.
Das Dach des Portikus zu besteigen war leichter, als ich gedacht hatte. Ich kletterte an einer der schlanken Säulen hoch, packte das Dach und hangelte mich hoch. Die Höhe schien für einen Mann, der am Abend zuvor praktisch geflogen war, nicht weiter nennenswert. Dem Wächter auszuweichen, der am entfernten Ende des Daches lauerte, war ein weit größeres Problem, zumindest glaubte ich das, bis sich ein rissiger Dachziegel unter meinem Fuß löste und einen Sprühregen kleiner Steinchen auf den gepflasterten Hof fallen ließ. Der Wächter rührte sich nicht vom Fleck, er stand, mir den Rücken zugewandt, auf seinen Speer gestützt und döste. Vielleicht hörte er mich, als ich in die Gasse hinabsprang und einen Tontopf umstieß, aber da war es schon zu spät. Diesmal verfolgte mich niemand.
28
Cicero hatte recht; mein Part bei der Untersuchung der Ermordung von Sextus Roscius war erledigt. Aber bis der Prozeß vorüber war, konnte ich
mich unmöglich anderen Aufträgen zuwenden oder auch nur sicher in mein Haus zurückkehren. Cicero war es nicht gewohnt, selbst Feinde zu haben (was sich bei seinem Ehrgeiz nur zu bald ändern würde!), und er nahm an, mich verstecken zu können, bis alles geklärt war. Aber in Rom ist der vor einem liegende Weg stets von Feinden gesäumt. Welchen Sinn hat es, sich im Haus eines anderen zu verkriechen, hinter dem Speer seines Wächters? Der einzig wahre Schutz gegen den Tod ist Fortuna; vielleicht stimmte es ja, daß Sulla überall von ihrer schützenden Hand begleitet wurde - wie ließe sich seine Langlebigkeit sonst erklären, wo doch so viele andere um ihn herum, mit weit weniger Schuld belastet und ungleich tugendhafter, schon lange tot waren.
Ich ging weiter in südlicher Richtung und folgte einem Trampelpfad, der vorbei an Hinterhöfen von Mietshäusern führte, Gassen kreuzte und sich durch Grünflächen schlängelte. Frauen riefen sich von einer Straßenseite zur anderen etwas zu; ein Kind weinte, und seine Mutter stimmte ein Schlaflied an; ein Mann brüllte mit betrunkener und schläfriger Stimme nach Ruhe. Die Stadt, von der Wärme träge und wohlwollend gestimmt, schien mich zu verschlucken.
Ich passierte die Porta Fontinalis und schlenderte ziellos weiter, bis sich hinter einer weiteren Biegung das verkohlte Ungetüm eines ausgebrannten Mietshauses vor mir erhob. Schwarze Fenster öffneten sich in den blauen Himmel, und ich beobachtete, wie krachend eine Mauer zusammenbrach, von Sklaven mit langen Seilen zum Einsturz gebracht. Das Gelände um das Haus war mit schwarzer Asche bedeckt, überall sah man kleine Haufen von verkohlten Gewändern und Überresten diverser Haushaltsgegenstände - ein billiger Topf, der in der Hitze geschmolzen war, das schwarze Skelett eines Webstuhls, ein langer spitzer Knochen, der entweder einem Menschen oder einem Hund gehört hatte. Bettler filzten die kümmerlichen Reste.
Ich wandte mich ab und entfernte mich so hastig, daß ich kaum bemerkte, wohin ich ging. Ich lief gegen einen halbnackten, rußbedeckten Sklaven, der ein Seil über die Schultern hängen hatte. Das Seil straffte sich, er stieß mich zur Seite und rief mir zu, ich solle aufpassen. Ein Teil der Außenmauer landete krachend vor meinen Füßen und zersprang wie ein hartes Stück Lehm in tausend Teile. Wäre ich nicht mit dem Sklaven zusammengestoßen, wäre ich wahrscheinlich direkt unter die zusammenstürzende Mauer gelaufen und auf der Stelle tot gewesen. Statt dessen wehte eine Rußwolke harmlos um meine Knie und schwärzte den Saum meiner Tunika.
Ich setzte meinen ziellosen Weg fort, meine Füße ebensowenig beachtend wie meinen Herzschlag oder Atem. Doch es konnte kaum ein Zufall sein, daß ich genau den Weg einschlug, den ich mit Tiro am ersten Tag unserer Ermittlungen gegangen war. Ich fand mich unvermittelt auf demselben Platz wieder, beobachtete dieselben Frauen beim Wasserholen am Brunnen und verscheuchte dieselben trägen Kinder und Hunde. Bei der Sonnenuhr blieb ich stehen und zuckte zusammen, als derselbe Bürger vorbeikam, den ich nach dem Weg zum Haus der Schwäne gefragt hatte, den Rezitator von Schauspielen und Verächter der Zeitmessung. Ich hob die Hand und öffnete den Mund, um ihm einen Gruß zuzurufen. Er blickte auf und starrte mich merkwürdig an, beugte sich dann mürrisch zur Seite, um mir unmißverständlich klarzumachen, daß ich seinen Blick auf die Sonnenuhr versperrte.
Mit einem verächtlichen Schnauben registrierte er die Uhrzeit, starrte mich erneut unwillig an und eilte dann weiter. Es war überhaupt nicht derselbe Mann gewesen, und in Wahrheit bestand kaum mehr als eine flüchtige Ähnlichkeit.
Ich ging die enge Straße zum Haus der Schwäne hinunter, an den fensterlosen Mauern mit den Wandleuchtern vorbei, den heruntergebrannten Fackeln und den Schmierereien, die entweder politisch oder obszön oder auch beides waren. (P. CORNELIUS SCIPIO ZUM QUAESTOR, EIN MANN, DEM MAN VERTRAUEN KANN, lautete einer der Sprüche, der mit eleganter Hand an die Mauer geschrieben war, und daneben hastig hingeschmiert: P. CORNELIUS SCIPIO WÜRDE NOCH EINE BLINDE HURE BETRÜGEN UND IHR EIN HÄSSLICHES KIND ANDREHEN.)
Ich kam an der Sackgasse vorbei, in der Magnus und seine beiden Kumpane auf der Lauer gelegen hatten. Ich mied den blassen Blutfleck, der die Stelle markierte, an der der alte Sextus Roscius gestorben war. Es war noch düsterer als bei meinem ersten Besuch, aber der Fleck war unschwer auszumachen, weil das Pflaster drumherum erkennbar sauberer war als die übrige Straße. Jemand hatte die Stelle gesäubert, nach Leibeskräften geschrubbt, um das Blutmal ein für allemal zu tilgen. Es mußte Stunden in Anspruch genommen haben, und das alles vergeblich - denn jetzt war der Fleck noch auffälliger als vorher, und alle vorbeikommenden Füße und rußgeschwängerten Winde mußten ihn nun mit einem neuen Schmutzfilm überziehen, um ihn wieder in der Straße verschwinden zu lassen. Wer hatte hier stundenlang auf Händen und Knien mit Scheuerlappen und Eimer geschuftet, bei dem verzweifelten Versuch, die Vergangenheit auszulöschen?
Die Frau des Ladenbesitzers? Die verwitwete Mutter des stummen Jungen? Ich stellte mir vor, wie Magnus sich persönlich darum kümmerte und konnte mir bei dem Gedanken an den finsteren Mörder, der wie eine Putzfrau auf allen vieren hockte, ein Lächeln nicht verkneifen.
Ich machte ein paar Schritte nach vorn, bis ich einen Blick in den düsteren Laden werfen konnte. Der alte Mann saß hinter dem Tresen, den Kopf auf die Ellenbogen gestützt und die Augen geschlossen. Die Frau staubte die spärlich gefüllten Regale und Tische ab. Der Laden atmete einen moderigen, kühlen Gestank aus mit einem Hauch von fauliger Süße und Moschus.
Ich betrat das Mietshaus gegenüber. Der Wächter fürs Erdgeschoß war nirgends zu sehen. Sein kleiner Kollege im ersten Stock war mit weit offenem, sabberndem Mund und einem halbvollen Becher Wein in der Hand eingeschlafen, den er so schräg hielt, daß er mit jedem Schnarcher ein paar Tropfen verschüttete.
Unter meiner Tunika tastete ich nach dem Knauf des Messers, das der Junge mir gegeben hatte. Ich blieb lange stehen und fragte mich, was ich einem von beiden sagen könnte. Der Witwe Polia, daß ich die Namen der Männer kannte, die sie vergewaltigt hatten? Daß einer von ihnen, Rotbart, tot war? Dem kleinen Eco, daß er sein Messer zurückhaben konnte, weil ich nicht die Absicht hatte, Magnus oder Mallius Glaucia für ihn zu töten?
Ich schritt den langen, dunklen Flur entlang. Die Dielen ächzten und stöhnten lauter als die gedämpften Stimmen, die aus den Kammern nach draußen drangen. Wer würde sich an einem solchen Tag drinnen im Dunkeln verkriechen? Die Kranken, die Alten, die Gebrechlichen und Verkrüppelten, die Schwachen, die Verhungernden und Lahmen. Die Uralten, die zu nichts mehr zu gebrauchen waren, und die Säuglinge, die noch nicht laufen konnten. Es gab keinen Grund, warum Polia und ihr Sohn überhaupt zu Hause sein sollten, und doch pochte mir das Herz im Hals, als ich an der Tür klopfte.
Ein junges Mädchen riß die Tür weit auf, so daß ich den ganzen Raum einsehen konnte. Ein altes Weib saß in Decken gehüllt in einer Ecke. Ein kleiner Junge kniete am offenen Fenster. Er blickte sich über die Schulter nach mir um und beobachtete dann weiter die Straße. Abgesehen von Größe und Form sah das Zimmer völlig verändert aus.
Aus den Decken musterten mich zwei wäßrige Augen. »Wer ist da, Kind?«
»Ich weiß nicht, Großmutter.« Das kleine Mädchen starrte mich argwöhnisch an.
»Was wollen Sie?«
Das kleine Mädchen setzte ein ärgerliches Gesicht auf. »Meine Großmutter möchte wissen, was du hier willst?«
»Polia«, sagte ich.
»Nicht da«, sagte der Junge vom Fenster.
»Dann muß ich mich in der Tür geirrt haben.«
»Nein«, sagte das kleine Mädchen verärgert. »Die richtige Tür. Aber sie ist nicht mehr hier.«
»Ich meine die junge Witwe und ihren Sohn, den kleinen, stummen Jungen.«
»Ich weiß«, sagte sie und sah mich an, als ob ich beschränkt wäre. »Aber Polia und Eco wohnen hier nicht mehr. Zuerst ist sie verschwunden, dann er.«
»Weg«, ergänzte die Alte. »So haben wir endlich dieses Zimmer gekriegt. Vorher haben wir gegenüber gewohnt, aber hier ist mehr Platz. Genug für uns alle fünf - meinen Sohn, seine Frau und die beiden Kleinen.«
»Mir gefällt es besser, wenn Mama und Papa nicht da sind und wir nur zu dritt sind«, sagte der Junge.
»Halt den Mund, Appius«, fuhr ihn das Mädchen an. »Eines Tages werden Mama und Papa ausgehen und nie wiederkommen, genau wie bei dem kleinen Eco. Sie verschwinden einfach, wie Polia. Du wirst sie mit deinem dauernden Geschrei noch vertreiben. Dann werden wir ja sehen, wie dir das gefällt.«
Der kleine Junge fing an zu weinen. Die alte Frau schnalzte mit der Zunge. »Was soll das heißen?« sagte ich. »Polia ist verschwunden, ohne den Jungen mitzunehmen?«
»Ja, sie hat ihn verlassen«, sagte die alte Frau gleichgültig.
»Das glaube ich nicht.«
Sie zuckte die Schultern. »Konnte die Miete nicht bezahlen. Der Vermieter hat ihr zwei Tage zum Ausziehen gegeben. Am nächsten Morgen war sie weg. Hat alles mitgenommen, was sie tragen konnte, und hat den Jungen sich selbst überlassen. Am nächsten Tag kam der Vermieter, sammelte die wenigen Habseligkeiten ein und setzte den Jungen auf die Straße. Eco hat danach noch ein paar Tage hier herumgelungert. Er hat den Leuten leid getan, und sie haben ihm ein paar Brocken zu essen gegeben. Schließlich haben ihn die Wächter endgültig verscheucht. Bist du ein Verwandter von ihnen?«
»Nein.«
»Naja, wenn Polia dir noch Geld geschuldet hat, vergißt du das wohl besser.«
»Wir konnten sie sowieso nicht leiden«, sagte das kleine Mädchen. »Eco war dumm. Konnte kein Wort reden, selbst wenn Appius ihn festgehalten und sich auf ihn gesetzt hat, damit ich ihn kitzeln konnte, bis er blau anlief. Er hat nur gequiekt wie ein Schwein.«
»Wie ein Schwein, das gepiekst wird«, sagte der kleine Junge, der jetzt nicht mehr weinte, sondern auf einmal fröhlich lachte. »Hat mein Papa gesagt.«
»Seid still«, knurrte die alte Frau, »alle beide.«
*
Im Haus der Schwäne herrschte für die mittägliche Stunde lebhafter Betrieb. Der Besitzer machte die leichte Wetterveränderung dafür verantwortlich. »Die Hitze stachelt sie alle an, bringt das Blut in Wallung - aber zuviel Hitze läßt selbst den kräftigsten Mann erschlaffen. Jetzt, wo das Wetter zumindest wieder erträglich ist, kommen sie scharenweise zurück. All die angestauten Säfte. Und du bist sicher, daß du kein Interesse an der Nubierin hast? Sie ist neu, mußt du wissen. Ah!« Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als ein großer, gutgekleideter Mann aus dem inneren Flur in die Halle kam. Der Seufzer bedeutete, daß Elektra nicht länger belegt war und mich jetzt empfangen konnte, was hieß, daß der Fremde ihr letzter Kunde gewesen sein mußte. Er war ein gutaussehender Mann mittleren Alters mit graumelierten Schläfen. Er nickte unserem gemeinsamen Gastgeber kurz zu und schenkte ihm ein mattes, gezwungenes Lächeln der Befriedigung. Ich empfand ein törichtes Zucken der Eifersucht und sagte mir, daß er wahrscheinlich mit geschlossenem Mund lächelte, weil er schlechte Zähne hatte.
In einem perfekt geführten Haus dieser Art hätten wir uns als aufeinanderfolgende Freier derselben Hure nie begegnen dürfen, aber ein perfekt geführtes Haus dieser Art gab es nicht. Unser Gastgeber besaß zumindest den Anstand, sich zwischen uns beide zu stellen und erst dem Fremden zum Abschied zuzunicken, bevor er sich wieder zu mir umdrehte.
Sein breiter Körper gab einen beachtlichen Sichtschutz ab. »Nur noch einen Augenblick«, sagte er leise, »während die Dame sich ein wenig zurechtmacht.« Er ließ mich einen Moment allein und kehrte dann salbungsvoll lächelnd zurück. »Alles bereit«, sagte er und winkte mich in den Flur.
Elektra war noch immer genauso eindrucksvoll, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber um ihre Augen und den Mund hatte sich eine Müdigkeit gelegt, die einen Schatten auf ihre Schönheit warf. Sie saß auf dem Sofa, die Hände um ihr angewinkeltes Knie verschränkt, den Kopf mit ihrem wallenden schwarzen Haar auf ein Kissen gestützt. Zunächst erkannte sie mich nicht, was mir einen kleinen Stich der Enttäuschung versetzte. Dann leuchteten ihre Augen ein wenig auf, und sie fuhr sich kokett mit der Hand durch das Haar, als wolle sie ihre Frisur richten. Ich schmeichelte mir mit dem Gedanken, daß es ihr bei einem anderen Mann egal gewesen wäre, wie sie aussah, und fragte mich im selben Augenblick, ob das einer ihrer subtilen Tricks war, die sie bei jedem Mann anwandte.
»Du wieder«, sagte sie, noch immer schauspielernd, mit derselben glutvollen Stimme, mit der sie jeden hätte ansprechen können. Und dann ließ sie, als ob ihr endlich eingefallen wäre, warum ich schon einmal bei ihr gewesen war und wonach ich gesucht hatte, die Maske fallen und warf mir einen Blick von solcher nackter Verletzlichkeit zu, daß ich zitterte. »Diesmal bist du allein gekommen?«
»Ja.«
»Ohne deinen schüchternen, kleinen Sklaven?« Eine Spur Verruchtheit kehrte in ihre Stimme zurück, nicht einstudiert, sondern verspielt und heiter.
»Nicht nur schüchtern, sondern auch ungezogen. Meint jedenfalls sein Herr. Und zu beschäftigt, um mich heute zu begleiten.«
»Aber ich dachte, er gehört dir.«
»Nein.«
Ihr Gesicht wirkte auf einmal wieder ganz nackt. »Dann hast du mich angelogen.«
»Hab ich das? Nur darüber.«
Sie zog auch das andere Bein an ihre Brust, als wolle sie sich vor mir verstecken. »Warum bist du heute gekommen?«
»Um dich zu sehen.«
Sie lachte und zog eine Braue hoch. »Und gefällt dir, was du siehst?« Ihre Stimme klang wieder tief und falsch. Sie blieb genauso sitzen, aber ihre Pose wirkte auf einmal eher kokett als schutzbedürftig. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, war sie mir stark und ursprünglich sinnlich vorgekommen, fast unzerstörbar. Ein Teil von mir hatte die Vorstellung, sie wiederzusehen, sehr erregend gefunden; aber jetzt tat mir ihre Schönheit irgendwie weh.
Sie zitterte und wandte den Blick ab. Die winzige Bewegung teilte ihr Gewand in Höhe der Schenkel. Auf der blassen, glatten Haut zeichnete sich ein schmaler Streifen ab, rot an den Rändern, violett in der Mitte. Irgend jemand hatte sie dort erst kürzlich geschlagen, denn der Striemen war noch nicht voll entwickelt. Der lächelnde Patrizier mit dem arroganten Gehabe fiel mir wieder ein.
»Hast du Elena gefunden?« Elektras Stimme hatte sich wieder verändert. Jetzt klang sie heiser. Sie hielt ihr Gesicht abgewandt, aber ich konnte es im Spiegel sehen.
»Nein.«
»Aber du hast herausgefunden, wer sie abgeholt hat und wohin.«
»Ja.«
»Geht es ihr gut? Ist sie in Rom? Und das Kind...« Sie beobachtete mich im Spiegel.
»Das Kind ist gestorben.«
»Ah.« Sie senkte den Blick.
»Bei der Geburt. Es war eine schwere Geburt.«
»Das hab ich mir schon gedacht. Sie war selbst fast noch ein Kind mit ganz schmalen Hüften.« Elektra schüttelte den Kopf. Eine Strähne ihres Haars fiel ihr ins Gesicht. Als der Spiegel ihr Bild so festhielt, war sie auf einmal zu schön zum Anschauen.
»Wo ist es passiert?« fragte sie.
»ln einer kleinen Stadt. Ein bis zwei Tage nördlich von Rom.«
»Die Stadt, aus der Sextus Roscius stammte - Ameria, ist das der Name?«
»Ja, es geschah in Ameria.«
»Sie hat immer davon geträumt, dorthin zu kommen. Es hat ihr bestimmt gefallen, die frische Luft, die Tiere und Bäume.«
Ich dachte an die Geschichte, die Felix und Chrestus mir erzählt hatten, und mir wurde beinahe übel. »Ja, ein wunderschönes kleines Städtchen.«
»Und jetzt? Wo ist sie jetzt?«
»Elena ist gestorben. Nicht lange nach der Geburt. Die Geburt hat sie umgebracht.«
»Ah, nun denn. Dann wollte sie es so. Sie hat sich so auf das Kind gefreut.« Sie wandte mir ihre Seite zu und vergewisserte sich, daß ich sie nicht im Spiegel beobachten konnte. Wie lange war es her, daß Elektra einem Mann erlaubt hatte, sie weinen zu sehen? Nach einer Weile wandte sie sich wieder mir zu und ließ ihren Kopf gegen die Kissen sinken. Ihre Wangen waren nicht feucht, aber in ihren Augen glitzerten Tränen. Ihre Stimme war hart. »Du hättest mich anlügen können. Hast du je daran gedacht?«
»Ja.« Jetzt war ich es, der den Blick senkte, nicht aus Scham, sondern weil ich fürchtete, daß sie in meinen Augen die ganze Wahrheit lesen würde.
»Du hast mich schon einmal angelogen. Du hast gelogen, als du behauptet hast, der Sklavenjunge wäre deiner. Warum also nicht diesmal?«
»Weil du die Wahrheit verdienst.«
»Tu ich das? Bin ich so schrecklich? Du hättest mir erzählen können, daß Elena noch lebt und sehr glücklich ist, mit einem gesunden Baby an der Brust. Woher hätte ich wissen sollen, daß es eine Lüge ist? Statt dessen hast du mir die grausame Wahrheit erzählt. Was nützt mir die Wahrheit? Die Wahrheit ist wie eine Strafe. Verdiene ich sie wirklich? Bereitet dir das Vergnügen?« Tränen flössen über ihre Wangen.
»Verzeih mir«, sagte ich. Sie wandte sich ab und schwieg.
Ich verließ das Haus der Schwäne, drängte mich an den grinsenden Huren und lüsternen Freiern vorbei, die in der Halle herumlungerten. Der Besitzer schwebte lächelnd vorbei wie die groteske Charaktermaske aus einer Komödie. Auf der Straße blieb ich stehen, um zu Atem zu kommen. Einen Moment später kam der Mann mir brüllend und mit geballten Fäusten hinterhergerannt.
»Was hast du mit ihr angestellt? Warum weint sie so? Weint und will gar nicht wieder aufhören? Du brauchst nicht mehr wiederzukommen. Geh woanders hin. Such dir die Mädchen eines anderen, um deine schmutzigen, kleinen Spiele zu spielen.« Er stürmte ins Haus zurück.
Die Sonne ging unter. Ich spürte ein Nagen in der Magengrube, hätte jedoch keinen Bissen herunterbekommen. In der aufziehenden Dämmerung wurde die Luft dünn und kühl. Ich fand mich auf einmal vor dem Eingang der Pallacinischen Bäder wieder, den Lieblingsthermen des verstorbenen Sextus Roscius.
»Schwer was los heute«, sagte der junge Bedienstete, als er meine Kleidung in Empfang nahm. » In den letzten paar Tagen hatten wir praktisch gar keine Kundschaft - zu heiß. Heute abend besteht kein Grund zur Eile. Wir lassen länger auf, um den Verlust auszugleichen.« Er kam mit einem Badelaken zurück. Ich nahm es und sagte etwas, um ihn abzulenken, während ich das Handtuch über meinen linken Arm hängte und mich vergewisserte, daß es das Messer verdeckte. Selbst nackt hatte ich nicht die Absicht, mich unbewaffnet zu bewegen. Ich betrat das Kaldarium, und er schloß die Tür hinter mir.
Der letzte Widerschein der untergehenden Sonne warf ein seltsam orangefarbenes Licht durch das hohe Fenster. Ein Diener zündete mit einer langen Kerze eine einzelne Lampe in einer Mauernische an, wurde jedoch, bevor er auch die anderen Lampen anzünden konnte, fortgerufen. Der Raum war so düster und der Dampf über dem Wasser so dick, daß die etwa zwanzig Männer, die sich um das Becken herum aufhielten, sich nur als vage Schatten abzeichneten wie Statuen im orangefarbenen Nebel. Ich ließ mich langsam ins Becken gleiten und hielt die Hitze kaum aus, als das Wasser schließlich an meinen Hals plätscherte. Um mich herum stöhnten Männer wie in Schmerz oder Ekstase. Ich stöhnte mit ihnen und ließ mich in das Vergessen aus Wärme und Dampf sinken. Das Licht vor dem Fenster erstarb unmerklich. Der Bedienstete kehrte auch nicht zurück, um die Lampen anzuzünden, aber niemand beschwerte sich oder rief nach mehr Licht, als ob Dunkelheit und Hitze zwei Liebende wären, die niemand zu trennen wagte.
Die Lampe flackerte. Die Flamme loderte kurz auf und wurde dann kleiner, so daß der Raum noch düsterer wurde als zuvor. Wasser schwappte leise gegen die Kacheln, Männer atmeten in Seufzern und leisem Stöhnen. Ich blickte mich um und sah nichts als Dampf, formlos und unendlich, mit Ausnahme des kleinen Lichtpunkts, den die Lampe in den Raum warf, wie der Schein eines Leuchtturms von einem entfernten Hügel. Weit weg bewegten sich Umrisse im Wasser wie schwimmende Inseln oder Tiefseeungeheuer, die seichte Gewässer abgrasten.
Ich ließ mich noch tiefer ins Becken gleiten, bis der Atem aus meinen Nasenlöchern kleine Kreise auf der Wasseroberfläche zog. Ich kniff die Augen zusammen und starrte durch die Nebelkluft auf das flackernde Licht. Eine Zeitlang war es, als würde ich träumen, ohne die Augen zu schließen. Ich dachte an niemanden und nichts. Ich war ein Träumer, eine treibende, moosbewachsene Insel in der feuchten See, ein Junge, der seine Phantasien auslebte, ein Kind im Mutterschoß.
Vor dem Hintergrund der Nebelbank näherte sich einer der Schatten - ein Kopf, der auf dem Wasser trieb. Er kam näher und blieb stehen, kam dann noch näher, bevor er erneut verharrte, jedesmal begleitet vom fast unüberhörbaren Geräusch eines sich durch das Wasser schiebenden Körpers und der Liebkosung winziger Wellen an meinen Wangen.
Er war jetzt so nah, daß ich sein Gesicht fast erkennen konnte, eingerahmt von langem, schwarzem Haar. Er tauchte ein wenig auf, und ich sah kurz seine breiten Schultern und seinen kräftigen Nacken. Er schien zu lächeln, aber in diesem Licht hätte ich mir alles mögliche einbilden können.
Dann tauchte er langsam unter, kleine Blasen stiegen auf, der Dunst über dem Wasser kräuselte sich - Atlantis versank im Meer. Die Oberfläche schloß sich über ihm, Wasser und Dampf verschmolzen aufs neue. Er war verschwunden.
Ich spürte etwas an meinem Schienbein entlangstreichen wie ein sich windender Aal, der durchs Wasser glitt.
Mein Herz begann heftig zu schlagen. Meine Brust zog sich zusammen. Ich war stundenlang so blind durch die Stadt gewandert, daß der tölpelhafteste Mörder mir hätte folgen können, ohne daß ich es bemerkte. Ich drehte mich um und griff nach dem unter dem Handtuch am Beckenrand verborgenen Messer. Als sich meine Hand gerade um den Knauf geschlossen hatte, spritzte und blubberte er hinter mir. Er berührte meine Schulter.
Ich fuhr blitzschnell im Wasser herum, wobei meine Füße auf dem Boden des Beckens kurz den Halt verloren. Ich griff blind nach seinem Haar und legte ihm die Klinge des Messers an die Kehle.
Er fluchte laut. Hinter mir hörte ich ein seltsames Gemurmel wie von einem versteckten Ungeheuer, das aus tiefem Schlaf geweckt wurde.
»Hände aus dem Wasser!« brüllte ich. Das Gemurmel schlug in helle Aufregung um. Links und rechts von mir tauchten ein Paar Hände aus dem Wasser wie schnappende Fische, leer und unschuldig. Ich nahm meine Klinge von seiner Kehle. Ich mußte ihn geschnitten haben; eine dünne, dunkle Linie markierte den Abdruck der Klinge, und darunter konnte man eine verschmierte Blutspur erkennen. Endlich hatte ich sein Gesicht so nah vor mir, daß ich es erkennen konnte - nicht Magnus, sondern nur ein harmloser, junger Mann mit entsetztem Blick und aufeinandergebissenen Zähnen.
Bevor der Bademeister alarmiert und die Lampen angezündet wurden, damit alle Welt sehen konnte, was für ein Narr ich war, ließ ich ihn los und zog mich aus dem Becken. Während ich zur Tür eilte, trocknete ich mich hastig ab und achtete darauf, das Messer zu verbergen, bevor ich ins Licht trat und meine Kleidung zurückverlangte. Cicero hatte recht. Ich war völlig verstört und gemeingefährlich. Man durfte mich nicht frei herumlaufen lassen.
Tiro öffnete mir die Tür. Er sah erschöpft, aber euphorisch aus, so durch und durch zufrieden mit sich und seiner Existenz im Allgemeinen, daß es ihn einige Anstrengung kostete, eine mißbilligende Miene aufzusetzen. Im Hintergrund tönte noch immer Ciceros Stimme, setzte ab und erhob sich von neuem, eingepaßt in die Umgebung wie das Zirpen der Zikaden.
»Cicero ist wütend auf dich«, flüsterte Tiro. »Wo hast du den ganzen Tag über gesteckt?«
»Ich hab mit den Freunden großer Männer gesprochen«, sagte ich. »Gespenster und alte Bekannte besucht. Bei Huren gelegen, Verzeihung, bei Huren gelogen. Das Messer gezückt gegen Fremde, die Annäherungsversuche gemacht haben... «
Tiro verzog das Gesicht. »Ich hab nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst.«
»Nicht? Ich dachte, Cicero hätte dir alles beigebracht, was man über Worte wissen muß. Und trotzdem kannst du mir nicht folgen.«
»Bist du betrunken?«
»Nein, aber du. Ja, schau dich an - aufgekratzt wie ein Junge nach seinem ersten Becher Wein. Berauscht von der Rhetorik deines Herrn, wie ich sehe. Du bist jetzt seit acht Stunden ununterbrochen dabei, wahrscheinlich mit leerem Magen. Ein Wunder, daß du überhaupt den Weg zur Tür gefunden hast.«
»Du redest wirr.«
»Ich war nie klarer. Du bist so narkotisiert von diesem Kauderwelsch, daß ein wenig gesunder Menschenverstand dir so fade Vorkommen muß wie frisches Quellwasser einem Quartalsäufer. Hör ihn dir an - wie ein Messer, das über eine Schieferplatte kratzt, wenn du mich fragst. Doch du führst dich auf, als wäre es der Gesang einer Sirene.«
Es war mir endlich gelungen, die Fröhlichkeit aus Tiros Gesicht zu vertreiben und durch Fassungslosigkeit zu ersetzen. In diesem Moment sah Rufus vorsichtig um die Ecke und kam dann lächelnd in die Halle stolziert, mit geröteten Wangen und schweren, flatternden Lidern. Er wirkte völlig erschöpft, was ihn in seinem Alter nur noch charmanter aussehen ließ, vor allem weil er in einem fort strahlte.
»Wir haben den zweiten Entwurf fertig«, verkündete er.
Das Lamento aus Ciceros Arbeitszimmer hatte abrupt aufgehört. Auf Rufus’ Gesicht lag ein Ausdruck schierer Verzückung wie bei einem Kind, dem im Wald vielleicht gerade ein wundersames Wesen begegnet war und das hoffnungslos um Worte verlegen war, es zu beschreiben. »Brillant«, sagte er schließlich. » Aber was weiß ich schon von Rhetorik? Nur was Lehrer wie Diodotus und Mob mir beigebracht haben und was ich seit Kindesbeinen mit eigenen Ohren gehört habe, wenn ich in Senatssitzungen und Gerichtsverhandlungen dabeigesessen habe. Aber ich schwöre dir, er wird dich morgen beim Prozeß zu Tränen rühren. Männer werden mit geballten Fäusten aufspringen und Sextus Roscius’ Freiheit fordern. Das ist natürlich noch nicht die endgültige Version; wir müssen auf allerlei Unwägbarkeiten gefaßt sein, je nachdem, mit was für Tricks Erucius ankommt. Aber Cicero hat sein Möglichstes getan, jede Eventualität vorauszuahnen, und im Kern steht ein Schlußplädoyer, ausgefeilt und perfekt, wie Säulen eines Tempels, die nur auf die Kuppel warten. Es ist brillant, es gibt kein anderes Wort dafür.«
»Du glaubst nicht, daß es gefährlich ist?« fragte Tiro leise. Er machte einen Schritt auf Rufus zu und flüsterte, um seine Zweifel vor Cicero in seinem Arbeitszimmer zu verbergen.
»ln einem Unrechtsstaat ist jede anständige Tat ihrem Wesen nach gefährlich«, sagte Rufus. »Und auch mutig. Ein mutiger Mann wird nicht davor zurückschrecken, sich in Gefahr zu begeben, wenn er einer gerechten Sache dient.«
»Trotzdem, machst du dir keine Sorgen darüber, was nach dem Prozeß passieren könnte? Solch harte Worte gegen Chrysogonus, und selbst Sulla kommt nicht ungeschoren davon. «
»Ist vor einem römischen Gericht Raum für die Wahrheit?« sagte Rufus. »Das ist hier die Frage. Sind wir schon so weit gekommen, daß die Wahrheit als Verbrechen gilt? Cicero setzt seine Zukunft auf den tiefverwurzelten Gerechtigkeitssinn und die Ehrlichkeit der anständigen römischen Bürger. Was könnte ein Mann von seiner Integrität auch anderes tun?«
»Natürlich«, sagte Tiro ernst und nickte. »Er kann nicht anders, als die Verlogenheit und das Unrecht herauszufordern und nach seinen eigenen Prinzipien zu handeln. Bei seiner Persönlichkeit bleibt ihm gar keine andere Wahl.«
Ich stand einsam und vergessen daneben. Während sie beratschlagten und debattierten, schlich ich mich leise davon und schlüpfte zu Bethesda zwischen die warmen Laken meines Bettes. Sie schnurrte wie eine halbschlafende Katze und kräuselte dann argwöhnisch knurrend die Nase, als sie Elektras Parfüm roch. Ich war zu müde, es ihr zu erklären oder sie damit zu necken. Ich hielt sie nicht in meinen Armen, sondern drehte ihr den Rücken zu und ließ mich von ihr umarmen. Und während sich im Atrium Ciceros Stimme aufs neue erhob, glitt ich in einen ruhelosen Schlaf.
29
Die Iden des Mai zogen mit blaßblauer Dämmerung herauf. Ich wachte nur nach und nach auf, verwirrt von meinen Träumen und desorientiert in einem fremden Haus - weder mein Haus auf dem Esquilin noch irgendeines von denen, die ich im Laufe eines rastlosen Lebens bewohnt hatte. Von überall her drangen gedämpfte, eilige Stimmen in mein Zimmer. Warum sollte ein Haus so früh am Morgen schon so geschäftig sein? Ich dachte die ganze Zeit, jemand müsse in der Nacht gestorben sein, aber dann hätte ich von Schluchzen und Klagegeschrei geweckt werden müssen.
Bethesda lag an meinen Rücken gepreßt und hatte einen Arm unter mir hindurchgeschoben, um meine Brust zu umklammern. Ich spürte das weiche, volle Polster ihrer Brüste, das sich mit jedem Atemzug sanft gegen meinen Rücken drückte. Ihr Atem war warm und süß an meinem Ohr. Ich wurde langsam wacher und wehrte mich dagegen wie jemand, der sich an seinen unruhigen Schlaf klammert, obwohl eine dumpfe Verzweiflung über ihm hängt. Ich war durchaus zufrieden mit meinen unglücklichen Träumen und im ganzen völlig gleichgültig gegenüber jeder hektischen Krise, die sich in dem fremden Haus um mich herum zusammenbraute. Ich schloß die Augen und machte die Dämmerung wieder zur tiefen Nacht.
Als ich sie das nächste Mal öffnete, stand Bethesda vollständig angekleidet vor meinem Lager und rüttelte an meiner Schulter. Der Raum war von gelbem Licht erfüllt.
»Was ist los mit dir?« fragte sie. Ich richtete mich sofort auf und schüttelte den Kopf. »Bist du krank? Nein? Dann solltest du dich lieber beeilen. Alle anderen sind schon gegangen.« Sie füllte einen Becher mit kaltem Wasser und reichte ihn mir. »Ich hatte schon geglaubt, sie hätten dich völlig vergessen, bis Tiro zurückgerannt kam und fragte, wo du bleibst. Als ich ihm sagte, daß ich schon zweimal versucht hätte, dich aufzuwecken, du jedoch noch immer im Bett lägest, warf er nur die Hände in die Luft und eilte seinem Herrn hinterher.«
»Wie lange ist das her?«
Sie zuckte die Schultern. »Noch nicht lange. Aber du wirst sie bestimmt nicht mehr einholen, wenn du dich noch kurz waschen und eine Kleinigkeit essen willst. Tiro sagte, du sollst dir keine Sorgen machen, er würde dir einen Platz neben sich vor der Rostra freihalten.« Sie nahm mir den leeren Becher ab und lächelte. »Ich hab die Frau zu Gesicht bekommen.«
»Welche Frau?« Das Bild von Elektra blitzte in meinem Kopf auf; offenbar hatte ich von ihr geträumt, obwohl ich mich nicht mehr daran erinnern konnte. »Und ich hab doch sicher noch irgendwo eine saubere Tunika?«
Sie wies auf einen Stuhl in der Ecke, auf dem meine beste Kleidung ausgebreitet lag. Einer von Ciceros Sklaven mußte sie aus meinem Haus geholt haben. Die Tunika war blütenweiß. Ein Riß im Saum meiner Toga war frisch gestopft. Selbst meine Schuhe waren sauber geputzt und eingeölt.
»Die Frau«, sagte Bethesda noch einmal. »Die Caecilia genannt wird.«
»Caecilia Metella war hier? Heute morgen?«
»Sie kam kurz nach Einbruch der Dämmerung in einer prachtvollen Sänfte hier an. Es gab eine solche Unruhe unter den Sklaven, daß mich der Lärm aus dem Bett gescheucht hat. Sie hat dich schon zweimal in ihr Haus gelassen, stimmt’s? Es muß eine großartige Villa sein.«
»Das ist es auch. Ist sie allein gekommen? Ich meine, nur mit ihrem Gefolge?«
»Nein, der Mann war auch dabei; Sextus Roscius. Flankiert von sechs Wachen mit gezückten Schwertern.« Sie machte eine Pause, und ihr Blick verlor sich in der Ferne, als versuche sie, sich an ein wichtiges Detail zu erinnern. »Einer der Wächter sah sehr gut aus.«
Ich setzte mich aufs Bett, um die Lederriemen meiner Schuhe festzuziehen. »Vermutlich hast du Sextus Roscius selbst nicht weiter beachtet?«
»Oh, doch.«
»Und wie sah er aus?«
»Sehr blaß. Das Licht war natürlich auch noch ziemlich schwach.«
»Hell genug, um dir den Wächter genau anzugucken.«
»Den Wächter hätte ich auch im Dunkeln noch gut gesehen.«
»Da bin ich sicher. Jetzt hilf mir meine Toga anzulegen.«
Auf dem Forum herrschte die unruhige Atmosphäre eines halben Feiertages. Da heute die Iden waren, waren sowohl die Komitien des Volkes als auch die Curia des Senats geschlossen. Ein paar Geldverleiher und Bankiers hatten ihre Büros jedoch geöffnet, und während die Straßen am Rand praktisch leer waren, wurden sie, als ich mich dem Zentrum des Forums näherte, immer voller. Menschen aller Klassen, allein oder in Gruppen, strebten der Rostra zu, umgeben von einer Aura düsterer Spannung. Die Masse, die sich auf dem offenen Platz drängte, war so dicht, daß ich mich unter Einsatz meiner Ellbogen hindurchdrängen mußte. Es gibt nichts, was die Römer mehr fasziniert als ein Prozeß, vor allem wenn er verspricht, mit dem Ruin eines Menschen zu enden.
Inmitten der Massen kam ich an einer luxuriösen Sänfte mit zugezogenen Vorhängen vorbei. Als ich an der Sänfte entlangging, fuhr eine Hand heraus und packte meinen Unterarm. Ich blickte nach unten und war überrascht, daß ein so gebrechliches Glied solche Kraft aufbringen konnte. Die Hand löste ihren Griff und zog sich zurück, wobei sie die deutlichen Abdrücke fünf scharfer Fingernägel auf meiner Haut hinterließ. Der Vorhang teilte sich, und die Hand forderte mich auf, meinen Kopf hineinzustecken.
Caecilia Metella ruhte auf einem Lager von Plüschkissen, sie trug ein weites, violettes Gewand und eine Perlenkette. Ihr spiralförmig aufgetürmtes Haar wurde von einer silbernen Nadel gehalten, deren Kopf mit einem Haufen Lapislazuli verziert war. Rechts hinter ihr saß mit verschränkten Beinen der Eunuch Ahausarus.
»Was denkst du, junger Mann?« fragte sie mit einem heiseren Flüstern. »Wie wird es laufen?«
»Für wen? Cicero? Sulla? Die Mörder?«
Sie runzelte die Stirn. » Mach keine Witze. Für den jungen Sextus Roscius natürlich.«
»Schwer zu sagen. Nur Auguren und Orakel können die Zukunft Vorhersagen.«
»Aber wo Cicero doch so hart gearbeitet hat und mit Rufus’ Hilfe, wird Roscius doch sicher das Urteil bekommen, das er verdient.«
»Wie kann ich das beantworten, wo ich nicht weiß, wie das Urteil lauten soll?«
Sie sah mich finster an und fuhr sich mit ihren langen, hennagefärbten Nägeln über die Lippen. »Was sagst du? Nach allem, was du über die Wahrheit in Erfahrung gebracht hast, kannst du doch unmöglich annehmen, er sei schuldig. Oder doch?« Ihre Stimme zitterte.
»Wie jeder gute Bürger«, erwiderte ich, »setze ich mein Vertrauen in die römische Justiz.« Ich zog meinen Kopf zurück und ließ den Vorhang fallen.
Irgendwo inmitten der Menschenmenge hörte ich jemanden meinen Namen rufen. In diesem besonderen Moment schien es äußerst unwahrscheinlich, daß irgend jemand, der mich kannte, mir Gutes wünschte; ich drängte weiter, aber eine Gruppe breitschultriger Arbeiter versperrte mir den Weg. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich atmete tief ein und drehte mich langsam um.
Zunächst erkannte ich ihn nicht, weil ich ihn zuvor nur auf seinem Hof von des Tages Arbeit müde und mit schmutziger Toga oder entspannt und voll des Weines gesehen hatte. Titus Megarus aus Ameria sah völlig verändert aus, er trug eine edle Toga, und sein Haar war sorgfältig pomadisiert und gekämmt. Sein Sohn Lucius, der noch nicht alt genug war, eine Toga zu tragen, hatte ein züchtiges, langärmeliges Gewand an. Er strahlte vor atemloser Begeisterung.
»Gordianus, was für ein Glück, daß ich dich in diesem Gedränge treffe! Du ahnst ja nicht, wie gut es einem Bauern vom Land tut, in der Stadt ein bekanntes Gesicht zu sehen -«
»Es ist phantastisch!« unterbrach ihn Lucius. »Was für ein Ort - das hätte ich mir nie vorstellen können. So groß, so schön. Und all die Menschen. In welchem Teil der Stadt lebst du? Es muß wundervoll sein, an einem Ort zu leben, wo immer soviel passiert.«
»Ich hoffe, du verzeihst seine Manieren.« Titus wischte ihm liebevoll eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. »In seinem Alter war ich auch noch nie in Rom gewesen. Ich bin insgesamt sowieso nur dreimal hier gewesen - nein, viermal, aber einmal nur für einen Tag. Siehst du da drüben, Lucius, genau wie ich dir erzählt habe, die Rostra - dieser riesige Sockel, verziert mit den Schnäbeln der in der Schlacht eroberten kathargischen Schiffe. Der Redner besteigt sie über eine Treppe auf der Rückseite und spricht dann von einer Plattform auf der Spitze zu seinem Publikum, wo ihn jeder sehen kann. Ich habe einmal den Tribun Sulpicius persönlich von der Rostra reden hören, in den Tagen vor den Bürgerkriegen. «
Ich starrte ihn mit leerem Blick an. Auf seinem Hof in Ameria war ich überrascht von seiner Würde und seinem Charme gewesen, von seiner Aura umfassender Kultiviertheit. Hier auf dem Forum war er seines Elements beraubt wie ein Fisch außerhalb des Wassers. Er zeigte und blökte herum wie das typische Landei.
»Wie lange bist du schon in der Stadt?« fragte ich schließlich.
»Erst seit gestern abend. Wir sind in zwei Tagen von Ameria hergeritten.«
»Zwei sehr lange und anstrengende Tage«, warf Lucius lachend ein und gab vor, seinen Hintern zu massieren.
»Dann hast du Cicero noch gar nicht getroffen?«
Titus senkte den Blick. »Nein, leider nicht. Aber ich habe den Stall in der Subura gefunden und Vespa ihrem Besitzer zurückgegeben.«
»Aber ich dachte, du wolltest schon gestern eintreffen, zu Ciceros Haus kommen und dich von ihm befragen lassen, um zu klären, ob er dich als Zeuge gebrauchen kann.«
»Ja, also... «
»Jetzt ist es zu spät.« - »Ja, das glaube ich auch.« Titus zuckte die Schultern und wandte den Blick ab.
»Ich verstehe.« Ich machte einen Schritt zurück. Titus Megarus wollte mir nicht in die Augen sehen. »Aber du hast dir gedacht, du kommst trotzdem zu dem Prozeß. Einfach nur, um zuzusehen.«
Sein Mund wurde hart. »Sextus Roscius ist - war - mein Nachbar. Ich habe mehr Grund, hier zu sein, als die meisten anderen Menschen.«
»Und noch mehr Grund, ihm zu helfen.«
Titus senkte die Stimme. »Ich habe ihm schon geholfen -die Petition an Sulla, das Gespräch mit dir. Aber in aller Öffentlichkeit seine Stimme erheben, hier in Rom - ich bin Vater, verstehst du nicht? Ich muß an meine Familie denken.«
»Und wenn sie ihn für schuldig befinden und hinrichten, bleibst du wahrscheinlich auch dazu noch hier.«
»Ich habe noch nie einen Affen gesehen«, sagte Lucius fröhlich. »Glaubst du, daß sie ihn wirklich in einen Sack einnähen.«
»Ja«, sagte ich zu Titus, »und sorge auf jeden Fall dafür, daß der Junge es sieht. Das ist ein Anblick, den er bestimmt nicht vergessen wird.«
Titus warf mir einen gequälten, flehenden Blick zu.
Derweil betrachtete Lucius irgend etwas hinter mir, von der Aufregung des Prozesses und der Pracht des Forums so in Anspruch genommen, daß er nichts weiter wahrnahm.
Ich drehte mich hastig um und tauchte in der Menge unter. »Vater, ruf ihn zurück - wie sollen wir ihn hier je wiederfinden?« Aber Titus Megarus rief meinen Namen nicht.
Die Menschenmasse drängte sich plötzlich zusammen, weil ein Trupp Gladiatoren einem im Gewühle unsichtbaren Würdenträger einen Weg direkt zur Richterbank jenseits der Rostra bahnte. Ich geriet in einen Strudel aus Leibern und drängte dagegen an, bis meine Schultern plötzlich auf etwas Festes und Unnachgiebiges stießen - der Sockel eines Standbilds, das sich wie eine Insel aus einem Meer von Körpern erhob.
Ich blickte nach oben in die geblähten Nüstern eines vergoldeten Schlachtrosses. Auf dem Rücken des Tieres saß der Diktator persönlich, in seiner Generalsuniform, allerdings ohne Kopfbedeckung, damit sein triumphierendes Gesicht nicht verdeckt wurde. Der glänzende, strahlende Krieger auf seinem Pferd war beträchtlich jünger als der Mann, den ich im
Haus von Chrysogonus gesehen hatte, aber dem Bildhauer war es gelungen, das kräftige Kinn und die unerschütterliche, unerträgliche Selbstgewißheit seiner Augen realistisch abzubilden. Sie blickten nicht auf das Forum, die Menschenmassen oder die Richterbank hinab, sondern direkt auf die Rednertribüne auf der Rostra, so daß jeder, der es wagte, sie zu besteigen, dem obersten Hüter des Staates direkt in die Augen sehen mußte. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete die Inschrift, die schlicht lautete: L. CORNELIUS SULLA, DIKTATOR, EWIG GLÜCKLICH.
Eine Hand ergriff meinen Arm. Ich drehte mich um und sah den auf seine Krücke gestützten Tiro. »Gut«, sagte er, »daß du doch noch gekommen bist. Ich hatte schon Angst -nun, egal. Ich habe dich von gegenüber gesehen. Hier entlang, mir nach.« Er humpelte durch die Menge und zog mich hinter sich her. Ein bewaffneter Wächter nickte ihm zu und ließ uns die Absperrung passieren. Wir überquerten eine freie Fläche direkt vor der Rostra. Der verkupferte Schnabel eines uralten Schlachtschiffes in der Form eines alptraumhaften Wesens mit gehörntem Schädel hing bedrohlich über unseren Köpfen. Das Ding starrte auf uns herab und sah fast lebendig aus. An Alpträumen hatte es Kathargo nie gemangelt; als wir die Stadt vernichteten, gab sie ihre bösen Träume an Rom weiter.
Die Fläche vor der Rostra war ein kleines, offenes Rechteck. Auf der einen Seite stand die Menge der Zuschauer, aus der sich die Sulla-Statue wie eine felsige Insel erhob. Die Zuschauer standen dicht gedrängt und sahen einander über die Schulter, abgesperrt durch einen Kordon von Gerichtsbeamten. Auf der anderen Seite standen eine Reihe von Bänken für Freunde der Prozeßgegner und Zuschauer, die zu bedeutend waren, um zu stehen. In einer Ecke des Rechtecks, zwischen Zuschauern und Rostra, standen die Bänke der Anklage und der Verteidigung. Direkt vor der Rostra waren auf einer Reihe von niedrigen Rängen die Stühle der fünfundsiebzig aus dem Senat gewählten Richter aufgestellt.
Ich ließ meinen Blick über die Gesichter der Richter wandern. Einige dösten, andere lasen. Wieder andere saßen oder disputierten miteinander. Einige zappelten nervös auf ihren Sitzen hin und her, offenkundig wenig begeistert über die Pflicht, die ihnen zugefallen war. Andere schienen ihren gewohnten Geschäften nachzugehen, hatten Sklaven zum Diktat um sich geschart und schickten Angestellte hin und her. Jeder von ihnen trug die Toga eines Senators, was sie vom Pöbel, der jenseits des Kordons randalierte, abhob. Früher einmal bestanden Gerichte aus Senatoren und gemeinen Bürgern. Sulla hatte dem ein Ende gemacht.
Ich blickte zur Bank der Anklage, von wo aus Magnus mich mit verschränkten Armen, mürrisch und mit bösem Blick anstarrte. Neben ihm blätterten der Ankläger Gaius Erucius und seine Assistenten diverse Unterlagen durch. Erucius war bekannt dafür, abgefeimte Anklagen zu inszenieren, manchmal für Geld, manchmal auch aus purer Böswilligkeit; er war ebenso berühmt dafür zu gewinnen. Ich hatte auch schon für ihn gearbeitet, allerdings nur, wenn ich großen Hunger litt. Er bezahlte gut. Zweifelsohne hatte man ihm ein sehr ansehnliches Honorar versprochen, wenn er den Tod von Sextus Roscius erfocht.
Erucius blickte auf, als ich vorbeikam, schnaubte verächtlich, als er mich erkannte, und wandte sich dann wieder ab, um einen Boten zu sich zu winken, der in der Nähe auf Anweisungen wartete. Erucius war sichtlich gealtert, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, was ihn nicht attraktiver machte. Die Fettringe um seinen Hals waren dicker geworden, und seine Brauen mußten dringend gezupft werden. Wegen der Plumpheit seiner violetten Lippen sah er ständig aus, als würde er schmollen, und seine Augen wirkten schmal und berechnend. Er war das perfekte Abbild eines hinterhältigen Advokaten. Viele bei Gericht verachteten ihn, doch der Pöbel bewunderte ihn. Seine offene Verderbtheit, seine weltmännische Stimme und sein salbungsvolles Gehabe übten eine starke Faszination auf den kriecherischen Mob aus, mit der hausbackene Ehrlichkeit und schlichte römische Tugend unmöglich konkurrieren konnten. Wenn seine Anklage auf starken Füßen stand, konnte er meisterlich das Verlangen der Massen aufpeitschen, einen Schuldigen bestraft zu sehen. Stand sie auf schwachen Füßen, säte er ebenso meisterhaft Zweifel an der Unschuld des Angeklagten und schürte den Argwohn gegen ihn. Vertrat er einen Fall mit heiklen politischen Implikationen, konnte man sich darauf verlassen, daß er die Richter, subtil, aber nachdrücklich daran erinnerte, wo genau ihre eigenen Interessen lagen.
Hortensius wäre ein Gegner für ihn gewesen. Aber Cicero? Erucius war offensichtlich von seinem Widersacher nicht sonderlich beeindruckt. Er rief laut nach einem seiner Sklaven; er drehte sich um, um mit Magnus zu scherzen (sie lachten beide); er räkelte sich und schlenderte, die Hände in die Seite gestützt, umher, ohne die Anklagebank eines Blickes zu würdigen. Dort saß vornübergebeugt Sextus Roscius, hinter ihm zwei Wachen - dieselben beiden, die vor Caecilias Portal postiert gewesen waren. Er sah aus, als wäre er bereits verurteilt - blaß, stumm und regungslos wie ein Stein. Neben ihm wirkte sogar Cicero robust, als er sich erhob und zur Begrüßung meinen Arm faßte.
»Gut, gut! Tiro meinte, er hätte dich in der Menge entdeckt. Ich hatte schon Angst, du würdest zu spät kommen oder ganz wegbleiben.« Er beugte sich, noch immer meinen Arm haltend, lächelnd zu mir und sprach so vertraulich, als wäre ich sein bester Freund. Solche Vertrautheit nach den letzten Tagen kühler Nichtbeachtung irritierte mich. »Guck dir die Reihen der Richter an, Gordianus. Die eine Hälfte ist zu Tode gelangweilt, die andere zu Tode geängstigt. An welcher von beiden soll ich meine Argumentation ausrichten?« Er lachte - nicht gezwungen, sondern ehrlich guter Stimmung. Der übellaunige Cicero, der seit meiner Rückkehr aus Ameria nervös gejammert und geschimpft hatte, schien mit den Iden verschwunden zu sein.
Tiro saß zur Rechten Ciceros, neben Sextus Roscius, und hatte sorgfältig seine Krücke so plaziert, daß sie nicht zu sehen war. Rufus saß links von Cicero, zusammen mit den Adligen, die ihm auf dem Forum behilflich gewesen waren. Ich erkannte Marcus Metellus, einen weiteren von Caecilias jungen Verwandten, zusammen mit der erlauchten Null, dem ehemaligen Magistraten Publius Scipio.
»Natürlich kannst du nicht mit uns auf der Bank Platz nehmen«, sagte Cicero, »aber ich will dich in der Nähe haben. Wer weiß? Vielleicht entfällt mir im letzten Moment noch ein Datum oder ein Name. Tiro hat einen Sklaven abgestellt, dir einen Platz anzuwärmen.« Er wies auf die Tribüne, wo ich zahlreiche Senatoren und Magistraten erblickte, unter ihnen den Redner Hortensius und diverse Messalli und Metelli. Ich erkannte auch den alten Capito. Neben dem Riesen Mallius Glaucia, der einen Verband um den Kopf trug, wirkte er klein und verschrumpelt. Chrysogonus war nirgends zu sehen. Und Sulla war nur in Form seiner vergoldeten Statue anwesend.
Auf Ciceros Wink hin erhob sich ein Sklave von einer der Bänke. Während ich zur Tribüne ging, um meinen Platz einzunehmen, stieß Mallius Claucia Capito in die Seite und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Beide wandten den Kopf und starrten mich an, während ich zwei Reihen oberhalb von ihnen Platz nahm. Glaucia runzelte die Brauen und verzog knurrend die Oberlippe. Inmitten so vieler gesetzter und gediegen gewandeter Römer sah er einem wilden Tier bemerkenswert ähnlich.
Die Morgensonne warf lange Schatten auf das Forum. Als die Sonne gerade über dem Dach der Basilika Fulvia aufstieg, betrat der Praetor Marcus Fannius, der Vorsitzende des Gerichts, die Rostra und räusperte sich. Mit angemessener Würde eröffnete er die Sitzung, rief die Götter an und trug die Anklage vor.
Ich versank in jene Prozeßapathie, die jeden vernünftigen Menschen unweigerlich vor Gericht befällt, hilflos treibend in einem Ozean salziger Rhetorik, der gegen verwitterte metaphorische Klippen brandet. Während Fannius weiterleierte, studierte ich ihre Gesichter - Magnus still vor sich hin glühend, Erucius pompös und gelangweilt, Tiro bemüht, seinen Eifer zu unterdrücken, Rufus, der zwischen all den ergrauten Juristen wie ein Kind aussah. Derweil blieb Cicero abgeklärt und merkwürdig ruhig, während Sextus Roscius selbst nervös die Menge musterte wie ein in die Enge getriebenes, verwundetes Tier, das zuviel Blut verloren hat, um sich noch zu wehren.
Endlich war Fannius fertig und nahm einen Platz unter den Richtern ein. Gaius Erucius erhob sich von der Bank des Anklägers und machte ein langwieriges Theater daraus, seinen korpulenten Körper die Stufen zur Rostra hinaufzuschleppen. Er blähte seine Wangen. Die Richter legten ihre Unterlagen beiseite und stellten ihre Gespräche ein. Die Menge wurde ruhig.
»Werte Richter, ausgewählte Mitglieder des Senats, ich stehe hier heute vor euch mit einer höchst unangenehmen Aufgabe. Denn wie könnte es angenehm sein, einen Mann des Mordes anzuklagen? Doch dies ist eine der unabwendbaren Pflichten, die von Zeit zu Zeit auf die Schultern derjenigen geladen werden, die sich der Erfüllung der Gesetze verschrieben haben.«
Erucius schlug die Augen nieder, um abgrundtiefe Trauer zu demonstrieren. »Aber, werte Richter, meine Aufgabe ist es nicht nur, einen Mörder der Gerechtigkeit zuzuführen, heute geht es vielmehr darum, ein weit älteres und grundlegenderes Prinzip als die Gesetze sterblicher Menschen hochzuhalten. Denn das Verbrechen, dessen sich Sextus Roscius schuldig gemacht hat, ist nicht nur ein einfacher Mord - und das wäre schon schrecklich genug -, sondern Vatermord.«
Abgrundtiefe Trauer schlug in abgrundtiefes Entsetzen um. Erucius runzelte die plumpen Falten in seinem Gesicht und stampfte mit dem Fuß auf. »Vatermord!« rief er, so schrill, daß die Menschen selbst am entferntesten Ende des Platzes zusammenfuhren. Ich stellte mir vor, wie Caecilia Metella in ihrer Sänfte zitterte und sich die Ohren zuhielt.
»Stellt euch das bitte vor - nein, schreckt nicht vor der Gemeinheit des Verbrechens zurück, sondern schaut dem beutehungrigen Ungeheuer direkt ins Maul. Wir sind Menschen, wir sind Römer, und wir dürfen nicht zulassen, daß unser natürlicher Ekel uns die Kraft raubt, selbst dem widerwärtigsten Verbrechen offenen Auges zu begegnen. Wir müssen unseren Widerwillen hinunterschlucken und nach Gerechtigkeit trachten.
Schaut ihn euch an, den Mann, der dort mit zwei bewaffneten Wächtern im Rücken auf der Anklagebank sitzt. Dieser Mann ist ein Mörder. Dieser Mann ist ein Vatermörder! Ich nenne ihn >diesen Mann<, weil es mir Schmerzen bereitet, seinen Namen auszusprechen: Sextus Roscius. Es bereitet mir Schmerzen, weil es derselbe Name ist, den sein Vater vor ihm trug, den Vater, den dieser Mann ins Grab gestoßen - ein vormals ehrwürdiger Name, an dem jetzt Blut klebt, wie an der blutgetränken Tunika, die man an der Leiche des alten Herrn fand, von den Messern seiner Mörder zu Lumpen zerfetzt. Dieser Mann hat den edlen Namen, den sein Vater ihm gegeben hat, in einen Fluch verwandelt!
Was kann ich euch berichten über... Sextus Roscius?« Erucius spuckte den Namen mit allem Abscheu aus, den er aufbringen konnte, »ln Ameria, seiner Heimatstadt, weiß man über ihn, daß er alles andere als ein frommer Mann ist. Geht nach Ameria, wie ich es getan habe, und fragt die Leute, wann sie Sextus Roscius zum letztenmal bei einer religiösen Feier gesehen habe. Sie werden kaum wissen, von wem ihr sprecht. Doch dann erinnert sie an Sextus Roscius, den Mann, der angeklagt ist, seinen eigenen Vater ermordet zu haben, und sie werden euch einen wissenden Blick zuwerfen und die Augen aus Furcht vor dem Zorn der Götter abwenden.
Sie werden euch berichten, daß Sextus Roscius in vielerlei Hinsicht ein Rätsel ist - ein einsamer Mann, ungesellig, gottlos, rüpelhaft und kurz angebunden im Umgang mit anderen. In der Gemeinde von Ameria ist er einzig und allein aus einem Grund bekannt - oder sollte ich sagen berüchtigt: wegen seiner lebenslangen Fehde mit seinem Vater.
Ein guter Mensch streitet nicht mit seinem Vater. Ein guter Mensch ehrt seinen Vater und gehorcht ihm, nicht nur weil das Gesetz es so verlangt, sondern auch weil es der Wille der Götter ist. Wenn ein schlechter Mensch dieses göttliche Mandat ignoriert und sich offen mit dem Mann streitet, der ihm das Leben geschenkt hat, dann betritt er einen Pfad, der zu allen möglichen unsagbaren Verbrechen führt - ja sogar zu dem Verbrechen, das zu bestrafen wir uns hier alle versammelt haben.
Was war der Grund dieser Feindschaft zwischen Vater und Sohn? Wir wissen es nicht genau, obwohl Titus Roscius Magnus, der Mann, der hier neben mir auf der Bank sitzt, bezeugen kann, daß er viele schmutzige Episoden dieser Fehde mit eigenen Augen gesehen hat, wie im übrigen auch ein weiterer Zeuge, den ich möglicherweise aufrufen werde, nachdem die Verteidigung das Wort hatte, der ehrwürdige Capito. Magnus und Capito sind beide Vettern des Opfers und auch dieses Mannes. Sie sind geachtete Bürger der Gemeinde von Ameria. Sie haben jahrelang voller Trauer und Abscheu mit angesehen, wie Sextus Roscius sich seinem Vater widersetzt und ihn hinter seinem Rücken verflucht hat. Erschüttert beobachteten sie, wie der alte Herr jenem Scheusal, das von seinem eigenen Samen Mensch geworden war, nur um seiner persönlichen Würde willen den Rücken kehrte.
Er kehrte ihm den Rücken, sage ich. Ja, Sextus Roscius pater kehrte Sextus Roscius filius den Rücken, zweifelsohne zu seinem unendlichen Bedauern - denn ein kluger Mann wendet einer Schlange von einem Menschen mit der Seele eines Mörders nicht den Rücken zu, nicht einmal seinem eigenen Sohn, jedenfalls nicht, wenn er kein Messer in den Rücken gestoßen bekommen will!«
Erucius schlug mit der Faust auf die Balustrade der Rostra und starrte mit aufgerissenen Augen über die Köpfe der Menschenmenge hinweg. In dieser Pose verharrte er eine Weile, dann trat er einen Schritt zurück und holte Atem. Nach dem Donner seiner Stimme war es jetzt auf dem Platz eigenartig still. Inzwischen hatte sich Erucius so in Rage geredet, daß sein Gesicht schweißbedeckt war. Er faßte den Saum seiner Toga und tupfte sich über Stirn und Wangen. Er hob den Blick zum Himmel, als suche er Erlösung von der mörderischen Qual, der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen zu müssen. Mit wehleidiger Stimme, gerade laut genug, daß jeder ihn hören konnte, murmelte er: »Jupiter, gib mir die Kraft!« Ich sah, wie Cicero die Arme verschränkte und die Augen verdrehte. Inzwischen hatte Erucius sich wieder gefaßt, trat mit gesenktem Kopf erneut vor und fuhr fort:
»Dieser Mann - warum soll ich mir die Mühe machen, seinen besudelten Namen zu nennen, da er es wagt, sein Gesicht in der Öffentlichkeit zu zeigen, auf daß jeder anständige Mann es sehen und entsetzt zurückschrecken kann
- dieser Mann war nicht der einzige Sprößling seines Vaters. Es gab einen zweiten Sohn. Sein Name war Gaius. Wie sehr sein Vater ihn liebte, und warum auch nicht? Nach allem, was man hört, war er ein Beispiel dafür, wie jeder junge Römer sein sollte: gottesfürchtig gegenüber den Göttern, gehorsam gegenüber seinem Vater, ein Ausbund an Tugend, ein in jeder Hinsicht angenehmer, charmanter und kultivierter Mann. Seltsam, daß ein Mann zwei so unterschiedliche Söhne haben konnte! Ah, aber die Söhne hatten verschiedene Mütter. Vielleicht war es also gar nicht der Same, der verdorben war, sondern der Boden, in den er gepflanzt wurde. Bedenkt: Zwei Samen derselben Traube werden in unterschiedliche Böden gepflanzt. Einer wächst zu einem kräftigen und anmutigen Weinstock heran, der süße Früchte trägt, die einen berauschenden Wein hervorbringen. Der andere ist verkümmert und so ganz anders als der erste, knorrig und dornig; seine
Trauben sind bitter, sein Wein ist Gift. Ich nenne den ersten Weinstock Gaius und den anderen Sextus!«
Erucius wischte über sein Gesicht, erschauderte vor Ekel und fuhr fort. »Sextus Roscius pater liebte den einen Sohn und den anderen nicht. Gaius hielt er stets in seiner Nähe, stellte ihn stolz der besten Gesellschaft vor und überhäufte ihn öffentlich mit Güte und Zuneigung. Sextus filius hingegen hielt er sich so weit vom Leibe, wie er nur konnte, verbannte ihn auf die Güter der Familie in Ameria, versteckte ihn, als ob es eine Schande wäre, ihn in Gesellschaft anständiger Menschen zu zeigen. So tief ging diese Teilung seiner Zuneigung, daß Roscius pater lange und ernsthaft darüber nachdachte, seinen gleichnamigen Sohn zu enterben und Gaius zum alleinigen Erben einzusetzen, obwohl jener der jüngere der beiden Söhne war.
Ungerecht, mögt ihr sagen. Es ist besser, wenn ein Mann alle seine Söhne mit gleicher Rücksicht behandelt. Wenn er sich aber einen Liebling erwählt, so fordert er damit die Probleme in seiner und der nachfolgenden Generation geradezu heraus. Wohl wahr, aber in diesem Fall müssen wir, denke ich, das Urteil dem älteren Sextus Roscius überlassen. Warum hat er seinen Erstgeborenen so sehr verachtet? Ich glaube, er muß, besser als jeder andere, die Bösartigkeit gesehen haben, die in der Brust des jungen Sextus Roscius lauerte, und ist vor ihr zurückgeschreckt. Vielleicht hatte er sogar eine Vorahnung von der Gewalt, die sein Sohn eines Tages gegen ihn anwenden würde, und hat ihn deshalb so auf Distanz gehalten. Doch leider hat diese Vorsichtsmaßnahme nicht ausgereicht!
Die Geschichte der Roscier endet in vielfältiger Tragik -eine Serie von Tragödien, die nicht wiedergutzumachen sind, sondern nur gerächt werden können, und zwar von euch, verehrte Richter. An erster Stelle steht der viel zu frühe Tod des Gaius Roscius. Mit ihm starb jede Zukunftshoffnung seines Vaters. Bedenkt: Ist es nicht die größte Freude eines Mannes, einem Sohn das Leben zu schenken und in ihm ein Bild seiner selbst zu sehen? Ich weiß es, denn ich spreche hier selbst als Vater. Und wird es dereinst, wenn wir dieses Leben hinter uns lassen, nicht ein Trost und Segen ein, einen Nachfolger und Erben von eigenem Fleisch und Blut auf Erden zu wissen? Nicht nur irdische Güter zurückzulassen, sondern unsere gesammelte Weisheit, ja die Flamme des Lebens selbst, die vom Vater an den Sohn weitergereicht wird, auf daß er sie seinen Söhnen übergibt, so daß wir, wenn unsere sterbliche Hülle vergeht, gewiß sein können, in unseren Nachfahren weiterzuleben?
Mit dem Tod von Gaius erlosch diese Hoffnung auf Unsterblichkeit in seinem Vater Sextus Roscius. Aber er hatte doch noch einen weiteren, lebendigen Sohn, mögt ihr einwenden. Stimmt, aber in diesem Sohn sah er nicht sein offenes und wahres Ebenbild, wie man es in einem klaren Teich erblickte. Statt dessen sah er nur ein höhnisches Zerrbild seiner selbst, als blicke er in einen zerbeulten Silberteller. Selbst nach Gaius’ Tod erwog Roscius pater noch, seinen einzigen überlebenden Sohn zu enterben. Es gab gewiß zahlreiche andere, würdigere Kandidaten für diese Erbschaft innerhalb der Familie, nicht zuletzt Magnus, der hier neben mir auf der Bank des Anklägers sitzt und der seinen Vetter so sehr liebte, daß er dafür sorgte, daß dieser Mord nicht ungesühnt bleibt.
Der junge Sextus Roscius heckte einen teuflischen Plan aus, seinen Vater zu töten. Die genauen Einzelheiten kennen wir nicht, woher auch. Nur dieser Mann könnte sie uns erzählen, wenn er es wagt zu gestehen. Wir kennen lediglich die nackten Tatsachen. An einem Abend im September wurde Sextus Roscius pater nach dem Verlassen des Hauses seiner Patronin, der hochgeschätzten Caecilia Metella, in der Nähe der Bäder der Pallacina angegriffen und erstochen. Von Sextus Roscius filius persönlich? Natürlich nicht! Erinnert euch des Aufruhrs des vergangenen Jahres, werte Richter. Ich muß nicht weiter auf die Ursachen eingehen, weil dies kein politischer Gerichtshof ist, aber ich möchte an die Welle der Gewalt erinnern, die durch die Straßen dieser Stadt wogten. Wie leicht muß es für einen Ränkeschmied, wie den jungen Sextus Roscius, gewesen sein, gedungene Mörder zu finden, die diese Arbeit für ihn erledigten. Und wie gerissen der Versuch, die Tat als eine Hinrichtung zu inszenieren, in der Hoffnung, daß die Ermordung seines Vaters inmitten des allgemeinen Aufruhrs übersehen werden könnte.
Den Göttern sei Dank für einen Mann wie Magnus, der seine Augen und Ohren offen hält und keine Angst hat, nach vorn zu treten und die Schuldigen anzuklagen! Noch in derselben Nacht suchte ihn sein treuer Freigelassener Mallius Glaucia hier in Rom auf, um ihm vom Tod seines geliebten Vetters zu berichten. Magnus schickte Glaucia auf der Stelle los, die Nachricht seinem guten Vetter Capito daheim in Ameria zu überbringen.
Und nun nimmt diese tragische Geschichte eine bitterironische und doch seltsam-gerechte Wendung. Durch eine eigenartige Laune des Schicksals sollte dieser Mann das Vermögen, für dessen Besitz er einen Vatermord begangen hatte, nicht erben. Wie ich bereits erwähnt habe, ist dies kein politischer Gerichtshof, und es ist auch kein politischer Prozeß. Wir haben es hier nicht zu tun mit den drastischen Maßnahmen, die zu ergreifen der Staat in den hinter uns liegenden Jahren des Aufruhrs und der Ungewißheit gezwungen war. Also werde ich erst gar nicht versuchen, den kuriosen Lauf der Ereignisse zu beschreiben, durch den der Name von Sextus Roscius pater, allem Anschein nach doch ein guter Mensch, sich trotzdem auf den Proskriptionslisten wiederfand, als einige gewissenhafte Staatsbeamte die Angelegenheit seines Todes überprüften. Irgendwie war der alte Herr seit Monaten mit dem Leben davongekommen! Was für ein glücklicher Mensch er gewesen sein muß oder aber wie gerissen!
Und doch - welche Ironie! Filius tötet pater, um sich die Erbschaft zu sichern, nur um festzustellen, daß diese Erbschaft bereits vom Staat beansprucht wurde! Stellt euch seinen Kummer vor! Seine Enttäuschung und Verzweiflung! Die Götter haben diesem Mann einen grausamen Streich gespielt, aber wer könnte ihnen ihre unendliche Weisheit und ihren Sinn für Humor absprechen?
Der Besitz des verstorbenen Sextus Roscius wurde ordnungsgemäß bei einer Auktion versteigert. Die guten Vettern Magnus und Capito gehörten zu den ersten Bietern, da sie mit den Gütern bestens vertraut waren und ihren Wert kannten, und wurden so, was sie von Anfang an hätten sein sollen, die Erben des verstorbenen Sextus Roscius. So belohnt das Schicksal bisweilen die Gerechten und bestraft die Bösen.
Und was geschah nun - mit diesem Mann? Magnus und Capito verdächtigten ihn, seinen Vater ermordet zu haben, ja sie waren sich fast sicher. Aber aus Mitleid mit seiner Familie boten sie ihm Obdach auf ihren neu erworbenen Gütern. Eine Zeitlang herrschte ein unsicherer Friede zwischen den Vettern - das heißt, bis Sextus Roscius sich selbst verriet. Zunächst wurde entdeckt, daß er verschiedene Gegenstände des Besitzes zurückgehalten hatte, der rechtmäßig vom Staat konfisziert worden war - mit anderen Worten, daß er nicht besser war als ein gemeiner Dieb, der dem römischen Volk stiehlt, was ihm nach Gesetz und Recht gehört. (Ah, werte Richter, der Vorwurf des Betrugs ruft bei euch nur ein müdes Gähnen hervor, und mit Recht - denn was ist das schon im Vergleich zu seinem viel größeren Verbrechen?) Als Magnus und Capito ihn aufforderten, diese Dinge herauszugeben, bedrohte er ihr Leben. Nun, wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte er seine Zunge wahrscheinlich im Zaum gehalten. Aber seit dem Tod seines Vaters hatte er mit dem Trinken angefangen - wie man das oft von Schuldigen hört. Für-wahr, zu all seinen anderen Lastern war jetzt auch noch die Trunksucht gekommen, und Sextus Roscius war kaum je nüchtern. Er wurde unerträglich beleidigend und ging sogar soweit, Drohungen gegen seinen Gastgeber auszustoßen. Er drohte tatsächlich, sie umzubringen - und indem er ihr Leben bedrohte, gestand er versehentlich auch den Mord an seinem Vater.
Weil er um sein eigenes Leben fürchtete und weil es seine Pflicht war, beschloß Magnus, Anzeige gegen diesen Mann zu erstatten. In der Zwischenzeit konnte Roscius entkommen und nach Rom flüchten, zurück zum Tatort seines Verbrechens; aber das Auge des Gesetzes erblickte ihn auch im Herzen Roms, und selbst in einer Stadt von einer Million Menschen konnte er sich nicht verstecken.
Sextus Roscius wurde aufgespürt. Normalerweise gibt man einem römischen Bürger, ungeachtet welch verabscheuungswürdigen Verbrechens er auch angeklagt sein mag, die Möglichkeit, seine Bürgerrechte niederzulegen und ins Exil zu fliehen, anstatt sich einem Prozeß zu stellen, wenn das seine Wahl ist. Aber das Verbrechen, das dieser Mann begangen hat, war so schwer, daß man ihn unter Arrest stellte, damit er seinem Prozeß und seiner Bestrafung nicht entgehen konnte. Und warum? Weil das Verbrechen, das er begangen hat, weit über das Vergehen eines Sterblichen gegen einen anderen hinausgeht. Es ist ein Schlag gegen die Grundfesten dieser Republik und die Prinzipien, die sie groß gemacht haben. Es ist ein Anschlag auf den Vorrang der Vaterschaft. Es ist eine Beleidigung der Götter selbst, und vor allem eine Beleidigung Jupiters, des Vaters aller Götter.
Nein, der Staat kann nicht das geringste Risiko eingehen, daß ein solch abscheulicher Verbrecher flieht, genausowenig wie ihr, werte Richter, das Risiko eingehen könnt, ihn unbestraft zu lassen. Denn wenn ihr das tut, bedenkt die Strafe der Götter, die diesen Staat mit Sicherheit heimsuchen wird, um unser Versagen zu ahnden, ein derartiges Scheusal vom Antlitz der Erde zu tilgen. Denkt an die Städte, deren Straßen von Blut überflutet waren oder deren Bevölkerung elend an Hunger und Durst zugrunde gegangen ist, weil sie törichterweise einem gottlosen Mann Schutz vor dem Zorn der Götter gewährt haben. Ihr dürft nicht zulassen, daß dasselbe in Rom geschieht.«
Erucius machte eine Pause, um sich die Stirn abzuwischen. Alle Augen auf dem Platz waren mit geradezu traumwandlerischer Konzentration auf ihn gerichtet. Cicero und seine Anwaltskollegen rollten nicht mehr mit den Augen oder spotteten hinter vorgehaltener Hand über Erucius; sie sahen vielmehr recht besorgt aus. Sextus Roscius war zu Stein erstarrt.
Erucius faßte zusammen. »Ich habe von dem Frevel gegen den göttlichen Jupiter gesprochen, den dieser Mann durch sein unsagbar abscheuliches Verbrechen verübt hat. Es ist auch, wenn ihr mir diese kleine Abschweifung erlaubt, ein Frevel gegen den Vater unserer wiederhergestellten Republik!«
An dieser Stelle breitete Erucius mit großer Geste die Arme aus, als wolle er das Reiterstandbild Sullas anflehen, der ihm, so wirkte es von meinem Platz aus, ein herablassendes Lächeln gönnte. »Ich muß seinen Namen nicht aussprechen, weil sein Auge hier und jetzt auf uns allen ruht. Ja, sein wachsamer Blick liegt auf allem, was wir an diesem Ort tun in unserer pflichtgemäßen Rolle als Bürger, Richter, Anwälte und Ankläger. Lucius Cornelius Sulla, der ewig Glückliche, hat die Gerichtsbarkeit wiederhergestellt. Sulla hat die Fackel der römischen Justiz nach so vielen Jahren der Dunkelheit neu entzündet; es ist an uns, dafür zu sorgen, daß Übeltäter wie dieser Mann von ihrer Flamme zu Asche verbrannt werden. Sonst, das verspreche ich euch, werte Richter, wird die Rache von oben über unser aller Häupter niedergehen wie Hagel von einem wütenden schwarzen Himmel.«
Erucius wies mit dem Zeigefinger himmelwärts und verharrte sehr lange in dieser Pose. Seine Brauen waren zusammengezogen, und er starrte die Richter an wie ein wütender Stier. Er hatte von Jupiters Vergeltung gesprochen, aber wir hatten alle vernommen, daß Sulla selbst verärgert wäre, wenn das Urteil auf Nicht schuldig lautete. Die Drohung hätte nicht deutlicher sein können.
Erucius raffte die Falten seiner Toga, warf den Kopf zurück und drehte sich um. Die Menge applaudierte und jubelte nicht, als er von der Rostra hinabstieg. Statt dessen herrschte ein eisiges Schweigen.
Er hatte nichts bewiesen. Anstelle von Beweisen hatte er versteckte Anschuldigungen vorgetragen. Er hatte nicht an die Gerechtigkeit appelliert, sondern an die Angst. Seine Rede war ein furchtbares Flickwerk aus offenen Lügen und selbstgerechten Einschüchterungen. Und trotzdem, welcher Mann, der ihn an jenem Morgen von der Rostra hatte sprechen hören, konnte daran zweifeln, daß Erucius seinen Fall gewonnen hatte?
30
Cicero erhob sich und ging mit entschlossenen Schritten und mit wehender Toga zur Rostra. Ich warf einen Blick auf Tiro, der auf einem Daumennagel herumkaute, und Rufus, der, die Hände im Schoß gefaltet, dasaß und ein bewunderndes Lächeln kaum unterdrücken konnte.
Cicero trat auf die Rednertribüne, räusperte sich und hustete. Eine Welle der Skepsis erfaßte die Menge. Niemand hatte ihn je zuvor reden gehört; ein verpatzter Einstieg war ein schlechtes Zeichen. Auf der Anklägerbank schmatzte Erucius vernehmlich mit den Lippen und starrte demonstrativ in den Himmel.
Cicero räusperte sich noch einmal und begann von neuem. »Richter dieser Kammer: Wahrscheinlich wundert ihr euch, daß unter all den
ausgezeichneten Bürgern und hervorragenden Rednern, die in euren Reihen sitzen, ausgerechnet ich mich erhoben habe, um zu euch zu sprechen...«
»ln der Tat«, murmelte Erucius. Vereinzeltes Gelächter erhob sich.
Cicero machte unbeirrt weiter. »Gewiß kann ich mich in Alter, Talent oder politischem Gewicht nicht mit ihnen vergleichen. Gewiß jedoch halten auch sie es, genau wie ich, für recht und billig, daß eine mit unerhörter Skrupellosigkeit ausgeheckte Anklage gegen einen unschuldigen Mann abgewehrt wird. So ist ihre Anwesenheit ein Zeichen, daß sie ihrer Verpflichtung gegenüber der Wahrheit für alle Welt sichtbar nachkommen wollen, aber sie bleiben stumm -wegen der stürmischen Bedingungen dieser Tage.« Er hob eine Hand, als wolle er einen Regentropfen auffangen, der vom strahlendblauen Himmel fiel -gleichzeitig jedoch sah er aus, als würde er eine Geste in Richtung der Sulla-Statue machen. In den Reihen der Richter gab es ein unbehagliches Stühlerücken. Erucius, der gerade seine Fingernägel inspizierte, bekam nichts davon mit.
Cicero räusperte sich erneut. Als er fortfuhr, klang seine Stimme lauter und kräftiger als zuvor, und die Unsicherheit war völlig verschwunden. »Bin ich soviel mutiger als diese schweigenden Männer? Fühle ich mich der Gerechtigkeit mehr verpflichtet als sie? Ich glaube nicht. Oder bin ich so versessen darauf, meine Stimme über das Forum hallen zu hören und für meine offenen Worte gelobt zu werden? Nein, nicht wenn ein besserer Redner dieses Lob verdienen könnte, indem er passendere Worte fände. Was hat also mich anstelle eines bedeutenderen Mannes dazu getrieben, die Verteidigung des Sextus Roscius von Ameria zu übernehmen?
Der Grund ist dieser: Hätte einer dieser großartigen Redner sich erhoben, vor diesem Gericht gesprochen und - wie in einem solchen Fall unvermeidlich
- Worte über die politischen Verhältnisse verloren, dann hätten die Leute mehr in seine Ausführungen hineingedeutet, als er tatsächlich gesagt hätte. Gerüchte wären entstanden, Verdächtigungen erhoben worden. Denn die bedeutende Position dieser Männer bringt es mit sich, daß nichts, was sie sagen, unbemerkt, keine Andeutung in ihren Reden undiskutiert bleibt. Ich hingegen kann alles sagen, was in diesem Fall gesagt werden muß, ohne widrige Aufmerksamkeit oder unangemessene Kontroversen fürchten zu müssen. Denn ich habe mich nicht in der Politik betätigt; kein Mensch kennt mich. Wenn ich mich einmal zu frei äußere oder eine peinliche Indiskretion fallen lasse, wird es wahrscheinlich niemand bemerken, oder wenn doch, wird man mir den Lapsus meiner Jugend und Unerfahrenheit wegen nachsehen.«
Es gab ein weiteres Stühlerücken. Erucius blickte von seinen Nägeln auf, rümpfte die Nase und starrte in die Ferne, als habe er am Himmel soeben eine alarmierende Rauchwolke ausgemacht.
»Wie ihr seht, bin ich nicht vor allen anderen ausgewählt worden, weil ich mit dem größten Geschick sprechen könnte.« Cicero lächelte, als wolle er die Menge um Nachsicht bitten. »Nein, ich war einfach der einzige, der übrig geblieben war, als alle anderen verzichtet hatten. Ich war derjenige, der mit dem geringsten Risiko reden konnte. Niemand kann behaupten, daß ich ausgewählt wurde, damit Sextus Roscius die bestmögliche Verteidigung erhielt. Die Wahl fiel schlicht deshalb auf mich, damit er überhaupt eine Verteidigung bekam.
Vielleicht fragt ihr: Welcher Druck von außen und welche mächtige Angst schrecken die besten Anwälte ab, so daß die Verteidigung von Sextus Roscius’ Leben einem ausgesprochenen Anfänger überlassen bleibt? Wenn man Erucius reden hört, sollte man meinen, daß überhaupt keine Gefahr besteht, da er es absichtsvoll vermieden hat, seinen wahren Auftraggeber zu benennen oder die bösartigen Motive zu erwähnen, die jene geheimnisvolle Person veranlaßt haben, meinem Mandanten überhaupt den Prozeß zu machen.
Wer ist diese Person? Was sind ihre Motive? Laßt mich erklären.
Der Besitz des verstorbenen, ermordeten Sextus Roscius -der normalerweise jetzt der Besitz seines Sohnes und Erben sein sollte - umfaßt Güter und Eigentum im Gesamtwert von mehr als sechs Millionen Sesterzen. Sechs Millionen Sesterzen! Das ist ein beträchtliches Vermögen, das im Laufe eines langen und arbeitsreichen Lebens angehäuft wurde. Trotzdem wurde der gesamte Nachlaß von einem gewissen jungen Mann, vermutlich auf der Auktion, für die erstaunliche Summe von zweitausend Sesterzen aufgekauft. Ein recht gutes Geschäft. Der preisbewußte junge Käufer war Lucius Cornelius Chrysogonus - wie ich sehe, ruft die bloße Erwähnung seines Namens allgemeine Unruhe hervor, und warum auch nicht? Er ist ein außergewöhnlich mächtiger Mann. Nomineller Verkäufer des Besitzes, der die Interessen des Staates vertrat, war der tapfere und berühmte Lucius Sulla, dessen Name ich mit allem gebührenden Respekt erwähne.«
In diesem Moment wurde ein leises Zischen auf dem Platz hörbar, wie Sprühregen auf heißem Pflaster, als die Anwesenden sich einander zuwandten und hinter vorgehaltener Hand flüsterten. Capito packte Glaucias Schulter und krächzte ihm etwas ins Ohr. Um mich herum verschränkten die Adeligen auf der Tribüne ihre Arme und tauschten grimmige Blicke. Zwei ältere Metelli zu meiner Rechten nickten sich erwartungsvoll zu. Gaius Erucius, dessen plumpe Wangen bei der Erwähnung von Chrysogonus’ Namen dunkelrot angelaufen waren, packte einen jungen Sklaven beim Hals, bellte ihm einen Befehl ins Ohr, worauf jener eilends den Platz verließ.
»Ich will ganz offen sein. Es war Chrysogonus, der die Anklage gegen meinen Mandanten inszeniert hat. Ohne jegliche gesetzliche Grundlage hat er sich den Besitz eines unschuldigen Mannes angeeignet. Doch solange der rechtmäßige Besitzer noch lebte und atmete, sah er sich im ungetrübten Genuß dieses Vermögens beeinträchtigt. Deshalb bittet er euch, werte Richter, ihn von dem Stachel dieser Furcht zu befreien, indem ihr meinen Mandanten aus dem Weg räumt. Erst dann kann er hoffen, das Vermögen des verstorbenen Sextus Roscius in Schwelgerei zu verschleudern und zu verprassen.
Scheint euch das recht und billig, ihr Richter? Ist es anständig? Ist es gerecht? Laßt mich meine Gegenforderung stellen, die, wie ich glaube, bescheidener und vernünftiger ist.
Erstens: Sorgt dafür, daß der Schurke Chrysogonus sich mit unserem Hab und Gut zufriedengibt. Sorgt dafür, daß er uns nicht auch noch an den Kragen geht!«
Cicero hatte begonnen, auf der Rednertribüne auf und ab zu laufen, wie er es in seinem Arbeitszimmer zu tun pflegte. Jede Unsicherheit war aus seiner Stimme gewichen, die kräftiger und aufrüttelnder klang, als ich sie je gehört hatte.
»Zweitens, werte Richter, bitte ich euch: Widersetzt euch diesem verbrecherischen Plan verwegener Gesellen. Öffnet eure Augen und Herzen dem Flehen eines unschuldigen Opfers. Rettet uns alle vor einer schrecklichen Gefahr, denn die Bedrohung, die in diesem Prozeß über Sextus Roscius schwebt, schwebt über jedem freien Bürger Roms. Wenn ihr am Ende dieser Verhandlung von Sextus Roscius’ Schuld überzeugt seid - nein, wenn ihr auch nur den leisesten Verdacht hegt -, wenn irgendein Indiz zu der Annahme verleiten könnte, daß die furchtbaren Vorwürfe gegen ihn möglicherweise gerechtfertigt sein könnten; wenn ihr ehrlich glaubt, daß seine
Ankläger ihm aus irgendeinem anderen Grund den Prozeß machen als dem, ihre eigene unstillbare Gier nach Beute zu befriedigen - dann befindet ihn für schuldig, und ich werde nicht widersprechen. Wenn es hier jedoch ausschließlich um die raffsüchtige Habgier seiner Ankläger geht und ihr Bestreben, ihr Opfer durch eine Perversion der Rechtsprechung zu eliminieren, dann bitte ich euch alle, auf eure Integrität als Senatoren und Richter zu bestehen und euch zu weigern, kraft eures Amtes und eurer Person zu bloßen Handlangern von Kriminellen zu werden.
Dich, Marcus Fannius, als Vorsitzenden Richter dieses Gerichtshofes, bitte ich dringend, die große Menschenmenge zu betrachten, die sich zu dieser Verhandlung eingefunden hat. Was hat sie hierhergelockt? Ah, natürlich, die Anklage ist an sich schon äußerst sensationell. Ein römisches Gericht hat lange keinen Mordfall mehr verhandelt - obwohl es in der Zwischenzeit bestimmt keinen Mangel an abscheulichen Morden gegeben hat! Alle, die sich hier heute versammelt haben, sind des Mordens überdrüssig; sie sehnen sich nach Gerechtigkeit. Sie wollen die Täter hart bestraft sehen. Sie wollen, daß das Verbrechen mit gebotener Unnachgiebigkeit bekämpft wird.
Das ist alles, worum wir bitten: harte Bestrafung und Anwendung der vollen Strenge des Gesetzes. Normalerweise ist es die Anklage, die diese Forderung erhebt, aber heute nicht. Heute sind wir es, die Angeklagten, die dich, Fannius, und deine Richterkollegen bitten, das Verbrechen mit aller Schärfe zu bestrafen. Denn wenn ihr das nicht tut - wenn ihr es versäumt, diese Gelegenheit zu ergreifen, um uns zu demonstrieren, wofür die Richter und die Gerichtshöfe Roms stehen -, dann haben wir offenkundig einen Punkt erreicht, wo menschlicher Gier und Verwegenheit keine Grenzen mehr gesetzt sind. Die Alternative ist absolute und ungebändigte Anarchie. Wenn ihr vor der Anklage kapituliert und es versäumt, eure Pflicht zu tun, wird das Abschlachten Unschuldiger nicht länger im Schatten und bemäntelt durch juristische Winkelzüge geschehen. Nein, dann werden derartige Morde in aller Öffentlichkeit hier auf dem Forum begangen werden, Fannius, vor eben jenem Podium, auf dem du jetzt sitzt. Denn was anderes versucht man durch diesen Prozeß zu bewirken, als durchzusetzen, daß man ungestraft stehlen und morden kann?
Vor der Rostra kann ich zwei Lager ausmachen. Die Ankläger, die Anspruch auf das Vermögen meines Mandanten erheben, die direkt von der Ermordung seines Vaters profitiert haben und jetzt versuchen, den Staat zur Tötung eines unschuldigen Mannes anzustacheln. Und den Angeklagten: Sextus Roscius, dem seine Ankläger außer seinem Ruin nichts gelassen haben, dem der Tod seines Vaters nicht nur Trauer, sondern auch bittere
Armut gebracht hat, der selbst zu dieser Verhandlung mit einer Leibgarde erschienen ist -nicht zum Schutz des Gerichts, wie Erucius höhnisch andeutet, sondern zu seinem eigenen Schutz, um nicht hier an dieser Stelle vor euren Augen hingemetzelt zu werden! Welcher der beiden Parteien wird hier heute in Wahrheit der Prozeß gemacht? Wer hat den Zorn des Gesetzes auf sich gezogen?
Eine bloße Beschreibung dieser Banditen würde nicht ausreichen, euch mit der Schwärze ihres Charakters vertraut zu machen. Eine simple Auflistung ihrer Verbrechen würde die Unverfrorenheit nicht hinreichend verdeutlichen, mit der sie es wagen, Sextus Roscius des Vatermordes anzuklagen. Ich muß am Anfang beginnen und euch den Lauf der Ereignisse schildern, die zu diesem Prozeß geführt haben, damit ihr die Tragweite der Demütigung begreift, die dieser unschuldige Mann erleiden mußte. Erst dann werdet ihr die Verwegenheit seiner Ankläger und das grauenhafte Ausmaß ihrer Verbrechen ganz verstehen. Und ihr werdet, nicht mit völliger, aber doch mit erschreckender Deutlichkeit erkennen, in welch unheilvollen Zustand diese Republik geraten ist.«
Cicero war wie verwandelt. Seine Gesten waren stark und unmißverständlich. Seine Stimme war leidenschaftlich und klar. Hätte ich ihn aus der Ferne gesehen, ich hätte ihn für einen Fremden gehalten. Hätte ich ihn aus dem Nebenzimmer gehört, ich hätte seine Stimme nicht erkannt.
Ich war schon früher Zeuge solcher Verwandlungen gewesen, aber nur im Theater oder zu bestimmten religiösen Anlässen, wo man es gleichsam erwartet, von der Wandelbarkeit der menschlichen Natur überrascht zu werden. Das gleiche mit eigenen Augen bei einem Menschen zu sehen, den man zu kennen glaubte, war verblüffend. Hatte Cicero die ganze Zeit gewußt, daß eine solche Veränderung in ihm stattfinden würde, wenn es darauf ankam? Oder Rufus und Tiro? Sie mußten es zumindest geahnt haben, denn es gab keine andere Erklärung für ihr stets ungebrochenes Vertrauen. Was hatten sie alle in Cicero gesehen, das ich nicht hatte entdecken können?
Erucius hatte die Masse mit Melodrama und Schwulst unterhalten, und der Pöbel war zufrieden gewesen. Er hatte die Richter offen bedroht, und sie hatten seine Beleidigung schweigend über sich ergehen lassen. Cicero schien wild entschlossen, bei seinen Zuhörern wahre Leidenschaft zu entfachen, und sein Hunger nach Gerechtigkeit war ansteckend. Die Entscheidung, Chrysogonus gleich zu Beginn anzugreifen, war ein kühnes Spiel gewesen. Bei der bloßen Erwähnung des Namens waren Erucius und Magnus deutlich von Panik ergriffen worden. Sie hatten offenbar lediglich schwache
Gegenwehr erwartet, ein ebenso weitschweifiges und oberflächliches Plädoyer wie das ihrige. Statt dessen stürzte sich Cicero kopfüber in die Geschichte und ließ nichts aus.
Er beschrieb die Lebensumstände des älteren Sextus Roscius, seine Verbindungen in Rom und seine langwährende Fehde mit seinen Vettern Magnus und Capito. Er beschrieb ihren verrufenen Charakter. (Er verglich Capito mit einem vernarbten und ergrauten Gladiator und Magnus mit dem Lieblingsschüler eines alten Kämpfers, der seinen Lehrmeister an verbrecherischer Verwegenheit längst übertroffen hatte.) Er nannte den genauen Tatort und die Tatzeit des Mordes an Sextus Roscius und wies auf den eigenartigen Umstand hin, daß Mallius Glaucia die ganze Nacht durchgeritten war, um Capito in Ameria einen blutigen Dolch und die Todesnachricht zu überbringen. Er ging näher auf die Beziehung der beiden Vettern zu Chrysogonus ein; auf die illegale Proskription von Sextus Roscius nach seinem Tod, nachdem die Proskriptionen qua Gesetz längst beendet waren; auf den zwecklosen Protest des Gemeinderates von Ameria; auf den Aufkauf von Roscius’ Nachlaß durch Chrysogonus, Magnus und Capito; auf ihren Versuch, Sextus Roscius den Jüngeren auszuschalten, und auf seine Flucht zu Caecilia Metella in Rom. Gleichzeitig erinnerte er die Richter an die Frage, die der große Lucius Cassius Longinus Ravilla in Strafverfahren immer wieder zu stellen pflegte: Cui bono?
Auch als er auf den Diktator zu sprechen kam, scheute er sich nicht, die Wahrheit beim Namen zu nennen; er schien beinahe süffisant zu lächeln. »Ich bin der festen Überzeugung, ihr Richter, daß all dies geschah, ohne daß der ehrenwerte Lucius Sulla davon erfuhr, ja ohne daß er es überhaupt wahrnahm. Schließlich bewegt er sich in völlig anderen Sphären; nationale Angelegenheiten von höchster Wichtigkeit beanspruchen seine Aufmerksamkeit, er ist beschäftigt damit, die Wunden der Vergangenheit zu heilen und zukünftige Bedrohungen abzuwehren. Alle Augen ruhen auf ihm; alle Macht liegt in seinen festen Händen. Frieden zu schaffen oder Kriege zu führen - er allein hat die Wahl und die Mittel. Bedenkt die Schar der kleinen Schurken, die einen solchen Mann umgeben, ihn beobachten und auf jene Gelegenheiten lauern, zu denen seine Konzentration voll und ganz von anderen Dingen in Anspruch genommen ist, so daß sie in die Lücke stoßen und die Gunst des Augenblicks nutzen können. Sulla, der von Fortuna Begünstigte, das ist er fürwahr, aber, beim Herkules, es gibt niemanden, den Fortuna so sehr liebt, daß sich in seinem riesigen Haus nicht irgendein unehrlicher Sklave, oder schlimmer noch, ein gerissener und skrupelloser Ex-Sklave verbergen könnte.«
Er warf einen Blick auf seine Notizen und fuhr dann fort, jeden Punkt von Erucius’ Rede zu widerlegen und in seiner Banalität lächerlich zu machen. Auf Erucius’ Argument, daß Sextus Roscius’ Verpflichtungen auf dem Lande ein Zeichen der Mißstimmung zwischen Vater und Sohn gewesen seien, entgegnete er mit einem langen Exkurs über den Wert und die Ehre des ländlichen Lebens - ein Thema, mit dem man bei den verstädterten Römern immer auf offene Ohren stieß. Er protestierte dagegen, daß die Sklaven, die den Mord gesehen hatten, vor Gericht nicht als Zeugen aufgerufen werden konnten, weil ihr neuer Besitzer - Magnus, der sie zur Zeit im Haus des Chrysogonus versteckt hielt - seine Erlaubnis verweigerte.
Er verweilte bei der Abscheulichkeit des Vatermordes, eines Verbrechens, das so schwerwiegend war, daß eine Verurteilung einen eindeutigen Schuldbeweis verlangte. »Fast möchte ich sagen, die Richter müssen die vom Blute des Vaters bespritzten Hände sehen, wenn sie eine so schlimme, so rohe, so abstoßende Tat glauben sollen!« Er beschrieb die uralte Strafe für Vatermörder, was beim Publikum eine Mischung aus Faszination und Entsetzen hervorrief.
Seine Rede war so erschöpfend und lang, daß die Richter auf ihren Stühlen hin und her zu rutschen begannen, und zwar längst nicht mehr, weil die Erwähnung von Sullas Namen sie beunruhigte, sondern aus schierer Ungeduld. Ciceros Stimme wurde heiser, obwohl er gelegentlich an einem Glas Wasser nippte, das unter dem Rednerpult verborgen war. Ich fing an zu glauben, er wolle Zeit schinden, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, warum.
Tiro hatte die Bank der Verteidigung vor geraumer Zeit verlassen - um sich zu erleichtern, wie ich vermutete, weil ich ein immer dringenderes Bedürfnis verspürte, dasselbe zu tun. In diesem Moment kam Tiro flink an der Tribüne vorbeigehumpelt und nahm, auf seine Krücke gestützt, wieder auf der Bank Platz. Von der Spitze der Rostra blickte Cicero herab und zog eine Braue hoch. Sie tauschten irgendein Zeichen aus und lächelten dann beide.
Cicero räusperte sich und nahm einen großen Schluck Wasser. Er atmete tief ein und schloß einen Moment lang die Augen. »Und nun, werte Richter, kommen wir zum Fall eines ganz bestimmten Schurken und Ex-Sklaven, von Geburt Ägypter und von Natur aus unendlich habgierig - aber seht, da kommt er mit einem prächtigen Gefolge aus seiner Luxusvilla auf dem Palatin, wo er in der Nachbarschaft von Senatoren und den altehrwürdigsten Familien der Republik in verschwenderischem Überfluß lebt.«
Von Erucius alarmiert, war Chrysogonus endlich eingetroffen.
Seine Leibwächter machten kurzen Prozeß bei der Räumung der letzten Reihe der Tribüne, wo einige wenige glückliche Zuschauer aus der Menge die von weniger bedeutenden Adligen freigelassenen Plätze besetzt hatten. Köpfe wandten sich um, und ein Raunen ging über den Platz, als Chrysogonus zur Mitte der Bank schritt und sich setzte. Er war von so viel Gefolgsleuten umgeben, daß einige in den Gängen stehenbleiben mußten.
Auch ich drehte mich wie alle anderen um, um einen Blick auf die sagenumwobenen goldenen Locken, die hohe Alexanderstirn und das breite, kräftige Kinn zu erhaschen, das heute wie versteinert wirkte. Ich wandte mich wieder zu Cicero um, der sich auch körperlich für seine Attacke zu wappnen schien. Er hatte seine schmächtigen Schultern hochgezogen und den Kopf gesenkt wie eine angreifende Ziege.
»Ich habe einige Erkundigungen eingeholt über diesen Ex-Sklaven«, sagte er. »Wie ich herausgefunden habe, ist er sehr wohlhabend und schämt sich nicht, seinen Reichtum auch zu zeigen. Neben seinem Haus auf dem Palatin hat er einen prachtvollen Landsitz und mehrere Güter, die alle auf ausgezeichnetem Boden und in der Nähe der Stadt liegen. Sein Haus ist vollgestopft mit korinthischen und delischen Gold-, Silber- und Kupfergefäßen sowie einem mechanischen Kochgefäß, das er neulich auf einer Auktion für einen so hohen Preis erworben hat, daß Passanten, die im Vorbeigehen sein letztes Gebot hörten, glaubten, man verkaufe ein größeres Stück Land. Der Gesamtwert seines ziselierten Silbers, der bestickten Decken, Gemälde und Marmorstatuen läßt sich kaum schätzen - es sei denn, man addierte sämtliche Beutestücke, die in zahlreichen vornehmen Familien geraubt und in einem Haus aufgehäuft werden könnten!
Und das ist nur sein stummer Besitz. Was ist mit dem sprechenden Personal? Zusammen bilden sie einen riesigen Hausstand aus Sklaven mit den verschiedenartigsten Fertigkeiten und natürlichen Talenten. Die gemeinen Berufe muß ich kaum nennen - Köche, Bäcker, Schneider, Sänftenträger, Schreiner, Teppichmacher, Polsterer, Stubenmädchen, Putzfrauen, Maler, Fußbodenpolierer, Spülfrauen, Mädchen für alles, Stalljungen, Dachdecker und Ärzte. Um Herz und Ohren zu erfreuen, hält er sich eine solche Schar von Musikern, daß die ganze Nachbarschaft vom Klang der Stimmen, Saiten, Trommeln und Flöten widerhallt. Und nachts hört man den Lärm seiner Gelage - Akrobaten treten auf, und Poeten deklamieren anzügliche Verse zu seiner Erbauung. Könnt ihr euch die täglichen Aufwendungen für einen derartigen Lebensstil vorstellen, ihr Richter? Die
Kosten für seine Garderobe? Den Etat für seine ausschweifende Unterhaltung und das reichhaltige Essen? Man sollte seine Behausung eigentlich gar nicht Haus nennen, sondern vielmehr eine Brutstätte der Liederlichkeit und eine Herberge aller Laster. Das gesamte Vermögen eines Sextus Roscius würde kaum einen Monat reichen!
Schaut euch den Mann an, werte Richter - dreht euch um und seht ihn euch an! Wie er mit seinem wohlfrisierten und pomadisierten Haar überall auf dem Forum herumstolziert mit seinem Gefolge aus römischen Bürgern, die ihre Toga entweihen und sich in der Gefolgschaft eines Ex-Sklaven zeigen! Seht, wie er auf alle herabblickt und sich für absolut einzigartig hält, wie er sich aufbläst, als sei allein er reich und mächtig.«
Ich sah mich über die Schulter um. Jeder, der Chrysogonus in diesem Moment möglicherweise zum erstenmal sah, hätte ihn nie und nimmer für einen gutaussehenden Mann gehalten. Sein Gesicht war so rot und aufgequollen, als stünde er am Rand eines Schlaganfalls. Seine Augen drohten aus ihren Höhlen zu platzen. Ich hatte noch nie soviel angestaute Wut in einem so starren Körper gesehen. Wenn er buchstäblich explodiert wäre, es hätte mich nicht gewundert.
Auch Cicero konnte von der Rostra aus deutlich die Wirkung erkennen, die seine Worte zeitigten, und er fuhr ohne Pause fort. Auch seine Wangen waren vor Aufregung gerötet. Er redete schneller, bewahrte jedoch die vollständige Kontrolle über sich, ohne sich auch nur einmal zu versprechen oder um ein Wort verlegen zu sein.
»Ich fürchte, meine Anwürfe gegen diese Kreatur könnte mancher von euch mißverstehen, könnte glauben, ich wolle die Sache des Adels oder ihres Helden Sulla angreifen, die sich in den Bürgerkriegen als siegreich erwiesen hat. Dem ist nicht so. Diejenigen, die mich kennen, wissen, daß ich mir während der Kriege Frieden und Versöhnung gewünscht habe, da eine Versöhnung aber unmöglich war, ging der Sieg an die rechtschaffenere Seite. Das ist durch das Wohlwollen der Götter, durch den Einsatz des römischen Volkes und natürlich durch die Weisheit, die Befehlsgewalt und das Glück von Lucius Sulla vollbracht worden. Es ist nicht an mir, die Belohnung der Sieger und die Bestrafung der Besiegten in Frage zu stellen. Aber ich kann nicht glauben, daß der Adel zu den Waffen gegriffen hat, nur damit seine Sklaven und Ex-Sklaven sich an unserem Vermögen und Besitz bereichern können.«
Ich hielt es nicht länger aus. Meine Blase drohte ebenso bald zu platzen wie Chrysogonus’ aufgeblähte Wangen.
Ich erhob mich von meinem Platz und drängte mich seitlich an ein paar Adligen vorbei, die mich der Störung wegen anknurrten und hochnäsig den Saum ihrer Toga rafften, als ob die bloße Berührung durch meinen Fuß den Stoff beflecken würde. Während ich mich durch den überfüllten Gang zwischen der Richterbank und der Tribüne zwängte, warf ich einen Blick auf den Platz und empfand die eigenartige Losgelöstheit eines anonymen Zuschauers, der das Auge des Sturms verläßt - Cicero gestikulierte leidenschaftlich, die Menge verfolgte angespannt jede seiner Bewegungen, Erucius und Magnus bissen die Zähne aufeinander. Zufällig sah Tiro zu mir herüber. Er lächelte und sah dann auf einmal zutiefst beunruhigt aus. Er winkte mich krampfhaft zu sich herüber. Ich lächelte und machte eine abwehrende Handbewegung. Er gestikulierte noch heftiger und machte Anstalten, von seinem Platz aufzustehen. Ich wandte ihm den Rücken zu und eilte weiter. Wenn er mich zu einer letzten eiligen Besprechung zitieren wollte, mußte das Zeit haben, bis ich dringlichere Geschäfte erledigt hatte. Erst später wurde mir klar, daß er mich vor der Gefahr in meinem Rücken hatte warnen wollen.
Am Ende der Tribüne kam ich an Chrysogonus und seiner Gefolgschaft vorbei. In jenem Moment bildete ich mir unwillkürlich ein, die Hitze spüren zu können, die sein blutrotes Antlitz ausstrahlte.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Schar der Bediensteten und Sklaven, die den Raum hinter der Tribüne füllten. Die dahinter liegende Straße war menschenleer. Einige Zuschauer, denen es an Bürgerstolz mangelte, hatten ihre Notdurft in der nächstbesten Gosse verrichtet und einen stechenden Uringestank in der Luft hinterlassen, aber meine Blase war nicht so schwach, daß ich es nicht noch bis zur nächsten öffentlichen Latrine ausgehalten hätte. Hinter dem Heiligtum der Venus, direkt oberhalb der Cloaca Maxima, gab es eine schmale Nische mit angeschrägtem Fußboden und Abflüssen an den Wänden, die ausdrücklich für diesen Zweck vorgesehen war.
Ein Mann mit ergrautem Bart und einer makellos weißen Toga verließ eben den Ort, als ich herankam. Er nickte mir zu. »Spektakulärer Prozeß, was?« keuchte er.
»Kann man wohl sagen.«
»Und dieser Cicero ist kein schlechter Redner.«
»Ein erstklassiger Redner«, pflichtete ich ihm hastig bei. Der alte Mann ging. Ich stand an der Innenmauer, starrte auf die Kalksteinrinne und hielt wegen des Gestanks den Atem an. Dank einer Merkwürdigkeit der Akustik konnte ich Cicero von der Rostra hören. Seine Stimme war verhallt, aber deutlich zu vernehmen: »Das letztendliche Ziel der Ankläger ist so offensichtlich wie verständlich: Es geht um nichts anderes als um die vollständige Beseitigung der Kinder des Geächteten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Euer Eid und die Hinrichtung von Sextus Roscius sind die ersten Schritte dieser Kampagne.«
Cicero kam zum Schluß. Ich schloß die Augen, die Schleusen öffneten sich, und ich genoß ein Gefühl unbeschreiblicher Erleichterung.
In diesem Moment hörte ich ein leises Pfeifen hinter mir und hielt mitten im Fluß inne. Ich sah mich über die Schulter um und sah zehn Schritte hinter mir Mallius Glaucia stehen. Er strich mit der Hand über seine Tunika, bis sich seine Finger um die unverkennbare Form eines in den Falten um die Hüfte versteckten Dolches schlossen. Er tätschelte den Knauf mit einem obszönen Grinsen, als ob er sein Glied halten würde.
»Seid wachsam, ihr Richter, daß nicht durch euch hier und heute eine zweite und viel grausamere Welle der Proskription in Gang gebracht wird. Die erste richtete sich zumindest gegen Männer, die sich verteidigen konnten; die Tragödie, die ich heraufziehen sehe, wird sich gegen die Kinder der frühen Geächteten richten, gegen Säuglinge in ihren Windeln! Bei den unsterblichen Göttern, wer weiß, wohin eine solche Abscheulichkeit diese Republik führen könnte?«
»Nur zu«, sagte Glaucia. »Beende ruhig, was du angefangen hast.«
Ich ließ den Saum meiner Tunika fallen und drehte mich um.
Glaucia lächelte. Er griff langsam in seine Tunika, zog das Messer hervor und spielte damit herum. Dann kratzte er mit der Spitze über die Wand, ein Geräusch, das ich bis in die Zahnwurzeln spürte. »Das ist mein Ernst«, sagte er. »Glaubst du, ich würde einen Mann von hinten beim Pissen erstechen?«
»Durchaus vernünftig und ehrenhaft«, stimmte ich ihm zu, um Festigkeit in der Stimme bemüht. »Was willst du?«
»Dich umbringen.«
Ich zog scharf die Luft ein, die nach abgestandenem Urin stank. »Jetzt? Immer noch?«
»Genau.« Er hörte auf, mit dem Messer an der Wand entlangzukratzen, und berührte die Spitze mit der Kuppe seines Daumens. Blut quoll aus dem Fleisch. Glaucia lutschte es ab.
»Kluge Männer, die so viel Ansehen und Macht besitzen wie ihr, werte Richter, haben die Verpflichtung, den Mißständen abzuhelfen, an denen diese Republik am meisten leidet... «
»Aber warum. Der Prozeß ist praktisch gelaufen.«
Anstatt mir zu antworten, lutschte er weiter an seinem Daumen und begann erneut, mit der Messerspitze über den Stein zu kratzen. Er starrte mich an wie ein monströses schwachsinniges Riesenbaby. Das Messer in meiner Tunika konnte es mit seinem aufnehmen, aber seine Arme waren mindestens zwei Handbreit länger als meine. Meine Chancen standen nicht gut.
Das Kratzen der Klinge über die Wand hörte auf. Er nahm seinen Daumen aus dem Mund und sah mich ganz ernsthaft an. »Aber das hab ich dir doch schon gesagt: Ich will dich umbringen. Willst du jetzt zu Ende pissen oder nicht?«
»jeder von euch weiß, daß das römische Volk einst in dem Ruf stand, im Sieg gnädig und milde gegen seine ausländischen Feinde zu sein; doch noch heute wenden sich Römer mit schockierender Grausamkeit gegeneinander.«
Glaucia machte ein paar Schritte auf mich zu. Ich trat zurück und stand jetzt mit dem Rücken an der Wand direkt über dem Abfluß. Ein durchdringender Gestank von Exkrementen und Urin stieg in meine Nase.
Er kam näher. »Und? Du willst doch nicht etwa, daß man dich in einer Toga findet, die außer mit Blut auch noch mit Pisse besudelt ist, oder doch?«
Eine Gestalt tauchte hinter ihm auf - ein weiterer Zuschauer, der gekommen war, die Latrine zu benutzen. Ich hoffte, Glaucia würde sich nur für einen Moment umsehen, lange genug, daß ich auf ihn zustürzen und ihm möglicherweise zwischen die Beine treten konnte - aber Glaucia lächelte mich nur an und hielt seine Klinge so hoch, daß der Neuankömmling sie sehen konnte. Er war sofort wieder verschwunden.
Glaucia schüttelte den Kopf. »Jetzt kann ich dir keine Wahl mehr lassen«, sagte er. »Jetzt muß ich es schnell erledigen.«
Er war groß. Und er war auch tolpatschig. Er stürzte auf mich zu, und es gelang mir erstaunlich leicht, ihm auszuweichen. Ich zückte meinen eigenen Dolch und hoffte, ihn vielleicht gar nicht zu brauchen, wenn es mir gelang, ihm zu entwischen. Ich rannte los, rutschte auf dem vollgepißten Boden aus und schlug kopfüber auf den harten Stein.
Das Messer glitt aus meiner Hand und rutschte außer Reichweite. Verzweifelt kroch ich auf allen vieren hinter ihm her. Es war noch etwa eine Armlänge entfernt, als etwas mit enormer Kraft auf meinen Rücken schlug und mich flach niederstreckte.
Glaucia trat mir ein paarmal in die Rippen und drehte mich dann um. Sein fettes Gesicht, das grinsend über mir schwebte und langsam näher kam, war das Häßlichste, was ich je gesehen hatte. So sollte es also enden, dachte ich: Ich würde nicht als zahnloser alter Mann in Bethesdas Armen sterben, ihren lieblichen Gesang im Ohr, die süßen Düfte meines Gartens in der Nase, sondern im erstickenden Gestank einer verschmutzten Latrine, vollgesabbert von einem widerwärtigen Mörder, das Echo von Ciceros dröhnender Stimme im Ohr.
Ich vernahm ein gleitendes Geräusch, als ob ein Messer über Stein rutschen würde, und etwas Spitzes traf mich in der Hüfte. Ich glaubte ganz ernsthaft und mit dem Vertrauen, das ansonsten den reinen Vestalinnen Vorbehalten ist, daß mein Messer irgendwie zu mir zurückgeglitten sei, schlicht und einfach, weil ich es so wollte. Ich hätte danach greifen können, hätte ich nicht mit beiden Armen vergeblich versucht, mir Glaucia vom Leibe zu halten. Ich starrte in seine Augen, fasziniert von dem puren Haß, den ich darin erblickte. Plötzlich sah er auf, und im nächsten Moment war da ein Stein von der Größe eines Brotlaibs an seinem Stirnverband, als sei er plötzlich aus seinem Kopf hervorgetreten wie Minerva aus Jupiters Stirn. Der Stein blieb an Ort und Stelle, wie angeklebt von dem sofort austretenden Blut - nein, der Stein wurde von zwei Händen dort festgehalten, die ihn krachend auf den Kopf des Riesens hatten niedersausen lassen. Ich schielte nach oben und entdeckte den auf dem Kopf stehenden Tiro vor dem blauen Himmel darüber.
Er schien nicht glücklich darüber, mich zu sehen. Fortwährend zischte er mir etwas zu, immer wieder, bis meine Hand (nicht mein Ohr) endlich das Wort Messer verstand. Irgendwie gelang es mir, den Arm so zu verdrehen, daß ich nach dem Messer greifen konnte, das Tiro dorthin getreten hatte. Ich hielt es aufrecht vor meiner Brust. Es gibt kein lateinisches Wort, aber es sollte eines geben, für das eigenartige Gefühl des Wiedererkennens, das ich empfand, als hätte ich genau dasselbe schon einmal getan. Tiro hob den schweren Stein in die Luft und ließ ihn erneut auf Glaucias bereits eingeschlagene Stirn niedersausen, worauf der Riese wie ein Berg über mir zusammenbrach und Ecos Klinge sich bis zum Heft in sein Herz bohrte.
»Duldet nicht, daß diese Bösartigkeit sich länger in diesem Staate austobt«, rief eine Stimme aus der Ferne. »Beseitigt sie! Weist sie zurück!
Denn durch sie sind so viele Römer in gräßlichster Weise ums Leben gekommen. Schlimmer noch! Sie hat uns innerlich ärmer gemacht. Die fortwährenden Scheußlichkeiten haben uns betäubt. Sie haben in dem für seine Barmherzigkeit bekannten Volk das Mitgefühl zum Schweigen gebracht. Denn wenn die Konfrontation mit der Gewalt alltäglich wird, dann verlieren auch die sanftesten Wesen jegliches Gefühl für Menschlichkeit.«
Es entstand eine Pause, dann hörte man den Widerhall von donnerndem Applaus. Verwirrt und blutbedeckt glaubte ich einen Moment lang, der Jubel müsse mir gelten. Die Wände der Latrine sahen schließlich ein wenig aus wie die Umrandung einer Arena, und Glaucia war so tot wie ein toter Gladiator. Doch als ich aufblickte, sah ich lediglich Tiro, der mit verzweifelter und angeekelter Miene seine Tunika glattstrich.
»Ich habe den Schluß verpaßt!« fuhr er mich an. »Cicero wird wütend sein. Beim Herkules! Wenigstens hab ich kein Blut abgekriegt.« Mit diesen Worten drehte er sich um, verschwand und ließ mich allein unter einer riesigen Masse toten Fleischs zurück.
31
Cicero gewann den Prozeß. Eine überwältigende Mehrheit der fünfundsiebzig Richter, einschließlich des Praetors Marcus Fannius, stimmte dafür, Sextus Roscius von der Anklage des Vatermordes freizusprechen. Nur die parteiischsten Sullaner, unter ihnen eine Handvoll neuer Senatoren, die direkt vom Diktator ernannt worden waren, stimmten für schuldig.
Die Masse war ebenso beeindruckt. Ciceros Name sowie Zitate seiner Rede machten überall in Rom die Runde. Noch Tage später konnte man am offenen Fenster einer Taverne oder einer Schmiede Vorbeigehen und hören, wie Männer, die nicht einmal dabeigewesen waren, einige von Ciceros Parade-Attacken gegen Erucius wiederholten oder lautstark seine Kühnheit rühmten, Chrysogonus anzugreifen. Seine Bemerkungen über das Land- und Familienleben und sein Respekt vor den Pflichten eines Sohnes und den Göttern fanden allgemeine Zustimmung. Über Nacht hatte er sich den Ruf eines tapferen und gottesfürchtigen Römers erworben, eines Bannerträgers der Gerechtigkeit und der Wahrheit.
An jenem Abend wurde im Haus von Caecilia Metella eine kleine Feier abgehalten. Rufus war da, strahlend und euphorisch, und trank ein wenig zuviel Wein. Ebenso die Männer, die mit Cicero auf der Verteidigerbank gesessen hatten, Marcus Metellus und Publius Scipio, sowie eine Handvoll weiterer Helfer, die sich hinter den Kulissen irgendwie nützlich gemacht hatten. Sextus Roscius wurde der Ehrenplatz auf dem Sofa zur Rechten seiner Gastgeberin zugewiesen; seine Frau und seine älteste Tochter saßen bescheiden auf Stühlen hinter ihm. Tiro durfte ebenfalls hinter seinem Herrn sitzen, damit er an der Feier teilnehmen konnte. Sogar ich wurde eingeladen und mit einem Sofa ganz für mich alleine bedacht sowie einem Sklaven, dessen Aufgabe es war, mir Köstlichkeiten von der Tafel anzureichen.
Roscius war vielleicht der nominelle Ehrengast, doch das ganze Gespräch drehte sich um Cicero. Seine Anwaltskollegen zitierten mit überschwenglichem Lob die brillanteren Passagen seiner Rede, fielen mit vernichtendem Spott über Erucius’ Vorstellung her und lachten laut bei der Erinnerung an seinen Gesichtsausdruck, als Cicero es zum erstenmal gewagt hatte, den Namen des Goldengeborenen zu erwähnen. Cicero nahm ihr Lob mit freundlicher Bescheidenheit entgegen. Er ließ sich zu einem Schlückchen Wein überreden, und es brauchte nicht viel, um seine Wangen in rotem Glanz erstrahlen zu lassen. Zweifelsohne ausgehungert vom Fasten und der Anstrengung ließ er seine gewohnte Vorsicht außer acht und aß wie ein Pferd. Caecilia rühmte seinen Appetit und sagte, es sei ein Glück, daß er diese Siegesfeier möglich gemacht habe, weil man sonst all die Delikatessen, deren Zubereitung sie ihrem Personal schon vorher aufgetragen hatte - Algen und Muscheln, Drosseln auf Spargel, purpurroter Fisch in Stachelschnecken, Feigenspieße in Früchtekompott, gekochter Saueuter, Mastgeflügel in Blätterteig, Ente, Eber und Austern ad nauseam weil man sonst all diese Köstlichkeiten als Gabe für die Armen in irgendeiner Gasse der Subura hätte abladen müssen.
Während ich meinen Sklaven um einen dritten Nachschlag von den bithynischen Pilzen losschickte, begann ich mich zu fragen, ob diese Feier nicht ein wenig voreilig war. Sicher, Sextus Roscius war mit dem Leben davongekommen, aber solange sein Besitz in der Hand seiner Feinde, ihm die Bürgerrechte wegen der Proskription aberkannt und der Mord an seinem Vater ungesühnt blieben, hing er gewissermaßen in der Luft. Er war der Vernichtung entgangen, aber wie standen seine Chancen auf ein anständiges Leben? Seine Anwälte waren nicht in der Stimmung, sich über die Zukunft Sorgen zu machen. Ich hielt meinen Mund und öffnete ihn nur, um über ihre Witze zu lachen oder mir noch mehr Pilze hineinzustopfen.
Den ganzen Abend sah Rufus Cicero mit leidenschaftlicher Sehnsucht an, doch ich schien der einzige zu sein, der das bemerkte. Wie konnte ich mich, nachdem ich heute Zeuge von Ciceros Auftritt geworden war, noch über seine unerwiderte Leidenschaft lustig machen? Tiro machte einen recht zufriedenen Eindruck, lachte laut über jeden Witz und nahm sich sogar die Kühnheit heraus, selbst ein paar zu machen, aber hin und wieder warf er voller Schmerz einen Blick in Roscias Richtung. Sie weigerte sich standhaft zurückzugucken. Sie saß steif und elend auf ihrem Stuhl, aß nichts und bat schließlich ihren Vater und ihre Gastgeberin, sie zu entschuldigen. Als sie aus dem Raum stürzte, hatte sie zu weinen begonnen. Wenig später erhob sich auch ihre Mutter und folgte ihr nach draußen.
Roscias Abgang löste eine eigenartige regelrechte Heulepidemie aus. Zunächst traf es Caecilia, die schneller getrunken hatte als alle anderen. Den ganzen Abend war sie lebhaft und ausgelassen gewesen. Nachdem Roscia gegangen war, verfiel sie plötzlich in tiefe Niedergeschlagenheit. »Ich weiß«, sagte sie, während wir Roscia im Flur schluchzen hörten, »ich weiß, warum dieses Mädchen weint. Ja, ich weiß es.« Sie nickte beschwipst. »Sie vermißt ihren lieben, lieben, alten Großvater. Ach ja, er war ja so ein reizender Mann. Wir dürfen nicht vergessen, was uns an diesem Abend eigentlich zusammengeführt hat - der viel zu frühe Tod meines liebsten, teuersten Sextus. Geliebter Sextus. Wer weiß, wäre ich nicht all die Jahre unfruchtbar geblieben...« Sie fuhr sich unkontrolliert mit der Hand durchs Haar und stach sich den Finger an der silbernen Nadel. Blut quoll aus ihrer Fingerkuppe. Sie starrte schaudernd auf die Wunde und fing an zu weinen.
Sofort war Rufus an ihrer Seite, um sie zu trösten und sie daran zu hindern, etwas zu sagen, was ihr später möglicherweise peinlich war.
Dann begann auch Sextus Roscius zu weinen. Zunächst kämpfte er dagegen an, biß sich auf die Fingerknöchel und verzog das Gesicht, aber die Tränen ließen sich nicht aufhalten. Sie rannen über seine Wangen und sein Kinn und tropften auf die Algen auf seinem Teller. Er atmete gepreßt ein und stieß die Luft dann mit einem langgezogenen, bebenden Stöhnen wieder aus. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und wurde von Krämpfen geschüttelt. Er stieß seinen Teller zu Boden, und ein Sklave hob ihn wieder auf. Er schluchzte laut und würgend, es klang wie das Geschrei eines Esels. Er mußte es oft wiederholen, bevor ich das Wort verstand, das er wieder und wieder rief: »Vater, Vater, Vater...«
Fast den ganzen Abend war er gewesen wie immer - still und in sich gekehrt, nur hin und wieder ein schüchternes Lächeln, wenn wir anderen vor Lachen brüllten bei einem gelungenen Witz über Erucius oder Chrysogonus. Selbst als das Urteil bekanntgegeben wurde, so hatte mir Rufus berichtet, war er seltsam unbeteiligt geblieben. Nachdem er so lange in Angst gelebt hatte, hatte er anschließend versucht, seine Erleichterung zu unterdrücken, bis sie schließlich doch aus ihm herausbrach. Deswegen weinte er.
Das dachte ich jedenfalls.
Es schien der geeignete Zeitpunkt zum Gehen.
Publius Scipio, Marcus Metellus und ihre adeligen Freunde wünschten uns eine gute Nacht und gingen ihrer Wege; Rufus blieb bei Caecilia. Ich sehnte mich danach, wieder in meinem eigenen Bett zu schlafen, aber Bethesda war noch immer bei Cicero und der Weg bis zur Subura weit. Im Hochgefühl seines Erfolges bestand Cicero gutgelaunt darauf, daß ich eine letzte Nacht unter seinem Dach verbrachte.
Wäre ich nicht mit ihm gegangen, wäre diese Geschichte hier zu Ende, inmitten von Halbwahrheiten und falschen Vermutungen. Statt dessen ging ich neben Cicero, flankiert von seinen Fackelträgern und Leibwächtern, über das mondbeschienene Forum und den Kapitolinischen Hügel hinauf, bis wir zu seinem Haus kamen.
So war es mir vergönnt, den glücklichsten Mann auf Erden endlich persönlich kennenzulernen. So erfuhr ich die Wahrheit, die ich bis dahin nur vage geahnt hatte.
*
Cicero und ich plauderten angeregt über nichts Besonderes -die lange Hitzeperiode, die karge Schönheit Roms bei Vollmond, die Gerüche, die die Stadt bei Nacht erfüllten. Wir bogen in die Straße, in der Cicero wohnte. Tiro bemerkte das Gefolge, das sich wie eine kleine Armee um den Eingang des Hauses drängte, als erster. Er zupfte an der Tunika seines Herrn und wies mit offenem Mund in die Richtung.
Wir sahen die Gesellschaft, bevor sie uns entdeckten - die leere Sänfte und die Träger, die mit verschränkten Armen dagegen lehnten. Die Fackelträger, die sich müde an der Wand abstützten und ihre Fackeln schlaff nach unten hängen ließen. In ihrem flackernden Licht spielten auf der Straße ein paar Dienstboten Trigon, während diverse Sekretäre mit zusammengekniffenen Augen auf Pergamentrollen kritzelten. Außerdem gab es noch eine Schar bewaffneter Wächter. Einer von ihnen sah uns schließlich wie angewurzelt am Ende der Straße stehen und stieß einen teuer gekleideten Sklaven an, der eifrig auf die Trigonspieler wettete. Der Sklave richtete sich auf und kam hochmütig auf uns zugeschritten.
»Bist du der Redner Cicero, der Herr dieses Hauses?«
»Der bin ich.«
»Endlich! Du mußt den Auflauf vor deiner Tür entschuldigen - wir wußten nicht, wo wir die Leute sonst unterbringen sollten. Und natürlich wirst du auch entschuldigen, daß mein Herr dir zu so später Stunde einen Besuch abstattet; wir stehen allerdings schon eine ganze Weile hier rum, seit kurz nach Sonnenuntergang, um genau zu sein, und erwarten deine Rückkehr.«
»Ich verstehe«, sagte Cicero dumpf. »Und wo ist dein Herr?«
»Er wartet drinnen. Ich habe deinen Türsteher davon überzeugen können, daß es wenig sinnvoll gewesen wäre, Lucius Sulla vor der Tür warten zu lassen, selbst wenn sein Gastgeber nicht zu Hause war, um ihn zu begrüßen. Kommt, bitte.« Der Sklave ging vor und machte uns ein Zeichen, ihm zu folgen. »Mein Herr erwartet euch schon seit geraumer Zeit. Er ist ein vielbeschäftigter Mann. Ihr könnt eure Fackelträger und Leibwächter hier draußen lassen«, fügte er noch streng hinzu.
Neben mir atmete Cicero tief und gleichmäßig, wie ein Mann, der sich auf einen Sprung in eisiges Wasser vorbereitet. Ich bildete mir ein, in der Stille der Nacht sein Herz klopfen zu hören, bis mir klar wurde, daß es mein eigenes Ich war. Tiro hielt noch immer die Toga seines Herrn fest. Er biß sich auf die Lippe. »Du glaubst doch nicht, Herr - er würde es nicht wagen, nicht in deinem Haus -«
Cicero legte einen Finger auf seine Lippen. Er trat vor und machte den Leibwächtern ein Zeichen, zurückzubleiben. Tiro und ich folgten ihm.
Als wir zur Tür gingen, warfen uns die Männer aus Sullas Gefolge nur kurze, mürrische Blicke zu, bevor sie sich wieder ihrer Beschäftigung zuwandten, als ob wir daran schuld wären, daß sie sich langweilten. Tiro trat als erster durch die offene Tür. Er blickte ins Innere, als erwarte er ein Dickicht gezückter Dolche.
Aber in der Halle war nur der alte Tiro, der voller Panik auf seinen Herrn zugeschlurft kam. »Herr -«
Tiro legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter und ging weiter.
Ich hatte erwartet, im Haus weitere Mitglieder von Sullas Gefolge anzutreffen - noch mehr Leibwächter und Sekretäre, noch mehr Speichellecker. Aber das Haus war lediglich von Ciceros normalem Personal bevölkert, das sich sämtlich an den Wänden entlangdrückte und sich um Unsichtbarkeit bemühte.
Wir trafen ihn allein im Arbeitszimmer neben einer Lampe sitzend an, auf dem Tisch neben ihm stand eine halbvolle Schale Haferschleim, auf seinem Schoß lag eine Pergamentrolle. Er blickte auf, als wir eintraten. Er wirkte weder ungeduldig noch überrascht, nur leicht gelangweilt. Er legte die Schriftrolle beiseite und zog eine Braue hoch.
»Du bist ein Mann von beträchtlicher Gelehrsamkeit und einigermaßen passablem Geschmack, Marcus Tullius Cicero. Ungeachtet der Tatsache, daß ich in diesem Raum viel zu viele trockene Werke über Grammatik und Rhetorik gefunden habe, finde ich es ermutigend, eine so prächtige Sammlung von Dramen entdeckt zu haben, vor allem griechische. Und obwohl es den Anschein hat, als ob du vorsätzlich nur die miserabelsten lateinischen Dichter gesammelt hättest, soll dir vergeben sein wegen deines exquisiten Geschmacks bei der Auswahl dieser äußerst prachtvollen Kopie von Euripides - aus der Werkstatt des Epikles in Athen, wie ich sehe. Als ich jung war, habe ich oft davon geträumt, Schauspieler zu werden. Ich hab immer geglaubt, ich hätte einen sehr ergreifenden Pentheus abgegeben. Oder meinst du, ich wär ein besserer Dionysos gewesen? Kennst du Die Bakchen gut?«
Cicero schluckte schwer. »Lucius Cornelius Sulla, ich fühle mich geehrt von deinem Besuch -«
»Schluß mit dem Quatsch!« bellte Sulla und schürzte die Lippen. Es war unmöglich zu sagen, ob er verärgert oder amüsiert war. »Wir sind unter uns. Schone deinen Atem und meine Langmut und erspar uns die unsinnigen Formalitäten. Tatsache ist, daß du bestürzt bist über meinen Besuch und mich so schnell wie möglich loswerden willst.«
Cicero öffnete den Mund und nickte, offenbar unschlüssig, ob er antworten sollte oder nicht.
Sulla setzte noch einmal dieselbe Miene auf, halb amüsiert, halb verärgert, und wies ungeduldig in den Raum. »Ich denke, die Sitzgelegenheiten sollten für alle reichen. Setzt euch.«
Nervös holte Tiro Stühle für mich und Cicero, stellte sich dann rechts neben seinen Herrn und beobachtete Sulla, als wäre er ein exotisches und äußerst tödliches Reptil.
Ich hatte Sulla noch nie von so nahem gesehen. Das Licht der Lampen warf harte Schatten auf sein Gesicht, umrandete seinen Mund mit Falten und ließ seine Augen blitzen. Seine prachtvolle Löwenmähne, einst berühmt für ihren schimmernden Glanz, war zottig und stumpf geworden, fleckig und so dünn, daß man die dünnen, roten Äderchen sah, die seine Kopfhaut wie ein feines Spinnennetz überzogen. Seine Lippen waren ausgetrocknet und rissig. Ein Büschel schwarzer Härchen ragte aus seinen Nasenlöchern hervor.
Er war einfach ein alter General, ein alternder Lebemann und ein müder Politiker. Seine Augen hatten alles gesehen und nichts gefürchtet. Sie waren Zeuge jedes Extrems von Schönheit und Schrecken geworden, man konnte sie nicht mehr beeindrucken. Trotzdem flackerte noch immer ein Hunger in ihnen, der mich fast anzuspringen und meine Kehle zu packen schien, als er mir seinen Blick zuwandte.
»Du mußt Gordianus sein, den sie den Sucher nennen. Gut. Ich bin froh, daß du hier bist. Dich wollte ich mir auch mal ansehen.«
Er ließ seinen Blick träge von Cicero zu mir und zurück wandern und stellte unsere Geduld auf die Probe. »Ihr könnt euch sicher denken, warum ich hier bin«, sagte er schließlich. »Eine gewisse banale Rechtssache, die heute vor der Rostra verhandelt wurde, als ich gerade zu Mittag aß. Ein Sklave meines lieben Freigelassenen Chrysogonus kam ganz hektisch und bestürzt zu mir gerannt und brabbelte von einer Katastrophe, die sich auf dem Forum abspielen würde. Ich war gerade damit beschäftigt, eine sehr pikante Fasanenbrust zu verzehren, und die Neuigkeit verursachte mir eine üble Magenverstimmung. Der Haferbrei, den mir deine Küchenmagd gebracht hat, ist nicht schlecht - fade, aber schmerzlindernd, genau wie meine Ärzte es mir empfehlen. Natürlich hätte er auch vergiftet sein können, aber andererseits dürftest du mich kaum erwartet haben, oder? Egal, ich habe mich stets in die Gefahr gestürzt, ohne lange darüber nachzudenken. Ich habe mich nie Sulla, der Weise, genannt, immer nur Sulla, der Glückliche, was meines Erachtens viel besser ist.«
Er tupfte seinen Zeigefinger einen Moment lang in den Brei und fegte dann unvermittelt die Schale vom Tisch, die scheppernd zu Boden fiel. Eine Sklavin kam aus dem Flur herbeigerannt, sah Ciceros aufgerissene Augen und sein bleiches Gesicht und verschwand rasch wieder.
Sulla lutschte seinen Finger ab und fuhr dann mit ruhiger, melodiöser Stimme fort. »Was für einen Aufstand ihr beide betrieben haben müßt, um die Wahrheit über diese widerwärtig spießigen Roscier und ihre widerwärtigen
Verbrechen aneinander aufzuspüren, auszugraben und zu beschnüffeln. Wie man mir erzählt hat, habt ihr Stunde um Stunde und Tag um Tag damit zugebracht, euch mit den Fakten herumzuschlagen; daß du, Gordianus, den ganzen Weg bis ins gottverlassene Ameria gemacht und dein Leben mehr als einmal in Gefahr gebracht hast nur für ein paar magere Fetzen der Wahrheit. Und trotzdem kennt ihr noch immer nicht die ganze Geschichte - es ist wie ein Schauspiel, bei dem ganze Szenen fehlen. Ist das nicht komisch? Bis heute hatte ich den Namen Sextus Roscius noch nicht einmal gehört, und es hat mich nur Stunden - eigentlich nur Minuten - gekostet, alles herauszufinden, was sich über diesen Fall zu wissen lohnt. Ich habe einfach gewisse Parteien zu mir bestellt und sie aufgefordert, mir die ganze Geschichte zu erzählen. Manchmal glaube ich, daß Gerechtigkeit und Wahrheit in den Tagen König Numas etwas viel Simpleres und Schlichteres waren.«
Sulla machte eine Pause und spielte mit der Pergamentrolle auf seinem Schoß. Er strich über die Naht, die die Seiten zusammenhielt, und tupfte mit den Fingern über das glatte Pergament. Dann packte er die Rolle auf einmal mit lautem Rascheln und warf sie quer durch das Zimmer. Sie landete auf einem Tisch mit weiteren Schriftrollen und riß sie zu Boden. Sulla fuhr ungerührt fort.
»Sag mir, Marcus Tullius Cicero, was hast du damit beabsichtigt, die Verteidigung dieses erbärmlichen Mannes heute vor Gericht zu übernehmen? Warst du ein bereitwilliger Handlanger meiner Feinde, oder haben sie dich reingelegt? Bist du gerissen und schlau oder geradezu lächerlich dumm?«
Ciceros Stimme war trocken wie Pergament. »Man hat mich gebeten, einen unschuldigen Mann gegen eine empörende Anklage zu verteidigen. Wenn das Gesetz nicht die letzte Zuflucht der Unschuldigen -«
»Unschuldig?« Sulla beugte sich vor. Sein Gesicht lag jetzt ganz im Schatten. Die Lampe warf eine Aureole um sein feuerrotes Haar. «Haben sie dir das erzählt, meine lieben Freunde, die Meteller? Eine sehr alte und bedeutende Familie, diese Meteller. Seit ich mich von Delmaticus’ Tochter habe scheiden lassen, als sie im Sterben lag, habe ich darauf gewartet, daß sie mir von hinten ein Messer zwischen die Rippen stoßen. Aber was hätte ich tun sollen? Die Auguren und Pontifices haben darauf bestanden; ich konnte es nicht zulassen, daß mein Haus von ihrer Krankheit beschmutzt wurde. Und so nimmt die Familie meiner Ex-Frau also Rache - sie benutzen einen Anwalt ohne Familie und mit einem Witz von einem Namen, um meinen Namen vor Gericht in den Schmutz zu ziehen. Was nützt es einem, Diktator zu sein, wenn genau die Klasse von Menschen, für deren Wohl man sich so abplagt, sich wegen solcher Belanglosigkeiten gegen einen wendet?
Was hat man dir angeboten, Cicero? Geld? Das Versprechen ihrer Patronage? Politische Unterstützung?«
Ich blickte zu Cicero, dessen Gesicht wie zu Stein erstarrt war. In dem flackernden Licht der Lampe konnte ich meinen Augen kaum trauen, aber mir war, als würden sich seine Mundwinkel zum Hauch eines Lächelns verziehen. Auch Tiro mußte es bemerkt haben; ein merkwürdiger Ausdruck verdüsterte seine Miene.
»Wer von ihnen ist zu dir gekommen, Cicero? Marcus Metellus, der Schwachkopf, der es gewagt hat, sich heute neben dir auf der Verteidigerbank blicken zu lassen? Oder seine Cousine Caecilia Metella, diese verrückte, unter Schlaflosigkeit leidende alte Schachtel? Oder vielleicht gar kein Metellus, sondern einer ihrer Handlanger? Doch sicher nicht mein neuer Schwager Hortensius - für Geld würde er auch seinen schlimmsten Feind vertreten, bei Jupiter, aber er war schlau genug, sich nicht in diese Farce verwickeln zu lassen. Eine Schande, daß ich nicht dasselbe über Valerias geliebten kleinen Bruder Rufus sagen kann.«
Cicero sagte immer noch nichts. Tiro runzelte nervös die Stirn und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
Sulla lehnte sich zurück. Der Schein der Lampe kroch über seine Stirn bis in seine Augen, die wie Glasperlen glitzerten. »Egal. Die Meteller haben dich jedenfalls gegen mich rekrutiert. Sie haben dir also erzählt, Sextus Roscius sei unschuldig. Und du hast ihnen geglaubt?«
Tiro hielt es nicht länger aus. »Natürlich!« platzte er los. »Weil er unschuldig ist. Deswegen hat mein Herr ihn verteidigt - nicht um sich mit einer Patrizierfamilie gut zu stellen -«
Cicero brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Sulla sah Tiro an und zog abschätzig die Brauen hoch, als ob er ihn in diesem Moment zum erstenmal wahrnehmen würde. »Der Sklave ist wohl kaum so hübsch, daß man ihm eine derartige Frechheit durchgehen lassen könnte. Wenn du etwas von einem echten Römer in dir hättest, Cicero, würdest du ihm hier an Ort und Stelle die Flausen gründlichst aus dem Leib prügeln lassen.«
Ciceros Lächeln verflog. »Bitte, Lucia Sulla, verzeih ihm seine Unverschämtheit.«
»Dann beantworte meine Frage, anstatt deinen Sklaven für dich sprechen zu lassen. Als sie dir erzählten, daß Sextus Roscius unschuldig wäre, hast du ihnen geglaubt?«
»Ja, das habe ich«, sagte Cicero seufzend. Er preßte die Fingerspitzen gegeneinander und spreizte die Finger. Er sah mich kurz an und betrachtete dann wieder seine Hände. »Anfangs.«
»Ah.« Jetzt war es Sulla, um dessen Lippen ein unergründliches Lächeln spielte. » Ich dachte mir schon, daß du zu schlau bist, um dich länger täuschen zu lassen. Wann hast du die Wahrheit erfahren?«
Cicero zuckte die Schultern. »Ich habe fast von Beginn an einen Verdacht gehabt, obwohl das nie einen Unterschied gemacht hat. Es gibt noch immer keinen Beweis, daß Sextus Roscius sich mit seinen beiden Vettern verschworen hat, seinen Vater ermorden zu lassen.«
»Keinen Beweis?« Sulla lachte. »Ihr Anwälte! Auf der einen Seite gibt es immer Beweise und Indizien. Und auf der anderen Seite ist die Wahrheit.« Er schüttelte den Kopf. »Diese gierigen Idioten, Capito und Magnus, haben gedacht, sie könnten ihren Vetter Sextus verurteilen lassen, ohne ihre Beteiligung an dem Verbrechen eingestehen zu müssen. Wie konnte sich Chrysogonus nur mit solchem Abschaum einlassen?«
»Das verstehe ich nicht«, flüsterte Tiro. Man hätte seinen Gesichtsausdruck komisch finden können, wenn darin nicht so viel Schmerz und Verwirrung gelegen hätte. Er tat mir leid. Ich tat mir selber leid. Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich krampfhaft bemüht, mich an dieselbe Illusion zu klammern, der Tiro so mühelos nachhing - dem Glauben, daß alle unsere Arbeit für Sextus Roscius einen höheren Zweck als politische Intrigen oder persönlichen Ehrgeiz hatte, daß wir einer Sache gedient hatten, die Gerechtigkeit hieß. Dem Glauben, daß Sextus Roscius am Ende doch unschuldig war.
Sulla zog die Brauen hoch und räusperte sich verächtlich. »Dein vorlauter Sklave begreift es nicht, Cicero. Bist du etwa kein aufgeklärter Römer? Kümmerst du dich nicht um die Ausbildung des Jungen? Erklär es ihm.«
Cicero betrachtete seine Hände. »Ich dachte, du hättest sie dir selbst zusammengereimt. Das hab ich ehrlich geglaubt. Gordianus weiß Bescheid, denke ich. Oder nicht, Gordianus? Laß ihn alles erklären, dafür wird er schließlich bezahlt.«
Tiro sah mich so flehend an, daß ich gegen meinen Willen den Mund auftat. »Es war alles wegen der Hure«, sagte ich. »Weißt du noch, Tiro, das Mädchen Elena, das im Haus der Schwäne gearbeitet hat...«
Sulla nickte weise, hob jedoch einen Finger, um mich zu unterbrechen. »Du eilst der Geschichte voraus. Der jüngere Bruder...«
»Gaius Roscius, ja. Ermordet von seinem Bruder im gemeinsamen Elternhaus. Vielleicht haben sich die Einheimischen täuschen lassen, aber die Symptome sind wohl kaum durch den Verzehr von eingelegten Pilzen hervorgerufen worden.«
»Koloquinte«, schlug Cicero vor.
»Wilder Kürbis? Möglicherweise«, sagte ich, »vor allem in Verbindung mit anderen genießbaren Giften. Ich habe einmal von einem Fall in Antiochia gehört mit ganz ähnlichen Symptomen - das Erbrechen purer Galle gefolgt von einem Blutschwall und unmittelbar darauf dem Tod. Vielleicht hat sich Sextus schon damals mit seinem Vetter Magnus abgesprochen. Ein Mann mit Magnus’ Beziehungen kann in Rom praktisch jedes Gift auftreiben, für den entsprechenden Preis.
Was das Motiv angeht, so hatte Sextus Roscius pater mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor, seinen älteren Sohn zugunsten von Gaius zu enterben, zumindest war Sextus filius fest davon überzeugt. Ein verbreitetes Verbrechen aus einem gewöhnlichen Motiv. Aber das war nicht das Ende der Geschichte.
Vielleicht hatte der alte Herr Sextus in Verdacht, Gaius getötet zu haben. Vielleicht hat er ihn auch einfach so sehr verabscheut, daß er nach irgendeinem Vorwand suchte, ihn dann noch zu enterben. Zur selben Zeit verliebte er sich in die hübsche junge Hure Elena. Als sie schwanger wurde, ob von Roscius oder nicht, hegte der alte Mann den Plan, sie zu kaufen, freizulassen und das freigeborene Kind zu adoptieren. Offenbar war er nicht in der Lage, sie sofort zu erwerben; wahrscheinlich hat er den Handel vermasselt - der Bordellbesitzer witterte seinen Eifer und trieb den Preis in absurde Höhen, weil er glaubte, einen verkalkten, liebeskranken alten Witwer ausnehmen zu können. Das sind natürlich Mutmaßungen -«
»Mehr als das«, sagte Sulla. »Es gibt, oder besser, es gab konkrete Beweise: einen Brief an seinen Sohn, den Roscius der Ältere seinem Sklaven Felix diktierte, der dadurch den Inhalt kennt. Laut Felix hatte der Alte im Suff einen Wutanfall. In seinem Brief drohte er ausdrücklich mit dem, was du gerade vermutet hast - der Enterbung von Sextus Roscius zugunsten eines noch ungeborenen Sohnes. Das Dokument wurde anschließend vernichtet, aber der Sklave erinnert sich noch daran.«
Sulla hielt inne, damit ich fortfahren sollte. Tiro sah erst Cicero, der seinen Blick nicht erwiderte, und dann voller Verzweiflung mich an. »Also beschloß Sextus Roscius, seinen Vater umzubringen«, sagte ich. »Natürlich konnte er das nicht selber tun. Die drei trafen ein Abkommen. Sextus sollte das Vermögen seines Vaters erben und seine Vettern später auszahlen. Es muß so etwas wie eine Versicherung gegeben haben...«
»ln der Tat«, sagte Sulla, »es gab eine Art schriftlichen Vertrag. Eine Absichtserklärung gewissermaßen, den alten Roscius zu erledigen, in dreifacher Ausfertigung von allen dreien unterzeichnet. Jeder bekam eine Kopie, so daß sie sich gegenseitig erpressen konnten, falls sie sich Überwerfen sollten. «
»Aber sie überwarfen sich trotzdem«, sagte ich.
»Ja.« Sulla rümpfte die Nase, als hätte die ganze Geschichte einen unangenehmen Geruch. »Nach dem Mord versuchte Sextus Roscius seine Vettern reinzulegen. Er wurde Alleinerbe des gesamten Besitzes; wie hätten sie ihm den wieder abnehmen können, wo das Schriftstück, das die drei unterzeichnet hatten, doch für alle Beteiligten gleich belastend war? Sextus Roscius muß sich für sehr schlau gehalten haben; was für ein Dummkopf er war, eine Abmachung mit derartigen Geiern zu brechen.«
Sulla atmete tief ein und fuhr fort. »Allem Anschein nach kam Capito auf die Idee mit der falschen Proskription; Magnus kannte Chrysogonus von irgendeiner zwielichtigen Transaktion und sprach ihn auf den Plan an - wie oft habe ich den Jungen schon gewarnt, er soll sich sein gesundes Urteilsvermögen nicht durch Habgier vernebeln lassen? Ach ja! Der alte Roscius wurde geächtet und sein Besitz vom Staat beschlagnahmt; Chrysogonus selbst kaufte ihn auf und teilte die Güter, wie vorher verabredet, unter sich, Capito und Magnus auf. Sextus Roscius ging leer aus. Er muß sich wie ein Idiot vorgekommen sein! Aber was konnte er tun? Zu den Behörden rennen mit einem Stück Papier, das ihn gemeinsam mit den anderen des Mordes an seinem Vater beschuldigte?
Natürlich bestand immer die Möglichkeit, daß er in einem Anfall von Wahnsinn oder Schuldgefühlen genau das tun würde, also erlaubte Capito Sextus auf dem alten Familienanwesen zu bleiben, wo er stets ein Auge auf seinen Vetter halten konnte, der in Armut und Schande lebte.«
Tiro, der es nicht wagte, Sulla direkt anzusprechen, blickte zu mir. »Aber was war mit Elena?«
Ich öffnete den Mund, um zu antworten, aber Sulla war zu tief ins Erzählen versunken, um die Geschichte einem anderen zu überlassen. »Die ganze Zeit über plante Sextus Roscius, sein Anwesen irgendwie zurückzubekommen. Das bedeutete, daß das Balg der Hure eines Tages als sein Rivale auftreten könnte oder zumindest doch als Feind. Da hockte er nun und brütete tagein, tagaus über die Nutzlosigkeit seines abscheulichen Verbrechens, über die Bitterkeit des Schicksals, seine eigene Schuld und den Ruin seiner Familie. Und nur wegen Elena und ihrem Kind hatte er sich überhaupt auf den Plan eingelassen, seinen Vater zu ermorden! Als das Baby geboren wurde, brachte er es mit eigenen Händen um.«
»Und er hätte genausogut auch Elena töten können«, sagte ich.
»Was kümmert ihn nach all seinen Verbrechen, ob noch mehr Blut seine Hände besudelte?« fragte Sulla, und mir fiel auf, daß er überhaupt keinen Sinn für die Ironie seiner Worte hatte, ein Mann, der bis zum Kinn in Blut watete. »Kurz darauf gelang es den Vettern, Sextus’ Kopie der belastenden Vereinbarung in die Hände zu bekommen. Ohne sie war er schutzlos; er hatte kein Druckmittel mehr gegen sie in der Hand. Zweifelsohne überlegten die Vettern diverse Möglichkeiten, ihn und seine Familie zu ermorden, als ihm die Flucht gelang, zuerst zu einem Freund in Arnena, einem gewissen Titus Megarus, dann zu Caecilia Metella hier in Rom. Als er ihren Klauen entronnen war, blieb ihnen nur die Möglichkeit, ihn mit Hilfe der Justiz zu erledigen. Und weil er tatsächlich schuldig war, nahmen sie naiverweise an, sie könnten die ganze Geschichte so drehen, daß ihre Beteiligung außen vor blieb. Und natürlich zählten sie darauf, daß Chrysogonus’ Name alle ernstzunehmenden Redner davon abhalten würde, Sextus Roscius’ Verteidigung zu übernehmen -falls es überhaupt zum Prozeß kam. Denn inzwischen war der Geisteszutand von Sextus Roscius so zerrüttet, daß sie hofften, ihn in den Selbstmord treiben oder einfach zu einem Eingeständnis seiner Schuld bewegen zu können, was eine Verteidigung überflüssig gemacht hätte.«
»Sie waren von einer geradezu widerwärtigen Selbstgewißheit«, sagte Cicero leise.
»Waren sie das?« fragte Sulla. Seine Stimme hatte einen düsteren, brütenden Beiklang. »Nicht übermäßig. Wenn dieser Prozeß vor einem halben Jahr stattgefunden hätte, glaubst du, ein Anwalt der Verteidigung hätte es gewagt, Chrysogonus’ Namen zu äußern? Die Proskription zu erwähnen?
Glaubst du, eine Mehrheit der Richter an einer der Kammern, die ich wiederhergestellt habe, hätte es gewagt, ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren? Capito und Magnus hinkten schlicht sechs Monate hinterher, das ist alles. Vor einem halben Jahr hätten die Meteller keinen Finger gerührt, um Sextus Roscius zu retten. Aber jetzt spüren sie, daß meine Macht im Schwinden ist; jetzt haben sie sich entschlossen, die Grenzen meines Ansehens auszuloten und mich mit einer Niederlage vor Gericht zu treffen. Wie sich diese mächtigen, alten Familien an der festen Hand eines Diktators reiben, obwohl ich meine Macht immer dafür eingesetzt habe, ihre Truhen zu füllen und die neidischen Massen in Schach zu halten. Sie wollen alles für sich - genau wie Magnus und Capito. Bist du wirklich so stolz darauf, ihr Held zu sein, Cicero, einen blutbesudelten Vatermörder zu retten, nur um mir einen Tritt in den Unterleib zu versetzen, und das alles im Namen der alten Römertugend?«
Lange starrten sich Sulla und Cicero direkt in die Augen. Mir war, als würde Sulla auf einmal sehr alt und sehr müde aussehen und Cicero sehr jung. Doch es war Cicero, der seinen Blick als erster senkte.
»Was geschieht jetzt mit Sextus Roscius?« fragte ich.
Sulla lehnte sich zurück und atmete tief ein. »Er ist ein freier Mann, entlastet durch das Gesetz. Ein Vatermörder und ein zweifacher Brudermörder. Hat es ein solcher Mann verdient weiterzuleben? Aber dank Cicero ist diese erbärmliche Kreatur eine Art leidender Held geworden, ein mieser kleiner an einen Felsen geketteter Prometheus. Wenn man ihm die Eingeweide heraushacken würde, wie er es verdient, wäre das Volk empört. Zu Sextus Roscius wird Fortuna also gnädig sein.
Die Güter seines Vaters werden nicht an ihn zurückgegeben. Das würden meine radikalsten Feinde natürlich am liebsten sehen - eine ordnungsgemäße Proskription wird rückgängig gemacht, und der Staat räumt einen peinlichen Irrtum ein. Nein! Das wird nicht passieren, nicht solange ich lebe. Die Roscius-Güter verbleiben in der Hand ihrer jetzigen Besitzer, aber —«
Sulla verzog das Gesicht und biß sich auf die Zunge, als habe er Wermut geschmeckt. »Aber Chrysogonus wird Sextus Roscius freiwillig andere Güter, möglichst weit weg von Ameria, überlassen, deren Wert den Gütern entspricht, die man ihm abgenommen hat. Soll der Vatermörder Sextus Roscius an einem anderen Ort, wo niemand ihn und seine Vergangenheit kennt, sein gewohntes Leben führen, so gut er kann; aber die Proskription bleibt bestehen, und die beschlagnahmten Güter und seine Bürgerrechte bleiben ihm aberkannt. Nach allem, was du von diesem Mann weißt, kannst du wohl kaum behaupten, daß das ungerecht ist, oder, Cicero?«
Cicero strich sich über die Oberlippe. »Und was ist mit meiner Sicherheit und der Sicherheit derer, die mir geholfen haben? Es soll Menschen geben, die vor Mord nicht zurückschrecken.«
»Es wird kein weiteres Blutvergießen geben, keine Racheakte von Magnus oder Capito. Was den mysteriösen Tod eines gewissen Mallius Glaucia anbetrifft, dessen Leiche heute, zweifelsohne angemessen, in einer Latrine aufgefunden wurde - der Fall ist abgeschlossen und vergessen. Die Kreatur hat nie existiert. Darauf habe ich auch gegenüber den Rosciern mit Nachdruck bestanden.«
Cicero kniff die Augen zusammen. »Ein Handel hat immer zwei Seiten, Lucius Sulla.«
»Ja. Ja, in der Tat. Ich erwarte eine gewisse Zurückhaltung deinerseits, Cicero. Als Gegenleistung für meine Bemühungen zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung wirst du auf eine Mordanklage gegen Capito und Magnus verzichten; es wird keine offizielle Beschwerde gegen die Proskription von Sextus Roscius pater und keine offizielle Beschwerde wegen böswilliger Anklageführung gegen Erucius geben. Weder du noch irgendein Metellus oder einer seiner Handlanger wird einen wie auch immer begründeten Prozeß gegen Chrysogonus anstrengen. Das sage ich dir ganz ausdrücklich, Cicero, damit du es an deine Freunde unter den Metellern weiterleiten kannst. Hast du mich verstanden?«
Cicero nickte.
Sulla erhob sich. Das Alter hatte sein Gesicht verwittert, aber die Schultern ließ er nicht hängen. Seine Anwesenheit erfüllte den ganzen Raum. Neben ihm sahen Cicero und Tiro aus wie schlaksige Jungen.
»Du bist ein kluger junger Mann, Marcus Tullius Cicero, und nach allem, was ich höre, ein begnadeter Redner. Entweder du bist unvernünftig kühn oder wahnsinnig ehrgeizig, vielleicht auch beides - genau die Art Mann, die meine Freunde und ich auf dem Forum gebrauchen könnten. Ich würde meine Hand ausstrecken, um dich für unsere Sache zu gewinnen, aber du würdest sie nicht ergreifen, oder? In deinem Kopf schwirren noch immer viel zu viele verschwommene Ideale herum - die republikanische Tugend tapfer gegen die grausame Tyrannei verteidigen und dergleichen. Du hast Illusionen, was deine eigene Natur betrifft. Meine anderen Sinne mögen mich langsam im Stich lassen, aber ich bin ein schlauer alter Fuchs, und meine Nase ist immer noch gut, und ich wittere in diesem Raum einen weiteren Fuchs. Laß mich dir soviel sagen, Cicero: Der Weg, für den du dich im Leben entschieden hast, führt am Ende nur zu einem Ort, und das ist der Platz, an dem ich stehe. Vielleicht führt dich dein Weg nicht ganz so weit, aber er führt nirgendwo anders hin. Schau mich an und erblicke dein Spiegelbild, Cicero.
Was dich angeht, Sucher...« Sulla musterte mich verschlagen. » Nicht noch ein Fuchs, nein; ein Hund, denke ich, die Art, die herumläuft und die Knochen ausbuddelt, die andere Hunde vergraben haben. Ekelt dich der Dreck in deiner Schnauze nicht manchmal selbst an, ganz zu schweigen von den gelegentlichen Würmern in der Nase? Vielleicht würde ich dich eines Tages selbst engagieren, aber bald werde ich nie wieder heimliche Agenten, bestochene Richter oder intrigante Advokaten brauchen.
Ja, Bürger, traurige Nachrichten; in wenigen Tagen werde ich meinen Rückzug aus dem öffentlichen Leben bekanntgeben. Meine Gesundheit läßt mich im Stich, genau wie meine Geduld. Ich habe alles in meinen Kräften Stehende getan, den alten Adel zu stützen und den Pöbel in seine Schranken zu weisen; soll sich jemand anders um die Rettung der Republik kümmern, ich kann mein neues Leben auf dem Land kaum erwarten - umherschlendern, mich um den Garten kümmern, mit meinen Enkeln spielen. Oh, und natürlich meine Erinnerungen beenden! Ich werde darauf achten, daß du eine vollständige Kopie für deine Bibliothek übersandt bekommst, Cicero.«
Sulla schenkte uns ein säuerliches Lächeln und erhob sich zum Gehen; dann wurde sein Lächeln mit einemmal echt. Er blickte über unsere Köpfe in den Flur, zog die Brauen und neigte charmant den Kopf. »Rufus, mein lieber Junge«, säuselte er, »welch unerwartete Freude!«
Ich blickte mich um und sah Rufus auf der Schwelle stehen, ramponiert und außer Atem. »Lucius Sulla«, murmelte er mit einem Nicken und abgewandtem Blick; nachdem diese förmliche gegenseitige Begrüßung erledigt war, wandte er sich Cicero zu. »Tut mir leid«, sagte er. » Ich habe draußen sein Gefolge gesehen. Ich wußte, um wen es sich handeln mußte, und hätte auch sicher gewartet, aber die Neuigkeit... Ich bin den ganzen Weg hierher gerannt, um es dir zu erzählen, Cicero.«
Cicero runzelte die Stirn. »Um mir was zu erzählen?«
Rufus warf einen Blick zu Sulla und biß sich auf die Lippen. Sulla lachte laut los. »Mein lieber Rufus, in diesem Zimmer kannst du sagen, was immer du willst. Wir hatten bereits ein sehr offenes Gespräch, bevor du gekommen bist. Von den Anwesenden hat niemand Geheimnisse vor mir. Niemand in dieser Republik kann vor Sulla Geheimnisse haben. Nicht einmal dein guter Freund Cicero.«
Rufus klappte den Mund zu und starrte seinen Schwager an. Cicero trat zwischen die beiden. »Los, Rufus. Sag, was du uns zu sagen hast.«
Rufus atmete tief ein. »Sextus Roscius...« flüsterte er.
»Ja?«
»Sextus Roscius ist tot.«
32
Alle Blicke richteten sich auf Sulla, der jedoch genauso überrascht aussah wie wir alle.
»Aber wie?« fragte Cicero.
»Ein Sturz.« Rufus schüttelte konsterniert den Kopf. »Von einem Balkon an der Rückfront von Caecilias Haus. Man stürzt tief, weil der Hügel direkt hinter dem Haus steil abfällt. Eine schmale Treppe windet sich den Hang hinunter. Offenbar ist er auf die Stufen geschlagen und dann noch ein ganzes Stück weitergerollt. Der ganze Körper war zerschmettert -«
»Der Idiot!« ertönte Sullas Stimme wie ein Donnerkrachen. »Der verdammte Idiot! Wenn er so wild entschlossen war, sich selbst auszulöschen -«
»Selbstmord?« fragte Cicero leise. »Dafür gibt es keinen Beweis.« An seinem Blick erkannte ich, daß wir denselben Verdacht hegten. Ohne die Wachen vor Caecilias Haus konnte jemand in Sextus Roscius’ Quartier eingedrungen sein - ein Mörder, den die Roscier oder Chrysogonus oder Sulla selbst geschickt hatten. Der Diktator hatte einen Waffenstillstand erklärt, aber wie weit konnte man ihm trauen?
Aber Sullas Empörung schien Beweis seiner Unschuld zu sein. »Natürlich war es Selbstmord«, fuhr er Cicero an.« Wir wissen alle, in welchem Geisteszustand der Mann sich seit Monaten befunden hat. Ein Vatermörder, der langsam verrückt wird. So hat die Gerechtigkeit am Ende doch gesiegt, und Sextus Roscius war sein eigener Henker.« Sulla lachte wenig fröhlich und wurde dann aschfahl. »Aber wenn er entschlossen war, sich selbst zu richten, warum hat er dann bis nach dem Prozeß gewartet? Warum hat er sich nicht gestern oder vorgestern oder letzten Monat umgebracht und uns all den Ärger erspart?« Er schüttelte den Kopf. »Er wird freigesprochen - und bringt sich dann um. Seine Schuld holt ihn erst ein, nachdem das Gericht ihm die Absolution erteilt hat. Das ist absurd, geradezu lächerlich. Als Ergebnis bleibt nur, daß ich vor den Augen der ganzen Stadt gedemütigt worden bin!« Er ballte eine Faust, rollte die Augen himmelwärts und murmelte anklagend: »Fortuna!«
Ich begriff, daß ich Zeuge wurde, wie ein Mann mit seiner Schutzgöttin haderte wie mit einer Geliebten. Sein ganzes Leben lang war Sulla von Fortuna begünstigt gewesen; Ehre, Reichtum, Ruhm und Lustbarkeiten waren ihm in den Schoß gefallen, und nicht einmal die geringfügigsten Rückschläge hatten den triumphalen Fortgang seiner Karriere behindert, jetzt war er ein alter Mann, dessen Körper und Macht verfielen, und Fortuna zeigte sich auf einmal launenhaft wie eine gelangweilte Geliebte, die mit seinen Feinden flirtete und ihn mit kleinlichen Niederlagen und banalen Rückschlägen strafte, die einem so erfolgverwöhnten Mann tatsächlich abwegig Vorkommen mußten.
Er wickelte sich in seine Toga und schritt Richtung Tür, den Kopf wie den Schnabel eines angreifenden Schiffes gesenkt. Als Cicero und Rufus zur Seite gingen, trat ich vor und stellte mich ihm mit demütig gesenktem Kopf in den Weg.
»Lucius Sulla - guter Sulla -, ich darf doch annehmen, daß das nichts an den Bedingungen ändert, auf die wir uns heute abend hier geeinigt haben?«
Ich war nah genug, um zu hören, wie er scharf die Luft einzog, und spürte auch die Wärme auf meiner Stirn, als er wieder ausatmete. Mir kam es so vor, als würde er sich für die Antwort sehr lange Zeit lassen - lange genug, um mich unter heftigem Pochen meines Herzen zu fragen, welcher verrückte Impuls mich getrieben hatte, ihm in den Weg zu treten. Aber ungeachtet der Kälte in seiner Stimme, antwortete er ruhig: »Es hat sich nichts geändert.«
»Dann sind Cicero und seine Verbündeten nach wie vor immun und vor der Rache der Roscier sicher -«
»Selbstverständlich.«
»- und die Familie von Sextus Roscius wird trotz seines Todes eine Entschädigung von Chrysogonus erhalten?«
Sulla hielt inne. Ich hielt meinen Blick zu Boden gewandt. »Natürlich«, sagte er. »Für seine Frau und seine Töchter wird gesorgt werden, trotz des Selbstmordes.«
»Du bist gnädig und gerecht, Lucius Sulla«, sagte ich und machte ihm den Weg frei. Er ging, ohne sich umzusehen, wartete nicht einmal, bis ihn ein Sklave nach draußen begleitete. Wenig später hörten wir, wie die Tür geöffnet und wieder zugeschlagen wurde, bevor die Straße vom Lärm seines abziehenden Gefolges widerhallte. Dann war alles wieder still.
Während des nachfolgenden Schweigens kam erneut eine Sklavin ins Zimmer, um die Trümmer zu beseitigen, die Sulla zurückgelassen hatte. Während sie die Scherben zusammensuchte, starrte Cicero abwesend auf den Haferbrei, den Sulla gegen die Wand geschleudert hatte. » Laß die Rollen einfach liegen, Athalena. Sie sind bestimmt alle durcheinander. Tiro wird sie später aufräumen.« Sie nickte gehorsam, und Cicero begann, auf und ab zu gehen.
»Welche Ironie«, sagte er schließlich. »So viele Anstrengungen auf allen Seiten, und am Ende ist sogar Sulla enttäuscht. Cui bono, fürwahr?«
»Zunächst mal zu deinem, Cicero.«
Er sah mich schelmisch an und konnte das Lächeln, das über seine Lippen huschte, nicht verbergen. Auf der anderen Seite des Raums sah Tiro verwirrter und niedergeschlagener aus denn je.
Rufus schüttelte den Kopf. »Sextus Roscius, ein Selbstmörder. Was meinte Sulla eben damit, die Gerechtigkeit hätte gesiegt und Roscius sei sein eigener Henker gewesen?«
»Auf dem Weg zu Caecilias Haus werde ich dir alles erzählen«, sagte ich. »Wenn Cicero es dir nicht lieber selbst erklären will.« Ich sah Cicero direkt an, der an der Vorstellung offenkundig wenig Gefallen fand. »Dann kann er mir auch gleich erklären, wieviel er schon von der Wahrheit wußte, als er mich engagiert hat. Aber inzwischen sehe ich wenig Grund zu glauben, daß Sextus Roscius’ Sturz ein Selbstmord war, bis ich die Beweise nicht mit eigenen Augen gesehen habe.«
Rufus zuckte die Schultern. »Wie ließe es sich sonst erklären? Es sei denn, es war schlicht ein Unfall - der Balkon ist tückisch, und er hat den ganzen Abend getrunken; er könnte also durchaus ausgerutscht und gestürzt sein. Außerdem gibt es im Haus keinen, der seinen Tod wünscht.«
»Vielleicht nicht.« Ich wechselte einen vestohlenen Blick mit Tiro. Wie hätte einer von uns die Verbitterung und Verzweiflung von Roscia Majora vergessen können? Der Freispruch ihres Vaters hatte all ihre Hoffnung auf Rache und Schutz für ihre geliebte Schwester zunichte gemacht. Ich räusperte mich und rieb mir die müden Augen. »Sei so nett und begleite mich zurück zu Caecilias Haus, Rufus, und zeig mir, wo und wie Roscius gestorben ist.«
»Heute nacht noch?« Er sah müde aus und verwirrt und wie ein junger Mann, der am frühen Abend schon zuviel Wein getrunken hatte.
»Morgen ist es vielleicht zu spät. Caecilias Sklaven könnten wichtige Beweise zerstören.«
Rufus willigte mit einem müden Nicken ein.
»Und Tiro«, sagte ich, ein Flehen in seinen Augen erhörend. »Kann er auch mitkommen, Cicero?«
»Mitten in der Nacht?« Cicero verzog mißbilligend die Lippen. »Oh, also meinetwegen, soll er ruhig.«
»Du bist natürlich auch eingeladen.«
Cicero schüttelte den Kopf. Er sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung an. »Das Spiel ist aus, Gordianus. Für alle Menschen mit einem reinen Gewissen wird es langsam Zeit, sich ihre wohlverdiente Ruhe zu gönnen. Sextus Roscius ist tot, und was noch? Er ist aus freien Stücken gestorben; Sulla-vor-dem-es-keine-Geheimnisse-gibt persönlich hat es gesagt. Gib es auf, Gordianus. Folge meinem Beispiel und gehe ins Bett. Der Prozeß ist beendet, der Fall ist abgeschlossen. Aus und vorbei, mein Freund.«
»Vielleicht, Cicero«, sagte ich, ging in die Halle und machte Rufus und Tiro ein Zeichen, mir zu folgen. »Vielleicht aber auch nicht.«
»Hier muß es gewesen sein, genau an dieser Stelle«, flüsterte Rufus.
Der Vollmond schien hell auf die Platten des Balkons und die kniehohe steinerne Brüstung. Ich blickte über den Rand und entdeckte gut zehn Meter unter uns die Treppe, von der Rufus gesprochen hatte; die glatten, abgetretenen Kanten der Stufen glänzten matt im Mondlicht. Die Treppe wand sich weiter nach unten in die Dunkelheit, gesäumt von hochgewachsenen Wildkräutern, nur hier und da vom Ast einer Eiche oder Weide verdeckt. Aus dem Innern des Hauses erfüllte Klagegeschrei die warme Abendluft; die
Leiche von Sextus Roscius war im Heiligtum von Caecilias Göttin aufgebahrt worden, und ihre Sklavinnen hatten das zeremonielle Klagen und Schreien angestimmt.
»Die Brüstung sieht jämmerlich niedrig aus«, sagte Tiro und trat aus sicherer Entfernung gegen eine der gedrungenen Säulen. »Kaum hoch genug, um ein Kind auf dem Balkon zu schützen.« Er wich schaudernd zurück.
»Ja«, pflichtete ihm Rufus bei. »Das habe ich Caecilia gegenüber auch schon angemerkt. Offenbar gab es früher einmal ein zusätzliches Holzgeländer. Man kann die eisernen Einfassungen an manchen Stellen noch sehen. Aber das Holz ist morsch und brüchig geworden, und irgend jemand hat das Geländer abreißen lassen. Caecilia sagt, sie wollte schon lange ein neues bauen lassen, ist aber bis jetzt noch nicht dazu gekommen. Der hintere Flügel ist bis zur Ankunft von Sextus und seiner Familie lange nicht benutzt worden.« Er trat neben mich und blickte vorsichtig über den Rand. »Die Treppe dort unten ist steiler, als sie von oben aussieht. Sehr steil und eng, rutschig und hart. Sie hinabzusteigen ist schon an sich gefährlich; für einen Mann, der gestürzt oder gestolpert ist...« Er schüttelte sich. »Er ist noch den halben Hügel hinabgerollt, bevor sein Körper zum Liegen kam. Da, man kann die Stelle von hier aus durch die Lücke zwischen den Zweigen sehen, wo die Treppe eine scharfe Biegung macht. Man kann sie genau erkennen - da vorne, wo sich der Mond in der Blutlache spiegelt wie in schwarzem Öl.«
»Wer hat ihn gefunden?« fragte ich.
»Ich. Das heißt, ich war der erste, der schließlich nach unten gegangen ist, um seine Leiche umzudrehen.«
»Und wie kam das?«
»Ich hatte den Schrei gehört.«
»Wessen Schrei? Hat Roscius denn geschrien, als er hinuntergestürzt ist?«
»O nein. Roscia, seine Tochter. Ihr Schlafzimmer, das sie sich mit ihrer kleinen Schwester teilt - liegt gerade noch im Haupthaus, die erste Tür des Flures.«
»Das verstehe ich nicht.«
Rufus holte tief Luft. Es fiel ihm offenbar schwer, seine verwirrten Gedanken zu ordnen. »Ich war schon in mein Schlafzimmer gegangen - in dem ich immer schlafe, wenn ich über Nacht bleibe. Es liegt in der Mitte des
Hauses, ziemlich genau zwischen Caecilias Gemächern und diesen hier. Ich hörte einen Schrei, den Schrei eines Mädchens, gefolgt von lautem Weinen. Ich stürzte aus meinem Zimmer und folgte dem Geräusch. Ich fand sie hier oben auf dem Balkon, zitternd und schluchzend im Mondlicht - Roscia Majora. Natürlich hatte sie schon den ganzen Abend geweint, aber das war kaum eine Erklärung für den Schrei. Als ich sie fragte, was denn los sei, zitterte sie so heftig, daß sie nicht sprechen konnte. Statt dessen zeigte sie auf die Stelle, wo Sextus Roscius’ Leiche liegen geblieben war.« Er runzelte die Stirn. »Also war es eigentlich Roscia, die die Leiche als erste entdeckte, aber ich war derjenige, der dann runtergerannt ist, um nachzusehen.«
Ich sah mich zu Tiro um, der traurig den Kopf schüttelte. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. »Und wie kam es, daß Roscia zu dieser Stunde auf genau dem Balkon stand, von dem ihr Vater gefallen war?« fragte ich.
»Das habe ich sie auch gefragt«, sagte Rufus, »nachdem sie endlich aufgehört hatte zu zittern. Offenbar war sie aus einem Alptraum hochgeschreckt und wollte auf dem Balkon frische Luft schnappen. Sie hat eine Weile hier gestanden und den Vollmond betrachtet, sagte sie, und hat dann zufällig nach unten geschaut -«
»Und hat ebenso zufällig die Leiche ihres Vaters entdeckt, fast zwanzig Meter entfernt zwischen lauter Blättern, Gras und Steinen?«
»So unwahrscheinlich ist das nicht«, verteidigte Rufus sie. »Der Mond schien direkt auf die Stelle, ich hab ihn selbst gleich gesehen, als sie in die Richtung gezeigt hat. Und es war kein schöner Anblick, seine Gliedmaßen und sein Hals waren völlig unnatürlich verrenkt...« Er hielt inne, und sein Atem stockte, als er plötzlich begriff.
»Oh, Gordianus, du glaubst doch nicht, das Mädchen hat...«
»Natürlich hat sie«, sagte Tiro dumpf aus dem Schatten in unserem Rücken. »Die einzige Frage ist, wie sie es geschafft hat, Sextus auf den Balkon zu locken, aber ich bin sicher, das war nicht weiter schwierig für sie.«
»Das ist nicht die einzige Frage«, wandte ich ein, obwohl es reine Pedanterie zu sein schien, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. »Warum hat sie zum Beispiel geschrien, nachdem sie ihn gestoßen hat, wenn sie ihn wirklich gestoßen hat, und vor allem, wenn es ein vorsätzlicher Mord war? Warum blieb sie auf dem Balkon stehen, bis sie jemand finden konnte?«
Tiro zuckte gelangweilt die Schultern; für ihn war die Sache klar. »Weil die Realität ihrer Tat sie entsetzt hat. Sie ist schließlich noch ein Kind, Gordianus, keine abgebrühte Mörderin. Deswegen hat sie auch geweint, als Rufus hinzukam; das Entsetzen darüber, es wirklich getan zu haben, die Erleichterung, der Anblick seines zerschmetterten Körpers...« Tiro schüttelte verzweifelt den Kopf, aber als ich sein Gesicht sah, halb im Mondschein, halb im Schatten, las ich darin keine Gedanken an etwas Entsetzliches, sondern die Erinnerung an etwas, das für immer verloren und zu schmerzhaft süß zu ertragen war.
Ich drehte mich um und blickte in den Abgrund, die tiefe Grube aus Mondlicht und Schatten, in die Sextus Roscius am Ende gefallen war, ob durch seinen eigenen Willen oder den eines anderen. Ich kniete mich vor die Brüstung und strich mit beiden Händen über die bis auf ein paar Steinchen glatte Oberfläche, die an meinen Handflächen kleben blieben. Mir kam ein Gedanke.
»Tiro, nimm dir eine der Lampen. Halte sie direkt über die Brüstung, damit ich mir das mal genauer ansehen kann.« Das Licht wankte, ich blickte auf und sah, daß Tiro, so nahe am Rand stehend, blaß um die Nase geworden war. »Wenn du sie nicht ruhig halten kannst, gib sie Rufus.« Tiro übergab die Lampe ohne Zögern. »Hierher, Rufus«, sagte ich, »folge mir und halte die Lampe direkt über die Brüstung.«
»Paß auf deine Nase auf«, sagte Rufus, der meine Anspannung spürte und mit einem Witz zu überspielen suchte. »Wonach suchst du eigentlich?«
Wir gingen zweimal die gesamte Länge der Brüstung ab, ohne Erfolg. Ich stand auf und zuckte mit den Schultern. »Es war nur so eine Idee. Wenn Sextus Roscius tatsächlich aus eigenem Willen gesprungen ist, wäre es nur logisch, daß er vor dem Sprung auf die Brüstung gestiegen wäre. Ich hatte gehofft, daß man vielleicht die Ahnung eines Fußabdrucks in dem feinen Staub sieht.«
Ich drehte meine Hände unter dem Licht der Lampe um und betrachtete den feinen Staub, der vermischt mit kleinen Kiesbrocken an meinen Handballen klebte. Ich wollte mir gerade den Schmutz abklopfen, als ich ein winziges Teilchen entdeckte, das völlig anders aussah als die anderen. Es war größer und glänzte, mit glatten, scharfen Kanten; statt blaßgrau schimmerte es im Licht der Lampe mattrot. Ich drehte es mit dem Finger um und bemerkte, daß es gar kein Sternchen war.
»Was ist es?« flüsterte Rufus und drängte sich neben mich. »Klebt Blut daran?«
»Nein«, sagte ich, »aber etwas, das die Farbe von getrocknetem Blut hat.«
»Aber das ist Blut!« sagte Tiro. Während Rufus und ich die Brüstung inspizierten, hatte er sich eine eigene Lampe genommen und die Steinplatten des Balkons in sicherem Abstand vom Rand untersucht. Direkt vor seinen Füßen waren, so winzig, daß wir sie vorher nicht bemerkt hatten, ein paar Spritzer einer dunklen Flüssigkeit auf dem Boden zu sehen. Die Blutstropfen waren am Rand schon eingetrocknet, in der Mitte jedoch noch feucht.
Ich machte einen Schritt zurück und deutete mit der Hand eine Linie an. »Dort, auf dem Boden des Balkons, haben wir Blutstropfen. Dort, direkt davor auf der Brüstung, habe ich das hier gefunden.« Ich hielt das rote Teilchen vorsichtig zwischen Zeigefinger und Daumen. »Und direkt darunter ist die Stelle, wo Sextus Roscius auf die Treppe aufgeschlagen ist.«
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Rufus.
»Sag mir erst dies: Wer war heute abend sonst noch auf diesem Balkon?«
»Nur Roscia und ich, soweit ich weiß. Und natürlich Sextus Roscius.«
»Keiner der Sklaven? Oder Roscius’ Frau?«
»Das glaube ich nicht.«
»Nicht einmal Caecilia?«
Rufus schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir ganz sicher. Als ich ihr die schlechte Nachricht überbrachte, sagte sie, sie wolle nicht einmal in die Nähe dieses Flügels kommen. Sie hat ihren Sklaven befohlen, Sextus’ Leiche zur rituellen Reinigung in ihr Privatheiligtum zu bringen.«
»Ich verstehe. Kannst du mich jetzt zur Leiche bringen?«
»Aber Gordianus«, flehte Tiro, »was hast du entdeckt?«
»Daß Roscia ihren Vater nicht ermordet hat.«
Seine Stirn glättete sich, aber sie bewölkte sich gleich wieder mit neuem Zweifel. »Aber wenn er gesprungen ist, wie erklärst du dir dann das Blut?«
Ich legte die Finger auf meine Lippen. Tiro verfiel gehorsam in Schweigen, aber ich hatte ihm gar nicht andeuten wollen, den Mund zu halten; ich hatte nur abergläubisch das kleine Teil geküßt, das ich noch immer zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, und gebetet, daß ich mich nicht irrte.
Die Türen zum Heiligtum von Caecilias Göttin waren fast verschlossen, aber der Duft von Weihrauch und das Klagegeschrei ihrer Sklavinnen drangen trotzdem auf den Flur. Ahausarus stand Wache und schüttelte finster den Kopf, als wir versuchten, den Raum zu betreten. Rufus packte meinen Arm und hielt mich zurück.
»Halt, Gordianus. Du kennt doch die Regeln in Caecilias Haus. Männer
dürfen das Heiligtum der Göttin nicht betreten. «
»Es sei denn, sie sind tot?« blaffte ich ihn an.
»Sextus Roscius, der Sohn des Sextus Roscius, ist von der Göttin gerufen
worden«, säuselte Caecilia, die auf einmal hinter uns stand. »Sie hat ihn an ihren Busen gerufen.«
Ich drehte mich um und sah eine verwandelte Frau. Caecilia stand sehr gerade, den Kopf stolz zurückgeworfen. Anstatt ihrer Stola trug sie ein weites, bauschiges Gewand, das in tiefstem Schwarz gefärbt war. Ihr Haar war für die Nacht gelöst und fiel in langen wallenden Locken auf ihre Schultern. Die verschiedenen Schichten Schminke waren weggewischt. Faltig und ramponiert legte sie nichtsdestoweniger eine Vitalität und Entschlossenheit an den Tag, die ich bei ihr nie zuvor erlebt hatte. Sie schien weder wütend noch erfreut, uns zu sehen, als ob unsere Gegenwart ohne Bedeutung für sie wäre.
»Die Göttin mag Sextus Roscius zu sich gerufen haben«, sagte ich, »aber ich würde, wenn ich darf, Caecilia Metella, trotzdem sehr gerne seine unsterblichen Überreste untersuchen.«
»Was für ein Interesse könntest du an seiner Leiche haben?«
»Es ist ein Zeichen, nach dem ich suche. Vielleicht ist es ja das Zeichen der Göttin, die ihn zu sich gerufen hat.«
»Sein ganzer Körper ist verdreht, alle Knochen sind gebrochen«, sagte Caecilia. »Er ist so übel zugerichtet, daß man keine einzelnen Wunden mehr erkennen kann.«
»Aber ich habe sehr scharfe Augen«, sagte ich und sah sie direkt an, ohne den Blick von ihr zu wenden.
Caecilia trat neben mich, betrachtete mich von der Seite und gab schließlich nickend ihr Einverständnis. »Ahausarus! Sag den Mädchen, sie
sollen Sextus Roscius’ Leiche in den Flur bringen.« Der Eunuch öffnete die Tür und schlüpfte ins Zimmer.
»Sind sie stark genug?« fragte ich.
»Sie waren stark genug, ihn die Treppe hoch durch die Flure bis in diesen Raum zu tragen. Heute ist Vollmond, Gordianus. Die Macht der Göttin beseelt sie mit einer Kraft, die sie jedem Mann überlegen macht.«
Kurz darauf gingen die Türen des Heiligtums auf. Sechs Sklavinnen trugen eine Bahre in den Flur und setzten sie ab.
Tiro gab ein zischendes Geräusch von sich und wich zurück. Selbst Rufus, der die Leiche bereits gesehen hatte, stockte beim Anblick dessen, was von Sextus Roscius übriggeblieben war, der Atem. Man hatte ihn völlig entkleidet. Das Tuch, auf dem er lag, war blutdurchtränkt. Sein ganzer Körper war mit Prellungen und Platzwunden übersät. Zahlreiche Knochen waren gebrochen; an einigen Stellen ragten sie aus dem zerfetzten Fleisch. Man hatte versucht, seine Gliedmaßen zu richten, aber sein zertrümmerter Schädel war nicht zu verbergen. Offenbar war er mit dem Kopf zuerst gelandet. Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt, seine Schädeldecke war eine Masse aus Blut und Schleim, die von Knochenfragmenten zusammengehalten wurde. Unfähig, den Anblick zu ertragen, wandte Tiro sich ab, und Rufus senkte den Blick. Caecilia betrachte die Leiche ungerührt und ausdruckslos.
Ich kniete nieder und schob das zertrümmerte Kinn beiseite. Mit dem Finger fuhr ich an seinem Hals entlang, an Blutergüssen und -klumpen, bis ich ertastete, wonach ich gesucht hatte. »Rufus, sieh her, und du auch, Tiro. Seht ihr die Stelle, auf die mein Finger zeigt, das Loch in dem weichen Fleisch direkt unter dem Kehlkopf?«
»Sieht aus wie eine Stichwunde«, meinte Rufus.
»Ja«, sagte ich, »wie von einem sehr spitzen, schlanken Gegenstand. Und wenn wir ihn auf die Seite drehen - komm, Rufus, faß mit an - werden wir, glaube ich, in seinem Nacken genau die gleiche Wunde entdecken. Ja, da, seht ihr - direkt neben dem Rückgrat.«
Ich stand auf und wischte meine blutigen Hände an einem Tuch sauber, das mir eine der Sklavinnen reichte. Ich würgte einen Anfall von Ekel herunter und holte tief Luft. » Eine eigenartige Wunde, meinst du nicht auch, Caecilia Metella? So ganz und gar nicht in Einklang zu bringen mit einem Sturz von einem Balkon und eine Treppe hinab. Auch nicht die Art Wunde, die ein Messer hinterlassen würde. Die Waffe scheint direkt durch den Hals gegangen zu sein -vorne rein und hinten wieder raus oder umgekehrt, wer weiß? Ein so spitzer, schlanker Gegenstand aus Metall, daß man den Hals damit durchstoßen und ihn hinterher wieder herausziehen konnte. Und eine so saubere Wunde, daß nur wenige Tropfen Blut auf den Boden des Balkons gefallen sind. Sag mir, Caecilia, war dein Haar schon offen, als du Sextus Roscius auf dem Balkon getroffen hast? Oder war es noch mit einer dieser langen Silbernadeln hochgesteckt, die du zu tragen pflegst?«
Rufus packte meinen Arm. »Still, Gordianus! Ich hab dir doch gesagt, Caecilia war den ganzen Abend nicht auf dem Balkon.«
»Caecilia war nach dem Sturz von Sextus Roscius nicht mehr auf dem Balkon. Aber was war davor - als du dich zum Schlafengehen fertig gemacht hast und Roscia noch schlummerte? Hat er dir seine Schuld dort auf dem Balkon offen gestanden, Caecilia, oder hast du nur zufällig etwas aufgeschnappt, was er im Rausch vor sich hingelallt hat?«
Rufus’ Griff wurde fester, bis er zu schmerzen begann. »Sei still, Gordianus! Caecilia war den ganzen Abend nicht auf dem Balkon!«
Ich riß mich los und trat auf Caecilia zu. Sie blieb unerschüttert in ihrer basiliskengleichen Haltung. »Doch wenn sie den ganzen Abend nicht auf dem Balkon war, wie kommt es, daß ich dieses merkwürdige Objekt auf der Brüstung gefunden habe?« Ich hielt das Teilchen zwischen meinem Daumen und meinem Zeigefinger hoch. »Caecilia, darf ich mal deine Hand sehen?«
Sie zog eine Braue hoch, neugierig, aber nicht allzu besorgt, und streckte ihre rechte Hand aus. Ich nahm sie und spreizte vorsichtig ihre Finger. Rufus und Tiro drängten näher, hielten sich jedoch in respektvollem Abstand und blickten über meine Schulter.
Was ich suchte, war nicht da.
Wenn ich mich geirrt hatte, war ich längst zu weit gegangen, um mich noch aus der Sache herauszureden. Ein empörender Affront gegenüber einer Metella war zumindest eine spektakuläre Methode, seinen Ruf und sein Auskommen zu ruinieren. Ich schluckte nervös und blickte Caecilia direkt an.
In ihren Augen war kein Fünkchen Verständnis, kein amüsiertes Zucken huschte über ihr Gesicht, nur ein Lächeln so kalt wie Frost umspielte ihre Lippen. »Ich denke«, sagte sie leise und ernst, »es ist wohl diese Hand, die du untersuchen willst.«
Sie legte ihre Linke in meine Hand. Ich tat einen Seufzer der Erleichterung.
An der Spitze ihrer verrunzelten Finger leuchteten fünf makellose, rotgefärbte Nägel - makellos bis auf den Nagel ihres Zeigefingers, der an einer Seite abgebrochen war. Ich nahm das Stückchen roter Fingernagel, das ich auf dem Balkon gefunden hatte, und schob es in die Lücke. Es paßte wie eine Nuß in die Schale.
»Dann warst du also doch auf dem Balkon!« rief Rufus.
»Ich habe nie etwas anderes behauptet«, entgegnete sie kalt.
»Aber - das solltest du uns, finde ich, erklären. Ich bestehe darauf!«
Jetzt war ich es, der Rufus zurückhielt, indem ich sanft einen Arm um seine Schulter legte. »Weitere Erklärungen sind nicht erforderlich. Caecilia Metella ist wohl kaum verpflichtet, uns über ihre Schritte unter ihrem eigenen Dach Rechenschaft abzulegen. Oder über ihre Motive und Methoden.« Ich betrachtete die übel zugerichtete Leiche. »Sextus Roscius ist tot, gerufen von der Göttin dieses Hauses, ihre Rachsucht zu stillen. Niemand verlangt weitere Erklärungen. Es sei denn«, ich neigte den Kopf, »die Herrin des Hauses würde sich dazu herablassen, drei unwürdigen Bittstellern, die einen langen Weg zurückgelegt haben auf der Suche nach der Wahrheit, die Tatsachen zu erläutern.«
Caecilia sagte lange nichts. Sie betrachtete die Leiche von Sextus Roscius und ließ sich endlich zu einem Ausdruck des Abscheus hinreißen. »Schafft ihn weg«, befahl sie mit einem Wink. Die Sklavinnen kamen herbeigeeilt, um die Bahre ins Heiligtum zurückzutragen. Weihrauchschwaden trieben in den Flur, als sie die Tür öffneten und hinter sich wieder schlossen. »Und du, Ahausarus - ruf die Gartensklaven zusammen und laß sie die Hintertreppe schrubben. Ich will, daß bis Sonnenaufgang jede Spur vom Blut dieses Mannes getilgt ist. Und kümmere dich persönlich darum, daß das auch geschieht!«
»Aber, Herrin -«
»Los, los!« Caecilia klatschte in die Hände, und der Eunuch trollte sich schmollend. Dann musterte sie Tiro mit abschätzigem Blick. Offensichtlich wünschte sie bei ihrem Geständnis keine überflüssigen Zeugen.
»Bitte«, sagte ich, »laß den Sklaven bleiben.«
Sie sah mich mißmutig an, sagte aber nichts weiter. »Du hast mich eben gefragt, Gordianus, ob Sextus filius den Mord an seinem Vater gestanden hat oder ob ich zufällig etwas aufgeschnappt habe. Beides ist nicht ganz richtig.
Es war die Göttin, die mir die Wahrheit offenbart hat. Nicht mit Worten oder einer Vision. Aber es war ihre Hand - dessen bin ich sicher -, die mich heute abend aus diesem Heiligtum, in das ich mich zurückgezogen hatte, durch die Flure in den Teil des Hauses geführt hat, in dem die Roscii untergebracht sind.«
Ihre Augen wurden schmal, und sie faltete die Hände. Ihre Stimme wurde leise und traumwandlerisch. »Ich traf Sextus filius in einem der Flure, er taumelte im Vollrausch umher und war zu betrunken, mich überhaupt zu bemerken. Er brabbelte vor sich hin, wobei er abwechselnd weinte und lachte. Er lachte, weil er jetzt vor dem Gesetz ein freier Mann war. Und er weinte über die Schande und Nutzlosigkeit seines Verbrechens. Seine Gedanken waren wirr und unzusammenhängend; er sagte ständig irgend etwas und brach dann abrupt ab, aber der Sinn seines Gestammels war unmißverständlich. >Ich hab den Alten umgebracht, hab ihn so sicher umgebracht, als hätte ich selber zugestochen<, sagte er immer wieder, >hab alles geplant und die Stunden gezählt, bis er tot war. Ermordet hab ich ihn, hab meinen eigenen Vater ermordet! Die Justiz hatte mich in ihren Klauen, und ich bin ihr entwischt!<
Ihn so reden zu hören, ließ das Blut in meinen Ohren sausen. Stellt euch vor, was ich, verborgen im dunklen Flur, empfunden habe, als Sextus filius sein Verbrechen gestand, und es gab keine anderen Zeugen außer mir -außer mir und der Göttin. Ich spürte sie in mir, und ich wußte, was ich zu tun hatte.
Offenbar war Sextus auf dem Weg zum Schlafzimmer seiner Töchter -warum, kann ich mir nicht vorstellen. Er war so betrunken, daß er sich wahrscheinlich im Zimmer geirrt hatte. Er wollte gerade eintreten, aber es wäre nicht in meinem Sinne gewesen, wenn er die Mädchen geweckt hätte. Ich zischte ihn an, und er schrak heftig zusammen. Ich kam näher, und er wich zurück. Ich sagte, er solle mit mir auf den Balkon kommen.
Das Mondlicht war grell wie das Auge der Diana. Und in dieser Nacht ist sie wahrscheinlich eine Jägerin, und Sextus war ihre Beute. Mondlicht umfing ihn wie ein Netz. Ich verlangte, daß er mir die Wahrheit sagte. Er starrte mich an; ich sah, daß er seine Chancen abwog, mit einer Lüge davonzukommen, genau wie er alle anderen angelogen hatte. Aber das Mondlicht war zu stark. Er lachte. Er schluchzte. Er sah mich an und sagte: >Ja! Ja, ich habe deinen alten Liebhaber ermordet! Vergib mir!<
Er hatte mir den Rücken zugewandt. Er stand noch immer einige Schritte vom Rand des Balkons entfernt. Ich wußte, ich hätte ihn nie bis zur Brüstung schaffen und hinüberstoßen können, trotz seiner Trunkenheit und der Kraft, die das Mondlicht mir gegeben hatte. Ich betete zur Göttin, sie möge ihn näher an den Rand treten lassen. Doch die Göttin hatte mich bis hierher geführt, und ich wußte, daß ich die Sache nun alleine zu Ende bringen mußte.«
»Also hast du«, sagte ich, »die Nadel aus deinem Haar gezogen. «
»Ja, dieselbe, die ich zum Prozeß getragen habe, verziert mit Lapislazuli.«
»Und du hast sie ihm sauber durch den Hals gestoßen, vom Nacken bis zur Kehle.«
Ihre angespannten Gesichtszüge sackten in sich zusammen. Sie ließ die Schultern hängen. »Ja, so muß es wohl gewesen sein. Er hat überhaupt nicht geschrien, er hat nur ein merkwürdig gurgelndes und würgendes Geräusch gemacht. Ich zog die Nadel wieder heraus; es war fast kein Blut daran. Er griff sich an die Kehle und taumelte vorwärts. Er stieß gegen die Brüstung, und ich dachte, er müsse bestimmt fallen. Aber statt dessen blieb er stehen. Also hab ich ihn gestoßen, mit aller Kraft. Er hat keinen Laut von sich gegeben. Als nächstes hörte ich, wie sein Körper auf der Treppe aufschlug.«
»Und dann bist du auf die Knie gefallen«, sagte ich.
»Ja, das stimmt, ich habe gekniet...«
»Du hast über den Rand geschaut und die Brüstung umklammert - so fest, daß du dir an dem Stein einen Nagel abgebrochen hast.«
»Schon möglich. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.«
»Und was ist aus der Nadel geworden?«
Sie schüttelte verwirrt den Kopf. » Ich glaube, ich hab sie wohl in die Dunkelheit geworfen. Wahrscheinlich liegt sie irgendwo im Gras.« Nachdem sie ihre Geschichte erzählt hatte, schien auf einmal alle Energie von ihr zu weichen. Ihre Augen flackerten, und sie sank wie eine verwelkte Blume in sich zusammen. Rufus war sofort an ihrer Seite. »Mein lieber Junge«, flüsterte sie, »würdest du so lieb sein, mich in meine Gemächer zu begleiten?«
Tiro und ich verabschiedeten uns unzeremoniell von den Weihrauchdüften und dem gedämpften Wehklagen der Sklavinnen in dem Heiligtum.
*
»Was für ein Tag«, seufzte Tiro, als wir das Haus seines Herrn betraten. »Und was für eine Nacht!«
Ich nickte müde. »Mit etwas Glück kriegen wir vielleicht noch eine Stunde Schlaf, bevor die Sonne aufgeht.«
»Schlafen? Ich kann jetzt unmöglich schlafen. In meinem Kopf dreht sich alles. Der Gedanke, daß Sextus Roscius heute morgen noch gelebt hat... und Sulla noch nie von Cicero gehört hatte... und ich hab ehrlich geglaubt -«
»Was?«
Doch er schüttelte nur den Kopf. Cicero hatte ihn schrecklich enttäuscht, aber Tiro würde kein Wort gegen ihn sagen. Ich folgte ihm ins Arbeitszimmer seines Herrn, wo in Erwartung seiner Rückkehr eine Lampe angezündet worden war.
Er sah sich im Raum um und ging dann zu dem Stapel Schriftrollen, die Sulla vom Tisch gestoßen hatte. »Die kann ich genausogut jetzt aufräumen«, seufzte er und kniete nieder. »Dann hab ich wenigstens etwas zu tun.«
Ich lächelte über seinen Elan. Dann blickte ich ins Atrium und beobachtete das Spiel des Mondlichts auf dem Sand. Ich atmete tief ein und gähnte laut.
»Morgen werde ich mit Bethesda in mein Haus zurückkehren«, sagte ich. »Wahrscheinlich sehe ich dich noch, vielleicht aber auch nicht, falls du etwas für Cicero erledigen mußt. Es kommt mir vor, als sei es lange her, daß du vor meiner Tür gestanden hast - dir nicht auch, Tiro? -, dabei liegt es erst ein paar Tage zurück. Ich kann mich an keinen Fall erinnern, der so viel Verwirrung mit sich brachte. Vielleicht hat Cicero wieder mal einen Auftrag für mich, vielleicht auch nicht. Rom ist in gewisser Hinsicht ein Dorf, aber möglicherweise sehe ich dich auch nie wieder.« Ich mußte mich auf einmal räuspern. Das war bestimmt der Mond, der mich sentimental stimmte. »Vielleicht sollte ich es dir jetzt sagen, Tiro - ja, hier und jetzt, wo es still ist und wir beide unter uns sind -, ich wollte dir sagen, daß ich dich für einen wirklich prachtvollen jungen Mann halte, Tiro. Ich sage das von Herzen, und ich glaube, Cicero würde mir zustimmen. Du kannst dich glücklich schätzen, einen Herrn zu haben, der so große Stücke auf dich hält. Cicero ist vielleicht manchmal etwas schroff, aber
- Tiro?«
Ich drehte mich um und sah ihn inmitten der auf dem Boden verstreuten Schriftrollen leise schnarchend auf der Seite liegen. Ich lächelte und ging vorsichtig zu ihm. Schlafend im Zwielicht der Lampe und des Mondes sah er wirklich aus wie ein Kind. Ich kniete mich neben ihn und strich ihm über die glatte Stirn und sein dichtes krauses Haar. Ich nahm ihm die Rolle ab, die er in der Hand hielt. Es war die zerknüllte Abschrift von Euripides, die Sulla quer durch das Zimmer geworfen hatte. Mein Blick fiel auf den Schlußchor:
Vielfache Gestalt hat die göttliche Macht;
gar vieles erfüllt unerwartet ein Gott.
Doch was wir gewähnt, vollendet sich nicht.
Für Unglaubliches findet der Gott den Weg.
So endet diese Begegnis.
33
Obwohl ich erst spät ins Bett gekommen war, stand ich bereits am späten Vormittag auf. Bethesda war schon lange wach und hatte meine wenigen Sachen gepackt. Sie drängte mich beim Ankleiden und belauerte mich wie eine Katze, als ich ein paar Bissen Brot und Käse aß; sie wollte nach Hause.
Während Bethesda ungeduldig in der Sonne im Säulengang auf mich wartete, rief mich Cicero in sein Arbeitszimmer. Tiro schliefe noch in seiner Kammer, sagte Cicero, so daß er selbst eine Truhe mit Silber und einen Beutel loser Münzen hervorkramte und mir mein Honorar korrekt bis auf die letzte Sesterze vorzählte. »Hortensius hat mir erzählt, es sei üblich, die Kosten für die gewährte Unterbringung und Verpflegung abzuziehen«, seufzte er, »aber davon wollte ich nichts wissen. Statt dessen -« Er lächelte und legte noch einmal zehn Denar dazu.
Es ist nicht leicht, einem Mann unangenehme Fragen zu stellen, der einem gerade ein stattliches Honorar und einen erklecklichen Bonus bezahlt hat. Ich schlug bescheiden die Augen nieder, während ich die Münzen einsammelte, und sagte dann so beiläufig, wie ich konnte: » Es gibt da noch ein paar Punkte, die mir Rätsel aufgeben, Cicero. Vielleicht kannst du zu ihrer Erhellung beitragen.«
»Ja?« Sein nichtssagendes Lächeln konnte einen richtig wütend machen.
»Gehe ich recht in der Annahme, daß du von Anfang an sehr viel mehr über diesen Fall wußtest, als du mir erzählt hast? Daß du möglicherweise sogar von der Proskription wußtest? Daß du wußtest, daß Sulla irgendwie in die Sache verwickelt war, und daß ein Mann, der in der ganzen schmutzigen Affäre Nachforschungen anstellte, sich in große Gefahr begeben würde?«
Er zuckte mit seinen schmalen Schultern. »Ja. Nein. Vielleicht. Wirklich, Gordianus, ich hatte nur Andeutungen und Bruchstücke in der Hand; keiner hat mir alles gesagt, was er wußte, genauso wie ich dir nicht alles erzählt habe, was ich wußte. Die Meteller haben gedacht, sie könnten mich benutzen. Und das haben sie bis zu einem gewissen Punkt auch getan.«
»Genau wie du mich benutzt hast - als Köder? Um zu sehen, ob ein streunender Hund, der seine Nase in die Roscius-Affäre stecken würde, bedroht, angegriffen und vielleicht sogar umgebracht würde? Und so war es denn ja auch.«
Ciceros Augen blitzten wütend auf, aber sein Lächeln war nicht zu erschüttern.
»Du bist unversehrt aus der Sache herausgekommen, Gordianus.«
»Dank meines wachen Verstandes.«
»Dank meines Schutzes.«
»Und stört es dich wirklich nicht, Cicero, daß der Mann, den du so erfolgreich verteidigt hast, die ganze Zeit schuldig war?«
»Es ist nichts Unehrenhaftes, einen schuldigen Mandanten zu verteidigen -da kannst du jeden Anwalt fragen. Und es ist durchaus ehrenhaft, einen Tyrannen bloßzustellen.«
»Mord bedeutet dir nichts?«
»Das Verbrechen ist verbreitet. Die Ehre ist rar. Und jetzt, Gordianus, muß ich dich wirklich verabschieden. Du kennst ja den Weg nach draußen.« Cicero drehte sich um und ging aus dem Raum.
Es war ein warmer, aber nicht unangenehm heißer Tag. Zunächst war Bethesda unruhig, zurück im Haus auf dem Esquilin zu sein, aber bald lief sie geschäftig von Zimmer zu Zimmer, um alles nach ihrem Geschmack wiederherzurichten. Am Nachmittag begleitete ich sie zum Markt. Das Getriebe der Subura erfaßte mich - das Geschrei der Verkäufer, der Geruch frischen Fleisches, das Vorbeieilen halbwegs vertrauter Gesichter. Ich war froh, wieder zu Hause zu sein.
Als Bethesda später das Abendessen zubereitete, machte ich einen langen, ziellosen Spaziergang durch das Viertel, spürte den warmen Wind im
Gesicht und hob meinen Blick zu den blaßgoldenen Wolken am Himmel. Meine Gedanken wanderten zur Dachterasse von Titus Megarus unter den Sternen; zu dem heißen Sonnenschein, der Ciceros Atrium durchflutete; zum Haus der Schwäne und den abgründigen Tiefen in Elektras Augen; zu einem flüchtigen Blick auf Roscias nackte Schenkel, während Tiro sie verzweifelt umklammert hielt und an ihrem Hals stöhnte; zum verunstalteten Leichnam von Sextus Roscius, der all diese verschiedenen Dinge zusammengebracht und mit seinem eigenen Blut und dem seines Vaters wie mit Mörtel verbunden hatte.
Auf einmal spürte ich einen nagenden Hunger und wollte mich auf den Heimweg machen. Ich sah mich um und wußte eine Zeitlang nicht, wo ich war, bis mir klar wurde, daß ich irgendwie am anderen Ende der engen Gasse gelandet war. Ich hatte nicht vorgehabt, hierherzukommen oder überhaupt so weit zu gehen. Vielleicht gibt es einen Gott, dessen leitende Hand so sanft auf der Schulter eines Menschen liegt, daß der sie nicht einmal spürt.
Ich wandte mich heimwärts.
Unterwegs traf ich niemanden, nur hin und wieder hörte ich durch offene Fenster, wie Frauen ihre Familien zum Essen riefen. Die Welt schien friedlich und ruhig, bis ich hinter mir Fußgetrappel hörte.
Viele Füße, die auf die Pflastersteine knallten, vermischt mit schrillen Schreien, die in der schmalen Gasse widerhallten, sowie das Geräusch von Stöcken, die an den schiefen Mauern entlangkratzten. Einen Moment lang wußte ich nicht, woher die Geräusche kamen, so eigenartig klang ihr Echo. Es schien näher und näher zu kommen, mal von vorn, mal von hinten, als sei ich von einem kreischenden Mob umzingelt.
Sulla hat gelogen, dachte ich. Mein Haus auf dem Hügel steht in Flammen. Bethesda ist vergewaltigt und ermordet worden. Und jetzt bin ich dem gedungenen Pöbel in der engen Gasse in die Falle gegangen. Sie werden mich mit ihren Stöcken erschlagen. Sie werden mich in Stücke reißen. Gordianus der Sucher wird vom Antlitz der Erde verschwinden, und niemand wird es je erfahren außer seinen Feinden, die es bald vergessen haben werden.
Der Lärm wurde noch schriller, geradezu ohrenbetäubend. Aber es waren keine Männerstimmen, die ich hörte, sondern lärmende Jungen, die hinter mir kreischten. Im nächsten Augenblick kamen sie lachend, schreiend, sich gegenseitig anrempelnd und Stöcke schwenkend um eine Biegung der schmalen Gasse. Sie jagten einen kleineren, in blaue Lumpen gehüllten
Jungen, der mir direkt in die Arme lief und sich in meine Tunika vergrub, als sei ich ein Turm, in dem er sich verstecken konnte.
Seine Verfolger kamen rutschend zum Stehen, sie knufften sich, lachten und kreischten immer noch und schlugen mit ihren Stöcken gegen die Mauer. »Er gehört uns!« schrie einer der Jungen mit durchdringender Stimme. »Hat keine Familie und keine Zunge!«
»Seine eigene Mutter hat ihn verlassen«, brüllte ein anderer. »Er ist nicht besser als ein Sklave. Gib ihn uns zurück! Wir haben nur Spaß mit ihm gemacht.«
Ich betrachtete das zappelnde Bündel aus Lumpen und Sehnen in meinen Armen. Das Kind erwiderte meinen Blick, angstvoll, zweifelnd und auf einmal überglücklich, als er mich erkannte. Es war der stumme Junge, Eco, der von der Witwe Polia verlassen worden war.
Ich hob den Blick und musterte die kreischende Bande. Irgend etwas Bedrohliches muß in meiner Miene gelegen haben, denn der mir am nächsten stehende Junge wich zurück und wurde blaß, als ich Eco sanft zur Seite schob. Einige der Jungen wirkten ängstlich, andere mürrisch und zu einer Schlägerei bereit.
Ich griff in meine Tunika, in der ich noch immer das Messer mit mir herumtrug, wie jeden Tag, seit es der Junge mir gegeben hatte. Er glaubt, wir bringen Gerechtigkeit, Tiro. Ich zog es hervor. Die Jungen rissen die Augen auf und stolperten übereinander, als sie hastig die Flucht ergriffen. Auf ihrem Rückzug hörte ich sie noch lange lachen, kreischen und mit den Stöcken an den Wänden entlangkratzen.
Eco streckte die Hand aus und griff nach dem Messer. Ich überließ es ihm. Auf der Klinge waren immer noch ein paar Flecken von Mallius Glaucias Blut. Eco sah sie und quiekte zufrieden.
Er sah mich fragend an und tat, als würde er mit dem Messer auf eine imaginäre Person einschlagen. Ich nickte. »Ja«, flüsterte ich, »deine Rache. Ich habe dich mit eigener Hand und deinem Dolch gerächt.« Er starrte auf die Klinge und öffnete die Lippen zu einem Ausdruck des Entzückens.
Mallius Glaucia war einer der Männer gewesen, die seine Mutter vergewaltigt hatten; jetzt war er tot, erstochen mit dem Dolch des stummen Jungen. Was machte es, daß ich Glaucia nie getötet hätte, wenn ich eine andere Wahl gehabt hätte, nicht einmal für den Jungen? Was machte es, daß Glaucia - der schwerfällige, blutrünstige Koloß Glaucia - im Vergleich zu den
Rosciern nur ein Zwerg unter Riesen war? Oder daß die Roscier nur Kinder auf dem Schoß von Chrysogonus waren? Oder daß Sulla nur ein Fädchen in einem goldenen und blutroten Intrigennetz war, das Familien wie die Meteller seit Jahrhunderten gesponnen hatten, die durch ihre unermüdlichen Verschwörungen mit Recht von sich behaupten konnten, Rom zu dem gemacht zu haben, was es heute war? In ihrer Republik konnte selbst ein stummer Betteljunge sich auf seine römische Würde etwas einbilden, und der Anblick vom Blut eines miesen kleinen Verbrechers auf seiner eigenen Klinge ließ ihn vor Aufregung quieken. Hätte ich ihm Sullas Kopf auf einem Tablett präsentiert, der Junge hätte nicht zufriedener sein können.
Ich griff in meine Börse und hielt ihm ein Geldstück hin, aber er beachtete es gar nicht, sondern umfaßte statt dessen sein Messer mit beiden Händen und tanzte im Kreis. Ich steckte die Münze wieder in meine Börse und wandte mich zum Gehen.
Ich war erst wenige Schritte gegangen, als ich stehenblieb und mich umdrehte. Der Junge stand, den Dolch umklammert, still wie eine Statue und blickte mir mit traurigen Augen nach. So standen wir lange und sahen uns an. Schließlich streckte ich meine Hand aus, und Eco kam angerannt.
Hand in Hand gingen wir durch die enge Gasse, die von Menschen wimmelnde Via Subura und den schmalen Pfad den Hügel hinauf. Als wir das Haus betraten, rief ich Bethesda zu, daß es noch ein hungriges Maul zu stopfen gab.
Nachbemerkung
Leser historischer Romane, die aus Gewohnheit das Nachwort zuerst lesen, sollten wissen, daß Das Lächeln des Cicero auch ein Kriminalroman ist; einige für die Auflösung relevante Punkte werden hier angesprochen, wenn auch nur indirekt. Caveat lector.
Unsere wichtigsten Quellen für das Leben des Sulla sind Plutarchs Biographie, die charakteristischerweise voll ist mit Klatschgeschichten, Skandalen und Hokuspokus - mit anderen Worten: eine amüsante Lektüre -, und Sallusts Bellum Jugurthinum (Der jugurthinische Krieg), der mit Kiplingschem Elan von Sullas afrikanischen Abenteuern berichtet. Außerdem gibt es zahlreiche Hinweise in den Schriften der zeitgenössischen republikanischen Schriftsteller, vor allem bei Cicero, der offenbar nie müde wurde, Sulla als Inbegriff der Lasterhaftigkeit im Kontrast zum
Standartenträger der Tugend (Cicero) darzustellen. Sullas Autobiographie ist verschollen, Ursache manchen Bedauerns. Nach allem, was wir über seinen Charakter wissen, ist es unwahrscheinlich, daß sie so fesselnd wie Caesars Werke oder so unbewußt enthüllend wie die autobiographischen Schriften Ciceros war, aber sie war bestimmt lebendiger und gebildeter als die unserer heutigen politischen Führer.
Was den Prozeß des Sextus Roscius anbetrifft, liegt uns Ciceros Verteidigungsrede vor. Es ist ein langer Text, den ich bis zu einem gewissen Maß komprimieren und bearbeiten mußte, wobei ich mir jedoch, wie ich finde, keine ungebührlichen Freiheiten herausgenommen habe. Historiker sind sich einig, daß Ciceros originale, gesprochene Reden keineswegs exakt mit ihrer schriftlichen Überlieferung übereinstimmen, die Cicero (zusammen mit Tiro) überarbeitet und ausgeschmückt hat, häufig mit politischen Hintergedanken. Es sind beispielsweise erhebliche Zweifel angebracht, ob gewisse satirische Anspielungen auf Sulla, die sich in der schriftlichen Fassung von Pro Sexto Roscio Amerino finden, zu Lebzeiten des Diktators vor der Rostra tatsächlich ausgesprochen wurden. Gewisse rhetorische Schnörkel Ciceros, die ich hier wiedergegeben habe, sind hingegen absolut authentisch; ich hätte es nie gewagt, das melodramatische »Beim Herkules!« zu erfinden, zu dem Cicero in seinen Schriften häufiger greift, als ich ihm das in Das Lächeln des Cicero habe durchgehen lassen.
Die bekannten Tatsachen des Mordfalles werden alle von Cicero geliefert. Die Rede des Anklägers ist nicht erhalten, und ihre entscheidenden Punkte lassen sich nur aus Ciceros Entgegnungen schließen. Bei gewissen Schlußfolgerungen über Schuld und Unschuld, die über das Urteil des damaligen Gerichts hinausgehen, habe ich mich auf dünnes Eis begeben, allerdings meines Erachtens nicht unvernünftig weit. Cicero war keineswegs darüber erhaben, schuldige Mandanten zu verteidigen; er konnte sogar beträchtlichen Stolz darüber empfinden und damit angeben, daß er den Richtern Sand in die Augen gestreut hatte, wie er es nach dem Prozeß gegen Cluentius tat. Interessanterweise spricht er in seiner Abhandlung De Officiis (Vom pflichtgemäßen Handeln) über die Verteidigung von Schuldigen und kommt fast unmittelbar darauf (bewußt oder unbewußt) auf den Fall von Sextus Roscius zu sprechen.
Dennoch: Wie dies zu meiden ist, genauso ist es für unbedenklich zu halten, einmal einen Schuldigen, wenn er nur nicht verbrecherisch und gottlos ist, zu verteidigen. Das will die Menge, die Tradition läßt es zu, die
Menschlichkeit duldet es. Aufgabe des Richters ist es, immer in Rechtsfällen der Wahrheit nachzugehen, die des Anwalts, manchmal das Wahrscheinliche, auch wenn es nicht recht wahr ist, zu verteidigen. Das zu schreiben, zumal in einer philosophischen Abhandlung, wagte ich nicht, wenn es nicht auch dem Panaetius, dem Bedeutendsten unter den Stoikern, richtig schiene. Am meisten aber wird Berühmtheit und Beliebtheit gewonnen durch Verteidigungsreden, und zwar um so mehr, wenn einmal der Fall eintritt, daß man dem zur Hilfe kommt, der durch Machtmittel irgendeines einflußreichen Mannes hintergangen und bedrängt zu werden scheint, wie wir es oft sonst und in unserer Jugend gegen die Macht des herrschenden L. Sulla für Sex. Roscius Amerinus getan haben.
Man liest Cicero am besten zwischen den Zeilen, vor allem dort, wo er seine eigene Kühnheit und Aufrichtigkeit besonders nachdrücklich betont.
Was die hochrangigen Intrigen im Hintergrund des Prozesses angeht, habe ich einige Anregungen erhalten aus Arthur D. Kahns monumentalem akribischem Werk The Education of Julius Caesar, einer radikal revisionistischen Darstellung der politischen Mauscheleien der späten römischen Republik aus der Sicht eines Nachgeborenen, der die Republik von McCarthy, Nixon, Reagan et alia überlebt hat. Ich sollte auch den fleißigen Michael Grant erwähnen, der Ciceros Verteidigungs- und Anklagereden ins Englische übersetzt und mich zum erstenmal auf die Fährte von Sextus Roscius gesetzt hat.
Der Gesang des Metrobius in Kapitel 26 ist von mir. Das anonyme Liedchen über die Sonnenuhr (Kapitel 9) ist meine Adaption.
»Jeder Autor von Detektivromanen macht Fehler, und keiner wird je so viel wissen, wie er wissen sollte.« Raymond Chandlers Diktum ist doppelt wahr, wenn die Kulisse historisch ist. Ich möchte mich bei allen bedanken, die mir geholfen haben, Anachronismen aus dem Originalmanuskript zu tilgen, unter anderem meinem Bruder Ronald Saylor, einem Fachmann für antike Glaskunst, einem Altphilologen, der es vorzieht, anonym zu bleiben, sowie den aufmerksamen Lektoren bei St. Martin’s Press. Mein Dank gilt außerdem Pat Urquhart, die mich bei der Erstellung der Karte beraten hat; Scott Winnett für seine praktischen Tips über das Verlagsgeschäft im Krimi-Breich; John Preston, der wie ein deux ex machina auftauchte, als das Manuskript fertig war und es in die richtigen Hände beförderte; Terri Odom, die mir bei der Fahnenkorrektur geholfen hat; und meinem belesenen Redakteur Michael Denneny.
Eine letzte Danksagung gilt meiner Freundin Penni Kimmei, eine aufmerksame Studentin von Kriminalgeschichten, modernen, nicht antiken, die meinen ersten Entwurf akribisch gelesen und unschätzbar wertvolle Orakel in Form von selbstklebenden gelben Notizzetteln ausgegeben hat. Ohne ihre sybillinische Intervention hätte ein armes Mädchen sinnlos leiden müssen, ein böser Mann wäre unbestraft geblieben, und ein verlorener Sohn hätte vielleicht für immer stumm und einsam durch die dunklen, schäbigen Gassen der Subura wandern müssen. Culpam poena premit comes; aber auch, miseris succurere disco. Oder auf gut Deutsch: Die Strafe folgt dem Verbrechen auf dem Fuß, doch ich habe gelernt, die Elenden zu trösten.