Zweiter Teil

15. Kapitel

Ironischerweise hatte Carter erst am Sonntagnachmittag, als es Zeit wurde zu packen und in den Mahlstrom der Stadt zurückzukehren, das Gefühl, sich allmählich auf dem Land zu entspannen.

Joe hatte das ganze Wochenende über nicht angerufen, aber auf der anderen Seite hatte Carter sich auch nicht gemeldet. Am Samstag hatte er sich ein paar Stunden in die detaillierte Beschreibung des Lasers vertieft, bis Beth schließlich darauf bestanden hatte, dass er das Handbuch beiseitelegte und mit ihr einen Spaziergang durch den Wald machte. Abbie und Ben schienen ihren Streit, den sie auf der Fahrt hierher ausgetragen hatten, beigelegt zu haben und luden sie zum Apfelpflücken auf eine nahegelegene Apfelplantage ein. Jetzt hatten sie einen Zentner frische Äpfel, und Carter fragte sich, was um Himmels willen sie damit anfangen sollten.

Nicht einmal Joe wäre in der Lage, mehr als ein Dutzend davon zu vertilgen.

Auf dem Rückweg in die Stadt duftete es im Wagen nach Äpfeln und dem Kürbiskuchen, den Abbie und Beth am Morgen gebacken hatten. Ben schaltete das Radio ein, um die Verkehrsmeldungen zu hören. »Solange ich nichts anderes höre«, sagte Ben, »halte ich mich an den Saw Mill River Parkway.«

Doch zuerst mussten sie eine ganze Reihe von Werbespots über sich ergehen lassen, anschließend den Wetterbericht und mehrere Minuten idiotischen Geplänkels zwischen den beiden überkandidelten und nervtötenden Moderatoren Gary und Gil. Carter achtete nicht auf ihre Betrachtungen über Elvira, die großzügig ausgestattete Herrin der Dunkelheit – »Ich meine, sind diese Brüste wirklich echt? Sie sind seit dreißig Jahren genau an der gleichen Stelle!« Aber dann spitzte er doch die Ohren, als Gil sagte: »Und was ist das für eine verrückte Geschichte mit den New Yorker Kirchenglocken letzte Nacht?«

»Das ist unheimlich, was?«, klinkte Gary sich ein.

»Für alle, die immer noch zu verkatert von der Halloweenparty sind, um sich daran zu erinnern, was gestern Abend um genau sechzehn Minuten nach zehn passiert ist: Jede Kirchenglocke in Manhattan …«

»… und wir meinen jede Glocke in jeder Kirche«, mischte sich Gary erneut ein.

»… hat wie verrückt zu läuten angefangen.«

»Wie eine Art Warnsignal bei einem Luftangriff«, sagte Gary.

»Sie kommen! Sie kommen!«, rief Gil.

»Aber nichts kam, stimmt’s?«

»Das will ich doch hoffen.«

»Aber eins sag ich dir, wenn das eine Art Halloweenstreich war …«

»Was sollte es sonst gewesen sein?«, fragte Gil.

»… dann haben die Jungs einen erstklassigen Job gemacht, um das alles zu koordinieren. Wie um alles in der Welt schafft man es, jede Kirchenglocke, von der altmodischen Sorte, die immer noch ganz oben in ihrem Turm hängt, bis zu den elektronisch gesteuerten Glockenspielen in Kirchen wie der St. Patrick’s Cathedral, gleichzeitig zum Läuten zu bringen?«

»Und warum ausgerechnet um sechzehn Minuten nach zehn?«, fragte Gil sich laut. »Ich für meinen Teil hätte ja bis Mitternacht gewartet, wenn ich so etwas geplant hätte.«

»Ich kann jedenfalls sagen, wenn die Leute, die hinter diesem Halloweentrick stecken, uns jetzt zuhören, ruft uns an unter 1–800-GIL-GARY, und erzählt uns, wie ihr das durchgezogen habt. Echt eine coole Sache!«

»Total irre.«

Ben drehte das Radio leiser. »Wetten, dass da dieser Magier dahintersteckt, dieser David Blaine? Der, der schon einmal in einem Eisblock am Times Square gestanden hat?«

»Aber wenn er nicht sagt, dass er es war«, erwiderte Carter, »was für einen Zweck sollte das Ganze dann haben?«

»Vielleicht wartet er nur eine Weile, damit es um so geheimnisvoller wirkt?«

»In dieser Stadt ist das am Dienstag doch schon Schnee von gestern«, warf Abbie ein. »Er sollte sich besser schnell zu erkennen geben.«

Nach dem Verkehrsbericht ließ Ben das Radio an. Aus der ganzen Stadt riefen Leute an und schalteten sich in die Diskussion um die läutenden Glocken ein. Ein paar von ihnen unterstützten die Theorie vom Halloweenstreich, aber die meisten Anrufer plädierten zu Carters Bestürzung für eine übernatürliche, oder, um es anders zu formulieren, eine irrationale Ursache. Ein Typ behauptete, der »Geist des Houdini hat das bewerkstelligt, um zu beweisen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt«, doch die meisten bevorzugten eher traditionelle religiöse Erklärungen. Ein Mitglied der Zeugen Jehovas rief an, um zu erklären, es handele sich um ein Zeichen der bevorstehenden Apokalypse. Ein Pfarrer aus Harlem meldete sich und schlug vor, dass es vielleicht ein Warnsignal für New York sei, »das Sodom und Gomorrha unseres Landes«, um die Stadt von ihrem verderbten Weg abzubringen. Und ein Theologieprofessor von der Columbia-Universität erklärte, dass das Läuten der Kirchenglocken an Halloween ein altes Mittel sei, um Hexen abzuwehren.

»Früher dachte man«, so fuhr der Professor fort, »dass, wenn die Kirchenglocke läutete, während eine Hexe darüber hinwegflog, der Klang der Glocke sie erledigen würde wie eine Rakete.«

»Wir müssen also nichts weiter tun«, unterbrach der Moderator Gil ihn, »als in den Straßen nach abgestürzten Hexen Ausschau zu halten?«

»Nun, das können Sie natürlich gerne machen«, erwiderte der Professor, »aber ich an Ihrer Stelle würde nicht allzu viel Zeit damit verschwenden.«

»Ich glaube immer noch, dass dieser David Blaine dahintersteckt«, sagte Ben. »Hat jemand was dagegen, wenn ich den Sender wechsle? Mehr von Gary und Gils Affentheater ertrage ich nicht.«

Niemand erhob Einwände, und Ben drückte ein paar Knöpfe, ehe er den öffentlichen Sender NPR fand.

Den Rest des Weges in die Stadt hörten sie sich eine Nachrichtensendung an, in der über vernünftigere Themen gesprochen wurde. Sobald sie das West Village erreicht hatten, manövrierten sie durch die verstopften Straßen, bis sie vor Beths und Carters Wohnhaus anhielten.

»Vielen Dank, es war klasse«, sagte Beth und stieg aus dem Wagen, wobei sie vorsichtig den Kürbiskuchen balancierte.

Carter stieg auf der anderen Seite aus und lud mit Bens Hilfe ihre Taschen aus dem Kofferraum, zusammen mit einem Vorrat an Äpfeln, der bis an ihr Lebensende reichen würde.

»Iss sie nicht alle auf einmal«, sagte Ben.

»Zum Glück haben wir einen hungrigen Hausgast«, sagte Carter. »Danke für das Wochenende. Es war genau das, was der Arzt befohlen hatte.«

»Kommst du, Carter?«, rief Beth von der Treppe her. »Abbie und Ben wollen heute Abend bestimmt auch noch mal nach Hause.«

»Bis dann«, sagte Carter, nahm eine kleine Tasche in die eine und den Sack mit Äpfeln in die andere Hand.

Oben angekommen, klopfte er zuerst an, um Joe vorzuwarnen.

»Ich glaube nicht, dass er zu Hause ist«, sagte Beth. »Die Zeitung liegt immer noch auf der Fußmatte.«

Sie hatte recht. Die Sonntagsausgabe der Times ruhte mit ihren ganzen zwölf Pfund vor ihrer Tür.

Nirgends in der Wohnung brannte Licht, und als Carter es einschaltete, stellte er fest, dass Joe tatsächlich nicht hier war. Sein Bettzeug, das er normalerweise zusammengelegt unter den Couchtisch stopfte, lag immer noch auf dem Sofa und teilweise auf dem Boden. Und das Kruzifix, das er in der Nacht von Joes Ankunft gesehen hatte, hing wieder an der Wand.

Beth zerrte die Äpfel in die Küche.

»Ist da irgendwo eine Nachricht?«, fragte Carter. »Ich frage mich, wo er steckt.«

»Nichts«, sagte sie. »Keine Nachricht.« Sie kam wieder zurück. »Im Badezimmer ist er auch nicht, oder?«

»Nein«, sagte Carter.

»Bisher hat er jeden Morgen das Bettzeug weggepackt«, grummelte sie und schaute zum Sofa hinüber. »Und was ist das da an der Wand?«

Während Beth hinüberging, um einen Blick darauf zu werfen, versuchte Carter, sich einen Reim auf alles zu machen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es sah Joe gar nicht ähnlich, das Sofa in so einem Durcheinander zu hinterlassen, und es passte auch nicht zu ihm, die Zeitung auf der Fußmatte liegen zu lassen. Er las gerne Zeitung.

»Carter, hast du das hier gesehen? Ein Kruzifix. Ich wusste gar nicht, dass Joe religiös ist.«

»Ich auch nicht. Er war es auch nicht, als ich ihn in Europa kennengelernt habe.«

»Mir fällt gerade etwas ein«, sagte sie mit einem halben Lächeln. »Hast du nicht gesagt, er würde zu Bill Mitchells Party gehen?«

»Ja. Ich habe ihm die Einladung gegeben.«

»Vielleicht hat er da jemanden kennengelernt.«

»Das war Freitagabend.«

»Ich weiß, aber vielleicht haben sie die letzte Nacht zusammen verbracht, hier.« Sie sah auf die zerwühlten Decken und Laken auf dem Sofa. »Meinst du, wir hätten ihm sagen sollen, dass er gerne das Schlafzimmer benutzen kann, solange wir nicht da sind?« Vorsichtig hob sie den Saum des Lakens an und warf es zurück aufs Sofa. »Vielleicht ist er gerade bei dieser geheimnisvollen Frau.«

Das war sicherlich möglich. Carter hatte Joe zwar nicht unbedingt als Frauenheld erlebt, aber das war damals auf der Ausgrabungsstätte auf Sizilien gewesen. Hier in New York hatte er womöglich ein besonderes Prestige; hier war er ein bedeutender Wissenschaftler, der gerade aus Italien zu Besuch weilte.

»Wollen wir uns etwas vom Chinesen zu essen bestellen?«, fragte Beth. »Ich bin zu müde, um noch einmal rauszugehen.«

»Nein, so hungrig bin ich nicht«, sagte er. »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne noch mal rüber zum Labor und nachschauen, ob Joe da ist.«

»Es macht mir gar nichts aus. Ich bin vollkommen erledigt. Warum geht ihr nicht noch ein wenig aus und amüsiert euch?«

Sich zu amüsieren war nicht unbedingt das, was Carter im Sinn hatte, als er die Treppe wieder hinunterstieg. Er hatte immer noch ein merkwürdiges Gefühl. Als er nach Hause gekommen war, hatte er erwartet, Joe vor dem Fernseher zu finden, die Füße hochgelegt. Stattdessen hatte er ein ungemachtes Bett vorgefunden. Dazu das Kruzifix und die Zeitung vor der Tür. Nichts davon ergab einen Sinn.

An der Ecke wartete Carter, dass es grün wurde. Vielleicht benahm er sich einfach lächerlich, und Beth hatte recht. Vielleicht war Joe auf der Party schlicht von einer Frau angebaggert worden und war jetzt mit ihr unterwegs und glücklich. Möglicherweise hatte er sie zu dieser Circle Line Cruise mitgeschleppt, die er machen wollte. Wenn sie da mitgekommen war, dann mussten sie echt verliebt sein.

Oder er war im Labor und fragte sich, was Carter so lange davon abhielt, wiederzukommen und weiterzuarbeiten.

Als Carter sich der Vorderseite des Bio-Gebäudes näherte, meinte er, einen leichten Geruch von Asche wahrzunehmen. Und als er seitlich herumging, um durch den Ladebereich ins Labor zu gelangen, wurde der Geruch stärker. Zu Halloween flippte das West Village immer ein wenig aus, und Carter nahm an, dass jemand am Abend unbedingt ein Lagerfeuer veranstalten musste. Doch als er zur Rückseite des Gebäudes kam, sah der gelbe Backstein, der schon immer ziemlich schmutzig gewesen war, noch schlimmer aus als sonst, schwarz, schmutzig und verrußt. Der Rauchgeruch war überwältigend.

Er sah den nassen Beton, das gelbe Polizeiband, die hölzernen Absperrungen, die verbogenen Stahltüren und blieb stehen.

Was war hier passiert?

Joe.

Er rannte auf den Ladebereich zu und überwand ohne Mühe zwei der Absperrungen aus Holz. Niemand war zu sehen bis auf zwei Studenten auf der anderen Straßenseite, die sich flüchtig den Schaden besahen. Einer von ihnen hatte einmal in Carters Einführungsseminar gesessen.

»Wissen Sie, was hier passiert ist?«, rief Carter ihnen zu.

»Ich habe gehört, es habe gebrannt. Mehr weiß ich nicht«, sagte sein ehemaliger Student.

»Wurde jemand verletzt?«

Der andere erwiderte: »Ja, ich glaube schon. Aber ich weiß nicht, wer es war.«

Carter sprang auf die Laderampe, die zur Seitentür führte. Ein Polizeiband klebte quer darüber, ebenso ein Warnschild der Feuerwehr

LEBENSGEFAHR –


ZUTRITT BIS AUF WEITERES VERBOTEN.

Carter riss das Band ab und zerrte seinen Schlüssel hervor. Er schloss die Tür auf, aber sie hatte sich im Rahmen verzogen und klemmte. Mit der Schulter stemmte er sich dagegen und drückte sie gewaltsam auf, bis sie über den Beton quietschte.

»Hey, Professor, ich glaube, das ist nicht sicher«, rief sein Student.

Aber Carter hatte die Tür weit genug geöffnet, um hineinschlüpfen zu können.

Außer dem Licht, das durch die offene Tür hereinfiel, war das improvisierte Labor dunkel. Trotzdem war es hell genug, um zu erkennen, dass der Raum vollkommen verwüstet war. Der Boden war nass und mit grauem Schutt, verkohltem Holz und zerbrochenem Glas bedeckt. Die leeren Gehäuse der Deckenscheinwerfer baumelten nutzlos von der Decke herunter. Und in der Mitte des Raumes, dort, wo das Fossil gestanden hatte, war selbst der Betonfußboden verschwunden. An der Stelle war eine Senke entstanden, fast dreißig Zentimeter tief und gleichmäßig schwarz ausgebrannt. Es sah aus, als hätte dort eine Bombe eingeschlagen.

War es das, was geschehen war? Hatte es eine Explosion gegeben? Sie hatten immer vermutet, dass in der Felsplatte gefährliche Gase eingeschlossen waren. Aber das Gestein war stabil gewesen, und sie waren noch nicht mit dem Laser rangegangen.

Oder doch?

Und wo war Joe? War er im Labor gewesen, als der Unfall, oder was immer es gewesen war, sich ereignet hatte?

Carter ließ sich das alles durch den Kopf gehen und versuchte, einen Sinn darin zu erkennen, als er auf der anderen Seite des Labors einen Lichtschimmer bemerkte.

»Wer ist da?«, rief eine Stimme. »Hier ist der Zutritt verboten!«

Es war der Hausmeister.

»Ich bin’s, Hank – Carter Cox.«

Hank kam, eine große Taschenlampe schwenkend, aus dem Lagerraum. »Wusst ich’s doch, dass ich was gehört hatte.«

»Hank, was ist passiert? Wo ist Professor Russo?«

Hank schlurfte herein und bahnte sich seinen Weg durch die nassen Trümmer. »Wer zum Teufel weiß schon, was passiert ist? Ich weiß nur, dass es nicht die Lampen waren.«

»Die was?«

»Der Brandermittler behauptet, dass die Scheinwerfer schuld sind, die ich aufgehängt habe, mit dem separaten Verteilerkasten. Aber die Lampen waren astrein, ich habe sie selbst überprüft.«

»War Russo hier, als es passierte?«, wiederholte Carter.

Hank holte Luft, als sei dies eine Frage, auf die er am liebsten keine Antwort gegeben hätte. »Er und dieser andere Typ, der junge Prof.«

»Welcher andere junge Professor?«

»Mitchell sowieso.«

»Bill Mitchell?« Was zum Teufel hatte der hier zu suchen gehabt? Er hätte im Grunde nicht einmal wissen dürfen, dass dieses Behelfslabor überhaupt existierte.

»Jau. Er hat das meiste abbekommen.« Schweigend biss Hank sich auf die Lippen. »Er ist tot.«

Carter war erschüttert. Sprachlos.

»Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass Ihr Freund Russo noch lebt. Aber nur so gerade eben. Er liegt drüben im St. Vincent’s.«

Hank hatte den Satz kaum beendet, als Carter sich schon abgewandt und auf den Weg gemacht hatte.

»Ich weiß nicht, was hier schiefgelaufen ist«, rief Hank ihm nach, »aber die Lampen waren es nicht.«

Draußen rannte Carter gerade die Treppe der Laderampe hinunter, als eine Limousine am Straßenrand anhielt und eine hochgewachsene schwarze Prostituierte in einer kurzen weißen Kaninchenfelljacke auf der Beifahrerseite ausstieg. Der Wagen fuhr rasch weiter. Erst als Carter an der Hure vorbeiging und diese ihn am Ärmel packte, begriff er, dass es ein Mann in Frauenkleidung war.

»Arbeiten Sie in diesem Gebäude?«, fragte er.

Aber Carter hatte den Arm bereits zurückgezogen. »Lassen Sie mich los, ich habe es eilig.«

»Ich sagte, arbeiten Sie in diesem Gebäude? Wenn ja, dann möchte ich nämlich wissen, was da drin vor sich geht.«

»Wovon reden Sie?«

»Ich war letzte Nacht hier, und ich habe gesehen, was da rauskam.«

Widerwillig blieb Carter stehen. »Was sagen Sie da? Was haben Sie gesehen, was kam da raus?«

»Das ist es ja, was ich gerne wüsste. Ich sah einen Mann, aber eigentlich war es kein Mann. Er bestand vollkommen aus Licht, und er leuchtete.«

Der Typ war nicht ganz dicht.

»Schön für Sie. Aber jetzt muss ich gehen.«

Doch der Mann folgte ihm und packte ihn erneut am Ärmel. Er war stark genug, um Carter aufzuhalten und ihn halb herumzuwirbeln. »Ich habe dem Mann – dem Mann, der eigentlich keiner war – meinen Mantel gegeben. Meinen besten roten Mantel. Wissen Sie, warum?«

»Warum?«

Der Transvestit blickte ihm direkt in die Augen. »Weil er keinen Fetzen Stoff am Leib hatte.«

Carter riss sich los und wandte sich ab. Er hatte keine Zeit für diesen Quatsch.

»Und wissen Sie, aus welchem Grund ich es noch tat?«, rief der Transvestit ihm nach. »Weil ich glaube, dass dieser Mann ein Engel ist.«

An der Ampel musste Carter stehen bleiben und auf Grün warten. Als sie endlich umsprang, eilte er über die Straße.

»Ich behalte Sie im Auge«, rief der Typ. »O ja! Ich weiß, dass hier etwas nicht stimmt.«

Dessen war Carter sich sicher. Aber was immer dieser Kerl gesehen haben mochte oder auch nicht, er hatte keine Zeit, es herauszufinden. Er musste so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Er blieb nicht einmal stehen, um ein Taxi anzuhalten, weil er das für eine nicht tolerierbare Verzögerung hielt. Er musste in Bewegung bleiben, und das tat er. Er wich anderen Fußgängern aus, rannte über die Straßen, sobald es grün wurde, und hastete die letzten Blocks auf das Krankenhaus zu.

Solange er sich auf den Weg konzentrierte, musste er nicht darüber nachdenken, was Joe zugestoßen sein mochte. Und in welchem Zustand er ihn im St. Vincent’s finden würde. Lebend oder … sein Verstand konnte es nicht einmal denken. Noch nicht.

Die Ampel sprang auf Grün, und er rannte über eine weitere Straße.


16. Kapitel

Feuer.

Dann Licht.

Wie zuvor.

Vor so langer Zeit.


Und dann, wieder Nacht.


Eine Nacht indes, erfüllt mit Licht, überall.

Und Klängen. So vielen Klängen.

Und Stimmen. So vielen Stimmen.

So vielen … Menschen.


War es das … was daraus entstanden war?


Kälte.


Ein Umhang.


So viele Menschen.

Überall, und sie redeten.

Verschiedene Stimmen.

Ihre Gerüche.

Jeder von ihnen ein anderer Geruch.


Aber war er … allein?


Die Dunkelheit.

Die Kälte.

Ewigkeit.


War er allein?

War er der Letzte?

Und war er endlich … frei?


17. Kapitel

Selbst an einem so trostlosen Tag wie heute amüsierte Ezra sich über die Inschrift. In die Wand über der geschwungenen Treppe, gegenüber des massiven UNO-Hochhauses selbst, waren die Worte aus Jesaja 2,4 eingemeißelt: »Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk gegen das andere ein Schwert aufheben, und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen.« Die Ironie war so unübersehbar, dass es keines weiteren Kommentars bedurfte. Seiner Ansicht nach waren sich die Vereinten Nationen nur in einem einzigen Punkt einig: der Einschränkung, Denunziation und letztendlich der Vernichtung Israels. Bis auf diesen einen Punkt war die ganze Organisation nichts als Heuchelei, ein Haufen aufgeblasener, machtloser Delegierter, die sich in New York ein schönes Leben machten, während ihre Völker in Uganda, Ruanda, Kambodscha, Serbien, Tschetschenien, Indien, Pakistan oder wo auch immer hungerten und litten und einander millionenfach meuchelten.

Für Ezra hatte die UN nur eine gute Seite, und das war der öffentliche Park, der sich am East River entlangzog. Er war gut gepflegt, und Ezra hatte angefangen, hier spazieren zu gehen, wenn er das Gefühl hatte, frische Luft zu brauchen. Es gab einen breiten ellipsenförmigen Fußweg mit Bänken und Statuen und einem großen grünen Rasen in der Mitte, den niemand auch nur betreten durfte. Niemand belästigte einen, die Sicherheitsleute hielten den Großteil des Gesindels draußen, und man musste nicht ständig aufpassen, um nicht in Hundehaufen zu treten. An manchen Tagen, wenn er viel nachzudenken hatte und nicht nach Hause gehen wollte, drehte Ezra zehn, zwölf Runden in dem Park.

Heute war so ein Tag.

Ganz wie Maury ihn gewarnt hatte, waren sein Vater und seine Stiefmutter heute Morgen zurückgekehrt. Sein Vater hatte sich allerdings gleich bei seinem Büro absetzen lassen, so dass bisher nur Kimberly tatsächlich wieder zu Hause war.

Unter Gertrudes wachsamen und ermutigenden Blicken hatte Ezra sich die Mühe gemacht, sie an der Tür zu begrüßen. Er hatte ihr sogar angeboten, ihr das Paket abzunehmen, das sie trug.

»Danke, Ezra«, hatte Kimberly gesagt, »das ist eine sehr gute Idee. Besonders, da es ohnehin für dich ist.«

»Für mich?«

»Ja.«

Auf der Stelle wurde er misstrauisch. Hüte dich vor den Griechen, wenn sie Geschenke bringen.

»Du kannst es aufmachen«, sagte sie. Die Ferien in Palm Beach hatten ihr einen leichten braunen Teint beschert und das Haar aufgehellt. »Es ist nichts Großartiges.«

Hätte er ebenfalls ein Geschenk für sie besorgen müssen? Immerhin hatte er mit dem Streit angefangen und sie in die Flucht geschlagen. Aber es war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen, ein Versöhnungsgeschenk bereitzuhalten. Er warf Gertrude einen raschen Blick zu, deren Stirnrunzeln ihm riet, sich dankbar zu zeigen und das Geschenk auszupacken.

»Danke«, sagte er, während er vorsichtig die weiße Schleife entfernte und die kleine türkisblaue Schachtel öffnete. Sie war mit einer ganzen Wolke aus Seidenpapier gefüllt, und darin eingebettet sah er eine glitzernde silberne Uhr mit weißem Zifferblatt und schwarzen Ziffern. Ein kleiner Umschlag war an dem oberen Ring befestigt. Ezra nahm die Uhr heraus und stellte die leere Schachtel auf den Tisch.

»Das ist ein Wecker von Tiffany«, sagte Kimberly. »Lies die Karte.«

Ezra zog die kleine braungelbe Karte aus dem dazupassenden Umschlag und las: »Wach endlich auf und kapier, wie der Hase läuft! Alles Liebe, Kimberly.«

Er war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte; er meinte, diesen Ausdruck schon einmal irgendwo gehört zu haben, aber er war sich absolut nicht sicher.

»In unserem Haus in Palm Beach hatten Sam und ich eine Menge Zeit, um miteinander zu reden«, erklärte Kimberly. Vielleicht hatte sie seine Verwirrung bemerkt. »Wir sind beide zu dem Schluss gekommen, dass es zu deinem eigenen Besten höchste Zeit für dich wird, aus deinen alten Zimmern auszuziehen, dir eine eigene Wohnung zu suchen und anzufangen, auf eigenen Füßen zu stehen.«

Ezra war völlig schockiert.

»Es ist nicht eilig. Lass dir eine Woche Zeit, zwei, wenn es sein muss. Ich habe gehört, dass der Wohnungsmarkt zurzeit ziemlich angespannt ist. Aber wir glauben beide, dass du glücklicher sein wirst, wenn du von jetzt an allein lebst.«

Ezra, der nicht wusste, wie er reagieren sollte, blickte zu Gertrude hinüber, deren Gesichtsausdruck Mitgefühl verriet, aber keine Überraschung. Wahrscheinlich hatte sie so etwas erwartet, dachte Ezra. Sein ganzes Leben lang schienen die Leute mit den Dingen gerechnet zu haben, die Ezra zustießen, nur Ezra selbst wurde von den Ereignissen immer völlig überrascht. Was stimmte nicht mit seinem zwischenmenschlichen Radar?

»Aber ich will nicht gehen«, stammelte er. »Ich bin mitten bei der Arbeit. Ich kann sie jetzt nicht unterbrechen.«

»Natürlich kannst du das«, sagte Kimberly unbekümmert und durchquerte die Halle in Richtung Schlafzimmer. »In deiner eigenen Wohnung wirst du wahrscheinlich sogar noch besser arbeiten können. Besonders nach Montag nächster Woche.«

»Was ist denn Montag nächster Woche?«

»Da kommt Laurent vorbei, um sich deine Zimmer anzuschauen. Er ist Innenarchitekt.«

Kimberly hatte die Halle jetzt zur Hälfte durchquert und ihm den Rücken zugewandt.

»Wir werden diesen Teil der Wohnung komplett neu gestalten«, sagte sie über die Schulter, ehe sie in ihrem Schlafzimmer verschwand.

Ezra hörte, wie sie den Schlüssel im Schloss umdrehte.

Er stand immer noch so da, wie der Blitz ihn getroffen hatte, die silberne Uhr in den Händen.

»Das hatte ich befürchtet«, sagte Gertrude, trat auf ihn zu und nahm die Uhr. Sie blickte darauf. »Du solltest versuchen, sie immer am Ring hier oben festzuhalten. Dafür ist er da. Sonst hinterlässt du überall auf dem Silber deine Fingerabdrücke.«


Ezra beendete eine weitere Runde durch den Park. Es war ein grauer Tag und ziemlich kalt, so dass die meisten Bänke mit Blick auf den Fluss frei waren. Auf einer hatte jemand eine ordentlich zusammengefaltete Ausgabe der New York Times liegen gelassen.

Er breitete den Mantel unter sich aus, setzte sich und nahm die Zeitung. Die Titelseite war voll mit den üblichen Schreckensmeldungen. Ein Bombenanschlag in Belfast, Unruhen im Westjordanland, ein politischer Mord in Osteuropa. Doch unten rechts in der Ecke erweckte eine eigenartige Story Ezras Aufmerksamkeit. KIRCHENGLOCKEN LÄUTEN ZU HALLOWEEN? Er las rasch und stellte fest, dass in allen Bezirken von New York kurz nach zehn am Samstagabend die Glocken geläutet hatten. Bevor er zur Fortsetzung auf der Seite zwei des Lokalteils weiterblätterte, ließ er die Zeitung sinken und dachte einen Moment nach. Am Halloweenabend hatte er wie üblich in seinen Räumen gearbeitet, aber nach zehn hatte er eine Pause gemacht. Und ja, jetzt erinnerte er sich, dass er die Glocken über dem Fluss gehört hatte, wie sie unablässig läuteten. Es war ihm merkwürdig vorgekommen, aber er hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Er war zurzeit schon nervös genug, auch ohne sich über Unregelmäßigkeiten und Vorkommnisse da draußen Gedanken zu machen.

Dann blätterte er zum Lokalteil der Zeitung weiter und las den Rest der Story. Es schien immer noch ein ungelöstes Rätsel zu sein, obwohl die Times Meinungen und Kommentare von solch erhabenen Quellen wie dem Diözesanrat, einer Hohepriesterin des Wicca-Glaubens und, basierend auf der Theorie, dass es sich um einen erstaunlich aufwendigen Halloweenstreich gehandelt hatte, von Penn Jillette wiedergab. Ezra glaubte keine Sekunde lang, dass es sich um einen Streich handelte. Er hatte in letzter Zeit zu viel durchgemacht und wusste nur zu gut, dass es Dinge gab, die im Traum nicht ins Weltbild der meisten Menschen passten.

Eine Mutter mit ihrer Tochter an der Hand ging an der Bank vorbei, auf der er saß.

»L’Assemble Generale est ou les delegats viennent a faire le paix l’un avec l’autre«, sagte die Mutter. Das Mädchen lächelte Ezra an, aber er vergaß, das Lächeln zu erwidern, bis sie vorbeigegangen war. Er dachte immer noch verbittert über das nach, was die Mutter gesagt hatte – dass die Vollversammlung der Ort sei, an dem die Nationen zusammenkamen, um Frieden miteinander zu schließen. Was für ein Unsinn. Als er in Jerusalem gelebt hatte, hatte er es stets als äußerst passend empfunden, dass sich das örtliche UN-Büro an dem Ort befand, der seit der Antike als Berg des Bösen Rates bekannt war.

Er blätterte zur ersten Seite des Lokalteils und sah das Bild eines brennenden Backsteingebäudes.

EXPLOSION AN DER NYU.


EIN WISSENSCHAFTLER TOT, EIN WEITERER VERLETZT.

Müßig überflog er den Artikel. Offensichtlich hatte am Samstagabend eine Explosion mit anschließendem Brand in einem Labor des Bio-Gebäudes großen Schaden angerichtet. Während immer noch unklar war, was die Katastrophe ausgelöst hatte, wurde ein Brandschutzexperte mit den Worten zitiert: »Wir untersuchen gerade eine Reihe extrem starker Scheinwerfer, die erst vor kurzem stümperhaft installiert wurden und durch unpassende Sicherungen gesichert waren.« Ein Juniorprofessor war bei der Explosion getötet worden, und ein weiterer Professor, der gerade zu Besuch weilte, wurde schwerverletzt. Ezra wollte gerade weiterblättern und zu dem Rätsel mit den Kirchenglocken zurückkehren, als ihm etwas auffiel, das wahrscheinlich niemandem sonst auffallen würde.

Es war die Übereinstimmung des Zeitpunkts.

Die tödliche Explosion hatte sich etwa gegen viertel nach zehn ereignet, nur eine Minute, bevor die Kirchenglocken zu läuten begonnen hatten. Und während niemand sonst auch nur auf die Idee kam, ein brennendes Gebäude und Glockengeläut miteinander in Verbindung zu bringen, war es genau das, was Ezra momentan die ganze Zeit tat. Er fügte die Dinge zusammen, stellte Verbindungen her, entwarf aus scheinbar nicht zusammengehörenden Fragmenten und Bruchstücken eine logische Geschichte.

Nichts beruhte tatsächlich auf Zufall. Nicht einmal die Tatsache, dass diese Zeitung vollständig auf genau dieser Bank liegengelassen worden war. Damit er sie finden und darin lesen konnte.

Einige Fragen stellten sich ihm: Erstens, hatten diese beiden Ereignisse tatsächlich irgendetwas miteinander zu tun?

Und wenn ja, ging ihn diese Verbindung irgendetwas an? Konnten diese Ereignisse in irgendeiner Weise, wie abseitig und unwahrscheinlich es auch klang, etwas mit seiner eigenen Arbeit zu tun haben?

Er versuchte, gründlich darüber nachzudenken. Versuchte, kühl und rational zu bleiben. In dem, was er tat, lag notwendigerweise ein theologischer Aspekt, und dieser Aspekt würde – oder könnte zumindest – eine Verbindung zum Glockengeläut darstellen. Traditionell wurden die Glocken geläutet, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen, um den Beginn und das Ende eines Tages anzuzeigen, um solche Dinge wie die Hochzeit eines Königs oder die Nachricht eines Schlachtsieges zu verkünden.

Aber im Laufe der Jahrhunderte waren sie auch als Warnung vor einer nahenden Katastrophe geläutet worden. Invasoren vor der Küste. Ein Feuer oder eine Flut. Der schwarze Tod.

Gab es irgendeinen Aspekt bei seiner Arbeit am verschollenen Buch Henoch, der dieses Läuten ausgelöst haben könnte? Was würde Dr. Neumann wohl von solchen Fragen halten? Innerhalb von zwei Sekunden wäre sie damit fertig. Ach, ein weiteres Symptom seines Jerusalem-Syndroms, würde sie behaupten. Ein weiterer Ausdruck der zügellosen Selbstüberhöhung, die wesentlicher Bestandteil seiner allumfassenden Wahnvorstellung sei.

Dabei wusste er Dinge, die sie nicht wusste, er sah Zusammenhänge, die sie niemals begreifen würde. Er setzte die älteste Erzählung der Welt zusammen und übersetzte, langsam und mühselig, die Worte der geheimen Schrift. Von Henoch, dem Vater Methusalems, erfuhr er die Wege des Guten und des Bösen. Es gab eine Schlacht, so hatte er letzte Nacht gelesen, um die Seele jedes Menschen. Eine Schlacht, ausgetragen zwischen zwei Engeln, und der Ausgang des Kampfes würde das Schicksal des Menschen bis in alle Ewigkeit bestimmen. War er dabei, etwas zu enthüllen, das seit vielen Jahrtausenden verschollen gewesen war? Etwas so Fundamentales für das Verständnis des Universums und unseren Platz darin, dass er die Alarmglocken ausgelöst hatte, die dann tatsächlich in der ganzen Stadt geläutet hatten? Selbst Ezra kam das weit hergeholt vor … aber es schien nicht unmöglich zu sein.

Hatte die Stimme ihm nicht ein Ja ins Ohr geflüstert? Hatte sie ihn nicht in der Einsamkeit seines Zimmers gedrängt, weiterzumachen?

Eine Touristengruppe, eindeutig aus dem Nahen Osten, schlurfte an ihm vorbei. Die älteren Frauen trugen schwarze Tschadors und Gesichtsschleier, die Männer, oder zumindest ein paar von ihnen, die arabische Kopfbedeckung. Ihr Reiseleiter plapperte Arabisch mit einem Akzent, der sich für Ezra ägyptisch anhörte. Er hatte sich richtig in Schale geworfen, trug eine sich bauschende Dschellaba und trotz des kalten Wetters offene Ledersandalen. Er ging rückwärts, wobei er der Gruppe das Gesicht zuwandte und mit den Armen wedelte. Mit lauter Stimme erging er sich in allen Einzelheiten über die Vereinten Nationen und alles Mögliche. Als die Gruppe vorbeiging, flatterten ihre Gewänder im Wind, der vom Fluss her wehte. Ezra, der sich viel auf seine Sensibilität einbildete, nahm ihren Geruch wahr, das feine Aroma von Olivenseife und Tamarindensamen, getrockneten Datteln und reifen Feigen, gekochtem Lamm und Pfefferminztee. Unwillkürlich fühlte er sich zurückversetzt in die Straßen der Heiligen Stadt. Die meisten Menschen der Gruppe schlenderten vor ihm entlang, doch ein paar gingen auch hinter der Bank vorbei. Plötzlich fühlte er sich von ihnen umzingelt, einer wabernden Masse aus schwarz gewandeten Gestalten und halb vermummten Männern, und genau wie schon einmal zuvor hörte er eine Stimme etwas in sein Ohr flüstern. Aber dieses Mal schien sie aramäisch zu sprechen. Es klang wie die Worte für: »Bring es zu Ende

Sein Kopf wirbelte herum, aber die Gruppe spazierte einfach nur an ihm vorbei. Niemand schien dem Mann auf der Bank besonders viel Aufmerksamkeit zu schenken. Aber irgendjemand hatte gesprochen! Dieselbe tiefe Stimme, die er zuvor schon einmal gehört hatte. Ezra sprang auf die Füße.

»Wer hat das gesagt?«, verlangte er zu wissen. »Wer hat gerade zu mir gesprochen?«

Niemand antwortete. Ein Mann blickte ihn fragend an, und Ezra sagte: »Waren Sie das? Haben Sie etwas zu mir gesagt?«

Der Mann schreckte zurück, und mehrere Frauen wichen ihm ebenfalls aus. Sie murmelten etwas und kicherten verhalten unter ihren Schleiern, was Ezra nur noch wütender machte. Was sagten sie da? Versuchten sie, ihn irgendwie hereinzulegen?

»Jemand hier hat gerade mit mir gesprochen, und ich möchte wissen, wer es war.«

»Ich versichere Ihnen, Sir«, sagte der Reiseleiter, »niemand aus dieser Gruppe hat etwas zu Ihnen gesagt. Niemand aus dieser Gruppe spricht Englisch.«

»Derjenige hat auch kein Englisch gesprochen«, blaffte Ezra zurück, »sondern Aramäisch.«

Die Haut des Reiseleiters war faltig und hatte die Farbe einer Walnuss. Seine Miene verriet noch größere Verwunderung als zuvor. »Das, Sir, ist ebenfalls nicht möglich, Sir. Wir bedauern sehr, falls wir Sie irgendwie gestört haben«, sagte er und führte die Gruppe weiter. Leise sagte er etwas auf Arabisch zu ihnen, doch Ezra verstand genug von der Sprache, um das Wort majnoon aufzuschnappen, Verrückter.

»Erzählen Sie ihnen, ich sei ein majnoon?«, sagte er. »Wollen Sie behaupten, ich sei verrückt?«

»Bitte entfernen Sie sich, Sir«, sagte der Reiseleiter, »oder ich werde Maßnahmen ergreifen müssen.«

»Sie wollen Maßnahmen ergreifen? Was für Maßnahmen können das schon sein!«

Ezra ging auf den Mann zu, aber ehe er näher herankam, stellten sich ihm plötzlich zwei Sicherheitsleute der Vereinten Nationen in den Weg. »Okay, und jetzt beruhigen Sie sich erst einmal«, sagte der eine.

»Was ist das Problem?«, fragte der andere.

»Einer dieser Leute hat etwas zu mir gesagt«, erklärte Ezra, »und ich will wissen, wer es war.«

»Dieser Mann belästigt uns«, sagte der Reiseleiter und scheuchte rasch die letzten Nachzügler der Gruppe auf die Treppe des Gebäudes zu. »Er sollte unter Arrest gestellt werden!«

»So etwas machen wir nicht in diesem Land!«, schrie Ezra ihn an. »Habt ihr das immer noch nicht kapiert? Ihr seid hier in Amerika! Nicht in irgendeinem mittelalterlichen arabischen Provinznest! Amerika!«

Selbst Ezra wusste nicht, wo diese Wut herrührte. Es war, als hätte sie sich hinter dem schwächsten Damm angestaut, der jetzt unvermittelt brach.

»Ihr Land ist ein Land der Ungläubigen und Teufel«, fauchte der Reiseleiter zurück. Und dann, nachdem er seinen Feind korrekt eingeschätzt hatte, fügte er in deutlichem, aber leisem Arabisch hinzu: »Und der zionistischen Schweinehunde

Ezra stürzte sich auf ihn, die Arme nach der Kehle des Mannes ausgestreckt, doch einer der UN-Sicherheitsleute schlug plötzlich seinen Arm nach unten, während der andere ihn von hinten packte.

»Ich warne Sie«, rief Ezra, »der Gott Israels ist sehr lebendig!«, doch ehe er seinen Gedanken zu Ende führen konnte, wurde die Luft aus seinen Lungen gepresst, und er fand sich bäuchlings auf dem Gehweg wieder. Er hörte, wie einer der Wächter die Araber aufforderte, weiterzugehen, während der andere sein Knie in Ezras schmalen Rücken presste, eine Codenummer in sein Walkie-Talkie murmelte und um sofortige Unterstützung bat.

Wenn er nur genug Luft bekäme, könnte Ezra ihm erklären, dass das nicht nötig sei. Er war bereits bedient, und ihm war nicht nach Kämpfen zumute.

Doch diese Chance bekam er nicht. Als Nächstes wurden seine Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt, und er wurde auf die Füße gezerrt. Ein paar Touristen sahen erschrocken zu, einige machten sogar Fotos, dann wurde er zum Ausgang des Parks zur First Avenue geschleift, wo ein Polizeiwagen mit rotem Blinklicht und quietschenden Reifen zum Stehen kam.

Ein Cop sprang heraus und riss die hintere Tür auf.

»Sie müssen das nicht tun«, brachte Ezra heraus, aber der Cop legte nur die Hand auf Ezras Kopf, drückte ihn nach unten und schob ihn auf die Rückbank.

Krachend schlug die Tür zu. Ezra musste sich bis zu einem Drahtgitter vorbeugen, damit die Handschellen nicht in seine Handgelenke schnitten. Die Sicherheitsleute reckten die Daumen in die Höhe, und der Wagen fuhr rasch vom Bordstein los. Als Ezra aus dem Rückfenster und das Eisengitter schaute, das den Park umgab, konnte er sehen, wie der arabische Reiseleiter hinterhältig über seinen Sieg lächelte. Lächle, wenn du willst, dachte Ezra. Deine Tage sind gezählt … und schwinden rasch.


18. Kapitel

Sobald Raleigh die Galerie verlassen hatte, schob Beth die unvollständigen Pläne für die Weihnachtsfeier in den Ordner und eilte zur Tür hinaus. Sie nahm ein Taxi direkt nach Hause, doch Carter war wie erwartet nicht dort. Die letzte Nacht hatte er im St. Vincent’s Hospital verbracht, und sie vermutete, dass er heute ebenfalls dort bleiben wollte. Sie schnappte sich die kleine Tasche, die sie nach ihrem Ausflug aufs Land gerade ausgepackt hatte, und warf seinen Rasierer, Rasiercreme, frische Socken, Unterwäsche und ein sauberes Hemd hinein.

Im Krankenhaus machte sie den Fehler, das Gebäude durch den Eingang der Notfallambulanz zu betreten. Es war, als sei sie in ein Tollhaus geraten. Dutzende von Menschen, von denen manche noch bluteten, irrten herum, andere waren auf Tragen geschnallt, die im Flur aufgereiht standen wie Flugzeuge auf einem Flughafen, die auf die Starterlaubnis warteten. Über die Sprechanlage gab eine Krankenschwester Namen wieder, forderte diverse Ärzte auf, sich auf der Stelle zu melden, erinnerte Neuankömmlinge daran, dass sie zuerst ihre Formulare ausfüllen mussten und, was das Wichtigste überhaupt war, ihren Versicherungsnachweis bereithalten sollten.

Beth folgte den Schildern und Pfeilen durch mehrere lange Flure bis zum Haupteingang und Empfangsschalter. Dort wurde ihr mitgeteilt, dass Giuseppe Russo auf der Intensivstation im fünften Stock behandelt wurde. Die Tasche mit den Übernachtungssachen in der Hand, nahm sie den Fahrstuhl nach oben.


Verglichen mit der Notaufnahme war der fünfte Stock wie eine Raumstation. Alles war in weißes Licht getaucht, die Geräusche waren gedämpft, die Gänge glänzten, die Türen waren geschlossen. Als sie zum Empfangsbereich außerhalb der eigentlichen Intensivstation kam, sah sie zwei Ärzte, die sich leise über ein Diagramm auf einem Klemmbrett unterhielten. Ein Pfleger schob einen schlafenden Patienten im Rollstuhl, ein großer Mann in einem Mantel, der verdächtig nach einem roten Damenmantel aussah, beugte sich über einen Wasserbrunnen. Auf einem blauen Plastikstuhl saß Carter mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern.

»Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte Beth und stellte die Tasche neben seinem Stuhl ab.

Carter blickte auf. Er war unrasiert, die Augen müde und blutunterlaufen. »Nein, bisher nichts. Er ist immer noch ohne Bewusstsein.«

Beth setzte sich neben ihn, legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Hattest du schon Gelegenheit, mit den Ärzten zu sprechen?«

»Vor ein paar Stunden. Die zuständige Ärztin, Dr. Baptiste, sagte, sie würden mich informieren, sobald es etwas Neues gäbe.«

Beth rieb seine Schulter. »Hat sie irgendetwas gesagt, wann das sein könnte? Ich meine«, sagte sie und suchte nach den richtigen Worten, »glaubt sie, dass Joe heute Nacht wieder zu sich kommt? Oder morgen?« Und obwohl sie es nicht aussprach, dachte sie: Jemals?

Carter schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und streckte die langen Beine von sich. »Darum will ich nicht gehen. Keiner weiß, wann er wieder aufwacht, es kann jeden Moment so weit sein, und ich will sichergehen, dass ich dann da bin.«

Beth hatte gewusst, dass er das sagen würde. »Ich habe dir ein paar Sachen gebracht; ich dachte, du könntest sie vielleicht gebrauchen. Deinen Rasierer, etwas zum Anziehen, das Buch von deinem Nachttisch.«

»Danke. Unten gibt es einen öffentlichen Waschraum. Ich werde mich dort später waschen.«

Schweigend saßen sie da und lauschten dem Gemurmel der Schwestern am Empfangsschalter, dem gelegentlichen Klappern einer zufallenden Tür oder der Stimme aus der Sprechanlage über ihren Köpfen. Beth hatte gehofft, dass Carter bereit sei, nach Hause zu kommen, zumindest für ein paar Stunden, aber sie war nicht überrascht. Sie wusste, dass er sich nicht allein um Joe Sorgen machte. Er fühlte sich verantwortlich für alles, was geschehen war. Den Tod von Bill Mitchell. Joes schreckliche Verletzungen. Was das anging, konnte sie nur beten, dass Joe durchkäme.

»Du weißt«, sagte sie behutsam, »dass ich hierbleibe, wenn du nach Hause gehen und ein paar Stunden schlafen willst. Wenn diese Dr. Baptiste nach dir sucht, rufe ich dich an.«

»Nein, es ist schon in Ordnung. Ich muss hierbleiben.«

Sie wog ihre Worte sorgfältig ab und fuhr dann fort: »Was geschehen ist, ist furchtbar. Aber du musst dir klarmachen, dass nichts davon deine Schuld ist. Du hast nichts falsch gemacht.«

Er reagierte nicht.

»Es war ein Unfall. Ein furchtbarer, unvorhersehbarer Unfall.«

Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Sie wusste, dass er sie gehört hatte, aber sie wusste auch, dass das, was sie gesagt hatte, kaum einen Eindruck hinterlassen hatte. Vielleicht würde er eines Tages in der Lage sein, die Schuldgefühle abzulegen, aber heute, das spürte sie instinktiv, war es dazu noch zu früh.

Die Tür zur Intensivstation öffnete sich mit einem leisen Summen, und eine junge Ärztin steuerte auf sie zu. Sie hatte das Haar zu einem Knoten gebunden, und ihre Haut hatte die Farbe von Zimt. Carter blickte zu ihr auf, mit mehr Grauen als Hoffnung im Blick.

Die Ärztin musste es gesehen haben, denn sie nickte rasch und lächelte ihm kurz zu. »Erwarten Sie nicht zu viel«, sagte sie, »aber Ihr Freund ist wieder bei Bewusstsein.«

Carter brauchte eine Sekunde, um diese Neuigkeit zu verdauen.

»Das ist doch eine gute Nachricht, oder?«, sagte Beth. »Ich meine, wenn er jetzt wach ist und spricht …«

»Ich habe nicht gesagt, dass er schon spricht«, unterbrach Dr. Baptiste sie. »Sind sie eine Verwandte?«, fragte sie Beth. In ihrer Stimme schwang das leichte Trällern eines karibischen Akzents mit.

»Nein, das ist mein Mann«, sagte sie und drückte Carters Schulter. »Wir sind seine Freunde.«

»Die einzigen, die er in diesem Land hat«, fügte Carter hinzu.

»Dann sollten Sie auf jeden Fall versuchen, sich mit seiner Familie in Verbindung zu setzen, wo immer sie lebt. Es kann jederzeit sein, dass jemand Entscheidungen treffen muss.«

»Entscheidungen?«, sagte Beth.

»Über seine Pflege und Behandlung.«

»Können Sie nicht mit Joe selbst reden … über was auch immer?«, fragte Carter.

»Sie müssen verstehen, dass Ihr Freund sich immer noch in einem kritischen Zustand befindet. Wir können nicht darauf zählen, dass er lange genug klar bleibt, um fundierte Entscheidungen zu treffen. Im Moment konzentrieren wir uns lediglich darauf, ihn zu stabilisieren und stabil zu halten. Später, wenn wir die Gelegenheit hatten, alle Verletzungen neu zu beurteilen, werden wir entscheiden, wie wir weitermachen. Er hat Verbrennungen dritten Grades an mindestens fünfundzwanzig Prozent der Körperoberfläche erlitten.«

Verbrennungen dritten Grades? Soviel Beth wusste, waren das die schlimmsten Brandwunden, die möglich waren.

»Aber im Moment«, sagte Dr. Baptiste zu Carter, »wird es ihm wahrscheinlich helfen, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Möchten Sie jetzt zu ihm? Sie dürfen aber nur ein paar Minuten bleiben.«

»Ja, auf jeden Fall«, sagte Carter und stand auf.

Beth wollte sich ebenfalls erheben, doch Dr. Baptiste bedeutete ihr, sitzen zu bleiben.

»Tut mir leid, aber wir können nur einen Besucher auf einmal auf die Station lassen.«

»Ich bleibe mit der Tasche hier«, sagte Beth zu Carter. »Geh schon.«

Dr. Baptiste ging voran, und Carter verschwand hinter den Glastüren der Intensivstation.

Fast sofort stellte Carter fest, dass die Luft sich hier kälter und frischer anfühlte als draußen auf dem Flur. Ein leises stetiges Summen war zu hören, das von den ganzen Maschinen und Geräten herrührte, die neben den Betten der verschiedenen Patienten standen. Bei der Stationszentrale, einem halbrunden Tresen mit schwach leuchtenden Monitoren, reichte Dr. Baptiste Carter eine Gesichtsmaske aus Papier.

»Wir müssen sicherstellen, dass die Situation nicht noch durch eine Infektion verkompliziert wird«, sagte sie. Carter zog die Maske über Mund und Nase. »Sie dürfen Mr Russo auch auf keinen Fall berühren. Keine Umarmung, kein Händeschütteln, nichts.«

Dann wandte sie sich um, und Carter folgte ihr zum anderen Ende der Station. Als sie sich dem letzten Bett näherten, das fast vollständig durch einen blickdichten Vorhang verdeckt war, spürte er sein Herz rasen. Wie würde Joe aussehen? Würde er klar genug sein, um Carter zu erkennen? Würde Carter selbst seinen alten Freund wiedererkennen, egal in wie vielen Bandagen er eingewickelt war? Er versteifte sich.

Dr. Baptiste stand bereits neben dem Bett und überprüfte einen der Infusionsschläuche. Davon gab es einige, zusammen mit einer ganzen Menge anderer Kabel und Schläuche, die mit den Monitoren und Maschinen neben und über dem Bett verbunden waren. Joe selbst war kaum zu sehen. Ein Laken schien zeltförmig ein paar Zentimeter über seinem Körper aufgespannt zu sein, nur sein Kopf lugte oben heraus. Konnte es sein, dass selbst der Stoff zu schmerzvoll auf seiner verbrannten Haut war? Er trug eine Art Papierhut, der wie eine Krone geformt war, und das Gesicht glänzte von der vermutlich antiseptischen Salbe, mit der es bedeckt war. Die Augen waren riesig und dunkel. Sein Blick war, wie es Carter schien, erfüllt mit dem frustrierten Bedürfnis, sich auszudrücken. Sobald Carter an das Bett herantrat, fixierten ihn die Augen.

»Hey, Joe«, sagte Carter leise. Himmel, was ist in dem Labor passiert? Was sollte er als Nächstes sagen? Er war immer noch betroffen, seinen Freund in diesem Zustand zu sehen, aber er wollte seine Reaktion nicht zeigen. Er war dankbar für die Maske vor seinem Gesicht.

»Es tut mir leid«, sagte Carter einfach. Er wollte nach Joes Hand greifen, doch Dr. Baptiste erinnerte ihn rasch: »Keine Berührungen, bitte.«

»Tut mir leid, ich hatte es vergessen.«

»Und ich fürchte, Ihr Freund ist im Moment nicht in der Lage, Ihnen zu antworten.«

Warum nicht?, wunderte Carter sich. Er war ziemlich eindeutig bei Bewusstsein. Doch dann sah er den Atemschlauch zwischen Joes verbrannten und abblätternden Lippen.

»Wenn er so weit ist«, sagte Dr. Baptiste, »kann er versuchen, das hier zu benutzen.« Sie reichte Carter eine weiße glänzende Tafel und einen Filzstift. »Aber er steht unter so starken Beruhigungs-und Schmerzmitteln, dass er sich vielleicht nicht zusammenhängend ausdrücken kann.« Sie überprüfte noch ein paar letzte Einstellungen, dann sagte sie: »Bleiben Sie nicht länger als fünf Minuten«, und ging.

Sobald sie verschwunden war, ächzte Joe leise und warf einen Blick auf die kleine Tafel. Carter hielt sie ihm hin, und Joe hob eine Hand. Die Fingernägel waren nur noch schwarze Halbmonde. Mühsam ergriff er den Filzstift.

Während Carter die Tafel festhielt, schrieb Joe ein Wort in unpassend fröhlicher grüner Farbe. Als er den Stift fallen ließ, drehte Carter die Tafel um und las Bill?

Bill Mitchell. Carter schüttelte den Kopf. »Er hat es nicht geschafft.«

Joe blinzelte einmal mit den großen Augen. Dann griff er erneut zum Stift und kritzelte das Wort Laser auf die Tafel.

Was sollte mit dem Laser sein? »Der ist ebenfalls hinüber. Das Feuer hat alles zerstört.« Natürlich einschließlich des Fossils. Doch wenn Carter es irgendwie vermeiden könnte, würde er dieses Thema im Moment meiden.

Doch Joe schüttelte vorsichtig den Kopf und tippte erneut auf das Wort.

Der Laser? Dann begriff Carter. »War der Laser an, als das Feuer ausbrach?«

Joe nickte.

»Hat der Laser es verursacht?«

Er nickte noch einmal.

Aber Joe hätte sich gehütet, den Laser ohne Carters Hilfe in Gang zu setzen. Er hatte schon Probleme gehabt, einen Sinn in die englische Beschreibung im Handbuch zu bringen. Carter wischte die Tafel sauber. Wollte er damit sagen, dass Bill, Bill Mitchell … »Hat Mitchell mit dem Laser gearbeitet?«

Joe schloss zustimmend die Augen und öffnete sie erneut.

»Er ist irgendwie auf eigene Faust ins Labor gekommen?«

Joe nickte fast unmerklich, dann nahm er den Stift und kritzelte Fossil.

So viel zu Carters Hoffnung, das Thema zu vermeiden. »Alles im Labor«, wiederholte Carter langsam, »wurde zerstört.«

Joe schüttelte den Kopf, und dieses Mal ließ er Carter nicht aus den Augen.

»Nicht?« Was konnte er damit meinen? »Hast du es geschafft, irgendetwas zu retten?« Carter dachte daran, dass sie bereits winzige Proben vom Fossil und dem Felsen genommen hatten. Proben, die sich in sicherer Verwahrung befanden und in einem anderen Labor verschiedenen Tests unterzogen wurden. Aber Joe schien auf etwas anderes hinauszuwollen. »Tut mir leid, Joe, aber ich kann dir nicht folgen.« Vielleicht begannen die Beruhigungsmittel wieder zu wirken.

Joe griff erneut nach dem Stift. Dieses Mal zitterte seine Hand ein wenig, als er das Wort lebendig schrieb.

Was bedeutete das? Carter konnte nur annehmen, dass Joe von sich selbst sprach. »Ja, du lebst«, sagte er mit gespielter Fröhlichkeit, »und eines Tages, ob du es glaubst oder nicht, wirst du wieder all das machen, was du immer gemacht hast.« Carter fragte sich, ob das stimmte. »Selbst Tauchen.«

Aber der Ausdruck in Joes Blick wurde nur noch unruhiger. Carter hatte ihn nicht richtig verstanden. Mit der Spitze des Stifts tippte Joe auf das Wort Fossil, dann auf lebendig.

Als Carter nicht reagierte, wiederholte er das Ganze mit mehr Nachdruck.

Nun konnte es kein Missverständnis mehr geben, egal wie unglaubwürdig es war. »Versuchst du mir zu sagen, dass das Fossil gelebt hat?«

Schon wieder falsch. Joe stöhnte und runzelte die Stirn. Die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er den Stift ein weiteres Mal aufnahm und etwas zwischen die beiden anderen Wörter auf der Tafel kritzelte. Als Carter die komplette Nachricht las, lautete sie: Fossil ist lebendig.

Carter wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich heute noch weiter mit Joe zu unterhalten. Sein Freund musste unter dem Einfluss der Medikamente stehen. Und das war wahrscheinlich auch das Beste für ihn.

»Okay«, sagte Carter. »Ich habe verstanden.« Er nickte zur Bestätigung. »Die Ärztin hat gesagt, dass ich nicht länger als fünf Minuten bleiben darf, aber morgen früh komme ich als Erstes hierher.«

Carter legte die Tafel und den Stift auf den Nachttisch neben dem Bett. Als er Joe erneut anschaute, sah sein Freund erschöpfter und gequälter aus als je zuvor. Carter befürchtete, dass er mit seinem Besuch mehr Schaden angerichtet als Gutes getan hatte.

»Mach dir keine Sorgen um das Fossil oder das Labor oder irgendetwas«, sagte er. »Versuch jetzt einfach nur zu schlafen.«

Carter wandte sich vom Bett ab. Obwohl er den Gedanken hasste, musste er zugeben, dass es eine Erleichterung war, Joe nicht länger anblicken zu müssen, und sei es auch nur für eine Sekunde. Am Vorhang schaute er noch einmal zurück. Russo hatte den Blick in seine Richtung gelenkt. Zum Abschied hob er die Hand, aber es gab keine Reaktion. Und er hatte den Eindruck, dass Russo ihn nicht einmal sah. Er starrte an ihm vorbei, durch ihn hindurch, in etwas sehr Dunkles und sehr Tiefes.


19. Kapitel

Der Leichnam war bewegt worden. Im Schatten verborgen hatte er zugesehen, wie er zugedeckt und hinausgetragen wurde. Was würden sie mit ihm machen? Warum taten sie all das?

Er wurde unter die blitzenden Lichter gelegt und eilig fortgebracht.

So viele von ihnen. Er konnte es immer noch nicht begreifen. Auf dieser Welt wimmelte es von Leben, überall um ihn herum.

Er atmete ein, schmeckte die Luft. Geschmäcker und Gerüche, die er nicht kannte, die er noch nicht wiedererkannte. Aber bald würde er es können. Er lernte bereits.

Von einem dunklen Winkel aus beobachtete er den Ort, an dem er freigelassen worden war. Wenn er an dieser Stelle freigekommen war, waren vielleicht noch andere hier gefangen.

Andere wie er.

Er hatte zugesehen, wie Männer, immer mehr von ihnen, gekommen und gegangen waren. Sie trugen Werkzeuge und Lichter und überfluteten den Ort mit Wasser. Schließlich wurde der Rauch weniger. Durch Beobachtung lernte er rasch. Und begriff schnell, was sie taten.

So ging es immer weiter, die ganze Nacht lang, und dann ging die Sonne auf, und er hatte sich erneut zurückgezogen, noch weiter in den dunklen Eingang. Er hatte den roten Mantel vor sein Gesicht gezogen. Und gewartet. Einen Wimpernschlag lang, so schien es, hatte er gewartet. Nicht länger. Und dann war es wieder dunkel.

Während seiner Wache hatte er einen Mann kommen sehen, an den Ort, an den jetzt keiner mehr kam, und er hatte ihn wieder gehen sehen. Der Mann war davongerannt, sein Geruch voll Furcht und Trauer, und weil es wieder Nacht war, hatte er ihm mit Leichtigkeit folgen können. Durch die Straßen. Die Lichter. Die Menschen. So viele von ihnen. Und zu einem Ort nicht weit entfernt.

Wo der andere, wie er jetzt wusste, festgehalten wurde.

Derjenige, dem gesagt worden war, sein Leiden sei ein Geschenk.

Derjenige, der noch am Leben war.

Waren das seine Feinde, fragte er sich, oder seine Freunde?

Die Luft. Die Luft hier war schwer und roch stark. Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein Zaun mit verdrillten Drähten, gleich einem Käfig, und hinter den Drähten war ein anderer Ort – ein Gebäude. Niemand war darin, das wusste er. Es war aus Steinen gemacht, rot wie sein Mantel, hatte Öffnungen, die mit Holz und glitzerndem, zerbrochenem … Glas bedeckt waren. Glas, das war es.

Er lernte. Er hatte das Wort gehört, die Männer an dem Ort, an dem er befreit worden war, hatten es benutzt. Er hatte nur beobachtet … und zugehört. Einst war Sprache eine Gabe gewesen, die seinesgleichen gespendet hatten. Jetzt, sinnierte er, wurde sie ihm zurückgegeben. Genau so sollte es sein. Es passte.

Die Dämmerung begann sich über den Himmel auszubreiten. Er wandte sich den verdrillten Drähten zu und zog sie auseinander. Mit den schmalen, nahezu perfekten Fingern, an dem nur das Ende des Mittelfingers seiner rechten Hand fehlte. Dann stieg er durch das Loch, das er geschaffen hatte, und in Erde und Wasser. Matsch. Er erklomm die zerbröckelnden Stufen und spähte hinein, durch die rauen Bretter, welche die Fenster verschlossen. Im Inneren sah er Leere. Schatten. Dunkelheit. Einsamkeit.

Alles davon zog ihn an.

Doch noch mehr als das, war es vor allem die Luft an diesem verlassenen Ort, die ihm behagte. Die Luft war alt und erfüllt von Gerüchen, die er kannte … von Blut, Tränen und Tod. Jahrelang war sie davon getränkt worden.

Natürlich bedeutete das nichts im großen Ablauf der Welt. Überhaupt nichts.

Aber in diesem Moment war es gut genug, in dieser seltsamen Welt, in der er erwacht war. Dieser Ort konnte ihm als … Zuflucht dienen. Er lächelte. Das war ein gutes Wort, ein neues Wort, aufgegriffen aus der ihn umgebenden Luft.

Es gab so vieles, sinnierte er, das er haben wollte. Und er hatte vor, es sich zu nehmen.


20. Kapitel

Carter hatte nie zuvor eine Trauerrede geschrieben, schon gar nicht für jemanden, den er so wenig gekannt hatte wie Bill Mitchell. Was es noch schwerer machte, war natürlich die Tatsache, dass er ihn nicht besonders gemocht hatte. Und jetzt war es seine Aufgabe, Bills Tugenden zu loben und, so vermutete er, über die vielversprechende Zukunft zu sprechen, die vor ihm gelegen hatte. Das Labor, in dem der Juniorprofessor ums Leben gekommen war, hatte Carter persönlich eingerichtet, und aufgrund der Umstände seines Todes und der Zeitungsartikel wurde allgemein angenommen, dass sie nicht nur Arbeitskollegen, sondern auch gute Kumpel gewesen waren. Nachdem Mitchells kurzes Leben ein so entsetzliches Ende genommen hatte, war es völlig unmöglich, dass Carter etwas anderes behauptete.

Das letzte Mal hatte er seinen dunkelblauen Anzug zu dem Fakultätsdinner getragen, bei dem er offiziell den Kingsley-Lehrstuhl übernommen hatte. Bei dieser Gelegenheit war er schon nervös genug gewesen, doch zumindest hatte niemand von ihm verlangt, mehr zu tun, als sich auf ein Podium zu stellen, gnädigerweise eine Ehrenplakette entgegenzunehmen und den versammelten Professoren und Verwaltungsangestellten für die ihm erwiesene große Ehre zu danken. Jetzt musste er nicht nur eine Rede halten, er musste auch dafür sorgen, dass die Erinnerung an einen Kerl in Ehren gehalten wurde, der sich selbst umgebracht und gleichzeitig Carters Freund bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hatte. Und das alles nur, weil er seine Finger nicht von Apparaten lassen konnte, von deren Bedienung er keine Ahnung hatte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich je damit fertig werde«, hatte er Beth anvertraut.

»Du musst aufhören, so zu denken«, hatte sie geantwortet und versucht, ihn zu beruhigen. »Es war ein Unfall. Ein furchtbarer Unfall, und niemand hat einen höheren Preis dafür gezahlt als Bill Mitchell.«

»Erzähl das Joe.«

Carter hatte sich ein paar Notizen über Mitchells Begeisterung für seine Arbeit gemacht, die Hingabe, mit der er die Studenten an der NYU unterrichtet hatte, seine Vorliebe für Rap-Musik, und er hoffte, dass er das alles an Ort und Stelle zu einem überzeugenden Ganzen würde zusammenbasteln können. Würde er auf einer Kanzel stehen? Hinter einem Rednerpult? Wo?

Fast in letzter Minute verließen sie die Wohnung, und als sie das Bestattungsinstitut der O’Banion Brothers erreichten, hatte sich in der Gedenkkapelle bereits eine erkleckliche Anzahl Trauergäste eingefunden. Carter wurde Bills Eltern vorgestellt, mit denen er bereits am Telefon gesprochen hatte. Sie waren ein phlegmatisches Paar aus dem Herzen von Queens und wirkten verständlicherweise noch völlig verstört. Bills Witwe Suzanne stellte ihm noch weitere Familienmitglieder vor. Anschließend nahm sie ihn beiseite und dankte ihm dafür, dass er sich bereit erklärt hatte, die Trauerrede zu halten.

»Ich weiß, dass Bill sehr zu Ihnen aufgeblickt hat«, sagte sie. Sie war eine blasse Blondine, an diesem Tag womöglich noch blasser als sonst, mit fast unsichtbaren Wimpern. »Er sprach immer von Ihrer Arbeit auf Sizilien, und wie Sie es geschafft haben, sich einen Namen zu machen.«

Jetzt fühlte sich Carter noch mieser.

»Und ich weiß, dass er sich auf den Tag gefreut hatte, an dem Sie beide zusammen an einem Projekt arbeiten würden.« Eine Träne erschien in ihrem Auge, und sie tupfte sie mit einem zusammengeknüllten Taschentuch weg. »Ich schätze, das war es, was diese Katastrophe ausgelöst hat. Er konnte einfach nicht warten.« Die Tränen begannen zu fließen. »Das war so typisch für Bill. Er konnte nie auf irgendetwas warten.«

Ein gequälter Schluchzer schüttelte sie, und Carter legte ihr instinktiv den Arm um die Schultern, was es nur noch schlimmer zu machen schien. Ehe er recht wusste, was er tat, hatte er sie an sich gezogen, und sie schluchzte in sein Jackett. Beth warf ihm einen mitfühlenden Blick zu und schlenderte davon, um mit einem der anderen Fakultätsmitglieder zu reden, die zur Trauerfeier gekommen waren. Ein paar Minuten später bat der Bestatter, zu Carters großer Erleichterung, die Trauergäste, Platz zu nehmen.

Ganz vorn in der kleinen Kapelle stand der Sarg auf einer mit rotem Stoff behängten Tragbahre. Der Deckel war natürlich geschlossen. Carter hatte gehört, dass Mitchells Körper von der Explosion in Stücke gerissen worden war. Einige Teile waren, ebenso wie Stücke seiner Kleidung oder seine Schuhe, überhaupt nicht wiedergefunden worden. Als Suzanne stockend ins Mikrophon sprach, das am Rednerpult befestigt war, fragte Carter sich, wie viel von ihrem Mann genau eingesammelt und wie die Teile für die Beerdigung vorbereitet worden waren. Er begriff, dass es makaber war, was er da tat, aber angesichts seines Berufs war es vielleicht auch nicht weiter überraschend. Knochen waren sein Job, sogar sein Spitzname bezog sich darauf, und vielleicht war es die einzige Möglichkeit, mit so etwas Bizarrem umzugehen, indem er es mit dem gewohnten Abstand betrachtete.

Nachdem Bills Witwe fertig war, stand sein Vater auf, um ein paar Worte zu sagen. Langsam las er sie von einem zerknitterten Stück Papier ab, und Carter hatte den Eindruck, dass er sie ebenso mühevoll aufgeschrieben hatte. Er war nicht der Typ, um über seine Gefühle oder Erinnerungen zu sprechen, und es nun bei der Trauerfeier seines eigenen Sohnes vor all diesen Fremden tun zu müssen, war sicherlich mehr, als er bewältigen konnte.

Carter war als Nächster an der Reihe, und er verstand seine Aufgabe so, dass er für die große Welt sprechen und allen versichern sollte, dass Bill auch in der akademischen Welt respektiert und bewundert worden war. In den heiligen Hallen der Wissenschaft, in denen er gehofft hatte, sich einen Namen zu machen. Als Carter das Podium betrat, dachte er, dass er dank Bills Frau endlich ein Thema für seine Rede gefunden hatte. Als sie gesagt hatte, dass Bill niemals warten konnte, dass er stets versucht hatte, die Dinge zu beschleunigen, hatte sie ihm ein Stichwort geliefert, mit dem er alles andere verknüpfen konnte.

Bill Mitchell, begann Carter, sei ein junger Mann in ständiger Eile gewesen. »Er hatte es bereits weit gebracht. Er war eines der jüngsten Mitglieder des Fachbereichs und zweifelsohne das wissbegierigste, und er war bereits dabei, in Rekordgeschwindigkeit noch größere Leistungen zu vollbringen.« Während er sprach, erwärmte er sich langsam für seine Aufgabe. Je länger er sprach, desto lieber mochte er den armen Kerl. Außerdem stellte er fest, dass die Erfahrung, eine Trauerrede zu halten, einer Vorlesung vor Studenten im Hörsaal verdächtig ähnelte. Mittlerweile war das Reden in der Öffentlichkeit für ihn zur zweiten Natur geworden. Während er aus dem Stegreif auf die vielen Tugenden und Erfolge von Bill Mitchell zu sprechen kam, konnte er sich sogar in der Kapelle umschauen und registrieren, wer alles da war, wen er kannte und wen nicht.

Eine Menge Leute aus dem Fachbereich waren gekommen, einschließlich des Leiters Stanley Mackie, zusammen mit ein paar anderen Gesichtern, die er hin und wieder auf dem Campus gesehen hatte. Dann waren da Mitchells Verwandte und Freunde, die er natürlich nicht kannte. Ein Typ, der zu keiner der beiden Gruppen zu gehören schien, saß ganz für sich allein auf einer der letzten Bänke. Er trug einen zerknitterten blauen Anzug sowie einen schwarzen Rollkragenpullover und sah aus, als hätte er seit einer Woche nicht geschlafen. Er hatte etwas so Feierliches und Zurückhaltendes an sich, dass Carter nach genauerem Nachdenken zu dem Schluss kam, dass er für das Bestattungsinstitut arbeiten musste. Er hatte das Aussehen eines professionellen Trauergastes.

Carter beendete seine Rede mit den Worten, dass er Bills Gegenwart im Labor der Fakultät immer vermissen würde, und »ohne Bill, der mich stets auf dem Laufenden hielt, werde ich nie wieder wissen, wer gerade an der Spitze der aktuellen Musikcharts steht«. Er sagte es mit einem traurigen, wehmütigen Lächeln, das von mehreren Leuten in den Bankreihen erwidert wurde. Dann faltete er seine Notizen zusammen und verließ das Podium. Dabei bemerkte er, dass der Typ ganz hinten aufstand und leise die Kapelle verließ. Vielleicht hatte er noch andere Pflichten, oder er musste eine andere Trauerfeier mit seiner tieftraurigen Anwesenheit beglücken. Carter nahm wieder Platz, und Beth nickte ihm verstohlen zu, um ihn wissen zu lassen, dass er seine Sache gut gemacht hatte.

Nachdem die Trauerfeierlichkeiten vorüber waren, begaben sich alle in das Vestibül, wo Kaffee und Kuchen bereitstanden. Carter fand sich Ellenbogen an Ellenbogen neben Stanley Mackie wieder, der seine Tasse unter den Zapfhahn einer silbernen Kaffeemaschine hielt. Während der Kaffee lief, sagte er: »Freundliche Worte, aber ein schwacher Trost.«

Carter wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er hatte bereits persönlich mit dem Fachbereichsleiter gesprochen, doch er hatte keine Ahnung, wie viele Scherereien ihm noch bevorstanden.

Mackie hob seine Tasse und starrte Carter über den Rand hinweg an. »Das Büro des Unipräsidenten hat mich gebeten, einen unterschriebenen schriftlichen Bericht des Unfalls einzureichen. Ich werde mich um das Begleitschreiben kümmern, aber ich möchte, dass Sie den Bericht schreiben und in allen Einzelheiten darlegen, was Sie eigentlich in Ihrem sogenannten Labor getrieben haben und was dabei schiefgegangen ist.«

Er hatte auch schon in früheren Diskussionen von Carters »sogenanntem Labor« gesprochen, und Carter merkte, dass Mackie sich von dem ganzen Projekt distanzierte. Auf einmal hatte Carter das vollkommen allein ausgebrütet, und er, der Leiter, hatte kaum etwas davon mitbekommen. Im Stillen fragte Carter sich, wie Mackie die Ausgaben aus dem Geldtopf des Fachbereichs erklären wollte, für die Scheinwerfer, den Transport des Lasers und so weiter. Doch die belastenden Dokumente waren vermutlich längst vergraben, geschreddert und gelöscht. In seinem Begleitbrief würde Mackie zweifelsohne jeden Rest von Verantwortung abstreiten oder verschleiern. Am Ende würde Carter derjenige sein, an dem alles hängenblieb.

»Ich will den Bericht bis nächsten Mittwoch in meinem Büro haben«, sagte Mackie und entfernte sich, als wollte er nicht dabei gesehen werden, dass er zu viel Zeit in Carters Gesellschaft verbrachte.

Obwohl er jetzt eigentlich einen ordentlichen Schluck aus der Bar hätte gebrauchen können, füllte Carter seine Tasse mit Kaffee aus der Kaffeemaschine.

»Sie haben eine gute Rede gehalten, Professor.«

Noch ehe er sich umgedreht hatte, wusste Carter, dass es Katie Coyne war, seine Musterschülerin. Er hatte sie in der Kapelle gesehen.

»Danke. Ich hoffe, ich muss so etwas nie wieder machen.«

Sie trug einen Jeansrock und ein sorgfältig gebügeltes Arbeitshemd. Vielleicht war es das ordentlichste Outfit, das sie zusammenbekam.

»Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte er.

»Bill Mitchell war letztes Semester der Tutor in einem Seminar, das ich belegt hatte.«

Das hatte Carter nicht gewusst.

»Deshalb denke ich, dass ich ihn ziemlich gut kannte. Ich war sogar auf seiner Halloweenparty und habe mich dort mit Ihrem Freund, Professor Russo, unterhalten.« Sie blickte auf ihre Füße hinunter und sagte dann zögernd: »Wie geht es ihm? Ich habe gehört, dass er bei dem Feuer ziemlich schwer verletzt wurde.«

»Ja, das stimmt. Er liegt im St. Vincent’s Hospital, auf der Intensivstation.«

»Wird er wieder gesund?«

»Ja, er wird durchkommen. Aber es wird eine ganze Weile dauern.«

»Können Sie ihm Grüße von mir ausrichten? Ich meine, wenn er sich überhaupt an mich erinnert. Und wenn er wieder fit genug ist, glauben Sie, er würde sich freuen, wenn ich vorbeikäme und ihm einen Besuch abstattete?«

»Das wäre großartig. Ich weiß, dass er sich freuen würde.« Dass Katie seine klügste Studentin war, hatte er schon immer gewusst, aber jetzt ahnte er, dass sie auch die netteste war.

Beth machte ihm von der anderen Seite des Raumes aus Zeichen, wo sie mit einem von Carters Kollegen aus der Fakultät sprach. Mit dem Mund formte sie die Worte Sollen wir gehen?, und Carter nickte. Er nahm einen letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse auf den Tisch. »Ich sehe Sie morgen«, sagte er zu Katie. Sie saß in seiner Frühvorlesung.

Doch auf dem halben Weg die Treppe hinunter lauerte ihm Bills Frau, oder besser gesagt Witwe, auf. »Ich hasse es, das zu fragen«, sagte sie, »aber hätten Sie vielleicht noch Zeit, mit zum Trauergottesdienst zu kommen?«

Carter war sich nicht sicher, wovon sie sprach – war er nicht gerade bei einer Trauerfeier?

»Die eigentliche Beerdigung«, sagte sie. »Sie findet in einer halben Stunde statt und wird nicht länger als fünfzehn Minuten dauern.«

Beth murmelte Carter zu: »Ich muss zurück zur Galerie, oder Raleigh bringt mich um.«

»Ich verstehe«, sagte Suzanne ernst zu ihr, »und vielen Dank, dass Sie gekommen sind.« Dann wandte sie sich erneut an Carter. »Aber Bills Familie war von Ihrer Rede so gerührt. Ich weiß, dass es ihnen eine Menge bedeuten würde, wenn Sie dabei wären. Sie könnten mit uns zum Friedhof fahren.«

Sie deutete auf eine Mietlimousine, die bereits am Straßenrand wartete.

Carter fühlte sich in der Falle. Wie sollte er so eine Bitte abschlagen?

Beth beantwortete die Frage für ihn. »Wir sehen uns dann zu Hause«, sagte sie. »Ich bin gegen halb acht wieder da.«

Während Beth die Straße überquerte, um ein Taxi heranzuwinken, das sie zur Galerie bringen würde, wurde Carter genötigt, zu Suzanne und Bills Eltern in die wartende Limousine zu steigen. Erst als er eingekeilt auf der Rückbank saß und der Wagen anfuhr, fragte er sich, wo der Friedhof sich wohl befand. Sein Herz sank, als Bills Dad davon erzählte, wie es war, als Bill in Forest Hill aufgewachsen war. Dort hatte er Autofahren gelernt, auf den ruhigen Straßen des örtlichen Friedhofs. Als der Fahrer der Limousine den Midtown Tunnel ansteuerte, fand Carter sich damit ab, dass er nach Queens, irgendwohin weit draußen unterwegs war.

Die Fahrt dauerte gar nicht so lange, aber Carter kam es vor wie eine Ewigkeit. Schließlich passierten sie das Tor des Greenlawn Friedhofs und fuhren zu einer offenen Grabstelle, die zwischen diversen anderen bereits belegten Gräbern eingezwängt war. Carter konnte es kaum abwarten, von der Rückbank zu kriechen, sich zu strecken und die frische Luft zu atmen. Obwohl er sich auf einem Friedhof befand.

Ein paar Wagen hielten hinter ihnen an, und Leute vom Bestattungsinstitut stiegen aus. Carter wusste nicht, wie viele dieser Beileidsbekundungen er noch ertrug, und entfernte sich ein paar Schritte, um Kopf und Lungen freizubekommen. Der Boden war festgestampft, und das Gras, das noch übrig war, war braun und verkümmert. Bei flüchtiger Musterung schienen die Grabsteine allesamt irische oder italienische Familiennamen zu tragen, manche hatten Sterbedaten vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf einer kleinen Anhöhe blieb er stehen und sah sich um. Kilometerweit erstreckte sich der Friedhof in alle Richtungen. Hier und dort standen verstreut ein paar schwarze Bäume, deren nackte Zweige verloren über marmornen Mausoleen hingen. Nicht weit von ihm entfernt legte eine ältere Frau einen Kranz auf einem Grabstein nieder. Im Licht der späten Nachmittagssonne hob sich in der Ferne eine hochgewachsene Gestalt mit rotem Mantel vom Horizont ab. Sie verschwand hinter einem massiven Grabstein, auf dem ein trompetender Engel stand. Der Wind seufzte, hob das tote Laub an und blies es gegen Carters Beine.

Er sollte besser umkehren. Nicht, dass irgendjemand noch glaubte, er würde der eigentlichen Beerdigung nicht beiwohnen wollen.

Unten am offenen Grab war der Sarg auf eine Art mechanische Vorrichtung gestellt worden, die ihn in die Grube senken würde. Der Priester, der jetzt einen schwarzen Überzieher und Galoschen trug, stand am einen Ende des offenen Grabes. Eine weiße Stola lag um seinen Hals drapiert, und in der Hand hielt er ein Buch mit dem Titel Die häufigsten Gebete. Suzanne, Bills Eltern und mehr als ein Dutzend Leute hatten sich versammelt und stampften gelegentlich mit den Füßen auf, um sich warm zu halten. Der harte karge Boden schien die Kälte regelrecht abzustrahlen.

Der Priester dankte ihnen allen dafür, dass sie gekommen waren. Dann, als spürte er ebenfalls die Auswirkungen des Wetters, öffnete er rasch das Buch und begann zu lesen. Während er sprach, hielt Carter den Kopf gesenkt, aber er konnte es sich nicht verkneifen, hin und wieder aufzuschauen. Die meisten Trauergäste hielten den Kopf gesenkt und den Blick zu Boden gerichtet, doch einige starrten auch einfach in die Ferne. Bills Mom betete leise, aber innig, die Worte mit, die der Priester laut vorlas. Glaube, dachte Carter nicht zum ersten Mal, musste eine wunderbare Sache sein. In Momenten wie diesen musste er eine ungeheure Hilfe sein. Aber das war etwas, das er in seinem Leben nie gekannt hatte, und er wusste, dass er es nie erleben würde. War es nicht Kardinal Newman gewesen, der gesagt hatte, wenn die Kirche dich mit sechs Jahren kriegt, hat sie dich für den Rest deines Lebens? Wenn das stimmte, war Carter außer Gefahr. Keine Kirche, egal welcher Richtung, hatte ihn bisher in die Finger bekommen.

Der Priester las immer noch, in einem gleichmäßigen, wenn auch etwas hastigen Rhythmus. Erst jetzt bemerkte Carter die schwarze Limousine, die auf der anderen Seite der Böschung stand. Der Fahrer, ein stämmiger, älterer Mann, saß auf dem Vordersitz und blätterte in einer Zeitung. Weder diesen Mann noch den Wagen hatte Carter zuvor auf der Trauerfeier gesehen.

»Erde zu Erde, Asche zu Asche …«, sagte der Priester, und diese Worte hatte selbst Carter schon oft gehört.

Bills Mom sprach sie laut mit. Ihr Mann hatte seinen Arm schützend um ihre Schultern gelegt.

»Staub zu Staub; in der sicheren Gewissheit …«

Irgendwann auf dem Friedhof zu landen, dachte Carter. Aber wenn das ein Trost war …

»… der Wiederauferstehung zum ewigen Leben.« Der Priester schloss das Buch und sagte: »Amen.«

Die anderen murmelten ebenfalls »Amen«. Bills Mom stieß einen gedämpften Klagelaut aus, und ihr Mann drückte sie an sich. Jemand gab das Zeichen, und Stück für Stück wurde der Sarg in die Erde hinabgelassen. Unwillkürlich fühlte Carter sich an die Ausgrabungen in der Knochengrube auf Sizilien erinnert. Die Erde dort hatte ausgesehen wie hier, die Farbe von nassem Kaffeesatz, und am Boden, ebenfalls wie hier, lagen nur Knochen.

Eine Minute später war alles vorbei. Die Trauergäste verabschiedeten sich voneinander und zerstreuten sich. Suzanne kam zu Carter herüber und sagte: »Sie können mit der Limousine zurück in die Stadt fahren, aber wir müssen zuerst zum Haus von Bills Eltern und sie dort rauslassen.«

Es war Carter gar nicht in den Sinn gekommen, dass nicht jeder direkt zurück nach Manhattan fahren würde, und sein erster Gedanke war: Wo bekomme ich ein Taxi her? Innerhalb des Friedhofs war das natürlich unmöglich, und er hatte keine Ahnung, wo er sich eigentlich befand.

»Ja, sicher«, murmelte er und überlegte immer noch, welche andere Möglichkeit er hatte. »Aber ich will die Familie wirklich nicht stören. Sie wollen jetzt sicherlich allein sein.« Er suchte bereits mit Blicken die übriggebliebenen Autos ab, um zu sehen, ob er vielleicht bei irgendwem mit zurück in die Stadt fahren könnte. Ein grauer Toyota fuhr gerade los, und der einzige Wagen, der noch übrig war, war der schwarze Lincoln. Ein junger Mann stand jetzt daneben. Es war der Typ von der Trauerfeier, der so aussah wie ein professioneller Trauergast, und er schaute sogar direkt in Carters Richtung.

»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment«, sagte er zu Suzanne. Das war vielleicht seine letzte Chance. »Ich bin gleich wieder da.«

Als Carter zum Lincoln hinüberging, riss der Trauergast die Augen auf. Vielleicht hatte das Bestattungsinstitut ihn als eine Art Kontrolleur geschickt, dachte Carter, nur für den Fall, dass bei der Beerdigung irgendetwas schiefging.

»Gehören Sie zufällig zu O’Banion Brothers?«, fragte Carter.

Der Mann machte ein ziemlich verwirrtes Gesicht. »Nein.«

»Es ist nur so, ich brauche eine Mitfahrgelegenheit zurück nach Manhattan, und ich wollte wissen, ob Sie vielleicht in die Richtung fahren.«

Die Augen des Mannes leuchteten auf, als sei er gerade mit einem völlig unerwarteten Geschenk überrascht worden. »Ja! Aber natürlich! Ich kann Sie absetzen, wo immer Sie wollen.«

»Danke.« Das war mehr, als Carter gehofft hatte. »Lassen Sie mich nur schnell Bills Familie Bescheid sagen, dass Sie mich mitnehmen.«

Überaus erleichtert ging Carter zurück und erklärte es Suzanne, die ihrerseits ebenfalls erleichtert wirkte. Vielleicht hätte die Familie für die Extrafahrt mit der Limo zahlen müssen.

Als er zum Lincoln zurückkehrte, bemerkte er in diskretem Abstand zwei Arbeiter mit Schaufeln. Totengräber, die darauf warteten, ihre Arbeit zu Ende zu bringen.

»Ich bin Carter Cox«, sagte er und streckte dem Mann die Hand entgegen, der ihn in die Stadt mitnahm.

»Ezra Metzger«, erwiderte dieser. Er deutete auf den Wagen. »Bitte.«

Carter stieg auf der einen Seite ein, während Ezra zur anderen ging und sich beinahe vor Begeisterung die Hände rieb. Vielleicht, dachte Ezra, wendete sich das Blatt jetzt doch zu seinen Gunsten. Erst gestern war er nach dem Tumult im UN-Park gegen Kaution und unter der Auflage, dass Sam und Kimberly für ihn bürgten, aus dem Gefängnis entlassen worden. Und heute bekam er eine Exklusivaudienz bei dem Mann in New York, mit dem er am dringendsten sprechen wollte.

»Das ist mein Onkel Maury«, sagte Ezra, als der Fahrer sich auf dem Vordersitz umdrehte.

»Nett, Sie kennenzulernen«, sagte Maury. »Und, wo sollen wir Sie rauslassen?«

»Irgendwo in Manhattan wäre fein«, erwiderte Carter. »Aber je näher am St. Vincent’s Hospital, desto besser.« Er hatte Joe heute noch nicht besucht.

»St. Vincent also«, sagte Maury. »Ich werde mir ein Spiel anhören, wenn ihr nichts dagegen habt«, fügte er hinzu und schaltete das Radio ein. Carter fragte sich, ob das ihre Methode war, um sich auf dem Rücksitz ungestört unterhalten zu können. Nicht, dass er glaubte, es gäbe irgendeine Veranlassung dazu.

Während der Wagen die gewundenen Wege über den Friedhof entlangfuhr, fragte Carter Ezra, woher er Bill Mitchell kannte.

»Tut mir leid, ich kannte ihn gar nicht.«

»Oh. Dann Sind Sie also ein Freund der Familie?«

»Nein, auch nicht. Ich habe aus der Zeitung von der Trauerfeier erfahren. Mein eigentliches Interesse bestand, wie ich zugeben muss, darin, Sie zu treffen.«

»Mich? Warum?«

»Weil ich von dem Unfall in Ihrem Labor gelesen habe und sehr neugierig bin, was genau geschehen ist. Ich denke, Sie werden es besser wissen als jeder andere.«

»Sind Sie ein Brandermittler?«, fragte Carter, obwohl die vornehme Limousine nicht gerade dafür sprach.

»Nein.«

»Ein Reporter?«

»O nein. Ich habe selbst in vielen Labors gearbeitet, zuletzt im Nahen Osten, und ich bin immer neugierig, wenn so ein grässliches Missgeschick geschieht wie bei Ihnen.« Im Moment bestand noch keine Veranlassung, Mr Cox seine wahren Gründe anzuvertrauen. »Darf ich fragen, was für eine Arbeit Sie genau in Ihrem Labor erledigten, als das Feuer ausbrach?«

Wer war dieser Typ? Und sollte er diese Frage beantworten? Der Wagen passierte die Friedhofstore, und nachdem Carter noch ein paar Sekunden darüber nachgegrübelt hatte, glaubte er nicht, dass es noch groß schaden konnte, wenn er ihm antwortete. Jeder denkbare Schaden war bereits angerichtet. »Professor Russo und ich sind Paläontologen, und wir haben an einem Fossil gearbeitet.«

»Zusammen mit dem verstorbenen Mr Mitchell?«

Carter zögerte, dann sagte er: »Bill war eigentlich nicht befugt, sich dort aufzuhalten.«

Ezra schien zu begreifen, was er meinte. »Ich verstehe. Experimente können leicht schiefgehen, wenn die falschen Leute ihre Finger im Spiel haben.«

Für Carter hörte es sich an, als spräche er aus Erfahrung.

»Aber dürfte ich Sie vielleicht fragen«, sagte Ezra und fuhr so vorsichtig und höflich fort, wie er konnte, »an was für einem Fossil Sie und Professor Russo arbeiten?«

Carter schaute aus dem Fenster auf die anderen Autos, die jetzt an ihnen vorbeiflitzten. »Gearbeitet haben. Es wurde durch die Explosion und das Feuer komplett zerstört. Und jetzt werden wir niemals wissen, was es war.«

»Nach was hat es denn ausgesehen?«

Das war eine gute Frage, und unwillkürlich sah sich Carter erneut mit dem Thema konfrontiert. Es war das bittersüße Gefühl, das einen überkam, wenn man über eine alte Flamme sprach. »Der größte Teil war noch in einem Steinblock eingeschlossen, aber nach dem, was wir gesehen haben, könnte es ein Exemplar aus der Familie der Raubvögel gewesen sein.«

»Also ein Dinosaurier?«

Jetzt wusste er, dass der Typ kein rivalisierender Paläontologe war. »Wahrscheinlich. Alles, was wir sehen konnten, war seine Hand, oder besser gesagt Klaue, und ein Teil einer Extremität.«

Ezra schien fasziniert von dieser Information. »Das ist komisch«, sagte er.

»Was?«

»Sie haben zuerst Hand gesagt. Als sei es Ihnen menschlich vorgekommen.«

Das konnte Carter nicht leugnen. Das Fossil hatte ihn ständig auf seltsame Gedanken gebracht. Ganz zu schweigen von diesem bizarren Gefühl, das Fossil sei irgendwie wärmer als der umgebende Stein. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, als er die Probe von der ausgestreckten Kralle genommen hatte.

»Interessieren Sie sich deswegen so dafür?«, fragte Carter und riet ins Blaue hinein. »Sind Sie Anthropologe?«

»Im weitesten Sinne des Wortes kann man das vermutlich schon sagen. Ich widme mich dem Studium der Menschheit.« Ezra schien das ein fairer Kompromiss zu sein und ein müheloser Weg, um Carters Neugier zu befriedigen. »Ich bin sehr interessiert an der Frage, wie wir hierhergekommen sind, und warum.«

»Klingt so, als würden Sie sich dem Thema sehr kosmisch annähern«, sagte Carter. War dieser Typ ein bisschen … abgedreht? Langsam fragte er sich, ob er gleich etwas über Außerirdische hören würde, die den Menschen die Geheimnisse des Pyramidenbaus beigebracht hätten.

»Da stimme ich Ihnen zu. Ich habe in der Tat eine sehr kosmische Sichtweise«, sagte Ezra, »obwohl ich weiß, dass Sie diesen Begriff spöttisch gemeint haben.«

Himmel, hatte Carters Tonfall ihn verraten, oder war der Typ einfach überempfindlich? Carter musste sich ermahnen, dass Ezra, selbst wenn er ihm vielleicht etwas merkwürdig vorkam, nicht dumm war. Im Gegenteil, seine Züge strahlten Scharfsinn und Brillanz aus. »Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«

»Schon gut«, erwiderte Ezra, obwohl er offensichtlich verärgert war. Er wandte das Gesicht ab. Sein Profil erinnerte Carter an einen Wüstenfalken, mager, frei und hungrig. Ezra beobachtete den Kontrolleur an der Mautstelle, der gerade dem Fahrer sein Wechselgeld herausgab.

Schweigend fuhren sie durch den Tunnel. Carter fühlte sich schlecht, weil er den Mann, der ihn mitgenommen hatte, beleidigt hatte. Als sie den Tunnel hinter sich gelassen hatten, versuchte Carter die Stimmung im Wagen aufzulockern, indem er Ezra fragte, wo er wohnte.

»East Side«, lautete die knappe Antwort.

»Allein?«

»Nein.« Wenn es eine gute Sache gab, die sich aus Ezras Sicht aus den Verwicklungen vor der UN ergeben hatte, dann war es die Auflage des Gerichts, dass er jederzeit unter seiner derzeitigen Adresse erreichbar sein musste. Kimberly hatte sich totgeärgert – eines der wenigen Dinge seit langem, die Ezra aufrichtiges Vergnügen bereitet hatten.

Aber Ezra begriff, dass er es sich im Moment nicht leisten konnte, weiter beleidigt zu sein oder diesen Carter irgendwie zu verstimmen. Zumindest nicht, bis er genügend Informationen aus ihm herausgeholt hatte, um jeden Zweifel und alle Fragen zu klären, die er vielleicht noch hatte. Gab es eine Verbindung zwischen dem, was in jener Nacht im Labor vorgefallen war, einem Labor, in dem ein seltsames Fossil peinlich genau untersucht wurde, und den Glocken, die in jeder Kirche der Stadt geläutet hatten?

»Ich muss einmal um den Block fahren«, meldete sich Maury, »um zur Krankenhausauffahrt zu kommen«, doch Carter, der es eilig hatte, aus dem Wagen auszusteigen, sagte: »Kein Problem, Sie können mich gerne auf der anderen Straßenseite rauslassen.«

Maury zuckte die Achseln und parkte den Wagen vor einem leerstehenden Gebäude genau gegenüber vom Haupteingang des Krankenhauses.

»Danke fürs Mitnehmen«, sagte Carter zu Ezra, der sich endlich wieder zu ihm umwandte und fragte: »Wird Mr Russo hier behandelt?«

»Ja.« Das war nicht schwer zu erraten. »Ich gehe hoch zur Intensivstation, um zu sehen, wie es ihm geht.«

Carter öffnete die Tür und stieg aus. Doch ehe er fortgehen konnte, war Ezra über die Rückbank gerutscht und hatte das Fenster heruntergelassen.

»Eine Sache noch«, sagte er.

»Ja?« Jetzt, wo er aus dem Wagen raus war, fühlte Carter sich wie befreit.

»Hat Ihr Kollege Ihnen etwas darüber erzählt, egal wie seltsam es auch sein mag, was an jenem Abend im Labor passiert ist? Über die Explosion? Das Feuer? Das Fossil?«

»Nicht viel«, sagte Carter. »Sie müssen verstehen, dass sein Zustand immer noch sehr schlecht ist. Ich weiß, dass sie einen Laser benutzt haben, und der Strahl hat eine Höhle erwischt, in der Gas im Felsen eingeschlossen war. Das war die Ursache für den Unfall.«

»Sind Sie sich sicher, dass das alles war?«, frage Ezra. »Mehr hat er nicht gesagt?«

Carter haderte mit sich, ob er mehr sagen sollte. Er wollte nur noch weg, aber andererseits hatten Ezras Fragen und dieser flehentliche Blick etwas an sich, das ihn zögern ließ.

Und Ezra sah es. »Was ist es? Sagen Sie mir, was Sie denken.«

»Also gut. Er erwähnte etwas, das Sie vielleicht interessieren könnte«, sagte Carter, während Ezra am offenen Fenster wartete. »Sie müssen allerdings bedenken, dass er im Delirium lag und bis zum Anschlag mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt war, als er das sagte …«

»Sagen Sie es mir.«

»Er behauptete, das Fossil sei lebendig geworden.«

Einen Moment lang blieb Ezras Gesicht ausdruckslos, dann röteten sich die Wangen, und er schlug mit der geballten Faust gegen die Innenseite der Autotür. »Ich wusste es.«

Jetzt war die Reihe an Carter, überrascht zu sein. »Sie wussten es?«

Ezra kritzelte etwas auf ein Stück Papier und reichte es Carter durch das Fenster. »Das ist meine Nummer, aber ich nehme nie ab. Rufen Sie an und hinterlassen Sie Ihre Nummer bei der Haushälterin.«

Haushälterin?

»Wir müssen uns unterhalten«, sagte Ezra, »viel länger.« Er lehnte sich zurück, den Blick geradeaus gerichtet. Im Verkehrsstrom tat sich eine Lücke auf, und der Wagen fuhr davon.

Während Carter auf Grün wartete und den verschwindenden Rücklichtern des Lincoln nachsah, fiel sein Blick zufällig auf ein riesiges Schild auf dem schäbigen Grundstück hinter ihm. In großen Lettern stand darauf:

HIER ENTSTEHT IN KÜRZE THE VILLAGER.


26 STOCKWERKE LUXUS-


GENOSSENSCHAFTSWOHNUNGEN.

Und darunter, in ebenso großen Lettern:

EIN PROJEKT DER METZGER COMPANY, INC.

Warum klingelte es plötzlich bei ihm? Er brauchte einen Moment, um eins und eins zusammenzuzählen, aber hatte Ezra nicht gesagt, sein Familienname sei Metzger? Konnte es sein …?

Die Ampel sprang um, und Carter überquerte die Straße. Mit wem genau hatte er gesprochen? Und noch wichtiger: Wie um alles in der Welt konnte Ezra Metzger, ja, er war sicher, dass das sein Name war, wie konnte er vorher, so wie er behauptete, von Russos wirrem Gerede über das lebendig gewordene Fossil gewusst haben?


21. Kapitel

Die Nacht wurde zu seinem Freund. Es war so viel einfacher, sich nachts durch die Straßen zu bewegen, im Schein der Lampen, die alles und jeden leicht unwirklich wirken ließen. Wie ein Nebelschleier konnte er sich zwischen den Menschen bewegen und unbemerkt ihre Tausende Gerüche, Stimmen und Gestalten in sich aufnehmen. Er konnte ihre Parfums einatmen, ihnen in die Augen blicken, sogar ihre Körper streifen, ihre Haut und die Beschaffenheit ihrer Kleider erspüren. Er ging dorthin, wo die Straßen voll waren, um die Luft einzuatmen, die sie ausatmeten, ihnen zuzuhören, wenn sie sprachen – hundert verschiedene Zungen, die alle zur gleichen Zeit zu sprechen schienen – und die Geheimnisse ihrer Herzen und Seelen zu erforschen.

Und darin lag, wie er spürte, wenig Überraschendes. Und ein gewisser Trost. Er hatte sich damals also doch nicht geirrt, vor so langer Zeit … und er irrte auch jetzt nicht.

Aber alles andere hatte sich so sehr verändert.

Er hatte bereits den Namen des Ortes erfahren, den er nun bewohnte, und er hatte herausgefunden, welche Rolle er in der gegenwärtigen Welt einnahm. Hätte der Ort seiner Rückkehr weiser ausgewählt worden sein können? Gab es irgendeine andere Stelle auf der Erde, wo er so leicht beginnen könnte? Das war keine göttliche Vorsehung, o nein, das ganz gewiss nicht, aber es kam dem sehr nahe. Etwas war in Bewegung gesetzt worden. Ein Plan, den selbst er, bei all seiner Weisheit und all seinem Wissen, nicht vollständig erfasste.

Manche Straßen, gewisse Ecken kannte er inzwischen besser als andere, und oft ertappte er sich dabei, dass er immer wieder dorthin zurückkehrte. Gleich einem Wolf, der die Pfade verfolgt, auf denen er bereits erfolgreich gejagt hat. Wenn er aus der Dunkelheit seines Schlupfwinkels heraustrat, einem Ort aus zersplittertem Holz und zerbröckelnden Steinen, an dem er das leise Echo von Gebrechen und Krankheit vernahm, schritt er oft diese vertrauten Pfade entlang. Hier, zum Beispiel, war der Ort, zu dem der verbrannte Mann gebracht worden war … hier hatte er aus dem Schatten die lodernden Flammen beobachtet … und an dieser Stelle, die jetzt geschwärzt und verlassen dalag, war er auf die Welt zurückgekehrt. Hier gab es Antworten, o ja, so viel wusste er, aber er wusste noch nicht, in wessen Brust sich diese Antworten verborgen hielten.

Er wollte es wissen. Es war seine ureigenste Bestimmung zu wissen.

Im Lichtkreis, der von einer Straßenlaterne auf den nassen glänzenden Gehweg geworfen wurde, sah er jemanden auf und ab schreiten. Es war dieselbe Person, die er in jener Nacht getroffen hatte, als er aus dem Inferno getreten war. Diejenige, die ihm den roten Mantel gegeben hatte, den er noch immer trug.

Als er sich näherte, blieb die Gestalt stehen und starrte ihn ehrfürchtig an. War es so offensichtlich, was er war? Das wollte er nicht. Er wollte, dass die Dinge so waren, wie sie vor langer Zeit gewesen waren … bevor sich alles auf so schreckliche Art und Weise aufgelöst hatte.

Je näher er kam, desto mehr schien die Gestalt an Ort und Stelle festzuwachsen. Dunkle Haut, langes Haar, die Gesichtszüge verdeckt durch Farbe und Schlamm, Saft und Staub. Ein lederner Sack hing an einem Arm – eine Handtasche, unvermittelt kam ihm dieses Wort in den Sinn.

»Du bist es!«, rief sein Wohltäter erstaunt. Schwankend näherte sich die Gestalt in Schuhen mit hohen Absätzen. Sie legte ihm eine Hand, deren Nägel, wie er bemerkte, in hellem Silber gefärbt waren, auf den Ärmel. »Ich hätte nie gedacht, dass ich dich noch einmal wiedersehe. Zumindest nicht in diesem Leben.«

Bei so vielen Menschen, die es jetzt auf der Welt gab, kam das vielleicht häufig vor.

»Aber dieses Mal wirst du mir nicht so einfach davonkommen. Nicht ohne mir zuerst ein paar Dinge erklärt zu haben.«

»Was … willst du … wissen?« Es war das erste Mal, dass er tatsächlich versuchte, Worte auszusprechen, Worte, die er aus der Luft um sich herum gepflückt hatte. Und jetzt wartete er, ob man ihn verstanden hatte.

»Als Erstes möchte ich wissen, wer du bist.«

Man hatte.

»Oder vielleicht sollte ich lieber fragen, was du bist. Letztes Mal, als ich dich sah, hast du geleuchtet wie eine Glühbirne. Jetzt strahlst du nicht mehr so viel Licht ab.«

Er konnte es sich nicht leisten. Es wäre zu töricht. Er beobachtete, wie ein weißes Auto mit blauen Streifen und einem roten Balken auf dem Dach langsam um die Ecke bog.

»Oh shit«, murmelte sein Wohltäter.

Er fühlte sich am Ärmel des Mantels gepackt und in den dunklen Eingang gezerrt, in dem er damals gestanden hatte, um das Feuer zu betrachten.

Das Auto kam näher, und er wurde noch tiefer in den Schatten gezogen, bis zum Ende der Treppe unterhalb des Straßenniveaus. Der Boden war mit dickem Papier und zerbrochenen Flaschen bedeckt, es roch nach Müll … und menschlicher Vereinigung.

»Wir werden hier nur eine Weile warten, bis meine Freunde weg sind.«

Jetzt roch er auch … Furcht.

»Man nennt mich Domino, vielleicht, weil ich so leicht umkippe.« Ein leises Lachen. »Willst du mir sagen, wie man dich nennt?«

Es gefiel ihm hier nicht, und er begann, die Stufen wieder zu erklimmen. Doch Domino packte ihn erneut am Ärmel und sagte: »Die Cops gurken hier immer noch rum. Und überhaupt, wozu die Eile?«

Domino zog ihn dichter zu sich heran. Sie waren etwa gleich groß, und er konnte seinem Wohltäter direkt in die Augen blicken. Sie waren dunkelbraun, mit langen schwarzen Wimpern. Die Brauen waren, wie er jetzt erkannte, bernsteinfarben gefärbt.

»Du schuldest mir noch was.« Dominos Finger spielten mit seinem Mantel. »Ich habe dir schließlich den hier gegeben.« Er spürte, wie die Knöpfe geöffnet wurden. »Ich bitte dich nicht um Geld – es sei denn, du möchtest mir etwas geben. Aber du könntest mir zumindest zeigen, was du darunter trägst.« Der Mantel öffnete sich. »Ich denke immer noch, dass du was ganz Besonderes im Schilde führst.«

Als sich der Mantel weiter öffnete, schwand die Dunkelheit am Fuß der Treppe. Domino lehnte sich zurück, um den Anblick auf sich wirken zu lassen. »Wow, du machst es schon wieder!«

Er sorgte dafür, dass sein Strahlen noch ein wenig heller wurde. Im Licht konnte er Domino deutlicher erkennen als je zuvor. Erkannte das falsche Haar, welches das echte verdeckte, die kräftigen Knochen unter dem Puder und dem Lehm im Gesicht, die sehnigen Arme unter den weichen femininen Kleidern.

Dominos Hand schlich sich ins Innere des Mantels. Berührte ihn.

Unter dem süßen Parfum nahm er den Geruch der Verderbnis wahr.

»Was zum … Teufel«, sagte Domino stockend.

Er breitete die Arme aus, und Domino trat zurück bis an die feuchte Mauer des Kelleraufgangs. Die Handtasche rutschte auf den schmutzbedeckten Boden.

»Heiliger Strohsack …«

Er schüttelte den Mantel von den Schultern und kam näher. Er umarmte Domino, der sich jetzt wehrte.

Was ihn nur dazu brachte, seinen Griff zu verstärken. Er presste den sich windenden und um sich schlagenden Körper an sich. Er konnte die Hitze riechen, die Angst, die Wut. Er umklammerte Domino so fest, dass dieser seine Glieder nicht mehr rühren konnte. Er spürte, wie der Körper nach Luft rang, das Herz wie rasend in der Brust schlug. »Du fragtest nach meinem Namen«, sagte er, während plötzlich ein exakter Flammenkreis aus dem Beton um ihre Füße erwuchs. In Dominos vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen spiegelte sich der Schein des Feuers. »Er lautet Arius.«

Die Flammen wuchsen rasch, wanden sich um ihre vereinigten Leiber wie eine Schlange um einen Baum. Domino schrie, aber das Geräusch wurde vom Feuer erstickt und verhallte dumpf im düsteren Kelleraufgang. Seine Kleider brannten, und seine Haut knisterte und brach. Die Perücke auf seinem Kopf verschwand in einer Wolke aus goldenem Feuer.

Als es nicht mehr genügend gab, das er festhalten konnte, ließ Arius ungerührt los und trat zurück. Was von Domino übriggeblieben war, fiel in einem flackernden Haufen aus verrußter Haut und Knochen zusammen. Orangefarbene Funken tanzten in der Dunkelheit, als Arius sich bückte, um den roten Mantel aufzuheben, die Asche abzuschütteln und ihn wieder anzuziehen. Auch die heruntergefallene Handtasche hob er auf und wandte sich zur Treppe.

Im Grunde hatte sich nichts geändert, dachte er, während er zur Straße emporstieg und die Handtasche durchwühlte, um zu sehen, ob sich darin etwas von Nutzen befand. So etwas kam davon, wenn man sich abscheulichen Lastern hingab.


22. Kapitel

Carter war heute nicht in Stimmung. Zuerst war da dieser verstörende Termin in der Arztpraxis gewesen, und jetzt versuchte er, einem ungewöhnlich unruhigen Seminarpublikum die Theorie der Geochronologie nahezubringen.

»Den meisten von uns wurde vorgegaukelt«, sagte er, »die Menschheit habe sich in einem langen kontinuierlichen Prozess entwickelt, und dass alle protohumanen Fossilien, egal, wo sie gefunden werden, und egal, wie alt sie sind, sich irgendwo in diese Linie einfügen lassen müssen.«

Er blickte von seinen Notizen auf und sah ein paar Studenten in der letzten Reihe, die mit gesenkten Köpfen über etwas diskutierten, das wie eine Glückwunschkarte aussah.

»Aber diese Theorie, bekannt als Theorie des einzelnen Ursprungs oder auch Out-of-Africa-Theorie«, fuhr er fort und versuchte, die Störung zu ignorieren, »ist zunehmend schwerer zu verteidigen. Neuere Funde in Ländern wie China oder Indonesien, insbesondere auf Java, weisen in eine andere Richtung. Sie deuten auf eine Welt hin, die Millionen von Jahre alt ist und auf der verschiedene hominide Spezies es geschafft haben, den Planeten zur selben Zeit zu bewohnen. Nicht unbedingt friedlich, aber zumindest gleichzeitig.«

Er blickte erneut auf. Dieses Mal sah er, wie jemand die Karte an Katie Coyne weiterreichte, und er wurde wütend.

»Also gut, wer erklärt mir, was Sie da treiben?«

Stille legte sich über den Hörsaal.

»Katie, würden Sie mir bitte erklären, was los ist, ehe ich beschließe, Ihnen allen einen unangekündigten Test aufzudrücken?«

Katie sah aus, als würde sie lieber nichts sagen. Sie rückte das blaue Tuch zurecht, das sie heute auf dem Kopf trug und mit dem sie auf Carter wie ein hübsches Bauernmädchen in einem Gemälde von Millet wirkte. »Es ist eine Gute-Besserung-Karte«, erklärte sie schließlich.

»Okay«, erwiderte Carter kühl und fragte sich, wieso das eine angemessene Erklärung sein sollte. »Und für wen?«

»Für Ihren Freund«, sagte sie. »Professor Russo. Wir unterschreiben alle.«

Carter fehlten die Worte.

»Ich wollte sie ihm später noch vorbeibringen, wenn Sie meinen, dass es okay ist.«

»Ja«, sagte Carter, inzwischen leicht verlegen. »Ich bin sicher, dass er sich freuen wird.«

Es klingelte, keinen Augenblick zu früh. Die Studenten packten, vielleicht aus Rücksicht auf seine Stimmung, ihre Sachen noch schneller zusammen als sonst.

»Aber diese Idee mit der Geochronologie«, sagte Katie über das Gewusel hinweg, »klingt cool. Dem kann ich voll zustimmen.«

Er wusste, dass sie nur versuchte, ihn zu überzeugen, dass nicht alles, was er heute gesagt hatte, verschwendet gewesen war. Es war ein netter Versuch, aber er wusste auch, dass es ihm heute nicht gelungen war, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln.

Zum Lunch ging er an den einzigen Ort, an dem er sicher sein konnte, keinem seiner Fakultätskollegen über den Weg zu laufen, in die Mensa. Er trug sein Tablett mit einem Hamburger und Pommes zu einem Tisch in der hintersten Ecke, wo es nicht ganz so laut war, und er seine Ruhe hatte. Mit dem Rücken zur hungrigen Horde sitzend, konnte er nachdenken, ohne gestört zu werden.

Das einzige Problem war, dass seine Gedanken heute nur in miese Richtungen gingen.

Angefangen hatte es mit dem Termin in Dr. Westons Praxis, wo sie die Ergebnisse ihrer verschiedenen Tests erfuhren. Carter hatte sich nicht darauf gefreut, aber den Augenblick auch nicht gefürchtet. Er nahm an, dass die Probleme, die Beth und er hatten, sich als ziemliche Routineangelegenheit erweisen würden. Ein, zwei kleine Korrekturen in ihrer Methode der Familienplanung, und in Nullkommanichts wäre alles auf den richtigen Weg gebracht. Sie waren beide jung und gesund, und Beth ernährte sich sogar ausgesprochen ausgewogen. Wenn er es aus irgendwelchen Gründen ebenso halten müsste, würde er eben auf sein Junk-Food verzichten.

Doch noch ehe das Gespräch richtig begonnen hatte, hatte der Ausdruck auf Dr. Westons Gesicht Carter bereits verraten, dass es um mehr ging als um falsche Ernährung. Der Arzt breitete einen Haufen Papiere und Laborberichte auf seinem Schreibtisch aus und machte etwas peinlichen Smalltalk mit Beth über seine private Kunstsammlung. Danach kam er jedoch direkt auf das Problem zu sprechen.

»In all Ihren Tests und Laborberichten«, sagte er und wandte sich direkt an Beth, »haben wir nichts gefunden, das die Probleme bei der Empfängnis erklären könnte. Die körperliche Untersuchung erbrachte keine Obstruktionen oder Probleme gleich welcher Art, und auch bei Ihren Blut-und Hormonwerten sind keine kritischen Auffälligkeiten festzustellen. Sie haben eine leichte Neigung zu Anämie, aber das bekommen wir mit einem einfachen Eisenpräparat in den Griff.«

Carter stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Zumindest bei Beth war alles in Ordnung. Und vielleicht, ganz vielleicht, hatte seine Intuition ihn ja getäuscht.

Dann wandte Dr. Weston sich an ihn, und er wusste, dass es nicht so war.

»In Ihrer Krankengeschichte, Carter, lese ich, dass Sie als Jugendlicher Mumps hatten?«

Mumps? »Ja, das stimmt.«

»Erinnern Sie sich noch, ob es ein schwerer Verlauf war?«

Auf der Stelle war Carter der Monat wieder gegenwärtig, den er mit heftigem Fieber zu Hause verbracht hatte. Er war in einem der hinteren Schlafräume unter Quarantäne gestellt worden, mit zugezogenen Vorhängen und einer Tasse kühlendem Tee neben dem Bett. »Ja, das war es. Ich konnte deswegen ein paar Wochen lang nicht zur Schule.«

Dr. Weston nickte. »Wissen Sie noch, welche Medikamente Sie bekommen haben?«

Carter entsann sich, massenweise Tabletten geschluckt zu haben, und selbst an ein paar Spritzen in den Po, aber er hatte keine Ahnung, was das gewesen war. »Da müssen Sie meine Mutter fragen, oder den Arzt, falls er noch praktiziert. Er stand damals schon kurz vor der Pensionierung.«

»Das brauchen wir wahrscheinlich gar nicht. Ich denke, es ist ziemlich klar, was passiert ist, besonders, wenn Ihr Arzt, wie Sie sagen, damals schon eine ganze Weile praktiziert hat. Dieser Vorfall hat sich in den frühen Achtzigern zugetragen, bevor wir über die Informationen verfügten, die wir heute haben.«

Beim letzten Teil, »Informationen, die wir heute haben«, begannen bei Carter die Alarmglocken zu schrillen.

»Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er Ihnen ein starkes Antibiotikum verschrieben«, führte Dr. Weston aus, »das sich, wie wir inzwischen wissen, in manchen Fällen, wenn es zu Beginn der männlichen Pubertät verabreicht wird, ungünstig auf die spätere Potenz auswirken kann.«

Carter musste die ganzen Wörter erst richtig sortieren. Sagte der Arzt damit, dass er impotent war? Denn wenn es das war, was er dachte, dann …

»Ich meine damit nicht, dass Sie irgendwelche Schwierigkeiten bei der Erregbarkeit oder der Ejakulation haben«, fuhr Dr. Weston fort. »Keiner von Ihnen hat angedeutet, dass es in diesem Bereich Probleme geben könnte.«

Die Sache war also schon einmal geklärt.

»Aber leider ist eine Nebenwirkung von Mumps und den Maßnahmen, die ergriffen wurden, um es zu besiegen, bei manchen Männern spätere Sterilität.«

Carter saß still auf seinem Stuhl. Beth rührte sich genauso wenig.

»Wir haben Ihre Spermienprobe zweimal untersucht – Sie haben uns eine ganze Menge Arbeit beschert.« Weston brachte ein sparsames Lächeln heraus, das indes nicht viel half. »Leider kamen wir beide Male zum selben Ergebnis. Die Anzahl der Spermien bewegt sich im Bereich um ein Prozent, und die Beweglichkeit ist in ähnlichem Maße abgeschwächt.«

Carter war immer noch dabei, die Informationen zu verarbeiten. Er war … steril?

»Wollen Sie damit sagen, dass ich … kein Kind zeugen kann?«

Dr. Weston lehnte sich in seinem Sessel zurück, die Hände flach auf den Schreibtisch gelegt. »Biologisch betrachtet muss ich diese Frage bejahen. Aber ich brauche jemandem von Ihrem intellektuellen Kaliber nicht zu erklären, dass biologische Vaterschaft nicht das Wichtigste im Leben ist.«

Eine Sekunde lang konnte Carter ihm nicht folgen.

»Als Paar können Sie immer noch ein Kind haben, indem Sie zum Beispiel eine alternative Quelle für die Samen finden. Wir können ein anderes Mal darüber reden, wenn Sie möchten, sobald Sie Gelegenheit hatten, sich alles in Ruhe zu überlegen. Physiologisch ist Beth immer noch eine erstklassige Kandidatin, um Mutter zu werden.«

Carter spürte, wie sie ihre Hand langsam über die Stuhllehne schob und seine eigene ergriff. Ob seine Hand genauso eisig war wie ihre?

Sie konnten also ein Kind bekommen, oder zumindest Beth konnte eines gebären. Mit dem Sperma eines anderen Mannes? Eines Freundes? Eines Familienmitglieds? Eines anonymen Spenders? Meine Güte, dachte Carter, so viele phantastische Möglichkeiten, wie sollte er sich da bloß für eine entscheiden?

»Ich weiß, dass das keine gute Nachricht ist«, sagte Dr. Weston, »und Sie sollten sich so viel Zeit nehmen, wie Sie brauchen, um alle Optionen in Erwägung zu ziehen. Aber wenn ich Ihnen eines mit auf den Weg geben darf, dann dieses: Sie haben Optionen. Wenn Sie eine Familie haben möchten, dann können und werden Sie eine bekommen.«

Sicher, dachte Carter. Aber wessen Familie wäre es dann?

Er wusste, dass Dr. Westons abschließende Worte als Ermutigung gedacht waren, aber als er sich jetzt unter all den jungen Leuten in der Cafeteria umschaute, bekamen die Worte einen dumpfen Beiklang. Als er all die jungen Kerle anschaute, kam ihm ein unheimlicher und unwillkommener Gedanke: Jeder von ihnen könnte der Vater seines Kindes werden, jeder von ihnen könnte für seine Frau das tun, was er nicht fertigbrachte. Jeder von ihnen könnte ein Baby zeugen, könnte seine eigenen Gene an die nächste Generation weitergeben. Das war ja auch nicht weiter schwer, aber es war etwas, das er niemals zustande bringen würde. Er wusste, dass diese Gedanken falsch und selbstzerstörerisch waren, aber er konnte nichts dagegen machen. Er kam auch nicht gegen das Gefühl an, dass er jetzt, wo er die Wahrheit kannte, weniger ein Mann sei als noch am Morgen, als er vollkommen ahnungslos aufgestanden war. Er konnte nur hoffen, dass Beth nicht auf gleiche Weise empfand. Denn selbst wenn es so wäre, würde sie es niemals zugeben.

Er legte die Gabel fort und schob das halbaufgegessene Essen beiseite. Selbst von dem Geruch wurde ihm im Moment leicht übel.

Er verließ die Mensa, um nach Hause zu gehen, entschied sich jedoch, im jetzt verwaisten Labor vorbeizuschauen. Er musste seinen Bericht für das Büro des Präsidenten fertigstellen, und er wollte sich vergewissern, dass er an alles gedacht hatte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite blieb er stehen und begutachtete von dort aus das gelbe Polizeiband, das inzwischen an einigen Stellen herunterhing. Die Stahltüren hatten sich unter der intensiven Hitze verdreht und verbogen, und die Außenmauern waren rußgeschwärzt. Erstaunt stellte er fest, dass der Brandgeruch immer noch ziemlich stark war.

Doch dann merkte er, dass der Geruch nicht vom Labor kam. Die Quelle lag wesentlich dichter, rechts hinter ihm. Er drehte sich um und sah eine Art laminierten Ausweis auf dem Beton liegen. Er bückte sich, um ihn aufzuhaben.

Es war der Führerschein eines Mannes, eines jungen Afroamerikaners mit dem Namen Donald Dobkins. An den Rändern war er angesengt, aber das Bild kam ihm vage bekannt vor.

Er blickte in den Kelleraufgang und sah ein Brillenetui, offen und leer.

Hier war der Geruch sogar noch stärker. Und er hörte ein Geräusch, ein leises Rascheln, im Schatten am Fuß der Treppe.

Was ging hier vor? Was war da unten? Konnte es irgendetwas mit dem Brand im Labor zu tun haben? Und wenn ja, wie war das all die Tage unentdeckt geblieben, so nah dabei?

Das Rascheln ertönte erneut, und Carter rief: »Hallo? Ist da unten jemand?«

Keine Antwort.

»Ist da jemand?«

Carter stieg eine Stufe hinunter, und der Brandgeruch, der Geruch nach verbranntem Fleisch, um genau zu sein, wurde noch stärker.

Schließlich konnte er etwas erkennen, einen geschwärzten Haufen, der auf dem Boden lag.

Er stieg noch eine Stufe hinab und sah, dass der Haufen Schuhe trug. Verbrannte, aber deutlich erkennbare Schuhe mit hohen Absätzen.

Carter blieb stehen. Das war eine Leiche. Ein Toter. Aber das Rascheln ertönte erneut, und er sah eine Bewegung.

O mein Gott, dachte er. Vielleicht auch nicht. Vielleicht lebt sie noch! Er sprang den Rest der Stufen hinab, und kaum berührte sein Fuß den Beton am Grund der Treppe, als es plötzlich hektisch zu werden begann. Es quietschte und huschte, rote Augen und kleine weiße Zähne blitzten auf. Ratten, manche schwarz und groß wie Katzen, stoben in alle Richtungen davon, rannten über seine Schuhe und jagten die Stufen hinauf. Carter blieb wie angewurzelt stehen, bis die Meute verschwunden war. So etwas war ihm schon einmal passiert, als er in eine uralte Abfallgrube in Yucatán hinabgestiegen war, und er war klug genug, um den Atem anzuhalten und es einfach geschehen zu lassen. Die Ratten wollten genauso wenig etwas von ihm wie er von ihnen.

Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getäuscht. Die Leiche sah aus, als sei sie in sich zu einem Haufen aus verbrannten Gliedmaßen und verschmorten Knochen zusammengefallen. Das Gesicht, beziehungsweise das Wenige, was davon noch übrig war, starrte in einer stummen, schmerzverzerrten Grimasse nach oben. Als er sich tiefer beugte, war der Geruch von verbranntem Fleisch kaum noch zu ertragen. Er musste sich abwenden, einmal kräftig Luft holen und sich mit geschlossenem Mund wieder umdrehen. Was er sah, kam ihm, wie das Bild auf dem Führerschein, seltsam bekannt vor. Kannte er diese Person?

Ich sah einen Mann, aber eigentlich war es gar kein Mann. Er war ganz und gar aus Licht, und er leuchtete.

Jetzt fiel es ihm wieder ein.

Ich gab ihm meinen besten roten Mantel.

Der Transvestit, der in dieser Gegend arbeitete.

Dieser Mann war ein Engel.

Den hatte er hier vor sich – oder besser, was von ihm übrig war. Aber was um alles auf der Welt war ihm zugestoßen?

Carter wandte den Kopf ab und schnappte erneut nach Luft.

War es nicht merkwürdig? Erst Russo, und nun dieser Kerl, beide übel verbrannt. Fast am selben Ort, und innerhalb weniger Tage. Wie standen die Chancen, dass es sich um einen Zufall handelte? Carter schätzte sie als nicht besonders groß ein.

Er sah sich im dunklen Kelleraufgang um, aber alles, was er fand, waren Asche und Fetzen von verbranntem Zeitungspapier. Mehr nicht. Er konnte nichts mehr für den toten Donald Dobkins tun, außer die Polizei zu rufen.

In der Telefonzelle an der Ecke wählte er 911, und eine Minute später kreuzte ein Streifenwagen auf. Ein Mord, vermutete Carter, stand bei der Polizei immer noch hoch im Kurs.

Er reichte einem der Beamten den Führerschein, den er gefunden hatte, und war gerade dabei zu erklären, wie er die Leiche gefunden hatte, als ein weiterer Wagen, dieses Mal ein Zivilfahrzeug, auftauchte. Ein Mann mittleren Alters stieg aus. Er trug einen alten grauen Regenmantel sowie eine große schwarze Brille mit mindestens einem Zentimeter dicken Gläsern. »Haben Sie angerufen?«, fragte er Carter, und dieser nickte. »Dann bin ich derjenige, mit dem Sie sich unterhalten sollten.« Er öffnete seinen Mantel, um die goldene Plakette vorzuzeigen, die an seinem herabhängenden Gürtel befestigt war. »Ich bin Detective Finley.«

Er warf einen kurzen Blick in den Kelleraufgang, dann sagte er müde: »Warten Sie hier.«

Carter tat wie befohlen, obwohl er bereits bedauerte, jemals in diese Sache hineingeraten zu sein. Warum hatte er nicht einfach anonym angerufen, den Führerschein dort gelassen, wo er ihn gefunden hatte, und sich davongemacht? Das wäre nicht richtig gewesen, aber zumindest würde er jetzt nicht hier herumstehen und darauf warten, die kostbaren spärlichen Informationen weiterzugeben, die er hatte.

Detective Finley kam die Stufen hoch und steckte sich die Finger in die Ohren, als der Krankenwagen mit heulenden Sirenen am Tatort ankam. Als der Wagen anhielt und die Sirenen verstummten, nahm Detective Finley die Finger wieder raus. »Das machen sie immer«, sagte er zu Carter. »Ich werde noch taub davon.«

Carter lächelte mitfühlend. »Berufsrisiko, schätze ich.«

»Nicht das schlimmste.«

Nein, vermutlich nicht. Der Detective zog einen Notizblock aus der Tasche seines Regenmantels und nahm pflichtbewusst Carters Namen, seine Telefonnummer und ein paar Stichworte auf, wie er die Leiche gefunden hatte und warum er überhaupt hier gewesen war. Als Carter erwähnte, dass er in dem Labor auf der anderen Straßenseite arbeitete, schien der Detective die Ohren zu spitzen. »Ich wurde an dem Abend dazugerufen«, sagte er. »Wir haben eine Leiche da rausgeholt, die genauso übel verbrannt war wie diese hier, und einen Kerl, der noch geatmet hat.«

»Das ist ein Freund von mir, derjenige, der noch lebt. Er liegt jetzt im St. Vincent’s Hospital.«

»Ich weiß. Ich habe ihm die Hand gehalten, bis sie ihn in die Notaufnahme gebracht hatten.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Armer Kerl – ich bin froh, dass er durchgehalten hat.« Er deutete auf den Kelleraufgang, wo die Sanitäter die Leiche auf eine Bahre legten. »Und jetzt sieht es so aus, als hätten wir ein weiteres Brandopfer, bloß dass dieses bereits seit ein oder zwei Tagen tot ist.«

»Ich weiß, wer es ist«, erklärte Carter freiwillig. »Ich habe sogar …«

»Wir kennen ihn ebenfalls. Er ist einer der Transvestiten, die in dieser Ecke arbeiten. Er wurde hin und wieder zusammengeschlagen, das werden sie alle. Aber so etwas Übles ist noch nie vorgekommen.«

»Sie meinen also, einer seiner … Kunden hätte ihm das angetan?«

Detective Finley trat zur Seite, um die Bahre vorbeizulassen. Selbst jetzt, wo die Leiche in eine Plastikdecke gehüllt war, war der Gestank noch heftig. Die Sanitäter trugen Zellstoffmasken.

»Das kann ich im Moment noch nicht sagen. Aber was mich stutzig macht, ist die Tatsache, dass es genau gegenüber von dem Ort passiert ist, wo ich die letzten Brandopfer gesehen habe.«

Obwohl es schwierig war, Finleys Augen durch die dicken Brillengläser zu erkennen, hatte Carter das Gefühl, eindringlich gemustert zu werden.

»Was haben Sie eigentlich in diesem Labor gemacht?«, fragte Finley.

»Wir haben an einem Fossil gearbeitet. Ein seltener Fund, aus Italien.«

»Haben Sie brennbare Stoffe verwendet, wie zum Beispiel chemische Mittel? Schneidbrenner?«

Er griff nach Strohhalmen, so viel war Carter klar, aber zum ersten Mal dämmerte es Carter, dass er vielleicht aufpassen sollte, was er sagte. »Es wurden ein paar zusätzliche Scheinwerfer provisorisch angebracht«, räumte er ein. »Der Brandinspektor glaubt, dass das Feuer dadurch verursacht wurde.«

Detective Finley schürzte die Lippen. »Ziemlich großer Rums für eine falsche Sicherung.«

Natürlich könnte Carter erklären, was wirklich geschehen war, wenn er wollte. Er könnte ihm sagen, was Russo ihm mitgeteilt hatte, dass Mitchell den Laser auf die Felsplatte gerichtet hatte, einen Felsen, in dessen Inneren sich Kammern mit explosiven Gasen befanden. Doch aus irgendeinem Grund tat er es nicht. Er erzählte auch nicht, was Russo in seinem verwirrten Zustand über das lebendig gewordene Fossil gesagt hatte.

»Haben Sie jemals mit diesem Typ, Donald Dobkins, der Hure, geredet?«

»Nein«, sagte Carter, ehe er sich verbesserte und sagte: »Ach, doch, einmal.« Verdammt, dachte er. Finley würde seine Verwirrung bemerken. »Ich war auf dem Land, als sich der Unfall ereignete, aber direkt danach bin ich zum Labor, am Tag nach dem Unfall. Da habe ich ihn auf der Straße gesehen. Er faselte etwas davon, dass er jemanden aus dem brennenden Gebäude hatte kommen sehen.« Warum hatte er immer stärker das Gefühl, ein Alibi abzugeben?

»Und wer, glaubte er, war herausgekommen?«

Carter zögerte. Er wusste, wohin das führen könnte. Vielleicht dachte Finley, dass Donald Dobkins den Brandstifter erkannt hatte und dieser zurückgekommen war, um sich des Zeugen zu entledigen. Aber Carter wusste, dass es nicht so gewesen war. »Wenn Sie es genau wissen wollen, er sagte, er habe einen nackten Mann aus Licht gesehen«, antworte Carter. Das würde zumindest der Befragung in diese Richtung ein Ende bereiten.

Doch Finley wirkte merkwürdigerweise nicht überrascht. »Passt zu der allgemeinen Beschreibung.«

Passte zu was?

»Obwohl Mr Russo immer wieder das Bewusstsein verlor, als er hier rausgebracht wurde«, fügte der Detective hinzu, »murmelte er etwas ganz Ähnliches.«

»Ach ja?«

Der Detective nickte, während er in seinen Taschen herumwühlte und eine Visitenkarte zutage förderte, die so abgewetzt aussah, als hätte er sie bereits Dutzende Male überreicht. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich an.« Er wandte sich zu seinem Wagen. »In der Zwischenzeit werden wir Ausschau halten nach jemandem, der aus Licht besteht und durch die Gegend spaziert.«

Der Krankenwagen fuhr davon, und einen Augenblick später folgte ihm das Auto des Detectives. Einer der Polizisten stand immer noch oben am Kelleraufgang und sprach in ein Walkie-Talkie. Schließlich begriff Carter, dass er jetzt frei war zu gehen, obgleich niemand ihm eine besondere Erlaubnis erteilt hatte.

Es wirkte alles so … unspektakulär. Er hatte eine Leiche entdeckt, einen toten, verbrannten Körper, und jetzt war schon alles vorbei. Er ging davon. Niemand hatte mehr weitere Fragen an ihn, es gab nichts mehr, das er tun könnte. Möglicherweise war das der Grund, warum ihn das ganze Grauen, das er gerade erlebt hatte, in einer verspäteten Reaktion erst jetzt traf. Da er nichts zu tun hatte und mit niemandem reden musste, konnte er sich plötzlich ganz auf die Realität konzentrieren, auf die grausige, haarsträubende Entdeckung, die er gemacht hatte. Es war nicht die erste Leiche, die er je gesehen hatte. Bei seinen Expeditionen hatte er es gelegentlich mit Todesfällen zu tun, mit den sterblichen Überresten von Menschen, die auf natürlichem Weg oder durch ein Unglück gestorben waren. Aber das hier war etwas ganz anderes. Dies war einer jener Anblicke, die einen bis in die Träume hinein verfolgten. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Als hätte er im Moment nicht schon genug Probleme, Schlaf zu finden.

Zitternd stellte er den Kragen seiner Lederjacke auf. Langsam wurde es Zeit, den Parka hervorzuholen. Obwohl es erst Spätnachmittag war, war das Licht bereits ziemlich spärlich. Die Tage wurden kürzer. An der Ecke vierte Straße West wartete er gerade an der Ampel, als er plötzlich das Gefühl hatte, jemand stünde rechts hinter ihm. Und beobachtete ihn. Er drehte sich um, aber der nächste Fußgänger war eine ältere Frau mit einer Gehhilfe, die den Blick auf das Pflaster gerichtet hatte.

Er überquerte die Straße und schritt für den Rest des Heimwegs forsch aus. Nicht nur, um warm zu werden, sondern auch, um dieses unheimliche Gefühl abzuschütteln, jemand folge ihm. Ein-oder zweimal drehte er sich abrupt um, doch niemals sah er einen Verdächtigen. Als er das Foyer seines Hauses betrat, blieb er stehen, um die Post aus dem kleinen Metallbriefkasten zu holen. Diese Briefkästen, dachte er, waren offensichtlich lange vor der Zeit der Versandkataloge entworfen worden. Anstatt auf den unzuverlässigen Fahrstuhl zu warten, entschied er sich für die Treppe und nahm zwei Stufen auf einmal.

Beth war nicht zu Hause, und in der Wohnung war es dunkel. Er ging von Zimmer zu Zimmer, schaltete die Lampen an und legte eine CD der Hives in die Stereoanlage. Er wollte peppige schnelle Musik, die seine Aufmerksamkeit fesselte. Er riss den Kühlschrank auf, nahm ein Bier heraus und ging ins Wohnzimmer. Er lümmelte sich aufs Sofa und streckte die Beine aus. Über seinem Kopf sah er die Vogelbilder von Audubon. Von denen Joe eines abgenommen hatte, um es durch ein Kruzifix zu ersetzen. Worum, fragte er sich, ging es hier eigentlich wirklich? Er hatte nie die Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen, und jetzt wäre es ganz eindeutig keine gute Idee.

Vielleicht sollte er nach dem Abendessen noch einmal im Krankenhaus vorbeischauen, nur um gute Nacht zu sagen.

Er hob eine Ausgabe des New York Magazine vom Boden neben dem Sofa auf und begann darin zu blättern. Vielleicht entdeckte er eine Empfehlung für ein Downtown-Restaurant, das Beth und er heute Abend ausprobieren konnten, irgendein überfülltes und lautes Lokal. Doch kaum hatte er das Heft aufgeschlagen, als er jemanden draußen vor der Wohnungstür hörte. Er hielt die Zeitschrift ganz still und lauschte. Für Beth war es noch ein wenig zu früh. Raleigh bestand darauf, dass seine Angestellten die volle Zeit im Laden absaßen. Doch als Carter vom Sofa aufstand, schwang die Tür auf, und Beth trat ein, ihren Lederkoffer in der einen und eine ausgebeulte Plastiktüte in der anderen Hand, aus der es verdächtig nach chinesischem Essen roch.

»Lass mich das nehmen«, sagte er und eilte herbei, um ihr die Tüte abzunehmen, die jeden Moment zu reißen drohte.

»Danke«, sagte Beth und schloss die Tür hinter sich mit einem Fußtritt. Dann drehte sie den Schlüssel im Schloss um und legte den Riegel vor. Anschließend spähte sie durch den Spion.

»Heute Abend bist du aber besonders vorsichtig«, sagte Carter und stellte die Tüte auf den Küchentresen.

»Na ja, ich habe unten einen ziemlichen Schrecken bekommen.«

Carter ließ die Tüte Tüte sein und ging zu Beth.

»Was ist passiert?«

»Eigentlich nichts. Ich habe einfach nicht aufgepasst, als ich ins Haus gekommen bin.«

Carter wartete.

»Ich trug den ganzen Krempel, und ich war schon im Foyer, ehe ich begriff, dass jemand da war. Normalerweise bin ich aufmerksamer.«

»Wer war es?« Carter dachte an sein Gefühl, auf dem Weg nach Hause verfolgt zu werden.

»Ich weiß nicht, ich konnte ihn nicht besonders gut erkennen.« Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn an den Holzständer neben der Tür. »Ich glaube, er wollte nicht, dass ich ihn ansehe. Er war groß, blond, glaube ich, und trug eine Sonnenbrille. Beinahe sofort, nachdem ich das Haus betreten hatte, drehte er sich um und verließ das Foyer. Ich wollte gerade die Post holen.«

»Ich habe sie bereits geholt«, sagte Carter wie betäubt.

»Gut, weil ich nicht mehr nachgesehen habe. Er stand direkt davor. Ich könnte sogar schwören, dass er mit dem Finger über unsere Namen auf dem Briefkasten fuhr.«

Carter fühlte einen eisigen Schauder und schloss Beth instinktiv fest in die Arme.

»Es geht mir gut«, sagte sie mit einem nervösen Lachen, »wirklich. Sobald ich meinen Schlüssel in die Tür zur Lobby gesteckt habe, ging er nach draußen und die Treppe hinunter.«

»Hast du gesehen, wohin er gegangen ist?«, fragte Carter.

»Es sah aus, als sei er über die Straße in den Park gegangen, aber ich habe nicht gewartet, um es herauszufinden.«

Carter ließ Beth los und rannte zum vorderen Fenster, das zum Park hinaus zeigte. Die Straßenlaternen waren noch nicht eingeschaltet, und in der Abenddämmerung war es schwer, viel zu erkennen. Ein paar Inlineskater zogen noch ihre Runden auf den Fußwegen, ein Mädchen im Teenageralter führte einen Hund spazieren, und ganz hinten verließ gerade eine hochgewachsene Gestalt im roten Mantel den Park durch den anderen Eingang.

Carter schnappte sich seine Lederjacke vom Garderobenständer und entriegelte hastig die Tür.

»Wo willst du hin?«, fragte Beth alarmiert. »Du wirst doch wohl nicht etwa nach dem Kerl suchen?«

»Ich habe ihn gesehen«, sagte Carter, sperrte die Tür auf und rannte hinaus.

»Aber ich habe dir doch gesagt«, erklärte Beth, obwohl sie ihn bereits die Treppe hinunterstürzen hörte, »dass er eigentlich gar nichts gemacht hat!«

Sie hörte Carters Füße auf dem Treppenabsatz landen, dann die nächsten Stufen hinunterrasen. Sie eilte zur Tür und rief: »Carter! Vergiss die ganze Sache doch einfach!«

Sie hörte, wie die Tür zum Foyer aufgerissen wurde und anschließend krachend ins Schloss fiel.

»Mach keinen Mist, Carter«, rief sie ins leere Treppenhaus hinein. Sie stand an der offenen Wohnungstür und dachte Und jetzt? Sie bedauerte, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte.

Sie schloss die Tür und lehnte den Kopf von innen dagegen. Warum regte sich Carter nur so darüber auf? Ihr kam der Gedanke, dass sie es hier womöglich mit einer klassischen Verdrängungsreaktion zu tun hatte. Vielleicht hatte er die schlechte Nachricht vom morgendlichen Termin in der Praxis noch nicht ganz verdaut, und jetzt bahnten sich die Frustration und die aufgestaute Energie ihren Weg in alle möglichen unpassenden Richtungen … wie zum Beispiel diese.

Sie verschloss alle Schlösser bis auf den Türriegel und ging in die Küche, um das chinesische Essen wegzuräumen. Zumindest hatte sie ihm nichts von der unheimlichsten Sache überhaupt erzählt. Sie könnte schwören, dass der Typ, als er hinter ihr im Foyer gestanden hatte, in der Luft herumgeschnüffelt hatte. Wie ein Hund, der einen neuen Geruch aufnimmt.


Als Carter den Park endlich erreicht hatte, war seine Jagdbeute verschwunden. Er rannte zur anderen Seite des Parks, wich einigen Autos aus und lief in die Richtung weiter, die der Kerl eingeschlagen zu haben schien. Weit vor sich, vielleicht zwei Blocks entfernt, meinte er, etwas Rotes zu erblicken, eine Sekunde bevor ein Bus ihm für den Moment den Blick versperrte.

Er beschleunigte seine Schritte, aber als der Bus weiterfuhr, war der rote Fleck verschwunden. Der Kerl konnte nach links oder rechts abgebogen sein, aber Carter entdeckte in keiner Richtung etwas, das nach ihm aussah. Er rannte geradeaus, und wieder meinte er, den roten Mantel zu erkennen, der gerade beim Obsthändler auf der anderen Straßenseite um die Ecke bog. Aber die Ampel war gegen ihn, und als sie endlich ein Einsehen hatte und er die Straße überqueren konnte, war der Kerl ihm schon wieder entwischt. Aber zumindest wusste er, in welche Richtung er verschwunden war. Carters Atem ging stoßweise, und er wünschte, er hätte nicht ausgerechnet seine abgetragenen Slipper an. Trotzdem rannte er weiter, schlängelte sich tänzelnd durch die anderen Menschen auf dem Gehweg. Nicht lange, und er fand sich in einer schmerzlich vertrauten Ecke wieder. Genau auf der anderen Seite der breiten Straße befand sich der Haupteingang des St. Vincent’s Hospital.

Und nirgends eine Spur von dem roten Mantel.

Mit einer Hand stützte er sich am Straßenschild ab, sah sich um und holte keuchend Luft.

Es war dieselbe Stelle, an der Ezra Metzger ihn nach der Beerdigung abgesetzt hatte. Er stand vor dem Grundstück, auf dem demnächst Villager-Genossenschaftswohnungen errichtet würden, wie die Plakatwand verkündete. Der Tag mochte vielleicht nicht mehr fern sein, aber im Moment war es ein dunkler und dreckiger Schandfleck. Ein verbogener, durch eine Kette gesicherter Zaun umgab das leere, verlassene Gebäude aus schäbigem braunem Klinker. Carter blickte auf die brüchigen Stufen, die zerbrochenen, mit Sperrholz vernagelten Fenster, die verzierte, aber trostlose Fassade aus der vorletzten Jahrhundertwende. Der Haupteingang war kreuz und quer mit schweren Bohlen vernagelt und mit einem Warnschild

BETRETEN VERBOTEN

versehen. Darüber hing an einer einzigen Schraube ein verrostetes Metallschild. Obwohl es mit Graffiti bedeckt war, konnte Carter die Worte MEDIZINISCHES ZUBEHÖR erkennen. Interessanter jedoch war die Inschrift hinter dem halb abgefallenen Schild, die in den Stein der ursprünglichen Fassade eingemeißelt war:

NEW YO K SANATOR M FÜR TUBER UL SE


UND INFEKT NSKRAN HEIT N.

Man musste nicht regelmäßig Das Glücksrad sehen, um den Namen zu vervollständigen: New York Sanatorium für Tuberkulose und Infektionskrankheiten. Unter den eingemeißelten Buchstaben stand das Gründungsjahr: 1899.

Auf Carter wirkte das Gebäude wie aus einem Roman von Dickens. Wie lange es wohl in Betrieb gewesen war, ehe man es dem endgültigen Verfall preisgegeben hatte? Die Reinkarnation als Lager für medizinisches Zubehör jedenfalls schien auch schon eine ganze Weile zurückzuliegen. In Manhattan gab es nicht mehr viele Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, und auch dieses hier würde bald dran glauben müssen. Normalerweise tat es Carter leid, diese alten Häuser verschwinden zu sehen, zu sehen, wie die Geschichte der Stadt ausgemerzt und durch seelenlose gläserne Wolkenkratzer und Wohntürme für Yuppies verdrängt wurde. Dieses spezielle Gebäude jedoch strahlte etwas aus, von dem er bezweifelte, dass es jemand vermissen würde. Selbst wenn er nicht gewusst hätte, welchem Zweck es ursprünglich einmal gedient hatte, hätte er es öde und entmutigend gefunden. Unheilvoll, wenn er ganz ehrlich war.

Aber es gab kein Zeichen von dem Mann in dem roten Mantel, weder hier noch sonst wo. Entweder hatte Carter ihn verloren, oder der Kerl hatte ihn bewusst abgeschüttelt.

Ein kalter Wind pfiff die Straße entlang, und Carter zitterte. Ein Krankenwagen mit rotierenden Lichtern bog in der Ferne um die Ecke und näherte sich dem Eingang zur Notaufnahme.

Er überquerte die Straße und dachte an das chinesische Essen, das Beth mitgebracht hatte. Die Aussicht darauf war verdammt verlockend. Er blieb noch einmal stehen und blickte zurück zu dem verlassenen Gebäude mit den verbarrikadierten Fenstern. Die massiven Wände sahen aus, als würden sie meditieren. Plötzlich hatte er das unerklärliche Gefühl, dass das Haus selbst, heruntergekommen, unbewohnt und kurz vorm Zusammenfallen, seinen Blick erwiderte. Verrückt, er wusste es, aber so war es. Er wandte sich ab und ging davon. Ein Zitat, möglicherweise von Nietzsche, schoss ihm durch den Kopf. Wie ging es noch genau? Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Wie wahr.


23. Kapitel

»Und Henoch sah, eingereiht inmitten der Engel, jene, die bekannt waren als die Wächter. Ihr Haar glich gehämmertem Gold, ihre Gewänder … Ihre Augen, welche sie niemals schlossen, waren tief wie Brunnen in der Wüste. Sie wachten über die … der Menschen und lehrten sie viele Dinge.«

Ezra war erfreut, wie sich die Stücke der Schriftrolle zusammenfügten. Es war eine mühsame Arbeit, aber er hatte gerade einen weiteren zerfledderten Schnipsel gefunden, der sich genau an der richtigen Stelle ordentlich in den Text einzufügen schien, als er ein Klopfen an der nächsten Tür, der Schlafzimmertür, hörte.

Verdammt. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um gestört zu werden.

Er ignorierte das Klopfen, aber es ertönte erneut, und dieses Mal hörte er Gertrude, die mit leiser Stimme aus dem Korridor rief: »Ezra, da ist ein Anruf für dich.«

Ein Anruf? Ezra hatte nicht einmal eine eigene Telefonnummer. Wer sollte ihn auch anrufen? Und was Freunde anging … Dann dämmerte es ihm, wer es sein könnte, und ohne auch nur die Latexhandschuhe auszuziehen, sprang er von seinem Zeichentisch auf, rannte ins nächste Zimmer und riss die Tür auf.

»Es ist ein gewisser Carter«, sagte Gertrude und hielt ihm das schnurlose Telefon hin.

»Hier ist Ezra«, sagte er und scheuchte die neugierige Gertrude fort. »Carter Cox?«

»Ja.«

Er klang nicht gerade freudig. Trotz der einsilbigen Antwort spürte Ezra, dass Carter ihn nur widerwillig anrief.

»Ich hatte gehofft, dass Sie anrufen«, sagte Ezra, um ihn weiter zu ermutigen.

»Und ich hatte gehofft, ich bräuchte es nicht.«

»Aber jetzt haben Sie es getan, und das ist alles, was zählt. Sie haben also über das nachgedacht, was ich im Wagen gesagt habe? Das ist gut. Das ist ein Anfang.«

Carter räusperte sich und sagte: »Ja. Nun ja, vielleicht.«

»Wann wollen wir uns treffen? Um zu reden?«

»Ich habe heute zum Lunch Zeit«, sagte Carter. »Und wenn Sie Lust hätten, nach Downtown in den Fakultätsclub der NYU zu kommen, würde ich Sie gerne einladen.«

Nein, dachte Ezra, das klang entsetzlich. Außerdem hatte Kimberly vor, sich heute von Onkel Maury auf eine Einkaufstour fahren zu lassen, so dass ihm nichts anderes übrigbliebe, als ein Taxi zu nehmen. Ob er damit wohl die Auflage vom Gericht verletzte, ständig erreichbar zu sein?

»Wie wäre es«, sagte Ezra, plötzlich ganz beflügelt, »wenn Sie hierherkämen? Ich könnte einen Lunch zubereiten lassen, und wir könnten uns absolut ungestört unterhalten.«

Es gab eine Pause, dann sagte Carter: »Also gut, danke. Wo wohnen Sie?«

Ezra gab ihm die Adresse und legte auf. Anschließend stand er stocksteif da und dachte nach. Was hatte Carter schließlich doch noch dazu gebracht, die Nummer zu wählen, die er auf einen Fetzen Papier gekritzelt hatte? Er hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Und jetzt war der Anruf gekommen. Was sagt man dazu! Dinge, die womöglich größer waren, als selbst er, Ezra, es sich vorstellen konnte, waren erneut in Bewegung gesetzt worden. Wenn es tatsächlich einen größeren Plan gab, hatte er vielleicht gerade einen kurzen Blick darauf erhascht.

Dem Anlass zu Ehren duschte Ezra, rasierte sich und zog einen frischen schwarzen Rollkragenpullover an. Als Carter eine Stunde später eintraf, wartete er bereits im Foyer auf ihn, um ihn zu begrüßen. Carter, das merkte er, war einen Moment lang überrascht von der prunkvoll ausgestatteten Wohnung. Die Skulpturen von Rodin, die gewölbten Decken, der Ausblick aus dem Penthouse. Ezra war natürlich daran gewöhnt.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er, nahm ihm die Lederjacke ab und reichte sie Gertrude, die wie eine Mutterglucke um sie herumschwirrte. »Folgen Sie mir«, sagte er und führte seinen Gast über den polierten Marmorfußboden. »Wir werden im Esszimmer speisen. Dort haben wir vollkommene Ruhe.« Doch dann hörte er Kimberlys Stimme, die gerade auf sie zukam, und er blieb stehen. Sollte sie nicht schon längst zum Shoppen sein?

»Ich werde heute bei ein paar Galerien vorbeischauen«, sagte sie gerade, »aber damit bin ich bis zum späten Nachmittag fertig. Merken Sie mich für halb sechs vor.«

Einen Moment später kam sie in Sicht, als sie gerade ihr Handy zuklappte. Als sie Ezra und Carter sah, blickte sie von einem zum anderen, als versuchte sie herauszufinden, was an dem Bild nicht stimmte. Diamantohrringe glitzerten diskret unter ihrem kastanienbraunen Haar.

»Du hast Besuch von einem Freund?«, sagte sie mit kaum verhohlener Überraschung zu Ezra. »Ich bin Kimberly Metzger«, sagte sie zu Carter und streckte ihm eine perfekt manikürte Hand entgegen.

»Carter Cox.«

»Sie sind nicht zufällig«, fragte sie und senkte die Stimme, »sein Bewährungshelfer, oder?«

So sehr er sie auch hasste, Ezra war beeindruckt. Sie schaffte es in Rekordzeit, ihn schlechtzumachen.

»Vom Gericht?«, fuhr sie fort, ehe Carter sich eine Antwort einfallen lassen konnte. »Oder aus Dr. Neumanns Praxis?«

»Nein, nichts dergleichen«, sagte Carter leicht befremdet. »Ich unterrichte an der NYU. Ezra und ich haben einige Dinge zu besprechen. Über seine … Forschung.«

Sie nickte und sagte: »Oh, seine Forschung«, während sie ihr Telefon in die schwarze Handtasche von Chanel gleiten ließ. »Das ist bestimmt sehr wichtig.« Sie drückte auf den Knopf für den Lift und schenkte ihnen keinerlei Beachtung mehr.

Ezra führte seinen Gast durch mehrere riesige und verschwenderisch ausgestattete Räume. Carter entdeckte ein Porträt eines flämischen Malers, von dem er hätte schwören können, dass er es einmal in der Raleigh Galerie gesehen hatte. Obwohl Ezra kein Wort sagte, merkte Carter, dass er innerlich kochte. Da seine Mutter unmöglich noch so jung und hübsch sein konnte, musste es sich bei ihr um seine Stiefmutter handeln. Die böse Stiefmutter, der Art nach zu urteilen, wie sie miteinander umgingen.

Im Esszimmer war der Tisch, an dem mit Leichtigkeit zwanzig Personen Platz fanden, für zwei gedeckt. Gefaltete Leinenservietten, Kristallkelche, glänzendes Silber. Zwei Gedecke mit kunstvoll pochiertem Lachs auf wildem Reis waren bereits serviert. Carter und Ezra nahmen an einem Ende des Tisches Platz, Ezra am Kopf der Tafel und Carter direkt rechts neben ihm, von wo aus er durch eine Reihe von Terrassentüren auf eine großzügige Veranda mit kleinen Bäumen und Büschen blickte.

Carter war hungrig, und das Essen war ebenso gut zubereitet wie angerichtet. Ezra hingegen stocherte nur hier und da auf seinem Teller herum. Es schien, als wartete er nur auf den Moment, bis sein Gast auf den Grund ihres Treffens zu sprechen käme. Ein-oder zweimal erhaschte Carter einen Blick auf die Haushälterin, die ihren Kopf aus der Küchentür steckte und ihn sofort wieder zurückzog, als wollte sie sich nur vergewissern, dass die beiden Jungs auch allein zurechtkämen.

Nach einer halbherzigen Unterhaltung über die Möglichkeit eines Streiks beim öffentlichen Nahverkehr fragte Carter, ob der Bauplatz gegenüber des St. Vincent’s Hospitals tatsächlich ein Projekt von Ezras Vaters sei.

»Das sind sie alle«, erwiderte Ezra wegwerfend.

Okay, dachte Carter, hier war er in ein Fettnäpfchen getappt. Jetzt wagte er nicht mehr, nachzufragen, auf was seine Stiefmutter sich bezogen hatte, als sie ihn gefragt hatte, ob er Ezras Bewährungshelfer sei. Wer war dieser Kerl wirklich? Irgendein Krimineller?

»Also, wann erzählen Sie mir endlich, warum Sie angerufen haben?«, fragte Ezra, als er sich nicht länger bezähmen konnte. »War es Ihre eigene Idee, oder hat jemand sie darauf gebracht? Ihr italienischer Freund zum Beispiel?«

Carter war beeindruckt. Der Typ mochte seltsam sein, aber seine Vermutungen trafen stets den Nagel auf den Kopf. »Ja, es war Russo. Heute Morgen im Krankenhaus.«

»Was hat er gesagt?«

Carter hasste es, auch nur daran zu denken. Bei seinem Besuch hatte er erwähnt, dass er einen Mann getroffen habe, der genau wie Joe glaubte, das Fossil sei zum Leben erwacht. Daraufhin hatte Joe sich den Filzstift geschnappt und Rede mit ihm! auf die kleine Tafel gekritzelt. »Er möchte, dass ich mit Ihnen rede, um herauszufinden, was Sie wissen.«

»Das ist alles?«, fragte Ezra.

»Er kann noch nicht sprechen, seine Lungen und Stimmbänder wurden beim Feuer arg in Mitleidenschaft gezogen. Er kann nur ein paar Worte auf einmal mitteilen.«

»Ich möchte selbst mit ihm sprechen, sobald das möglich ist. Werden Sie es mich wissen lassen, wenn es so weit ist?«

Carter nickte, obwohl er im Stillen dachte, dass Ezra der letzte Mensch war, dem er das mitteilen würde.

»Eines Tages muss ich mich mit ihm hinsetzen und meine Theorien in aller Ausführlichkeit mit ihm diskutieren.«

»Theorien? Worüber?«

Ezra spielte mit ein paar Reiskörnern auf seinem Teller herum, als würde er überlegen, wie er das, was er zu sagen hatte, am besten formulierte. »Ihr Freund ist durch eine schreckliche Erfahrung aufgeschlossen dafür geworden. Aber ich bin mir nicht wirklich sicher, wie es bei Ihnen damit steht. Sie sind das, was ich einen Mann der Wissenschaft nennen würde«, sagte er und blickte immer noch nicht auf, »und meiner Erfahrung nach bedeutet das, dass Sie ziemlich voreingenommen sind.«

Carter reagierte verärgert. »Das ist meiner Erfahrung nach gewiss nicht richtig. Wenn Sie mich fragen, sind Wissenschaftler die aufgeschlossensten, wissbegierigsten Menschen auf der Welt.«

»Das stimmt nur, solange ihre Fragen sie zu den Antworten führen, die sie von Anfang an erwartet hatten«, erwiderte Ezra. »Nur solange sie das finden, wonach sie an den üblichen Stellen gesucht und genau das Erwartete gefunden haben.«

Carter wollte nicht den Eindruck erwecken, er sei übermäßig defensiv, und bedachte diese Erwiderung. Tatsächlich, da war etwas Wahres dran. Waren seine Entdeckungen in der Knochengrube ursprünglich nicht von den meisten seiner Kollegen außer Acht gelassen worden? Hatten er und andere nicht erbitterten Widerstand gegen den Gedanken erfahren, dass es sich bei den modernen Vögeln um die direkten Nachfahren der Dinosaurier handelte? Musste die Theorie der Geochronologie, der er selbst anhing, nicht immer noch einen schweren Kampf austragen, um akzeptiert zu werden? »Okay«, räumte er schließlich ein, »ich weiß, worauf Sie hinauswollen, und ich gebe zu, dass ich selbst einigen Widerstand gegen neue Ideen zu spüren bekommen habe.«

Ezra schnaubte unbeeindruckt.

»Aber jeder gute Wissenschaftler«, fuhr Carter fort, »gleichgültig, ob Astronom oder Paläontologe, will tatsächlich die Wahrheit herausfinden. Er will wissen, was der Beweis zeigt oder die empirisch gesammelten Daten enthüllen. Er hat kein Interesse daran, für die eine oder andere Theorie zu plädieren, ehe er sich angesehen hat, was er vor sich hat, und ein Muster oder eine Idee erkennt, die allem einen Sinn gibt.«

»Aber das setzt voraus, dass er weiß, wohin er schauen muss, dass er weiß, welche Daten er sammeln muss und wie diese miteinander zu verknüpfen sind.«

»Ja, sicher«, sagte Carter und fragte sich, wie man es sonst machen sollte. »Ein Wissenschaftler, der nicht weiß, welches Material für seine Arbeit relevant ist, wird niemals weit kommen.«

»Und ich nehme an, dass Sie zum Beispiel glauben, Sie wüssten es? Sie glauben, dass Sie alles mit einbezogen haben, was für die Arbeit mit dem Fossil relevant sein könnte. Ist es nicht so?«

Womit sie wieder beim Fossil wären. »Ja, das glaube ich.«

»Sind Sie sich darüber im Klaren, dass eine Minute nach der Explosion in Ihrem Labor die Glocken in jeder Kirche in der Stadt zu läuten begonnen haben?«

Carter erinnerte sich, davon im Radio gehört zu haben, als sie von Abbies und Bens Landhaus zurückgefahren waren. »Ja. Es war eine Art Halloweenstreich.«

»Ein Streich, für den es bis jetzt noch keine Erklärung oder Lösung gibt.«

»Und Sie glauben, dass das Glockengeläut etwas mit meiner Arbeit zu tun hat?«, sagte Carter ungläubig. »Wollen Sie etwa sagen, dass die Gewalt der Explosion eine Art … ja was, ausgelöst hat? Eine einheitliche Schwingung in den Kirchenglocken im ganzen Umkreis?«

Unvermittelt beugte Ezra sich vor, wobei er den Teller mit den Ellenbogen zur Seite schob. »Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede! Die Fakten springen Ihnen ins Auge, aber Sie wollen sie einfach nicht sehen!«

Carter erinnerte sich an seinen Gedanken darüber, in einen Abgrund zu blicken. »Welche Fakten meinen Sie?«

»Glauben Sie, diese beiden Ereignisse sind nichts als Zufall?«

»Genau das denke ich. Was sollte es sonst sein?«

In Ezras Blick loderte Überzeugung oder, wie Carter dachte, der Wahnsinn. Er merkte, dass sein Gastgeber versuchte, sich zu einer Entscheidung durchzuringen. Er schätzte Carter ab und fragte sich, ob er das Thema anschneiden sollte, dem er schwerlich länger ausweichen konnte. Schließlich sagte er, mit einer Stimme, die andeutete, dass er einige tiefgreifende Vorbehalte überwunden hatte. »Kommen Sie mit.«

Ezra warf seine Serviette auf den Tisch, erhob sich und verließ den Raum. Carter folgte ihm. Er hatte keine Ahnung, wo es hinging oder was ihn dort erwartete, aber nach der Unterhaltung, die sie gerade geführt hatten, sollte er sich besser auf etwas gefasst machen. Was immer Ezra ihm zeigen wollte, es würde … ziemlich absonderlich sein.

Am Ende eines langen Korridors blieb Ezra stehen und schloss eine Tür auf. Er hielt sein eigenes Zimmer, seine eigenen Räume, verschlossen? Carter hatte immer mehr das Gefühl, es mit einer paranoiden Persönlichkeit zu tun zu haben. Ezra trat ein, und sobald Carter das Zimmer ebenfalls betreten hatte, schloss und versperrte er die Tür hinter ihnen.

»Ich muss gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergreifen«, sagte Ezra.

Carter nickte, als würde er verstehen. Das Schlafzimmer, in dem er jetzt stand, war sehr groß und gut möbliert, aber bis jetzt hatte er nichts entdeckt, das ihm sonderlich unheimlich oder bemerkenswert vorgekommen wäre. Wenn Ezra etwas hatte, das er ihm zeigen wollte, dann musste es sich hinter der Tür zu seiner Linken verbergen.

»Ehe ich Sie einweihe«, sagte Ezra, »müssen Sie mir versprechen, dass Sie niemandem ein Wort davon verraten. Kann ich mich darauf verlassen?«

Carter willigte ein.

»Und Sie versprechen auch, dass Sie nicht voreingenommen sind?«

»Ehrenwort!«

Ezra blieb stehen, als sei er immer noch nicht sicher, ob er den nächsten Schritt wirklich machen sollte. Doch schließlich öffnete er die Tür zum angrenzenden Zimmer und blickte sich um, ehe er eintrat. Ein weiteres Anzeichen von Paranoia?, dachte Carter.

Die Luft war stickig, der Raum dämmrig. Es gab Terrassentüren, wie im Esszimmer, doch die Vorhänge waren zugezogen, und Carter hatte den ausgeprägten Eindruck, dass sie nur selten, wenn überhaupt jemals, zurückgezogen wurden. Ezra ging zur anderen Seite des Raumes und schaltete die Lampe über einem Zeichentisch ein. Auf dem Tisch und an den Wänden davor und daneben bedeckten Klarsichthüllen gelbe Bruchstücke und Streifen von etwas, das aussah wie antike Schriftrollen oder Papyri.

»Was ist das?«, fragte Carter. »Die Schriftrollen vom Toten Meer?«

Ezra antwortete nicht, und Carter dachte plötzlich O mein Gott, sie sind es tatsächlich! Er sah Ezra an, der seinem Blick standhielt. In seinen Augen sah er Trotz, aber auch Stolz aufblitzen.

»Wie um alles auf der Welt sind Sie an die rangekommen?«

»Sagen wir, ich habe sie gefunden. Sie waren dazu bestimmt, in meinen Besitz zu gelangen.«

Carter konnte nicht widerstehen und trat näher. Er ging zur Wand und musterte eine der Hüllen, die dort hingen. Selbst für jemanden wie ihn, der den Umgang mit altertümlichen Dingen gewohnt war, war es faszinierend. Noch nie zuvor hatte er ein so altes Dokument gesehen, und soweit er wusste, gab es keine, die älter waren. Dieses hier war eng mit unentzifferbaren Schriftzeichen bedeckt, aufgeschrieben mit einer leicht violetten Tinte, die fast schwarz wirkte. Er blickte hinüber zum Zeichentisch, wo Ezra offensichtlich dabei war, ein weiteres Stück der uralten Schriftrolle zusammenzusetzen.

»Was steht darin?«

»Wie Sie sehen können, setze ich sie noch zusammen. Aber sie stellt eine Mischung dar, aus Geschichten, Enthüllungen … und Prophezeiungen.«

Carter beugte sich näher über das Blatt auf dem Zeichentisch. »Ist das Papyrus?«

»Nein«, sagte Ezra. »Es ist etwas anderes. Aber vorausgesetzt, es stammt tatsächlich ursprünglich aus dem Nahen Osten, wäre es unwahrscheinlich, dass Reis beigemischt wurde. Vermutlich handelt es sich um irgendeine Tierhaut – Ziege, Schaf, Kamel, Ochse.«

»Klingt, als müssten Sie es noch genauer eingrenzen.«

»Das stimmt … und ich hatte gehofft, dass Sie mir dabei helfen könnten.«

Carter warf einen kurzen Blick auf Ezra, um zu sehen, ob er einen Witz machte, aber es sah nicht so aus. Er meinte es ernst. »Woher soll ich das wissen?«, sagte er. »Das ist nicht gerade mein Fachgebiet.«

»Aber Sie haben ein Labor an der NYU. Sie haben Zugang zu allen üblichen Datierungstechniken und könnten zum Beispiel eine Radiocarbondatierung durchführen. Und ich bin sicher, dass Sie auch eine molekulare Gewebsanalyse machen lassen könnten.«

Ezra stellte sich neben Carter und deutete mit dem Finger auf eine Stelle der Schriftrolle, wo das Licht am hellsten war. »Sehen Sie das hier? Es hat eine Struktur, vielleicht sogar die Porenstruktur eines Tiers. Was für ein Tier es sein könnte, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, woraus die Tinte besteht.« Er blickte zu Carter hinüber. »Aber wenn Sie in Ihrem Labor die entsprechenden Tests machen würden, könnten Sie es mir sagen.«

»Und das würde Ihnen weiterhelfen?«

»Bei meiner Arbeit? Enorm. Wenn ich die Zusammensetzung und das Alter der Schriftrollen kennen würde, wäre ich in der Lage, eine Menge mehr darüber herauszufinden.«

Carter richtete sich auf. »Wenn es so wichtig ist, wie kommt es dann, dass Sie keine Möglichkeit gefunden haben, die Laboruntersuchungen selbst zu machen?«

Ezra wandte den Blick ab, und für Carter sah es aus, als probte er, was genau er sagen wollte. »Während mein Anspruch auf dieses Material vollkommen legitim ist, gibt es immer noch bestimmte Behörden, hier und anderswo, die das bestreiten würden.«

Puh, dachte Carter, der Typ steckte ja echt ziemlich in der Klemme.

»Und meine Aktivitäten werden gerade«, fügte Ezra, »sehr genau beobachtet.«

Damit spielte er vermutlich auf den Bewährungshelfer an, den seine Stiefmutter erwähnt hatte. Was immer Ezra im Schilde führte, es war auf jeden Fall ein großes Ding. Carter sah sich im Arbeitszimmer um. Auf dem ganzen Boden lagen Bücher und Papiere verstreut. In dem Bemühen, einen brauchbaren Arbeitsplatz zu schaffen, hatte Ezra seine Werkzeuge auf eine alte Spielzeugkiste gelegt. Und so merkwürdig es auch war, Carter musste zugeben, dass er diesen Platz sofort erkannt hätte, genauso, wie er sofort gewusst hätte, was für eine Sorte Mensch ihn sich geschaffen hatte. Es erinnerte ihn an einige seiner eigenen improvisierten Büros und Forschungsecken. Trotz all des Geldes, das er offensichtlich hatte, gehörte Ezra Metzger zu jenen zielstrebigen Exzentrikern, die es gewöhnlich schafften, sich in ein universitäres Umfeld zu mogeln und dann für den Rest ihrer Tage in ihrer Nische in der Versenkung zu verschwinden. Dieser Typ war Carter absolut vertraut. Er hatte eine Schwäche für diese intellektuellen Sonderlinge – vielleicht, weil er wusste, wie gefährlich nahe er mit seinen eigenen Expeditionen und Lieblingstheorien daran war, selbst als einer zu enden.

»Angenommen, ich erkläre mich bereit, das zu tun, was Sie wollen«, sagte er, »und ich sage nicht, dass ich es kann – wie stellen Sie sich das vor? Meinen Sie, ich könnte einfach ins Labor marschieren und eine dieser Schriftrollen auspacken?«

»Nein, ich weiß, dass Sie das nicht können«, sagte Ezra beflissen, als spürte er, dass er kurz vor dem Sieg stand. »Alles, was Sie brauchen, ist eine winzige Probe, und die habe ich bereits für Sie ausgesucht.« Er hielt einen sandwichgroßen Plastikbeutel in der Hand, in dem sich ein Fragment der Schriftrolle befand. »Das sollte genügen, um damit zu arbeiten. Und ehrlich gesagt ist es alles, was ich erübrigen kann.«

Carter nahm die Tüte und hielt sie ins Licht. Der Streifen darin war etwa zwei Zentimeter lang und eineinhalb Zentimeter breit, aber er wusste, dass Ezra recht hatte. Für die Laboruntersuchungen war es völlig ausreichend – wenn er sie denn machen konnte. Er würde einige Überredungskünste anwenden müssen, um zu erklären, warum er, ein Paläontologe, ausgerechnet mit dieser Probe ankam und wofür er die Testergebnisse brauchte.

Aber er hatte zuvor schon merkwürdige Bitten geäußert.

Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass er nie die Ergebnisse der Probe angefordert hatte, die Joe und er von dem Fossil genommen hatten. In der ganzen Aufregung nach der Explosion, dem Tod von Bill Mitchell und Joes Krankenhausaufenthalt hatte er das völlig verdrängt. Inzwischen dachte er an das Fossil nur noch als etwas, das unwiederbringlich im Inferno des Labors verlorengegangen war. Das machte es wesentlich einfacher. Aber das stimmte ja gar nicht. Eine winzige, saubere Probe existierte immer noch. Es war nicht viel, aber er musste dankbar sein für alles, das ihm erhalten geblieben war. Und es würde ihm einen guten Grund verschaffen, überhaupt im Labor für Biomedizin aufzutauchen.

»Sie wissen, dass solche Laboruntersuchungen nicht umsonst sind«, sagte Carter. »Da wird ordentlich was zusammenkommen.«

»Was immer es kostet«, sagte Ezra und wischte das Problem beiseite, »ich werde dafür aufkommen.«

Nach allem, was er bisher gesehen hatte, glaubte Carter ohne weiteres, dass Ezra das Geld beschaffen konnte. Er wollte gerade den Plastikbeutel in seine Hemdtasche stecken, doch Ezra hielt ihn auf.

»Ihre Körperwärme«, warnte er.

»Wie soll ich es sonst transportieren?«

Ezra drehte sich um und griff nach einem Briefumschlag. »Tun Sie es hier hinein und halten Sie ihn in der Hand, oder stecken Sie ihn in die äußere Manteltasche.«

Bereitwillig schob Carter den Beutel in den Briefumschlag und verschloss ihn. Allein durch diese Handlung hatte er das Gefühl, ungewollt seine Komplizenschaft zu signalisieren. Er hatte eine Art Pakt mit Ezra geschlossen, den genauer zu hinterfragen er nicht allzu begierig war. Aber andererseits gab es gerade so viele Dinge in seinem Leben, die einer genaueren Betrachtung kaum standhalten würden. Vielleicht war er dumm, vielleicht auch nur hilfsbereit. Möglicherweise versuchte er lediglich zweifelsfrei zu beweisen, dass er nicht einer dieser engstirnigen Wissenschaftler war, über die Ezra sich ausgelassen hatte. Schön und gut, aber wem wollte er das beweisen – Ezra oder sich selbst?


24. Kapitel

Arius roch sie, noch ehe sie aus dem Gebäude trat. Der Duft von Hyazinthen wehte ihm entgegen und verdeckte kaum das feinere, aber noch verführerische Aroma darunter. Der Geruch von Schönheit und Jugend … und Verlangen. Sie war schlank, hatte üppiges braunes Haar und grüne Augen, und er fragte sich, ob der alte Mann, derjenige, der jetzt die Wagentür für sie öffnete, ebenso in ihrem Duft schwelgte. Wie könnte er nicht?

Während der Wagen langsam die Auffahrt umrundete, stand er in seinen neuen Kleidern neben einem verwelkenden Baum. Wie sollten sie auch wachsen können, wenn ihre Wurzeln unter diesem … Beton begraben waren? Er beobachtete.

Inzwischen wusste er, dass es eine große Stadt war, mit unzähligen Menschen darin.

Aber sein Netz hielt ihn in der Mitte, und es wuchs, wurde größer und komplexer. Er wusste, dass sein Netzwerk, wenn er aufmerksam lauschte, ihn schließlich mit allem versorgen würde, was er wissen musste … und mit allem, das nötig war, um die Fäden zu ihrem Anfang zurückzuverfolgen. Carter Cox, dessen Namen er von dem silberfarbenen Briefkasten abgelesen hatte, hatte ihn zu diesem Punkt geführt, und jetzt wusste er, dass es Zeit war, dem neuen Faden zu folgen.

Zeit, das Netz erneut zu erweitern.

Als er sich umdrehte und entfernte, kam er an ein paar jungen Männern vorbei, die sich angeregt unterhielten. Erfreut stellte er fest, dass sie nicht innehielten, um ihn anzustarren. Ihre Unterhaltung wurde nicht einmal langsamer. Eine Frau mit einem Kinderwagen blickte lächelnd in seine Richtung, dann wandte sie sich wieder brabbelnd ihrem Baby zu.

Jetzt war er … glaubwürdig.

Er hatte nicht lange gebraucht, um diese neue Welt einzuschätzen und zu begreifen, dass er gewisse Veränderungen vornehmen musste. Er hatte sich umgesehen und die anderen Männer auf der Straße gemustert. Rasch hatte er den Unterschied zwischen denen erkannt, die sich abkämpften, und den Erfolgreichen, zwischen den Ungewollten und jenen, die begehrt waren. Und er war schnell dahintergekommen, dass der rote Umhang – Mantel – falsch war. Es war ein Banner des Widernatürlichen. Er hatte auch die Handtasche dieser Kreatur genommen und Geld darin gefunden, und noch mehr. Die Tasche war gefüllt mit diesen Karten, kleinen Karten, die gerade in die Handfläche passten, jede mit einem anderen Namen darauf. Er hatte beobachtet, wie Menschen sie benutzten, um zu bekommen, was immer sie ersehnten.

Und er hatte schleunigst dasselbe getan.

Jetzt war sein Mantel schwarz, dazu geschmeidig, warm und lang genug, dass er beinahe seine Knöchel berührte. Die spitzen glänzenden Schuhe waren ebenfalls schwarz. Er trug einen Anzug, tiefblau wie der Himmel, kurz bevor die Sonne den Horizont erreichte, und ein weißes Hemd aus weißer weicher Seide mit offenem Kragen, der sich wie ein Band an seinen Hals schmiegte. Obwohl er die Handtasche, ein weiteres Zeichen unnatürlicher Künstlichkeit, längst weggeworfen hatte, ebenso wie die dunkle Brille – Sonnenbrille – die er darin gefunden hatte, hatte er diese durch eine mit andersgefärbten Gläsern ersetzt. Die neue Brille war rund, hatte einen Goldrahmen und bernsteinfarbene Gläser. Er wusste, dass seine Augen andernfalls verstörend wirken könnten, denn sie bestanden nicht aus einer einzigen Farbe. Vielmehr konnte er sie entsprechend seiner Stimmung und Umgebung verändern. Er wusste, dass die Menschen in ihnen das Licht sahen, das wie Blut durch seinen Körper strömte. Seine Augen konnten wie ein Wasserfall aus Sonnenlicht leuchten, aufblitzen wie ein Fluss aus Goldmünzen oder sieden wie eine Flut aus geschmolzener Lava.

Alles in allem war es besser, wenn er die Brille aufbehielt.

Hin und wieder blieb er bewusst stehen und sog die Luft ein. Obwohl das Auto nirgends zu sehen war, das Auto, in dem die Frau saß, die nach Hyazinthen roch, gelang es ihm, ihre Spur zu verfolgen. Er ließ sich von ihrem Duft leiten. Er spürte das Zucken der feinen Fäden seines unsichtbaren Netzes, und diesem konnte er nachgehen.

Es führte ihn fort vom Fluss und in das Herz der Stadt. Bald fand er sich auf einer breiten geschäftigen Straße wieder, vor einem Gebäude mit rotem Vordach und schweren Türen aus poliertem Messing. Dort hinein war sie gegangen.

Ein uniformierter Mann hielt ihm die Tür auf, als er eintrat, und hieß ihn in etwas willkommen, das Raleigh Galerie der bildenden Künste hieß.

»Danke«, erwiderte Arius, stets erfreut, seine Worte und seine Stimme zu hören und so leicht akzeptiert zu werden.

Nachdem er eingetreten war, ahnte er, dass die Dinge sich erneut glücklich zusammenfügten. Nicht nur, dass die Hyazinthenfrau ganz in der Nähe stand und eine Zeichnung betrachtete. Die Frau, die ihr das Bild zeigte, war die Frau, die bei Carter lebte. Elizabeth lautete der Name, den er auf dem Briefkasten gelesen hatte.

Sein Netz war gerade sehr viel stärker geworden.

Während er sie beobachtete und feststellte, dass sie tatsächlich denselben unterschwelligen Geruch an sich hatten, kam ein kleiner Mann auf ihn zu, sehr eifrig, sehr freundlich, und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen«, sagte der Mann, »aber ich bin Richard Raleigh, der Eigentümer der Galerie.«

Arius streckte seine Hand aus und nickte.

»Und Sie sind?«, bohrte Raleigh nach.

»Mein Name ist Arius.«

»Höre ich da einen Akzent?«, sagte Raleigh und lächelte breit. »Gewöhnlich bin ich sehr gut darin, ihn genauer zu bestimmen. Aber bei Ihnen komme ich nicht darauf, und wenn es um mein Leben ginge. Darf ich fragen, woher Sie kommen?«

»Von weit her«, erwiderte Arius.

Raleigh nickte und wusste genug, um nicht weiter zu drängen. Sein ganzes Leben lang hatte er mit betuchten, selbst mit adligen Ausländern zu tun gehabt, und er wusste, wann er sich zurückhalten musste. Manche von ihnen versuchten, wie ganz gewöhnliche Leute zu wirken, doch Raleigh pickte sie aus einer Menschenmenge auf hundert Schritt Entfernung heraus. Er musste allerdings zugeben, dass dieser Knabe hier noch ungewöhnlicher war als die meisten. Er war etwa einen Meter fünfundachtzig groß, trug eine Sonnenbrille, die er offensichtlich nicht abzunehmen gedachte, und war teuer, aber unaufdringlich gekleidet. Er trat auf wie ein königlicher Machthaber. Zurückgeworfener Kopf, breite Schultern, modisch langes Haar, das sich genau über dem Hemdkragen kräuselte. Nur mit Mühe konnte Raleigh den Blick von ihm abwenden.

»Gestatten Sie mir, Ihnen ein wenig über unsere Galerie zu erzählen. In diesem Raum werden Sie die meisten Werke in Öl sowie den Großteil der Aquarelle finden, die wir momentan zum Verkauf anbieten. Aber in der oberen Etage haben wir noch eine Galerie, um bestimmte Arbeiten in privaten Schauen zeigen zu können. Zumeist handelt es sich dabei um Zeichnungen und Drucke der Alten Meister.«

Arius sagte nichts, trat jedoch näher an eines der Gemälde heran, eine Szene von Mariä Verkündigung aus dem sechzehnten Jahrhundert. Mit den langgestreckten Formen und verdrehten Perspektiven war es ein typisches Beispiel des Manierismus.

»Das ist eine besonders ausgezeichnete Arbeit«, sagte Raleigh, »die erst kürzlich auf den Markt kam. Sie befand sich seit dem späten sechzehnten Jahrhundert im Besitz einer einzigen österreichischen Familie. Das Stück wird Fra Bartolommeo zugeschrieben. Sind Sie mit seinem Werk vertraut?«

Mit geneigtem Kopf betrachte Arius das Gemälde, als versuchte er, die veränderte Perspektive zu kompensieren. »Nein.«

»Nicht viele Menschen kennen seine Arbeiten«, beeilte Raleigh sich zu sagen, stets eifrig bemüht, potentiellen Kunden zu versichern, das, was sie nicht wussten, sei ohnehin nur ausgewiesenen Experten bekannt. »Doch falls Sie mehr darüber erfahren möchten, unsere Kunsthistorikerin, die jedes Stück unserer Sammlung genauestens kennt, ist heute zufällig im Hause.« Er deutete auf Elizabeth, die daraufhin in Arius’ Richtung blickte.

Sie war ziemlich schön, dachte Arius. Sogar noch schöner als die Hyazinthenfrau.

»Beth ist im Augenblick mit einer anderen Kundin beschäftigt«, sagte Raleigh, »aber ich werde Sie mit ihr bekannt machen, sobald sie frei ist.« Raleigh wusste, dass Beth es irgendwie schaffte, mühelos das Vertrauen neuer Kunden zu gewinnen … und sie, mit Ausnahme von Bradley Hoyt, dem jungen Dot-com-Multimillionär, zu einem Kauf zu bewegen.

»Ich möchte sie gerne jetzt kennenlernen«, sagte Arius.

Jetzt? Raleigh wusste nicht sofort, was er tun sollte. Beth beriet gerade Kimberly Metzger, eine seiner meistgeschätzten Kundinnen. Erst letzten Monat hatte er ihr ein flämisches Porträt für fast eine halbe Million Dollar verkauft. Er konnte die beiden Frauen jetzt schlecht unterbrechen. Aber als er zu ihnen hinüberschaute, stellte er fest, dass Kimberly dem geheimnisvollen Fremden bereits mehr Aufmerksamkeit schenkte als Beths Ausführungen.

»Habe ich einen Rivalen für dieses Gemälde?«, fragte sie jetzt neckend.

»Nein, nein, ganz und gar nicht«, erklärte Raleigh, »aber wenn Sie gestatten, würde ich Sie gerne einen Moment stören.«

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Kimberly trat vor, reichte Arius die Hand und stellte sich selbst vor. »Ich kenne jeden in New York, der etwas von Kunst versteht«, sagte sie, »aber ich bin sicher, dass ich Sie nicht kenne.«

»Mr Arius ist nur zu Besuch in der Stadt«, sagte Raleigh und warf ihm rasch einen fragenden Blick zu, ob das korrekt war. Arius erhob keine Einwände.

»Stimmt das, Mr Arius?«, fragte sie. »Sind Sie neu in der Stadt?«

»Ja.«

»Wie lange haben Sie vor zu bleiben?«

»Das kann ich noch nicht sagen«, erwiderte er.

Raleigh, der nicht wollte, dass sich die Unterhaltung zu weit vom Geschäftlichen entfernte, zog rasch Beth hinzu. »Und dies ist Beth Cox, die alles über unsere Sammlung weiß, was es zu wissen gibt.«

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte Beth.

»Ebenfalls!«

»Haben Sie zufällig eine Karte?«, fragte Kimberly und trat Beth gewissermaßen auf den Zeh. »Mein Gatte – Sam Metzger – und ich bewirten oft Gäste in unserer Stadtwohnung, und wir sind stets auf der Suche nach frischem Blut.«

»Nein, ich habe keine … Karte«, sagte Arius. Ein weiterer Brauch, den ich mir aneignen muss.

»Oh. Dann lade ich Sie besser auf der Stelle ein. Sehen Sie, wir werden morgen Abend eine kleine Zusammenkunft haben, um halb acht, für die Kampagne zur Wiederwahl des Bürgermeisters. Am Sutton Place Nummer eins. Können Sie sich das alles merken?«

Arius lächelte. »Ja, das kann ich. Danke.«

»Sie werden also kommen?«, fragte sie kokettierend.

Er nickte, den Blick immer noch hinter den dunklen Gläsern verborgen.

Beth und Raleigh wechselten einen Blick, als wollten sie sagen: Das ist doch nicht zu fassen! Ihr waren bereits unzählige Gerüchte über Kimberly Metzgers Privatleben zu Ohren gekommen, aber so eine unverhohlene Anmache hatte Beth noch nie erlebt. In diesem besonderen Fall konnte sie es allerdings fast verstehen. Arius war in der Tat eine ziemlich umwerfende Erscheinung. Er war etwa so groß wie Carter, doch sein Haar war so blond, dass es beinahe weiß war, und glänzte in den Deckenlampen der Galerie. Seine Haut war ebenfalls nahezu makellos, nein, korrigierte sie sich, sie war vollkommen makellos, und seine Gesichtszüge wirkten, als seien sie aus einem Block lupenreinen Marmors herausgemeißelt. Seine Augen blieben hinter den dunklen Gläsern verborgen, und sie fragte sich flüchtig, was für ein Kunstliebhaber er schon sein konnte, wenn er bei der Betrachtung von Gemälden die Brille aufbehielt? Der einzige Farbtupfer in seinem Gesicht waren die Lippen, dunkelrosa, pulsierend vor Leben und ebenso voll wie die einer Frau. Verlockend und verschlagen zugleich.

»Der van Eyck, den Beth mir gerade gezeigt hat«, sagte Kimberly gerade zu Raleigh, »ich würde gerne …«

»Van Dyck«, korrigierte Beth sanft.

»Ja, natürlich«, stellte Kimberly fest. »Habe ich das nicht gesagt?«

»Ich muss mich verhört haben«, entschuldigte Beth sich. Raleigh warf ihr einen Blick zu, der sie glatt hätte töten können.

»Ich überlege, ihn für unser neues Haus zu kaufen, das wir gerade im Hunt Country in Virginia bauen. Er könnte gut in die Bibliothek passen, aber ich bin mir nicht ganz sicher.«

»Es ist immer schwierig, es zu wissen«, tröstete Raleigh sie, »bis Sie ihn tatsächlich an seinem Platz hängen sehen. Warum lassen Sie uns nicht wissen, wenn Sie fertig sind, und dann bringen wir ihn hin, damit Sie es selbst sehen können?«

»Danke, Richard«, sagte sie und küsste ihm flüchtig die Wange. »Sie sind ein Schatz. Und Sie«, sagte sie kokettierend zu Arius, »sehe ich dann morgen Abend. Nicht vergessen!«

Als sie die Galerie verließ, wandte Arius den Kopf um. Was war es, fragte Beth sich, das ihn so … einzigartig wirken ließ? So attraktiv und zur gleichen Zeit so … bezwingend? Man wollte ihn unbedingt ansehen und zur gleichen Zeit den Blick abwenden.

»Nun, Beth«, sagte Raleigh, »haben Sie ein paar Minuten Zeit, um Mr Arius ein paar der Werke zu zeigen, die wir oben haben? Ich denke da besonders an die Courbets und Corots.«

Sie hätte es kommen sehen müssen. Völlig ausgeschlossen, dass Raleigh diesen neuen Fisch aus seinem Netz schlüpfen lassen würde. Aber der Gedanke, Mr Arius zu einem privaten Beratungsgespräch mit nach oben zu nehmen, schickte ihr unwillkürlich ein Kribbeln über den Rücken. Dieser Mann hatte etwas ausgesprochen Seltsames und zugleich seltsam Vertrautes an sich. Obwohl es unmöglich war, dass sie ihn vergessen haben könnte, hatte sie das unheimliche Gefühl, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben.

»Tut mir leid«, platzte sie heraus, »aber ich habe eine dringende Verabredung, die ich nicht versäumen darf.«

Raleigh warf ihr einen zweiten tödlichen Blick zu.

»Einen Termin beim Arzt«, ergänzte sie, wohl wissend, dass dies das Einzige war, gegen das Raleigh keine Einwände erheben würde. Er wusste von ihren und Carters Problemen mit der Familienplanung.

»Sind Sie sicher?«, probierte er es.

»Ich bin mir sicher«, sagte sie zerknirscht und warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss mich ohnehin schon sputen.«

»Ja dann.« Raleigh gab sich geschlagen und wandte sich direkt an Arius. »Ich würde mich überaus freuen, wenn ich Ihnen selbst ein paar Stücke zeigen dürfte. Können Sie ein wenig Zeit erübrigen?«

Da Beth in Wahrheit nur mit Abbie ganz in der Nähe für eine Tasse Kaffee verabredet war, hielt sie sich nicht damit auf, ihren Mantel von oben zu holen. Sie hoffte, dass es Raleigh nicht auffallen würde. Im Moment wollte sie nur noch flüchten und so schnell wie möglich aus der Galerie verschwinden, fort von dieser merkwürdigen Gestalt, deren Blicke sie auf sich spürte. Selbst jetzt noch, als sie sich entfernte, wusste sie, dass er sie hinter diesen bernsteinfarbenen Gläsern musterte. Einerseits wünschte sie, sie könnte ihm die Brille einfach aus dem Gesicht reißen, um zu sehen, wer er wirklich war. Andererseits spürte sie, dass sie es, wenn sie es täte, für den Rest ihrer Tage bedauern würde.


25. Kapitel

»Hören Sie, ich wünschte, ich hätte nur gute Nachrichten für Sie«, sagte Dr. Permut und lehnte sich mit einem Aktenordner in der Hand zurück, »aber mit der Probe, die Sie uns gegeben haben, kann etwas nicht stimmen.«

»Ich habe die Probe selbst entnommen, direkt vom Ende der einen Klaue«, sagte Carter. »Wollen Sie damit sagen, sie sei kontaminiert?«

Dr. Permut rieb sich zweifelnd das Kinn. »Ich weiß nicht, was damit nicht stimmt, aber nein, ich glaube nicht, dass Kontamination das Problem ist.«

»Was ist dann damit? Was haben Sie herausgefunden?«

»Sehen Sie selbst«, sagte Permut und reichte Carter den Ordner.

Während Carter die Seiten überflog, gab Permut laufend Kommentare ab.

»Bei den obersten Seiten handelt es sich um den Bericht der Datierungsanalysen. Wie Sie sehen, sind die Ergebnisse dermaßen jenseits von Gut und Böse, dass sie völlig unbrauchbar sind.«

»Wieso?«

»Nichts, das auch nur im Entferntesten einem Menschen, Saurier oder Vogel ähneln könnte, also einer der Möglichkeiten, die Sie erwähnten, kann so alt sein. Wenn Sie mit einer Probe des Mondgesteins angekommen wären, das Apollo 12 mitbrachte, wären die Ergebnisse brauchbarer gewesen.«

Carter war nicht erfreut, aber auch nicht überrascht. Schließlich war Russo in Rom bereits zum gleichen Schluss gekommen.

»Aber was ist mit den biologischen Tests? Den Zelluntersuchungen?« Und dann die Millionen-Dollar-Frage: »Konnten Sie überhaupt irgendwelche DNA-Spuren finden?«

Dr. Permut kippte den Stuhl weit nach hinten und nahm eine Rolle Verdauungspastillen aus der Tasche seines weißen Laborkittels. »Möchten Sie?«

»Nein danke.«

»Ich nehme sie wegen des Kalziums. Aber wenn Sie mit Knochen arbeiten, wissen Sie das ja.«

»Aber ich arbeite normalerweise nicht mit DNA-Analysen«, sagte Carter, um wieder auf das Thema zurückzukommen. »Konnten Sie etwas Brauchbares finden?«

Permut nickte. »Ob Sie’s glauben oder nicht«, sagte er und lutschte an der Tablette, »wir konnten ein inaktives Bruchstück lokalisieren und extrahieren. Es war kleiner als nahezu alles, das irgendjemand je zuvor untersucht hat.« Stolz blickte er sich im biomedizinischen Forschungslabor der NYU um. »Aber hier sind Sie genau an der richtigen Stelle.«

Carter war ermutigt, hielt sich jedoch zurück.

»Wir mussten ein Computermodell erstellen, um einige der Lücken zu füllen«, fuhr Permut fort, »und dann haben wir etwas vom Rest am anderen Ende extrapoliert.«

»Und das bedeutet was?«

»Das bedeutet, dass wir das haben, was ich eine spekulative DNA nenne.«

Für Carter hörte sich das nicht so gut an. »Und? Konnten Sie etwas damit anfangen oder nicht?«

Permut wackelte mit dem Kopf. »Ein wenig von beidem. Wir haben eine solide chromosomale Grundlage für unser Profil, doch andererseits sind wir angesichts der winzigen Probe sowie ihres Alters und Zustands auf Mutmaßungen angewiesen.«

Carters Enttäuschung wuchs. Das war der Grund, warum normale Leute die Wissenschaft und Wissenschaftler hassten. »Dann erklären Sie mir«, sagte er beherrscht, »Ihre beste Mutmaßung. Können Sie mir, basierend auf den zur Verfügung stehenden DNA-Spuren, sagen, womit wir es hier zu tun haben?«

Permut stieß die Luft aus, und Carter wehte eine Wolke Kalziumatem entgegen. »Ich kann Ihnen sagen, womit wir es nicht zu tun haben.«

»Also gut, fangen wir damit an.«

»Wir haben keinen Homo sapiens

Okay, dachte Carter, zumindest machen wir Fortschritte.

»Und wir haben es mit keinem anderen bekannten Vertreter aus dem Tierreich zu tun.«

Permut langte quer über den Tisch nach dem Ordner und blätterte ein paar Seiten vor. Carter starrte auf eine wilde Mischung aus Zahlen und den vier Buchstaben C, G, T und A, die sich ohne erkennbare Ordnung endlos zu wiederholen schienen und Reihe um Reihe die Seiten füllten. Die Zahlen waren ihm ein Rätsel, doch bei den Buchstaben wusste Carter, dass sie für die vier Nukleinbasen Cytosin, Guanin, Thymin und Adenin standen. »Wenn ich mir diese Ausdrucke anschaue«, sagte Permut, »sehe ich ein Muster.«

»Gut, dass das wenigstens einer tut.«

»Am Anfang dachte ich sogar, ich hätte ein menschliches Gen-Muster vor mir. Dann sah ich genauer hin und dachte, hm, vielleicht doch nicht. Es könnte ein Säugetier sein, aber das ist alles, was wir sagen können. Dann habe ich noch genauer hingeschaut und festgestellt, dass es weder das eine noch das andere ist.«

Carter wartete, dass er zum Schluss käme.

»Sie sind der Paläontologe«, sagte Permut, »und Sie können es nennen, wie Sie wollen, aber für uns haben wir hier bereits einen Namen dafür gefunden.«

»Und der wäre?«

»Missing link.«

Das fehlende Bindeglied. »Vielen Dank«, sagte Carter trocken. »Das hilft mir ungemein.«

»Hey, erschießen Sie nicht den Boten«, protestierte Permut. »Und das war nur zur Hälfte als Scherz gemeint. Die DNA weist eine neunundneunzigprozentige Übereinstimmung mit den Genen des Homo sapiens auf. Natürlich liegen alle Unterschiede in den letzten ein oder zwei Prozent.«

»Wie beim Schimpansen?«, fragte Carter.

»Es ist sogar noch näher mit uns verwandt – so nah wie nur irgend möglich, ohne tatsächlich übereinzustimmen.«

Carter holte tief Luft. Was hatte er da im Stein gehabt? Nach allem, was er gerade erfahren hatte, wurde der Verlust des Fossils noch schmerzlicher.

»Tut mir leid«, sagte Permut, der Carters Niedergeschlagenheit spürte. »Falls es noch etwas gibt, was ich für Sie tun kann, helfe ich Ihnen gerne weiter.«

»In der Tat«, sagte Carter und fischte müde nach dem Plastikbeutel, den Ezra ihm gegeben hatte. »Hier.« Er holte den Beutel aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.

»Was ist das?«, fragte Permut. »Noch so eine harte Nuss?«

»So ähnlich.«

Permut nahm die Tüte und hielt sie ins Licht, um das kleine Fragment der Schriftrolle darin zu betrachten. »Zumindest ist es dieses Mal kein Knochen.«

»Es ist ein Stück von einem uralten Dokument«, sagte Carter vorsichtig, als wollte er keine Hinweise auf seine eigenen Thesen oder Mutmaßungen geben. »Ich muss wissen, wie alt es ist, woraus es gemacht ist und woraus die Tinte besteht.«

»Ich hatte schon befürchtet, Sie würden von mir wissen wollen, was diese Schnörkel besagen.«

»Nein, darum kümmert sich jemand anders.«

Permut sah ihn lange an. »Wird dieser Jemand auch für die Laborkosten aufkommen? Für den letzten Auftrag hatten wir eine unterschriebene Genehmigung von Ihrem Fachbereichsleiter Stanley Mackie. Wer wird für diese Probe hier unterschreiben? Die Laborkosten können sich leicht auf ein paar Tausender summieren.«

»Sie werden bezahlt.«

Permut wirkte beeindruckt. »Sie müssen mir unbedingt bei Gelegenheit Ihren Spender verraten.« Den Beutel in der Hand, schwenkte er mit seinem Stuhl herum, bereit, loszulegen, dann wandte er sich wieder Carter zu. »Werde ich dafür in die Annalen der Wissenschaft eingehen?«

»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, sagte Carter. »Liefern Sie mir erst einmal so schnell wie möglich die Ergebnisse.«


Auf dem Weg zum St. Vincent’s Hospital kaufte Carter an einem Kiosk mit internationaler Presse ein paar italienische Zeitschriften. Obwohl er wusste, dass Joe der Sinn eher nach Scientific American als nach GQ stand, würde er sich mit dem bescheiden müssen, was er bekommen konnte.

Auf der Intensivstation bekam er es einen Moment lang mit der Angst zu tun, als eine Krankenschwester ihm erklärte, dass Russo nicht länger dort sei.

»Er wurde verlegt«, fügte sie hinzu. »Er ist jetzt in der Station für Verbrennungsopfer, eine Etage höher.«

»Heißt das, dass es ihm besser geht?«

Sie hob den Blick von ihrem Schreibtisch. »Es ist die Intensivstation für Brandopfer.«

Carter begriff, was sie meinte.

Doch als er nach oben kam, stellte er fest, dass es zumindest eine kleine Verbesserung war. Die Atmosphäre war weniger frostig und abweisend. Hier ertönte leise Musik aus den Deckenlautsprechern, und es gab ein paar Münzautomaten mit Getränken und Snacks für die Besucher. Er entdeckte Dr. Baptiste, als sie gerade aus einem Zimmer am Ende des Flures kam, und fragte sie, ob Joe hierhergebracht worden sei.

»Ja, wir haben ihn heute Morgen verlegt. Sein Zustand ist jetzt stabil, und wir können bald mit den Hauttransplantationen beginnen.«

Bei dem Gedanken zuckte Carter zusammen.

»Sie haben recht, es wird nicht gerade ein Zuckerschlecken für ihn. Wenn seine Familie kommen und ihn besuchen möchte, wäre jetzt ein sehr guter Zeitpunkt.«

»Die einzige lebende Verwandte ist seine Mutter«, sagte Carter, »und die ist selbst zu krank, um Italien zu verlassen.«

Dr. Baptiste schüttelte den Kopf. »Dann hat er ja großes Glück, Sie zum Freund zu haben.«

Wenn sie wüsste, dachte Carter. Wenn sie bloß wüsste. »Kann ich ihn besuchen? Ich habe ihm ein paar Zeitschriften mitgebracht.«

Sie blickte auf die Titel und runzelte die Stirn. »Sieht nicht so aus, als träfe das genau seinen Geschmack«, sagte sie, »aber gehen Sie ruhig hinein.«

Im Zimmer fand er Joe in einem Bett mit hochgestelltem Kopfteil. Er war allein im Raum, und ein Rollwagen, vollgestellt mit leeren Tellern und Aluminiumdeckeln, war zur Seite geschoben worden.

»Das«, sagte Carter und schaute sich um, »ist eine große Verbesserung.« Und das war es in der Tat. In einer Vase standen sogar ein paar Blumen, und an der Wand hing ein Weizenfeld von van Gogh. Doch das Beste von allem war ein breites Fenster, dessen Jalousien noch hochgezogen waren.

Joe selbst sah leider nicht wesentlich besser aus. Dort, wo seine Haut nicht von Verbänden bedeckt war, bildete sie ein furchtbares Flickwerk aus schwarzen und hellroten Flecken. Doch zumindest war das Plastikzelt, das bisher seinen Kopf bedeckt hatte, zurückgeschlagen.

»Ich habe dir etwas zum Lesen mitgebracht«, sagte Carter und legte die Zeitschriften vorsichtig neben Joes mit Blasen bedeckte Hand auf das Bett. Er berührte ihn nicht, aus Angst, dass der körperliche Kontakt immer noch tabu war.

»Danke«, sagte Joe mit einer Stimme, die irgendwo zwischen Flüstern und Krächzen lag.

Carter schaute kurz aus dem Fenster. Man hatte einen guten Blick auf die Autos, die am Haupteingang direkt unter ihnen entlangfuhren, und einen beinahe unverstellten Ausblick nach Süden. Das Einzige, was den Blick teilweise verstellte, war das alte Sanatorium auf der anderen Straßenseite. Die Fenster waren verbarrikadiert, und die Feuertreppen, die noch übrig waren, hingen nur noch an wenigen Stellen an der zerbröckelnden Fassade. Das Gebäude wirkte, als könnte ein kräftiger Wind es in Schutt und Asche legen. Es sei denn, die Abrissbirne war schneller.

»Hast du … ihn gesehen?«, fragte Joe.

Ezra. »Ja, ich habe mich mit ihm getroffen.« Womit sollte er anfangen? »In einer Sache hatte ich recht, er stammt tatsächlich aus einer wohlhabenden Familie.«

»Aber was … hat er gesagt?«

»Er sagte, dass er dir glaubt und ebenfalls denkt, dass das Fossil lebendig geworden sei.« Carter konnte kaum fassen, dass er diese Worte tatsächlich wiederholte. »Er sagte, dass die meisten Wissenschaftler voreingenommen sind, aber dass du durch das, was du gesehen hast, der Sache aufgeschlossen gegenüberstehst.«

Grummelnd signalisierte Joe seine Zustimmung.

»Was … weiß er … sonst noch?«

Jetzt wurde es schwierig. Selbst Carter war sich dessen nicht sicher. Aber er wusste, was Ezra glaubte: dass hier mächtige und wichtige Kräfte am Werk waren, die es noch zu verstehen galt. Aber wie sollte er das Joe erklären, zumal er selbst nur so wenig davon begriff oder akzeptierte? »Es stellte sich heraus, dass er so etwas wie ein freischaffender Bibelforscher ist.«

Joe sah verwirrt aus.

»Ich weiß, ich verstehe es selbst nicht so richtig. Aber wenn ich nicht völlig meschugge bin, hat der Typ ein Original der Schriftrollen vom Toten Meer in seiner Wohnung. Und die setzt er Stück für Stück zusammen. Er wollte meine Hilfe, um sie zu analysieren.« Er beschrieb seinem Freund Ezras Arbeitszimmer und was er dort gesehen hatte. Dann berichtete er, was Ezra über die Kirchenglocken erzählt hatte, die direkt nach der Explosion zu läuten begonnen hatten. Je länger er sprach, desto verrückter klang die Geschichte in seinen Ohren, doch Joes Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Er schien alle Informationen in sich aufzusaugen und zu versuchen, das heillose Wirrwarr in eine logische Ordnung zu bringen. Als Carter schließlich innehielt, um Luft zu holen, schürzte Joe die Lippen, die nicht mehr als zwei geschwärzte Hautstreifen waren, und sagte: »Bene

»Bene?«, wiederholte Carter. »Was soll daran gut sein?«

»Wenn ich verrückt bin«, krächzte Joe, »dann ist es gut, Gesellschaft zu haben.«

Er weiß also, dachte Carter, dass ich immer noch Zweifel habe.

»Noch ein … Gefallen?«

»Sicher«, sagte Carter, »solange ich dir keine Zigaretten besorgen soll. Du weißt, dass man hier drin nicht rauchen darf.«

»Bring ihn her.«

»Ezra Metzger?«, fragte Carter, obwohl er genau wusste, wer gemeint war. War das eine gute Idee? Seinen schwerverletzten Freund mit einem möglichen Geisteskranken bekannt zu machen?

Joe nickte.

»Ich werde ihn anrufen«, gab er nach.

»Gut. Und jetzt«, sagte Joe und hob unter Schmerzen die Finger der verstümmelten Hand, »eine Zigarette?«


26. Kapitel

»Ich sehe leere Champagnergläser«, warnte Kimberly einen der Kellner, »und auf meinen Partys will ich keine leeren Gläser sehen.«

»Jawohl, Madam«, erwiderte der Mann, »ich kümmere mich sofort darum«, und floh aus der Küche, um seine Cristal-Vorräte aufzufüllen.

Bis auf kleine Pannen wie diese hatte Kimberly jedoch das Gefühl, dass die Party sehr gut lief. Der Bürgermeister, seine Gattin und seine Geliebte, auch bekannt als seine Kampagnen-Schatzmeisterin, waren gekommen und hielten in den verschiedenen Ecken Hof. Auch verschiedene Spitzenreporter und Journalisten, einen Haufen hochdotierter Banker und Rechtsanwälte und sogar ein paar Broadway-Stars hatte sie herlocken können. Völlig unmöglich, dass diese Party es nicht auf die Seite sechs schaffen würde, und vielleicht sogar bis in Liz Smiths Kolumne. Wenn dann zufällig auch noch ein paar Spenden für die Kampagne zur Wiederwahl des Bürgermeisters flössen, was schließlich der vorgebliche Grund für diese Party war, nun, dann wäre das auch nicht schlecht.

Während sie von einem Raum zum nächsten schlenderte, ihre Gäste begrüßte und dafür sorgte, dass jeder die Verbindungen knüpfte, um deretwillen er hergekommen war, hielt sie Ausschau, um die Ankunft ihres geheimnisvollen Gastes nicht zu verpassen. Seit sie ihn gestern zum ersten Mal gesehen hatte, musste sie ständig an ihn denken. Mr Arius. Nie zuvor hatte sie einen Mann gesehen, der aussah wie er oder einen so unauslöschlichen und unmittelbaren Eindruck auf sie gemacht hätte. Der Abend war noch jung, aber sie begann sich bereits Sorgen zu machen, dass er womöglich gar nicht auftauchen würde.

Sam hatte sich in eine Ecke des Hauptsalons verzogen, wo er mit zwei, drei der anderen Größen der Immobilienbranche zusammenhockte und zweifelsohne bereits Pläne für einen weiteren Büroturm, ein Einkaufszentrum oder ein Kaufhaus in New Jersey schmiedete. Sie winkte ihm mit drei Fingern zu, als sie an ihm vorbeikam, aber er schien nicht einmal Notiz von ihr zu nehmen.

Andere Männer bemerkten sie sehr wohl, wie sie erfreut zur Kenntnis nahm.

Sie trug ein scharlachrotes schulterfreies Chiffonkleid von Thierry Mugler, das den Rücken frei ließ und an der Seite geschlitzt war. Die Haare hatte sie zu einem strengen Chignon gedreht und mit einer mit Diamanten und Rubinen besetzten Spange in Form eines Regenbogens festgesteckt. Der Bürgermeister persönlich hatte sie länger als nötig festgehalten, als er sie zur Begrüßung geküsst hatte, und Kimberly hatte den besorgten Ausdruck im Gesicht seiner »Schatzmeisterin« gesehen. Mach dir keine Sorgen, dachte Kimberly, heute Abend bin ich auf einen größeren Fisch aus.

Als sie das nächste Mal nachschaute, stand er im Foyer und reichte dem Bediensteten seinen langen schwarzen Kaschmirmantel. Er trug wieder einen dunklen Anzug, und die Augen waren immer noch hinter den runden bernsteinfarbenen Gläsern verborgen. Mit hochgerecktem Kinn wandte er den Kopf um, wie ein blinder Mann, der seine Umgebung zu erspüren versuchte. Kimberly ging auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.

»Ich bin so froh, dass Sie es geschafft haben, Mr Arius«, sagte sie und bot ihm ihre Hand und ihre Wange an.

»Danke. Dass Sie mich eingeladen haben«, sagte er, ergriff ihre Hand, blieb ansonsten jedoch eher reserviert. »Ich freue mich, hier zu sein.«

Was, dachte sie, war nur so merkwürdig und zugleich so verlockend an diesem Mann? Die Art, wie er sprach, in diesem seltsamen Tonfall, als hätte er Englisch nur in der Schule gelernt? Die Art, wie er seine Augen bedeckt hielt? Die Art, wie sich seine Hand anfühlte, so kalt und glatt wie Glas, als er ihre ergriff? Und war da nicht mit einem seiner Finger etwas nicht in Ordnung? Er hatte sogar einen ganz eigenen feinen Geruch an sich, anders als jedes Aftershave, das sie kannte. Sein Geruch wirkte irgendwie organisch, als ginge er direkt von seiner Haut, seinen Haaren und seinem Atem aus.

»Lassen Sie uns hineingehen«, sagte sie. »Ich werde Sie einigen der anderen Gäste vorstellen.« Sie hakte sich bei ihm unter und führte ihn in den nächsten Raum. Ihr kam es vor, als eskortierte sie einen Filmstar, und die anderen Gäste reagierten ebenfalls dementsprechend. Die Menge teilte sich, um sie hindurchzulassen, Gespräche wurden unterbrochen, und jemand fragte laut: »Wer ist der Mann neben Kimberly?« Arius selbst schien vollkommen unberührt von all der Aufmerksamkeit. Wenn er jemandem vorgestellt wurde, war er höflich, ansonsten schwieg er. Er sprach überhaupt sehr wenig. Seine Antworten waren freundlich, aber knapp, und immer ein wenig vage oder ausweichend. Nachdem Kimberly ein halbes Dutzend Mal zugehört hatte, wie er jemanden auflaufen ließ, hatte sie das Gefühl, nicht mehr darüber zu wissen, wo er herkam, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente oder wo er in New York wohnte, als bei seiner Ankunft. Nicht einmal Sam bekam mehr als ein paar Worte aus ihm heraus, und Kimberly wusste sehr gut, wie seine Meinung über ihn sein würde. Längliches weiß-blondes Haar, eine affige Sonnenbrille und die Tatsache, dass seine Frau ihn bei diesem extravaganten Richard Raleigh kennengelernt hatte? Sam würde ihn in einen Topf mit ihrem Friseur, ihrem Innenarchitekten, ihrem Antiquitätenberater und all ihren anderen schwulen Freunden werfen. Und soweit es Kimberly anging, könnte es gar nicht besser kommen.

Es sei denn, es stellte sich als zutreffend heraus. Was der Himmel verhüten mochte.

Was diesen kleinen Mistkerl Ezra betraf, so hatte er bereits seine Pflichtrunde gedreht und sich, soviel Kimberly wusste, sogar beim Bürgermeister dafür bedankt, dass er ihm nach dem Fiasko im UN-Park geholfen hatte, aus dem Gefängnis zu kommen. Jetzt war er nirgends zu sehen, und wenn Kimberly nicht völlig daneben lag, war er wieder auf seinem Zimmer und brütete über seinen nutzlosen Übungen, die er seine »Forschung« nannte.

Der Partyservice schien alles unter Kontrolle zu haben, die Getränke flossen, überall wurden Tabletts mit Kanapees und Appetithäppchen herumgereicht, und im Esszimmer war ein üppiges Bufett aufgebaut. Jedes Mal, wenn sie durchs Foyer ging, öffneten sich die Lifttüren und spuckten eine weitere Handvoll Gäste aus. Sogar die Journalistin Katie Couric ließ sich für eine halbe Stunde blicken, und das, da war Kimberly sicher, bedeutete praktisch, dass die Party morgen irgendwo in den Medien erwähnt werden würde.

Die einzige Person, die sich nicht ausgezeichnet zu amüsieren schien, war ihr mysteriöser Mr Arius. Sie ließ ihn nur widerstrebend allein, aber sie musste ihren Pflichten nachkommen, so dass sie keine andere Wahl hatte, als ihn sich selbst zu überlassen. Wann immer sie ihn erblickte, stand er ganz für sich, hielt ein Champagnerglas in der Hand, das stets voll zu sein schien, schlenderte allein über die Terrasse oder kam herein, um mit tiefem Interesse eine Zeichnung oder Skulptur zu betrachten. Vielleicht war er tatsächlich eine Art ernsthafter Kunstsammler mit einem riesigen Château im Süden Frankreichs, bis unters Dach mit berühmten Gemälden und wunderschönen Statuen gefüllt. Einem plötzlichen Impuls folgend, ging sie zu ihm hinüber, als er gerade ein nichtssagendes kleines Ölbild betrachtete, das Sams erste Frau gekauft hatte. »Sie sind ein echter Kunstkenner, nicht wahr?«

»Ich bewundere Schönheit«, sagte er langsam. »In allen Dingen.«

Hatte sie da gerade eine subtile Ermunterung gehört? »Dann lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen, das Ihnen ganz bestimmt gefallen wird.«

Sie drehte sich um, aber er blieb, wo er war. »Folgen Sie mir«, sagte sie und winkte ihn mit dem Zeigefinger heran. »Ich werde schon nicht beißen.«

So unauffällig wie möglich führte sie ihn den Korridor hinunter und dann rasch um die Ecke auf die Schlafzimmertür zu. Dort blieb sie stehen und sagte: »Was jetzt kommt, ist allein für Ihre Augen bestimmt. Selbst mein Mann weiß noch nicht, dass ich es gekauft habe. Ich vertraue Ihnen also mein Leben an.« Sie lachte unbekümmert, aber er lächelte nur höflich.

Sobald er ihr ins Zimmer gefolgt war, schloss sie die Tür hinter sich und sperrte sie, zu ihrer eigenen Überraschung, ab. Was glaubte sie, was jetzt passieren würde? Mitten während ihrer eigenen Party?

Sie ging voran in das riesige Schlafzimmer, vorbei am gewaltigen Himmelbett, dem Louis-Seize-Kleiderschrank, den Scalamandre-Sesseln und in ihr vollkommen privates Reich – ihre Kleiderkammer mit angrenzendem Badezimmer. Sie dachte oft daran, dass die Abmessungen ihres Ankleidezimmers ziemlich genau denen ihres ersten Apartments in New York entsprachen. Und das hatte sie sich sogar noch mit einem anderen Mädchen teilen müssen.

Dieser Raum hatte Sams erster Frau als eine Art Nähzimmer gedient, aber Kimberly hatte ihren Mann überzeugt, dass sie einen eigenen Bereich bräuchte, wo sie ihre Kleider aufbewahren und sich schminken konnte. Sie müsse ganz allein sein können, um sich anzuziehen und für ihn schön zu machen. Daraufhin hatte sie alle alten Möbel rausgeworfen und den Raum mit verspiegelten Wänden und marmornen Flächen im Badezimmer, mit Halogenlampen und Einbauregalen aus Zedernholz im Ankleidezimmer komplett neu einrichten lassen. Aber es war allein Kimberlys Entscheidung gewesen, für den Platz neben ihrem Schminktisch den hinreißenden kleinen Degas zu kaufen. Das Bild stellte eine Frau dar, die gerade aus dem Bad stieg. »Die Eigentümer wollten ihn schon über Sotheby’s versteigern lassen«, gab sie zu, »aber Richard Raleigh, der Gute, konnte sie überreden, ihn stattdessen direkt an mich zu verkaufen.«

Sie blieb davor stehen, wandte sich zu Arius um und hob die offenen Hände. »Ich nehme an, ich muss Ihnen nicht erklären, was Sie hier vor sich haben. Wahrscheinlich können Sie mir sogar mehr darüber erzählen.« Ganz ruhig, sagte sie sich, du hörst dich an wie ein Schulmädchen.

Arius hatte nie zuvor eine solche Arbeit gesehen, aber während er sie anschaute, nahm er auf der Stelle alles auf und ordnete ein, was es darüber zu wissen gab. Die Künste waren schließlich eine der vielen Gaben, die er und seinesgleichen gespendet hatten, so dass es eine Freude war, die unzähligen raffinierten Wege zu sehen, die sie seitdem genommen hatten. Dieses besondere Gemälde vor ihm war offensichtlich ein Degas, eine sehr feine und ausdrucksstarke Arbeit. Mit jeder Sekunde lernte er mehr darüber, und sei es nur der Name des Künstlers, ein Wort oder die Bedeutung eines Blicks. Sein Durst nach mehr war unstillbar.

Den Ausdruck zum Beispiel, den er jetzt auf Kimberlys Gesicht sah, kannte er bereits. Möglicherweise war sie sich nicht bewusst, dass er ihr Bild im Spiegel verschlang, während er vorgab, das Gemälde daneben zu betrachten. Sein Blick war hinter den dunklen Brillengläsern verborgen. Sie sah ihn an, und ihre Miene verriet, dass sie neugierig war, sich zu ihm hingezogen fühlte und Angst verspürte. Sie hatte guten Grund, genau das alles zu empfinden.

Vor langer Zeit, während seiner Zeit der Wache, hatte er diesen Blick häufig gesehen … und seiner Verlockung widerstanden. Zumindest eine gewisse Zeit.

Und danach?

Er hatte Einsamkeit jenseits jeglicher Vorstellungskraft ertragen, eine kalte und öde Nacht, die kein Ende nahm … eine Nacht, die sich bis jetzt niemals vollkommen gelichtet hatte.

Er wandte sich vom Gemälde ab und blickte sie wortlos an. War das also der Anfang?

»Es ist wunderschön, nicht wahr?«, sagte sie mit einem nervösen Flattern in der Stimme.

»Ja.«

»Ich musste es einfach haben.«

Obwohl seine Augen immer noch hinter den bernsteinfarbenen Gläsern verborgen waren, spürte sie die Intensität und Eindringlichkeit seines Blickes. Leicht schwankend trat sie zurück.

»Vielleicht sollten wir zurückgehen.«

Er antwortete nicht.

»Zur Party.« Aber sie versuchte nicht, sich an ihm vorbeizuschieben. Wie angewurzelt stand sie da, und ihr nackter Rücken spiegelte sich an der verspiegelten Wand hinter ihrem Schminktisch.

»Ja«, sagte er.

Aber er sagte es auf so eine Art, dass Kimberly nicht sicher war, was er meinte. Ja, sollten sie zurück zur Party gehen? Oder ja … etwas anderes?

Sie ertappte sich dabei, wie sie unsinnigerweise über seinen Geruch nachdachte. Als sie ihn das erste Mal getroffen hatte, schien er ganz subtil gewesen zu sein, aber jetzt wirkte er wesentlich kräftiger, regelrecht überwältigend.

»Dürfte ich Sie«, sagte sie und stützte sich mit einer Hand am Schminktisch ab, »um einen Gefallen bitten?«

Er nickte.

»Würden Sie für mich Ihre Brille abnehmen?«

»Warum?«

»Ich habe noch nie Ihre Augen gesehen. Ich muss Ihre Augen sehen.«

Er lächelte. Natürlich musste sie das.

Sie lachte freudlos. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das klug ist, aber ich möchte es. Dabei habe ich das Gefühl, immer noch nicht zu wissen, wer Sie sind.«

Also würde es tatsächlich der Anfang sein.

Er trat näher, beugte den Kopf über ihren wie ein großer goldener Vogel sich über seine Beute beugt, und nahm die Brille ab. In ihrem Blick sah er Überraschung, Angst … sprachloses Nichtbegreifen.

Er hob die Hände zu ihren Schultern. Ihre Haut war heiß, er spürte das Blut direkt unter der Oberfläche pochen. Er ließ das rote Kleid, leicht wie der Flügel eines Schmetterlings, an ihrem Körper entlang auf den Boden gleiten. Er entfernte die diamantenbesetzte Spange, bis ihr Haar kaskadengleich über ihre nackten Schultern fiel. Er beugte sich tiefer und presste seine kalten Lippen auf ihren Mund und ihre Kehle. Sie roch nach Hyazinthen und streckte sich ihm entgegen.

Er schüttelte die Anzugjacke von den Schultern, öffnete mit einer Hand den Kragen und die Knöpfe darunter. Er sog den heißen Atem ihres Körpers ein, als sie blind mit den Fingern an seinem Gürtel und der Hose nestelte.

In seinem Kopf hörte er das Pfeifen des Windes, das Krachen des Donners. Er erblickte einen Schauer aus Feuer, der, brennenden Pfeilen gleich, tosend aus dem sich endlos ausdehnenden schwarzen Himmel niederging.

Kimberly rutschte zurück gegen die Kante des Schminktischs. Parfumflaschen kippten klirrend auf die Seite, während andere herabfielen und verstreut im dicken Teppich liegen blieben. Sie hörte nur noch das Rauschen ihres eigenen Blutes, roch nur noch einen Sommergarten nach dem Regen, sah nur noch seine Augen, die sie in sich aufsogen wie in einen geheimen Pool aus honigsüßem Licht. Sie schlang die Arme um ihn, berührte seine glatte, makellose Haut … doch was sie spürte, war Eis. Hart und kalt wie die Diamantspange, die auf dem Boden lag. Als seine Hände ihre Brüste umfassten, erbebte sie unter der Berührung.

»Arius …«, hauchte sie verunsichert, »du bist nicht einmal ein …«

Nein, flüsterte er in ihren verwirrten Verstand, das bin ich nicht.

Und dann nahm er sie, wie ein Falke, der herabstürzte, um zu töten. Hilflos spürte sie, wie sie in den immer größer werdenden See seiner Augen gezogen wurde, in das grüne Aroma der vom Regen gewaschenen Blätter. Licht, zu hell, um es zu ertragen, durchflutete das Zimmer, als würde ein Stern explodieren … um sie herum, in ihrem Inneren.

Lieber Gott, dachte sie voller Entsetzen, als das Licht sie umhüllte, umschloss und sie schließlich überwältigte … O mein Gott, was habe ich getan?


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