Dóra Guðmundsdóttir wischte hastig einen Cornflakeskrümel von ihrem Hosenbein und zupfte ihre Kleidung zurecht, bevor sie die Rechtsanwaltskanzlei betrat. Gar nicht so übel. Sie hatte das morgendliche Geduldspiel, ihre sechsjährige Tochter und ihren 16-jährigen Sohn rechtzeitig zur Schule zu bringen, überstanden. Neuerdings weigerte sich Dóras Tochter strikt, etwas Rosafarbenes anzuziehen, was nicht weiter problematisch wäre, wenn nicht der gesamte Inhalt ihres Kleiderschranks mehr oder weniger rosa wäre. Ihr Sohn hingegen hatte das ganze Jahr über vergnügt dieselben verschlissenen Klamotten angezogen, vorausgesetzt, auf einem der Kleidungsstücke befand sich ein Totenkopf. Seine Heldentat bestand darin, überhaupt aufzuwachen. Dóra seufzte bei dem Gedanken. Es war nicht leicht, allein mit zwei Kindern zu leben. Aber es war auch nicht leichter gewesen, als sie noch verheiratet gewesen war. Der Unterschied war der, dass zur morgendlichen Routine noch der Streit mit ihrem Ex-Mann hinzugekommen war. Die Gewissheit, dass dies Vergangenheit war, hob ihre Stimmung, und ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als sie die Tür öffnete.
»Guten Morgen!«, sagte sie gut gelaunt.
Die Sekretärin entgegnete ihren Gruß nicht, sondern setzte eine beleidigte Miene auf. Immer diese ansteckende Fröhlichkeit, dachte Dóra. Insgeheim verfluchte sie, wie so oft, das Sekretärinnenproblem. Es war für die Kanzlei zweifellos geschäftsschädigend. Dóra konnte sich an keinen Mandanten erinnern, der sich nicht schon einmal über das Mädchen beschwert hatte. Sie war nicht nur unfreundlich, sondern auch ausgesprochen unattraktiv. Ihr Übergewicht war nicht das Schlimmste, sondern die allgemeine Nachlässigkeit bei ihrem Äußeren. Außerdem regte sie sich über alles und jeden auf. Zu allem Überfluss — wie aus purer Gemeinheit — hatten die Eltern das Mädchen Bella genannt. Wenn sie doch nur von sich aus kündigen würde. Sie schien keineswegs mit dem Job zufrieden zu sein und war hier bestimmt nicht am richtigen Platz. Eigentlich konnte sich Dóra gar keinen Job vorstellen, der dem Mädchen liegen würde. Andererseits war es nicht möglich, sie zu feuern.
Als Dóra und Bragi, ihr älterer und erfahrenerer Kollege, sich zusammengetan und die Kanzlei eröffnet hatten, waren sie so begeistert von den Büroräumen gewesen, dass sie sich auf eine Bedingung im Mietvertrag eingelassen hatten — die Tochter des Vermieters sollte als Sekretärin eingestellt werden. Damals konnten sie unmöglich ahnen, worauf sie sich einließen. Das Mädchen hatte ein hervorragendes Zeugnis von den Vormietern, einer Immobilienfirma, bekommen. Dóra war sich mittlerweile sicher, dass die Vormieter aus dem großartig gelegenen Büro am Skólavörðustígur nur ausgezogen waren, um diese Horrorsekretärin loszuwerden. Dóra war davon überzeugt, dass sie Recht bekämen, wenn sie wegen des höchst zweifelhaften Arbeitszeugnisses gegen die Vertragsklausel klagten. Doch damit wäre der gute Ruf, den sie sich bis jetzt erarbeitet hatten, hinüber. Wer wendet sich schon an eine Anwaltskanzlei, die sich unter anderem auf Vertragsrecht spezialisiert hat, aber die eigenen Verträge vermasselt? Selbst wenn sie Bella loswürden — gute Sekretärinnen gab es auch nicht wie Sand am Meer.
»Da hat jemand angerufen«, nuschelte Bella, während sie gebannt auf ihren Computerbildschirm starrte.
»Aha?« Dóra, die gerade ihren Daunenanorak aufhängte, schaute fragend auf und fügte wenig hoffnungsvoll hinzu: »Hast du eine Ahnung, wer es war?«
»Nee. Hat Deutsch gesprochen, glaub ich. Ich hab ihn jedenfalls nicht verstanden.«
»Wollte der Mann vielleicht noch mal anrufen?«
»Weiß ich nicht. Hab aufgelegt. Aus Versehen.«
»Für den unwahrscheinlichen Fall, dass dieser Mann noch einmal anruft, obwohl du eben aufgelegt hast, würdest du ihn mir dann bitte durchstellen? Ich habe in Deutschland studiert und spreche Deutsch.«
»Hrmf«, stieß Bella hervor und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war’s auch kein Deutsch. Könnte auch Russisch gewesen sein. Außerdem war es eine Frau. Glaub ich. Oder ein Mann.«
»Bella, wer auch immer anruft — eine Frau aus Russland oder ein Mann aus Deutschland, von mir aus auch ein sprechender Hund aus Griechenland –, würdest du ihn bitte durchstellen, ja?«
Dóra wartete nicht auf eine Antwort — damit war sowieso nicht zu rechnen — und ging geradewegs in ihr schlichtes Büro.
Sie setzte sich und schaltete den Computer ein. Ihr Schreibtisch war nicht ganz so unordentlich wie sonst. Sie hatte am Tag zuvor eine Stunde damit zugebracht, Papiere zu sortieren, die sich im letzten Monat angesammelt hatten. Dóra löschte ein paar Spam-Mails und Gags von Freunden und Kollegen. Danach waren noch drei E-Mails von Mandanten übrig, eine von ihrer Freundin Laufey mit der Betreffzeile Am Wochenende einen draufmachen und schließlich eine Mail von der Bank. Mist. Sie hatte bestimmt ihre Kreditkarte überzogen. Und ihren Dispo wahrscheinlich auch. Dóra beschloss, die Mail sicherheitshalber nicht zu öffnen.
Das Telefon klingelte.
»Anwaltskanzlei Innenstadt. Dóra am Apparat.«
»Guten Tag, Frau Guðmundsdóttir?«
»Guten Tag.« Dóra tastete nach Papier und Stift. Hochdeutsch. Sie ermahnte sich, die Frau immer zu siezen.
Dóra kniff die Augen fest zu und hoffte, dass ihr Deutsch sie nicht im Stich lassen möge. Sie hatte die Sprache recht gut beherrscht, als sie an der Universität in Berlin ihren Juraabschluss gemacht hatte. Jetzt bemühte sie sich, die Wörter so korrekt wie möglich auszusprechen. »Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Ich heiße Amelia Guntlieb. Ich habe Ihren Namen von Herrn Professor Anderheiß erhalten.«
»Ja, er hat mich in Berlin unterrichtet.« Dóra hoffte inständig, wenigstens bei der Wortwahl nicht völlig danebenzuliegen, weil sie spürte, dass sich ihre Aussprache verschlechtert hatte. In Island gab es nicht viele Gelegenheiten, Deutsch zu sprechen.
»Ja.« Nach einer unangenehmen Pause fuhr die Frau fort: »Mein Sohn ist ermordet worden. Mein Mann und ich brauchen Hilfe.«
Dóra dachte fieberhaft nach. Guntlieb? Der deutsche Student, dessen Leiche in der Uni gefunden worden war? Hieß der nicht Guntlieb?
»Hallo?« Die Frau schien nicht sicher zu sein, ob Dóra noch in der Leitung war.
Dóra beeilte sich zu sagen: »Ja, Verzeihung. Ihr Sohn. Ist das hier in Island passiert?«
»Ja.«
»Ich glaube, ich weiß, von welchem Mord Sie sprechen, aber ich muss gestehen, dass ich nur in den Nachrichten davon gehört habe. Sind Sie sicher, dass Sie mit der richtigen Person sprechen?«
»Das hoffe ich. Wir sind mit den polizeilichen Ermittlungen nicht zufrieden.«
»Ach?«, sagte Dóra überrascht. Sie hatte den Eindruck, die Polizei hätte den Fall vorbildlich gelöst. Der Mörder war drei Tage nach der grausamen Tat festgenommen worden. »Sie wissen bestimmt, dass sie einen Mann verhaftet haben?«
»Das ist uns bekannt. Wir sind allerdings davon überzeugt, dass er nicht der Schuldige ist.«
»Warum nicht?«, fragte Dóra ungläubig.
»Wir sind einfach davon überzeugt. Mehr will ich dazu nicht sagen.« Die Frau räusperte sich höflich. »Wir möchten, dass sich eine neutrale Person des Falls annimmt. Jemand, der Deutsch spricht.« Stille. »Sie müssen verstehen, wie schwer uns das fällt.« Wieder Stille. »Harald war unser Sohn.«
Dóra versuchte, Anteilnahme zu zeigen, indem sie ihre Stimme senkte und langsamer sprach. »Doch, doch, das verstehe ich gut. Ich habe selbst einen Sohn. Ich kann mich natürlich unmöglich in die Lage von Ihnen und Ihrem Mann versetzen, aber ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen. Allerdings bin ich nicht sicher, ob ich Ihnen helfen kann.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme.« Ihre Stimme war eiskalt. »Professor Anderheiß glaubt, dass Sie die Eigenschaften besitzen, nach denen wir suchen. Er sagte, Sie seien beharrlich, entschlossen und knallhart.« Stille. Dóra stellte sich vor, der Mann habe das Wort »frech« wohl nicht in den Mund nehmen wollen. Die Frau sprach weiter. »Und zugleich verständnisvoll. Er ist ein guter Freund der Familie und wir vertrauen ihm. Wären Sie bereit, den Fall zu übernehmen? Wir zahlen sehr gut.« Die Frau nannte eine Summe.
Sie war unglaublich hoch, ob mit oder ohne Mehrwertsteuer. Mehr als doppelt so hoch wie Dóras üblicher Stundenlohn. Darüber hinaus bot ihr die Frau ein Zusatzhonorar an, falls die Ermittlungen zur Verhaftung eines anderen Täters führen sollten. Das Zusatzhonorar war höher als Dóras Jahresgehalt. »Was erwarten Sie für diese hohe Summe? Ich bin keine Privatdetektivin.«
»Wir suchen jemanden, der den Fall noch einmal aufrollt, das Beweismaterial begutachtet und die Schlussfolgerungen der Polizei überprüft.« Wieder machte die Frau eine Pause, bevor sie weitersprach. »Die Polizei weigert sich, mit uns zu reden. Das irritiert uns.«
Ihr Sohn ist ermordet worden und das Verhalten der Polizei irritiert sie, dachte Dóra. »Ich überlege es mir. Haben Sie eine Nummer, unter der ich Sie erreichen kann?«
»Ja.« Die Frau nannte die Telefonnummer. »Ich möchte Sie bitten, sich nicht allzu lange Bedenkzeit zu lassen. Ich versuche es woanders, wenn ich bis heute Nachmittag nichts von Ihnen gehört habe.«
»Machen Sie sich keine Gedanken. Ich gebe Ihnen so bald wie möglich Bescheid.«
»Frau Guðmundsdóttir, noch eine Sache.«
»Ja?«
»Wir haben eine Bedingung.«
»Und die wäre?«
Frau Guntlieb räusperte sich. »Wir möchten umgehend über alles informiert werden, was Sie herausfinden. Egal, ob es wichtig oder unwichtig ist.«
»Warten wir mal ab, ob ich Ihnen überhaupt behilflich sein kann, bevor wir die Details besprechen.«
Sie verabschiedeten sich und Dóra legte auf. Großartig, wenn der Tag damit beginnt, wie ein Dienstmädchen behandelt zu werden. Und die Kreditkarte überzogen zu haben. Und den Dispo. Das Telefon klingelte erneut. Dóra nahm ab.
»Hier ist die Autowerkstatt. Hör mal, das sieht doch schlimmer aus, als wir dachten.«
»Wird er überleben?«, fragte Dóra gereizt. Der Wagen hatte beschlossen, nicht mehr anzuspringen, als sie gestern Mittag ein paar Besorgungen machen wollte. Sie hatte mehrmals versucht, ihn in Gang zu bringen, aber ohne Erfolg. Schließlich musste sie aufgeben und der Wagen wurde in die Werkstatt geschleppt. Der Automechaniker hatte sie mitleidig angeschaut und ihr für die Reparaturzeit eine Dreckskarre geliehen. Ein schäbiges Gefährt, das auf der Heckscheibe die Aufschrift Bibbis Autowerkstatt trug und dessen Fußräume vor den Rücksitzen und auf der Beifahrerseite mit Müll bedeckt waren, überwiegend Verpackungen von Ersatzteilen und leere Coladosen. Dóra musste sich damit abfinden, denn sie brauchte ein Auto.
»So gerade.« Völlig gefühllos. »Es wird nicht ganz billig.« Darauf folgte ein Redeschwall mit Begriffen aus der Welt der Autoreparatur, von der Dóra nur wenig verstand. Die am Ende genannte Summe bedurfte jedoch keiner näheren Erläuterung.
»Besten Dank. Dann reparier ihn halt.«
Dóra legte auf. Sie starrte gedankenvoll einige Minuten auf das Telefon. Weihnachten stand vor der Tür mit den dazugehörigen Ausgaben, Weihnachtsschmuck, Ausgaben, Geschenken, Ausgaben, Festlichkeiten, Ausgaben, Familienfeiern, Ausgaben und — wie sollte es auch anders sein — noch mehr Ausgaben. Man konnte nicht gerade von Hochbetrieb in der Kanzlei sprechen. Wenn sie diesen Auftrag aus Deutschland annehmen würde, hätte sie genug zu tun. Außerdem würde es ihre Geldprobleme lösen und mehr als das. Sie könnte sogar mit den Kindern in Urlaub fahren. Es gab bestimmt genügend verlockende Reiseziele für ein sechsjähriges Mädchen, einen 16-jährigen Jungen und eine 36-jährige Frau. Sie würde es sich sogar leisten können, auch noch einen 26-jährigen Mann einzuladen, zwecks Förderung der Geselligkeit und Ausgleichs der Geschlechterverteilung. Sie nahm den Hörer in die Hand.
Anstelle von Frau Guntlieb meldete sich ein Dienstmädchen. Dóra fragte nach der Frau des Hauses und hörte kurz darauf klappernde Schritte. Eine kühle Stimme meldete sich.
»Guten Tag, Frau Guntlieb. Hier ist Dóra Guðmundsdóttir aus Island.«
»Ja.« Nach kurzem Schweigen war klar, dass Frau Guntlieb im Moment nicht mehr sagen würde.
»Ich habe mich entschieden und möchte versuchen, Ihnen zu helfen.«
»Gut.«
»Wann soll ich anfangen?«
»Sofort. Ich habe für heute Mittag einen Tisch bestellt. Dort können Sie die Sache mit Matthias Reich besprechen. Er arbeitet für meinen Mann. Er hält sich gerade in Island auf und verfügt über die Ermittlungserfahrungen, an denen es Ihnen mangelt. Er wird Ihnen weitere Informationen geben.«
Der vorwurfsvolle Ton bei dem Wort »mangelt« klang so, als sei Dóra für schuldig befunden worden, stockbesoffen bei einem Kindergeburtstag erschienen zu sein. Sie tat trotzdem so, als sei nichts gewesen. »Ja, ich verstehe. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass ich nicht sicher bin, ob ich Ihnen helfen kann.«
»Das wird sich zeigen. Matthias gibt Ihnen einen Vertrag, den Sie unterschreiben müssen. Lassen Sie sich Zeit, lesen Sie ihn gut durch.«
Auf einmal hätte Dóra der Frau am liebsten gesagt, sie solle sich zum Teufel scheren. Sie konnte diese Überheblichkeit und Arroganz nicht ausstehen. Als sie aber dann sich selbst, die Kinder und den 26-jährigen Typen im Urlaub vor sich sah, schluckte sie ihren Stolz hinunter und murmelte etwas Zustimmendes.
»Seien Sie um zwölf Uhr im Hótel Borg. Matthias kann Ihnen die eine oder andere Information geben, die nicht in der Zeitung steht. Einiges davon ist nicht druckfähig.«
Dóra lief plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken. Frau Guntliebs Stimme klang barsch und gefühllos, aber gleichzeitig irgendwie zerbrechlich. Vermutlich klang man unter diesen Bedingungen so. Dóra schwieg.
»Haben Sie mich verstanden? Kennen Sie das Hotel?«
Dóra hätte fast laut aufgelacht. »Ja, ich glaube schon. Ich werde dort sein.« Ganz bestimmt.
Dóra schaute auf die Uhr und legte den Fall beiseite, mit dem sie sich gerade beschäftigt hatte. Schon wieder ein Mandant, der nicht wahrhaben wollte, dass er gerade einen Prozess verlor. Sie war zufrieden mit sich, hatte ein paar kleinere Sachen bearbeitet und genug Zeit, sich mit Herrn Matthias Reich zu treffen. Sie wählte Bellas Durchwahl.
»Ich gehe zu einer Besprechung in die Stadt. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, aber rechne nicht vor zwei Uhr mit mir.« Das Grummeln am anderen der Leitung interpretierte Dóra als Zustimmung. Mein Gott, warum kann sie nicht einfach »ja« sagen?
Dóra nahm ihre Handtasche und steckte das Notizbuch ein. Alles, was sie über den Fall wusste, stammte aus den Medien. Allerdings hatte sie die Sache nicht besonders aufmerksam verfolgt. Sie erinnerte sich nur an die wichtigsten Punkte: Ein ausländischer Student war ermordet und seine Leiche auf nicht näher beschriebene Weise geschändet worden. Die Polizei hatte einen Drogendealer, der steif und fest seine Unschuld beteuerte, festgenommen. Daraus ließ sich nicht allzu viel schließen.
Während sie ihren Mantel anzog, musterte sich Dóra in dem großen Spiegel. Sie wusste, wie wichtig es war, beim ersten Treffen einen guten Eindruck zu machen, besonders, wenn ihr Gegenüber vermögend war.
Dóra wühlte in ihrer Handtasche, fand endlich den Lippenstift und schminkte sich hastig die Lippen. Sie trug fast nie Make-up und legte morgens nur eine Feuchtigkeitscreme und Wimperntusche auf. Den Lippenstift hatte sie für unerwartete Ereignisse wie jetzt dabei. Er stand ihr gut und steigerte ihr Selbstbewusstsein. Dóra war froh, ihrer Mutter zu ähneln und nicht ihrem Vater, der einmal als Doppelgänger von Winston Churchill posiert hatte. Man konnte zwar nicht behaupten, sie sei wunderschön oder attraktiv, aber mit ihren hohen Wangenknochen und ihren blauen, mandelförmigen Augen konnte man sie zweifellos als hübsch bezeichnen. Sie hatte außerdem das Glück gehabt, die Figur ihrer Mutter zu erben und schlank zu bleiben.
Dóra rief ihren Kollegen einen Abschiedsgruß zu und Bragi entgegnete »viel Glück«. Sie hatte ihm von ihrem Telefonat mit Frau Guntlieb und dem bevorstehenden Treffen mit deren Bevollmächtigtem erzählt. Bragi hatte die ganze Geschichte äußerst spannend gefunden und behauptet, die Tatsache, dass eine Mandantin aus dem Ausland sie kontaktiere, sei ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie auf dem richtigen Weg seien. Er hatte sogar vorgeschlagen, den schlichten Namen der Kanzlei mit einem International oder Group aufzupeppen. Dóra hoffte, dass Bragi nur einen Witz gemacht hätte, war sich jedoch nicht sicher.
Draußen wehte ein frischer Wind. Im November war es ungewöhnlich kalt gewesen, was auf einen langen, harten Winter hindeutete. Jetzt würden sie für den extrem warmen Sommer bezahlen müssen. Dóra zog sich ihre Kapuze tief ins Gesicht, damit sie nicht mit abgefrorenen Ohren zu ihrer Verabredung käme. Das Hótel Borg lag nicht weit entfernt und es lohnte sich nicht, mit dem Werkstattauto dorthin zu fahren. Wer weiß, was der Deutsche von ihr denken würde, wenn er sah, wie sie die Rostlaube vor dem Hótel parkte. Dann würden ihre schicken Schuhe auch nichts mehr retten können, das war klar.
Es dauerte keine sechs Minuten, bis sie von der Kanzlei an der Drehtür des Hotels angekommen war.
Dóra ließ ihren Blick durch den schönen Speisesaal schweifen. Sie stellte fest, dass es hier kaum noch so aussah wie in den Jahren, als sie die meisten Samstagabende wild feiernd mit ihrer Clique im Borg verbracht hatte — bis auf die großen Fenster, die den Blick auf das Parlamentsgebäude und den Austurvöllur freigaben. Damals hatte sie sich über gar nichts Gedanken gemacht, höchstens darüber, wie ihr Hintern im Outfit des jeweiligen Abends zur Geltung käme.
Der Deutsche schien um die vierzig zu sein. Er saß kerzengerade auf einem gepolsterten Stuhl und seine breiten Schultern verdeckten die schmucke Rückenlehne. Er war leicht ergraut, was ihm eine gewisse Würde verlieh. Er wirkte steif und förmlich und trug einen grauen Anzug und eine ebensolche Krawatte, was die Farbpalette nicht gerade bereicherte. Dóra versuchte, freundlich und aufmerksam zu lächeln, und hoffte, nicht vollkommen idiotisch dabei auszusehen. Der Mann erhob sich, nahm die Serviette vom Schoß und legte sie auf den Tisch.
»Frau Guðmundsdóttir.« Eine harte, kalte Aussprache.
Sie gaben sich die Hände. »Herr Reich«, raunte Dóra mit so guter deutscher Aussprache wie möglich. »Nennen Sie mich bitte Dóra«, fügte sie hinzu. »Das kann man leichter aussprechen.«
»Nehmen Sie Platz«, sagte der Mann und setzte sich. »Und nennen Sie mich Matthias.«
Sie achtete darauf, gerade zu sitzen, und dachte darüber nach, was die anderen Gäste wohl von diesem stocksteifen Duett halten mochten. Vielleicht glaubten sie, es handele sich um das Gründungstreffen des Vereins für Menschen mit Stahlschienen in der Wirbelsäule.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte der Mann Dóra höflich auf Deutsch. Der Kellner verstand offenbar, was er gesagt hatte, denn er wendete sich zu Dóra und wartete auf die Bestellung.
»Ein Wasser bitte. Mineralwasser.« Sie erinnerte sich daran, wie verrückt die Deutschen auf Mineralwasser waren. Allerdings wurde es auch in Island immer beliebter — vor zehn Jahren wäre niemand mit gesundem Menschenverstand auf die Idee gekommen, in einem Restaurant für ein Glas Wasser zu bezahlen. Es floss ja schließlich unablässig aus dem Wasserhahn. »Ich nehme an, Sie haben mit meinen Arbeitgebern gesprochen, oder besser gesagt mit Frau Guntlieb?«, fragte Matthias Reich, als der Kellner gegangen war.
»Ja. Sie hat mir gesagt, Sie würden mir nähere Informationen geben.«
Er zögerte und leerte sein mit einer klaren Flüssigkeit gefülltes Glas. Die Luftbläschen gaben zu erkennen, dass er ebenfalls Mineralwasser bestellt hatte. »Ich habe eine Mappe mit Material für Sie zusammengestellt. Die können Sie mitnehmen und später durchsehen, aber es gibt noch ein paar Dinge, die ich jetzt mit Ihnen besprechen möchte, wenn Ihnen das recht ist.«
»Selbstverständlich«, antwortete Dóra ohne Zögern. Bevor Matthias fortfahren konnte, sagte sie: »Ich möchte unter anderem gern etwas mehr über die Leute wissen, für die ich arbeiten werde. Das spielt vielleicht für die Ermittlung keine Rolle, aber es ist mir wichtig. Frau Guntlieb nannte eine sehr beachtenswerte Summe als Honorar. Ich habe kein Interesse daran, das Schicksal der Familie auszunutzen, falls sie sich das nicht leisten kann.«
»Sie kann sich das leisten«, entgegnete er und grinste. »Herr Guntlieb ist Direktor und Hauptteilhaber der Anlagenbestand-Bank in Bayern. Die Bank ist nicht überregional tätig, hat aber wichtige Firmenkunden und sehr wohlhabende Privatkunden. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Ich verstehe«, sagte Dóra und wusste nun auch, warum ein Dienstmädchen ans Telefon gegangen war.
»Mit ihren Kindern haben die Guntliebs hingegen weniger Glück gehabt. Sie hatten vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter. Der ältere Sohn starb vor zehn Jahren bei einem Autounfall und die ältere Tochter war von Geburt an schwer behindert. Vor ein paar Jahren riss die Krankheit sie in den Tod. Jetzt ist ihr Sohn Harald ermordet worden, und die jüngste Tochter, Elisa, ist die Einzige, die sie noch haben. Das hat Herrn und Frau Guntlieb sehr mitgenommen, wie Sie sich bestimmt vorstellen können.«
Dóra nickte und fragte dann zögernd: »Was hat Harald nach Island verschlagen? Ich dachte, es gäbe in Deutschland eine Menge guter Universitäten für Historiker.«
Nach Matthias’ Gesichtsausdruck zu schließen, der ansonsten völlig unbewegt gewesen war, handelte es sich um eine schwierige Frage. »Ich weiß es nicht genau. Er hatte Interesse am 17. Jahrhundert, und ich habe herausgefunden, dass er sich auf einem bestimmten Gebiet mit vergleichenden Forschungen zwischen dem europäischen Festland und Island beschäftigt hat. Er kam über ein Austauschprogramm zwischen der Universität München und der Universität Islands hierher.«
»Welche Art vergleichende Forschungen? Ging es um Regierungsformen oder so etwas?«, fragte Dóra.
»Nein, es lag mehr auf dem Gebiet der Religion.« Er nahm einen Schluck Wasser. »Wir sollten vielleicht erst bestellen, bevor wir das vertiefen.« Er winkte dem Kellner, der mit zwei Speisekarten erschien.
»Religion, sagen Sie.« Sie überflog die Karte. »Welche Religion?«
Matthias legte die aufgeschlagene Speisekarte auf den Tisch. »So etwas bespricht man eigentlich nicht beim Essen, aber ich denke, wir müssen es früher oder später tun. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Haralds Studieninteressen etwas mit dem Mord zu tun haben.«
Dóra runzelte die Stirn. »Ging es vielleicht um eine Pest?«, fragte sie. Das war das Einzige, was ihr in den Sinn kam.
»Nein, keine Pest.« Er schaute ihr in die Augen. »Hexenverfolgung. Folter und Hinrichtungen. Nicht besonders angenehm. Leider hat sich Harald sehr dafür interessiert. Dieses Interesse liegt sogar in der Familie.«
Dóra nickte. »Ich verstehe.« Im Grunde verstand sie gar nichts. »Vielleicht sollten wir das lieber nach dem Essen besprechen.«
»Das ist eigentlich gar nicht nötig. Die wichtigsten Punkte stehen in der Mappe.« Er nahm die Speisekarte wieder zur Hand. »Später gebe ich Ihnen auch ein paar Kisten mit Haralds persönlichen Dingen, die ich von der Polizei bekommen habe. Darunter befindet sich auch aufschlussreiches Material zu seiner Masterarbeit. Ich warte außerdem auf seinen Computer und andere Dinge, die möglicherweise Hinweise geben können.«
Sie studierten schweigend die Speisekarte.
»Fisch«, bemerkte Matthias, ohne aufzuschauen. »Sie essen hier ja viel Fisch.«
»Ja, das tun wir«, war das Einzige, was Dóra darauf einfiel.
»Ich mag keinen Fisch«, erklärte er.
»Wirklich nicht?« Dóra schloss die Speisekarte. »Ich esse sehr gern Fisch und ich glaube, ich nehme die gebratene Scholle.«
Schließlich entschied er sich für eine Quiche. Als der Kellner wieder gegangen war, fragte Dóra, wieso die Familie davon ausging, dass die Polizei den falschen Mann verhaftet hatte.
»Das hat verschiedene Gründe. Erstens hätte Harald seine Zeit nicht damit verschwendet, sich mit irgendeinem Drogendealer zu streiten.« Er blickte ihr in die Augen. »Harald nahm ab und zu Drogen; das ist bekannt. Alkohol getrunken hat er auch. Er war jung. Aber er war weder drogen- noch alkoholabhängig.«
»Das kommt natürlich drauf an, wie man es definiert«, entgegnete Dóra. »Für mich bedeutet regelmäßiger Drogenkonsum Abhängigkeit.«
»Ich weiß ziemlich viel über Drogenmissbrauch.« Matthias verstummte, beeilte sich aber dann zu sagen: »Nicht aus eigener Erfahrung, sondern durch meine Arbeit. Harald war nicht abhängig — er war zweifellos dabei, es zu werden, aber er war nicht abhängig, als er ermordet wurde.«
Dóra stellte fest, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, warum dieser Mann nach Island geschickt worden war. Wohl kaum, um sie zum Mittagessen einzuladen und sich über isländischen Fisch zu beschweren. »Was genau ist Ihre Tätigkeit für diese Familie? Frau Guntlieb erwähnte, Sie arbeiteten für ihren Mann.«
»Ich kümmere mich um Sicherheitsfragen der Bank. Das beinhaltet unter anderem die Überprüfung der Lebensläufe zukünftiger Mitarbeiter und die Kontrolle verschiedener Sicherheitsbestimmungen in der Firma und bei den Finanzgeschäften.«
»Dabei haben Sie wohl kaum mit Drogen zu tun?«
»Nein. Damit meinte ich meinen vorherigen Job. Ich war zwölf Jahre lang bei der Münchner Kriminalpolizei.« Er schaute ihr direkt ins Gesicht. »Ich weiß einiges über Mordfälle und habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass bei dieser Morduntersuchung geschlampt wurde. Ich musste den Ermittlungsleiter nur ein paar Mal treffen, um festzustellen, dass er keinen blassen Schimmer davon hat, was er tut.«
»Wie heißt er?«
Dóra verstand, wen er meinte, obwohl seine Aussprache ziemlich merkwürdig war. Árni Bjarnason. Sie seufzte. »Ich kenne ihn von anderen Fällen. Er ist ein furchtbarer Idiot. Wirklich ungeschickt, ihm die Ermittlung zu übergeben.«
»Es gibt auch noch andere Gründe, warum die Familie glaubt, dass der Drogendealer nichts mit dieser grausamen Tat zu tun hat.«
Dóra schaute auf. »Und welche Gründe sind das?«
»Kurz vor seinem Tod hat Harald eine große Summe Geld von einem Bankkonto abgehoben, das auf seinen Namen läuft. Man hat nicht herausgefunden, was mit dem Geld passiert ist. Es war wesentlich mehr, als Harald für Drogen gebraucht hätte, selbst wenn er sich die nächsten Jahre hätte zudröhnen wollen.«
»War er vielleicht in Drogentransporte verwickelt?«, fragte Dóra und fügte hinzu: »Finanzierung von Drogenschmuggel oder so was?«
Matthias schnaubte. »Ausgeschlossen. Harald brauchte kein Geld. Er war sehr wohlhabend. Sein Großvater hat ihm ein Vermögen vererbt.«
»Ich verstehe.«
»Die Polizei konnte nicht beweisen, dass der Dealer Geld entgegengenommen hat. Das Einzige, was man über Haralds Verbindung zur Drogenszene herausgefunden hat, ist, dass er ab und zu Haschisch gekauft hat.«
Das Essen wurde serviert und sie aßen schweigend. Dóra war ein bisschen verlegen. Mit diesem Mann konnte man nicht gut schweigen. Andererseits hatte Smalltalk ihr nie gelegen, selbst wenn die Stille beklemmend war. Deshalb beschloss sie, lieber den Mund zu halten.
Sie bestellten Kaffee und kurz darauf wurden zwei dampfende Tassen, eine Zuckerdose und ein silbernes Milchkännchen an den Tisch gebracht.
Dóra nippte an ihrem Kaffee und unterbrach dann die Stille. »Haben Sie einen Vertrag, den ich mir anschauen kann?«
Der Mann reckte sich nach einer Aktentasche, die auf dem Stuhl lag, und holte eine dünne Mappe hervor. Er reichte sie Dóra über den Tisch. »Nehmen Sie den Vertrag mit. Wir können morgen die Punkte durchgehen, die Sie ändern wollen. Ich gebe Ihre Anmerkungen dann an Familie Guntlieb weiter. Es ist ein fairer Vertrag und ich glaube nicht, dass Sie viel daran ändern möchten.« Er bückte sich erneut und holte eine zweite, dickere Mappe hervor, die er zwischen sie auf den Tisch legte. »Nehmen Sie das auch mit. Das ist die Mappe, die ich eben erwähnt habe. Es wäre mir wichtig, dass Sie die Unterlagen durchsehen, bevor Sie sich entscheiden. Der Fall hat sehr unangenehme Seiten und ich möchte, dass Ihnen das vorher klar ist.«
»Glauben Sie, damit würde ich nicht zurechtkommen?«, fragte Dóra ein klein wenig beleidigt.
»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Deshalb bitte ich Sie, die Mappe durchzusehen. Darin befinden sich ziemlich unappetitliche Fotos vom Tatort und alle möglichen Erläuterungen, die auch nicht unbedingt nett sind. Es ist mir gelungen, mit Hilfe einer Person, deren Namen ich nicht nennen möchte, an verschiedene Beweisstücke zu kommen.«
Er legte seine Hand auf die Mappe.
»Hier drin sind auch Informationen über Haralds Leben. Sie sind streng vertraulich und nichts für zart Besaitete. Ich vertraue darauf, dass Sie diese Fakten für sich behalten, falls Sie beschließen sollten, den Fall nicht anzunehmen. Die Familie möchte nicht, dass das hier an die Öffentlichkeit gelangt.«
Er nahm die Hand von der Mappe und schaute Dóra in die Augen. »Ich möchte das Unglück der Familie nicht noch verschlimmern.«
»Ich verstehe«, antwortete Dóra. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht über meine Arbeit … tratsche.« Sie fixierte ihn und fügte bestimmt hinzu: »Niemals.«
»Gut.«
»Aber da Sie all dies schon zusammengetragen haben — wofür brauchen Sie mich da noch? Sie scheinen Zugang zu Informationen zu haben, die ich sicher nicht bekommen würde.«
»Möchten Sie wissen, warum wir Sie brauchen?«
»Ich glaube, das habe ich gerade gesagt«, konterte Dóra.
Er atmete hektisch durch die Nase. »Ich will Ihnen sagen, warum. Ich bin Ausländer in diesem Land und außerdem Deutscher. Wir müssen mit verschiedenen Leuten sprechen, die mir niemals etwas Wichtiges anvertrauen würden. Ich habe nur ein bisschen an der Oberfläche gekratzt und die meisten Informationen über Haralds Privatleben in Deutschland erhalten. Ich bin kein Mann, mit dem man gern über unangenehme und heikle Privatangelegenheiten spricht.«
»Ja, das ist mir klar«, rutschte es Dóra heraus.
Der Mann lächelte zum ersten Mal. Es überraschte Dóra, wie schön sein Lächeln war, offen und ehrlich, trotz seiner unnatürlich weißen, geraden Zähne. Sie musste zurücklächeln, fügte dann aber irritiert hinzu: »Über welche unangenehmen Dinge soll ich denn mit den Leuten reden?«
Sein Lächeln verschwand so schnell, wie es erschienen war. »Sexuelle Würgespiele, Folter, Okkultismus, Misshandlungen des eigenen Körpers und andere abnorme Verhaltensweisen ernsthaft geschädigter Personen.«
Dóra erstarrte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, worauf das alles hinausläuft.« Von sexuellen Würgespielen hatte sie noch nie etwas gehört — wenn Würgespiele etwas mit erwürgen zu tun hatten, dann würde sie nichtsexuelle Spiele vorziehen, die einzigen, die sie zurzeit praktizierte.
Als sein Lächeln zum zweiten Mal erschien, war es nicht mehr ganz so charmant wie zuvor. »Oh, das werden Sie schon noch herausfinden. Haben Sie da mal keine Sorge.«
Sie tranken ihren Kaffee, ohne weitere Worte zu wechseln, und dann nahm Dóra die Mappe und machte sich bereit, wieder zurück in die Kanzlei zu gehen. Sie verabredeten sich für den darauffolgenden Tag und verabschiedeten sich.
Als Dóra gerade den Tisch verlassen wollte, legte er seine Hand auf ihren Arm.
»Noch eine Sache, Frau Guðmundsdóttir.«
Sie drehte sich um.
»Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, warum ich davon überzeugt bin, dass der Mann, den die Polizei verhaftet hat, nicht der Mörder ist.«
»Warum?«
»Man hat Haralds Augen nicht bei ihm gefunden.«
Dóra hatte normalerweise keine Angst vor Taschendieben, aber auf dem Rückweg von ihrer Besprechung mit Matthias hielt sie ihre Tasche fest umklammert. Sie wollte sich nicht ausmalen, wie es wäre, den Mann anrufen und ihm mitzuteilen zu müssen, die Unterlagen seien gestohlen worden. Sie war froh, als sie die Tür zur Anwaltskanzlei öffnete.
Schwerer Zigarettenqualm schlug ihr entgegen. »Bella, du weißt doch, dass hier Rauchverbot ist.«
Bella hechtete vom Fenster weg und ließ hektisch etwas fallen. »Ich hab nicht geraucht.« Während sie dies sagte, kräuselte sich ein sehr schmaler Rauchstreifen aus ihrem Mundwinkel.
Dóra stöhnte innerlich. »Ach so, dann steht wohl nur dein Mund in Flammen. Mach das Fenster zu und rauch in der Kaffeestube. Das ist gesünder, als aus dem Fenster zu hängen.«
»Ich hab nicht geraucht, ich hab Tauben vom Fensterbrett verscheucht«, protestierte Bella beleidigt. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, ohne Dóra anzuschauen.
Dóra beschloss, es gut sein zu lassen. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es wenig Sinn hatte, sich mit dem Mädchen zu streiten. Sie ging in ihr Büro und schloss die Tür.
Die prall gefüllte Mappe, die Matthias ihr gegeben hatte, war schwarz, was in Anbetracht ihres Inhalts auf gewisse Weise passend war. Der Ordner war nicht beschriftet. Es wäre ja auch schwierig gewesen, einen geschmackvollen Titel zu finden. »Leben und Tod des Harald Guntlieb«, murmelte Dóra vor sich hin, als sie die Mappe öffnete und das ordentlich angelegte Inhaltsverzeichnis betrachtete. Die Mappe war mit Trennblättern in sieben Abschnitte unterteilt, in chronologischer Reihenfolge: Deutschland, Wehrdienst, Universität München, Universität Islands, Kontoauszüge, polizeiliche Ermittlung. Der siebte und letzte Abschnitt trug den Titel Obduktion. Sie beschloss, die Mappe chronologisch durchzuarbeiten. Sie schaute auf die Uhr; es war kurz vor zwei. Sie würde es kaum schaffen, sich alles bis fünf Uhr anzusehen. Dann musste sie ihre Tochter Sóley vom Hort abholen. Sie musste sich beeilen. Dóra stellte die Weckfunktion ihres Handys auf Viertel vor fünf. Sie nahm sich vor, bis dahin die wichtigsten Dokumente in der Mappe überflogen zu haben. Sie wollte die Unterlagen ungern mit nach Hause nehmen, obwohl das nicht selten vorkam, wenn viel zu tun war. Der Inhalt dieses Ordners war zweifellos nicht dazu geeignet, in einem Haushalt mit Kindern herumzuliegen. Sie blätterte das erste Trennblatt um und begann mit der Arbeit.
Das erste Blatt war eine beglaubigte Kopie der Geburtsurkunde. Darin stand, dass Frau Amelia Guntlieb am 18. Juni 1978 in München einen gesunden Sohn zur Welt gebracht hatte. Als Vater war Herr Johannes Guntlieb, Bankdirektor, angegeben. Dóra kannte das Krankenhaus nicht. Dem Namen nach handelte es sich nicht um eines der großen städtischen Krankenhäuser, und sie vermutete, es war ein kostspieliges Privatkrankenhaus oder Geburtshaus für gut Betuchte.
Dóra blätterte weiter.
Die nächsten Seiten waren Plastikhüllen mit jeweils vier Fächern. In jedem Fach befand sich ein Foto; die meisten zeigten die Familie Guntlieb bei verschiedenen Gelegenheiten. Zu jedem Foto gehörte ein weißer Papierstreifen mit den Namen der abgebildeten Personen. Als Dóra auf die Schnelle alle Fotos durchblätterte, stellte sie eine Gemeinsamkeit fest: Harald war auf jedem Foto. Neben den Familienbildern gab es auch ein paar Schulfotos von Harald in verschiedenen Altersstufen, frisch gekämmt und herausgeputzt, wie es üblich ist. Dóra grübelte darüber nach, warum diese Fotos in der Mappe waren. Die einzige logische Begründung war, dass die Fotos sie daran erinnern sollten, dass der Ermordete einmal lebendig gewesen war. Sie erfüllten ihren Zweck.
Auf den ersten und ältesten Bildern sah man einen kleinen, gepflegten Jungen, meist mit seinem Bruder, der etwa zwei bis drei Jahre älter war, oder seiner Mutter. Dóra registrierte, wie schön Amelia Guntlieb war. Obwohl die Fotos zum Teil ziemlich unscharf waren, konnte man gut erkennen, dass sie zu den wenigen Frauen gehörte, die immer hervorragend aussehen, auch wenn sie nicht viel dafür tun. Dóra musterte ein Bild von Mutter und Sohn genauer, auf dem Frau Guntlieb dem Jungen das Laufen beibrachte. Das Foto war im Garten aufgenommen worden. Frau Guntlieb hielt Harald an den Händen fest, während er auf die ungeschickte Art eines einjährigen Kindes versuchte zu laufen, ein Bein angewinkelt und nach oben gestreckt. Frau Guntlieb lächelte in die Kamera und ihr schönes Gesicht strahlte vor Glück. Die kühle Stimme, die Dóra am Telefon von der anderen Seite des Ozeans gehört hatte, passte nicht zu diesem Motiv. Der Junge war in dem Alter, in dem das Gesicht mit dicken Bäckchen, Stupsnase und Babyspeck noch nicht richtig geformt ist. Dennoch ließ sich eine wirklich deutliche Ähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn ausmachen.
Die nächsten Fotos zeigten Harald im Alter von zwei oder drei Jahren. Jetzt ähnelte er seiner Mutter noch mehr, hatte aber keine mädchenhaften Züge. Seine Mutter war auch auf den Fotos, zuerst schwanger, dann lächelnd, mit einem in dicke Tücher gewickelten Baby im Arm. Auf diesem Bild stand Harald neben dem Stuhl seiner Mutter und reckte sich nach oben, um einen Blick auf den Säugling, seine kleine Schwester, werfen zu können. Seine Mutter hatte ihm den Arm um die Schultern gelegt. Auf dem Zettel unter dem Foto sah Dóra, dass die Kleine nach der Mutter benannt worden war: Amelia, mit dem Zweitnamen Maria. Das musste das Mädchen sein, das an einer angeborenen Krankheit gestorben war. Dem Bild nach zu urteilen, hatte die Familie nicht von Anfang an von der Krankheit gewusst. Die Mutter schien überglücklich und sorglos zu sein. Auf den nächsten Fotos hatte sich jedoch etwas verändert. Frau Guntlieb wirkte abwesend und traurig, ihre Augen waren ausdruckslos. Es gab auch keinen Körperkontakt zwischen ihr und Harald wie auf den früheren Fotos. Der kleine Junge wirkte niedergeschlagen und hilflos. Das Mädchen war nirgends zu sehen.
Dann schien ein Teil der Familiengeschichte zu fehlen, denn die nächsten Bilder waren mindestens fünf Jahre später aufgenommen. Dieser Abschnitt begann mit einem gestellten Familienfoto, das erste, auf dem Herr Guntlieb zu sehen war. Er sah würdevoll aus und war deutlich älter als seine Frau. Alle hatten sich fein herausgeputzt und ein Baby war hinzugekommen, das im Arm der Mutter lag. Dies war eindeutig die jüngste Tochter des Ehepaars, das einzige Kind, das noch lebte. Das kleine, kranke Mädchen war auch auf dem Bild; sie saß im Rollstuhl fixiert, ihr Kopf war zurückgeworfen und ihr Mund geöffnet. Ihr Unterkiefer hing schlaff zur Seite; sie schien ihn kaum unter Kontrolle zu haben. Das Gleiche galt für ihre Gliedmaßen; ein Arm war angewinkelt und die Hand unnatürlich gekrümmt. Ihre Finger waren verkrampft wie bei einer Klaue. Der andere Arm lag leblos in ihrem Schoß. Hinter dem Rollstuhl stand Harald, schätzungsweise acht Jahre alt. Sein Gesichtsausdruck war ganz anders als bei Dóras Söhnen in diesem Alter. Die Trübsal des kleinen Jungen war ergreifend. Es musste etwas geschehen sein, und Dóra überlegte, ob sich ein so kleines Kind die Krankheit des Schwesterchens derart zu Herzen nehmen konnte. Vielleicht hatte Harald mit psychischen Problemen zu kämpfen, was bei Kindern nicht selten vorkam. Möglicherweise war der Kleine depressiv, weil die Konkurrenz mit den jüngeren Geschwistern um die Aufmerksamkeit der Eltern seine Kräfte überstieg. Falls das so war, wurde auf den nächsten Fotos deutlich, dass die Eltern damit überhaupt nicht umgehen konnten. Auf keinem der Bilder brachten sie dem Kind körperliche Zuneigung entgegen; der Junge hielt sich immer etwas abseits von der Familie, nur einige wenige Male stand sein Bruder neben ihm. Es war, als habe seine Mutter ihn einfach vergessen oder wolle ihn absichtlich ausgrenzen. Dóra ermahnte sich, nicht zu viel in die Fotos hineinzuinterpretieren. Sie waren lediglich Momentaufnahmen aus dem Leben dieser Menschen.
Es klopfte an der Tür und Bragi, der Miteigentümer und Gründer der Kanzlei, spähte herein. »Hast du zwei Minuten Zeit?«
Dóra nickte und Bragi trat ein. Er war fast sechzig und von großer, kräftiger Statur. Er war nicht nur hoch gewachsen, sondern sein ganzer Körper war massig. Dóra beschrieb ihn immer als insgesamt zwei Nummern zu groß, inklusive Finger, Ohren und Nase. Er ließ sich in den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs fallen und zog die Mappe, die Dóra gerade durchsah, zu sich herüber. »Wie war’s?«
»Die Besprechung? Ganz gut, glaube ich«, antwortete Dóra und beobachtete, wie Bragi lässig durch die Fotos blätterte, die sie gerade angeschaut hatte.
»Dieser Junge sieht ja furchtbar deprimiert aus«, kommentierte Bragi und tippte auf ein Foto von Harald. »Ist das etwa der Ermordete?«
»Ja«, entgegnete Dóra. »Ziemlich merkwürdige Fotos.«
»Nicht unbedingt. Du solltest mal Fotos aus meiner Kindheit sehen. Ich war ein trauriges Kind. Unglücklich und mit einem Wort: hoffnungslos.«
Dóra nahm ihn nicht ernst. Sie war alle möglichen Kuriositäten von Bragi gewöhnt. Das war bestimmt wieder eine Übertreibung, genau wie die Geschichte, dass er angeblich während seines Jurastudiums jede Nacht im Hafen und an den Wochenenden tagsüber auf Fischfangbooten gearbeitet hatte. Trotzdem kam sie gut mit ihm aus. Er war ihr stets wohlgesinnt und als er ihr vor drei Jahren vorgeschlagen hatte, gemeinsam eine Anwaltskanzlei zu eröffnen, hatte sie dankbar angenommen. Sie hatte damals in einer mittelgroßen Kanzlei gearbeitet und war heilfroh gewesen, dort wegzukommen. Sie vermisste es überhaupt nicht, an der Kaffeemaschine Gesprächen über Lachsangeln und Krawatten zu lauschen.
Bragi schob die Mappe wieder zu Dóra. »Wirst du den Fall übernehmen?«
»Ja, ich denke schon«, war die Antwort. »Ist doch mal was anderes.«
Bragi stand auf, ging zur Tür, drehte sich im Türrahmen noch einmal um und fügte hinzu: »Wie sieht’s denn aus, kann þór dir vielleicht bei der Sache behilflich sein?« þór war ein frisch graduierter Jurist, der erst seit gut einem halben Jahr für die Kanzlei arbeitete. Er war etwas sonderbar und nicht sehr gesellig, aber seine Arbeit war absolut vorbildlich, weshalb nichts dagegen sprach, dass er Dóra bei Bedarf zur Seite stünde. »Ich hab auch schon daran gedacht. Er könnte mich in meinen anderen Fällen entlasten, damit ich mich ganz auf diese Sache konzentrieren kann.«
»Kein Problem, regle das einfach so, wie es dir am besten passt.«
Dóra nahm die Mappe wieder zur Hand und blätterte schnell die übrigen Fotos durch. Sie sah, wie Harald heranwuchs und sich in einen attraktiven jungen Mann mit dem hellen Teint seiner Mutter verwandelte. Sein Vater hatte wesentlich dunklere Wimpern und Augenbrauen; ein Gesicht, das nicht lange im Gedächtnis haften blieb. Auf der letzten Seite waren nur zwei Fotos, beide offensichtlich in einem Studio aufgenommen. Das erste war von Haralds Examen an der Uni in München und das zweite vom Beginn oder vom Abschluss seines Militärdienstes, jedenfalls trug Harald eine Uniform der Bundeswehr. Auf den folgenden Seiten befanden sich Kopien von Haralds Zeugnissen aus unterschiedlichen Schuljahren. Es zeigte sich, dass der Junge außerordentlich begabt war. Er hatte ausgezeichnete Noten und Dóra wusste aus eigener Erfahrung, dass man die im deutschen Schulsystem nicht einfach aus dem Ärmel schüttelte. Der letzte, ebenfalls hervorragende Notenspiegel stammte von der Universität München, wo Harald seinen Magisterabschluss in Geschichte mit Bestnote gemacht hatte. Den Jahreszahlen zufolge gab es eine Lücke zwischen Haralds Schulabschluss und dem Beginn seines Studiums. Dóra blätterte weiter zur Überschrift »Wehrdienst«. Es war ein dünner Abschnitt mit nur wenigen Seiten. Die erste war eine Kopie von Harald Guntliebs Aufnahmebogen bei der Bundeswehr im Jahr 1999. Danach war er anscheinend zum Heer gegangen. Dóra kam es seltsam vor, dass er sich nicht für die Luftwaffe oder die Marine entschieden hatte. Sie war sich sicher, dass er durch den Einfluss seines Vaters die Möglichkeit gehabt hätte, sämtliche Laufbahnen innerhalb der Bundeswehr einzuschlagen. Auf der nächsten Seite befand sich ein Dokument, das besagte, dass Haralds Truppe in den Kosovo geschickt werden sollte. Die dritte und letzte Seite war Haralds Entlassungsurkunde aus der Bundeswehr sieben Monate später. Es gab keine genaue Erklärung, nur den flüchtigen Eintrag »aus medizinischen Gründen«. Auf den Rand der Seite hatte jemand ein elegant geschwungenes Fragezeichen gemalt. Dóra vermutete, dass es von Matthias stammte; soweit sie wusste, war er derjenige, der diese Unterlagen zusammengestellt hatte. Als Erinnerung notierte sie sich, ihn über die genauen Hintergründe von Haralds Ausscheiden aus der Bundeswehr zu befragen. Sie blätterte weiter zum nächsten Kapitel.
Der Abschnitt über die Universität München war nur einen Monat nach Haralds Austritt aus der Bundeswehr datiert. Allem Anschein nach war Harald relativ schnell genesen, falls die Krankheit der wirkliche Grund für seinen Austritt gewesen war. Es folgten einige Seiten, aus denen Dóra nicht richtig schlau wurde; eine Tagesordnungskopie vom Gründungstreffen eines Geschichtsvereins mit dem Namen »Malleus Maleficarum«, ein Empfehlungsschreiben irgendeines Professors Chamiel, der Harald in höchsten Tönen lobte, ein paar Seiten mit Inhaltsangaben zu Geschichtsvorlesungen über das 15., 16. und 17. Jahrhundert. Dóra hatte keine Ahnung, was es damit auf sich hatte.
Am Ende des Kapitels befand sich schließlich ein ausgeschnittener Artikel aus einer deutschen Tageszeitung, in dem es um den Tod einiger junger Leute durch eine abartige Sexualpraktik ging. Nachdem sie ihn gelesen hatte, wusste Dóra, dass diese Praktik daraus bestand, die Luftröhre mit einer Schlinge zuzuziehen und sich dabei selbst zu befriedigen. Das mussten die sexuellen Würgespiele sein, von denen Matthias gesprochen hatte. Dem Artikel zufolge handelte es sich um eine nicht unübliche Praktik bei Leuten, die aufgrund von hohem Drogen- oder Alkoholkonsum Schwierigkeiten haben, zum Orgasmus zu kommen. Auf dem Blatt gab es keine Erklärung dafür, welche Verbindung genau zwischen dem Artikel und Harald bestand, außer, dass einer der Betroffenen an derselben Uni studiert hatte. Der Student wurde namentlich nicht genannt und der Artikel war auch nicht datiert. Dóra blätterte zurück zu Haralds Examensfoto am Ende des ersten Abschnitts. Sie musterte die Aufnahme und konnte eine Rötung an Haralds Hals erkennen, direkt oberhalb des Hemdkragens. Sie nahm das Foto aus der Plastikhülle und studierte es genauer. Das Bild war ohne die Plastikfolie zwar etwas schärfer, aber nicht scharf genug, um sichergehen zu können, dass es sich um Quetschung handelte. Auch danach musste sie Matthias fragen.
Die letzte Seite in dieser sonderbaren Zusammenstellung über Haralds Studienzeit in München war das Deckblatt seiner Magisterarbeit. Es handelte sich um eine Untersuchung der Hexenverfolgungen in Deutschland, vornehmlich der Ermordung von Kindern, die der Hexerei bezichtigt wurden. Dóra lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie kannte Hexenverbrennungen natürlich aus dem Geschichtsunterricht im Gymnasium, konnte sich aber nicht daran erinnern, dass in diesem Zusammenhang von Kindern die Rede gewesen war. Das hätte sie bestimmt nicht vergessen, obwohl sie sich in Geschichte immer furchtbar gelangweilt hatte. Dóra klammerte sich an die Hoffnung, das Resultat der Arbeit sei gewesen, dass keine Kinder verbrannt worden waren. Aber im Grunde wusste sie, dass das nicht stimmen konnte. Sie begann mit dem Kapitel über die Universität Islands.
Darin befand sich ein Brief der Universitätsverwaltung, in dem Harald mitgeteilt wurde, seine Bewerbung für den Masterstudiengang sei angenommen worden und man begrüße ihn zum Wintersemester 2004 an der Uni. Danach kam ein Ausdruck von Haralds Noten in seinen bereits abgeschlossenen Fächern. Dóra sah am Datum, dass die Datei nach seinem Tod ausgedruckt worden war. Vermutlich hatte Matthias sie besorgt. Obwohl es Harald in diesem einen Studienjahr nicht gelungen war, viele Fächer abzuschließen, waren seine Noten wie üblich sehr gut.
Auf dem nächsten Blatt standen fünf Namen, alles Isländer. Hinter jedem Namen waren ein Studienfach und ein Geburtsjahr verzeichnet. Wahrscheinlich Haralds Freundeskreis, da alle in seinem Alter waren. Marta Maria Eyjólfsdóttir, Frauenforschung, geb. 1981, Brjánn Karlsson, Geschichte, geb. 1981, Halldór Kristinsson, Medizin, geb. 1982, Andri þórsson, Chemie, geb. 1979 und Bríet Einarsdóttir, Geschichte, geb. 1983. Dóra blätterte weiter, in der Hoffnung, ausführlichere Informationen über die jungen Leute zu finden, aber sie wurde enttäuscht. Als Nächstes kam ein Lageplan vom Universitätsgelände mit den wichtigsten Gebäuden. Die Historische Fakultät, das Árni Magnússon Institut und das Hauptgebäude waren eingekreist, wahrscheinlich von Matthias. Es folgten weitere Ausdrucke von der Homepage der Uni. Dóra überflog den englischsprachigen Text, in dem die Historische Fakultät beschrieben wurde. Darauf folgte eine ähnliche Seite über Studiengänge für ausländische Studenten. Das Ganze war nicht sehr aufschlussreich.
Das letzte Dokument in diesem Abschnitt war eine ausgedruckte E-Mail mit dem Absender hguntlieb@hi.is, offensichtlich Haralds E-Mail-Adresse an der Uni. Die Mail war an seinen Vater geschrieben, datiert kurz nach Haralds Studienbeginn im Herbst 2004. Dóra war entsetzt, wie distanziert der Text klang. Harald sei sehr zufrieden in Island, er habe eine passende Wohnung gemietet usw. Die Mail endete mit der Mitteilung, dass Harald einen Betreuer für seine Masterarbeit gefunden habe, Professor þorbjörn Ólafsson. In der Arbeit solle es um einen Vergleich der Hexenverbrennungen in Island und Deutschland gehen, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass in Island fast ausschließlich Männer der Hexerei bezichtigt wurden, im Gegensatz zu Deutschland, wo die Frauen in der Überzahl waren. Der Brief endete mit einem Gruß und es zog Dóra das Herz zusammen, als sie das PS las. Dort stand: »Wenn du daran interessiert bist, in Kontakt zu bleiben, hast du hiermit meine E-Mail-Adresse.« Klang nicht sehr liebevoll. Vielleicht hatte Haralds Austritt aus der Bundeswehr etwas mit diesem schlechten Verhältnis zu tun. Sein Vater sah, den Fotos nach zu urteilen, nicht besonders verständnisvoll aus und war bestimmt nicht glücklich über einen Sohn, der den Erwartungen nicht gerecht wurde.
Die nächste Seite bestand aus einer kurzen Antwort des Vaters, ebenfalls eine ausgedruckte E-Mail. Sie lautete: »Lieber Harald, ich rate dir, dich von diesem Examensthema fern zu halten. Es ist schlecht und eignet sich nicht zur Formung des Charakters. Geh sparsam mit deinem Geld um. Gruß«, und darunter befand sich eine standardisierte Computersignatur mit dem vollen Namen des Vaters, seiner Position und seiner Adresse. Tatsächlich, dachte Dóra, was für ein Kotzbrocken! Kein Wort darüber, dass er sich freue, von seinem Sohn zu hören oder ihn vermisse, geschweige denn ein »Papa« oder etwas Ähnliches als Unterschrift. Außerdem war es merkwürdig, dass keiner der beiden Grüße von oder an die Mutter oder die jüngere Schwester übermittelt hatte. Dóra wusste nicht, ob Vater und Sohn einander weitere frostige E-Mails geschrieben hatten; zumindest befanden sich keine in der Mappe.
Dóra überflog zum Schluss noch eine Liste, in der sie ganz am Ende auf etwas Bemerkenswertes stieß: Malleus Maleficarum — Verein der Geschichts- und Völkerkundeinteressierten. Dóra schaute von ihrer Lektüre auf. Das war derselbe Name wie auf der Kopie des Gründungstreffens im Abschnitt über die Uni München. Dóra blätterte sicherheitshalber zurück. Bingo! Unter dem Namen des Vereins auf der isländischen Liste war mit Bleistift notiert: gegründet 2004. Vielleicht hatte Harald die Gründung des Vereins initiiert? Das war nicht unwahrscheinlich, es sei denn, dieses Malleus Maleficarum wäre etwas ganz und gar Typisches für die geschichts- und völkerkundlichen Fächer. Es konnte natürlich alles Mögliche bedeuten; Dóra hatte kein Latein gelernt. Sie blätterte weiter zum Kapitel mit den Kontoauszügen.
Harald Guntlieb verfügte über ein ungeheures Vermögen, von dem laut des letzten Kontoauszugs allerdings nicht mehr viel übrig war. Jemand hatte hohe Auszahlungen hellrot und hohe Einzahlungen gelb angemarkert. Dóra stellte schnell fest, dass die gelb markierten Summen immer gleich hoch waren und immer zum Monatsanfang eingezahlt worden waren. Das war ein hübsches Sümmchen, mehr als Dóra in einem halben Jahr verdiente — wenn viel zu tun war. Es mussten Zahlungen aus dem Fonds sein, den Harald laut Matthias’ Aussage von seinem Großvater geerbt hatte. Wahrscheinlich war die Erbschaft auf regelmäßige Überweisungen an Harald ausgelegt, anstatt ihm alles auf einen Schlag zu überlassen. Harald Guntlieb galt offenbar als nicht sehr verantwortungsbewusst. Dóra rechnete aus, dass er bei seinem Tod 27 Jahre alt gewesen war — und immer noch nicht über sein Vermögen hatte bestimmen dürfen. Dennoch hatte sich bis vor einiger Zeit eine so beträchtliche Summe auf dem Konto angesammelt, dass Haralds Lebenshaltungskosten weit unter dem Betrag gelegen haben mussten, der ihm jeden Monat zur Verfügung stand.
Mit den markierten Auszahlungen verhielt es sich jedoch anders. Sie waren unterschiedlich hoch und, soweit Dóra sehen konnte, nicht in regelmäßigen Abständen getätigt worden. Neben den meisten standen Anmerkungen, und da es nicht sehr viele waren, überflog Dóra sie. Einige Notizen waren unmittelbar verständlich, beispielsweise stand BMW neben einer hohen Auszahlung Anfang August 2004. Harald hatte sich wohl in Island ein Auto gekauft. Andere waren völlig unverständlich. Urteil G.G. stand etwa neben einer beträchtlichen Auszahlung während Haralds Studienzeit in München. Dóra kannte das Wort Urteil und kam auf die Idee, Harald könne jemanden dafür bezahlt haben, die Umstände seines Austritts aus der Bundeswehr zu vertuschen. Das Datum passte allerdings überhaupt nicht und sie hatte keine Ahnung, was G.G. bedeuten könnte. Neben weiteren Auszahlungen stand Schädel und Gestell; das letzte Wort kannte sie nicht. Und noch zwei Zahlungsvorgänge erregten ihre Aufmerksamkeit: Neben der einen, die schon ein paar Jahre alt war und 42000 Euro betrug, stand schon wieder dieser lateinische Begriff Malleus Maleficarum. Neben der anderen, die jüngeren Datums und höher war, stand ein Fragezeichen. Das war wahrscheinlich das Geld, von dem Matthias glaubte, es sei verschwunden, ungefähr 310000 Euro. Nach Dóras Rechnung waren das über 25 Millionen Kronen. Kein Wunder, dass Matthias bezweifelte, das Geld sei für Drogenkäufe draufgegangen. Da hätte der Junge sich ganz schön ranhalten müssen, selbst in Gesellschaft von Keith Richards. Dóra blätterte durch die Aufstellung der Zahlungen mit Haralds Kreditkarte in dem Monat vor seinem Tod. Sie überflog die Liste und sah, dass die meisten Ausgaben in Restaurants und Kneipen, einige auch in Klamottenläden getätigt worden waren, in Supermärkten auffallend selten. Die Restaurants waren alle »hip«, wie ihre Freundin Laufey es ausdrücken würde. Dóra stieß auf eine hohe Zahlung Mitte September an das Hótel Rangá, auf eine Zahlung mit der Anmerkung Flugschule sowie auf eine wesentlich niedrigere Summe Ende September — sehr zu ihrem Erstaunen an den Tierpark. Des Weiteren gab es viele kleine Zahlungen an eine Tierhandlung in der Stadt. Vielleicht war Harald ein Tierfreund oder hatte mit einer allein erziehenden Mutter angebandelt. Ein weiterer Punkt, den sie mit Matthias besprechen musste. Das Kapitel über Haralds Finanzen endete mit dieser Liste. Dóra schaute auf die Uhr und sah, dass sie gut in der Zeit lag.
Sie beschloss, die Mappe einen Moment zur Seite zu legen, drehte sich zum Computer und suchte im Internet nach »Malleus Maleficarum«. Das Suchergebnis zeigte über 340000 Seiten an. Sie stieß sofort auf eine inhaltlich viel versprechende Seite, aus der hervorging, der Begriff bedeute »Hexenhammer« und sei der Titel eines Buches aus dem 15. Jahrhundert. Dóra wählte einen Link, ein englischer Text erschien auf dem Bildschirm. Die Seite war mit einer alten Zeichnung illustriert, auf der eine Frau in einem Umhang an eine Leiter gefesselt war. Zwei Männer mühten sich, die Leiter aufzurichten und sie mitsamt der Frau auf einen großen Scheiterhaufen zu stoßen, der daneben loderte. Die Frau sollte offenbar bei lebendigem Leib verbrannt werden. Sie blickte mit geöffnetem Mund zum Himmel. Dóra war sich nicht sicher, was der Künstler im Sinn gehabt hatte: Entweder sie rief Gott um Gnade an oder sie verfluchte ihn. Ihre Verzweiflung war jedenfalls eindeutig. Dóra druckte die Seite aus und verließ das Zimmer, um sie aus dem Drucker zu holen, bevor Bella sie entdeckte. Dem Mädchen war alles zuzutrauen.
Im Drucker lagen fünf Seiten anstelle von einer, wie Dóra erwartet hatte. Die Homepage beinhaltete offenbar wesentlich mehr Informationen, als auf dem Bildschirm ersichtlich war. Dóra begann auf dem Weg zurück in ihr Büro zu lesen.
Eine kurze Einleitung beschrieb Malleus Maleficarum als eines der berüchtigtsten Bücher in der Geschichte der Menschheit. Es wurde erstmals 1486 als Handbuch für Inquisitoren herausgegeben. Diese sollten lernen, Hexen zu erkennen und anzuklagen. Schwarze Magie und verschiedene andere Volksbräuche seien von nun an Gotteslästerung, auf die die Todesstrafe stünde — wer für schuldig befunden würde, solle auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Das Buch war in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil ging es darum, den Leuten einzutrichtern, dass Zauberei und Hexen tatsächlich existierten, ihre Existenz aber widernatürlich sei und Hexen vom Teufel besessen seien. Des Weiteren wurde erstmals behauptet, der Glaube an die Existenz von schwarzer Magie sei bereits Gotteslästerung. Der zweite Teil bestand aus einer Aufzählung sensationeller Geschichten über die Machenschaften von Hexen, wobei Sex mit Dämonen am häufigsten vorkam. Im dritten und letzten Teil wurde die Grundlage für Hexenprozesse gelegt. Es wurde betont, Folter sei zur Förderung von Geständnissen erlaubt und jedermann dürfe als Zeuge gegen die Angeklagten aussagen, ungeachtet seines Rufs oder anderer Umstände, die Zeugen normalerweise ungeeignet oder parteiisch machten.
Die Urheber des Textes waren zwei Dominikanermönche, Jakob Sprenger, damaliger Rektor der Universität zu Köln, und Heinrich Kramer, Theologieprofessor der Universität zu Salzburg und offizieller Inquisitor von Tirol. Letzterer wurde als der eigentliche Verfasser des Buches beschrieben. Seit 1476 war er an vielen Hexenprozessen beteiligt. Das Buch war auf Veranlassung von Papst Innozenz VIII. verfasst worden — der Beschreibung nach ein unangenehmer Zeitgenosse. Er hatte den Anstoß zu den Hexenverfolgungen in Europa gegeben, als er am 5. Dezember 1484 eine apostolische Bulle namens »Summis desiderantes affectibus« unterzeichnete und damit den Inquisitoren die Erlaubnis zur Hexenjagd gab. In der Bulle wurde Zauberei mit Gotteslästerung gleichgesetzt.
Der alternde Papst hatte angeblich versucht, seinen eigenen Tod hinauszuzögern, indem er Milch aus Frauenbrüsten trank und sich fremdes Blut zuführen ließ. Das hatte sein Leben jedoch nicht verlängert, sondern lediglich zum Tod von drei zehnjährigen Knaben durch Aderlass geführt.
Das Buch hatte sich dank der Erfindung des Buchdrucks und der großen Bekanntheit seiner Verfasser, beide hoch geschätzte Gelehrte, schnell verbreitet. Katholiken wie Protestanten beriefen sich in ihrem Kampf gegen die Hexerei darauf. Teile des Hexenhammers wurden in die Rechtsprechung aufgenommen — im Heiligen Römischen Reich, dem heutigen Deutschland, in Österreich, Tschechien, der Schweiz, Ostfrankreich, den Niederlanden und Teilen Italiens. Dóra zuckte zusammen, als sie sah, dass dieses Buch immer noch regelmäßig herausgegeben wurde.
Sie legte die Ausdrucke beiseite. Das alles war zwar sehr interessant, aber ein sechshundert Jahre altes Buch würde wohl kaum Licht auf den Mord an Harald Guntlieb werfen. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass sie nur noch eine Stunde Zeit hatte. Sie heftete die Seiten zusammen, legte sie weg und nahm wieder die Mappe mit den Informationen über Harald zur Hand. Sie schlug das siebte Kapitel über die polizeiliche Ermittlung auf.
Auf den ersten Blick schien es sehr wenig Material zu sein, um die gesamte Ermittlung zu dokumentieren. Vielleicht hatte Matthias nur einen Teil davon in die Hände bekommen, wobei Dóra es einmalig fand, dass er überhaupt ohne einen offiziellen Antrag an das Material gelangt war. Sie überflog den Inhalt; Kopien der Polizeiverhöre, versehen mit Eingangsstempeln von vor zwei Wochen. Hier fühlte sie sich auf heimischem Gebiet. Es war alles in Isländisch. Matthias hatte offenbar versucht, sich durch die Unterlagen zu buchstabieren. Bei fast allen Protokollen hatte er in der rechten oberen Ecke vermerkt, wer jeweils verhört worden war und in welcher Beziehung er zu Harald gestanden hatte. Die meisten Protokolle stammten von Verhören mit Hugi þórisson, der in Untersuchungshaft saß und auf die Anklage wartete. Dóra fand es interessant, dass er von vorneherein als Verdächtiger, aber nie als Zeuge verhört worden war — irgendetwas musste also von Anfang an auf seine Schuld hingedeutet haben. Dadurch war er, im Gegensatz zu einem Zeugen, gesetzlich nicht verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Er konnte im Grunde aussagen, was er wollte, auch wenn ihm das bei der Urteilssprechung nicht unbedingt zugute kommen würde — die Richter waren meistens wenig erfreut, wenn Angeklagte behaupteten, sie seien zum Tatzeitpunkt bei Micky Maus zum Essen eingeladen gewesen oder etwas ähnlich Glaubhaftes.
Dóra wurde langsam klar, wie Matthias an die Unterlagen gekommen war. Der Pflichtverteidiger des Tatverdächtigen hat normalerweise Zugang zu den Ermittlungsberichten der Polizei. Hugi þórissons Rechtsanwalt musste daher über die gesamten Unterlagen verfügt haben. Dóra blätterte schnell durch die Protokolle. Sie suchte ein Verhör, bei dem Hugis Rechtsanwalt zugegen gewesen war, um herauszufinden, um wen es sich handelte. Bei den ersten Verhören war Hugi allein gewesen, aber gegen Ende der Ermittlung hatte er schließlich doch noch den Wunsch nach rechtlichem Beistand geäußert. Ihm war Finnur Bogason zugeteilt worden. Dóra kannte den Pflichtverteidiger und war davon überzeugt, dass er Matthias die Unterlagen gegen angemessene Bezahlung überlassen hatte. Zufrieden mit ihrer Schlussfolgerung, begann sie, die Verhöre durchzulesen.
Die Protokolle waren nicht chronologisch, sondern nach den verhörten Personen sortiert. Einige Zeugen waren nur einmal verhört worden. In dieser Gruppe befanden sich der Hausmeister der Uni, die Putzfrauen, Haralds Vermieterin, der Taxifahrer, der Harald und Hugi an dem schicksalhaften Abend mitgenommen hatte, sowie einige Kommilitonen und Dozenten Haralds. Der Leiter der Historischen Fakultät, der die Leiche gefunden hatte, war zweimal verhört worden, da er beim ersten Mal so erregt war, dass er kein vernünftiges Wort herausbrachte. Dóra bemitleidete den armen Mann; es musste ein schreckliches Erlebnis gewesen sein. Auch beim zweiten Verhör schwang die Panik, die ihn ergriffen hatte, als ihm die Leiche in die Arme gefallen war, in jedem Satz mit.
Als Nächstes kamen diejenigen, die zumindest zeitweise unter Verdacht gestanden hatten. Darunter befand sich natürlich Hugi þórisson, der steif und fest seine Unschuld beteuerte. Dóra überflog die Hauptpunkte in Hugis Verhör. Er sagte aus, Harald an besagtem Abend bei einer Party im Skerjafjörður getroffen zu haben. Sie hätten die Party gemeinsam verlassen und sich später wieder getrennt, da Harald zurück zur Party, Hugi aber in die Stadt habe gehen wollen. Beim ersten Verhör war Hugi kaum darauf eingegangen, wohin die beiden gemeinsam gegangen seien, erwähnte nur nebenbei einen Spaziergang über den Friedhof. Als ihm beim zweiten Verhör klar wurde, dass man ihn wegen Mordes anklagen wollte, sagte er aus, sie seien zu seiner Wohnung in der Hringbraut gefahren, um Drogen zu holen, die Harald ihm abkaufen wollte. Hugi schwor, Harald danach nicht mehr gesehen zu haben, er habe keine Lust mehr gehabt, rauszugehen, und sei zu Hause geblieben. Genaue Zeitangaben konnte er aufgrund von erhöhtem Alkohol- und Drogenkonsum an besagtem Abend nicht machen. Er behauptete, Harald habe zurück zur Party gewollt. Da Hugi mehrmals gefragt wurde, ob er genauere Angaben machen könne, wo er sich gegen ein Uhr in der Nacht von Samstag auf Sonntag, den 30. Oktober, aufgehalten habe, wusste Dóra, dass diese Uhrzeit bei der Obduktion als Todeszeit festgestellt worden sein musste. Es wurde darauf herumgeritten, warum Hugi Haralds Augen entfernt und was er mit ihnen gemacht habe. Hugi beteuerte wiederholt, er habe keine Augen entfernt. Er besitze keine Augen, außer seine eigenen. Dóra tat der arme Kerl wirklich leid — vorausgesetzt, er sagte die Wahrheit. Obwohl sie den Fall nur oberflächlich studiert hatte, beschlich sie das Gefühl, ein so instabiler Mensch wie dieser Hugi wäre gar nicht in der Lage, nach der langen Einzelhaft und den strengen Verhören noch zu lügen. Haralds Freunde und Bekannte von der Party im Skerjafjörður standen zunächst auch unter Verdacht, wurden dann aber als Zeugen verhört. Es waren insgesamt zehn Leute, darunter vier der fünf Studenten von der Namensliste, auf die Dóra weiter vorn in der Mappe gestoßen war. Der einzige Name, der fehlte, war der des Medizinstudenten Halldór Kristinsson.
Alle Partygäste erzählten dieselbe Geschichte. Die Party hatte um neun Uhr angefangen und war bis etwa zwei gegangen. Dann waren alle in die Stadt gefahren. Harald und Hugi hatten die Gesellschaft schon gegen Mitternacht verlassen, aber niemand schien zu wissen, warum. Die beiden hatten behauptet, nur mal kurz wegzumüssen, und seien mit einem Taxi, das Hugi bestellt hatte, losgefahren. Zwei Stunden später hatten die anderen nicht mehr länger warten wollen und beschlossen, in die Stadt zu fahren. Gefragt, ob sie versucht hätten, Harald und Hugi anzurufen, erzählten alle erneut dieselbe Geschichte. Die Batterie von Haralds Handy sei schon früher am Abend leer gewesen, und Hugi sei bei wiederholten Anrufen auf sein Handy und seinen Festnetzanschluss nicht zu erreichen gewesen. Bei Harald zu Hause habe auch niemand abgehoben, als sie versucht hatten, dort anzurufen. Dann wurden noch ein paar Fragen gestellt, wer wann aus der Stadt nach Hause gefahren sei, aber wegen des Zeitrahmens musste es sich dabei um Scheinfragen handeln. Es stellte sich heraus, dass die Studenten zu unterschiedlichen Zeiten, spätestens um fünf Uhr, nach Hause gekommen waren. Die Letzten waren die Freunde von der Namensliste, wobei der Fünfte, der Medizinstudent Halldór, in der Stadt zu ihnen gestoßen war. Dóra blätterte weiter in der Hoffnung, man habe ihn auch verhört. Er schien der Einzige zu sein, der nicht bei der Party war, als der Mord geschah. Wo ist er gewesen?, fragte sich Dóra.
Die Antwort befand sich weiter hinten im Kapitel. Halldór war verhört worden, und es stellte sich heraus, dass er bis Mitternacht im Landeskrankenhaus in Fossvogur gearbeitet hatte; ein Vertretungsjob neben dem Studium. Deshalb war er nicht bei der Party gewesen. Er hatte Kleidung zum Wechseln dabeigehabt und nachdem er im Krankenhaus geduscht und sich umgezogen hatte, hatte er den Bus in die Innenstadt genommen. Nach eigener Aussage war sein Auto kaputt, und er gab den Namen einer Werkstatt an, in der sein Wagen zu der betreffenden Zeit in Reparatur war. Halldór sagte, er habe zunächst umsteigen und einen Bus in den Skerjafjörður nehmen wollen. Er habe aber den letzten Bus knapp verpasst und daher beschlossen, lieber direkt in die Stadt zu fahren und in einer Kneipe auf die anderen zu warten, anstatt Geld für ein Taxi auszugeben oder zu Fuß zu gehen. Er hatte die Partygäste angerufen und erfahren, dass sie gerade auf dem Sprung waren. Um genau ein Uhr hatte er das Kaffibrennslan betreten und sich ein Bier bestellt. Gegen zwei hatte er endlich die anderen getroffen, die mit einem Taxi in die Innenstadt gekommen waren.
In den Zeugenaussagen verschiedener Dozenten der Historischen Fakultät ging es vor allem um deren Verhältnis zu Harald, und alle sagten das Gleiche — sie hätten ihn privat nicht gekannt und könnten nicht viel über ihn sagen. Es wurde auch nach einem Meeting im Árnagarður am Mordabend gefragt. Man hatte die Bewilligung eines hohen Erasmus-Stipendiums für die Zusammenarbeit mit einer norwegischen Universität gefeiert. Dóra las zwischen den Zeilen, dass es sich bei diesem »Meeting« eher um einen Cocktailempfang gehandelt hatte, der bis in den Abend hineinreichte. Die Letzten waren erst kurz vor Mitternacht gegangen. Dóra kannte nur die Namen des Fakultätsleiters und des Professors, der Haralds Masterarbeit betreut hatte, þorbjörn Ólafsson.
Die letzten Protokolle stammten von der Vernehmung eines Kellners aus dem Kaffibrennslan und des Busfahrers, der Halldór von Fossvogur in die Stadt gefahren hatte. Der Kellner namens Björn Jónsson sagte aus, er habe Halldór an besagtem Abend zum ersten Mal gegen ein Uhr bedient, dann noch ein paar Mal in der darauffolgenden Stunde und schließlich ein letztes Mal gegen zwei, als Haralds Freunde eingetroffen seien. Er sagte, er könne sich gut an Halldór erinnern, da dieser an jenem Abend ungewöhnlich schnell und maßlos getrunken habe.
Der Busfahrer erinnerte sich an Halldór von seiner letzten Fahrt, es seien nur wenige Fahrgäste im Bus gewesen und er habe sich mit ihm über den Zustand des Gesundheitssystems und den erschreckenden Umgang mit alten Menschen unterhalten. Dóra hatte den Eindruck, dass dieser Halldór ein ziemlich wasserdichtes Alibi hatte, wie auch die anderen aus Haralds Clique, mit Ausnahme von Hugi.
Die Schwarz-Weiß-Kopien der Fotos vom Tatort waren unscharf, vermittelten aber einen guten Eindruck von dem grauenhaften Anblick. Dóra verstand den Schock des Mannes, der die Leiche gefunden hatte, nun noch besser und bezweifelte, ob er sich jemals voll und ganz von diesem albtraumhaften Erlebnis erholen würde.
Als um Viertel vor fünf ihr Handy piepte, beeilte sich Dóra, das letzte Kapitel über die Obduktion durchzublättern. Wie seltsam, dachte sie. Hinter dem siebten Trennblatt kam nichts mehr. Das Kapitel war leer.
Dóra kam rechtzeitig im Schulhort an. Sie begegnete einer der Mütter aus der Klasse ihrer Tochter auf dem Parkplatz. Die Frau musterte das beschriftete Werkstattauto und grinste. Sie ging bestimmt davon aus, dass Dóra sich diesen Bibbi geangelt hatte. Dóra hatte das dringende Bedürfnis, der Frau hinterherzulaufen, die Sache zu erläutern und klarzustellen, dass sie und Bibbi rein geschäftlich miteinander in Verbindung stünden. Sie ließ es aber bleiben und überquerte stattdessen auf direktem Weg das Schulgelände. Sóley ging in die Mýrarhús-Schule, nur ungefähr zehn Minuten mit dem Auto von Dóras Büro im Skólavörðustígur entfernt. Bei der Trennung von Hannes vor gut drei Jahren war es Dóra sehr wichtig gewesen, das Haus in Seltjarnarnes zu behalten, obwohl es nicht leicht für sie war, ihren Ex-Mann auszubezahlen. Sie konnte froh sein, dass die Schätzung des Hauses vor dem großen Immobilienpreisanstieg stattgefunden hatte. Hätten sie sich jetzt getrennt, hätte sie sich das Haus niemals leisten können. Das ärgerte Hannes natürlich unsäglich und er argwöhnte, wie viel Dóra wohl daran verdient hatte. Sie hatten sich nicht gerade im Guten getrennt, versuchten aber, der Kinder wegen respektvoll miteinander umzugehen.
Dóra betrat den Hort und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Die meisten Kinder waren offenbar schon nach Hause gegangen. Natürlich konnte sie den Gedanken nicht beiseite schieben, nicht genug für ihre Tochter da zu sein. Mutter, Ehefrau und Geliebte — ihr ging ein altes Gedicht durch den Kopf. »Geliebte« traf zurzeit weniger auf sie zu. Sie hatte in den zwei Jahren seit der Scheidung kaum etwas mit Männern zu tun gehabt. Plötzlich empfand sie ein starkes Verlangen, mit einem Mann zusammen zu sein. Sie schüttelte es rasch ab; dies war der am wenigsten geeignete Ort, den man sich vorstellen konnte, um an Sex zu denken. Was war eigentlich mit ihr los?
»Sóley!«, rief die Betreuerin, als sie Dóra erblickt hatte. »Deine Mama ist da.«
Das kleine Mädchen, das seiner Mutter den Rücken zugewandt hatte, blickte vom Perlensticken auf und drehte seinen Kopf in Dóras Richtung. Es lächelte müde und strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht. »Hi, Mama. Guck mal, ich mache ein Perlenherz.« Dóra verspürte einen Stich in ihrem eigenen Herzen und schwor sich, die Kleine morgen früher abzuholen.
Nach einem kurzen Zwischenstopp im Supermarkt betraten Mutter und Tochter endlich das Haus. Gylfi, Dóras Sohn, war offensichtlich schon heimgekommen. Das war an den Turnschuhen zu erkennen, die mitten im Flur herumlagen, und an der Daunenjacke, die er so nachlässig an den Haken neben der Tür gehängt hatte, dass sie sofort wieder auf den Boden gefallen war.
»Gylfi!«, rief Dóra und bückte sich, um die Schuhe in die Schuhablage zu stellen und die Jacke ordentlich aufzuhängen. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du deine Sachen anständig behandeln sollst, wenn du nach Hause kommst?«
»Ich hör nichts!«, schallte es aus dem Haus.
Dóra verdrehte die Augen. Natürlich hörte er nichts; der Lärm von irgendeinem Computerspiel übertönte ja auch alles. »Dann stell das leiser!«, rief sie zurück. »Das schadet deinen Ohren!«
»Komm her! Ich versteh dich nicht!«, war die gebrüllte Antwort.
»Oh Gott«, murmelte Dóra und hängte ihren Anorak auf. Ihre Tochter räumte alle ihre Sachen ordentlich auf, und Dóra wunderte sich zum hundertsten Mal darüber, wie unterschiedlich die beiden Geschwister waren. Die Tochter war eine richtige Ordnungsfanatikerin, hatte noch nicht mal als Kleinkind viel gesabbert, und der Sohn würde am liebsten in einem Klamottenlager hausen und sich dort abends selig zur Ruhe betten. Eines hatten sie jedoch gemeinsam: Beide waren überaus gewissenhaft, wenn es um die Schule und die Hausaufgaben ging. Das passte zwar gut zu Sóleys Charakter, aber bei Gylfi fand Dóra es immer sehr witzig, wenn er mit seinem langen, ungekämmten Haar und seinen Totenkopfklamotten fast einen hysterischen Anfall bekam, sobald er zufällig mal eine Rechtschreibhausaufgabe in der Schule vergessen hatte.
Dóra stellte sich in den Türrahmen zum Zimmer ihres Sohnes. Gylfi klebte an seinem Computerbildschirm und hämmerte auf der Maus herum. »Um Gottes willen, stell das leiser, Gylfi«, sagte Dóra und musste fast schreien, obwohl sie direkt neben ihrem Sohn stand. »Ich kann bei diesem Geballere meine eigenen Gedanken nicht mehr hören.«
Ohne seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden oder das Hämmern auf der Maus merklich zu mindern, führte ihr Sohn seine linke Hand zu einem Knopf am Lautsprecher und stellte leiser. »So besser?«, fragte er, ohne aufzuschauen.
»Ja, besser«, antwortete Dóra. »Stell jetzt das Ding aus und komm essen. Ich hab Spaghetti gekauft.«
»Nur noch dieses Level«, lautete die Antwort. »Zwei Minuten noch.«
»Aber wirklich nur zwei Minuten«, sagte sie und drehte sich auf dem Absatz um. »Nur zur Erinnerung, das geht so: eins. Und dann zwei. Nicht: eins, drei, vier, fünf, sechs und zwei.«
»Schon gut«, maulte ihr Sohn leicht genervt und spielte weiter.
Als das Essen eine Viertelstunde später auf dem Tisch stand, erschien Gylfi und ließ sich auf seinen Platz plumpsen. Sóley saß bereits gähnend vor ihrem Teller. Dóra hatte keine Lust, die Mahlzeit mit einem Streit zu beginnen und Gylfi daran zu erinnern, dass er länger als zwei Minuten gebraucht hatte, um sein »Level« zu beenden. Sie wollte ihm gerade klarmachen, wie wichtig dieses Familienritual war, als ihr Handy klingelte. Dóra stand auf, um ranzugehen. »Fangt schon mal an zu essen und streitet euch nicht. Ihr seid so süß, wenn ihr nett zueinander seid.« Sie griff nach dem Handy, das auf der Anrichte lag, und schaute auf die Anrufernummer, aber das Display war leer. Während sie aus der Küche ging, betätigte sie die Annahmetaste. »Dóra.«
»Guten Abend, Frau Guðmundsdóttir«, erklang Matthias’ trockene Stimme. Er fragte, ob es gerade ungelegen sei.
»Nein, ist schon okay«, log Dóra. Sie vermutete, es wäre Matthias unangenehm, dass sie in Wahrheit gerade beim Abendessen saß. Der Mann war so furchtbar höflich.
»Hatten Sie Zeit, sich die Unterlagen anzusehen, die ich Ihnen gegeben habe?«, fragte er dann.
»Ja, natürlich, allerdings noch nicht bis ins kleinste Detail«, antwortete Dóra. »Ich habe aber direkt gemerkt, dass die Ermittlungsunterlagen der Polizei nicht vollständig sind. Ich würde vorschlagen, wir stellen einen formellen Antrag auf vollständige Akteneinsicht.«
»Unbedingt.« Eine unangenehme Stille trat ein. Im selben Moment, als Dóra noch etwas hinzufügen wollte, sprach Matthias weiter.
»Haben Sie sich entschieden?«
»Sie meinen den Auftrag?«, fragte Dóra.
»Ja«, entgegnete er kurz angebunden. »Werden Sie ihn annehmen?«
Dóra zögerte einen Augenblick, bevor sie bejahte. Wenn sie nicht alles täuschte, hörte sie Matthias vor Erleichterung scharf ausatmen. »Sehr gut«, sagte er ungewohnt keck.
»Den Vertrag habe ich allerdings noch nicht gelesen. Ich hab ihn mit nach Hause genommen und werde ihn heute Abend durchsehen. Wenn er wirklich fair ist und den Normen entspricht, sehe ich keinen Hinderungsgrund, ihn morgen zu unterschreiben.«
»Prima.«
»Ähm, eine Sache ist mir aufgefallen, warum fehlt das Kapitel über die Obduktion?« Dóra wusste, dass dies auch bis morgen Zeit hatte, aber sie wollte trotzdem sofort eine Antwort haben.
»Ich musste einen speziellen Antrag stellen, um diese Unterlagen zu erhalten. Man hat mir nicht alles gegeben — nur eine grobe Zusammenfassung der wichtigsten Punkte. Das war mir ein bisschen zu wenig und ich habe darauf bestanden, den kompletten Bericht zu bekommen«, erklärte Matthias. »Es hat wohl damit zu tun, dass ich kein Angehöriger, sondern nur ein Bevollmächtigter der Angehörigen bin, aber das ist mittlerweile geklärt. Deshalb rufe ich Sie auch jetzt schon an.«
»Wie bitte?«, fragte Dóra, die den Zusammenhang nicht ganz verstand.
»Ich habe morgen früh um neun einen Termin bei dem Gerichtsmediziner, der Harald obduziert hat. Er will mir den Bericht geben und einige Punkte erklären. Ich möchte, dass Sie mich begleiten.«
»Ach so«, entgegnete Dóra verwundert. »Okay, alles klar. Ich komme mit.«
»Gut, ich hole Sie eine halbe Stunde vorher in Ihrem Büro ab.«
Dóra biss sich auf die Zunge, sonst wäre ihr herausgerutscht, dass sie normalerweise nie so früh im Büro sei. »Halb neun. Bis dann.«
»Frau Guðmundsdóttir«, schob Matthias hinterher.
»Nennen Sie mich Dóra, das ist viel einfacher«, fiel Dóra ihm ins Wort. Sie kam sich vor wie eine neunzigjährige Witwe, wenn sie so förmlich angesprochen wurde.
»Okay, Dóra«, sagte Matthias. »Nur noch eine Bitte.«
»Was?«, fragte Dóra neugierig.
»Frühstücken Sie nicht so ausgiebig. Es wird nicht sehr appetitlich.«