9. DEZEMBER 2005

20. KAPITEL

Die Lektüre hatte sich bis tief in die Nacht hineingezogen. Dóra erwachte mit dickem Kopf und war kaum ausgeschlafen. Sie hatte lange den Zettel studiert, der aus dem Buch gefallen war. Darauf standen alle möglichen handschriftlichen Worte und Jahreszahlen. Dóra ging davon aus, dass die Notizen von Harald stammten — zumindest stand sein Name auf der Titelseite des Buches. Außerdem war ein Teil der Notizen auf Deutsch. Er hatte sich keine besondere Mühe mit seiner Handschrift gegeben und Dóra war keineswegs sicher, ob sie alle Worte richtig entziffert hatte. Ihres Wissens stand auf dem Zettel:

1485 Malleus, wobei Harald die Jahreszahl mehrmals überschrieben und die Notiz zweifach unterstrichen hatte. Darunter stand J. A. 1550?? und das Ganze war wieder durchgestrichen. Dann gab es zwei miteinander verbundene L und dahinter stand Loricatus Lupus. Darunter stand etwas Deutsches, das Dóra so verstand: Wo? Wo? Das alte Kreuz? Die Hälfte der Seite war von einer Art Diagramm bedeckt, in dem Punkte mit Jahreszahlen und Orten durch Pfeile miteinander verbunden waren. An der Positionierung der Punkte konnte Dóra erkennen, dass es sich um eine grobe Landkarte handelte. Neben einem Punkt stand Innsbruck — 1485, darüber Kiel — 1486 und darüber Roskilde. Dieser Ort war mit zwei Jahreszahlen beschriftet: 1486 — tot und dann 1505 — Unterbrechung. Oberhalb dieser drei Punkte befanden sich noch zwei weitere Punkte. Ganz oben stand Hólar — 1535, was wieder durchgestrichen und mit einem Punkt verbunden war, neben dem Skálholt stand. Daneben fanden sich zwei Jahreszahlen, 1505 und 1675. Von der zweiten Jahreszahl gingen viele Pfeile aus, die alle in Fragezeichen mündeten. Neben den Fragezeichen stand wieder Das alte Kreuz?? Mit einem anderen Stift war noch das Wort Gastbuch hinzugefügt worden und direkt dahinter war ein kleines Kreuz oder ein kleines t gezeichnet. Gästebuch des Kreuzes? Darunter stand, falls Dóras Deutschkenntnisse sie nicht täuschten: Rauchabzug — Herdstelle!! 3. Zeichen!! Dóra hatte es am Ende aufgegeben, Sinn in die Notizen zu bringen, und sich dem Buch selbst gewidmet.

Malleus Maleficarum war keineswegs Unterhaltungslektüre, aber der beklemmende Text hatte Dóras Aufmerksamkeit gefesselt. Sie hatte das Buch nicht von vorn bis hinten durchgelesen; der erste und zweite Teil waren zu wirr, um sie an einem Stück lesen zu können. Die Grundlage des Buches waren Fragen und Behauptungen über Hexerei. Sie standen am Anfang eines jeden Kapitels oder Absatzes, und die darauf folgende Antwort oder Erläuterung bestand aus merkwürdigen, nicht nachvollziehbaren, religiösen Argumenten.

Die Geschichten und Beschreibungen der Hexen waren schier unglaublich. Ihre Kräfte schienen grenzenlos zu sein — sie konnten unter anderem nach Belieben Unwetter auslösen, fliegen, Männer in Bullen oder andere Tiere verwandeln, Impotenz herbeiführen und männliche Geschlechtsorgane vom Körper trennen.

In einer langen Passage wurde die Frage erörtert, ob es sich bei der Abtrennung des Geschlechtsteils um eine Halluzination oder eine tatsächliche Amputation handelte. Um die beschriebenen Kräfte entwickeln zu können, mussten die Hexen verschiedene Rituale ausführen, zum Beispiel Kinder kochen oder essen und Geschlechtsverkehr mit dem Teufel vollziehen. Dóra war zwar in Psychologie nicht besonders bewandert, aber bei der Lektüre wurde ihr klar, wie sehr der Zölibat, dem die Autoren als Mönche unterlagen, sie geplagt haben musste. Ihre Verbitterung kam vor allem bei der Beschreibung von Frauen zum Ausdruck. Eine Geschichte war abstoßender als die andere und Dóra hatte bald genug. Die Argumente für das unzüchtige und teuflische Wesen der Frauen waren vollkommen abwegig. Unter anderem wurde es darauf zurückgeführt, dass die Rippe Adams, aus der Gott die erste Frau schuf, nach innen gebogen war — dies hatte angeblich folgenschwere Konsequenzen. Die Frau wäre demnach vollkommen gewesen, wenn Gott einen Oberschenkel­knochen verwendet hätte. All dies wurde angeführt, um den Leser von der Verführbarkeit der Frauen durch den Teufel zu überzeugen. Infolgedessen seien die meisten Zauberkundigen weiblichen Geschlechts. Die armen Leute bekamen ebenfalls ihren Teil ab — sie neigten angeblich eher zum Lügen und waren schlechtere Menschen als reiche Leute. Dóra wollte sich lieber nicht vorstellen, wie es gewesen sein musste, zu jener Zeit eine arme Frau zu sein.

Am interessantesten fand sie den dritten und letzten Teil des Buches, in dem es um die juristische Seite bei der Ermittlung und der Verteidigung von Hexen ging. Als Rechtsanwältin schockierten sie die Scheußlichkeiten, die unter anderem darin bestanden, den Angeklagten einzureden, sie kämen im Falle eines Geständnisses mit dem Leben davon. Im Anschluss wurden drei verschiedene Wege aufgezeigt, wie man das zuvor getätigte Versprechen umgehen konnte, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen. Bei der Beschreibung der Verhaftung wurde betont, wie wichtig es sei, dass die Füße der Hexen auf dem Weg ins Gefängnis nicht den Boden berührten — sie sollten auf Bahren dorthin getragen werden. Andernfalls könne ihnen der Teufel Kraft einflößen, wodurch sie in der Lage wären, die Beschuldigungen unendlich lange abzustreiten. Bei der Ankunft im Gefängnis sollten die Frauen durchsucht werden, denn sie trügen oft Kraft spendende Gegenstände aus den Knochen kleiner Kinder bei sich. Zudem wurde angeraten, ihnen das Haar abzurasieren, da sie darin ebenfalls derartige Knochen verstecken könnten. Des Weiteren wurde darüber diskutiert, ob die Rasur auch die Schamhaare mit einbeziehen sollte. Dann wurden Möglichkeiten zur Erschwerung der Verteidigung vorgestellt. Beispielsweise wurde vorgeschlagen, dem Verteidiger die Zeugenaussagen auf zwei verschiedenen Blättern auszuhändigen — auf dem einen stünden die Aussagen und auf dem anderen die Namen der Zeugen, sodass der Verteidiger unmöglich feststellen könnte, wer welche Zeugenaussage gemacht hatte. Dies galt natürlich nur für den Fall, dass der Angeklagten die Zeugenaussage vorgelesen würde — was nicht immer gestattet war. Lang und breit wurde erklärt, wann dies legitim sei und wann nicht. Jeder durfte als Zeuge aussagen, im Gegensatz zu anderen Prozessen, bei denen Leute mit schlechtem Leumund als unglaubwürdig abgelehnt wurden.

Im Folgenden wurde beschrieben, wie die Folter vonstatten gehen, wie lange sie dauern und auf welche Weise regelmäßig kontrolliert werden sollte, ob die Gefolterte in Anwesenheit eines Richters auf der Folterbank Tränen vergießen konnte — dies sei möglicherweise ein Zeichen ihrer Unschuld. Allerdings wurde der Einwand erhoben, Frauen täuschten Tränen oftmals mit Spucke vor. Wahrscheinlich hatten die armen Menschen nach der Folter einfach keine Tränen mehr übrig, wenn der Richter und seine Gefolgschaft eintrafen und ihnen befahlen zu weinen. Alles lief darauf hinaus, Geständnisse zu erzwingen. Diese Art von erfundenen Geständnissen wurde in den beiden ersten Teilen des Buches beschrieben. Sie sollten das teuflische Wesen der Hexen verdeutlichen. Wer mit gesundem Menschenverstand an die Lektüre heranging, dem war klar, dass diese Geständnisse völlig wertlos waren. Sie wurden durch Folter erzwungen und nur heruntergeleiert, um den Henker zu besänftigen und dem eigenen Leiden ein Ende zu bereiten.

Dóra riss sich zusammen und setzte sich im Bett auf. Sie schielte zu ihrem Nachttisch, auf dem das grausame Buch lag. Durch den einzigen positiven Gedanken, den die Lektüre hervorgerufen hatte, versuchte sie sich aufzuheitern — die Menschheit hatte sich seit der Zeit um 1500 weiterentwickelt. Dóra quälte sich auf die Beine und unter die Dusche. Auf dem Weg dorthin klopfte sie an die Zimmertür ihres Sohnes, um ihn zu wecken. Das Frühstück war wie immer hektisch; lediglich ihre Tochter ließ sich Zeit und setzte sich zum Essen an den Tisch. Als sie zum Auto gingen, erinnerte Dóra die Kinder daran, dass sie am Abend zu ihrem Vater fahren würden. Sie hatten vorher nie Lust dazu, waren im Nachhinein aber immer froh, Zeit mit ihrem Vater verbracht zu haben. Vorausgesetzt, sie mussten nicht reiten.

Nachdem sie die Kinder in die Schule gebracht hatte, beeilte sich Dóra, ins Büro zu kommen. Sie hatte den handgeschriebenen Zettel aus dem Buch dabei und wollte ihn Matthias zeigen. Es war noch niemand da; die Kanzlei würde erst in einer guten halben Stunde um neun Uhr öffnen. Genug Zeit, um einen Kaffee zu kochen, die Post durchzusehen und sich einen Überblick über die Dinge zu verschaffen, die sich neben diesem sonderbaren Fall, der Dóras gesamte Zeit in Anspruch nahm, noch abspielten.


Bríet war auf dem Weg zu ihrem Seminar gewesen, das um Viertel nach acht beginnen sollte, doch der Fakultätsleiter Gunnar hatte sie abgefangen. Nachdem er ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte, kam es für sie nicht mehr in Frage, am Unterricht teilzunehmen. Anstatt in den Seminarraum zu gehen, setzte sich Bríet zum Rauchen auf die Treppe. Sie musste sich beruhigen — und die anderen anrufen und ihnen die Nachricht überbringen. Bríet nahm einen langen, tiefen Zug von der schlanken Mentholzigarette — eine Marke, die Marta Maria so albern und schwach fand, dass sie verkündete, Bríet könne guten Gewissens behaupten, sie rauche nicht. Marta Maria rauchte Marlboro. Während Bríet die Telefonnummer ihrer Freundin heraussuchte, hoffte sie, dass Marta genug Zigaretten im Haus hätte — die würde sie nämlich jetzt brauchen.

»Hallo«, sagte Bríet atemlos, als am anderen Ende abgenommen wurde. »Hier ist Bríet.«

»Warum rufst du denn so früh an?« Marta Marias Stimme klang belegt. Bríet musste sie geweckt haben.

»Du musst in die Uni kommen — Gunnar ist total sauer und droht damit, dass wir alle hochkant rausfliegen, wenn wir nicht tun, was er sagt.«

»Was für’n Unsinn.« Ihre Stimme war plötzlich hellwach.

»Wir müssen die anderen anrufen und ihnen sagen, sie sollen herkommen. Ich lass mich nicht von der Uni schmeißen. Papa würde ausflippen und ich bekäme keine Studienunterstützung mehr.«

»Jetzt komm mal wieder runter«, fiel ihr Marta Maria ins Wort. »Wie soll Gunnar uns denn von der Uni schmeißen? Ich weiß ja nicht, wie’s bei dir aussieht, aber meine Noten sind alle in Ordnung.«

»Er sagt, er will bei der Fakultät eine Beschwerde wegen Drogenkonsums einreichen — er behauptet, alle möglichen Trümpfe im Ärmel zu haben. Auf diese Weise will er Brjánn und mich loswerden, und dann, sagt er, kümmert er sich um Andri und Halldór. Wir müssen tun, was er sagt. Ich werde es jedenfalls nicht drauf ankommen lassen.« Bríet war gereizt. Warum stellte sich Marta Maria immer so an — konnte sie nicht einfach mal tun, was man ihr sagte?

»Was will er von uns?« Bríet hatte Marta Maria mit ihrer Nervosität angesteckt.

»Wir sollen mit irgendwelchen Rechtsanwälten sprechen, die für Haralds Eltern arbeiten. Sie wollen uns treffen und Gunnar erwartet, dass wir kooperativ sind. Er sagte noch, er sei nicht so naiv zu glauben, dass wir immer die Wahrheit sagen würden, aber das sei ihm egal — Hauptsache, wir reden mit denen.« Bríet zog an ihrer Zigarette und blies energisch den Rauch aus. Dann hörte sie, wie jemand im Hintergrund fragte, was los sei.

»Okay, okay«, sagte Marta Maria. »Was ist mit den anderen? Hast du sie schon angerufen?«

»Nein, du musst mir dabei helfen. Ich will die Sache nicht vor mir herschieben — wir treffen uns alle um zehn und bringen es hinter uns. Ich hab heute noch ein Seminar.«

»Ich spreche mit Halldór. Du rufst Andri und Brjánn an. Wir treffen uns unten beim Buchladen.« Marta Maria legte ohne weitere Erklärungen auf.

Bríet starrte mürrisch auf das Telefon. Natürlich war Halldór bei Marta. Sie würde also niemanden anrufen, sondern wie üblich den ganzen Ärger bei Bríet abladen. Sie hätte ihr fairerweise anbieten können, mit Andri oder Brjánn zu telefonieren. Bríet drückte brüsk ihre Zigarette auf der Treppe aus und stand auf. Sie ging in Richtung des Buchladens und suchte währenddessen Brjánns Nummer in ihrem Handy.

Gunnar beobachtete Bríet vom Fenster seines Büros im Árnagarður. Ausgezeichnet, dachte er — ich habe genau ins Schwarze getroffen. Als er kurz zuvor mit dem Mädchen gesprochen hatte, musste er sich richtig zusammenreißen, um nicht die Geduld zu verlieren. Er hatte nichts gegen diese Clique in der Hand — nichts, außer der Gewissheit, dass sie jede Menge Drogen konsumierte und Gott weiß was sonst noch. Als er der Rechtsanwältin angeboten hatte, an einem Treffen mit den Studenten teilzunehmen, hatte er sich auf dünnes Eis begeben — diese Gören hatten bis jetzt noch nie seine Anweisungen befolgt. Er war nicht davon ausgegangen, dass sie es auf einmal doch tun würden. Deshalb hatte Gunnar den Entschluss gefasst, ihnen zu drohen — diese Sprache würden sie wohl besser verstehen und das hatte sich als richtig herausgestellt.

Diese Clique störte Gunnar schon lange. Harald war am schlimmsten gewesen, aber die anderen waren auch nicht viel besser. Der einzige Unterscheid bestand darin, dass sie äußerlich noch nicht so entstellt waren wie innerlich. Als Gunnar es damals darauf angelegt hatte, diesen Unheil bringenden, angeblichen Geschichtsverein loszuwerden, hatte er sich nach ihren Noten erkundigt und zu seinem Erstaunen festgestellt, dass einige von ihnen ausgezeichnete Studenten waren.

Gunnar ließ die Gardine fallen und nahm den Telefonhörer in die Hand. Vor ihm auf dem Tisch lag die Visitenkarte der Rechtsanwältin — er durfte es sich mit ihr und dem Deutschen nicht verscherzen, wenn er den von Harald gestohlenen Brief wiederfinden wollte. GESTOHLEN. Er fand es unerträglich, sich zu verstellen — so zu tun, als habe er sich mit diesem unangenehmen jungen Mann gut verstanden, und voller Hochschätzung von ihm zu sprechen. Harald war ein Dieb, der sich selbst und anderen nichts als Schande bereitete. Gunnar legte den Hörer wieder zur Seite. Zuerst musste er sich ein wenig beruhigen — in diesem Zustand konnte er unmöglich bei der Frau anrufen. Tief einatmen und an etwas ganz anderes denken. Das Erasmus-Stipendium zum Beispiel. Der Antrag war eingegangen und es sah ganz nach einer positiven Antwort aus. Gunnar wurde ruhiger. Er nahm den Hörer und wählte die Nummer, die auf der Karte stand.

»Dóra, grüß dich, hier ist Gunnar«, sagte er so höflich wie möglich. »Was Haralds Freunde anbetrifft — du wolltest sie doch treffen, oder?«

21. KAPITEL

Dóra hatte seit der Feier zum sechzehnten Geburtstag ihres Sohnes keinen so schlappen Haufen mehr gesehen. Und dabei waren die jungen Leute, die ihr und Matthias gegenübersaßen, fast zehn Jahre älter. So wie sie dasaßen, machten sie den Eindruck, sie wären direkt aus der Luft aufs Sofa gefallen — mit Ausnahme des hoch gewachsenen, rothaarigen Mädchens. Alle musterten interessiert ihre Schuhspitzen. Nach dem morgendlichen Telefonat mit Gunnar hatte Dóra Kontakt mit Bríet aufgenommen und ein Treffen mit der Clique vereinbart. Bríet hatte nicht gerade begeistert geklungen, aber dennoch griesgrämig eingewilligt, die anderen zusammenzutrommeln und Dóra und Matthias um elf Uhr zu treffen — an einem Ort, an dem man rauchen durfte. Da diesbezüglich nicht viel zur Auswahl stand, schlug Dóra Haralds Wohnung vor. Briefs Reaktion darauf war griesgrämig, aber auf eine Einladung nach Paris hätte sie genauso reagiert. Matthias war sehr zufrieden mit der Ortswahl, da er glaubte, dies könne die Clique möglicherweise ein bisschen aufrütteln und die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Wahrheit sagten, erhöhen.

Während sie auf die Studenten warteten, nutzte Dóra die Gelegenheit und zeigte Matthias den zusammengefalteten Zettel aus der Taschenbuchausgabe des Hexenhammers. Sie beschäftigten sich eine Weile damit, kamen aber zu keinem brauchbaren Ergebnis, außer dass Innsbruck — 1485 mit Kramers Ankunft in der Stadt und den alten Briefen, die Harald so fasziniert hatten, zu tun haben musste. Dóra war ziemlich sicher, dass J.A. für den Bischof Jón Arason stand, denn die Jahreszahl 1550 bezeichnete das Jahr seiner Exekution. Ihr war allerdings nicht klar, warum Harald es wieder durchgestrichen hatte. Gästebuch des Kreuzes sagte Matthias gar nichts — ihm war nicht bekannt, ob es in Haralds Wohnung ein Gästebuch gab oder ob die Polizei bei der Durchsuchung eins mitgenommen hatte. Dann hatte die Türklingel sie aus ihren Grübeleien gerissen.

Die Studenten waren ins Wohnzimmer gekommen und hatten sich dicht aneinandergedrängt auf die beiden Sofas gesetzt, während Dóra und Matthias ihnen gegenüber auf Stühlen Platz nahmen. Dóra hatte ein paar Aschenbecher geholt und die Luft im Zimmer war bereits rauchgeschwängert.

»Was wollt ihr eigentlich von uns?«, fragte das rothaarige Mädchen, Marta Maria. Ihre Freunde schauten sie an, froh, dass jemand die Wortführung übernahm und die Aufmerksamkeit auf sich zog. Dann rauchten sie weiter.

»Wir möchten uns mit euch über Harald unterhalten«, antwortete Dóra. »Ihr wisst ja, dass wir mehrmals versucht haben, euch zu treffen, was nicht gerade auf Gegenliebe stieß.«

Marta Maria ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. »Wir haben zurzeit viel an der Uni zu tun und wichtigere Dinge zu erledigen, als mit Leuten zu sprechen, die wir überhaupt nicht kennen. Außerdem sind wir nicht verpflichtet, mit euch zu sprechen. Jeder von uns hat eine polizeiliche Aussage gemacht.«

»Ach ja, stimmt«, sagte Dóra. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass dieses Mädchen und im Grunde die ganze Clique ihr auf die Nerven ging. »Wir sind euch sehr dankbar, dass ihr euch die Zeit genommen habt, und wir versprechen, euch nicht lange aufzuhalten. Wie euch bekannt ist, untersuchen wir den Mord an Harald im Auftrag seiner Familie in Deutschland. Wir haben gehört, dass ihr am häufigsten mit ihm zusammen wart.«

»Da bin ich mir nicht so sicher; wir haben selbstverständlich ziemlich viel Zeit mit ihm verbracht, aber wir haben natürlich keine Ahnung, was er sonst noch gemacht hat«, entgegnete Marta Maria, während Bríet ernst nickte, um ihr beizupflichten. Die jungen Männer starrten nur vor sich hin.

»Du sprichst so, als wäret ihr eine Person«, bemerkte Matthias. »Wir haben mit Hugi þórisson gesprochen, den ihr ja alle kennt, und er behauptet, dass du, Halldór, am engsten mit Harald befreundet warst und ihm bei Übersetzungen und anderen Dingen geholfen hast.« Er sprach direkt zu Halldór, der an Marta Maria gequetscht dasaß. »Stimmt das etwa nicht?«

Halldór schaute auf. »Äh, doch, wir waren ziemlich oft zusammen. Harald hatte Schwierigkeiten mit isländischen Dokumenten und anderen Dingen und ich hab ihm geholfen. Wir waren gute Kumpels.« Er zuckte die Achseln, um zu betonen, dass es sich um eine ganz normale Freundschaft gehandelt hatte.

»Du bist auch ein guter Kumpel von Hugi, oder?«, fragte Dóra.

»Ja. Wir sind Jugendfreunde«, sagte Halldór und neigte den Kopf. Durch eine schnelle Kopfbewegung fiel ihm sein Haar ins Gesicht, was weiteren Augenkontakt verhinderte.

»Dein einer Freund wurde ermordet und dein anderer Freund steht unter Mordverdacht. Man sollte meinen, du müsstest ganz versessen darauf sein, uns zu helfen. Oder nicht?« Matthias lächelte Halldór zu, erreichte ihn damit aber nicht. Er schaute die anderen Studenten an. »Und ihr? Das gilt natürlich auch für euch.«

Alle murmelten zustimmend »hm« oder nickten.

»Gut.« Matthias klopfte sich auf den Schenkel. »Dann können wir ja loslegen. Aber womit fangen wir an?« Er blickte zu Dóra. »Dóra, möchten Sie vielleicht beginnen?«

Dóra lächelte und wendete sich an die Studenten. »Wie wäre es, wenn ihr uns erzählt, wie ihr Harald kennen gelernt habt und was es mit diesem Hexenverein auf sich hatte? Wir finden das alles sehr merkwürdig.«

Alle schauten zu Marta Maria, in der Hoffnung, sie möge das Wort ergreifen. Sie gab die Frage jedoch an Halldór weiter, indem sie ihn — übertrieben heftig, fand Dóra — mit dem Ellbogen anstieß. Halldór schnitt eine Grimasse und antwortete. »Ich hab Harald letztes Jahr zum ersten Mal getroffen, Hugi war auch dabei. Die beiden hatten sich in einer Kneipe in der Stadt kennen gelernt. Ich fand ihn nett und anders und Hugi auch und danach haben wir uns verabredet, wie es halt so üblich ist. Sind essen gegangen, in Kneipen, auf Konzerte und so was. Harald hat uns dann gefragt, ob wir einem Verein beitreten möchten, den er gründen wollte, und wir haben einfach ja gesagt.«

Marta Maria ergriff das Wort. »Ich bin durch Bríet in den Verein gekommen. Sie hatte Harald in der Uni kennen gelernt und wollte, dass ich mitkomme, um die Sache abzuchecken.« Bríet nickte eifrig.

»Und ihr?« Dóra richtete ihre Frage an Andri und Brjánn, die rauchend nebeneinanderhockten.

»Wir?«, fragte Andri dümmlich und verschluckte sich an dem Rauch, den er vergessen hatte auszublasen.

»Ja«, entgegnete Dóra. »Ihr beiden.« Sie zeigte auf die beiden, um jegliche Zweifel aus dem Weg zu räumen.

Brjánn kam Andri zu Hilfe. »Ich studiere Geschichte und hab den Verein auf dieselbe Weise kennen gelernt wie Bríet — hatte vorher schon ein bisschen mit Harald gequatscht und er hat mich gefragt, ob ich eintreten will. Andri hab ich spaßeshalber mitgenommen.« Besagter Andri grinste nur dumpf.

»Und worum ging es in diesem Verein, wenn ich fragen darf? Wenn wir Hugi richtig verstanden haben, handelte es sich hauptsächlich um Saufgelage — getarnt als Treffen von Interessierten an Hexerei«, erklärte Matthias.

Die drei Jungen feixten, während Marta Maria ein beleidigtes Gesicht aufsetzte und empört sagte: »Saufgelage? Das waren nicht irgendwelche Saufgelage. Wir haben uns mit Magie und der Hexenkultur vergangener Zeiten vertraut gemacht. Das ist nicht irgendeine verrückte Wissenschaft, sondern wirklich interessant. Dass wir uns nach den Treffen auch ein bisschen amüsiert haben, tut nichts zur Sache. Hugi ist einfach nur durchgeknallt. Er hatte mit dem Verein nie richtig zu tun.« Marta Maria lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Sie zog immer noch eine Flunsch und starrte Matthias und Dóra wütend an. »Ihr habt natürlich keine Ahnung, worum es geht, genau wie alle anderen — denkt wahrscheinlich, wir köpfen Hühner und piksen Stricknadeln in selbst gebastelte Puppen.«

»Möchtest du uns dann nicht in das Geheimnis der Hexerei einweihen?«, fragte Matthias.

Marta Maria stöhnte schwer. »Ich hab wirklich keinen Bock, hier den Lehrer raushängen zu lassen. Es reicht, wenn ihr kapiert, dass Hexerei nichts anderes ist als der Versuch, auf ungewöhnliche Weise Einfluss auf das eigene Leben zu nehmen — zumindest ungewöhnlich in den Augen heutiger Menschen. Seinerzeit war das ganz normal. Es geht vor allem darum, bestimmte Rituale durchzuführen, um das Schicksal zu beeinflussen — manchmal auf Kosten anderer, manchmal nicht. Indem man einen Zauberspruch ausführt, bewegt man sich meiner Meinung nach auf ein bestimmtes Ziel zu. Anschließend konzentriert man sich besser auf dieses Ziel und es fällt einem deshalb leichter, es zu erreichen.«

»Kannst du mir solche Ziele nennen?«, fragte Dóra.

»Die Liebe einer anderen Person auf sich zu lenken oder Berühmtheit zu erlangen, zu heilen, einem Feind zu schaden. Es gibt eigentlich keine festgelegten Ziele. Die meisten alten Zaubersprüche sind natürlich mit den menschlichen Grundbedürfnissen verknüpft — das Leben war damals noch nicht so kompliziert und vielfältig wie heute.«

Da war Dóra nach der Lektüre des Hexenhammers anderer Meinung. In ihren Augen war es ziemlich kompliziert, jemanden in einem Rechtssystem verteidigen zu müssen, das parteiisch war und die Spielregeln je nach Interessen der Anklage veränderte.

»Und was braucht man, um einen Zauberspruch auszuführen?«, fragte sie. Dann fügte sie, um Marta Maria zu ärgern, hinzu: »Außer lahmen Hühnern und handgenähten Puppen?«

»Sehr witzig«, entgegnete Marta Maria, ohne zu lachen. »In Island verwendete man vor allem Zauberrunen — allerdings reichte es zur Ausführung des Zauberspruchs meistens nicht, die Runen zu ritzen oder zu zeichnen. Zauberrunen sind auch andernorts in Europa bekannt und dort gilt dasselbe wie in Island — meistens gehört mehr dazu, als sie zu zeichnen.«

»Was denn?«, insistierte Matthias.

»Einen Vers aufsagen, Tierknochen sammeln, Menschenknochen, das Haar einer Jungfrau. Solche Dinge. Nichts Schlim­mes«, antwortete Marta Maria mit kalter Stimme.

»Ja, und manchmal Körperteile von Verstorbenen«, warf Bríet ein. Alle verstummten. Bríet errötete und hielt den Mund.

»Ach ja?«, sagte Matthias mit geheucheltem Erstaunen. »Was denn zum Beispiel? Hände? Haare?« Er machte eine kurze Pause. »Oder vielleicht Augen?«

Niemand sagte ein Wort, bis Marta Maria einlenkte. »Ich persönlich hab nie etwas über Zaubersprüche gelesen, für die man Menschenaugen braucht — nur Tieraugen.«

»Und die anderen? Kennt ihr solche Zaubersprüche?«, fragte Matthias.

Keiner sagte etwas, alle schüttelten die Köpfe. »Nö«, tönte Brjánn.

»Und Finger?«, fügte Dóra schnell hinzu. »Habt ihr schon mal von Zaubersprüchen gelesen, für die man Finger braucht?«

»Nein.« Halldórs Stimme klang bestimmt. Er strich sich zur Bekräftigung das Haar aus der Stirn und schaute Dóra und Matthias direkt in die Augen. »Wir haben ganz bestimmt keine Zaubersprüche ausgeführt, bei denen menschliche Körperteile verwendet werden. Ich weiß, worauf ihr hinauswollt, aber das ist vollkommen abwegig. Wir haben Harald nicht umgebracht — das könnt ihr ausschließen. Die Bullen haben unsere Alibis kontrolliert und sie sind alle bestätigt worden.« Halldór beugte sich vor und zog eine Zigarette aus einem der Päckchen auf dem Tisch. Er zündete sie an, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch langsam aus.

»Also hat Hugi ihn ermordet?«, fragte Dóra. »Willst du uns das sagen?«

»Nein, das hab ich nicht gesagt! Du hörst nicht richtig zu«, erwiderte Halldór und seine Stimme vibrierte vor Erregung. Er neigte sich vor, so als wolle er weiterreden, aber Marta Maria drückte ihn mit ihrem Arm zurück ins Sofa.

Dann fing sie an zu sprechen, wesentlich beherrschter als Halldór. »Ich weiß nicht, wer dir logisches Denken beigebracht hat, aber die Tatsache, dass wir Harald nicht umgebracht haben, bedeutet nicht automatisch, dass es Hugi war. Halldór hat lediglich darauf hingewiesen, dass wir Harald nicht umgebracht haben. Punkt.« Jetzt lehnte Marta Maria sich im Sofa zurück. Sie angelte die Zigarette aus Halldórs Fingern, nahm einen Zug und steckte sie dann wieder zurück an ihren Platz. Bríet wirkte verstört; diese demonstrative Vertrautheit irritierte sie offensichtlich.

»Hugi hat ihn nicht umgebracht. Er ist nicht der Typ dafür«, murmelte Halldór verärgert. Er stieß Marta Marias Arm weg und beugte sich über den Tisch, um die Asche seiner Zigarette abzuklopfen.

»Und du? Bist du der Typ dafür? Wenn ich mich recht erinnere, ist dein Alibi nicht so perfekt wie die deiner Freunde.« Matthias schaute Halldór fest an und wartete auf eine Reaktion.

Halldór rutschte bis an die Sofakante vor und beugte sich so weit wie möglich zu Matthias. Seine Stimme war vor Wut ein paar Oktaven tiefer als zuvor: »Harald war mein Freund. Ein guter Freund. Er hat unglaublich viel für mich getan und ich für ihn. Ich hätte ihn niemals getötet. Niemals. Ihr seid noch mehr auf dem Holzweg als die Polizei, und du hast keine Ahnung, was du da faselst.« Er unterstrich seine Worte, indem er mit seiner brennenden Zigarette auf Matthias deutete.

»Was hast du denn eigentlich für ihn getan? Außer ihm bei der Übersetzung von Aufsätzen behilflich zu sein?«, beeilte sich Dóra einzuwerfen.

Halldór löste seinen Blick von Matthias und starrte Dóra fiebrig an. Er öffnete kurz den Mund, so als wolle er etwas sagen, ließ es dann aber bleiben. Nachdem er ein letztes Mal an seiner Zigarette gezogen und sie ausgedrückt hatte, sank er wieder ins Sofa.

Der Geschichtsstudent Brjánn übernahm die Rolle des Schlichters. »Ähm, ich versteh ja, worauf ihr hinauswollt — natürlich hat irgendwer Harald umgebracht, und wenn nicht Hugi, wer dann? Ihr spart euch aber echt Zeit und Mühe, wenn ihr uns einfach glaubt, weil wir nämlich die Wahrheit sagen; keiner von uns hat Harald ermordet. Er war cool, einfallsreich, ein toller Gastgeber und ein guter Freund und Kumpel. Ohne ihn ist unser Verein zum Beispiel nichts mehr wert. Außerdem hätten wir ihn gar nicht umbringen können — wir waren nicht mal in der Nähe und ein Haufen Zeugen kann das bestätigen.«

Andri, der im Masterstudiengang Chemie war, pflichtete ihm bei. Seine Augen waren glasig und Dóra hatte den Eindruck, er stünde unter Drogen. »Stimmt genau. Harald war was Besonderes; keiner von uns hätte ihn jemals loswerden wollen. Er konnte zwar krass und durchgeknallt sein, aber wenn’s drauf ankam, war er immer super anständig.«

»Wie sympathisch«, bemerkte Matthias sarkastisch. »Eine Sache würde mich noch interessieren. Alle außer Halldór waren bei der Party; könnt ihr euch dran erinnern, dass Hugi und Harald zusammen ins Bad gegangen und mit Blut auf den Klamotten wieder rausgekommen sind?«

Alle außer Halldór schüttelten die Köpfe. »Da hat sich niemand um irgendwelche Klamotten gekümmert«, sagte Andri und zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein, dass das so war; ich erinnere mich aber nicht.« Die anderen nickten zustimmend.

Sie saßen eine Weile schweigend da. Zigaretten wurden ausgedrückt und neue angezündet. Matthias durchbrach die Stille. »Ihr wisst also nicht, wer Harald ermordet hat?«

Einstimmig sagten alle mit Nachdruck: »Nein.«

»Und ihr habt nie Körperteile, beispielsweise einen Finger, bei euren Ritualen verwendet?«, fragte er weiter.

Wieder tönte es einstimmig: »Nein.«

»Und ihr kennt auch diese Zauberrune nicht?« Matthias warf eine Zeichnung der Rune, die in Haralds Brust geritzt worden war, auf den Tisch.

Einstimmig: »Nein.«

»Es wäre überzeugender, wenn ihr euch das Blatt wenigstens mal anschauen würdet«, sagte Matthias ironisch. Keiner hatte auch nur einen Blick auf die Zeichnung geworfen.

»Die Bullen haben uns diese Rune auch gezeigt. Wir wissen genau, worauf du hinauswillst«, entgegnete Marta Maria. Sie legte lässig ihre Hand auf Halldórs Oberschenkel.

»Okay — hab ich verstanden. Aber könnt ihr uns vielleicht darüber aufklären, was mit dem ganzen Geld passiert ist, das Harald kurz vor seinem Tod ins Land gebracht hat?«, fragte Matthias dann.

»Nein, darüber wissen wir nichts,« sagte Marta Maria. »Wir waren Haralds Freunde, nicht seine Steuerberater.«

»Hat er etwas gekauft oder davon gesprochen, dass er vorhatte, etwas zu kaufen?«, fragte Dóra, wobei sie sich an Bríet wendete, von der sie am ehesten annahm, dass sie die Wahrheit sagte.

»Er hat ständig was gekauft«, antwortete Bríet und warf Marta Maria und Halldór einen Blick zu. Als sie Martas Hand auf Halldórs Oberschenkel sah, drehte sie sich wieder zu Dóra und fügte hinzu: »Wenn nicht für sich selbst, dann für Halldór. Sie standen sich sehr nahe.« Sie lächelte scheinheilig.

Dóra sah, wie Halldór die Röte ins Gesicht stieg. »Was hat er für dich gekauft und warum?«

Halldór rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. »Er hat nicht direkt Sachen für mich gekauft. Er hat mir manchmal das eine oder andere geschenkt, als Dank für meine Hilfe.«

Dóra ließ nicht von ihm ab. »Was denn?«

Halldór errötete noch mehr. »Ach, so allerlei.« Er ließ sein Haar wieder in die Stirn fallen.

Matthias schlug sich erneut auf den Schenkel — noch bestimmter als beim ersten Mal. »Also dann, liebe Leute. Ich habe eine Idee. Marta Maria, Bríet, Brjánn und Andri — ihr sagt, ihr wisst nichts, daher seid ihr keine große Hilfe für uns. Wie wär’s, wenn ihr einfach nach Hause geht und lernt oder an die Uni geht oder tut, womit auch immer ihr gerade beschäftigt seid — und Dóra und ich sprechen in aller Ruhe mit Halldór?« Er richtete seine Worte an Halldór. »Wäre das nicht am besten? Das ist bestimmt nicht so verkrampft.«

»Was soll der Scheiß?«, zischte Marta Maria. »Halldór weiß auch nicht mehr als wir.« Sie wendete sich an Halldór. »Du musst nicht bleiben. Wir gehen alle zusammen.«

Halldór sagte erst nichts, schob dann aber ihre Hand von seinem Oberschenkel und zuckte die Achseln. »Okay.«

»Okay? Was ist okay? Kommst du mit?«, fragte Marta Maria nervös.

»Nein«, antwortete Halldór. »Ich bringe das zu Ende. Ich bleibe.«

Marta Marias Gesicht verdunkelte sich vor Wut, aber sie riss sich zusammen und tat so, als sei nichts geschehen. Bevor sie sich erhob, beugte sie sich zu Halldór und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er nickte abwesend. Dóra beobachtete, wie sie ihn leicht auf die Stirn küsste, während Bríet so tat, als sähe sie es nicht. Andri und Brjánn waren vollkommen damit beschäftigt, ihre Zigaretten auszudrücken und aufzustehen. Sie waren spürbar erleichtert.

22. KAPITEL

Matthias begleitete die anderen zur Tür. Währenddessen blieben Dóra und Halldór in dem modernen Wohnzimmer sitzen, umringt von den Schrecken der Vergangenheit. Dóra hatte Mitleid mit dem jungen Mann, der jetzt lieber an einem anderen Ort wäre. Die Umstände erinnerten sie auf gewisse Weise an ihren eigenen Sohn — ein junger Mann, mitten in einer inneren Zerreißprobe, dem es schwerfiel, davon zu erzählen.

»Dir ist hoffentlich klar, dass wir nur die Wahrheit wissen wollen. Irgendwelche Dummheiten, in die ihr möglicherweise verwickelt seid, interessieren uns nicht«, sagte sie, um das Schweigen zu durchbrechen und die angespannte Atmosphäre zu lockern. »Beim wichtigsten Punkt stimmen wir dir im Grunde zu — Hugi ist unschuldig oder hat zumindest nicht alle Taten begangen, die man ihm anhängen will.«

Halldór schaute sie nicht an. »Ich glaube nicht, dass Hugi ihn getötet hat«, sagte er leise. »Das ist alles völliger Unsinn.«

»Du hängst offenbar an deinem Freund«, sagte Dóra. »Wenn du ihm helfen möchtest, ist es am allerbesten, uns nichts zu verheimlichen. Denk dran, dass dein Freund zurzeit nur von uns Hilfe zu erwarten hat.«

»Hm«, murmelte Halldór.

Matthias kam zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen. Er musterte Halldór eine Weile nachdenklich. »Eine komische Clique hast du da. Die Mädchen sind sich auf dem Weg nach draußen nicht gerade in die Arme gefallen.«

Halldór zuckte mit den Schultern. »Die sind in der letzten Zeit nicht so gut drauf.«

»Du sagst es. Tja, dann kommen wir doch am besten zum Thema«, sagte Matthias.

»Von mir aus«, entgegnete Halldór. »Fragt einfach und ich versuche zu antworten.« Er nahm eine Zigarette und zündete sie an. Dóra bemerkte, dass seine Hände zitterten.

»Gut, mein Junge«, sagte Matthias väterlich. »Wir interessieren uns für ein paar Dinge, bei denen du uns zweifellos behilflich sein kannst. Das eine ist Haralds Geldverschwendung und das andere sind seine historischen Forschungen, bei denen du ihm wohl geholfen hast. Was kannst du uns über die Geldangelegenheiten sagen?«

»Geldangelegenheiten? Glaubt bloß nicht, ich hätte das alles so genau mitgekriegt. Jeder Depp hat natürlich sofort gemerkt, wie wohlhabend Harald war.« Halldór machte eine ausladende Handbewegung und zuckte dann die Achseln. »Die wenigsten Studenten haben eine solche Wohnung. Sein Auto war auch nicht zu verachten und er ging oft essen. Das ist leider nicht der Lebensstil, den ich und die anderen uns leisten können.«

»Ging er immer allein essen?«, fragte Dóra. »Da ihr anderen doch arme Studenten seid.«

Die Frage war ihm offenbar unangenehm. »Ja, manchmal.« Er zog an seiner Zigarette. »Manchmal bin ich mitgegangen. Da hat er mich eingeladen.«

»Was hat er sonst noch für dich bezahlt?«, fragte Matthias.

Halldór wurde von einem plötzlichen Interesse für den Aschenbecher gepackt. Er wendete seinen Blick von den beiden ab und starrte in die Kippen, als fände sich dort die Antwort auf die Frage. »Tja, alles Mögliche.«

»Das ist keine Antwort«, sagte Dóra ruhig. »Erzähl es uns — wir sind nicht hier, um über dich oder Harald zu urteilen.«

Ein kurzes Schweigen und dann: »Er hat alles für mich bezahlt. Miete, Lehrbücher, Klamotten, Taxis. Haschisch. Einfach alles.«

»Warum?«, fragte Matthias.

Halldór zuckte die Achseln. »Harald meinte, er hätte nun mal so viel Geld und könnte damit machen, was er will — wenn er unbedingt etwas haben wollte, könnte er eben nicht darauf verzichten, nur weil seine Freunde keine Kohle hätten. Es war mir total peinlich, aber ich war völlig pleite und es hat tierisch Spaß gemacht, mit ihm zusammen zu sein. Es gab nie irgendwelche Probleme. Ich hab versucht, mich zu revanchieren, indem ich ihm bei den Übersetzungen und so geholfen habe.«

»Und so?«, fragte Matthias.

»Ach nichts.« Er wurde wieder rot. »Es hatte nichts mit Sex zu tun, falls ihr das meint. Weder Harald noch ich waren, äh sind, andersrum. Wir hatten genug Spaß mit den Mädels.«

Dóra und Matthias warfen sich einen Blick zu. Die Ausgaben, von denen Halldór sprach, waren im Vergleich zu der verschwundenen Summe ein Taschengeld. »Hat Harald kurz vor seinem Tod eine größere Investition getätigt?«, fragte Matthias.

Halldór schaute auf. Sein Blick war aufrichtig. »Keine Ahnung. Davon hat er nichts erzählt. Ich hab ihn allerdings in der Woche vor seinem Tod kaum gesehen — er war irgendwie beschäftigt und ich musste sowieso was für die Uni tun.«

»Und du weißt nicht, womit er beschäftigt war und warum er euch in der letzten Zeit aus dem Weg ging?«, warf Dóra ein.

»Nein, ich hab ein paar Mal mit ihm telefoniert und er hatte einfach keine Lust, was zu unternehmen. Ich weiß nicht, warum.«

»Als er ermordet wurde, hattest du ihn also ein paar Tage lang nicht gesehen, oder wie?«, fragte Matthias.

»Nee — nur mit ihm telefoniert.«

»Kam dir das nicht komisch vor? Oder zog er sich öfter tagelang zurück?«, fragte Matthias weiter.

Halldór überlegte. »Ich hab nicht weiter drüber nachgedacht, aber jetzt, wo du es sagst — es war schon ungewöhnlich. Ist jedenfalls vorher noch nie passiert.«

»Hast du dich da nicht über ihn geärgert?«, fragte Dóra. In Anbetracht der Tatsache, wie viel Zeit die beiden miteinander verbracht hatten, musste es für den Jungen komisch gewesen sein, seinen besten Freund ein paar Tage lang ohne Erklärung nicht zu sehen.

»Nee, nicht direkt. Ich hatte viel in der Uni zu tun. Außerdem hatte ich Schichten und so. Genug andere Dinge.«

»Du arbeitest im Landeskrankenhaus in Fossvogur, nicht wahr?«, fragte Dóra. Halldór nickte. »Wie schaffst du es denn, gleichzeitig zu arbeiten, Medizin zu studieren und so viel auszugehen?«

Halldór zuckte mit den Schultern. »Es ist keine volle Stelle, ich übernehme ein paar Vertretungsschichten, das ist alles. Ich arbeite im Sommer in den Semesterferien und im Winter rufen sie mich an, wenn’s eng wird. Krankmeldungen oder andere Ausfälle. Beim Studium bin ich total gewissenhaft. Lernen ist mir irgendwie immer leichtgefallen.«

»Was genau machst du im Krankenhaus?«, fragte Matthias.

»Alles Mögliche. Ich assistiere bei Operationen. Im Grunde bin ich nur ein Handlanger — kümmere mich nach der Operation um die Reinigung der Instrumente, räume auf und so weiter. Nichts Besonderes.«

Matthias schaute ihn eigentümlich an. »Was räumst du denn auf? Ich frage aus reiner Neugier; ich kenne mich in Krankenhäusern nicht gut aus.«

»Alles Mögliche«, antwortete Halldór und griff nach der Zigarettenschachtel. »So Zeug halt.«

»Aha«, brummelte Matthias. »Kannst du uns den Namen deines Vorgesetzten oder einer anderen Person nennen, die wir über deine Arbeit befragen können — speziell über deine Tätig­keit an dem Abend, als Harald ermordet wurde?«

Halldór knabberte an einem Fingernagel seiner linken Hand. Er wusste offensichtlich nicht, ob und was er antworten sollte. »Gunnur Helgadóttir«, nuschelte er dann mürrisch. »Sie ist Oberschwester im OP.«

»Eine Frage noch«, warf Dóra ein, während sie den Namen notierte. »Wer hat eigentlich Haralds Zungenoperation durchgeführt? Das warst doch du, oder?«

Halldór hielt mitten im Anzünden seiner Zigarette inne und schaute sie besorgt an. »Warum? Was spielt das für eine Rolle?«

»Ich wüsste es gern. Harald hat Fotos von der Operation auf seinem Computer. Die OP wurde in einer Privatwohnung durchgeführt. Es ist also naheliegend, dass es jemand gemacht hat, den er kannte. Die Operation ist nicht wichtig; ich möchte es nur gern wissen.«

Zögernd blickte Halldór von einem zum anderen. Vermutlich überlegte er, ob der Eingriff ungesetzlich war oder hätte genehmigt werden müssen. Er knabberte eine Weile an seiner Unterlippe, ergriff dann aber das Wort. »Nein, ich hab’s nicht gemacht.«

»Darf ich mal deinen Arm sehen?«, fragte Dóra daraufhin. Sie lächelte bei der Erinnerung an Hugis Aussage über Halldór und dessen Bedauern über seine Tätowierung.

»Wieso?«, fragte Halldór und lehnte sich im Sofa zurück, um den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern.

»Nur so«, sagte Matthias und stützte sich auf die Armlehne. Er hatte keine Ahnung, worauf Dóra hinauswollte. »Stell dich nicht so an, Junge, und krempel mal für die Dame deine Ärmel hoch.«

Halldór wurde dunkelrot im Gesicht. Matthias rutschte auf seinem Stuhl noch weiter vor, während Halldór noch tiefer im Sofa versank. Plötzlich verlor er den Mut. Er krempelte mit finsterem Gesicht seinen Ärmel hoch. »Hier«, sagte er ängstlich und streckte seinen Arm aus. Dóra reckte den Hals und lächelte.

»Crap?«, sagte sie und betrachtete das Tattoo auf Halldórs rechtem Arm, unmittelbar oberhalb des Handgelenks.

»Ja, und?«, entgegnete Halldór, während er seinen Ärmel wieder herunterkrempelte.

»Nichts, ist nur bemerkenswert«, antwortete Dóra.

Halldór fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und kniff die Augen zusammen. »Okay, ich war’s. Wir waren in Hugis Wohnung. Harald lag mir seit Ewigkeiten damit in den Ohren und am Ende hab ich’s halt gemacht. Hab mir Instrumente im Krankenhaus geliehen und Betäubungsmittel mitgehen lassen. Die vermisst niemand. Hugi hat mir dabei geholfen. Es war eine ziemliche Schweinerei. Aber das Ergebnis war cool.«

Na ja, dachte Dóra. »Ich könnte mir vorstellen, dass das Krankenhaus nicht besonders erfreut ist, wenn es erfährt, dass du Medikamente geklaut hast, nicht wahr?«

»Nein, natürlich nicht. Deshalb möchte ich auf keinen Fall, dass sich das rumspricht«, entgegnete Halldór. »Die Leute begreifen so was normalerweise nicht und ich will nicht als Perverser abgestempelt werden.«

Matthias schüttelte den Kopf, beschloss dann aber plötzlich, das Thema zu wechseln. »Ich möchte dich etwas fragen, das vielleicht ein bisschen merkwürdig klingt, obwohl — du bist wahrscheinlich an einiges gewöhnt.« Er stockte einen Moment und schaute Halldór in die Augen. Dann redete er weiter. »Hast du bei Harald etwas von einer sexuellen Praktik mitbekommen, bei der man sich zur Steigerung der Lust die Luftröhre zudrückt?«

Halldór wurde puterrot. »Darüber möchte ich nicht sprechen«, sage er kurz angebunden.

»Warum nicht?«, insistierte Matthias. »Wer weiß, vielleicht ist Harald dabei umgekommen?«

Halldórs Knie zuckten auf und ab und seine Füße trommelten einen Takt auf das glänzende Parkett. »Er ist nicht so gestorben«, sagte er mit halberstickter Stimme.

Dóra hakte nach. »Was weißt du darüber?«

Der Takt, den Halldór mit den Füßen trommelte, wurde schneller. Er schwieg. Weder Dóra noch Matthias sagten ein Wort. Sie starrten lediglich den jungen Mann an und warteten. Schließlich gab Halldór nach, atmete tief ein und begann zu sprechen. »Das hat wirklich nichts mit der Sache zu tun, aber gut, ich wusste, dass Harald auf so was stand.«

»Woher wusstest du es?«, fragte Matthias scharf.

Halldórs Füße standen still. »Weil er es mir erzählt hat. Er hat mir vorgeschlagen, es selbst mal auszuprobieren.« Er verstummte und wich Matthias’ und Dóras Blicken aus.

»Und? Hast du?«, fragte sie.

»Nein«, war die nachdrückliche Antwort. Dóra glaubte ihm. »Ich mache vielleicht allen möglichen Scheiß, aber das ist das Verrückteste, was ich je gesehen hab.«

»Gesehen?«, tönte es von Matthias.

Halldór wurde tiefrot. »Nicht direkt gesehen — das ist falsch ausgedrückt. Ihn dabei überrascht, wäre passender.« Er schaute auf den Fußboden. »Es war irgendwann im Herbst. Ich war nach einer krassen Party auf dem Sofa hier eingepennt und mitten in der Nacht von einem unheimlichen Röcheln aufgewacht.« Er schaute auf und sah Matthias an. »Es war verdammtes Glück, dass ich wach geworden bin — meistens bin ich in einem solchen Zustand total weggetreten –, jedenfalls hab ich nachgeschaut, woher das Geräusch kam, und da sah ich Harald, kurz vorm Ersticken.« Dóra spürte, wie der junge Mann bei der Erinnerung erschauerte. »Ich hab den Gürtel gelockert, den er sich tierisch fest um den Hals geschnallt hatte. Ich hab ihn beatmet und er kam wieder zu sich.«

»Vielleicht wollte er sich umbringen?«, schlug Dóra vor.

Halldór schaute sie fest an und schüttelte den Kopf. »Nein, das war kein Selbstmordversuch. Glaub mir. Ich möchte den Anblick lieber nicht näher beschreiben.« Jetzt wurde Dóra rot, worüber sich Halldór zu amüsieren schien. Er redete weiter, ein wenig forscher als zuvor. »Ich hab dann mit Harald darüber gesprochen und er meinte, es sei großartig. Aber er war zu weit gegangen und das wusste er. Er war erschrocken.«

»Glaubst du, er hat nach diesem Schock damit aufgehört?«, fragte Matthias.

»Nein, wahrscheinlich nicht«, entgegnete Halldór. »Ich weiß es natürlich nicht genau — er war wirklich erschrocken.«

»Weißt du noch, wann das war?«, fragte Matthias.

»In der Nacht zum elften September«, lautete die prompte Antwort.

Matthias nickte nachdenklich. Er schaute Dóra an und sagte auf Deutsch: »Zehn Tage später ließ er sein Testament ändern.«

Dóra nickte. Sie war jetzt sicher, dass Halldór der erwähnte isländische Erbe war. Kurz bevor das Testament geändert wurde, hatte er Harald das Leben gerettet; im Grunde war es vollkommen logisch, dass Harald ihn in sein Testament aufnahm.

»Ich verstehe ganz gut Deutsch«, sagte Halldór und grinste gehässig.

Matthias reagierte nicht darauf, fragte ihn aber stattdessen mit ebenso gehässigem Gesichtsausdruck: »Hugi hat uns erzählt, Harald hätte dich manchmal vor den anderen runtergemacht — dich erniedrigt, wenn ich mich recht entsinne. Hat dich das nicht gestört?«

Halldór schnaubte. »Was labert der denn? Harald war, wie ihr wisst, anders als andere Menschen. Er konnte überwältigend, aber dennoch unterhaltsam sein. Meistens verhielt er sich mir gegenüber super, besonders wenn wir zu zweit waren, aber wenn die anderen dabei waren, wurde er manchmal gemein. Mir war das egal, Hugi kann das bestätigen, zumal sich Harald im Nachhinein immer entschuldigte. Es spielte so gesehen keine Rolle, war nur unangenehm.«

Dóra hatte den Eindruck, jeder Idiot würde diese Erklärung durchschauen. Der Junge hatte es unerträglich gefunden. Es hatte jedoch wenig Sinn, ihn weiter danach zu fragen. »Und was kannst du uns über Haralds Forschungen erzählen?«, fragte sie. »Kannst du beschreiben, wobei du ihm geholfen hast?«

Halldór antwortete umgehend und war froh über den Themawechsel. »Es war ein bisschen speziell. Ich half ihm eigentlich nur bei Übersetzungen und ein wenig bei der Quellensuche. Er interessierte sich für alles Mögliche — ich verstand den Zusammenhang nicht genau, aber ich bin ja auch kein Historiker, daher hat das nicht viel zu bedeuten. Er stürzte sich von einem Thema ins andere; bat mich beispielsweise, ihm eine meiner Übersetzungen aus dem Isländischen ins Englische vorzulesen, aber mittendrin verlangte er, dass ich was anderes lesen soll und so weiter.«

»Kannst du uns Aufsätze oder Themen nennen, für die er sich interessierte?«, fragte Matthias.

»Hm, ich hab keine komplette Liste oder so. Am Anfang übersetzte ich in erster Linie Kapitel aus einer Doktorarbeit von Ólína þorvarðardóttir über die Zeit der Hexenverbrennungen, dann interessierte er sich für die Schule in Skálholt. Das lag an einem Text über Hexerei von irgendwelchen Schülern und einem Zauberbuch, das damals im Umlauf war. Harald hatte auch einen alten dänischen Brief, wenn ich mich richtig erinnere — es war nicht so leicht, den zu übersetzen, aber ich hab’s versucht. In dem Brief ging es um irgendeinen Boten und etwas mir Unverständliches. Als er den Text bekommen hatte, schlug Harald ganz plötzlich eine andere Richtung ein, beschäftigte sich nicht mehr so sehr mit Hexenverbrennungen, sondern interessierte sich für eine andere Zeit, etwa ein Jahrhundert früher. Ich kann mich dran erinnern, für ihn einen Text aus der Islandbeschreibung des Bischofs von Skálholt Oddur Einarsson, von etwa 1590 übersetzt zu haben. Darin ging es um den Vulkan Hekla. Es gab da eine Geschichte über einen Mann, der den Verstand verlor, nachdem er den Berg bestiegen und in den Krater geschaut hatte. Harald interessierte sich auch brennend für den Ausbruch der Hekla von 1510 und außerdem für den Bischof Jón Arason und seine Exekution im Jahr 1550 und den Bischof Brynjólfur Sveinsson — ja, und auf einmal wollte er alles über die Papar wissen. Man kann sagen, Harald hatte sich zum Zeitpunkt des Mordes historisch noch weiter zurückbewegt — bis in die Zeit vor der eigentlichen Landnahme.«

Das Aufzählen der Jahreszahlen brachte ans Licht, welch unglaublich gutes Gedächtnis der Junge hatte. Nicht verwunderlich, dass er trotz seines ausschweifenden Nachtlebens ein guter Student ist, dachte Dóra. »Papar?«, fragte sie.

Halldór nickte. »Ja, Papar. Diese irischen Mönche.«

»Alles klar«, sagte Dóra, wusste jedoch nicht, was sie als Nächstes fragen sollte. Dann fiel ihr plötzlich der arme Gunnar ein, der sie mit Haralds Freunden in Kontakt gebracht hatte.

»Dieser alte dänische Brief — hast du eine Ahnung, woher der stammte und was damit passiert ist?«

Halldór schüttelte den Kopf. »Ich hab keinen blassen Schimmer, wo er den herhatte — er hatte mehrere alte Briefe, die er damit verglich. Die anderen Briefe waren in einer Ledermappe — der dänische aber nicht. Er ist bestimmt hier irgendwo.«

»Sagt dir der Name Mal etwas?«, fragte Matthias aus heiterem Himmel.

Halldór schaute die beiden an und schüttelte den Kopf. »Nee, nie gehört. Wieso?«

»Schon gut«, entgegnete Matthias.

Halldór wollte gerade etwas sagen, als sein Handy klingelte. Er nahm es in die Hand, schaute auf das Display, verzog das Gesicht und steckte es wieder in seine Tasche.

»Mama?«, fragte Matthias und grinste Halldór an.

»Genau«, antwortete er verbittert.

Ein Piepsen aus seiner Hosentasche verkündete den Empfang einer SMS. Halldór machte keine Anzeichen, das Handy hervorzuholen, daher stellte Dóra eine weitere Frage. »Weißt du etwas über ein Gästebuch, das Harald besaß: Gästebuch des Kreuzes?«

Halldór schaute sie verständnislos an. »Gästebuch des Kreuzes? Meinst du die Glaubensgemeinschaft?«

»Hat er das nie erwähnt?«, fragte sie.

»Nein.«

Matthias faltete die Hände. »Erzähl uns von dem Raben, hinter dem Harald her war.«

Halldórs Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Ein Rabe?« Seine Stimme überschlug sich fast.

»Ja, ein Vogel. Ein Kolkrabe«, warf Dóra ein. »Wir wissen, dass er unbedingt einen Raben wollte. Weißt du, warum?«

Halldór zuckte die Achseln. »Nein. Ich kann aber gut verstehen, dass er einen haben wollte. Ein bemerkenswerter Vogel.«

Dóra war davon überzeugt, dass er log, wusste aber nicht, wie sie am besten darauf reagieren sollte. Bevor sie einen Entschluss fassen konnte, übernahm Matthias das Wort. »Weißt du etwas über Haralds Reise nach Hólmavík zum Hexereimuseum von Strandir?«

»Nee«, antwortete Halldór. Er log schon wieder.

»Und in den Osten zum Hótel Rangá?«, fragte Dóra.

»Nee.« Noch eine Lüge.

Matthias warf Dóra einen Blick zu. »Vielleicht sollten wir eine kleine Reise unternehmen.« Halldór machte einen Gesichtsausdruck, als gefielen ihm diese Reisepläne gar nicht.

23. KAPITEL

Als Halldór das Haus eilig verließ, war er sichtlich erleichtert. Er trat durch das Tor auf den Gehsteig und blickte über die Schulter zurück, aber weder Dóra noch Matthias schienen ihn durchs Fenster zu beobachten. Halldór sah, wie sich eine Gardine in der unteren Wohnung bewegte, und verfluchte die neugierige Nachbarin. Diese Zicke hatte sich offensichtlich nicht geändert — sie hatte Harald nie in Ruhe gelassen und sich über jedes Husten und jedes Stöhnen beschwert. Nach einer der ersten Partys im Sommer war Halldór am nächsten Morgen zur Tür geschickt worden und hatte ihre Standpauke über sich ergehen lassen müssen. Herrgott, die Frau konnte wirklich zetern. Er hatte einen solchen Kater gehabt, dass ihm jedes Wort und die damit einhergehende Lautstärke wie ein Hammerschlag auf die Stirn vorgekommen war. Die Erinnerung daran war äußerst unangenehm, besonders wenn er an das Ende der Geschichte dachte — er hatte die Frau weggeschubst, den Kopf zur Tür herausgesteckt und sich übergeben. Verständlicherweise war sie davon nicht begeistert gewesen, aber Harald war es gelungen, sie am Abend wieder zu beruhigen. Den Rest des Sommers hatte sich Halldór heimlich in die Wohnung schleichen müssen. Die anderen Partygäste hatten die Geschichte großartig gefunden, als sich Halldór schließlich durchgerungen hatte, sie zu erzählen.

Das Handy klingelte. Halldór fischte es aus seiner Tasche und sah Marta Marias Nummer auf dem Display — schon wieder. Diesmal ging er ran. »Ja?«

»Bist du fertig?« Ungeduldig und genervt. »Wir warten auf dich, komm her.«

»Wohin?« Halldór hatte eigentlich überhaupt keine Lust, die anderen jetzt zu treffen. »101 — beeil dich.« Sie legte auf und Halldór beschleunigte seinen Schritt. Es war kalt und er war erschöpft. Schneller als erwartet erreichte er die Eingangstür des Hotels. Halldór klopfte den Schnee ab, der sich unterwegs auf seine Schultern gelegt hatte. Dann fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar und schüttelte es. Schließlich öffnete er die Tür und trat ein. Natürlich saßen die anderen im Raucherbereich — ein paar Kaffeetassen und ein Bierglas standen vor ihnen auf dem Tisch. Halldór hatte auf einmal schreckliche Lust auf ein Bier. Er ging zu ihnen und setzte sich auf einen einzelnen Stuhl, obwohl Marta Maria und Bríet zur Seite gerutscht waren, um ihm zwischen sich auf der Bank Platz zu machen. Er wollte sich jetzt auf keinen Fall zwischen die beiden setzen.

Die Freundinnen versuchten, sich die Kränkung nicht anmerken zu lassen, und Halldór beobachtete, wie sie langsam und unauffällig wieder zusammenrückten, um den leeren Platz zu verdecken. Marta Maria verstand es meisterhaft, Ruhe und Selbstbeherrschung zu bewahren. Wenn sie einmal Gefühle zeigte, dann waren es pure Wut und Verachtung. Verletzter Stolz gehörte nicht zu ihrem Programm. »Warum zum Teufel hast du den Anruf nicht beantwortet?«, fragte sie spitz. »Wir sitzen hier total angespannt rum und warten drauf, dass du dich meldest.«

Halldór wurde wütend. »Was ist denn los mit euch? Ich hab mit diesen Rechtsanwälten geredet. Was hätte ich euch denn am Telefon sagen sollen?« Da keiner ein Wort sagte, wiederholte Halldór seine Frage. »Und? Was hätte ich schon sagen sollen?«

Halldórs Worte prallten an Marta Maria ab. »Du hättest verdammt noch mal die SMS beantworten können. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt.«

»O ja. Klar«, sagte Halldór ironisch. »Das hätte toll gewirkt. Was glaubst du, was ich bin? Ein Kleinkind?«

Brjánn griff ein. »Was ist denn eigentlich passiert — bist du in Ordnung?«, sagte er ruhig und nahm einen Schluck Bier.

Der Anblick reichte. Halldór winkte dem Kellner und bestellte ein großes Bier. Dann wendete er sich wieder den anderen zu. »Es war eigentlich ganz okay. Sie haben ein paar Vermutungen, wissen aber im Grunde nichts.« Halldór klopfte mit den Fingern seiner rechten Hand einen Takt auf der Tischkante, während er mit der linken Hand nach dem Zigarettenpäckchen in seiner Jackentasche suchte. Er fand es nicht. »Ich hab meine Zigaretten vergessen — kann mir jemand eine leihen?«

Bríet schmiss ihm ihr Päckchen zu und Halldór stöhnte innerlich. Es waren typische Mädchenzigaretten, schneeweiß, mit Menthol und zu allem Überfluss unglaublich schlank. Er griff dennoch nach dem Päckchen und zog eine heraus. Marta Maria war sauer — sie rauchte echte Zigaretten, Marlboro. Halldór nahm einen Zug und als er die Zigarette aus dem Mund genommen hatte, betrachtete er die glühende Spitze und schüttelte den Kopf. »Wie kannst du nur diesen Scheiß rauchen?«

»Andere würden sich bedanken«, murmelte Bríet beleidigt.

»Sorry. Ich bin ein bisschen durch den Wind.« Das Bier kam und nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte, stieß Halldór einen tiefen Seufzer aus und ächzte. »Ah, das tut gut.«

»Hast du ihnen was erzählt?«, fragte Marta Maria. Ihre Wut verflüchtigte sich langsam.

Halldór nahm einen weiteren Schluck und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Nee, nichts Wichtiges. Ich hab ihnen natürlich einiges erzählt — sie haben mich mit Fragen gelöchert und ich musste antworten.«

Marta schaute ihn nachdenklich an und nickte dann, offensichtlich zufrieden. »Sicher?«

Halldór zwinkerte ihr versöhnlich zu. »Ganz sicher.«

Marta Maria lächelte. »Respekt.«

»Ist doch klar, oder?«, sagte Halldór lässig und wedelte mit der albernen Zigarette herum. »Schick, was?«

Andri kicherte und schob sein eigenes Päckchen über die Tischplatte zu Halldór. »Was glaubst du, was sie als Nächstes tun? Ob die uns noch mal treffen wollen?«

»Nee, glaub ich nicht«, antwortete Halldór.

»Gut«, sagte Brjánn. »Hoffentlich drehen sie sich im Kreis und geben bald auf.«

Bríet war die Einzige, die keine gute Laune hatte. »Und was ist mit Hugi? Habt ihr ihn schon vergessen?« Sie schaute pikiert von einem zum anderen.

Halldórs Lächeln verschwand. »Nein. Natürlich nicht.« Er nahm noch einen Schluck Bier. Es schmeckte nicht mehr ganz so gut wie vorher.

Marta Maria umfasste Bríets Arm mit festem Griff und Bríet jaulte auf. »Was ist eigentlich los mit dir? Sie werden nicht aufgeben — natürlich werden sie irgendwas rausbekommen. Das Wichtigste ist, dass wir nicht mit reingezogen werden. Warum bist du immer so verdammt pessimistisch?«

»Niemand wird wegen Mordes verhaftet, wenn er ihn nicht begangen hat — Hugi wird freigesprochen, ihr werdet schon sehen«, sagte Andri wichtigtuerisch.

»In welcher Welt lebst du eigentlich?«, fragte Bríet, die trotz des Schmerzes in ihrem Arm nicht klein beigab. Sie traute sich nur selten, Marta Maria zu widersprechen, aber sie war immer noch sauer wegen Halldór. »Es werden ständig Leute verurteilt, obwohl sie unschuldig sind — denk doch nur mal an den Geirfinnur-Prozess in den siebziger Jahren. Na?«

»Hört schon mit diesem Quatsch auf«, sagte Marta Maria, wobei sie Halldór nicht aus den Augen ließ. »Es wird alles gut ausgehen, da könnt ihr sicher sein. Lasst uns was essen gehen. Ich sterbe vor Hunger.«

Sie standen auf und suchten ihre Sachen zusammen. Als die anderen losgingen, um ihre Getränke zu bezahlen, zog Marta Maria Halldór beiseite. »Bist du alles losgeworden? Du weißt schon.«

Halldór wich ihrem Blick aus, aber Marta Maria umfasste sein Kinn und zwang ihn, ihr in die Augen zu schauen. »Du bist doch alles losgeworden, oder?«

Halldór nickte. »Alles weg. Mach dir keine Gedanken.«

»Ich trau mich noch nicht mal, zu Hause einen Joint zu rauchen. Du solltest genauso vorsichtig sein. Wenn diese beiden überall ihre Nasen reinstecken, fällt den Bullen vielleicht das eine oder andere ein und es regnet Durchsuchungsbefehle. Bist du dir ganz sicher, dass du nichts mehr hast?«

Halldór streckte sich und schaute ihr direkt in die Augen. Mit fester Stimme sagte er: »Ich schwöre es. Alles weg.«

Marta Maria lächelte und lockerte ihren Griff. »Komm, lass uns zahlen.«

Halldór schaute ihr nach. Wie seltsam, sie hatte ihm geglaubt. Ausgerechnet Marta, die ihn immer durchschaute, wenn er versuchte zu lügen. Cool.


Dóra versuchte, sich von den üppigen Augenbrauen ihres Gegenübers nicht irritieren zu lassen. Matthias und sie saßen im Büro von þórbjörn Ólafsson, bei dem Harald seine Masterarbeit hatte schreiben wollen. »Vielen Dank, dass Sie uns empfangen haben«, sagte Dóra und lächelte.

»Keine Ursache«, entgegnete þórbjörn. »Wenn Sie sich bedanken möchten, dann am besten bei Gunnar — er hat den Kontakt hergestellt. Und Sie haben das Treffen ja so kurzfristig ermöglicht.« Kurz nachdem Halldór Haralds Wohnung verlassen hatte, hatte þórbjörn angerufen. Dóra und Matthias hatten beschlossen, sofort zu ihm zu fahren. þórbjörn legte den Bleistift beiseite, mit dem er gespielt hatte. »Was möchten Sie denn wissen?«

Dóra ergriff das Wort. »Ich gebe davon aus, dass Gunnar Sie über unsere Verbindung zu Harald aufgeklärt hat?« þórbjörn nickte und Dóra sprach weiter. »Wir würden gern Ihre Meinung über Harald hören. Außerdem können Sie uns vielleicht auch etwas über sein Studium, insbesondere über seine Forschungen, erzählen.«

þórbjörn lachte auf. »Ich kann nicht behaupten, ihn gekannt zu haben. Ich freunde mich normalerweise nicht mit meinen Studenten an. Ich interessiere mich für ihre Studienfortschritte, aber an einem persönlichen Kontakt liegt mir nichts.«

»Aber Sie haben sich doch bestimmt eine Meinung über Harald gebildet?«, fragte Dóra.

»Selbstverständlich. Ich fand ihn in höchstem Grade merkwürdig — und damit meine ich nicht nur sein Äußeres. Ich ärgerte mich jedoch nie über ihn, im Gegensatz zu Gunnar, der Harald nur schwer ertragen konnte. Es machte mir Spaß, mit einem Studenten zu tun zu haben, der sich von den anderen abhob. Zudem war er fleißig und entschlossen. Andere Forderungen stelle ich nicht an meine Studenten.«

Dóra hob die Augenbrauen. »Entschlossen? Laut Gunnar waren Haralds Forschungen nicht sehr zielstrebig.«

þórbjörn schnaubte. »Gunnar ist von der alten Schule. Harald nicht. Gunnar möchte, dass sich Studenten an die eingeschlagene Richtung halten. Harald arbeitete eher so wie ich es tun würde — er fing an, beschäftigte sich aber auch mit den Nebenstraßen, wenn man so sagen darf. So sollte es auch sein. Man weiß nie, wohin es einen führen wird, und es dauert länger. Aber man kann dabei auf allerlei Unerwartetes stoßen.«

»Harald hat das Thema seiner Masterarbeit also nicht geändert, wie Gunnar vermutet?«, fragte Matthias.

»Er war weit davon entfernt«, antwortete þórbjörn. »Gunnar sitzt ständig auf glühenden Kohlen und ist davon überzeugt, dass alles schief geht. Wahrscheinlich fürchtete er, Harald würde sich als ewiger Student bei uns niederlassen. So was hat es schließlich schon gegeben.«

»Wären Sie bereit, uns etwas über Haralds Forschungen zu erzählen?«, fragte Dóra. »Wir untersuchen, ob sein Interesse an Hexerei etwas mit dem Mord zu tun haben könnte.«

Jetzt hob þórbjörn die Augenbrauen. »Meinen Sie das ernst?« Dóra und Matthias bejahten. »Tja, also, das würde mich wirklich überraschen. Die Geschichtswissenschaften sind nicht so aufregend, als dass jemand wegen ihnen einen Mord begehen würde«, sagte er. »Aber wie dem auch sei, Harald wollte die Hexenverfolgungen hier in Island mit denen auf dem europäischen Festland vergleichen. Wie Sie wissen, wurden hierzu­lande, im Gegensatz zu anderen Ländern, vor allem Männer wegen Hexerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Dies war also der Ausgangspunkt seiner Forschungen. Da sich Harald auf dem Gebiet der Inquisition in Europa gut auskannte, vertiefte er sich in isländische Quellen aus der besagten Zeit. Soweit ich es beurteilen kann, hatte er sich bereits einen guten Überblick verschafft, als er ermordet wurde.«

»Und was ist mit den Nebenstraßen?«, fragte Matthias.

þórbjörn überlegte. »Anfangs interessierte er sich brennend für den Bischof Jón Arason und die erste Druckerei, die dieser ins Land gebracht haben soll. Ich habe zunächst nicht genau verstanden, was das mit den Hexenverfolgungen zu tun hatte, habe Harald aber darin bestärkt, weiterzumachen. Er hat sich dann von diesem Thema abgewendet und sich Bischof Brynjólfur Sveinsson in Skálholt gewidmet. Das erschien mir schon plausibler.«

»Stand der Bischof mit den Hexenverfolgungen in Verbindung?«, fragte Dóra.

»Selbstverständlich«, antwortete þórbjörn. »Er galt allgemein als nachgiebig: Es ist überliefert, dass er den Tod einiger Skálholt-Schüler auf dem Scheiterhaufen verhinderte. Bei den Schülern hatte man ein Zauberbuch gefunden. Wenn man genau nachforscht, gerät das Bild von Bischof Brynjólfur allerdings etwas ins Wanken. Beispielsweise wirkte er nicht besänftigend auf seinen Vetter Pastor Páll von Selárdalur ein. Der beschuldigte Männer aufs Erbarmungsloseste der Hexerei. Sieben Männer kamen auf den Scheiterhaufen, weil sie unter Verdacht standen, Krankheiten auf dem Hof von Pastor Páll ausgelöst zu haben.«

»Dieses Zauberbuch — hat sich Harald speziell dafür interessiert?«, fragte Matthias.

þórbjörn schüttelte langsam den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Es wird Skálholt-Schwarte genannt und Brynjólfur hat es vermutlich verschwinden lassen. Er schrieb allerdings die darin enthaltenen achtzig Zaubersprüche nieder, wenn ich mich nicht irre. Harald interessierte sich mehr für Brynjólfurs Bibliothek, in der sich verschiedene Handschriften und Bücher befanden. Die Lebensgeschichte des Bischofs selbst interessierte ihn natürlich auch.«

»Wie kam das?«, fragte Matthias. Dann fügte er entschuldigend hinzu: »Ich weiß leider so gut wie nichts über isländische Geschichte.«

þórbjörn schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. »Kurz gesagt, Brynjólfur hatte sieben Kinder, von denen nur zwei überlebten, Ragnheiður und Halldór«, erklärte er. »Neun Monate nachdem Ragnheiður in Anwesenheit von einigen Priestern einen Eid geschworen hatte, noch Jungfrau zu sein, bekam sie einen unehelichen Sohn. Zu dem Eid war es gekommen, weil man munkelte, sie habe ein Verhältnis mit einem jungen Gehilfen ihres Vaters namens Daði. Ragnheiðurs Sohn wuchs bei den Großeltern auf, denn sie starb, als das Kind etwa ein Jahr alt war. Brynjólfurs Sohn Halldór starb ein paar Jahre später während seines Studiums im Ausland. Brynjólfur widmete sich daraufhin seinem einzigen lebenden Nachkommen, seinem Enkel þórður, der zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt war. Er wurde zum Liebling des alten Mannes. Brynjólfurs Frau starb drei Jahre nachdem der Junge nach Skálholt gezogen war, und zum großen Unheil Brynjólfurs starb þórður im zarten Alter von zwölf Jahren. Brynjólfur blieb also allein zurück — einer der wichtigsten Männer in der Geschichte Islands, ohne Nachkommen und ohne Familie. Harald war fasziniert von der Geschichte des Bischofs und ihrer Deutung. Man hat den Eindruck, es wäre Brynjólfur und seiner Familie besser ergangen, wenn er seiner Tochter in ihrer schwierigen Lage zur Seite gestanden hätte. Ragnheiður hatte nämlich den Spieß umgedreht. Sie hatte in der Kirche die Wahrheit gesagt und sich am selben Abend von Daði verführen lassen, um sich an ihrem Vater zu rächen.«

»Es wundert mich nicht, dass Harald von dieser Geschichte fasziniert war«, meinte Dóra. Er hatte sich wahrscheinlich gut in Ragnheiður hineinversetzen können.

»Wissen Sie, ob Harald neben seinem Studium noch einen anderen Grund hatte, nach Island zu kommen? War er auf der Suche nach irgendwelchen alten Relikten oder nach etwas, das unter historischen Gesichtspunkten wertvoll sein könnte?«, fragte Matthias.

þórbjörn lachte. »Meinen Sie eine Art Schatz? Nein, über so etwas haben wir nie gesprochen. Harald stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden; er war ein fleißiger Student und wir haben gut zusammengearbeitet. Lassen Sie sich von Gunnars Gerede nicht verblenden.«

Dóra beschloss, das Thema zu wechseln und ihn nach dem Meeting zu fragen, das an dem schicksalhaften Abend in der Universität stattgefunden hatte.

»Ja, genau«, sagte þórbjörn. Sein schelmischer Blick verflüchtigte sich. »Die meisten Dozenten der Fakultät waren dabei. Möchten Sie etwas Bestimmtes andeuten?«

»Keinesfalls«, antwortete Dóra wie aus der Pistole geschossen. »Ich frage nur aus der schwachen Hoffnung heraus, dass Sie etwas bemerkt haben könnten, das uns weiterhilft; etwas, das Ihnen möglicherweise entfallen war, als Sie Ihre Aussage gemacht haben.«

»Die Teilnehmer des Meetings werden da keine große Hilfe sein. Wir waren längst nach Hause gegangen, als der Mörder aufgetaucht sein muss, wenn ich die Polizei richtig verstanden habe. Wir haben den Antrag eines Erasmus-Stipendiums in Zusammenarbeit mit einer norwegischen Universität gefeiert. Wir sind keine großen Partylöwen, daher dauern solche Feiern bei uns nicht lange. Wir waren alle um kurz vor zwölf aus dem Haus.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Matthias.

»Absolut — ich bin als Letzter gegangen und hab sogar die Alarmanlage eingeschaltet. Wenn sich noch jemand im Haus befunden hätte, wären die Sirenen losgegangen. Mir ist das selbst schon passiert; es ist nicht gerade witzig.« Er schaute Matthias an, der nicht überzeugt wirkte, und fügte hinzu: »Das Sicherungssystem bestätigt das.«

»Das bezweifle ich nicht«, sage Matthias mit unbewegter Miene.

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