KAPITEL ZEHN Ende und Anfang

RINGSUM SANGEN VÖGEL. Manche Bäume am Rande der Lichtung trugen junges Blattwerk, und die Luft war erfüllt von den frischen, vertrauten Gerüchen des Waldes. Sonnenlicht strömte durch immer breitere Lücken im Astgeflecht über ihnen, und der Frühhimmel war von einem so reinen, leuchtenden Blau, dass Rupert kaum hinsehen konnte.

Hoch über dem Wald kreiste der Drache mühelos in der sanften Morgenbrise, und seine Schuppen sprühten in allen Farben. Rupert spürte, wie die Sonne endgültig die Winterkälte aus seinen Knochen vertrieb. Ein leises Rascheln und Knacken im Unterholz verkündete, dass die ersten Tiere in ihre Nester und Höhlen zurückkehrten. Und doch ragten zwischen dem üppigen grünen und rostroten Laub auch tote Stämme auf, kahl, zerfressen und ausgehöhlt. Für einige, für allzu viele, war der Regenbogen zu spät gekommen.

»Die Hälfte des Waldes ist abgestorben«, sagte Julia.

»Ich dachte, mit dem Sieg über den Dämonenfürsten würde alles wie früher werden.«

Rupert schüttelte den Kopf. »Nicht einmal der Regenbogen kann die Toten zurückbringen, und manche dieser Bäume waren der Finsternis einfach zu lange ausgesetzt. Der Dunkelwald mag verschwunden sein, aber der Forst wird Jahrhunderte brauchen, um sich von seinen Schäden zu erholen.

Das Erbe des Dämonenfürsten wird uns noch lange zu schaffen machen, Julia.«

Die Prinzessin stolperte plötzlich über etwas, das im hohen Gras verborgen lag, und bückte sich, um es aufzuheben.

»Was hast du da?«, wollte Rupert wissen.

»Schwer zu sagen. Sieht wie ein Stück Knochen oder Horn aus.«

»Horn? Lass sehen!« Rupert streckte die Hand aus, doch als Julia ihm ihren Fund reichen wollte, ließ sie ihn fast fallen, weil die eben erst verheilten Finger den Dienst verweigerten. Rupert fing das Horn auf und lächelte Julia mitfühlend an. »Was macht die Hand, Mädchen? Immer noch steif?«

»Und wie!« Julia knetete mit der gesunden Hand an den frischen Narben herum. »Der Regenbogen hat die schlimmsten Schäden beseitigt, aber es wird noch lange dauern, ehe die Finger geschmeidig genug sind, um ein Schwert zu halten.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Rupert und verzog das Gesicht, weil seine eben erst zusammengewachsenen Rippen bei jeder unbedachten Bewegung schmerzten.

»Es tut mir Leid, dass der Regenbogen dein Auge nicht heilen konnte.«

Rupert zuckte vorsichtig mit den Schultern. »Mir auch, Liebling. Aber andererseits muss ich froh sein, dass ich überhaupt noch lebe.« Er musterte das Stück Horn in seiner Hand.

Es war gut einen halben Meter lang und stark geriffelt, doch das einst cremeweiße Elfenbein wirkte ausgeblichen und wies eine Reihe von Sprüngen auf. Rupert nickte düster. »Das habe ich mir gleich gedacht!«

»Was ist das?«

»Das Horn von Sturmwind. Ein Dämon raubte es ihm im Dunkelwald, weißt du noch? Der Dämonenfürst benutzte es, um die Pest zu verbreiten.«

Julia betrachtete das Horn argwöhnisch. »Ist es immer noch gefährlich? Vielleicht sollten wir es vernichten.«

»Der Große Zauberer weiß sicher am besten, was man damit anfängt«, meinte Rupert und schob das Horn in seinen Stiefelschaft. »Ich werde es ihm übergeben, wenn wir wieder auf der Burg sind. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, es dem Einhorn wieder anzupassen.«

»Rupert«, sagte Julia leise, »wir wissen nicht einmal, ob die beiden den letzten Dämonenangriff überlebt haben.«

»Verdammt!«, stieß Rupert hervor. »Ach, verdammt noch mal! Tut mir Leid, Julia. Ich vergesse immer wieder, dass so viele Freunde in so kurzer Zeit den Tod fanden.«

Julia legte einen Arm um Ruperts Schultern, und er zog sie an sich. Eine Weile standen sie so da, genossen den Sonnenschein und atmeten in tiefen Zügen die frische Waldluft ein, ganz dem Morgen hingegeben, damit sie die Schrecken der Nacht vergessen konnten.

»Es ist schwer zu glauben, dass endlich alles vorbei ist«, meinte Rupert.

»Es ist nicht vorbei«, sagte eine leise Stimme. Rupert und Julia fuhren herum und warfen einen Blick auf König Johann, der allein am Rande der Lichtung saß und mit leeren Augen zu Boden starrte. »Der Dämonenfürst ist nicht tot. Der Regenbogen trieb ihn zwar in die Finsternis zurück, aus der er kam, aber da der Astrologe und ich ihn auf die Erde riefen, können nur wir ihn für immer vertreiben. Eines Tages wird der Dämonenfürst zurückkehren. Und wenn es hunderte von Jahren dauert, er wird zurückkehren.«

Rupert und Julia warteten geduldig, aber der König sagte nichts mehr. Während der ganzen Zeit hatte er kein einziges Mal die Stimme erhoben oder sie angeschaut.

»Nun«, meinte Rupert schließlich, »selbst wenn das stimmen sollte, Vater, und der Dämonenfürst irgendwann in ferner Zukunft zurückkehren wird – dann ist es nicht an uns, dieses Problem zu lösen. Wir müssen nur dafür sorgen, dass das Regenbogenschwert nicht verloren geht…«

»Genau«, bekräftigte Julia. »Wir haben das Waldkönigreich gerettet. Das zählt und sonst nichts.« Sie unterbrach sich plötzlich und warf Rupert einen fragenden Blick zu.

»Rupert…«

»Ja?«

»Darf ich dich etwas fragen?«

»Warum denn nicht?«

»Weshalb sagtest vor einiger Zeit, dass der Zauber des Regenbogenschwerts nicht mehr wirke?«

Rupert lächelte verlegen. »Der Drache sagte mir einmal, am Ende des Regenbogens könne mein Herzenswunsch in Erfüllung gehen – obwohl ich ihn nicht unbedingt als solchen erkennen würde. Als ich das erste Mal zum Regenbogen-Lauf ansetzte, wünschte ich mir von ganzem Herzen, dich und meine Freunde vor der Finsternis zu retten. Dieser Wunsch wurde mir erfüllt. Bei meinem zweiten Versuch, das Regenbogenschwert einzusetzen, drunten im Kupferbergwerk, wollte ich nur meine eigene Haut retten. Deshalb wirkte der Zauber nicht. Diesmal dachte ich überhaupt nicht an mich; ich wollte nur dich und die anderen vor dem Dämonenfürsten schützen. Den Erfolg hast du miterlebt. Eigentlich ganz einfach, wenn man ein wenig darüber nachdenkt.«

»Hätte dir das nicht ein wenig früher einfallen können, wenn es so einfach ist?«

»Tut mir Leid, ich hatte in letzter Zeit so viel um die Ohren.«

Sie sahen sich lächelnd an und fuhren dann herum, als unvermittelt ein lang gezogenes, lautes Dröhnen die Morgenstille zerriss und den Gesang der Vögel zum Verstummen brachte. Die Luft flimmerte und teilte sich, und aus einem silbernen Tunnel, der sich in endlose Fernen erstreckte, schwebte der Große Zauberer. Er landete elegant, und der Riss im Kontinuum schloss sich hinter ihm. Rupert und Julia stürmten unter lautem Jubel auf ihn zu und klopften ihm abwechselnd auf den Rücken, bis alle drei erschöpft waren. Dann trat Rupert einen Schritt zurück, und sein Lächeln erstarrte, als er den Zauberer genauer betrachtete. Haare und Schnurrbart des Magiers waren schlohweiß, und er wirkte älter und gebrechlicher als je zuvor.

»Sir Zauberer«, begann Rupert stockend. »Sie sehen… äh…«

»Ja, ich weiß«, entgegnete der Zauberer trocken. »Das kommt davon, wenn man ehrbar und alkoholfrei lebt!«

Rupert musste gegen seinen Willen lachen. »Also schön.

Was geschah auf der Burg, nachdem wir sie verlassen hatten?

Als Letztes sahen wir Dämonenhorden, die sich über die Burgmauer schwangen.«

Der Zauberer zuckte lässig mit den Schultern. »Sie blieben nicht lange genug, um großen Schaden anzurichten. Wir zogen uns alle ins Innere der Burg zurück und stellten Wachen an den Barrikaden auf. Aber ohne die eiserne Faust des Höllenfürsten dauerte es nicht lange, bis die Dämonen in ihr früheres Verhalten zurückfielen und sich wie Bestien ohne Sinn und Verstand benahmen. Sie fielen übereinander her, und die meisten brachten sich gegenseitig um. Mit dem Rest hatten die Wachen leichtes Spiel. Und die wenigen, die fliehen konnten, werden wohl nicht lange überleben, nun da die Finsternis gebannt ist.« Er stockte und sah Rupert forschend an. »Aber wie gelang es Ihnen eigentlich, den Dämonenfürsten zu besiegen?«

»Damit«, entgegnete Rupert schlicht und streckte dem Zauberer sein Schwert entgegen. »Ich fand es am Ende des Regenbogens.«

Der Zauberer sah ihn durchdringend an. »Und warum erfahre ich jetzt erst, dass Sie das Regenbogenschwert besitzen?«

»Wir wissen nicht genau, ob der Dämonenfürst tot ist«, warf Julia hastig ein. »König Johann behauptet, wir hätten ihn lediglich vertrieben.«

Der Große Zauberer runzelte nachdenklich die Stirn. »Bei einem Wesen wie dem Herrn der Finsternis muss man alles in Frage stellen. Da er nie geboren wurde, kann er wohl auch nie richtig sterben. Vielleicht sollte ich mich näher mit diesem Problem befassen.«

Sie schwiegen und betrachteten die Landschaft. Die Farben waren zurückgekehrt, und von überall drang der Gesang der Vögel, das Summen der Insekten und das Rascheln der scheuen Waldtiere auf sie ein.

»Ich sehe zu meiner Freude, dass Sie wieder im Besitz Ihrer magischen Kräfte sind, Sir Zauberer«, sagte Rupert schließlich.

»Ja.« Der Zauberer grinste. »Das war kein schlechter Teleport, was? Nun, da die Wilde Magie ihre Macht verloren hat, habe ich den Rest meiner Fertigkeiten wieder voll im Griff.«

»Wie steht es auf der Burg?«, erkundigte sich Julia. »Gab es viele Verluste?«

»Einige«, berichtete der Große Zauberer. »Vor allem die Verteidiger auf den Wehrgängen fielen den anstürmenden Dämonen zum Opfer. Aber die meisten von uns blieben unversehrt. Als ich nach hierher aufbrach, begann gerade das große Aufräumen.«

»Das kann eine Weile dauern«, meinte Rupert.

»Ach, ich weiß nicht«, widersprach Julia. »Harald wird die Leute schon in Trab halten.«

Rupert musste lachen. Er kannte die Vorliebe seines Bruders, die Arbeit der anderen zu organisieren. Dem Zauberer fielen die Blicke auf, die zwischen Rupert und Julia hin und her gingen, und er grinste breit.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Haralds Hochzeit geplatzt ist, Rupert?«

»Allerdings«, erklärte Rupert mit Nachdruck. »Julia und ich…«

»Ich bin ja nicht blind«, sagte der Zauberer. »Und ich hoffe von ganzem Herzen, dass ihr glücklich werdet.«

»Moment mal«, warf Julia ein. »Werde ich denn überhaupt nicht gefragt?«

»Nein«, sagte Rupert und küsste sie rasch, ehe sie protestieren konnte. Es dauerte ziemlich lange, bis sie sich aus seinen Armen löste.

»Das zahle ich dir heim«, drohte sie und küsste ihn ihrerseits ausgiebig. Der Große Zauberer wartete eine Weile, bis ihm klar wurde, dass er für die beiden nicht mehr existierte, und schlenderte dann zu König Johann hinüber. Lange starrte er wortlos in die Ferne.

»Johann…«

»Ich weiß. Du verlässt uns wieder, stimmt's?«

»Ja«, sagte der Große Zauberer. »Ich bringe dich per Teleport zurück auf die Burg, und dann mache ich mich auf den Weg. Die Magie verschwindet aus der Welt, und meine Jahre holen mich allmählich ein.«

»Selbstmitleid?«, fragte der König.

Der Zauberer lächelte müde. »Nur eine kleine Anwandlung. Im Grunde kann ich mich nicht beklagen. Wenigstens habe ich ein letztes großes Abenteuer erlebt.«

»Ein letztes großes Abenteuer«, wiederholte der König.

»Ja. Das ist kein schlechter Weg, das Leben zu beenden. Ich kehre auch nicht in die Residenz zurück. Du weißt, dass Thomas Grey tot ist?«

»Ja«, sagte der Zauberer. »Ich weiß es.«

»Er hat sich gegen mich gewandt und das Land verraten, und am Ende sagte er, das sei alles meine Schuld. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass er vermutlich Recht hatte. Dass ich Thomas zu sehr vertraute, war nur einer der vielen Fehler, die ich beging. Ich kehre nicht in die Residenz zurück.

Ich wollte ohnehin nie König sein. Die viele Arbeit, die Probleme, die ständige Verantwortung… ich tat mein Bestes, aber irgendwie war es nie genug. Und jetzt benötigt das Waldkönigreich mehr denn je einen starken Herrscher. Es gibt so viel zu tun. Der Wiederaufbau der Städte und Dörfer, das Einbringen und Verteilen der spärlichen Ernte… und die Barone müssen zur Vernunft gebracht werden, damit im Land endlich wieder Ordnung einkehrt. Aber ich schaffe das nicht mehr. Soll ein anderer die Zügel übernehmen… Harald, Rupert – jeder von ihnen würde einen guten König abgeben.

Ich will nur noch allein sein. Vielleicht finde ich hier im Wald ein wenig Frieden, ein wenig Versöhnung. Vielleicht gelingt es mir, irgendwie mit der Erinnerung daran zu leben, was ich getan und was ich nicht getan habe.«

»Johann…«

»Leb wohl, Zauberer. Ich nehme keinen Abschied von Rupert und Julia, weil ich sonst vielleicht nicht mehr den Mut zum Gehen aufbringe. Grüß sie von mir. Ich werde sie nicht Wiedersehen.«

Mit einem Lächeln verließ er die Lichtung und betrat den Wald. Der Zauberer sah ihm ruhig nach, bis er in den dunkelgrünen Schatten verschwunden war. Rupert und Julia bemerkten plötzlich, dass der König nicht mehr da war, und eilten zum Zauberer hinüber.

»Wo ist mein Vater?«, fragte Rupert.

Der Große Zauberer drehte sich um und verneigte sich formell. »Ihr Vater ist tot, Rupert. Der König ist tot. Lang lebe König Rupert vom Waldreich!«

Um drei Uhr morgens lag auf der Burg alles in tiefem Schlaf.

Der Nachthimmel war mit Sternen übersät, und der Vollmond tauchte den verlassenen Burghof in helles Licht. Ein paar erschöpfte Männer patrouillierten auf den Wehrgängen und bewachten das Torhaus, aber im Hof rührte sich nichts. Rupert schlich lautlos die Treppe des Haupteingangs hinunter, überquerte hastig das mondbeschienene Kopfsteinpflaster und verbarg sich in den Schatten des inneren Westwalls. Dicht an das Mauerwerk gepresst, wartete er, bis sich seine Augen an den Lichtwechsel gewöhnt hatten und sein Atem wieder ruhiger ging. Die Wachtposten gingen langsam ihre Runden und hielten hin und wieder an, um in den Wald hinaus zu spähen. Keiner von ihnen kümmerte sich um den Burghof.

Rupert atmete noch einmal tief durch und rückte den schweren Sack, den er auf dem Rücken schleppte, etwas bequemer zurecht. Dann lief er im Schatten des inneren Walls zum alten Pferdestall. Er klopfte in einem bestimmten Rhythmus ans Tor. Ein Flügel schwang einen Spalt breit nach innen und schloss sich hinter ihm.

Julia nahm den Blendschutz von ihrer Laterne. Rauchig gelbes Licht erfüllte den Stall. Zwei gesattelte Pferde warteten geduldig in ihren Boxen, während das Einhorn nervös den Mittelgang entlang spähte. Rupert warf einen raschen Blick auf die Fensterläden, um sich zu vergewissern, dass sie kein Licht durchließen. Dann lehnte er sich erleichtert gegen das Stalltor.

»Du kommst spät!«, flüsterte Julia. »Wo warst du denn so lange?«

»Es gab noch einiges zu erledigen.«

»Zum Beispiel?«

»Ich habe das Regenbogenschwert ins Arsenal gebracht.

Nur für den Fall, dass Vater Recht hatte und der Dämonenfürst eines Tages zurückkehrt.«

Julias Miene entspannte sich. »Gut. Das Zauberschwert nützt ihnen wahrscheinlich mehr als uns. Ich hoffe, du hast dir eine andere Waffe besorgt.«

»Natürlich.«

»Und die Torwachen?«

»Alles Leute, die mir treu ergeben sind. Ach ja, noch eines: Der Drache wartet im Wald auf uns. Nun beruhige dich endlich, Julia, es geht bestimmt alles gut! Bist du fertig?«

»So gut wie. Hast du schon entschieden, wohin wir uns begeben?«

»Nicht so richtig. Zuerst müssen wir aus diesem Tollhaus verschwinden. Der König ist noch keine vierundzwanzig Stunden tot, und schon versammeln sich die Geier! Der Hof ist in jede Menge Parteien aufgesplittert. Je eher ich mich aus dem Staub mache, desto besser.«

»Und wenn sie uns verfolgen?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Rupert achselzuckend. »Ohne mich hat Harald leichtes Spiel. Wenn ich bliebe, müsste er mich wohl ins Exil schicken. Oder umbringen.«

»Wenn ihr euch nicht bald zum Aufbruch entscheidet, stöbert uns hier jemand auf«, zischte das Einhorn. »Und dann lässt Harald euch wahrscheinlich als Pferdediebe hängen.«

»Harald wird uns doch die beiden Gäule gönnen«, widersprach Rupert. »Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass er uns deshalb verfolgen lässt.«

»Und überhaupt – wozu braucht ihr zwei Pferde?«, fragte das Einhorn gekränkt. »Der Zauberer hat mich vor seinem Aufbruch wieder gut in Schuss gebracht. Ich sehe keinen Grund, weshalb Rupert meinen Rücken verschmäht.«

»Äh…« Rupert kam ins Stammeln. »Es gibt einen Grund…«

»Tatsächlich? Und der wäre?«

»Ich kann kein Einhorn mehr reiten«, sagte Rupert verlegen. »Siehst du, Julia und ich…«

»Schon begriffen«, unterbrach ihn das Einhorn. »Ihr beide habt die Nacht durchgemacht, was?«

»Wir möchten dennoch, dass du mit uns kommst«, erklärte Rupert. »Ich hatte versprochen, nach deiner früheren Herde zu suchen, erinnerst du dich noch?«

»Sicher.« Der Tonfall des Einhorns klang barsch. »Ich bin doch nicht vertrottelt. Aber was macht ihr danach – wenn ihr die Herde gefunden habt?«

»Ich weiß noch nicht«, antwortete Rupert. »Warum?«

Das Einhorn warf schnaubend den Kopf hoch. »Wenn ihr etwa glaubt, ich lasse euch einfach so durch die Gegend ziehen, dann habt ihr euch getäuscht. Ohne mich würdet ihr keine zehn Minuten überleben, keiner von euch, das wisst ihr ganz genau. Jemand muss darauf achten, dass ihr nicht in euer Unglück rennt!«

Rupert und Julia lachten und umarmten Sturmwind abwechselnd. Das Laternenlicht spiegelte sich golden in seinem Horn.

»He, Rupert«, sagte Julia plötzlich, »was ist in diesem Sack?«

Rupert grinste. »Der zweite Grund für meine Verspätung.«

Er stellte den schweren Packen ab, stützte ihn gegen einen Schemel und öffnete ihn. Julia keuchte und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Der schäbige alte Ledersack enthielt hunderte von schimmernden Juwelen. Julia zögerte, doch dann ließ sie eine Hand voll der glitzernden Steine durch die Finger rieseln.

»Wo zum Henker hast du diese Klunker her, Rupert? Die müssen ein Vermögen wert sein.«

Rupert lachte. »Sie sind ein Teil des Schatzes, den der Seneschall mit deiner Hilfe im Südflügel entdeckt hat. In der Hektik kam niemand mehr dazu, ihn richtig zu verwahren. Sie schafften das Zeug einfach in eine Vorratskammer und sicherten es mit einem Vorhängeschloss sowie einem einfachen Bann zum Schutz gegen Eindringlinge, der nur von Angehörigen der Königsfamilie gelöst werden konnte. Und da wir keinen einzigen Wachposten entbehren konnten, beließen sie es dabei. Also wartete ich einen günstigen Moment ab, knackte das Schloss und den Zauber und bediente mich. Bis Harald merkt, dass etwas fehlt, sind wir längst über alle Berge.«

Er verschnürte den Sack wieder und stöhnte ein wenig über sein Gewicht, als er ihn auf den Rücken nahm. »Ich betrachte die Steine als mein Erbteil, nun da mein Vater… von uns gegangen ist.«

Julia legte ihm sanft eine Hand auf den Arm. »Wir wissen nicht, ob er tot ist, Rupert. Man hat seine Leiche nirgends gefunden. Und der Zauberer ist ebenfalls verschwunden.«

»Ich kann einfach nicht glauben, dass er fort ist«, sagte Rupert. »So lange ich mich zurückerinnern kann, war mein Vater hier – ein Teil meines Lebens wie das Essen oder Schlafen oder die Pflichten. Wir standen uns nie besonders nahe, aber das war Absicht. Und gerade jetzt, da wir uns besser verstanden, da ich anfing, ihn zu mögen…« Rupert unterbrach sich, senkte den Blick und schluckte. »Er ist tot, Julia. Das spüre ich einfach. Er hätte das Reich niemals aus freien Stücken verlassen. Das konnte er nicht.«

»Aber du kannst es«, sagte Julia. »Dich hält nichts mehr hier zurück.«

»Du hast Recht.« Rupert hob den Kopf und sah sie an. »Es wird höchste Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.«

»Eine Frage noch«, hielt ihn Julia zurück. »Angenommen, Harald schickt uns nicht die halbe Armee hinterher, um seine Juwelen zurückzuholen – hast du dir schon überlegt, wovon wir in Zukunft leben sollen?«

»Hm, eigentlich nicht«, gestand Rupert. »Bisher musste ich mir nie meinen Lebensunterhalt verdienen. Die Edelsteine müssten eine Weile reichen.«

»Ja.« Julia nickte. »Wir könnten eine Kneipe aufmachen.«

Rupert schüttelte den Kopf. »Elend später Dienstschluss.«

»Und wie wäre es mit einem Bauernhof?«

»Klingt irgendwie nach Schwerarbeit.«

»Was schlägst du dann vor?«

Rupert zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vorzugsweise aber etwas Friedfertiges, weil ich es satt habe, das Schwert zu schwingen.«

»Einverstanden«, sagte Julia. »Zumindest so lange, bis ich meine Schwerthand wieder gebrauchen kann.«

»Komm jetzt«, meinte Rupert. »Ich fühle mich erst sicher, wenn ein paar Meilen zwischen uns und der Residenz liegen.«

»Rupert«, sagte Julia, »du musst das Land nicht verlassen.

Du könntest bleiben und dich zum König krönen lassen. Ein Großteil der Untertanen steht hinter dir, nach allem, was du für das Reich getan hast.«

»Ich will kein König sein«, entgegnete Rupert schlicht.

»Ich tauge nicht für dieses Amt. Außerdem wird es auch ohne einen Bürgerkrieg verdammt schwierig sein, die Monarchie wieder aufzubauen. Ich habe mein Leben nicht aufs Spiel gesetzt, um mitanzusehen, wie das Waldkönigreich endgültig zerstört wird. Nein, Julia! Wenn ich fortgehe, ist das der beste Dienst, den ich dem Land erweisen kann. Meine letzte Pflicht. Danach bin ich endlich frei.«

»Und es stört dich nicht, dass Harald den Thron übernimmt?«

»Ganz und gar nicht. Trotz seiner Schwächen – und davon hat er mehr als genug – wird Harald ein guter König sein.

Ganz bestimmt ein besserer König, als ich es je sein könnte.«

»Ich bin ganz deiner Meinung«, sagte Harald.

Rupert und Julia fuhren herum und entdeckten Harald, der lässig an der Stalltür lehnte. »Es wäre besser gewesen, das Tor zu verriegeln, Rupert«, fuhr der Kronprinz ruhig fort.

»Du wirst leichtsinnig, mein Lieber.«

»Versuch ja nicht, uns aufzuhalten, Harald«, sagte Rupert.

»Ich denke nicht im Traum daran, dich aufzuhalten, Bruderherz«, entgegnete Harald. »Wie du selbst so schön erkannt hast, würde deine Anwesenheit im Reich nur zu Problemen führen. Anders sieht das mit Prinzessin Julia aus.«

»Ach ja?«, fragte Julia.

»Du gehst nicht, Julia«, erklärte Harald. »Du bleibst hier und wirst meine Königin!«

»Ich denke nicht daran«, sagte Julia. »Dieser Ehekontrakt wurde ohne meine Einwilligung geschlossen. Für mich ist er deshalb so gut wie ungültig. Außerdem wird mein Vater kaum auf die Einhaltung des Vertrags pochen. Da die Schäden, die der Dunkelwald im Hügelland angerichtet hat, vermutlich ebenso schwer sind wie hier, hat er vermutlich andere Sorgen als eine Invasion ins Waldkönigreich. Und falls es dir um ein politisches Bündnis geht – ich habe jede Menge Schwestern…«

»Die können mir gestohlen bleiben«, entgegnete Harald.

»Ich will, was mir zusteht. Ich will dich.«

»Harald«, sagte Julia energisch, »schlag dir das aus dem Kopf! Ich würde dich selbst dann nicht heiraten, wenn die Alternative ein Kloster wäre. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Harald blieb gelassen. »Ich verstehe dich nicht. Nach allem, was zwischen uns war… Hast du Rupert in dieser Hinsicht reinen Wein eingeschenkt?«

»Das musste sie nicht tun«, meinte Rupert. »Ich war noch keine Stunde daheim, als mir deine Leute mehr oder weniger zartfühlend hinterbrachten, dass sie in meiner Abwesenheit mit dir geschlafen hat. Und weißt du was, Harald? Das ist mir verdammt egal! Sie dachte, ich sei tot, und du warst schon immer ein Charmeur. Nein, Harald. Was zählt, ist die Tatsache, dass sie sich am Ende doch für mich entschied, weil sie mich genauso liebt wie ich sie.«

»Genau«, bekräftigte Julia und trat neben Rupert. »Du bist endgültig aus dem Rennen, Harald.«

»Wir verlassen jetzt die Burg«, sagte Rupert. »Gib den Weg frei, Bruder!«

»Eher lasse ich euch beide hängen!«

Er griff nach seinem Schwert, und Rupert versetzte ihm einen Kinnhaken. Harald geriet aus dem Gleichgewicht, taumelte gegen die Stalltür, und Rupert setzte mit einem Magenschwinger nach. Der Kronprinz klappte zusammen wie ein Taschenmesser, worauf Julia ihm zur Sicherheit noch einen Handkantenschlag ins Genick mitgab. Harald stürzte zu Boden und rührte sich nicht mehr. Rupert kniete neben ihm nieder, vergewisserte sich, dass sein Puls regelmäßig ging, und richtete sich grinsend wieder auf.

»Das wird er noch eine Weile spüren.« In seiner Stimme schwang Genugtuung mit. »Auf diesen Moment habe ich lange gewartet.«

»Ich auch«, sagte Julia. »Ich auch.«

Sie reichten einander feierlich die Hand.

»Ich störe nur ungern«, meinte das Einhorn trocken, »aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass Harald allein hier aufgekreuzt ist. Wollt ihr nicht lieber nachsehen, ob draußen ein paar Wachleute auf euch warten?«

Rupert und Julia wechselten einen Blick. Dann huschte Rupert zur geschlossenen Stalltür, um nach draußen zu horchen, während Julia die Laterne abdunkelte. Einen Moment lang waren nur das unruhige Scharren der Pferde und das Raspeln von Stahl auf Leder zu hören, als Rupert und Julia ihre Schwerter zogen.

»Hörst du etwas?«, flüsterte Julia.

»Nichts.«

»Ich will jetzt endlich weg von hier, Rupert!«

»Ich auch. Fertig?«

»Fertig.«

Rupert zog die Stalltür auf und stürmte auf den mondbe­

schienenen Hof hinaus, dicht gefolgt von Julia. Vor dem Stall durchsuchten ein Dutzend Kobolde die Taschen von einem halben Dutzend bewusstlosen Wachsoldaten nach Beute. Der kleinste Kobold schaute erschrocken auf und grinste breit, als er Rupert erkannte.

»Hallo, Prinzchen! Wie geht es immer?«

»Bei deinem Anblick sehr viel besser.« Rupert schob das Schwert ein. »Aber sollten wir die Leute da nicht besser in eine dunkle Ecke schaffen, wo sie weniger auffallen?«

»Eins nach dem anderen«, meinte der kleinste Kobold und zerrte an einem widerspenstigen Siegelring. »Die Einzigen, die uns entdecken könnten, sind die Männer auf den Wehrgängen, und ich habe ein paar von meinen Jungs damit beauftragt, sie zu beschäftigen.«

»Und was habt ihr mitten in der Nacht hier draußen gesucht?«, erkundigte sich Julia, die immer noch ihr Schwert fest umklammert hielt. Sie ließ ihre Blicke argwöhnisch über den Hof schweifen und starrte einen Kobold, der ihr zu nahe kam, drohend an. Der kleine Krieger zog sich hastig zurück.

Der kleinste Kobold betrachtete triumphierend den Siegelring, der nun an seinem Daumen prangte, und wandte sich dann ein wenig verlegen an Rupert. »Also, um ehrlich zu sein, ihr seid nicht die Einzigen, die einen Mondschein-Rückzug geplant haben. Wir brauchten nicht viel Weitblick, um uns auszumalen, dass wir nach Beendigung der Schlacht hier so erwünscht wie eine Tollwut-Epidemie wären. Deshalb beschlossen wir, unsere Familien zu versammeln, ein paar nette Kleinigkeiten mitzunehmen und uns aus dem Staub zu machen. Es gibt für uns wirklich keinen Grund, noch länger hier zu bleiben. Du warst der Einzige am Hof, der sich je Zeit für uns nahm. Und nun, da dein Bruder den Thron besteigen wird… Jedenfalls sahen wir, dass die Sache dumm für dich ausgehen konnte, und beschlossen, dir zu helfen. Schon der alten Zeiten wegen.«

»Vielen Dank«, sagte Rupert. »Wohin wollt ihr überhaupt?«

»Zurück in den Wald. Städte und Dörfer sind nicht unser Ding. Zu viele Mauern machen uns nervös. Außerdem habe ich ein paar großartige neue Strategien für Überfälle auf wehrlose Reisende entwickelt. Schuster, bleib bei deinen Leisten, sage ich immer.«

»Na, dann viel Glück!« Rupert streckte die Hand aus. Der kleinste Kobold stellte sich auf die Zehenspitzen und schüttelte sie kräftig.

»Dasselbe für dich, Prinzchen! Du bist schwer in Ordnung, für einen Menschen, meine ich.«

Er pfiff die anderen Kobolde herbei und wies sie an, die bewusstlosen Wachen von der Stalltür weg in den Schatten des inneren Walls zu schleifen. Sekunden später war der Platz vor dem alten Pferdestall leer. Der kleinste Kobold salutierte zackig, warf Julia eine Kusshand zu und verschwand ebenfalls in den Schatten.

»Verschwinden wir endlich«, meinte Julia. »Hier geht es ja zu wie an einem Markttag.«

Rupert nickte lachend, und gemeinsam eilten sie in den Stall zurück. Julia führte die Pferde auf den Hof, während Rupert seinen Bruder gründlich fesselte und knebelte. Anschließend warf er ihn in eine dunkle Ecke des Stalls, die rein zufällig besonders schmutzig war, winkte das Einhorn zu sich und folgte Julia ins Freie. Obwohl sie die Hufe der Tiere mit Sackleinen umwickelt hatten, um den Lärm zu dämpfen, fühlte sich Rupert im hellen Mondlicht wie auf dem Präsentierteller. Er spähte umher, nahm die Zügel seines Pferdes und führte es langsam über den Hof zum Bergfried. Gleich dahinter kam Julia mit ihrem Pferd, während das Einhorn die Nachhut bildete. Selbst das leiseste Geräusch wirkte in der Stille unnatürlich laut, und Rupert hoffte von ganzem Herzen, dass die Männer auf den Wehrgängen noch von den Kobolden abgelenkt wurden. Julia schloss zu ihm auf, als sie sich dem Bergfried näherten. Vier Wachen standen mit erhobenen Piken vor dem geschlossenen Tor.

»Sind das deine Leute, Rupert?«, fragte Julia leise.

»Ja.«

»Hältst du sie wirklich für zuverlässig?«

»Und ob! Sie sind mit mir aus dem Dunkelwald zurückgekehrt. Ihnen könnten wir unser Leben anvertrauen.«

»Das tun wir bereits«, bemerkte das Einhorn spitz.

Die Wachleute nickten Rupert ehrerbietig zu und senkten ihre Piken.

»Wir dachten schon, Ihnen sei etwas zugestoßen, Sire«, sagte Bob Hawke.

»Ich hatte noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen«, entgegnete Rupert. »Hier alles in Ordnung?«

»Bis jetzt schon. Sie haben alles, was Sie brauchen?«

»In etwa.«

»Dann kommen Sie, bevor der Wachoffizier seine Runde macht!«

Die vier Männer schoben die schweren Eisenriegel zurück und öffneten die schweren Eichenflügel. Das alte Holz war angesengt und an manchen Stellen zersplittert, aber das Tor hatte dem Ansturm der Dämonen standgehalten. Die Wachen kamen zurück, und Rupert reichte jedem von ihnen die Hand.

»Viel Glück, Sire«, sagte Hawke.

»Danke, das werden wir brauchen«, erwiderte Rupert.

»Mein Bruder nimmt übrigens eine kleine Auszeit drüben im alten Stall. Wenn ihr später mal nach ihm sehen könntet…«

»Gern«, sagte Hawke. »Aber das eilt nicht, oder?«

»Nein.« Rupert sah ihn besorgt an. »Ich hoffe, ihr bekommt keine Schwierigkeiten, weil ihr uns passieren lasst.«

»Das glaube ich kaum.« Hawke grinste breit. »Hier geht alles so drunter und drüber, dass keiner so recht weiß, wo er Dienst tun soll. Das gilt insbesondere für die Wachen.«

»Hört mal«, schlug Rupert vor, »ich nehme euch gern mit, wenn ihr wollt.«

»Nett von Ihnen«, sagte Hawke höflich, »aber wir bleiben lieber hier. Wenn der neue König das Reich wieder aufbauen will, wird er alle Leute brauchen, die mit einer Waffe umgehen können. Und das bedeutet Beförderungen und mehr Sold für alte Hasen wie uns. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass wir jetzt Grundbesitzer sind. Sie selbst hatten uns das Land versprochen, und König Johann unterzeichnete die Schenkungsurkunden, bevor er in die letzte Schlacht zog.

Wer weiß, vielleicht werden unsere Nachkommen mal Gutsbesitzer oder gar Barone.«

»Das brächte das Königreich mal auf Zack«, meinte Rupert, und die Männer brachen in Gelächter aus.

Rupert und Julia schwangen sich auf die Pferde und ritten durch den Bergfried, dicht gefolgt von Sturmwind. Die Tore schlossen sich langsam hinter ihnen, nachdem sie das hochgezogene Fallgitter passiert hatten und auf die Zugbrücke ritten. Das Eis des Burggrabens war geschmolzen, aber das Monster ließ sich nirgends blicken. Rupert drängte zur Eile, und schon bald hatten sie die Bäume am Rand der Lichtung erreicht. Hinter ihnen wurde lautlos die Zugbrücke nach oben geklappt. Ein Glück, dass mir noch einf iel, die Rollen schmieren zu lassen, dachte Rupert. Gewöhnlich knirschen die verdammten Dinger so laut, dass die ganze Burg davon wach wird. Ihm kam der Gedanke, dass dies wohl der letzte Befehl war, den er erteilt hatte. Er wusste nicht recht, ob er das bedauern oder begrüßen sollte, aber dann überwog die Erleichterung. An der Spitze des kleinen Zuges drang Rupert in den Wald ein, bis zu einer Stelle, die man von der Burg aus nicht mehr sehen konnte. Dort zügelte er sein Pferd. Julia und das Einhorn hielten ebenfalls an.

»Drache?«, rief Rupert leise. »Wo bist du?«

»Hier.« Der Koloss richtete sich so unvermittelt hinter den Bäumen zu Ruperts Linken auf, dass die Pferde scheuten und sich erst nach langem Zureden wieder beruhigen ließen. Julia warf dem Drachen einen wütenden Blick zu.

»Entschuldigung«, murmelte der Drache und kam vorsichtig näher.

»Was immer du vorhast, verkneif dir ein Lächeln!«, warnte Rupert, nachdem sein Pferd ihm endlich wieder gehorchte.

»Ich glaube nicht, dass sie das jetzt schon verkraften. Bist du reisefertig?«

»Natürlich, Rupert. Aber könnten wir vielleicht einen kurzen Abstecher zum Drachenfels machen und meine Schmetterlingssammlung holen? Ich habe hier im Wald ein paar Prachtexemplare entdeckt, die ich meiner Sammlung gern einverleiben würde.«

»Klar«, meinte Julia. »Warum nicht?«

»Großartig«, sagte der Drache. »Wisst ihr, ich freue mich richtig auf diese Reise, egal, wohin sie führt. Ihr beide seid die aufregendsten Menschen, dich ich seit Jahrhunderten kennen gelernt habe. Immer da, wo sich was rührt. Mit euch wird das Leben bestimmt nicht langweilig.«

Rupert spähte mit Kennerblick in den Nachthimmel. »Der Morgen zieht bald herauf. Da vorn, irgendwo jenseits der Grenze, gibt es Länder, von denen das Waldkönigreich keine Ahnung hat. Seid ihr bereit für das große Abenteuer?«

»Worauf warten wir noch?«, fragte Julia.

Sie ritten den staubigen Pfad entlang, der tiefer in den Wald hineinführte, ließen die Wirklichkeit hinter sich und begaben sich ins Reich der Legenden. Und was immer ihnen unterwegs begegnete, sie meisterten es gemeinsam, Rupert, Julia, der Drache und das Einhorn. Helden allesamt.

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