KAPITEL VIER Verbündete

PRINZESSIN JULIA WANDERTE ungeduldig in dem engen Vorzimmer des Thronsaals auf und ab. Das Warten zerrte an ihrem Gemüt. König Johann hatte sie vor einer halben Stunde holen lassen, aber nun blieb das Portal fest verschlossen, obwohl sie mehrmals laut gerufen und gegen die Türflügel getreten hatte. Julia warf sich in einen Sessel und bedachte die Welt mit finsteren Blicken. Sie war zu Tode gelangweilt.

Es gab niemanden, mit dem sie reden konnte, absolut nichts zu tun, und da man sämtliche Porträts abgehängt hatte, konnte sie sich die Zeit nicht einmal mit Zielübungen totschlagen.

Julia seufzte angewidert, verschränkte die Arme und wünschte Rupert die Pest und die Hölle an den Hals, weil er allein losgeritten war und sie hier zurückgelassen hatte.

Er war jetzt seit knapp drei Monaten fort, und Julia vermisste ihn stärker, als sie sich eingestehen wollte. Sie hatte ihr Bestes versucht, um sich in das Leben am Hof und die feine Gesellschaft einzugewöhnen, aber wie so oft zuvor war ihr Bestes bei weitem nicht gut genug. Ihre Angewohnheit, jeden aus dem Hemd zu stoßen, der es wagte, sie zweimal zu beleidigen, hatte ihr einen gewissen widerwilligen Respekt verschafft, aber kaum Freunde beschert. Die Damen ihres Alters und Standes waren anfangs durchaus bemüht gewesen, sie in ihrem Kreis aufzunehmen, aber sie hatten herzlich wenig mit der jungen Prinzessin gemeinsam. Ihr Zeitvertreib beschränkte sich auf Klatsch, Mode und die aussichtsreichsten Methoden, sich einen reichen Gemahl zu schnappen, während Julia Romanzen und Hofintrigen schnurzegal und modische Schuhe ein Gräuel waren, weil sie ständig drückten.

Außerdem drohte sie auszuflippen, wenn jemand ihre bevorstehende Hochzeit mit Prinz Harald auch nur mit einem Wort erwähnte. Viel lieber ging sie reiten und jagen oder übte sich im Schwertkampf, in den Augen der Hofschickeria alles mehr oder weniger skandalträchtige Beschäftigungen. Das sei nicht ladylike, hieß es, worauf Julia eine extrem drastische Antwort gab und sämtliche junge Damen plötzlich zwingende Gründe erfanden, um sich zurückzuziehen.

Danach war Julia so ziemlich auf sich allein gestellt.

Anfangs verbrachte sie eine Menge Zeit damit, die Burg zu erforschen. Sie entdeckte rasch, dass dieselbe Tür nicht unbedingt immer in denselben Raum führte; dass es Ein- und Ausgänge gab und längst nicht alle Türen beides zugleich waren; und dass manche Korridore da endeten, wo sie begonnen hatten, wenn man nicht genau aufpasste. Julia fand das alles ungemein spannend, aber zu ihrem Leidwesen verlief sie sich des öfteren, und nachdem König Johann sie das vierte Mal nur mit Hilfe eines Suchtrupps aufgestöbert hatte, musste sie versprechen, sich nicht mehr ohne Führer von den Hauptkorridoren zu entfernen. Und damit war die Sache praktisch gelaufen.

Wie ihr Vorgesetzter, der Seneschall, der sich um das königliche Hauswesen kümmerte, besaßen die Führer einen geradezu mystischen Orientierungssinn. Das hieß im Klartext, dass sie sich erstens nie verirrten und dass sie zweitens ganz genau wussten, wo sich jeder beliebige Raum zu jeder beliebigen Zeit befand. Auf einer Burg, deren Himmelsrichtungen davon abhingen, welcher Wochentag gerade war, erfreuten sich solche hoch talentierten Leute natürlich einer enormen Wertschätzung, was wiederum zur Folge hatte, dass sie selten zur Verfügung standen, wenn man sie dringend brauchte.

Julia gab zögernd ihre Streifzüge auf und vertrieb sich die Zeit wieder damit, die Angehörigen der königlichen Leibgarde zum Duell zu fordern.

Daraufhin stellte der König eine Anstandsdame für sie ab.

Julia fand rasch heraus, dass sich die reizende ältere Dame mit den grauen Löckchen am einfachsten abschütteln ließ, wenn man sie ständig auf Trab hielt. Nach drei Tagen, an denen sie sich die Füße wund gelaufen hatte, um Julia mehr oder weniger auf den Fersen zu bleiben, erklärte die würdige Matrone dem König rundheraus, die junge Prinzessin brauche keine Anstandsdame, da es keinen Mann im ganzen Schloss gebe, der ihr folgen könne.

Was nicht hieß, dass es keiner versuchte. Der Hauptbewerber um ihre Gunst war natürlich Harald, der sich einzubilden schien, dass der vor langer Zeit geschlossene Ehekontrakt ihm bereits jetzt gewisse Rechte auf ihre Person, wenn schon nicht ihre Zuneigung gewährte. Ein paar kräftige linke Haken lehrten ihn, auf Distanz zu bleiben, und bewirkten Wunder für seine Reflexe, aber offenbar betrachtete er das Ganze als Teil des alten Spiels Was-sich-neckt-das-liebt-sich und bedrängte sie weiterhin. Julia vermutete, dass sie sich geschmeichelt fühlen sollte, aber dem war nicht so. Harald konnte durchaus charmant sein, wenn er sich anstrengte; Julia allerdings ließ sich weder von seinem Muskelgeprotze noch von plumpen Andeutungen über seinen Wohlstand und seine künftige Stellung als Herrscher des Waldkönigreichs beeindrucken.

Statt dessen gab sie ihm durch zarte Winke – einen gelegentlichen Tritt oder den Versuch, ihn über die Brustwehr zu schubsen – zu verstehen, was sie für ihn empfand. Zu ihrem Leidwesen kam die Botschaft nicht so recht bei ihm an. Julia mied den Kronprinzen, so gut sie konnte, und die meiste Zeit herrschte zwischen ihnen eine Art Waffenstillstand – mit dem stillschweigenden Einverständnis, niemals das Wort Hochzeit auszusprechen.

Aber das änderte nichts daran, dass sie sich langweilte und sogar ein wenig einsam fühlte. Die Hofdamen redeten nicht mit ihr, die Höflinge sahen betont an ihr vorbei, und die Gardesoldaten wollten sich nicht mehr mit ihr duellieren, weil es blöd aussah, wenn sie gegen eine Frau verloren. Als König Johann sie zur Audienz zitierte, ging sie der Abwechslung halber hin.

Julia warf einen finsteren Blick auf die verschlossenen Türen des Thronsaals, und ihre Hand zuckte in Richtung Schwertheft. Ihre Miene verdüsterte sich noch mehr, als sie ins Leere griff. Ohne das Schwert an ihrer Hüfte fühlte sie sich immer noch nackt, aber der König hatte ihr ausdrücklich verboten, die Waffe im Schloss zu tragen, und sie war es leid, ständig mit ihm zu streiten. Deshalb lag das Schwert, das Rupert ihr im Dunkelwald gegeben hatte, nun wohl verwahrt in ihrem Schlafgemach, unbenutzt bis auf die wenigen Stunden, wenn sie draußen im Hof übte. Julia seufzte tief. Eigentlich brauchte sie das Schwert gar nicht. Sie konnte sich auch ohne Waffe ganz gut verteidigen. Und für Notfälle hatte sie immer noch ihren Dolch im Stiefelschaft.

Julia lümmelte in ihrem Plüschsessel und sah sich missmutig im Vorzimmer um. Sie war versucht, einfach aufzustehen und zu gehen, aber die Neugier hielt sie fest. König Johann musste einen guten Grund haben, wenn er ihre Anwesenheit bei Hofe verlangte, und Julia wurde das unbehagliche Gefühl nicht los, dass ihr einiges an Ärger bevorstand, sobald sie erfuhr, worum es ging. Also biss sie die Zähne zusammen und blieb. Ein boshaftes Lächeln glitt über ihre Züge, als sie das verschlossene Portal betrachtete. Die Schreiner hatten ihr Bestes gegeben, doch obwohl die Türflügel wieder einigermaßen gerade in ihren Angeln hingen, war es nicht gelungen, die tiefen Schrunden und Schrammen zu beseitigen, welche die Klauen des Drachen in den Eichenbohlen hinterlassen hatten.

Julia runzelte die Stirn, während sie den auf- und abschwellenden Stimmen jenseits des Portals lauschte. Die Höflinge hatten sich bereits bei ihrer Ankunft heftige Wortgefechte geliefert, und allem Anschein nach ging der Streit munter weiter. Die Debatte war gerade laut genug, um ihre Neugier zu wecken, aber zu leise, als dass sie etwas verstehen konnte, und Julia kam zu dem Schluss, dass es nun reichte.

Sie sprang auf, ließ die Blicke durch das spärlich möblierte Vorzimmer schweifen und lächelte boshaft, als ihr ein verwerflicher Einfall durch den Kopf schoss. Dieses Hofgelichter würde sie in Zukunft nicht mehr warten lassen! Sie musterte einen Moment lang die Wandbehänge, riss den scheußlichsten herunter und stopfte ihn in den schmalen Spalt zwischen Schwelle und Portal. Dann holte sie eine der Fackeln aus ihrem Halter, kniete nieder und zündete den Gobelin an mehreren Stellen gleichzeitig an.

Das Ding brannte gut, unter Entwicklung prächtiger Qualmwolken. Julia schob die Fackel wieder in den Halter und harrte ungeduldig der Dinge, die da kommen mussten.

Eine Zeit lang zuckten und knisterten die Flammen unbemerkt vor sich hin, und Julia überlegte schon, ob sie mit einer kleinen Öllampe nachhelfen solle, als das Stimmengewirr jenseits des Portals plötzlich verstummte. Sekunden später zerrissen gellende Rufe die Stille. Julia verstand »Feuer!

Feuer!« und spürte die Panik, die sich hinter den Eichenbohlen ausbreitete – Fluchen, Geschrei und kopfloses Gerenne.

Die Türen flogen auf und gaben den Blick auf Harald frei.

Der nickte Julia zu und goss einen Krug Tafelwein über den brennenden Wandbehang, der die Flammen sofort erstickte.

»He, Julia«, sagte er lässig. »Wir hatten Sie schon erwartet.«

Sie schob sich an ihm vorbei. Er zwickte sie grinsend ins Hinterteil und wich erschrocken zur Seite, als ihr Dolch dicht an seinem Ohr vorbeipfiff.

»Meterweit daneben!«, spöttelte er, hielt aber einen Sicherheitsabstand ein, während er sie durch die Schar der aufgeregten Höflinge führte. »Heißt das, dass Sie meinem Zauber allmählich erliegen?«

»Nein«, entgegnete Julia. »Es heißt, dass ich wieder mehr üben muss.«

Harald lachte und geleitete sie zum Thron. König Johann streifte sie mit einem müden Blick.

»Prinzessin Julia, warum können Sie nicht anklopfen wie jeder andere Mensch?«

»Man hat mich fast eine Stunde warten lassen!«, fauchte Julia.

»Ich muss mich schließlich noch um andere Probleme kümmern als um Sie.«

»Na schön, dann komme ich eben wieder, wenn Sie mit diesen anderen Dingen fertig sind.«

Sie wandte sich zum Gehen und sah, dass ihr ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Männer der Leibgarde den Weg versperrte.

»Prinzessin Julia«, sagte der König ruhig, »Ihr Benehmen lässt sehr zu wünschen übrig.«

»Ihr Pech«, meinte Julia. Sie bedachte die Wachen mit einem finsteren Blick und drehte sich dann zögernd zum Thron um. »Also gut – worum geht es?«

»Im Moment bitte ich Sie, sich ruhig zu verhalten, bis ich die übrigen Punkte der Tagesordnung erledigt habe. Harald kann Ihnen Gesellschaft leisten.«

Julia schniefte verächtlich, raffte ihren knöchellangen Rock und setzte sich auf die unterste der Stufen, die zum Thronpodest hinaufführten. Der Marmor war trotz des dicken Teppichs eiskalt, aber sie wollte verdammt sein, wenn sie hier dämlich im Saal herumstand, bis der König geruhte, mit ihr zu sprechen. Es war eine Sache des Prinzips. Harald kam und nahm in einer Armlänge Abstand neben ihr Platz. Julia lächelte dünn, zog den Dolch aus ihrem Stiefel und ritzte Tic-Tac-Toe-Linien in das Teppichstück zwischen ihnen. Harald grinste, zog ebenfalls einen Dolch aus dem Stiefel und schnitt ein Kreuz in das mittlere Quadrat. König Johann tat, als hätte er nichts gesehen.

Er schloss einen Moment lang die Augen und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder den drei Männern zu, die mehr oder weniger ungeduldig vor seinem Thron standen. Mit Sir Blays hatte er bereits früher Verhandlungen geführt, doch die beiden anderen Landgrafen kannte er nicht. Das Trio trat als Gruppe auf, ein Zeichen dafür, dass sich die Barone endlich auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt hatten; aus den lauernden Blicken, mit denen die Männer einander unentwegt beobachteten, ließ sich allerdings der Schluss ableiten, dass zwischen ihnen bestenfalls eine brüchige Allianz bestand.

König Johann lehnte sich mit einem Lächeln in seine Kissen zurück. Säe Zwietracht und siege. Sorge dafür, dass sie sich in die Haare geraten, dann ist es mit den Gemeinsamkeiten bald vorbei!

Er nahm sich Zeit, um die drei Landgrafen gründlich zu studieren. Sie sollten ja nicht glauben, dass sie ihn aus der Fassung bringen konnten. Sir Blays stand in der Mitte, ein gedrungener Mann mit kurz geschorenem grauem Haar und tief liegenden scharfen Augen. Er sprach mit leiser, besonnener Stimme und spielte gern die Rolle des höflichen, rücksichtsvollen Zuhörers, doch damit täuschte er bestenfalls Leute, die ihm zum ersten Mal begegneten. König Johann dagegen kannte ihn seit fast zwanzig Jahren.

Der muskulöse Hüne rechts von ihm, der seine Ungeduld kaum zu bezähmen vermochte, musste Sir Bedivere sein.

Dem Vernehmen nach hatte der Mann ein Dutzend Gegner im Duell getötet. Es ging das Gerücht, dass er die meisten dieser Duelle aus reiner Blutgier provoziert hatte, aber niemand hätte gewagt, ihm das ins Gesicht zu sagen. Er war jung und hatte etwas zügellos Wildes an sich, das auf Frauen sicher anziehend wirkte; König Johann bemerkte aber auch die Spuren der Schwäche und Ausschweifung in Sir Bediveres verquollenen Augen und der schmollend vorgeschobenen Unterlippe. Eines Tages würde er vielleicht den Champion ersetzen. Wenn er lange genug lebte…

Der stille, schüchterne Mann zur Linken von Sir Blays war Sir Guillam, ein Typ von so durchschnittlichem Äußeren, dass man geneigt war, ihn zu übersehen. Auf dem langen, schlaksigen Körper saß ein runder Kopf mit einem nichtssagenden Kindergesicht. Das dünne mausbraune Haar trug er streng gescheitelt, und die hellgrauen Augen blinzelten unruhig, während er unter dem Blick des Herrschers unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. König Johann hielt die Hand vor das Gesicht, um sein Lächeln zu verbergen. Sir Guillam war der Typ, der jede Weisung bis aufs i-Tüpfelchen befolgte, hauptsächlich deshalb, weil er nicht die Klugheit besaß, eigenständig zu handeln. Solche Gesandte konnte man leicht aus dem Gleichgewicht bringen und noch leichter beeinflussen. Und dann trat Sir Bedivere unvermittelt vor und verneigte sich tief in Richtung Thron.

»Majestät, wenn ich Ihre Zeit für einen Moment in Anspruch nehmen darf…«

»Aber natürlich, Sir Bedivere«, sagte der König liebenswürdig. »Sie sind der neue Landgraf der Tiefenbach-Domäne?«

»Aye, Sire. Ich spreche für die Kupferbarone.«

»Und was wollen die Herren diesmal von mir?«

»Nur das, was sie immer gewollt haben, Sire – Gerechtigkeit!«

Ein leises Lachen ging durch die Reihen der Höflinge, erstarb aber rasch, als der Landgraf mit eisiger Miene in die Runde schaute. Der Hüne mit den breiten Schultern und dem kräftigen Körperbau hätte vielleicht sogar den Champion zum Schweigen gebracht. Sir Bedivere bedachte den Hofstaat mit einem herausfordernden Blick und warf verächtlich den Kopf zurück, als sei das, was er sah, seiner nicht würdig.

»Gerechtigkeit«, wiederholte der König mild. »Könnten Sie genauer erläutern, was Sie damit meinen?«

»Die Kupferbarone brauchen dringend mehr Männer, Sire.

Dämonen fallen in die Bergwerksiedlungen ein und vernichten alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Flüchtlinge säumen die Straßen, und mit jedem Tag werden es mehr. Wir haben nicht einmal genug zu essen für sie alle – geschweige denn sichere Unterkünfte, wenn die Nacht hereinbricht.

Schon kommt es zu Unruhen in den Städten. Die meisten Gardesoldaten sind tot, umgekommen bei dem Versuch, die Dämonen zu bekämpfen. Die wenigen Überlebenden reichen nicht aus, um weiterhin für Recht und Ordnung zu sorgen.

Aus diesem Grunde bitten die Kupferbarone untertänigst, dass Sie einen beträchtlichen Teil der königlichen Truppen zu ihrer Unterstützung im Kampf gegen die vorrückende Dunkelheit entsenden.«

Der König starrte den Landgrafen an. »Ich habe den Baronen bereits an die fünfhundert Mann zur Verfügung gestellt!

Wollen Sie etwa sagen, dass sie alle tot sind?«

»Ja«, entgegnete Sir Bedivere. Unter den Höflingen setzte ein erschrockenes Raunen ein.

»Sie starben im Kampf gegen die Dämonen?«

»Aye, Sire.«

»Wie viele Angehörige der eigenen Schutztruppen schickten die Barone gegen die Dämonen ins Feld?«

Sir Bedivere runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, was das…«

»Wie viele?«

»Das weiß ich nicht genau«, sagte der Landgraf knapp.

»Ein Großteil dieser Leute musste die Städte beschützen und die Ordnung aufrechterhalten…«

»Ich verstehe«, unterbrach ihn der König. »Meine Männer starben, während die Garden der Barone sich hinter dicken Stadtmauern verschanzten.«

»Das ist doch völlig unerheblich«, erklärte Sir Bedivere ruhig. »Die Barone fordern mehr Beistand. Wie viele Soldaten werden Sie entsenden?«

»Ich habe keine Leute mehr übrig«, sagte der König kategorisch.

»Ist das Ihre endgültige Antwort?«

»Ja. Meine Soldaten werden hier gebraucht. Die Barone müssen sich selbst verteidigen, so wie ich mich selbst verteidigen muss!«

»Sie haben keine Burg, in der sie sich verstecken können«, fuhr der Landgraf auf.

Entsetztes Schweigen breitete sich aus. Die Höflinge waren schockiert. Diese kränkenden Worte von einem Landgraf kamen einem Hochverrat gleich. Jeder wartete angespannt auf die Antwort des Königs. Und er benötigte in der Tat seine ganze Erfahrung und Diplomatie, um sich seinen Zorn nicht anmerken zu lassen. Ein rascher Blick auf Blays und Guillam hatte ihm verraten, dass von dieser Seite keine Unterstützung zu erwarten war. Ihre Mienen und ihr Schweigen sagten deutlicher als Worte, dass Bedivere für sie alle sprach. Der König hatte gewusst, dass die Barone die Situation früher oder später ausnützen und sich gegen ihn wenden würden, aber er hatte nicht geglaubt, dass sie so rasch vorpreschen würden.

Was immer hier und jetzt geschah – die Kupferbarone konnten nicht verlieren, gleichgültig, welche Entscheidung er auch traf. Falls er ihnen Männer schickte, die er nicht entbehren konnte, sähen sie darin ein klares Zeichen der Schwäche und würden ihre Forderungen immer unverschämter in die Höhe schrauben. Verweigerte er ihnen seine Hilfe, nähmen sie das als Vorwand, um ihn zu stürzen und durch jemanden zu ersetzen, den sie besser vor ihren Karren spannen konnten. Einen Marionetten-Herrscher. Sir Bedivere war einzig und allein zu dem Zweck entsandt worden, König Johann vor seinem versammelten Hofstaat zu beleidigen und zu demütigen und auf diese Weise klar zu machen, dass die wahre Macht im Waldkönigreich nun bei den Baronen lag.

»Es ist keine Kunst, hinter hohen Burgwällen tapfer zu sein«, fuhr Sir Bedivere mit einem zynischen Lächeln fort.

»Wir dagegen müssen uns mit Stadtmauern und Barrikaden begnügen, um die Dämonen fern zu halten. Deshalb fordere ich Sie noch einmal auf, uns mehr Leute zu schicken.«

»Scheren Sie sich zum Teufel!«, sagte der König.

Ein Ruck ging durch Sir Bedivere, und einen Moment lang zeigte sich ein rötlicher Glanz in seinen Augen, fast als hätte sich unvermittelt eine Ofenklappe geöffnet und wieder geschlossen. In dem kurzen Aufleuchten erkannte der König Jähzorn, Blutgier und einen nur mühsam in Zaum gehaltenen Wahnsinn. Er fröstelte plötzlich, als wäre ein eisiger Windstoß über ihn hinweggefegt.

»Säbelgerassel von einem alten Schwachkopf!«, höhnte Sir Bedivere mit hasserfüllter Stimme. »Die Barone werden diese Antwort nicht hinnehmen. Überlegen Sie gut!«

»Sie haben gehört, was ich sagte«, entgegnete der König.

»Verlassen Sie nun meinen Hof!«

»Ihren Hof?« Der Landgraf ließ die Blicke über die sprachlosen Höflinge und grimmig dreinblickenden Gardesoldaten schweifen und lachte laut los. Es war ein verächtliches und zugleich unheilvolles Gelächter. »Genießen Sie ihn, so lange Sie können, Alter! Früher oder später werden mich die Barone herschicken, um Sie von hier zu vertreiben!«

»Verrat!«, sagte der König mild. »Dafür könnte ich Sie köpfen lassen, Landgraf!«

»Ihr Champion könnte das vielleicht«, höhnte Sir Bedivere. »Leider ist er nicht hier.«

»Aber ich bin hier!« Prinz Harald war plötzlich aufgesprungen, das Schwert in der Hand. Die Höflinge murmelten beifällig, als er zwischen seinen Vater und den Landgrafen trat. Julia lächelte und nahm den Dolch unauffällig in die Wurfhand, nur für den Fall, dass sich einer der anderen Gesandten einzumischen gedachte. Sir Bedivere musterte Harald kurz und lachte leise. Wieder flackerte der rötliche Glanz in seinen Augen auf. Er griff nach dem Schwert.

»Nein!«, sagte der König scharf. »Harald, leg die Waffe weg! Ich danke dir für deinen guten Willen, aber er würde dich mit Sicherheit töten. Nimm bitte Platz und lass mich die Angelegenheit auf meine Weise regeln!«

Harald nickte steif, schob das Schwert mit einem Ruck in die Scheide und setzte sich wieder neben Julia. Sie nickte ihm anerkennend zu, und er lächelte säuerlich. Der König beugte sich vor und studierte Sir Bedivere mit zusammengekniffenen Augen.

»Landgraf, Sie haben noch eine Menge zu lernen! Dachten Sie im Ernst, Sie könnten mich an meinem eigenen Hof bedrohen und ungeschoren davonkommen? Sie sind ein Narr, Sir Bedivere, und ich dulde keine Narren in meiner Nähe! Ich stelle Ihnen jetzt zwei Dinge zur Wahl: Entweder Sie beugen Ihr Haupt vor mir oder Sie verlieren es!«

Der Landgraf lachte. In diesem Moment trat Thomas Grey dicht vor ihn hin. Der Astrologe hob die schmale Hand, und Sir Bediveres Lachen endete in einem erstickten Aufschrei, als unvermittelt ein rasender Schmerz seine Muskeln durchzuckte. Er wollte nach seinem Schwert greifen, doch der sengende Schmerz lähmte ihn.

»Knie nieder!«, befahl der Astrologe, und Sir Bedivere kippte auf alle viere nach vorn. Tränen hilfloser Wut liefen ihm über die Wangen. Seine Begleiter mussten entsetzt mitansehen, dass der hünenhafte Krieger wie ein kleines Kind weinte.

»Und jetzt verneige dich vor deinem König!«, fuhr der Astrologe fort, und Sir Bedivere senkte den Kopf. König Johann schaute auf den schluchzenden, zitternden Landgraf hinunter und empfand keinerlei Vergnügen bei dem Anblick.

Stattdessen fühlte er sich müde und elend, irgendwie besudelt.

»Genug«, murmelte er. Der Astrologe senkte den Arm und nahm wieder seinen Platz neben den Thron ein. Sir Bedivere brach zusammen. Von Krämpfen geschüttelt, lag er auf dem weichen Teppich, bis der Schmerz allmählich nachließ.

König Johann ließ die Blicke langsam über die Höflinge schweifen, doch die Mehrzahl der Versammelten vermied es, ihn anzusehen. Und die wenigen, die nicht wegschauten, waren sichtlich entsetzt und empört über das, was der Astrologe in seinem Namen getan hatte. König Johann seufzte und musterte die schwarz gekleidete Gestalt, die geduldig neben dem Thron stand. Das düstere Gesicht wirkte ruhig und entspannt. Die Andeutung eines Lächelns umzuckte die Mundwinkel des Zauberers. Thomas, alter Freund, dachte der König plötzlich, was ist nur aus uns geworden? Wir haben einander vor langer Zeit geschworen, eher zu sterben, als solche Tricks anzuwenden! Der Gedanke beunruhigte ihn, und er schüttelte verdrossen den Kopf, als quäle ihn ein lästiges Insekt. Sein Blick fiel wieder auf Sir Bedivere, der sich mühsam hochzustemmen versuchte. Der König winkte zwei Männern seiner Leibgarde, die in der Nähe standen.

»Helft dem Landgrafen auf die Beine!«

»Nein!«, keuchte Sir Bedivere. »Ich brauche Ihre Hilfe nicht!«

Langsam, mit schmerzverzerrter Miene kam er in die Höhe. Er taumelte und blieb einen Moment lang schwer atmend vor dem Thron stehen. Obwohl ihm die Beine zitterten, gelang es ihm irgendwie, eine stolze, aufrechte Haltung zu bewahren. Auf seinem blassen Gesicht waren noch die Spuren der getrockneten Tränen zu erkennen, aber die störrische Weigerung, seiner Schwäche nachzugeben, verlieh ihm eine gewisse Würde. Und dann sprang erneut der rote Funke in seine Augen, und er stürzte auf den König zu. Er kam bis zu den Stufen, ehe der Astrologe die Hand hob. Ein Blitz durchfuhr den Landgrafen und schleuderte ihn rückwärts. Der grelle Schein blendete die Anwesenden. Als sie wieder etwas sahen, lag Sir Bedivere zu einem schlaffen Bündel zusammengekrümmt ein gutes Stück vom Thronpodest entfernt. An der Stelle, wo ihn der Blitz in die Brust getroffen hatte, war der Kettenpanzer geschmolzen. Die enorme Hitze hatte sich durch das Wams darunter gebrannt, und dünne Rauchfäden stiegen von dem versengten Leder auf. Sir Blays kniete neben dem gestürzten Krieger nieder und überprüfte seinen Puls und Atem.

»Er lebt«, sagte er schließlich. »Seine Rüstung hat ihn vor dem Schlimmsten geschützt.«

Der König winkte zwei Männer seiner Garde herbei.

»Bringt den Landgrafen aus dem Saal! Der Hofarzt soll sich um ihn kümmern.«

Die beiden Soldaten eilten zu Sir Bedivere, hoben ihn auf und trugen ihn nach draußen. König Johann schüttelte müde den Kopf, lehnte sich zurück und wandte sich mit strenger Miene den beiden anderen Gesandten zu.

Sir Guillam blinzelte verstört und versuchte es mit einem zaghaften Lächeln. Er schien völlig verunsichert. Schweiß perlte auf seiner Stirn, und er trat unentwegt von einem Fuß auf den anderen, wie ein kleines Kind, das nicht wagt, nach dem Weg zum Abort zu fragen. König Johann zog die Stirn in Falten und studierte Sir Guillam genauer. Der Mann konnte nicht völlig nutzlos sein, sonst hätten ihn die Barone kaum zum Sprecher erkoren. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, als er im Geist die verschiedenen Möglichkeiten durchging. Sir Bediveres Anschlag auf sein Leben war gescheitert. Vielleicht war Sir Guillam der Ersatz-Mörder – jemand, der ihn unauffällig mit Gift, Magie oder Bannflüchen zur Strecke bringen sollte. Vielleicht war er auch ein Spion, ausgesandt, um Kontakte zu seinen Gegnern bei Hofe zu knüpfen. Möglicherweise verbarg sich hinter der ängstlichen Fassade aber auch ein hoch talentierter Diplomat. König Johann lächelte dünn. Es gab nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden…

»Sir Guillam?«

»So ist es, Sire?« Der Landgraf zuckte erschrocken zusammen und blinzelte den König kurzsichtig an.

»Sie waren noch nie an meinem Hof.«

»Aye, Sire. Ich bin der neue Landgraf der Birkenwald-Domäne. Ich spreche für die Silberbarone.«

»Und was wollen die Herrschaften von mir?«

Sir Guillam warf dem düster vor sich hin grübelnden Astrologen einen verstohlenen Blick zu und schluckte trocken.

Dann lächelte er den König verzagt an und zerrte an seinem Kragen, als sei ihm der plötzlich zu eng geworden.

»Die Silberbarone bitten ebenfalls… um Ihren… Beistand, Sire. Sie benötigen… äh…«

Der letzte Rest seines ohnehin geringen Selbstvertrauens schien ihn zu verlassen, und er griff hastig nach einer Pergamentrolle, die in seinem Gürtel steckte. Er strich sie umständlich glatt, grinste verlegen, als er merkte, dass er sie verkehrt herum hielt, drehte sie rasch um und las laut vor:

»Im Auftrag der Silberbarone bringe ich hiermit zur Kenntnis, dass Folgendes dringend benötigt wird: sieben Wachkompanien aus den Reihen Ihrer Königlichen Garde, vier Kompanien Wehrpflichtige, dazu Waffen, Pferde und Verpflegung für genannte Truppen…«

»Das reicht«, unterbrach ihn der König.

»Aber ich bin noch längst nicht am Ende«, protestierte Sir Guillam.

»Nein?«, fragte der König. »Das überrascht mich aber.

Gestatten Sie mir eine Frage, mein lieber Landgraf?«

»Selbstverständlich, Sire.«

»Weshalb sind Sie wirklich hier?«

Sir Guillam blinzelte verwirrt, zuckte hilflos mit den Schultern und hätte um ein Haar die Pergamentrolle fallen gelassen. »Ich vertrete die Silberbarone, Sire. Man hat mich gebeten, ihre Forderungen zu Gehör zu bringen.«

»Sie verstehen mich falsch, Sir Guillam. Ich will wissen, weshalb man ausgerechnet Sie für dieses Amt ausgewählt hat.

Sie scheinen nicht allzu viel Erfahrung auf dem Gebiet zu haben.«

»Das ist richtig, Sire. Vor meiner Ernennung zum Landgraf kümmerte ich mich um die finanziellen Angelegenheiten von Baron Ashcroft.«

Der König bewahrte mühsam die Fassung. Ein Buchhalter!

Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Fast wäre ihm ein Meuchelmörder lieber gewesen.

»Geben Sie Ihre Liste an den Seneschall weiter, Sir Guillam! Er wird Ihnen alles an Waffen und Lebensmitteln aushändigen, was wir entbehren können.«

»Aber da wäre noch die Kleinigkeit von elf Kompanien

…« Sir Guillam verstummte, als der Astrologe ein kurzes Lachen ausstieß, und lächelte gequält. »Sagen wir sieben –

das wäre ein vernünftiger Kompromiss…«

»Keine Kompromisse!«, erklärte der König. »Und keine Truppen! Irgendwelche Einwände?«

»Aber nein, Sire!«, versicherte der Landgraf hastig. »Keine Einwände. Nicht die geringsten.«

Er rollte das Pergament zusammen, verneigte sich rasch vor dem König und trat zurück, um sich hinter dem breiten Rücken von Sir Blays zu verstecken. Der König nickte dem dritten Landgrafen höflich zu. Sir Blays erwiderte die Geste mit einer formellen Verbeugung. Seine langsamen, wohl überlegten Bewegungen verrieten Selbstbeherrschung und Disziplin. Er warf dem Hofastrologen einen eisigen Blick zu und sagte mit ruhiger Stimme:

»Sie haben seit meinem letzten Besuch in der Residenz dazugelernt, Sire, aber glauben Sie nicht, dass Sie mich einschüchtern können! So schnell erschrecke ich nicht. Ich bin Sir Blays vom Eichengrund und spreche für Gold.«

Der König verneigte sich knapp. »Willkommen an meinem Hof, Sir Blays. Verlangen auch Sie Truppen von mir?«

»Ich spreche als Stellvertreter meines Herrn«, entgegnete Sir Blays gelassen. »Wir benötigen mehr Soldaten, sonst sind wir der Finsternis hoffnungslos unterlegen. Unsere Grenzwälle sind bereits der endlosen Nacht zum Opfer gefallen. Dämonen durchstreifen das Land wie tollwütige Wölfe. Wir halten nicht mehr lange durch. Selbst die Steinmauern und Holzbohlen eines massiven Bergfrieds bieten keinen Schutz, wenn das Dunkel hereinbricht. Sie wissen, dass ich stets die Wahrheit spreche, Sire.«

»O ja«, bestätigte der König müde. »Ich weiß es. Aber das ändert leider nichts an meiner Antwort. Ich habe keine Männer mehr, die ich zu Ihrer Unterstützung entsenden könnte.«

»Ich werde meinem Herrn Ihren Bescheid überbringen«, meinte der Landgraf zögernd. »Aber ich kann Ihnen gleich sagen, dass er ihn nicht billigen wird.«

»Ihm wird keine andere Möglichkeit bleiben«, warf der Astrologe ruhig ein.

»Es gibt immer eine Möglichkeit«, sagte Sir Blays. Seine leisen Worte schienen drohend in der Stille zu hängen, und eine Zeit lang schwiegen alle.

»Nun gut«, sagte der König schließlich. »Sie sind an meinen Hof gekommen, edle Landgrafen, weil Sie dringend Unterstützung benötigen, und obschon es nicht in meiner Macht steht, die Bitten der Barone zu erfüllen, kann ich Ihnen zumindest eine Botschaft der Hoffnung und des Trostes mit auf den Weg geben. In diesem Moment sind der Champion und mein jüngster Sohn Rupert unterwegs, um den Großen Zauberer zur Rückkehr ins Waldkönigreich zu bewegen. Wir hoffen auf seine Magie gegen die Kräfte der Finsternis.«

»Sie holen ihn zurück?«, fragte Sir Blays leise. »Nach allem, was er getan hat?«

»Die Umstände zwingen uns dazu«, entgegnete der Astrologe.

»Eine verzweifelte Lage erfordert verzweifelte Maßnahmen«, erklärte der König. »Deshalb habe ich auch beschlossen, das Alte Arsenal wieder zugänglich zu machen – und das Curtana-Schwert aus seiner Scheide zu holen.«

Einen Moment lang schienen die Höflinge zu Marmorstatuen erstarrt – und dann brach ein ohrenbetäubender Tumult los. Jeder überschrie den anderen und versuchte sich Gehör zu verschaffen. Diejenigen, die dem Thron am nächsten standen, drängten wütend zu den Stufen und mussten von der Leibgarde mit gezückten Schwertern davon abgehalten werden, das Podest zu stürmen. Das zornige Schimpfen schwoll zu einer Lärmwoge an, die gegen die hohe Holzdecke brandete und nicht verebben wollte.

Julia beobachtete bestürzt die wilde Meute, die ihre höfischen Manieren völlig vergessen hatte. Entsetzen und Wut spiegelte sich in den Gesichtern wider, hier und da vermischt mit blanker Panik. Sie wandte sich Harald zu, der beinahe ebenso erregt schien wie die Hofgesellschaft.

»Harald, was geht hier vor, verflixt noch mal?« Julia musste ihm die Worte ins Ohr schreien, um sich über den Lärm verständlich zu machen, doch er schüttelte nur kurz den Kopf. Sie versuchte in seinen Zügen zu lesen, aber Harald hatte nach der ersten Überraschung eine undurchdringliche Maske aufgesetzt. Nur die weiß hervortretenden Knöchel seiner Rechten, mit der er krampfhaft den Dolch umklammerte, verrieten, wie aufgewühlt er war.

»Genug!«, rief der Astrologe plötzlich mit donnernder Stimme. Feuer hüllte ihn ein, und dichter Qualm verpestete die ohnehin stickige Luft. Ein furchtbares Wissen schien in seinen kalten, undurchdringlichen Augen zu lauern. Er hob die Arme, und sein nachtdunkler Umhang flatterte wie die Schwingen eines großen Vogels. Stille breitete sich aus, nur unterbrochen vom Knistern der Flammen, die den Astrologen vergeblich zu verzehren suchten. Er ließ die Blicke über die schweigende Versammlung schweifen und lächelte grimmig.

Die hüpfenden Flammen sanken in sich zusammen, und Thomas Grey verwandelte sich wieder in einen gebrechlichen, schwarz gekleideten Alten.

»Vielen Dank, Astrologe«, sagte König Johann ruhig.

»Und Sie, meine werten Damen und Herren, möchte ich mit Nachdruck darauf hinweisen, dass ich in Zukunft ein derart ungebührliches Betragen im Audienzsaal nicht mehr dulden werde. Ein weiterer solcher Aufruhr, und mein Henker bekommt endlich Arbeit! Ich verlange Disziplin an diesem Hof

– ist das klar?«

Die Höflinge sanken einer nach dem anderen auf die Knie und verneigten sich vor dem König, gefolgt von den Wachen, der Garde und schließlich dem Astrologen selbst, bis am Ende nur noch zwei Männer aufrecht vor dem Thron standen

– die beiden Gesandten der Silber- und Goldbarone. Sir Guillam zitterte, als König Johann ihn ansah, doch obwohl er dem Blick des Herrschers nicht standhalten konnte, blieb er trotzig stehen. Seinen Begleiter versuchte der König gar nicht erst in die Knie zu zwingen; dafür kannte er Sir Blays viel zu lange.

König Johann lehnte sich in seinem Thronsessel zurück und musterte die beiden Männer nachdenklich. Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre Sir Blays durchs Feuer gegangen, um seine Ergebenheit dem Waldkönigreich gegenüber zu beweisen, und hätte jeden zum Duell gefordert, der Zweifel an seiner Lehenstreue geäußert hätte. Angesichts dieses Hintergrunds kam seine Weigerung, vor dem König das Knie zu beugen, einer Kriegserklärung gleich. Der Herrscher wandte seine Aufmerksamkeit Sir Guillam zu und runzelte die Stirn.

Der Mann war vor Angst fast von Sinnen – und dennoch nicht gewillt, sich zu unterwerfen. Warum nur? König Johann schloss die Augen und seufzte müde. Er kannte den Grund.

Sir Guillam hatte zwar Angst vor ihm – aber noch weit größer war seine Angst vor dem Curtana-Schwert.

Ich kann nicht anders, dachte König Johann verbissen. Der Schritt ist notwendig.

Verächtlich schaute der König über das Meer von gesenkten Häuptern hinweg. Er gab sich keiner Illusion hin. Die Höflinge verbeugten sich nicht, weil sie ihm treu ergeben waren, sondern weil sie die Magie des Astrologen fürchteten.

Der König presste die Lippen zusammen. Wenn er sich schon nicht auf ihre Treue verlassen konnte, musste er eben auf ihre Feigheit bauen. Jetzt, da es galt, Krieg gegen das stetig vorrückende Dunkel zu führen, war die Wahl der Waffen zweitrangig.

»Erhebt euch wieder!«, knurrte er schließlich. Seidengewänder raschelten, und Kettenpanzer klirrten, als der Hofstaat seinem Befehl nachkam. Eine kleine Gruppe von Höflingen murrte vernehmlich, verstummte aber sofort, als der König sie streng ansah. Mit einem bitteren Lächeln wandte er sich Sir Blays zu, der seinen Blick ruhig erwiderte.

»Sie sind also gegen meinen Plan, die Curtana-Klinge aus dem Arsenal zu holen, edler Landgraf?«

»Es ist Ihrem Geschlecht seit über vierhundert Jahren verboten, das Schwert des Zwangs einzusetzen«, entgegnete Sir Blays kühl.

»Seither hat sich einiges geändert«, argumentierte der König. »Wir müssen verhindern, dass die Finsternis weiter vorrückt, und da wir nicht darauf hoffen können, dies mit gewöhnlichen Waffen zu bewerkstelligen…«

»Das Curtana ist tabu!«, beharrte Sir Blays. »Ein König herrscht durch das Einverständnis seines Volkes – nicht durch ein Zauberschwert, mit dem er seinen Gehorsam erzwingt.

Wir haben bereits miterlebt, wie Ihr Astrologe diese Macht missbraucht. Sir Bedivere mag seine Fehler haben; aber er ist ein Krieger, der in einem Dutzend Feldzügen für Sie kämpfte und sein Blut ließ. Er hat es nicht verdient, dass dieser Pfuscher von einem Zauberer ihn wie einen tollen Hund behandelte! Glauben Sie wirklich, dass die Barone tatenlos zusehen, wenn Sie zur Magie greifen?«

»Wenn der König das Curtana schwingt, werden die Barone tun, was er ihnen befiehlt«, warf der Astrologe aalglatt ein.

Seinen Worten folgte ein langes Schweigen.

»Majestät!« Die tiefe, voll tönende Stimme kam aus dem Kreis der Höflinge. König Johann unterdrückte ein Stöhnen.

»Ja, Lord Darius?«

»Ich bitte untertänigst um die Erlaubnis, einen Kompromiss zu Gehör zu bringen, der Sie und die werten Landgrafen zufrieden stellen dürfte.«

»Also schön, Lord Darius, treten Sie vor! Aber wenn Ihr Vorschlag ähnlich brillant ist wie der Einfall, mit dem Sie uns vor kurzem beglückten, dann behalten Sie ihn besser für sich.«

Der dicke Kriegsminister gluckste verständnisvoll, während er sich mit bemerkenswerter Eleganz einen Weg nach vorn bahnte, vorbei an den misstrauisch dreinblickenden Höflingen. Am Thronpodest angelangt, wählte er seinen Platz genau zwischen den Landgrafen und dem König und verneigte sich vor beiden Parteien. König Johann musterte ihn ungeduldig.

»Nun, Lord Darius?«

»Ich habe den Eindruck, Majestät, dass Sir Blays und Sir Guillam vor allem deshalb beunruhigt sind, weil sie nicht genau wissen, auf welche Weise das Curtana-Schwert verwendet werden soll. Wenn Sie vielleicht Ihre Strategie näher erläutern könnten…«

»Ein König muss nicht alles erklären«, fuhr der Astrologe dazwischen. »Ein getreuer Untertan gehorcht auch, ohne Fragen zu stellen.«

»Gewiss, gewiss«, pflichtete ihm Lord Darius hastig bei.

»Ich versuche nur zur Klärung der Sachlage beizutragen, mehr nicht.«

»Eine verständliche Bitte«, sagte der König mild, »der ich gern nachkomme, wenn ich damit Sir Blays beruhigen kann

…« Er sah den Landgrafen an, der steif nickte. »Nun gut. Wie Sir Blays bereits ausführte, liegt es in der Natur des Curtana-Schwerts, Gehorsam zu erzwingen. Ich habe die Absicht, diese Macht gegen die Dämonen einzusetzen und sie in das Dunkel zurückzudrängen, aus dem sie kamen. Das scheint im Augenblick die einfachste Lösung unseres Problems zu sein.«

»Geradezu elegant in ihrer Einfachheit, finden Sie nicht auch, Sir Blays?« Lord Darius strahlte den Landgrafen an.

»Es klingt Erfolg versprechend«, gab Sir Blays widerstrebend zu. »Falls das Curtana auch bei Nichtmenschen wirkt.

Soviel ich weiß, hat das bislang noch niemand ausprobiert.

Aber angenommen, der Plan gelingt – was geschieht mit dem Schwert, nachdem die Dämonen vertrieben sind?«

»Es wird wieder in das Alte Arsenal zurückgebracht«, erklärte der König. »Und dort kann es meinetwegen bis ans Ende der Zeit bleiben.«

»Das klingt gut, das klingt sehr gut!« Lord Darius nickte lächelnd und verschränkte die fetten Hände über dem umfangreichen Bauch. »Ich fürchte allerdings, die werten Landgrafen werden konkrete Beweise für diese Absicht Ihrer Majestät fordern.«

»Sie wagen es…«, fuhr ihn der Astrologe an und trat einen Schritt vor.

Lord Darius erbleichte, wich aber nicht von der Stelle.

»Majestät…«

»Sprechen Sie weiter!«, sagte der König, und der Astrologe nahm wieder seinen Platz neben dem Thron ein.

Lord Darius verbeugte sich dankbar. »Im Grunde ist das Curtana auch nur ein Schwert, Majestät. Und da Sie wie die meisten Anwesenden hier der Meinung sind, dass man es nie wieder einsetzen sollte, schlage ich vor, dass wir es, sobald die Gefahr der Dämonen gebannt ist, öffentlich einschmelzen und auf diese Weise ein für allemal vernichten.«

Der König runzelte nachdenklich die Stirn. »Mein Instinkt wehrt sich gegen dieses Ansinnen. Das Schwert befindet sich seit vielen Generationen im Besitz unserer Familie und könnte in Zukunft noch gebraucht werden… Aber ich verstehe Ihre Bedenken. Das Curtana ist zu gefährlich, als dass man es einem Einzelnen anvertrauen sollte. Würde ein Einschmelzen die Barone zufrieden stellen, Sir Blays?«

»Wahrscheinlich«, erwiderte Sir Blays zurückhaltend. »Aber ich spreche nur für Gold.«

König Johann lächelte kühl. »Wenn Gold den ersten Schritt tut, werden Silber und Kupfer folgen. Habe ich nicht Recht, Sir Guillam?«

Der Sprecher der Silberbarone nickte. »Ich bin sicher, dass meine Herren den Plan gutheißen werden, Sire.«

»Dann will ich darüber nachdenken«, meinte König Johann, »und Ihnen meine Entscheidung mitteilen, noch ehe Sie morgen von hier aufbrechen.«

Sir Blays nickte mit ausdrucksloser Miene. »Danke, Sire.

Da unsere Mission hiermit beendet ist, zögen Sir Guillam und ich uns mit Ihrer gütigen Erlaubnis jetzt gern zurück. Es war ein langer Tag.«

»Allerdings«, sagte König Johann. »Nun, meine werten Herren, ich will Sie nicht um Ihre wohl verdiente Ruhe bringen. Wir sehen uns morgen wieder.«

Sir Guillam und Sir Blays verneigten sie vor dem Thron, machten kehrt und verließen den Audienzsaal. Die Höflinge schauten ihnen nach und steckten flüsternd die Köpfe zusammen.

»Ruhe!«, befahl der Astrologe schroff, und sie verstummten.

»Ehe ich für heute den Hofstaat entlasse«, sagte der König,

»habe ich noch eine angenehme Pflicht zu erfüllen. Prinzessin Julia…«

»Ach, ist Ihnen wieder eingefallen, dass Sie nach mir geschickt hatten?«, erkundigte sich Julia beleidigt. »Ich hatte schon die Befürchtung, ich sei unsichtbar.«

»Julia, meine Liebe, Sie sind meinen Gedanken nie fern«, entgegnete der König ernst. »Harald, ich hoffe doch sehr, dass du die Prinzessin inzwischen gut unterhalten hast.«

»O doch«, versicherte Harald. »Sie macht rasche Fortschritte in Tic-Tac-Toe. Noch ein wenig Übung, und sie wird es schaffen, mich ohne Schummeln zu besiegen.«

Julia zielte mit dem Dolch auf seine Zehen und lachte boshaft, als er blitzschnell den Fuß zurückzog.

»Wenn ihr beide endlich fertig seid«, sagte der König,

»möchte ich eine Ankündigung machen.«

»Schießen Sie los!«, ermunterte ihn Julia.

Der König seufzte leise und wandte sich dann den versammelten Höflingen zu. »Meine Damen und Herren, ich gebe hiermit in aller Form die Verlobung meines ältesten Sohnes Harald mit Prinzessin Julia vom Hügelland bekannt.

Ich wünsche den beiden für die gemeinsame Zukunft alles Glück der Welt.«

»Das wird er brauchen«, zischelte jemand im Hintergrund.

Julia war aufgesprungen. »Ich denke nicht daran, Harald zu heiraten!«

»Ihnen wird keine andere Wahl bleiben«, entgegnete der König. »Ich habe das Verlöbnis soeben öffentlich verkündet.«

»Dann können Sie es genauso gut wieder zurücknehmen!«

»Prinzessin Julia«, sagte der König völlig ungerührt, »ob Sie wollen oder nicht – die Hochzeit findet in genau vier Wochen statt. Harald ist ein prächtiger junger Mann und der Stolz unseres Herrscherhauses. Ich bin sicher, dass Sie sich mit einiger Disziplin und unter seiner Anleitung ebenfalls zu einer Zierde dieses Hofes entwickeln werden.«

»Eher bringe ich mich um!«

»Niemals«, warf der Astrologe ein. »Sie sind nicht der Typ dazu.«

Julia schaute wutentbrannt in die Runde und wandte sich dann unvermittelt ab, als sie merkte, dass ihr Tränen des Zorns in die Augen stiegen. »Wir werden ja sehen«, stammelte sie mit zitternder Stimme. »Wir werden ja sehen…«

König Johann beachtete sie nicht weiter, sondern wandte sich erneut an den Hofstaat: »Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. Die Versammlung ist hiermit beendet.«

Die Höflinge verbeugten sich und knicksten, ehe sie ungewöhnlich schweigsam zum Portal strömten. Auf eine Geste des Königs folgten ihnen die Wachen nach draußen. Julia wandte sich ebenfalls zum Gehen, kam aber nicht weit, weil ihr Harald den Weg versperrte. Irgendwie brachte sie nicht mehr die Energie auf, ihm einen Tritt zu versetzen.

»Was willst du?«, fragte sie niedergeschlagen.

»Julia…« Harald zögerte. »Liebst du Rupert wirklich?«

Julia schüttelte langsam den Kopf. »Keine Ahnung. Vielleicht. Warum fragst du?«

Harald zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Schau, diese Hochzeit wird stattfinden, ob es uns gefällt oder nicht. Ich erwarte nicht, dass du mich liebst, Julia, aber findest du mich wirklich so grauenhaft? Ich bin schließlich kein Monster – zumindest nicht immer.« Er machte eine Pause, um zu sehen, ob sie sich wenigstens ein schwaches Lächeln abränge, aber selbst diesen Gefallen tat sie ihm nicht. Entmutigt schüttelte er den Kopf. »Wie auch immer, du wirst meine Frau, Julia.

Gewöhn dich an den Gedanken. Wir sprechen später noch einmal darüber, ja?«

Julia sah ihm nach, als er den Audienzsaal verließ. Sie hatte wirre Pläne, aus der Burg zu fliehen, aber wohin sollte sie sich wenden, sobald sie die Mauern hinter sich gelassen hatte? Allen Berichten nach wimmelte es im Waldkönigreich von Dämonen. Wenn nur der Drache kräftig genug wäre, sie zu begleiten… Aber er war es nicht. Seine Wunden schmerzten immer noch, und er döste die meiste Zeit vor sich hin.

Julia fluchte leise vor sich hin. Sie wusste, dass sie nicht einfach fortgehen und ihn im Stich lassen konnte. Weder ihn noch Rupert. Julia zog finster die Augenbrauen zusammen.

Eigentlich war alles Ruperts Schuld. Wenn er sie nicht auf diese Burg gebracht und dann allein gelassen hätte, um wieder mal den Helden zu spielen… eine Rolle, bei der er leicht den Tod finden konnte…

Julia schloss ganz fest die Augen und grub sich die Fingernägel tief in die Handflächen. Sie würde sich nicht die Blöße geben und vor dem König weinen, sie nicht… Nach einer Weile hatte sie sich gefangen. Mit leerem Blick starrte sie vor sich hin.

Wo immer du bist, Rupert, pass auf dich auf ! Und komm schnell hierher zurück!

König Johann schaute der Prinzessin nach, als sie den Audienzsaal verließ. Insgeheim bewunderte er ihre Selbstbeherrschung. Er wartete, bis die Flügeltüren hinter ihr ins Schloss fielen, ehe er sich erschöpft in die Kissen sinken ließ.

»Das war eine der längsten Sitzungen, die wir je hatten«, meinte der Astrologe und nahm ächzend auf der obersten Stufe des Podests Platz.

»Richtig«, stimmte der König müde zu. »Dieser verdammte Thron wird mit jedem Tag unbequemer.«

»Du kannst wenigstens sitzen«, stellte der Astrologe missmutig fest. »Ich dagegen bin seit mindestens zehn Stunden auf den Beinen. Mein Kreuz schmerzt wie verrückt.«

Der König sah ihn mitfühlend an. »Wir werden zu alt für diesen Job, Thomas.«

»Sprich nicht immer in der Mehrzahl, wenn du dich meinst!«, sagte der Astrologe, und der König lachte.

Sie saßen eine Weile in kameradschaftlichem Schweigen beisammen und beobachteten, wie sich die Schatten im leeren Saal ausbreiteten. Die letzten Sonnenstrahlen sickerten durch die prächtigen Buntglasfenster, und Staubkörnchen tanzten träge in den goldenen Lichtfächern. Der König zupfte sich nachdenklich an seinem struppigen grauen Bart und nickte dem Astrologen zu.

»Gute Schau, die du für die Landgrafen abgezogen hast, Thomas!«

»Danke, Johann. Der Trick kam gut rüber, was?«

»Musstest du Bedivere unbedingt auf dem Bauch kriechen lassen?«

Thomas Grey runzelte die Stirn. »He, Johann, der Mann ist ein Killer! Die Barone wussten das, als sie ihn zu ihrem Sprecher wählten. Er hätte dich umgebracht.«

»Ich weiß«, sagte der König kurz. »Aber kein Mensch sollte derart gedemütigt werden. Es war so… unwürdig.«

»Hör mal, Johann, darüber haben wir uns gestern Abend ausführlich unterhalten. Es gibt nur eine Möglichkeit, die Barone in Schach zu halten: Ihre Angst vor uns muss stärker sein als ihre Angst vor dem Dunkel. Aber wie bitte soll ich sie einschüchtern, wenn ich meine Zauberkräfte nicht einsetzen darf? Außerdem habe ich den Mann nicht ernstlich verletzt, Johann. Ich habe ihn nur gezwungen, das zu tun, was ohnehin seine Pflicht gewesen wäre.«

»Und der Blitz?«

»Optische Täuschung, mehr oder weniger. Die Energie reichte gerade aus, um ihn von den Beinen zu holen.«

»Du begreifst nicht, worum es geht, Thomas. Wir wollten das Curtana-Schwert nur deshalb aus der Versenkung holen, um den Baronen und dem Hofstaat zu beweisen, dass wir nicht völlig hilflos gegen das Dunkel sind. Aber nach dieser Abreibung für Sir Bedivere denkt keiner mehr an die Dämonen! Stattdessen fragen sich die Leute, ob wir dieses Schwert in erster Linie gegen sie einsetzen werden.«

»Verdammt«, sagte Grey. »Tut mir Leid, Johann. Daran hatte ich nicht gedacht…«

»So wie es im Moment aussieht, ist es ungeheuer riskant, das Curtana einzusetzen, ganz zu schweigen von den Schwertern der Hölle. Wenn die Barone auch nur den leisesten Verdacht hegen, dass wir diese Klingen ebenfalls verwenden wollen…«

»… dann kommt es zu einer offenen Rebellion. Ich verstehe deine Argumente, Johann, aber wir sind auf diese Schwerter angewiesen. Die Finsternis rückt immer näher, und es hat wenig Sinn, sich allein auf den Großen Zauberer zu verlassen.

Wir wissen nicht einmal mit letzter Sicherheit, ob er überhaupt kommt.«

»Er kommt«, sagte der König. »Du weißt, dass er kommt.«

Ein unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Grey hüstelte verlegen. »Ich kenne deine Gefühle ihm gegenüber, Johann. Aber wir brauchen ihn.«

»Ich weiß.«

»Vielleicht hat er sich geändert. Das ist alles so lange her.«

»Ich möchte nicht darüber sprechen.«

»Johann…«

»Ich möchte nicht darüber sprechen.«

Thomas Grey schaute den König an und senkte dann den Blick, weil er den Hass, die Bitterkeit und das Leid in den Augen des alten Freundes nicht ertragen konnte.

»Erzähl mir mehr von den Schwertern der Hölle«, bat der König. »Es ist Jahre her, seit ich mich mit diesem blutrünstigen Zeug befassen musste.«

»Offenbar gab es ursprünglich sechs dieser Schwerter«, erklärte der Astrologe ruhig. »Aber wir besitzen nur noch drei davon – Blitzstrahl, Hundsgift und Felsenbrecher. Seit Jahrhunderten hat es niemand mehr gewagt, sie anzufassen.«

»Sind sie wirklich so mächtig, wie die Legenden behaupten?«

Grey zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich noch mächtiger. Die Geschichtsschreiber wagen es kaum, die Namen zu erwähnen.«

»Wie dem auch sei«, knurrte der König, »sie befinden sich ebenso wie das Curtana im Alten Arsenal. Und das Alte Arsenal befindet sich im Südflügel. Und den Südflügel können wir nicht finden, seit er uns vor zweiunddreißig Jahren verloren ging.«

»Der Seneschall behauptet, er könne ihn aufspüren«, warf Grey ruhig ein. »Und ich glaube ihm. Er findet sich auf der Burg besser als jeder andere zurecht.«

»Mag sein.« Der König fuhr sich geistesabwesend durch das widerspenstige Haar und seufzte müde. »Ach, Thomas, manchmal wünsche ich mir, du wärst ein echter Sterndeuter und könntest in die Zukunft schauen.«

Grey lachte. »Leider ist mein Titel nicht mehr als ein Erbe unserer abergläubischen Vorfahren, Johann. Genau genommen bin ich nicht mal Astrologe, sondern Astronom. Zeig mir die Eingeweide eines Schafes, und ich könnte dir höchstens verraten, welche Suppe sich daraus kochen lässt.«

Der König lächelte und nickte bedächtig. »Es war nur so ein Gedanke, Thomas. Ein albernes Hirngespinst, mehr nicht.« Er erhob sich steif und ließ die Blicke durch den leeren Thronsaal wandern. »Wird Zeit, dass ich schlafen gehe. Ich bin in letzter Zeit dauernd müde.«

»Du arbeitest zu viel. Wir arbeiten beide zu viel. Es wird höchste Zeit, dass Harald einen Teil deiner Pflichten übernimmt. Er ist alt genug, um uns ein wenig zu entlasten.«

»Nein«, entgegnete der König kurz angebunden. »Er muss noch viel lernen.«

»Du kannst das nicht ewig hinausschieben, Johann. Irgendwann musst du die Zügel loslassen. Wir werden langsam älter.«

»Langsam nennst du das?« Der König lachte trocken und betrat die Stufen des Podests. Als der Astrologe ihm helfen wollte, stieß er seinen Arm unwirsch beiseite. »Ich bin müde, Thomas. Sprechen wir morgen darüber.«

»Johann…«

»Morgen, Thomas.«

Der Astrologe sah dem König nach, wie er langsam den leeren Saal durchquerte. »Morgen ist es vielleicht zu spät, Johann«, murmelte er, aber wenn der König seine Worte gehört hatte, dann beachtete er sie nicht.


»Sie könnten König sein, Harald«, sagte Lord Darius.

»Ich werde König sein«, entgegnete Harald. »Als ältester Sohn bin ich der rechtmäßige Thronerbe. Eines Tages wird das Waldkönigreich mir gehören.«

»Wenn Sie so lange warten wollen, werden Sie ein König ohne Land sein.«

»Das ist Hochverrat.«

»Ja«, bestätigte Lord Darius liebenswürdig.

Die beiden Männer lächelten, hoben die Kelche und kosteten den Wein. Als Harald den guten Jahrgang lobte, beugte sich Lady Cecelia anmutig vor und füllte sein Glas bis zum Rand. Der Prinz dankte höflich, lehnte sich bequem zurück und ließ die Blicke umherschweifen. Nach all den Geschichten, die ihm über den Lebensstil von Darius zu Ohren gekommen waren, hatte er in den Gemächern des Kriegsministers mehr Pomp und Luxus erwartet – dicke Teppiche und verschwenderische Tapeten. Stattdessen befand er sich in einem nüchternen, fast streng möblierten Raum mit einem schlichten Dielenboden und Vertäfelungen aus poliertem Holz, der von einem einzigen Kamin erwärmt wurde. Eine Wand verschwand völlig hinter einem massiven Bücherregal, das eine Fülle von Werken über Politik, Geschichte und Zauberei enthielt. Harald ließ sich sein Erstaunen nicht anmerken. Offenbar steckte in dem Kriegsminister mehr, als man auf den ersten Blick wahrnahm. Der Prinz nahm einen Schluck Wein und studierte sein Gegenüber über den Kelchrand hinweg. Das Gesicht des Mannes war von einer plumpen Hässlichkeit, die weder durch die Puderschichten noch durch die sorgfältig gezupften Augenbrauen oder das geölte Haar zu verbergen war, und wenn er die Maske fallen ließ, die er in der Öffentlichkeit trug, wirkten seine Züge eiskalt und zum Äußersten entschlossen.

Dieser Mann kann gef ährlich werden, dachte Harald ruhig.

Er ist ehrgeizig und skrupellos – eine nützliche Kombination auf jedem Sektor, insbesondere aber in der Politik. Sieht sich vermutlich als Königmacher.

Harald wandte seine Aufmerksamkeit Lady Cecelia zu, der Gemahlin von Lord Darius. Sie erwiderte seinen Blick mit einem trägen Lächeln, das eine deutliche Aufforderung enthielt. Ihr nachtschwarzes Haar, das in Kaskaden auf die entblößten Alabasterschultern fiel, umrahmte und betonte das hübsch geschnittene Gesicht. Sinnlichkeit glomm in den dunklen Augen und umspielte den vollen Mund. Sie hatte das reich bestickte Gewand, das sie zu offiziellen Anlässen trug, mit einem schmalen, geschlitzten Seidenkaftan vertauscht, der bei jeder Bewegung aufreizende Ansichten freigab. Verlockend, dachte Harald. Und nicht gerade zurückhaltend, obwohl ihr Mann anwesend ist. Nicht zum ersten Mal fragte sich Harald, was Darius und Cecelia aneinander fanden. Sie waren ohne Zweifel ein ernst zu nehmendes politisches Gespann, aber Cecelias Affären mit den jungen Gardeoffizieren sorgten bei Hofe ständig für neuen Klatsch. Darius musste davon wissen, aber er äußerte sich nie dazu. Jeder nach seinem Geschmack, dachte Harald spöttisch.

»Das ist ja alles schön und gut, Herr Kriegsminister«, sagte er höflich. »Aber was genau wollen Sie von mir?«

Darius lächelte über die direkte Art des Prinzen und nahm ohne Eile einen weiteren Schluck Wein. »Bis jetzt nicht sehr viel, Sire. Aber ich versichere Ihnen, dass meinen Freunden nur Ihr Wohl am Herzen liegt.«

»Tatsächlich?«, fragte Harald belustigt. »Das wundert mich sehr. Ich dachte, Ihren Freunden liege in erster Linie das Wohl des Waldkönigreichs am Herzen. Deshalb habe ich Ihrer Einladung auch Folge geleistet.«

»Wenn wir Sie unterstützen, dienen wir zugleich dem Wohl des Reiches«, erklärte Darius ernst. »Ihr Vater ist nicht mehr fähig, das Land zu regieren. Er lässt die Barone im Kampf gegen die Finsternis im Stich, er hat die Landgrafen öffentlich beleidigt und angegriffen, und nun droht er sogar, das Curtana-Schwert zu ziehen! Er muss wissen, dass sich die Barone das nicht bieten lassen werden. Er fordert einen Aufstand geradezu heraus.«

»Die Barone brauchen einen König«, entgegnete Harald ruhig. »Sie haben nicht genügend Leute, um einzeln gegen den Dunkelwald vorzugehen, und das wissen sie genau. Ihre einzige Hoffnung ist ein Heer – ein Heer, das stark genug ist, die Finsternis zu besiegen. Sie versuchten den König zu zwingen, ihnen mehr Soldaten zu schicken, und erreichten mit ihrer Einschüchterungstaktik das genaue Gegenteil: Mein Vater hat erkannt, dass er ihre Unterstützung nicht mehr braucht. Immer vorausgesetzt, dass das Curtana auch bei Nichtmenschen wirkt. Wenn nicht, wird es zu spät sein, ein Heer zusammenzustellen. Kein Wunder, dass die Barone verzweifelt sind. Wenn das Schwert versagt, verschlingt uns das Dunkel alle. Erfüllt es dagegen seinen Zweck, könnte sich König Johann zum größten Tyrannen entwickeln, den dieses Land je sah. Mit dem Schwert des Zwangs in der Hand wäre er mächtig genug, jede seiner Launen zum Gesetz zu erheben.

Würde man König Johann aber stürzen, wäre das Heer ohne Führer. Die Barone misstrauen einander. Jeder unterstellt dem anderen, er werde versuchen, das Heer auf seine Seite zu bringen und sich selbst zum König zu ernennen.

Also brauchen die Barone einen König – aber nicht König Johann. Und deshalb, mein lieber Lord Darius, haben Sie mich heute Abend um eine Unterredung gebeten, nicht wahr?«

Darius musterte den Prinzen eingehend. »Sie haben die Situation scharf erfasst, Sire. Ich wusste gar nicht, dass Sie ein derart ausgeprägtes Interesse an der Politik haben. Bis jetzt schienen Sie sich mehr mit anderen… Dingen zu beschäftigen.«

Harald lachte. »Der Schein trügt oft, mein Freund.« Unvermittelt streifte er die gewohnte Maske der Liebenswürdigkeit ab. Darunter kamen harte, entschlossene Züge zum Vorschein, die von durchdringenden dunklen Augen beherrscht wurden. »Auch wenn ich den Hofnarren spiele, Darius –

hüten Sie sich davor, mich für dumm zu verkaufen!«

»Und was bezwecken Sie mit der Maskerade?«, fragte Lady Cecelia mit einem gezierten Schmollen.

»Sie entwaffnet meine Gesprächspartner«, erklärte Harald.

»Sie sehen keine Gefahr in mir – bis es zu spät ist. Außerdem habe ich meinen Spaß dabei.«

Er setzte wieder seine nette, freundliche Miene auf, aber die Augen blieben kalt und spöttisch. Darius lächelte unsicher, während er innerlich versuchte, sich auf diesen neuen, fremden Prinz Harald einzustellen.

»Ihr Vater will zweifellos das Beste für sein Reich, Sire, aber er ist ein alter Mann, und sein Verstand arbeitet nicht mehr wie früher. Er gibt zu viel auf diesen Astrologen und zu wenig auf die Höflinge, deren Privileg und Pflicht es immer war, ihm mit weisen Ratschlägen zur Seite zu stehen. Nun, da die Finsternis dicht vor den Toren der Residenz lauert, können wir uns keinen Herrscher mehr leisten, der unser aller Leben einem einzigen Zauberschwert anvertraut – einer Waffe, deren Wirkung mehr als fraglich ist. Wenn der König nicht selbst zur Vernunft kommt, muss man ihn eben zur Vernunft zwingen.«

»Sie sprechen von meinem Vater«, warf Harald leise ein.

»Wenn ihm auch nur ein Haar gekrümmt wird…«

»Niemals!«, sagte Darius rasch. »Davon kann keine Rede sein!«

»Sie vergessen Sir Bedivere.«

»Ein Fehler, der sich nicht wiederholen soll. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Leider war uns allen entgangen, zu welchem Unsicherheitsfaktor sich der Mann entwickelt hatte.«

Harald warf ihm einen eisigen Blick zu.

»Bitte, glauben Sie mir, Sire«, fuhr Darius langsam fort,

»dem König wird nichts geschehen! Meine Verbündeten und ich haben große Achtung vor seinem Lebenswerk. Wir finden nur, dass die Last seines Amtes zu schwer für seine alten Schultern geworden ist. Das Waldkönigreich braucht einen jüngeren, fähigeren Herrscher. Einen Mann wie Sie, Prinz Harald!«

Der Prinz lächelte vieldeutig. Eine Zeit lang sprach niemand.

»Haben wir Ihre Unterstützung?«, fragte Darius. Er spürte, wie ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat, obwohl der Kamin eine angenehme Wärme ausstrahlte. Der Prinz, der ihm gegenübersaß, war nicht der Mann, den er zu kennen geglaubt hatte, und Darius fragte sich inzwischen, ob er und seine Freunde nicht einen furchtbaren Fehler begangen hatten. Ein Wort von diesem eiskalten Fremden an die königliche Leibgarde, und noch vor Tagesanbruch würden eine Menge Köpfe vom blutbefleckten Block des Scharfrichters rollen. Darius verlagerte sein Gewicht und legte die dicklichen Finger unauffällig um den Griff des vergifteten Dolchs, den er in einer Ärmelfalte verborgen trug.

Harald hob sein leeres Glas. Lady Cecelia beugte sich beflissen vor und schenkte nach. Ihr Seidenkaftan verrutschte ein wenig und gewährte ihm einen tiefen Einblick in ihren Ausschnitt. Harald nippte an seinem Wein und lächelte spöttisch.

»Sie haben meine Unterstützung«, sagte er schließlich.

»Aber meine Gründe für diesen Entschluss decken sich nicht unbedingt mit den Ihren.«

»Ihre Gründe?«, fragte Darius unsicher.

»Ich möchte König werden«, erklärte Harald. »Und ich habe das Warten satt.«

Darius lächelte und ließ den Dolch los. »Ich schätze, dass Sie nicht mehr lange warten müssen, Sire.«

»Gut.« Harald starrte nachdenklich in sein Glas. »Warum sind Sie eigentlich zu mir gekommen, Darius? Rupert wäre ganz sicher die bessere Wahl gewesen. Er hat weit mehr zu gewinnen als ich.«

»Rupert hat sich zu einer unbekannten Größe entwickelt«, erwiderte Darius. »Er ist stärker geworden, entschlossener…

unabhängiger. Er war dem Reich immer treu ergeben, aber er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass bei ihm die Ethik vor der Politik kommt. Eine reichlich naive Einstellung für einen Prinzen – und völlig unmöglich für einen König. Außerdem befürchte ich, dass er und ich nicht reibungslos zusammenarbeiten könnten.«

»Mich kann er auch nicht leiden«, sagte Lady Cecelia mit einem Schmollmund, der ihr ausnehmend gut stand.

Harald stellte sein Glas ab und erhob sich. »Ich unterstütze Sie im Prinzip, Darius, aber weiter möchte ich im Moment nicht gehen. Vereinbaren Sie ein Treffen zwischen mir und Ihren… Freunden. Wenn ich schon Verrat begehen soll, dann möchte ich wissen, wer meine Mitverschwörer sind. Alle.«

»Mit Vergnügen.« Darius nickte. »Ich lasse Ihnen Bescheid geben, wenn es so weit ist.«

»Aber warten Sie nicht zu lange«, riet ihm Harald.

»Bestimmt nicht, Sire!«, versprach Darius.

Der Prinz verließ die Gemächer des Kriegsministers. Als Darius sich noch etwas Wein nachschenkte, sah er verblüfft, dass seine Hände zitterten.

»Unverschämter Rotzlöffel!«, knurrte er. »Dabei sollte er dankbar für die Chance sein, die wir ihm geben.«

»Könige sind nicht gerade für ihre Dankbarkeit bekannt«, meinte Lady Cecelia bissig. »Aber er kommt schon noch zur Einsicht. Er ist jung und machtgierig und längst nicht so klug, wie er uns gern einreden würde.«

»Unterschätzt ihn nicht!«, warnte Sir Blays und trat hinter dem Bücherregal hervor, das eine gut getarnte Geheimtür enthielt. Sir Guillam und Sir Bedivere verließen nach ihm das Versteck. Sobald sie im Zimmer standen, schwang die Geheimtür auf gut geölten Scharnieren wieder in ihre ursprüngliche Stellung zurück.

»Wir haben von Harald nichts zu befürchten«, erklärte Darius. »Er will unbedingt den Thron besteigen, und wir können ihm die Steine aus dem Weg räumen.«

»Heute Morgen hätte ich Ihnen noch zugestimmt«, meinte Blays nachdenklich und ließ sich in den Sessel Darius gegen­

über sinken. »Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich habe schon immer gesagt, dass dieser Prinz klüger ist, als man ihm zutraut, und leider scheine ich Recht zu behalten. Der frühere Harald war kein Problem; mit dem wären wir leicht fertig geworden. Aber dieser neue Harald – ich weiß nicht… Er hat sicher begriffen, dass er als König von unseren Gnaden nie mehr als eine Marionette der Barone sein wird.«

»Natürlich hat er das begriffen«, stimmte Darius zu und faltete selbstgefällig die fetten Hände über dem Bauch. »Aber was kann er tun? Wenn er uns an die Königliche Leibgarde verrät, hat er die Gelegenheit, vorzeitig König zu werden, ein für alle Mal verpasst. Und sobald er sein Ziel erreicht hat, wird er merken, dass er uns mehr denn je braucht. Aller Voraussicht nach ist Prinz Rupert bis dahin zurückgekehrt, in Begleitung des Champions und des Großen Zauberers. Nein, meine Herrschaften! Harald braucht uns – und wenn wir die Sache richtig anpacken, wird er uns immer brauchen.«

»Der Große Zauberer beunruhigt mich«, sagte Blays. »Was ist, wenn er und der Champion den Plan fassen, Harald zu stürzen und statt dessen Rupert zu krönen?«

»Wenn sich der Hohe Zauberer nicht grundlegend verändert hat, dann ist es ihm verdammt schnuppe, wer das Zepter schwingt, solange alle tun, was er befiehlt. Um Politik kümmert er sich nicht.«

»Und Rupert? Und der Champion?«

»Der Champion war immer loyal gegenüber dem ältesten Sohn«, sagte Darius langsam. »Für Rupert hatte er nie viel Zeit. Ich glaube nicht, dass der Champion ein Hindernis darstellt. Mit einiger Überredungskunst könnten wir ihn sogar dazu bringen, dass er Rupert für uns erledigt.«

Er schaute auf und bemerkte, dass Sir Guillam und Sir Bedivere immer noch standen. »Nehmen Sie doch Platz, meine Herren, sonst sieht es hier so unaufgeräumt aus.«

Guillam nickte kurz. Er trat auf den Stuhl zu, der ihm am nächsten stand, und ließ sich auf der Kante nieder. Seine wässrigen blauen Augen blinzelten in einem fort, und er lächelte Darius und Cecelia unsicher zu, als wolle er sich für seine Anwesenheit entschuldigen. Bedivere stand aufrecht da, mit geradem Rücken und die Hand in der Nähe des Schwerthefts. Er traf keine Anstalten, es sich bequem zu machen, und Darius musterte ihn eingehend. Bedivere hatte sein zerrissenes Kettenhemd und Wams gewechselt, und wenn man von einer gewissen Blässe absah, deutete nichts mehr auf die Schmerzen hin, die ihm der Astrologe zugefügt hatte. Aber trotz seiner gelassenen Miene und Haltung war er nicht entspannter als eine Katze, die vor einem Mäuseloch lauerte.

Den Mann umgab eine eiskalte Ruhe. Er schien nur auf den nächsten Befehl zum Töten zu warten. Wer weiß, dachte Darius, vielleicht dauert es nicht mehr lange.

Blays wischte sich verächtlich ein paar Spinnweben vom Ärmel. »Sie sollten Ihren Geheimgang auf Vordermann bringen, Darius! Die Akustik ist schrecklich, und an den Wänden sitzt der Schimmel!«

»Außerdem zog es wie verrückt«, beschwerte sich Guillam. »Es würde mich nicht wundern, wenn ich mir während der langen Warterei einen Schnupfen geholt habe. Was ist das überhaupt für ein Ort? Ich hatte den Eindruck, dass sich der Tunnel, in dem wir standen, über Meilen erstreckte.«

»Das stimmt«, bestätigte Darius. »Er gehört zum Lüftungssystem.« Er seufzte leise, als er die verständnislose Miene des Landgrafen sah. Um der guten Beziehungen willen blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als die Sache zu erklären. »Sir Guillam, Ihnen ist sicher schon aufgefallen, dass meine Gemächer keine Fenster besitzen. Ähnliches gilt für die meisten anderen Räume auf dieser Burg. Damit die Luft in den Räumen nicht stickig wird und uns alle vergiftet, muss sie ständig zirkulieren. Die vielen Öffnungen und Tunnel in den Burgwällen sind so angelegt, dass sie Frischluft ansaugen und die verbrauchte Luft ins Freie leiten. Ich habe im Lauf der Jahre viel Zeit damit verbracht, das endlose Labyrinth zu erforschen und in Karten einzutragen. Meine besonderen Ortskenntnisse haben sich schon des öfteren als ungemein nützlich erwiesen, wenn es darum ging… Informationen zu sammeln.«

»Damit erübrigt sich vermutlich das Lauschen an Schlüssellöchern«, spöttelte Blays.

Darius lächelte gezwungen. »Zumindest werden Sie nicht leugnen, Sir Blays, dass uns die Lüftungskorridore im Ernstfall einen ausgezeichneten Fluchtweg bieten.«

»Möglich«, räumte Blays ein. »Aber nur, wenn Sie diese Geheimtür auf Vordermann bringen. Es dauert viel zu lange, bis sie sich öffnen und schließen lässt. In einem echten Notfall wäre das verdammt hinderlich.«

Darius zuckte die Achseln. »Der Mechanismus arbeitet mit Gewichten. Er ist uralt, und ich verstehe zu wenig von der Materie, um ihn zu reparieren oder zu erneuern. Aber solange er seinen Dienst noch tut…«

»Was ist mit dem Umzug?«, fragte Blays plötzlich. »Stellt er ein Hindernis für Sie dar?«

»Ich habe diese Gemächer seit fünfzehn Jahren nicht mehr verlassen«, entgegnete Darius ruhig. »Niemand außer Ihnen und mir kennt das Geheimnis der Bibliothekswand.«

»Umzug?« Guillam sah ihn stirnrunzelnd an. »Welcher Umzug?«

»Das erkläre ich Ihnen später«, wehrte Blays ab. »Zurück zu meiner Frage, Darius…«

»Ich will es aber jetzt wissen!«, fauchte Guillam.

Darius sah Blays an. Er rechnete damit, dass der Landgraf seinen Begleiter in die Schranken weisen werde, stellte jedoch verblüfft fest, dass Blays seinen Ärger unterdrückte und Guillam kurz zunickte. Sieh an, dachte Darius. Allem Anschein nach hat Sir Blays die Dinge doch nicht so im Grif f , wie er jedem weiszumachen versucht.

»Sie müssen bedenken«, sagte Blays betont geduldig zu Guillam, »dass diese Burg ihre Bewohner vor gewisse einmalige Probleme stellt, da ihr Inneres viel weitläufiger als ihr Äußeres ist. Eines ist der Mangel an Fenstern und Frischluft.

Ein weiteres besteht darin, dass es aufgrund der vielen Wände zwischen den inneren und äußeren Räumen zu extremen Temperaturunterschieden in der Burg kommen kann. Die dicken Steinmauern speichern Hitze, sodass die inneren Gemächer stets wärmer sind als die äußeren. Aus diesem Grund bewohnen der König und seine höchsten Würdenträger im Sommer die angenehm kühlen Außenbezirke der Burg und ziehen sich, wenn der Winter kommt, in die warmen Innenbereiche zurück. Die unteren sozialen Schichten pendeln im Gegentakt hin und her. Und diejenigen, die wie Darius irgendwo zwischen den beiden Extremen rangieren, ziehen überhaupt nicht um. Ist nun auch Ihnen alles klar, Sir Guillam?«

»Die Sache klingt recht kompliziert«, meinte Guillam.

»Sie ist kompliziert«, bestätigte Darius. »Deshalb spielt der Zeitpunkt unserer Revolte eine so wichtige Rolle. Die allgemeine Konfusion, die während des Umzugs herrscht, wird unser Vorhaben begünstigen.«

»Danke«, sagte Guillam höflich. »Jetzt begreife ich die Zusammenhänge.«

»Dann können wir uns jetzt vielleicht unserem eigentlichen Anliegen zuwenden.« Darius' Stimme verriet Ungeduld.

»Es gibt eine Menge zu besprechen.«

»Was denn noch?«, erkundigte sich Blays. »Unsere Order lauteten, den König zu beleidigen und bloßzustellen und dann Prinz Harald auszuhorchen. Das haben wir getan. Soweit es mich betrifft, möchte ich so schnell wie möglich weg von hier. Ich wähle mir die Umgebung, in der ich lebe, lieber selbst aus.«

»Unsere Order lauteten auch, diskret vorzugehen«, fauchte Guillam. Er war bei Blays' Worten leicht errötet. »Nun bleibt dem König dank Bediveres Unvernunft keine andere Wahl, als zum Curtana-Schwert zu greifen!«

»Das hätte er so oder so getan«, sagte Blays.

»Nicht unbedingt! Vielleicht wäre es uns gelungen, ihn umzustimmen.« Guillam schüttelte verärgert den Kopf. »Zum Glück haben wenigstens Sie einen kühlen Kopf bewahrt, Darius. Wenn der König in die Vernichtung des Zauberschwerts einwilligt, könnte die Sache noch einen guten Ausgang nehmen.«

»Sie denken im Ernst, dass der König das Curtana preisgeben würde?«, fragte Blays ungläubig.

»Ich weiß nicht. Vielleicht. Wenn wir diesen jähzornigen Berserker in Zaum halten können…«

»Nun hören Sie endlich mit Ihrem Gewinsel auf!«, fiel ihm Bedivere ins Wort. Guillam knurrte wütend, und dann fuhr Bedivere herum und starrte ihn an. »Ruhe!«, sagte er scharf, und Guillam presste die Lippen zusammen. Das rötliche Feuer glomm wieder in Bediveres Augen. Guillam spürte, dass er bleich wurde. Seine Hände zitterten, und sein Mund war plötzlich sehr trocken. Bedivere lächelte kalt, und der Wahnsinn wich langsam aus seinem Blick, wenigstens so weit, dass er wie immer aussah.

»Bis hierher und keinen Schritt näher!«, sagte er leise.

Dann wandte er sich von dem verstörten Landgraf ab und starrte in die Ferne, gefesselt von etwas, das nur er sehen konnte.

Darius musterte den stumm vor sich hinbrütenden Krieger, ehe er den Griff des Giftdolches losließ. Er seufzte leise.

Berserker konnten in der Schlacht ein Segen sein, aber in einem Kriegsrat waren sie fehl am Platz. Als Darius zum ersten Mal von Sir Bedivere gehört hatte, war er von dem Gedanken angetan gewesen, einen Landgrafen zu haben, der sich auch als Attentäter einsetzen ließ. Aber nun kamen ihm allmählich Zweifel. Diesen Mann konnte niemand zügeln.

Sobald die Rebellion vorüber wäre, müsste man ihn ausschalten. Falls Bedivere nicht vorher verrückt spielte…

Blays beendete das unbehagliche Schweigen. »Dieses Treffen, das Harald fordert – lässt sich das durchführen?«

»Ich denke schon«, erwiderte Darius. »Obwohl es ein verdammt hohes Risiko bedeutet. Mich stört, dass wir uns alle an einem Ort einfinden sollen. Nur angenommen, unter uns wäre ein Verräter…«

»Wir können immer Wachen aufstellen, die dafür sorgen, dass wir nicht gestört werden.«

Darius seufzte resigniert. »Schön. Aber mir gefällt dieses Vorhaben nicht.«

»Es muss Ihnen nicht gefallen«, sagte Blays knapp. »Mir reicht, wenn Sie die nötigen Vorbereitungen treffen.«

Es entstand eine kurze Pause.

»Möchte jemand noch ein Glas Wein?«, fragte Cecelia.

Blays und Guillam schüttelten die Köpfe. Bedivere beachtete sie nicht.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass König Johann sterben muss?«, fragte Blays langsam. Alle Augen richteten sich auf ihn.

»Sie wissen, dass wir keine andere Wahl haben«, erklärte Guillam. »Solange er lebt, ist er ein Messer an unseren Kehlen. Es gäbe immer die eine oder andere Partei, die versuchen würde, ihn wieder an die Macht zu bringen. Er muss sterben.«

»Aber wenn Harald je dahinter käme…«

»Er wird nicht dahinter kommen«, sagte Darius. »König Johann wird gleich zu Beginn der Kämpfe den Tod finden, während Harald anderweitig beschäftigt ist. Bedivere wird das erledigen – und zwar so, dass der Verdacht auf den Astrologen fällt.«

Bedivere schaute auf. »Gehört der Mann ebenfalls mir?«

»Wir werden sehen«, meinte Darius ausweichend. Ein flüchtiges Lächeln erhellte Bediveres Züge.

»Ich kenne Johann seit vielen Jahren«, sagte Blays. »Er war kein schlechter König, verglichen mit anderen Herrschern.«

»Nach Ansicht unserer Auftraggeber ist ein König nur dann gut, wenn er tut, was die Barone wollen«, warf Guillam ein.

»Die Zeiten ändern sich«, stellte Blays fest. »Und wir ändern uns mit ihnen.« Er schüttelte den Kopf und ließ sich in seinen Sessel zurücksinken.

»Johann muss sterben«, erklärte Guillam. »Das ist auf die Dauer das Beste.«

»Das weiß ich auch«, entgegnete Blays. »Ich bin den Goldbaronen treu ergeben. Durch seine Drohung, das Curtana einzusetzen, bringt Johann meine Herren in Gefahr. Das kann ich nicht zulassen.«

»Das Gleiche gilt für uns«, sagte Guillam.

»Es ist dennoch traurig«, meinte Blays. »Ich habe ihn immer gemocht.«

»Er muss sterben«, bekräftigte Darius. In seiner Stimme schwang so viel Bitterkeit mit, dass ihn die drei Landgrafen neugierig ansahen.

»Was haben Sie gegen ihn?«, fragte Blays. »Ihre Mitverschwörer kann ich verstehen. Sie sehen eine Gelegenheit, mehr Macht oder mehr Geld zu erlangen, oder sie haben alte Rechnungen zu begleichen. Aber Sie…«

»Wir sind Patrioten«, erklärte Darius kühl.

Blays lächelte. »Die anderen vielleicht, aber Sie nicht. Sie haben Ihre eigenen Gründe, um an dieser Verschwörung teilzunehmen.«

»Wenn dem so wäre«, sagte Darius, »dann ist das meine Angelegenheit und nicht die Ihre.«

Stahl raspelte gegen Leder, als Bedivere mit raschem Griff sein Schwert zog und Darius die Spitze an die Kehle setzte.

»Sie verheimlichen uns etwas«, meinte Blays mit einem unangenehmen Lächeln. »Das können wir nicht dulden, verstehen Sie?«

»Wir brauchen Ihre Patrioten, um sicherzugehen, dass Haralds Hof sich den Befehlen der Barone unterwirft«, murmelte Guillam. »Aber wir brauchen nicht unbedingt Sie, Darius.

Genau genommen sind Sie nichts anderes als ein Vermittler.

Und Vermittler sollten nichts für sich behalten, oder? Deshalb finde ich wirklich, dass Sie uns Ihre eigenen Gründe mitteilen sollten.«

Darius hielt den Blicken ungerührt stand. Ein dünner Blutfaden lief ihm am Hals entlang, als Bediveres Schwert seine Kehle ritzte. Einen Moment lang schienen alle zu einem lebenden Bild erstarrt. Dann wechselten Blays und Guillam einen Blick, und Guillam nickte kurz in Richtung der völlig verängstigten Lady Cecelia. Blays packte sie an den Haaren und riss ihr den Kopf mit einem Ruck nach hinten. Sie schrie auf und wehrte sich, hielt aber sofort still, als ihr Guillam einen Dolch an die Kehle hielt. Selbst ihr leises Wimmern verstummte nach kurzer Zeit.

»Ich wollte Rache«, sagte Darius so leise, dass die Landgrafen seine Worte nicht gleich verstanden. Blays bedeutete Guillam, den Dolch einzuschieben, und ließ Lady Cecelia los.

Bedivere senkte sein Schwert ebenfalls, traf aber keine Anstalten, es in die Scheide zu stecken.

»Ich wollte nie Kriegsminister werden«, sagte Darius. »Ich erbte das Amt von meinem Vater. Niemand fragte nach meinen Wünschen und Zielen. Niemanden kümmerte es, dass ich weder das Zeug noch die Neigung für das Kriegshandwerk besaß. Ich hätte Magier werden können; dazu hatte ich Talent. Die Zauberer-Akademie bot mir einen Ausbildungsplatz an, noch ehe ich das Mannesalter erreichte. Aber der König und mein Vater ließen mich nicht gehen. Ich war als der künftige Kriegsminister ausersehen – und damit basta.

Ich versuchte anfangs, mein Bestes zu geben, aber mein Bestes war nie gut genug – also stellte ich nach einer Weile meine Bemühungen ein. Und der König, der Astrologe und der Champion beleidigten und verspotteten mich abwechselnd, weil ich nicht mit diesem Amt zurechtkam, das man mir gegen meinen Willen aufgedrängt hatte. Nach der Revolte wird Harald mir vermutlich jeden Posten geben, den ich mir wünsche, aber das ist nicht der Grund für meinen Verrat.

Mein Motiv ist Rache. Ich will Rache für all die Jahre der Kränkungen, die ich erdulden musste, für all die Beschimpfungen, die ich schlucken musste. Ich will, dass jeder hier bei Hofe, der sich jemals über mich lustig machte, zertreten und gedemütigt wird.«

»Sie werden es erleben«, sagte Blays. »Sie werden es erleben.«

»Ich will den Tod des Königs!«

Bedivere lachte rau und schob das Schwert in die Scheide.

Darius stieß einen Seufzer aus und legte die zitternde Hand auf den Arm von Cecelia, die zu ihm gelaufen war und nun neben seinem Sessel kauerte. An der Stelle, wo sich Guillams Dolch in ihre Haut gebohrt hatte, besudelte ein Blutfleck den hohen Kragen ihres Gewandes. Blays erhob sich.

»Ich denke, alles Wichtige ist besprochen. Lord Darius, Sie vereinbaren ein Treffen zwischen Prinz Harald und Ihren Patrioten. Je eher er sich für unsere Sache entscheidet, desto besser. Und sorgen Sie dafür, dass alle zugegen sind. Es wird höchste Zeit, dass wir uns Klarheit über unsere Freunde und Feinde verschaffen.« Blays lächelte kalt. »Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, was Sie zu tun haben, wenn jemand versuchen sollte, dem König von unseren Plänen zu erzählen.«

»Ich habe sämtliche Fäden fest in der Hand«, sagte Darius.

»Davon bin ich überzeugt. Gute Nacht, Lord, gute Nacht, Lady. Schlafen Sie wohl!«

Er verbeugte sich knapp, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum, gefolgt von Guillam und Bedivere. Cecelia wartete, bis sie sicher war, dass die drei Männer nicht zurückkehrten, und machte dann eine obszöne Geste in Richtung Tür.

»Die halten sich wohl für besonders schlau.« Cecelia rümpfte verächtlich die Nase. »Wenn du erst Harald auf deine Seite gezogen hast, wirst du die Macht hinter dem Thron sein, nicht die Barone.«

Darius tätschelte ihr beruhigend die Hand. »Sollen sie einstweilen ruhig glauben, sie hätten alles im Griff, Liebes.

Es schadet uns nicht und macht die Barone glücklich.«

»Und nach der Revolte?«

»Nach der Revolte dürfte es nicht allzu schwer sein, Harald zu beweisen, wer der wahre Mörder seines Vaters war…«

Cecelia lachte und klatschte boshaft in die Hände. »Und wem außer dir soll er vertrauen, wenn die Landgrafen erst entlarvt sind? Darius, mein Schatz, du bist ein Genie!«

Darius nippte lächelnd an seinem Wein. »Ist es dir inzwischen gelungen, Harald in dein Bett zu locken?«

»Noch nicht.«

Darius zog die sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch.

»Lässt du nach, meine Liebe, oder was?«

Cecelia lachte derb. »Das frage ich mich allmählich auch.

Wenn man dem Hofklatsch glauben darf, ist er völlig in Prinzessin Julia vernarrt. Ich denke, es reizt ihn, eine Frau zu umwerben, die sich nicht von seinen Verführungskünsten beeindrucken lässt. Aber das legt sich vermutlich bald. Und dann gehört er mir, ob er will oder nicht!« Sie zog nachdenklich die Stirn kraus. »König Harald. Das klingt gut. Und mit unserer Unterstützung kann er es zu Macht und Ansehen bringen.«

»Manchmal bezweifle ich das«, meinte Darius leise. »Wir spielen mit hohem Einsatz. Wenn irgendetwas danebengeht…«

»Darius, mein Angsthase!«, lachte Cecelia. »Nichts wird danebengehen. Du hast alles so sorgfältig eingefädelt. Was sollte jetzt noch dazwischenkommen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Darius. »Aber kein Plan ist vollkommen.«

Cecelia seufzte, erhob sich und hauchte Darius einen Kuss auf die Stirn. »Es war ein ermüdender Abend, Liebling. Ich sehne mich nach meinem Bett.«

»Natürlich. Wie geht es Gregory?«

»Leidet immer noch unter den Folgen von Julias Misshandlung, aber ich tue mein Bestes, damit er darüber hinwegkommt.«

Darius kicherte, und Lady Cecelia warf ihm einen liebevollen Blick zu. »Manchmal wünschte ich…«

»Tut mir Leid, mein Schatz«, unterbrach sie Darius. »Du weißt, dass ich noch nie viel für diese Art von Sport übrig hatte.«

»Es war nur so ein Gedanke«, meinte Cecelia. »Abgesehen davon geben wir ein gutes Team ab, nicht wahr?«

»Und ob!«, pflichtete ihr Darius bei. »Verstand gepaart mit Schönheit – eine unschlagbare Kombination. Gute Nacht, meine Liebe!«

»Gute Nacht«, sagte Cecelia und eilte zu ihrem Rendezvous.

Darius lehnte sich zurück und dachte über das Treffen nach, das er für Prinz Harald vorbereiten musste. Es gab viel zu tun.


Was zum Henker will ich hier eigentlich?, dachte Julia, während sie dem Seneschall durch den nächsten düsteren Korridor folgte. Aber sie kannte die Antwort bereits. Die Sorgen und Probleme, die ihr durch den Kopf schwirrten, raubten ihr noch den Verstand, wenn sie sich nicht durch irgendeine Tätigkeit ablenkte. Deshalb war ihr die Suche des Seneschalls zum verloren gegangenen Südflügel anfangs wie ein Geschenk des Himmels erschienen. Doch allmählich kamen ihr Zweifel. Sie wanderte nun seit Stunden durch die langweiligsten Gänge, die sie je gesehen hatte, die meiste Zeit im Kreis, wie es schien, und sie hegte den Verdacht, dass der Seneschall sie absichtlich in die Irre führte.

Er hatte ganz und gar nicht begeistert gewirkt, als sie mit der Bitte an ihn herangetreten war, an der Expedition teilzunehmen, doch wann wirkte der Seneschall schon begeistert?

Dem groß gewachsenen, ausgezehrten Mann mit der Glatze und den Adlerzügen stand unablässig die Sorge ins Gesicht geschrieben, die Welt könnte aus den Fugen gehen, wenn er sie nicht durch Rackern und Schuften zusammenhielt. Er war Mitte dreißig, sah zwanzig Jahre älter aus und machte sich nicht das Geringste daraus. Sein verblichener Überzieher hatte bessere Zeiten gesehen, und seine Stiefel vermittelten den Eindruck, als habe er sie jahrelang nicht mehr geputzt. Er war fahrig, pedantisch und grämlich, und das schienen noch seine besten Eigenschaften zu sein. Darüber hinaus besaß er jedoch einen phänomenalen Orientierungssinn, weshalb man ihm einige – oder besser gesagt: jede Menge – Zugeständnisse machte. Als Julia ihn das erste Mal aufsuchte, starrte er gerade düster in einen großen und komplexen Plan, während ein Dutzend schwer bewaffnete Angehörige der Leibgarde ungeduldig mit den Füßen scharrte und sich bemühte, seine finstere Miene noch zu übertreffen. Einer von ihnen entdeckte, dass Julia im Anmarsch war, und zupfte den Seneschall am Ärmel, um ihm die Neuigkeit zu unterbreiten.

»Ja, bitte – Sie wünschen?«

»Ich möchte mich Ihrer Expedition anschließen«, erklärte Julia gut gelaunt und beobachtete, wie der Seneschall die Augen zur Decke rollte und die Fäuste schüttelte.

»Nicht genug, dass diese Pläne hoffnungslos veraltet sind!

Nicht genug, dass man mich drängt, meinen Auftrag einen Monat früher zu erledigen als ursprünglich vereinbart! Nicht genug, dass man mir zwölf Neandertaler in Kettenhemden als Schutztruppe zumutet! Nein, zu allem Übel will man mir nun auch noch Prinzessin Julia aufhalsen! Vergessen Sie es! Nicht mit mir! Ich bin der Seneschall dieser Burg und muss mir das nicht bieten lassen!«

»Ich wusste, dass mein Angebot Sie freuen würde«, sagte Julia.

Der Seneschall schien zwischen einem Schlaganfall und einem Herzinfarkt zu schwanken, begnügte sich dann aber damit, schrecklich alt und erschöpft auszusehen. »Wie kommen Sie ausgerechnet auf mich, Prinzessin? Die Burg ist groß. Es gibt Hunderte von Leuten, die Sie ärgern können.

Was habe ich Ihnen getan?«

»Nun seien Sie nicht albern!«, herrschte ihn Julia an. »Ich will einfach nur etwas Vernünftiges tun und gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich Sie nicht bei der Arbeit behindern werde.«

Der Seneschall sah aus, als habe er Zahnschmerzen. »Muss das sein? Sie richten immer so viel Schaden an, wenn Sie versuchen, etwas Vernünftiges zu tun.« Er bemerkte die Blitze, die in Julias Augen zuckten, und seufzte resigniert. »Also schön, wenn Sie unbedingt meinen! Aber bleiben Sie in meiner Nähe, unternehmen Sie keine Streifzüge auf eigene Faust und bitte, Prinzessin, schlagen Sie niemanden, bevor Sie das mit mir abgesprochen haben!«

»Wo denken Sie hin!«, sagte Julia vorwurfsvoll. Der Seneschall sah sie nur stumm an.

Und so folgte Julia dem Seneschall einige Zeit später gelangweilt durch schwach beleuchtete Gänge irgendwo in den Tiefen der Burg und kam rasch zu dem Schluss, dass dies kein besonders zündender Einfall gewesen war. Aber dann bog der Seneschall scharf nach rechts ab, und plötzlich war alles anders. Bei den zahllosen Fluren und Korridoren der Burg konnte es natürlich nicht ausbleiben, dass manche davon im Lauf der Zeit nicht mehr benutzt wurden und in Vergessenheit gerieten. Julias Neugier erwachte, als sie merkte, dass der Gang, der nun vor ihnen lag, seit Jahren nicht mehr betreten worden war. Die Holzvertäfelung der Wände wirkte matt und staubig. Dichte Spinnweben hüllten die leeren Lampenschalen und Fackelhalterungen ein. Der Seneschall ließ die Gruppe anhalten, während zwei der Männer die Laternen anzündeten, die sie mitgebracht hatten. Dann drang er an der Spitze des Suchtrupps in den Korridor vor. Julia zog ihren Dolch aus dem Stiefel und hielt ihn stoßbereit. Die düstere Stille weckte in ihr unbehagliche Erinnerungen an den Dunkelwald.

Nach einer Weile teilte sich der Gang, und der Seneschall ließ die Gruppe erneut anhalten, während er mehrere Pläne zu Rate zog. Julia trat ein paar Schritte vor und spähte in das Dunkel. Der linke Korridor schien in einem weiten Bogen in die Richtung zurückzuführen, aus der sie gekommen waren, während der rechte Abschnitt in eine Finsternis eintauchte, die ihr ein Kribbeln im Nacken verursachte. Julia schüttelte den Kopf, um das dumpfe Angstgefühl zu vertreiben, und zwang sich, tief durchzuatmen. Der Dämonenwald lag Meilen entfernt. Ein wenig Dunkelheit würde sie nicht umbringen.

Julia umklammerte den Dolch fester, als könne er ihr Trost bieten. Ein grimmiges Lächeln umspielte ihre Lippen. Obwohl inzwischen so viel Zeit vergangen war, ließ sie in ihrem Gemach immer noch eine Kerze brennen, wenn sie sich schlafen legte. Die lange Nacht hatte nicht nur bei Rupert ihre Spuren hinterlassen. Ihr Herz begann plötzlich zu rasen, als sie merkte, dass jemand dicht neben ihr stand. Sie erkannte den Seneschall und beruhigte sich wieder.

»Links oder rechts?«, fragte sie und merkte zu ihrer Erleichterung, dass ihre Stimme ruhig klang.

»Ich schwanke noch«, antwortete der Seneschall gereizt.

»Sämtlichen Plänen zufolge müssten wir uns nach links wenden, aber dagegen sträubt sich mein Gefühl. Dagegen sträubt es sich mit aller Macht. Ach was, zum Henker mit den Plänen! Wir gehen nach rechts. Mitten hinein ins Dunkel.«

»Das hätte ich mir denken können«, murrte Julia.

»Was? Sprechen Sie laut und deutlich, Prinzessin! Ihre Angewohnheit, vor sich hin zu murmeln, geht mir zunehmend auf den Geist.«

Julia zuckte nur mit den Schultern. Sie hatte es aufgegeben, die bissigen Bemerkungen des Seneschalls persönlich zu nehmen. Sein Zorn war offenkundig gegen die Welt und ihre Unzulänglichkeiten gerichtet und ergoss sich eher zufällig über die Menschen, die ihm gerade in den Weg kamen.

»Weshalb suchen wir überhaupt nach dem Südflügel, Sir Seneschall?«

»Weil er seit zweiunddreißig Jahren verschwunden ist, Prinzessin! Verschwunden wie verschollen, nicht mehr aufzufinden, den Blicken der Burgbewohner entzogen, ohne Erlaubnis untergetaucht! Deshalb suchen wir ihn. Was sollen wir sonst tun? Eine Party zu seinem zweiunddreißigjährigen Verschwinden feiern?«

»Natürlich nicht, Sir Seneschall«, sagte Julia geduldig.

»Ich meine, warum suchen wir ausgerechnet jetzt danach?

Wie es scheint, ist man all die Jahre auch ohne diesen Südflügel ausgekommen. Weshalb nimmt man ihn plötzlich so wichtig?«

»Hm.« Der Seneschall warf der Prinzessin einen galligen Blick zu. »Ich gehe davon aus, dass Sie mich weiter belästigen werden, bis Ihre Neugier befriedigt ist…«

»Voll ins Schwarze getroffen«, bestätigte Julia.

Der Seneschall seufzte, warf einen verstohlenen Blick auf seine bewaffneten Begleiter und raunte Julia dann ins Ohr:

»Es ist im Grunde kein Geheimnis, aber mir wäre es lieber, wenn die Leute hier erst ganz zuletzt erfahren, wonach wir eigentlich Ausschau halten. Sie sind dem König zwar treu ergeben… aber wozu ein Risiko eingehen?«

»Weiter«, drängte Julia. Die ungewohnte Anspannung des Seneschalls hatte ihre Neugier geweckt.

»Wir suchen nach dem Südflügel«, sagte der Seneschall leise, »weil sich dort das Alte Arsenal befindet.«

Julia sah ihn verständnislos an. »Hat das eine tiefere Bedeutung, die mir irgendwie entgangen ist?«

»Der König will das Curtana-Schwert einsetzen«, erklärte der Seneschall. »Und dieses Schwert befindet sich im Alten Arsenal.«

»Verstanden.«

»Das freut mich«, sagte der Seneschall mit einer Spur von Sarkasmus. »Möchten Sie sonst noch etwas wissen?«

»Ja«, entgegnete Julia trocken. »Wenn dieses Zauberschwert so mächtig ist, wie alle behaupten, weshalb hat sich dann im Lauf der Jahre niemand die Mühe gemacht, das Alte Arsenal wiederzufinden und sich das Ding unter den Nagel zu reißen?«

»Es gab genug Leute, die es versuchten.«

»Und was geschah mit ihnen?«

»Wir wissen es nicht. Keiner kehrte je zurück.«

»Geil!«, meinte Julia. »Mir fällt auf, dass Sie das mit keinem Wort vor unserem Aufbruch erwähnten.«

»Ich dachte, Sie wüssten es.«

Julia ließ nicht locker. »Gesetzt den Fall, wir finden das Alte Arsenal – was mir immer unwahrscheinlicher vorkommt, je länger ich darüber nachdenke –, würden Sie das Curtana dann überhaupt erkennen?«

Der Seneschall starrte in die Schwärze des rechten Korridors und lächelte grimmig. »Das Curtana ist ein Kurzschwert, bestenfalls einen Meter lang, und es besitzt keine Spitze. Vor vielen hundert Jahren hieß es noch das Schwert der Gnade.

Man überreichte es jedem Herrscher des Waldkönigreichs bei der Krönung als Symbol der Gerechtigkeit, die durch Mitleid gemildert wird. Und dann bestieg Jakob VII. den Thron. Er nahm das Curtana und ließ eine schwarze Zaubergemme in den Griff einarbeiten. Dieser Stein versklavte die Gedanken aller, die ihn erblickten. Der Legende nach hatte ihn König Jakob vom Dämonenfürsten persönlich erhalten, doch die Berichte aus jener Epoche sind spärlich. Es war eine Zeit des Mordens und des Wahnsinns, in der das Curtana zum Schwert des Zwangs wurde, zum Symbol der Tyrannei. Seit dem Sturz von König Jakob hat niemand mehr diese Klinge gezogen, aber es heißt, dass sie selbst wohl verwahrt in ihrer Scheide eine Aura von Blut, Tod und Schrecken verbreitet. Ich habe das Schwert nie gesehen, aber ich glaube nicht, dass es mir schwer fiele, es zu erkennen.«

Der Seneschall wandte sich ab und warf einen grimmigen Blick auf die Männer der Leibgarde, die in das Dunkel spähten und argwöhnisch ihre Schwerter umklammerten. »Wenn Ihnen im Moment keine Fragen mehr einfallen, Prinzessin, sollten wir unseren Weg fortsetzen, ehe diese Dumpfbacken auf den Gedanken verfallen, ihre Initialen in die Holzpaneele zu ritzen.«

Er wartete ungeduldig, bis jeder der Bewaffneten seine Laterne entfacht hatte, und drang dann unerschrocken in die Finsternis des rechten Korridors vor. Ist der Mann echt noch zu retten?, dachte Julia, während sie und die Wachen sich bemühten, den Seneschall einzuholen. Nichts gegen Tapf erkeit und Heldenmut, aber das geht denn doch ein Stück zu weit! Erst erzählt er mir Schauergeschichten über Suchtrupps, die nie zurückkehrten, und gleich darauf prescht er in das Dunkel, ohne einen einzigen Kundschaf ter vorauszuschicken. Julia schüttelte missmutig den Kopf. Ich hätte mein Schwert nie aus der Hand geben dürf en…

Die Schritte der kleinen Expedition hallten gedämpft von den staubigen Wänden wider, aber selbst das schwache Echo klang in der unheimlichen Stille des Korridors unnatürlich laut. Die Männer drängten sich zusammen und hielten die Laternen hoch, doch das Dunkel schien den kleinen Lichttümpel gierig aufzusaugen. In dem fahlen Halbdunkel fiel es schwer, die Entfernungen abzuschätzen, und Julia fragte sich, ob der verdammte Gang denn überhaupt kein Ende mehr nehmen wollte. Sie warf einen Blick zurück, aber die Stelle, an der sich der Korridor verzweigt hatte, war längst von der Schwärze geschluckt worden. Wenn sie angestrengt horchte, hörte sie ein schwaches Rascheln, erkannte jedoch nicht, woher es kam. Wahrscheinlich Ratten, dachte sie und umklammerte ihren Dolch noch fester. Nach zweiunddreißig ungestörten Jahren müssen sie ja denken, dass dieser Teil der Burg ihnen gehört.

»Wie kann man nur einen ganzen Flügel aus den Augen verlieren?«, fragte sie den Seneschall. Es war tröstlich, die eigene Stimme zu hören.

»Allem Anschein nach vermurkste der Astrologe einen seiner Zaubersprüche«, entgegnete der Seneschall geistesabwesend, während er im Schein der Laterne, die ein Leibgardist hochhielt, unschlüssig seinen Plan studierte. »Niemand weiß ganz genau, was er eigentlich vorhatte, und da er sich immer noch geniert, darüber zu sprechen, werden wir es höchstwahrscheinlich nie mehr erfahren. Jedenfalls kam es zu einer gewaltigen Explosion, und plötzlich endeten die Türen und Korridore, die bis dahin zum Südflügel geführt hatten…

anderswo. Die meisten Menschen, die sich in diesem Teil der Burg aufhielten, fanden zwar den Weg nach draußen, aber es gab keinen Weg mehr nach drinnen. Und einige Leute blieben der Legende nach für immer verschollen.«

»Schrecklich.« Julia presste schaudernd die Hände vor das Gesicht.

»Wenn Ihnen die Antworten nicht gefallen, dürfen Sie keine Fragen stellen«, sagte der Seneschall schroff. »Und jetzt bitte ich mir Ruhe aus. Ich versuche mich zu konzentrieren.«

Julia verkniff sich eine gereizte Antwort, und der Seneschall beugte sich wieder mit gerunzelter Stirn über seinen Plan. Die Luft wurde stickiger, je weiter der Suchtrupp in das Dunkel vordrang, und Julia spähte angestrengt umher, da das leise Scharren inzwischen den Rand des Lichtkreises erreicht hatten. Die Männer hörten es auch, und einer nach dem anderen zog sein Schwert. Es sind nur ein paar Ratten, redete sich Julia ein, aber im Geist sah sie Menschen, die sie aus dem Dunkel heraus beobachteten. Männer und Frauen, durch die lange Abgeschiedenheit sonderbar oder gar verrückt geworden waren. Kinder, die nie eine andere Welt gekannt hatten als den Südflügel. Julias Finger schlossen sich fest um den Dolch. Selbst Ratten können gef ährlich sein, dachte sie trotzig.

Und dann stolperte Julia und wäre um ein Haar gestürzt, als der Boden plötzlich wankte und unter ihren Füßen wegsackte. Die Korridorwände schienen sich auszuweiten und wieder näher zu rücken. Diese Bewegung dauerte nur Sekundenbruchteile, aber in dieser kurzen Zeit verkehrte sich für sie rechts und links, oben und unten. Alles drehte sich rasend schnell im Kreis und stand mit einem Ruck wieder still. Dunkel schluckte das Laternenlicht, und sie hörte wütende, entsetzte Stimmen, aber nur schwach, wie von weit weg. Sie wusste, dass sie in Bewegung bleiben musste, aber jeder Schritt fiel ihr schwerer, und ihre Muskeln schmerzten von der Anstrengung, die es kostete, sich vorwärts zu schleppen.

Ein gewaltiger Druck baute sich in ihrem Innern auf, drang von außen auf sie ein und versuchte sie aufzuhalten, aber Julia gab nicht nach. Das war nicht ihre Art. Der Druck erreichte einen Höhepunkt, doch Julia spürte, dass Menschen in ihrer Nähe waren, die sie in ihrem Kampf unterstützten. Sie vereinigten ihre Kräfte und warfen sich gemeinsam nach vorn. Und dann kehrte das Licht zurück, und die Welt stand wieder still.

Julia ging schwer atmend in die Hocke und wartete, bis sie wieder einen klaren Kopf hatte. Sie war erschöpft und in Schweiß gebadet, als wäre sie stundenlang gerannt, aber als sie sich umschaute, erkannte sie, dass sie sich immer noch in dem dunklen Korridor befand. Der schwache Schein kam von einer einzelnen Laterne in der Hand eines Soldaten, der neben ihr kauerte und fast so elend aussah, wie sie sich fühlte. Julia runzelte die Stirn und warf einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Seneschall lehnte schwach an einer Wand und starrte finster in einen seiner Pläne, aber von den restlichen elf Männern der Leibgarde war nichts zu sehen.

»Was zum Henker war denn das?« fragte Julia, nachdem sie die helfend ausgestreckte Hand des Soldaten unwirsch zur Seite geschoben und sich mit zitternden Knien allein aufgerichtet hatte. »Und wo sind unsere Leute geblieben?«

»Der Südflügel scheint von einer Barriere umgeben zu sein, die offenbar entstand, als der Zauber des Astrologen fehlschlug«, meinte der Seneschall nachdenklich, während er pedantisch seinen Plan faltete und in die Tasche steckte. Er spähte den Korridor entlang, aber das undurchdringliche Dunkel lieferte keine Anhaltspunkte. Der Seneschall rümpfte die Nase und wandte sich ab. »Der Rest der Leibgarde muss sich auf der anderen Seite dieser Barriere befinden. Typisch.

Die Kerle sind nie da, wenn man sie braucht.«

Julia unterdrückte ihren Impuls, den Mann an den Schultern zu packen und zu schütteln, bis er zur Vernunft kam.

Stattdessen bedachte sie ihn mit einem Lächeln. »Sir Seneschall, wir können sie nicht einfach zurücklassen…«

»Ach, denen ist bestimmt nichts zugestoßen. Wir lesen sie auf dem Rückweg wieder auf. Im Übrigen sind die Leute an ihrer misslichen Lage selbst schuld. Uns gelang es, die Barriere zu durchbrechen, weil wir uns nicht geschlagen gaben und am Ende sogar gemeinsam kämpften. Zu dieser Einsicht waren sie nicht fähig. Ihr Pech, aber egal. Wir haben den Durchbruch in den Südflügel geschafft, und das allein zählt.

Erstmals seit zweiunddreißig Jahren… Nun kommen Sie schon, meine Liebe, stehen Sie hier nicht herum! Es gibt eine Menge zu tun.«

Und damit entriss der Seneschall dem Gardisten die Laterne und marschierte los, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Julia und der Soldat hatten Mühe, ihm zu folgen. Während sie tiefer in den Südflügel vordrangen, musterte Julia ihren Begleiter verstohlen. Er war klein und gedrungen, mit einem Stiernacken und kräftigen, muskelbepackten Armen.

Irgendwie erinnerte er sie an einen Riesen, den man an den Knien abgeschnitten hatte. Er war vermutlich um die Vierzig, wirkte durch seine grimmige Miene jedoch um ein gutes Stück älter. Das harte Gesicht wurde von kurz geschorenem weißblondem Haar umrahmt, und in seinen Augen lag eine lauernde Wachsamkeit, die Julia beruhigend fand. Was immer geschah, diesen Mann konnte nichts erschrecken.

»Ich heiße Bodeen«, sagte er plötzlich. »Falls Sie das wissen wollen.«

»Tut mir Leid, wenn ich Sie angestarrt habe«, meinte Julia zerknirscht.

»Das haben Sie nicht«, versicherte er. »Aber mir entgeht wenig – auch keine versteckte Neugier.«

»Bleiben Sie weiter so aufmerksam«, sagte Julia. »Das hilft uns vielleicht, dieses Abenteuer lebend zu überstehen.«

Sie lachten beide, aber es war ein Lachen, das eher angespannt als befreit klang. Unvermittelt blieb der Seneschall stehen, spähte in einen Nebenkorridor und betrat ihn zögernd.

Julia und Bodeen folgten ihm. Der Seneschall führte sie durch ein Labyrinth aus verwinkelten Gängen, gewundenen Treppen, spinnwebenverhangenen Türen und Öffnungen, bis die Prinzessin jeglichen Zeit- und Richtungssinn verloren hatte. Sie fühlte sich seltsam desorientiert, fast so, als stünde sie still, und alles ringsum wäre in Bewegung.

Bodeen ging geschmeidig neben ihr her, stets auf der Hut vor möglichen Gefahren, fast wie eine Katze auf Beutezug.

Unter anderen Umständen hätte Julia sein Verhalten als störend empfunden, aber seit sie den Südflügel betreten hatten, wurde sie das Gefühl nicht los, dass jemand im Dunkel jenseits des Laternenscheins lauerte und sie beobachtete. So angestrengt sie in die Schwärze spähte, so abrupt sie sich auch umdrehte, nie sah sie jemanden – aber das Gefühl blieb und lastete auf ihrer Seele, bis sie am liebsten laut geschrien hätte. Sie umkrampfte den Dolch, bis ihre Fingerknöchel schmerzten, und verwünschte insgeheim ihren Entschluss, sich an der Suche zu beteiligen. Wütend starrte sie den gleichgültigen Rücken des Seneschalls an – und konnte gerade noch verhindern, dass sie mit ihm zusammenstieß, als er wieder einmal unvermittelt stehen blieb. Er legte den Kopf in den Nacken und sog prüfend die Luft ein, wie ein Jagdhund, der nach einer unbestimmten Fährte schnüffelt. Dann ließ seine Anspannung etwas nach, und er drehte sich zu ihr um.

»Irgendetwas stimmt nicht«, erklärte er ruhig.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Julia. Sie verschwieg ihr eigenes Unbehagen, aus Angst, sich lächerlich zu machen.

»Ich kann es schwer in Worte fassen.« Der Seneschall ließ seine Blicke umherschweifen. Ein Schauder durchlief ihn.

»Welchen Zauber auch immer der Astrologe damals erprobte, er muss verdammt stark gewesen sein. Stärker, als der Mann eingestehen wollte. Und er ist bis heute nicht verflogen. Er sitzt in den Holzpaneelen und Steinen, zittert in der Luft…«

»Heißt das, dass wir hier in Gefahr sind?«, fragte Bodeen und hob das Schwert wie zum Angriff.

»Ja. Nein. Ich weiß es nicht.« Der Seneschall runzelte die Stirn und sah Bodeen und Julia ratlos an, als erwarte er von ihnen die richtige Antwort. Dann drehte er sich brüsk um.

»Wir verschwenden unsere Zeit. Die Schatzkammern sind nicht weit. Kommen Sie!« Er schien einen kurzen Dialog mit seinem sechsten Sinn zu halten, ehe er in einen Seitenkorridor abbog und zuversichtlich losmarschierte, ohne sich zu vergewissern, ob die Prinzessin und der Gardist ihm in das Dunkel folgten.

Die Stille erdrückte Julia mehr als alles andere, und das nicht nur, weil sie sich an den Dunkelwald erinnert fühlte.

Die endlosen Korridore schienen jeden Laut zu schlucken, als wehrte sich der Südflügel gegen jede Ruhestörung. Bodeen ließ den Blick aufmerksam durch das Dunkel schweifen, musterte jede Tür und jeden Durchgang, fand jedoch keinen schlüssigen Hinweis, dass sie beobachtet oder verfolgt wurden. Und doch war es gerade diese Lautlosigkeit, die Julia davon überzeugte, dass sie nicht allein waren. Sämtliche Instinkte meldeten ihr, dass ganz in der Nähe eine tödliche Gefahr drohte, und tief in ihrem Innern wusste sie mit tödlicher Sicherheit, dass jenseits des Lichtkreises etwas Böses lauerte. Blinde Panik stieg in ihr auf, aber sie verdrängte sie gewaltsam. Ihrem Entsetzen konnte sie nachgeben, wenn sie Zeit dazu hatte.

Der Korridor verengte sich plötzlich, und die Wände kamen bedrohlich auf sie zu. Die Laterne des Seneschalls warf einen gelblichen Schein auf verblichene Tapeten und die Porträts längst verstorbener Männer und Frauen. Nach ein paar Schritten blieb der Burgverwalter vor einer verschlossenen, mit reichem Schnitzwerk geschmückten Tür stehen und runzelte die Stirn. Plötzlich spürte Julia die Nähe einer dunklen, gefährlichen und entsetzlich vertrauten Macht. Sie warf Bodeen einen Blick zu, doch der wandte den Kopf nach hinten und spähte den Korridor entlang, den sie eben hinter sich gelassen hatten. Er hielt sein Schwert kampfbereit in der Hand, schien aber nicht sonderlich beunruhigt. Julia starrte die verschlossene Tür an und konnte nicht verhindern, dass sie zu zittern begann. Die Ahnung, dass sich hinter dieser Tür etwas Schreckliches verbarg, überwältigte sie. Sie fuhr sich mit der Zunge über die ausgedörrten Lippen und hielt den Dolch mit der Spitze nach vorn.

»Alles in Ordnung?«, fragte Bodeen leise.

»Ja«, entgegnete Julia mit gepresster Stimme. »Wenn man davon absieht, dass ich in diesem Korridor ein ungutes Gefühl habe…«

Bodeen nickte ernst. »Das ist das Dunkel. Lassen Sie sich davon nicht beunruhigen!«

»Es ist mehr als das. Hören Sie nie auf Ihre Instinkte?«

»Doch. Ständig. Aber ich vertraue in erster Linie meinen Augen und Ohren, und bis jetzt lässt nichts den Schluss zu, dass sich in diesem verdammten Flügel außer uns und ein paar Spinnen noch jemand befindet.«

Julia schüttelte störrisch den Kopf. »Hier ist etwas, und das flößt mir Angst ein. Wir kommen diesem Ding immer näher.«

»Wenn ihr beide fertig seid«, meinte der Seneschall säuerlich, »kann ich euch mitteilen, dass wir unser Ziel fast erreicht haben. Hinter dieser Tür befindet sich der Südturm, und dahinter liegt der Eingang zum Schatzhaus.«

Julia sah ihn skeptisch an. »Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich sicher!«

»Warum spannen Sie uns dann so lange auf die Folter?«

»Weil die Tür mir irgendwie Rätsel aufgibt!«, raunzte der Seneschall. »Ich weiß, dass sie zum Südturm führt, aber…

mich überfallen immer wieder Zweifel.«

»Wollen Sie damit sagen, dass wir uns verlaufen haben?«

Julias Herz begann wild zu klopfen.

»Unsinn! Ich bin nur nicht völlig sicher, wo wir sind.«

»Großartig«, murmelte Bodeen.

Der Seneschall bedachte die Tür mit einem bösen Blick und drückte dann vorsichtig die Klinke herunter. Julia zückte den Dolch. Nach einem raschen Blick auf Julia und Bodeen schob der Seneschall die Tür einen Spalt auf. Gleißendes Licht floss durch die Öffnung und vertrieb das Dunkel. Julia und der Seneschall wichen zurück, verwirrt durch die plötzliche Helligkeit, und Bodeen trat mit raschen Schritten zwischen sie und die Tür. Er wartete, bis sich seine Augen an das neue Licht gewöhnt hatten, und schob die Tür mit der Stiefelspitze auf. Sie schwang langsam nach innen, und Bodeen pfiff leise durch die Zähne, als helles Tageslicht in den Korridor flutete.

»Sehen Sie sich das an!«, sagte er langsam. »Sie werden es nicht glauben…«

Julia spähte misstrauisch umher, ehe sie neben die beiden Männer trat. Das übermächtige Gefühl einer drohenden Gefahr war einem schwachen Unbehagen gewichen, aber den Verdacht, dass sie beobachtet wurden, konnte sie immer noch nicht abschütteln und warf einen Blick durch die geöffnete Tür. Einen Moment lang blinzelte sie, geblendet von der plötzlichen Helligkeit, und dann kam ihr zu Bewusstsein, dass sich vor ihr der endlose Himmel ausbreitete. Wolken schwebten vorbei, weich und wattig, so nahe, dass sie fast die Hand danach ausstrecken konnte. Sie schaute nach oben und keuchte auf. Ihr Magen schien in die Tiefe zu sacken. Hoch über ihr, hundert Fuß oder mehr, befand sich der Erdboden.

Die Landschaft war auf den Kopf gestellt! Julia schloss die Augen und wartete, bis sich ihr Magen beruhigt hatte, ehe sie es erneut wagte, einen Blick nach draußen zu werfen. Sie hatte im Allgemeinen keine Angst vor großen Höhen, aber dieses umgekehrte Panorama, das der natürlichen Ordnung der Dinge so lässig trotzte, machte ihr gewaltig zu schaffen.

»Mal was ganz anderes«, sagte sie schließlich und zwang sich, nach oben zum Erdboden zu schauen.

»Ja, nicht wahr?«, entgegnete der Seneschall fröhlich, und Julia stellte verwirrt fest, dass es ihm nicht das Geringste auszumachen schien, seine Blicke nach oben und dann wieder nach unten schweifen zu lassen. Mehr noch, er lächelte! »Das ist die Aussicht vom Südturm, Prinzessin – oder zumindest von dem Punkt, an dem sich der Südturm früher befand.

Wenn Sie nach unten – äh, ich meine nach oben schauen, können Sie den Burggraben ganz deutlich erkennen. Faszinierend. Absolut faszinierend. Und es handelt sich keineswegs um eine Illusion. Offenbar hat in diesem Türrahmen so etwas wie eine Umkehr des Raumes stattgefunden. Ich spüre es ganz deutlich. Und ich nehme an, dass jeder, der über diese Schwelle tritt, nach oben fällt anstatt nach unten.«

»Bitte sehr – nach Ihnen«, sagte Julia. Der Seneschall lachte glucksend. Bodeen starrte mit gerunzelter Stirn zum Boden hinauf.

»Weshalb hat niemand bemerkt, dass der Turm die ganze Zeit über verschwunden war?«, fragte Julia bedächtig. »Das muss doch von außen irgendwie aufgefallen sein.«

»Eigentlich nicht«, erklärte der Seneschall, der immer noch eingehend die Landschaft betrachtete. »Das Äußere der Burg besteht hauptsächlich aus Trugbildern.«

»Zumindest wissen wir jetzt, was den anderen Suchtrupps zugestoßen ist«, erklärte Bodeen unvermittelt. Julia und der Seneschall traten vorsichtig einen Schritt zurück, ehe sie ihn fragend ansahen.

»Das ist doch glasklar«, fuhr der Gardist ruhig fort und blinzelte in das Sonnenlicht. »Die Leute wollten wie Sie, Sir Seneschall, durch den Südturm zum Schatzhaus vordringen.

Das war schließlich der Haupteingang. Leider hatten die Führer nicht Ihr Format. Sie spürten nicht, dass sich die Tür in eine Todesfalle verwandelt hatte. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit, traten sie über die Schwelle und stürzten in den Tod.«

»Aber… jemand müsste doch die zerschmetterten Körper gefunden haben«, widersprach Julia.

Bodeen wandte sich mit einem Achselzucken von der Tür ab. »Kann gut sein, dass sie in den Burggraben fielen – oder dicht daneben. Und das Graben-Monster ist immer hungrig.«

»Es steht nicht fest, dass alle Suchtrupps diesen Weg nahmen«, sagte der Seneschall. »Und selbst wenn dem so war, halte ich es für unwahrscheinlich, dass niemand die Falle überlebte.«

Bodeen lächelte grimmig. »Vielleicht gibt es weitere Fallen, die wir noch nicht entdeckt haben.«

Einen Moment lang sahen sich die drei wortlos an.

Dann zog der Seneschall resigniert die Schultern hoch und starrte erneut durch die Tür.

»Und was tun wir jetzt?«, erkundigte sich Julia. »Auf diesem Weg gelangen wir wohl nicht zum Schatzhaus.«

»Ich glaube doch«, sagte der Seneschall. »Mir kommt da eben ein Gedanke…«

Julia warf Bodeen einen Blick zu. »Rutscht Ihnen dabei auch das Herz in die Hose?« Bodeen nickte ernst.

»Der Südturm mag zwar verschwunden sein«, fuhr der Seneschall fort, »aber die Tür zum Schatzhaus gibt es noch. Ich kann sie gut erkennen, gleich da drüben an der jetzigen Au­

ßenmauer. Und mehr noch – entlang der Mauer befindet sich eine Treppe, welche die beiden Türen verbindet.«

»Eine Treppe?«, fragte Julia. »Ist sie unversehrt geblieben?«

»Mehr oder weniger. Die Stützen, die sie trugen, scheinen zwar mit dem Turm verschwunden zu sein, aber sie wirkt einigermaßen stabil.«

»Habe ich Sie richtig verstanden?«, erkundigte sich Julia.

»Sie erwarten von uns, dass wir über diese Schwelle treten, den Gedanken an einen hundert Fuß tiefen Abgrund verdrängen und eine frei schwebende, bröckelige Treppe entlang balancieren – um zu einer Tür zu gelangen, die aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin versperrt ist?«

»So etwas nenne ich scharfe Logik«, lobte der Seneschall.

Julia schaute Bodeen an. »Sie zünden ihm zuerst eine. Sie stehen näher als ich.«

»Sie begeben sich in keine echte Gefahr«, meinte der Seneschall begütigend.

»Was Sie nicht sagen!«, fauchte Julia. »Ich gehe keinen Schritt weiter.«

»Prinzessin Julia«, erklärte der Seneschall mit großer Entschiedenheit, »ich gehe. Und Bodeen geht ebenfalls. Wenn Sie hier bleiben und auf unsere Rückkehr warten oder allein durch die dunklen Korridore zurückkehren wollen, steht Ihnen das natürlich frei.«

Julia starrte ihn zornig an und fuhr dann zu Bodeen herum.

Der zuckte hilflos die Achseln.

»Tut mir Leid, Prinzessin. Der Seneschall hat das Kommando.«

Julia wandte sich empört ab. »Also schön – dann bringen wir es hinter uns!«

Der Seneschall bedachte sie mit einem aufreizenden Grinsen, trat einen Schritt vor und reckte den Hals weit nach draußen, um zu sehen, was jenseits des Türsturzes lag. Er nickte zufrieden. »Die Treppe beginnt gleich oberhalb der Tür. Schwierigkeiten wird nur die Schwerkraft-Umkehr bereiten, aber solange wir uns gut am Türsturz festhalten… Nun stehen Sie nicht herum, Bodeen! Machen Sie eine Räuberleiter!«

Der Gardist trat rasch neben ihn und verschränkte die Hände. Der Seneschall stellte einen Fuß auf den behelfsmäßigen Steigbügel, verlagerte vorsichtig das Gewicht und umklammerte dann mit beiden Händen den Türsturz. Er spähte rasch nach draußen und nickte Bodeen zu. Der Soldat half nach, als der Seneschall nach oben sprang, und Julia keuchte, als der Verwalter elegant nach oben schoss. Sein Körper verschwand aus ihrem Gesichtsfeld, aber seine Finger umklammerten immer noch eisern den Türsturz. Es entstand eine Pause, und dann verschwanden plötzlich auch die Hände.

»Alles in Ordnung, Sir?«, rief Bodeen nach einem kurzen Zögern.

»Natürlich ist alles in Ordnung«, entgegnete der Seneschall gereizt. »Warten Sie, bis ich ein paar Stufen erklommen habe, und schicken Sie dann die Prinzessin hinterher. Sie soll gut aufpassen! Es ist ziemlich rutschig hier draußen.«

Julia wechselte einen Blick mit Bodeen und schluckte trocken.

»Lassen Sie sich Zeit«, rief er väterlich. »Wir müssen nichts überstürzen.«

»Was mich nervt, ist die Tatsache, dass wir uns freiwillig für dieses Abenteuer gemeldet haben«, meinte Julia, und Bodeen grinste.

»Immer noch besser, als Pferdemist für die Rosenbeete zu sammeln. Ein bisschen besser. Fertig?«

Julia nickte, verstaute ihren Dolch wieder im Stiefel, um beide Hände frei zu haben, und setzte einen Fuß auf die Räuberleiter, die Bodeen für sie machte. Sie versuchte den Türsturz zu umklammern, aber ihre Finger rutschten von dem glatten Holz ab, und sie musste sich die Hände am Kleid trocken reiben, ehe sie einen sicheren Halt fand. Sie holte tief Luft, atmete langsam aus und nickte Bodeen zu. Er lächelte beruhigend, und Julia schnellte nach oben.

Die Schwerkraft wechselte, als sie sich mitten im Sprung befand. Oben war plötzlich unten, und ihr wurde schwindlig, als sie merkte, dass sie mit einer Hand den Türstock umkrampfte, während ihre Beine in der Luft baumelten. Sie wagte nicht, einen Blick in die Tiefe zu werfen. Als sie die freie Hand ausstreckte, schürfte sie sich die Finger an dem rauen Stein der Treppe auf. Julia grinste, packte die Kante und zog sich auf die erste Stufe, die beruhigend breit und solide wirkte und ihr bequem Halt bot. Eng an die Burgmauer gepresst, schaute sie sich um. Die Treppe erstreckte sich vor ihr in die Tiefe, schroff und schartig, hier und da mit breiten Lücken im Mauerwerk. Etwa fünfzig Fuß weiter unten kauerte der Seneschall vor einer zweiten Tür, die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt.

»Sir Seneschall!«, rief Julia mit honigsüßer Stimme. »Das werden Sie mir noch büßen!«

Der Seneschall drehte sich ohne Hast um. »Ach, da sind Sie ja, Prinzessin! Ich wäre zurückgekommen, um Ihnen zu helfen, aber die Tür hier hat mich abgelenkt. Ich war Meilen entfernt.«

»Ich wollte, ich wäre Meilen entfernt«, murmelte Julia.

Der böige Wind zerrte an ihren Haaren, während sie unbehaglich die Landschaft zu ihren Füßen betrachtete. Grüne Wälder dehnten sich in alle Richtungen bis zum Horizont, und Julia konnte sich nur schwer vorstellen, dass die lange Nacht diese prächtigen alten Baumbestände schon bald verschlingen würde. Sosehr sie ihre Augen auch anstrengte, sie erkannte bis jetzt nirgends eine Spur des Dunkelwaldes. Sie fragte sich, ob Rupert die Finsternis auf seinem Weg zum Großen Zauberer wohl schon passiert hatte. Zu ihrer Schande musste sie sich eingestehen, dass sie nicht genau sagen konnte, wie lange er inzwischen fort war. Julia runzelte die Stirn und konzentrierte sich auf die Treppe. Ein Problem nach dem anderen. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, als sie sah, dass ein Großteil des Mauerwerks vom Wind und Regen brüchig geworden war und einige der Stufen gefährlich schief aus der Wand ragten, lediglich von Mörtel und Taubendreck festgehalten.

»Sind Sie in Sicherheit, Prinzessin?«, rief Bodeen ein wenig vorwurfsvoll, und Julia zuckte schuldbewusst zusammen, als ihr klar wurde, wie lange sie den Gardisten bereits warten ließ.

»Alles klar!« Julia kletterte hastig eine Stufe tiefer. Kaum hatte sie Platz gemacht, da kam er auch schon mit dem Kopf nach unten aus der Tür geschossen und vollführte mitten in der Luft einen Salto, als sich die Schwerkraft umkehrte. Aber seine kräftigen Hände hielten den Türsturz fest umklammert, und einen Augenblick später landete er auf der obersten Stufe. Von dort aus betrachtete er neugierig die Aussicht.

»Wo bleiben Sie denn so lange?«, rief der Seneschall ungeduldig. »Die Tür zum Schatzhaus ist nicht verschlossen.«

Julia blickte nach unten und sah gerade noch, wie der Seneschall energisch an der Klinke rüttelte. Die Tür schwang nach außen und hätte ihn um ein Haar von den Beinen gefegt.

Nachdem er das Gleichgewicht wieder gefunden hatte, starrte er misstrauisch in die dunkle Öffnung und hechtete dann entschlossen hinein.

Der Mann besitzt entweder Nerven wie Drahtseile, dachte Julia, oder einen absolut unterentwickelten Selbsterhaltungstrieb.

Sie musterte düster die verwitterten, grob behauenen Stufen, die zwischen ihr und dem Eingang zum Schatzhaus lagen. Nur wenige Lücken waren so breit, dass sie einen Sprung erforderten, doch die Stufen davor und danach wirkten nicht gerade Vertrauen erweckend. Julia blickte in die Tiefe und wünschte gleich darauf, sie hätte es nicht getan.

Der Abgrund wirkte mit jedem Mal gefährlicher. Sie unterdrückte einen Fluch, um Bodeen nicht zu beunruhigen. Wenn der Seneschall den Weg nicht bereits zurückgelegt hätte, wäre ihr der Abstieg über die halb zerfallene Treppe unmöglich erschienen. So aber… Julia raffte mit einem tiefen Seufzer ihren langen Rock und stopfte den Saum vorn und hinten in den Gürtel. Der Wind wehte ihr eiskalt um die nackten Beine, aber sie musste einfach sehen, wohin sie trat. Sie betrachtete zweifelnd die nächste Stufe, ehe sie vorsichtig einen Fuß darauf setzte. Die Steinplatte knirschte warnend unter ihrem Gewicht. Julia wartete einen Moment, bis sie zu schwanken aufhörte, und setzte dann ihren Weg fort. Langsam drang sie in die Tiefe vor, eine Stufe nach der anderen, und untersuchte sorgfältig jeden Stein mit den Zehenspitzen, ehe sie ihm ihr volles Gewicht anvertraute. Immer wieder blieb sie reglos stehen, während das alte Mauerwerk unter ihr ächzte und der Mörtel in kleinen Staubwolken nach unten rieselte. Julia merkte, dass Bodeen dicht hinter ihr blieb, um sie im Falle eines Sturzes festzuhalten, aber nach einer Weile musste sie ihm befehlen, einen größeren Abstand einzuhalten. Die Steinstufen waren zu bröckelig, um zwei Menschen gleichzeitig zu tragen.

Der erste Sprung war der schwerste. Ein ganzer Block von sechs Stufen war weggebrochen und hatte ein schartiges Loch von etwa fünf Metern hinterlassen. Die Stufen am Anfang und Ende wirkten keineswegs stabil, und Julia beschloss nach einigem Zögern, dass sie mit Anlauf springen musste. Sie kletterte zwei Stufen zurück, atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und rannte los, um sich mit Schwung abzustoßen.

Einen Moment lang war unter ihr nichts, doch dann landete sie hart auf der unteren Stufe. Sie fiel nach vorn und presste sich ängstlich gegen das raue Mauerwerk, doch die große Steinplatte unter ihren Füßen bewegte sich kaum. Mit einem Seufzer der Erleichterung richtete sie sich auf und begab sich rasch auf die nächste Stufe, damit Bodeen Platz genug für seine Landung hatte. Er überwand das Loch mit einem Satz und setzte so geschmeidig auf, dass der Stein nicht einmal zitterte. Die beiden grinsten sich kurz zu und setzten dann ihren Weg fort, eine Stufe um die andere.

Der Wind nahm stetig zu, eisige Böen, die durch Mark und Bein zu dringen schienen. Julia zitterte vor Kälte und hastete die letzten Stufen hinab, ohne sie zuvor gründlich zu untersuchen. Dann stand sie vor der letzten Lücke. Sie klaffte etwa einen Meter breit, und dahinter waren nur noch zwei Stufen bis zum Schatzhaus-Eingang zu überwinden. Julia steckte noch einmal ihren Rocksaum fest, schätzte die Entfernung für den großen Schritt ab und übersprang den Spalt mit Leichtigkeit. Die Platte gab ein wenig nach, als sie landete – und brach dann unvermittelt mit einem lauten Geprassel von Steinen und Mörtel aus der Mauer. Julia warf sich nach vorn und erwischte die Kante der nächsten Stufe im gleichen Moment, als die erste Platte in die Tiefe polterte. Wie erstarrt verfolgte sie den langen Weg des Steinbrockens, bis er im schmutzig grünen Wasser des Burggrabens versank, und verdrängte mühsam den Gedanken, dass ihr um ein Haar der gleiche Sturz gedroht hätte. Sie umklammerte die raue Steinkante und wartete, bis sich ihr Herzschlag ein wenig beruhigt hatte.

»Halten Sie sich gut fest, Julia!«, sagte Bodeen ruhig. »Ich springe jetzt nach drüben und ziehe Sie hoch!«

»Nein! Bleiben Sie, wo Sie sind, Bodeen!« Julia spürte, wie die Stufe langsam nachgab. Sie trüge auf keinen Fall auch noch Bodeens Gewicht. Langsam zog sie sich über die Kante hoch und hielt alle paar Sekunden inne, damit der Stein nicht zu stark ins Schwanken geriet. Ihre Armmuskeln schmerzten unerträglich, aber sie wagte es nicht, ihren Klimmzug zu beschleunigen. Endlich konnte sie ein Knie über den Rand schwingen und hievte mit einem Ruck den Körper nach. Eine Weile lag sie einfach da, ohne sich zu rühren. Sie spürte, wie der Stein unter ihr ächzte und knirschte und dann zur Ruhe kam. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, und trotz des eisigen Windes lief ihr der Schweiß in Strömen über Gesicht und Rücken. Wenn ich diese Tür schaff e, dachte sie erschöpft, erschlage ich den Seneschall mit dem nächstbesten stumpf en Gegenstand! Sie rollte sich zur letzten Stufe hinunter, richtete sich langsam auf und winkte Bodeen zu, der sie angespannt von der anderen Seite der Lücke aus beobachtete.

»Kommen Sie, Bodeen! Aber versuchen Sie auf diese Stufe hier zu springen. Ich glaube nicht, dass die andere Ihr Gewicht aushält.«

Bodeen nickte ruhig und war mit einem großen, federnden Schritt neben ihr. Die Stufe zitterte nur leicht, als er landete, und Julia wandte ihre Aufmerksamkeit der offenen Schatzhaus-Tür zu. Nach allem, was ich durchgemacht habe, dachte sie grimmig, ist dieses Schatzhaus hof f entlich die Mühe wert!

Sie warf einen letzten Blick auf den Wald, der sich tief unter ihr ausbreitete, und trat über die Schwelle.

Wieder wechselte die Schwerkraft, als sie mitten in der Luft war, und sie schaffte es gerade noch, einen Sturz zu verhindern. Sie hielt nach dem Seneschall Ausschau und musste unvermittelt zur Seite springen, als Bodeen mit einem Salto durch die Tür geschossen kam. Er hatte Mühe, auf beiden Füßen zu landen, und als Julia die Hand ausstreckte, um ihn zu stützen, sah sie zu ihrer großen Verblüffung, dass der Mann tatsächlich errötete. Sie musste lachen, als ihr die Erklärung dämmerte, und brachte rasch den geschürzten Rock wieder in Ordnung. Bodeen verwandte große Sorgfalt darauf, die Schatzhaus-Tür zu schließen, und drehte sich erst wieder um, als er sicher sein konnte, dass ihre nackte Haut wieder sittsam bedeckt war.

»Auf der Treppe hat Sie das nicht gestört«, stellte Julia belustigt fest.

»Das war eine Notlage«, erklärte er mit großer Bestimmtheit. »Hier dagegen schickt sich so etwas nicht. Ich meine –

was würde der Seneschall sagen?«

»Sicher etwas Bissiges«, meinte Julia und ließ die Blicke neugierig umherschweifen. Nachdem sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte sie, dass sie in einem großen Saal standen. Spärliches Licht sickerte durch die Ritzen der verrammelten Fenster. Spinnweben hüllten die hohe Holzdecke ein und bildeten in allen Winkeln und Nischen grausilberne Nester. Staub war dagegen kaum zu sehen.

Mit Büchern voll gestopfte Regale säumten die Wände, und Dutzende von Stühlen standen vor Dutzenden von Schreibtischen, alle durch ein Gewirr von Spinnfäden miteinander verbunden.

»Welchen Zweck mag dieser Raum erfüllt haben?«, fragte Julia.

Bodeen zuckte die Achseln. »Wenn wir uns tatsächlich im früheren Schatzhaus befinden, dann war dies vermutlich das Zählkontor.«

»Bestechende Logik«, bemerkte der Seneschall, der plötzlich durch eine Tür zu ihrer Linken kam. »Wer weiß, wie viele Tonnen Gold, Silber und Kupfer hier im Lauf der Generationen registriert wurden? Alles, was dieses Reich besitzt, hat irgendwann diesen Raum passiert.«

Julias Augen begannen zu glänzen. »Glauben Sie, dass noch etwas von dem Gold, Silber und Kupfer herumliegt?«, fragte sie betont gleichgültig.

Der Seneschall lachte in sich hinein. »Wer weiß?«

»Dann war die Schinderei vielleicht doch nicht umsonst«, meinte Julia, und Bodeen nickte feierlich.

»Begeben wir uns zuerst zum Alten Arsenal«, schlug der Seneschall trocken vor. »Danach können wir vielleicht noch eine kleine Schatzsuche organisieren. Hier entlang, Prinzessin!«

Julia grinste Bodeen an, und gemeinsam folgten sie dem Seneschall durch die Seitentür in einen Vorraum. Julia blieb auf der Schwelle stehen und rümpfte bei dem Geruch, der ihr entgegenwehte, angewidert die Nase. Die dunkle Kammer hatte vermutlich schon damals, als sie noch täglich benutzt wurde, klein und schäbig gewirkt, aber nach zweiunddreißig Jahren des Verfalls stank sie nach Feuchtigkeit und Moder.

Sie besaß keine Fenster, doch die Laterne des Seneschalls enthüllte Schimmelflecken und halb verfaulte Holzvertäfelungen, und was einst ein weicher, tiefer Veloursteppich gewesen war, zerbröselte nun unter Julias Stiefeln, als sie den Raum betrat. Ein einziger Stuhl lag umgekippt in einer Ecke, umgeben von einem Kokon aus Spinnweben. Der Seneschall drehte sich um, als wollte er Julia etwas erklären, und erstarrte mitten in der Bewegung. Irgendwo ganz in der Nähe hörten sie ein hastiges Schlurfen, das viel zu laut und schwer klang, als dass es von Ratten stammen konnte.

Julia zog ihren Dolch, und Bodeen riss sein Schwert aus der Scheide. Der Seneschall deutete wortlos auf die Tür am anderen Ende des Vorraums, die einen Spalt offen stand, und die drei schlichen vorsichtig näher. Das Scharren war so plötzlich verstummt, wie es begonnen hatte, aber irgendwie kam Julia das Geräusch schrecklich vertraut vor. Nicht genug, dass sie es bereits auf ihrer Suche nach dem Südflügel vernommen hatte; ihr war, als müsste sie wissen, was es bedeutete – aber die Angst ließ keinen klaren Gedanken zu.

Ringsum nur Stille und Dunkelheit. Julia sah Bodeen an, der seinerseits auf die Befehle des Seneschalls wartete. Es folgte eine kurze Dreier-Konferenz, die hauptsächlich aus Blicken, Achselzucken und Stirnrunzeln bestand, bis Julia die Geduld verlor und die Tür mit einem Tritt weit aufstieß.

Die Angeln quietschten, und die schweren Holzbohlen knallten gegen die Wand. Das Echo schien sich endlos fortzusetzen, aber nichts und niemand kam, um nachzuforschen, was den Lärm verursacht hatte, und so trat Julia nach einer Weile wortlos über die Schwelle, dicht gefolgt von Bodeen und dem Seneschall. Die Luft war stickig und feucht, und der Modergeruch, der überall hing, beleidigte Julias Nase.

Der Seneschall hielt seine Laterne hoch, und dann keuchten alle drei, als der Lichtfächer auf Gold, Silber und Edelsteinen schimmerte, Pretiosen, die auf dem Boden verstreut lagen wie Spielzeug, das ein Kind umhergeworfen und nicht mehr aufgeräumt hatte. Die Schätze quollen aus umgestoßenen Eichentruhen, deren schwere Deckel abgerissen, deren Oberflächen angesengt und wie von mächtigen Pranken zersplittert waren. Allem Anschein nach mit einem Brecheisen auf gestemmt, dachte Julia wie betäubt. Nun, wenigstens wissen wir jetzt, dass wir nicht die Einzigen hier sind. Sie spähte rasch umher, aber in der engen Kammer hätte niemand die Möglichkeit gefunden, sich zu verstecken. Der Seneschall kehrte in den ersten Raum zurück, um die restlichen Türen zu öffnen. Bodeen schob rasch sein Schwert in die Scheide, kniete neben einer der Truhen nieder und stopfte sich die Taschen mit Juwelen voll. Julia bückte sich lachend zu ihm hinunter.

»Schleppen Sie nicht zu viel mit«, warnte sie. »Vielleicht müssen wir uns noch den Weg freikämpfen.«

»Man muss die Gelegenheit nutzen«, entgegnete Bodeen ruhig. »Das war schon immer mein Motto. Und jeder dieser Klunker ist mehr wert als ein Jahressold. Außerdem sehe ich nirgends einen Gegner, Prinzessin.«

»Jemand muss diese Truhen aufgebrochen haben«, sagte Julia. »Und das erst vor kurzem.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Bodeen verblüfft.

»Keine Spinnweben.«

Julia ließ ihm Zeit, darüber nachzudenken, und schlenderte zu einem Wandhalter, an dem zwei Schwerter in ihren Scheiden hingen. Wenn es zu einem Kampf kommen sollte, brauchte sie eine richtige Waffe. Sie verstaute ihren Dolch im Stiefel und zog eines der Schwerter aus der Umhüllung, nachdem sie sorgsam die Spinnweben abgewischt hatte. Die Klinge blitzte selbst im Halbdunkel und lag wunderbar in der Hand. Als Julia prüfend mit dem Daumen über die Schneide fuhr, quoll plötzlich Blut aus einem dünnen Schnitt.

Hinter ihr trat der Seneschall an das einzige Fenster der Kammer und zerrte an den Läden, bis sie auf knirschenden Scharnieren nach außen schwangen. Licht durchflutete den Raum, und über den mit Teppichen ausgelegten Boden rasten Dutzende von Spinnen, aufgeschreckt von der plötzlichen Helligkeit nach so vielen Jahren der Dämmerung. Bodeen keuchte und sprang auf einen Stuhl, aber die Tierchen fanden im Nu Zuflucht in zahllosen Winkeln und Ritzen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle Spinnen verschwunden waren, kletterte er so würdevoll wie möglich von seinem Stuhl herunter. Julia schüttelte verwundert den Kopf. Bei Ratten konnte sie das noch verstehen, aber ein solches Theater wegen einer Hand voll Spinnen…

Und dann warfen sie und Bodeen sich gleichzeitig herum, als der Seneschall vor Schmerz und Entsetzen laut aufschrie.

Er taumelte blutüberströmt von der zweiten offenen Tür zurück und ließ die Laterne fallen. Im nächsten Moment brachen die Dämonen aus dem Dunkel jenseits der Tür hervor und fielen ihn an, gierig wie ein Fliegenschwarm, der ein Stück Fleisch erspäht hat. Julia und Bodeen stießen einen gellenden Schlachtruf aus und drangen mit gezückten Schwertern auf sie ein – und wie durch ein Wunder ließen die Dämonen von ihrer Beute ab und zogen sich in das Dunkel zurück, aus dem sie gekommen waren. Julia und Bodeen halfen dem Seneschall auf die Beine. Er blutete aus mehreren Wunden, und seine Augen starrten ins Leere, aber wenigstens atmete er. Julia bückte sich rasch, um die Laterne aufzuheben, aber das Licht war durch den Aufprall erloschen. Unter leisem Fluchen half sie Bodeen, den Seneschall ein Stück zurück in die Kammer zu tragen. Die Dämonen beobachteten sie aus dem Dunkel, trafen aber keine Anstalten, ihnen zu folgen.

»Wir müssen hier weg!« Bodeens Stimme war schrill vor Panik.

»Natürlich«, entgegnete Julia betont ruhig. »Wir ziehen uns jetzt Schritt für Schritt zur Eingangstür zurück. Keine hastigen Bewegungen, die sie zum Angriff reizen könnten!

Wenn Sie Ruhe bewahren, schaffen wir auch das noch unversehrt.«

»Aber es sind Dämonen! Sie haben selbst gesehen, wie sie sich auf den Seneschall stürzten!«

»Na und?«, fauchte Julia. »Rammen Sie ihnen ein Schwert tief in die Eingeweide – und sie sterben genauso wie gewöhnliche Menschen! Das können sie mir ruhig glauben. Ich habe es schon ausprobiert.«

»Wie viele von diesen verdammten Monstern lauern denn im Dunkeln?« Bodeens Stimme klang ruhiger, und Julia entspannte sich ein wenig.

»Höchstens ein Dutzend.«

»Weshalb greifen sie nicht an?«

»Das wundert mich auch. Vielleicht blendet sie die plötzliche Helligkeit vom Fenster her, und sie können nicht abschätzen, wie viele wir sind.«

»Sobald sie mehr erkennen, sitzen wir in der Tinte.«

»Genau. Wie weit ist es noch bis zur Tür?«

Bodeen warf einen Blick über die Schulter. »Wir sind fast da, Prinzessin. Was macht der Seneschall?«

»Schwer zu sagen. Es hat ihn ziemlich schlimm erwischt.«

»Wie schlimm?«

»Schlimm genug. Und er ist der Einzige, der den Weg kennt.«

»Klasse«, sagte Bodeen.

Sie hatten es fast bis zur offenen Tür geschafft, als die Dämonen aus dem Dunkel hervorbrachen. Ihre Augen glommen blutrot, und die fahlen, verkrüppelten Körper schossen durch das Halbdunkel wie missgestaltete Gespenster. Julia und Bodeen stießen den Seneschall in den Vorraum und sprangen hinterher. Bodeen schlug die Tür vor der Dämonenmeute zu, schob sein Schwert in die Scheide und hielt mit beiden Händen die Klinke fest, um zu verhindern, dass die Verfolger die Tür aufrissen.

»Zusperren!«, schrie er Julia zu.

»Ich sehe keinen Schlüssel!«

»Und Riegel?«

Es gab gleich zwei davon, einen oben und einen unten.

Beide waren festgerostet, aber Julia gelang es unter Aufbietung aller Kräfte, den oberen zu lockern. Die Tür bebte unter dem Ansturm der Dämonen. Krallen schürften am Holz entlang. Julia hämmerte den Bolzen in die Führung und wandte sich rasch dem unteren Riegel zu. Er war so durchgerostet, dass er abbrach, als sie ihn zu bewegen versuchte. Julia und Bodeen sahen sich an.

»Diese Tür kann sie nicht lange aufhalten«, sagte Bodeen ruhig.

»Das ist auch nicht nötig«, sagte der Seneschall. »Wir müssen sie in das Zählkontor locken.«

Julia und Bodeen fuhren herum und entdeckten, dass sich der Seneschall schwankend aufgerichtet hatte. Sein Gesicht war aschfahl und blutverkrustet, aber der Blick wirkte wieder klar. Bodeen war mit zwei Schritten neben ihm, um ihn zu stützen, und der Seneschall nickte ihm dankbar zu.

»Die Dämonen werden jeden Moment die Bolzen sprengen. Bodeen, helfen Sie mir durch die Tür dort in das Zählkontor. Prinzessin, Sie folgen uns, bleiben jedoch lange genug im Eingang stehen, damit die Dämonen Sie sehen. Erst dann weichen Sie zurück und schließen sich uns an. Die Dämonen dürfen Sie nicht aus den Augen verlieren, aber auch nicht erwischen. Haben Sie das verstanden?«

»Nicht ganz«, meinte Julia. »Sind Sie auch sicher, dass Sie wissen, was Sie tun?«

»Natürlich«, fauchte der Seneschall. »Ich weiß immer, was ich tue. Und nun reichen Sie mir die Laterne!«

Julia und Bodeen wechselten einen Blick. Die Tür zum Vorraum erbebte unter den Fäusten der Dämonen.

»Ach, was soll's!«, sagte Julia achselzuckend und reichte dem Seneschall die Laterne. »Lieber ein kurzes als ein langweiliges Leben! Bringen Sie ihn nach drüben, Bodeen – ich halte inzwischen die Stellung.«

Bodeen nickte kurz und trug den Seneschall mehr, als er ihn führte, vom Vorraum in das Zählkontor. Julia warf einen Blick über die Schulter und beobachtete die zitternden Holzbohlen. Das einzige Licht in dem engen kleinen Raum drang durch die offene Tür vor ihr. Die Prinzessin strich unsicher über ihr Schwert. Ihre dunkle Silhouette im hellen Eingang gab ein hervorragendes Ziel ab. Sie runzelte die Stirn und zog sich in die Schatten neben dem Zählkontor zurück. Gut, sie wollte sich den Dämonen zeigen, aber erst dann, wenn sie bereit war. Da gab das rostige Metall nach, der Riegel riss aus der Führung, und die Tür flog auf. Die leichenblassen Dämonen quollen in den Vorraum wie Maden über ein Stück Wild, das man zu lange abgehängt hat. Ihre unheimlichen pupillenlosen Augen glühten im Halbdunkel, als sie gierig nach ihrer Beute Ausschau hielten. Julia stand ganz still und wartete geduldig, ob etwas in die Reichweite ihres Schwertes gelangte.

Die Dämonen sogen prüfend die abgestandene Luft ein und senkten dann die missgestalteten Köpfe zu Boden wie eine Meute Jagdhunde, die nach einer Fährte sucht. Der Anblick hätte zum Lachen reizen können, wäre er nicht so gruselig gewesen. Und dann fanden sie entweder eine Spur, oder Julia hatte sich bewegt, ohne es selbst zu merken, denn ein Dämon nach dem anderen hob den Kopf und starrte in ihre Richtung.

Julia wusste, dass die Schatten nicht ausreichten, um sie zu verbergen. Sie trat rasch vor, um den Eingang zu blockieren, und schwang dabei ihr Schwert in alle Richtungen. Ein schwacher Lichtschimmer lag auf der Klinge. Einer der Angreifer sprang vor, und Julia erwischte ihn mit einem Streich.

Die Kreatur wälzte sich zuckend auf dem dicken Teppich – und dann stürmten die übrigen Dämonen herbei.

Der Seneschall hatte sie angewiesen, die Dämonen in das Zählkontor zu locken, aber Julia wusste, dass die Meute sie überrollen würde, sobald sie den Eingang freigab. Durch die schmale Tür konnten höchstens zwei oder drei Angreifer gleichzeitig kommen. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Überzahl der Gegner sie zum Rückzug in das Zählkontor zwang. Und dann war sie verloren.

Anfangs schwang Julia das Schwert mit Vehemenz, und Dämonenblut spritzte umher, aber schon bald schmerzten die Muskeln, und die Hiebe wurden schwächer. Sie riss einem Angreifer mit einem seitlich geführten Hieb den Bauch auf und musste gleich darauf einen Schritt zurückweichen, weil sich eine klauenbewehrte Hand bedrohlich ihrer Kehle näherte. Sie merkte, dass der Türstock sie nicht länger schützte, und wich erneut einen Schritt zurück. Die Dämonen strömten auf sie ein, und dann stand Bodeen neben ihr.

Die Klinge seines Schwertes blitzte, und die Gegner wichen zurück. Julia sprang zur Seite, als Bodeen die Tür zuschlug, suchte rasch nach Riegeln und fluchte laut, als sie nichts dergleichen fand. Bodeen stemmte sich mit dem Rücken gegen die Tür, als die ersten Klauen das Holz zu zerfasern begannen.

»Wenn ich 'jetzt!' rufe«, sagte er ruhig, »laufen Sie zur äu­ßeren Tür!«

Julia nickte, drehte sich um und sah gerade noch, wie der Seneschall die Außentür zuzog. Unvermittelt war der Raum in vollkommenes Dunkel getaucht. Julia biss sich auf die Unterlippe und umklammerte das Schwert.

»Ich hoffe, der eine oder andere hier weiß, was er tut«, sagte sie eine Spur zu laut und war alles andere als beruhigt, als sie das trockene Lachen des Seneschalls hörte.

»Machen Sie sich fertig!«, keuchte Bodeen. »Ich kann sie nicht mehr…« Die Tür wurde aufgedrückt, und eine bleiche Klauenhand zwängte sich hindurch. »Jetzt, Julia! Jetzt!«

Bodeen sprang zurück, und Julia rannte los. Die Dämonen stürmten hinter ihr her und achteten nicht auf Bodeen, der sich hinter der aufgerissenen Tür versteckte. Julia erreichte die Außentür und schob sie mit einem Tritt auf. Grelles Sonnenlicht durchflutete den Raum. Der Seneschall packte sie am Arm und zerrte sie zur Seite, aber die Dämonen stolperten einfach weiter, geblendet von dem plötzlichen Lichteinfall.

Julia lachte grimmig, als sie die Taktik begriff. Sie attackierte die Dämonen von der Flanke, während Bodeen sie mit dem Schwert vor sich her trieb, und es war die leichteste Sache der Welt, die neun überlebenden Angreifer durch die Tür in die Tiefe zu stoßen.

Julia senkte ihre Waffe und taumelte erschöpft zu Boden.

Sie hatte rasende Kopfschmerzen, und ihre Arme waren bleischwer. Mit zitternden Beinen saß sie da, den Rücken gegen die Mauer gepresst, und hatte das Gefühl, sie könnte eine Woche schlafen, sobald sie die Augen schlösse. Ein Schauer durchlief sie bei dem Gedanken. Es war schlimm genug gewesen, nachts im Bett zu liegen und zu wissen, dass der Dunkelwald unablässig näher rückte, während sie schlief; aber irgendwie hatte sie immer geglaubt, die dicken Mauern der Burg würden sie schon vor den Dämonen schützen. Die Erkenntnis, dass sie nirgends mehr sicher war, traf sie mit voller Härte. Julia umklammerte heftig ihr Schwert und fragte sich, ob sie je wieder wagen würde, die Augen zu schließen.

Bodeen beugte sich über sie und stieß einen leisen Pfiff aus, als er sah, dass ihr Gesicht und ihre Arme mit Blut verkrustet waren. »Prinzessin, Sie sind verletzt!«

»Ein paar Kratzer und Schrammen, Bodeen, sonst nichts.

Helfen Sie mir bitte auf!«

Er zog sie hoch und stützte sie geduldig, bis ihr Schwindel nachgelassen hatte. Nach einer Weile ließ sie seinen Arm los und wandte sich dem Seneschall zu, der sich mit Feuerstein und Stahl abmühte, die Laterne wieder anzuzünden.

»Wie geht es Ihnen, Sir Seneschall?«

»Ich habe mich schon mal besser gefühlt, Prinzessin.«

Endlich gelang es ihm, die Kerze zum Brennen zu bewegen.

»Aber wahrscheinlich sieht alles schlimmer aus, als es ist.«

»Sie wirkten mehr tot als lebendig, als wir Sie unter den Dämonen hervorzogen«, meinte Bodeen.

Der Seneschall schnitt eine Grimasse. »Erinnern Sie mich nicht daran! Ich dachte allen Ernstes, meine letzte Stunde habe geschlagen.«

»Sie sollten sich eine Weile ausruhen«, sagte Bodeen.

»Es geht mir gut«, knurrte der Seneschall. »Sie müssen mich nicht bemuttern. Ausruhen kann ich auch nach unserer Rückkehr. Im Moment mache ich mir mehr Sorgen um das Arsenal. Ich denke nur ungern daran, wie die Dämonen dort gehaust haben könnten. Wie zum Henker sind diese gräßlichen Wesen in die Burg gelangt?«

»Jemand hat sie hereingelassen«, sagte Julia ruhig. »Wir haben einen Verräter unter uns.«

Einen Moment lang standen sie einfach da und sahen sich an. Bodeen runzelte die Stirn, und der Seneschall schüttelte benommen den Kopf. Über Julias Züge huschte ein bitteres Lächeln.

»Denken Sie an die Dämonen, die nachts die Burg belagern! Jetzt wissen wir wenigstens, wo sie sich tagsüber verstecken.«

»Ich kann das einfach nicht glauben, Prinzessin«, sagte der Seneschall langsam. »Wer wäre so wahnsinnig, Dämonen in die Residenz einzuschleusen?«

»Stellen wir die Frage anders«, warf Bodeen ein. »Warum hat sie jemand ausgerechnet in den Südflügel eingeschleust?«

Der Seneschall hob mit einem Ruck den Kopf. Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet. »Natürlich – das Arsenal!

Das verdammte Arsenal!«

Er drehte sich um und stürmte durch die Seitentür in den Vorraum. Julia und Bodeen sahen einander verblüfft an, ehe sie ihm im Laufschritt folgten. Sie durchquerten Dutzende von düsteren Räumen und Gängen, geführt von der Laterne des Seneschalls, die wie ein Irrlicht in mondloser Nacht auf und ab tanzte. Julia hatte bald jegliche Orientierung verloren und konzentrierte sich darauf, den Burgverwalter nicht aus den Augen zu verlieren. Sie hegte den starken Verdacht, dass er sie allein in der Finsternis zurückließe, wenn sie stolperte und stürzte.

Schließlich blieb der Seneschall vor einer Doppeltür aus massiver Eiche stehen, die an die drei Meter hoch und fast ebenso breit war. Das reich geschnitzte Holz schimmerte satt im goldenen Laternenlicht, als er die Hand ausstreckte und leicht gegen das linke Schloss stemmte. Gewichte quietschten und rasselten laut in die Stille, und dann schwang der Türflügel mühelos nach innen. Einen Moment lang stand der Seneschall einfach da und starrte in das Dunkel jenseits des Portals. Dann ließ er kraftlos die Schultern hängen und schien nach vorn zu kippen. Julia und Bodeen stützten ihn von beiden Seiten, sonst wäre er wohl zusammengebrochen.

»Was ist los, Sir Seneschall?«, fragte Julia besorgt. »Weshalb hat dieses verdammte Portal Sie so erschreckt?«

»Verstehen Sie denn nicht?«, raunte der Seneschall und starrte aschfahl die offene Tür an. »Das Arsenal wurde aufgebrochen! Das Curtana ist ungeschützt…«

Er schüttelte die helfenden Hände ab und betrat vor Julia und Bodeen das Alte Arsenal. Jenseits der hohen Flügeltür erstreckte sich ein Saal, der so hoch und weitläufig war, dass die Laterne des Seneschalls längst nicht bis an seine Grenzen vordrang. Julia zuckte zusammen, als eine Rüstung aus dem Dunkel aufragte, und entspannte sich erst, als sie merkte, dass es sich um eine leere Hülle handelte. Dutzende von riesigen Vitrinen standen umher, gefüllt mit Schwertern und Streitäxten, Langbogen und Lanzen, main gauches[1] und Morgensternen. Julia spähte verzückt umher, während sie im Lichtkreis der Laterne durch den Saal schlenderte. Allein das Ausmaß der Sammlung machte sie sprachlos. Ruperts Vorfahren hatten das Arsenal im Lauf von zwölf Generationen zusammengetragen, Waffe um Waffe, bis ein Menschenleben nicht mehr ausreichte, um alle Stücke zu katalogisieren. Julia spürte ein Kribbeln im Nacken, als ihr erstmals zu Bewusstsein kam, wie alt das Waldkönigreich eigentlich war.

Der Seneschall blieb unvermittelt vor einer Wandhalterung stehen, die in eine tiefe Nische eingelassen war, als müsse man sie den Blicken der Neugierigen entziehen. Die daran befestigte silberne Schwertscheide war im Lauf der Zeit dunkel angelaufen – und sie enthielt keine Waffe mehr. Der Seneschall seufzte müde.

»Es ist weg«, sagte er mit belegter Stimme. »Das Curtana-Schwert ist verschwunden.«

»Aber das Schwert des Zwangs ist unsere einzige Hoffnung gegen die Dämonen«, beharrte Bodeen. »Wer käme auf den wahnsinnigen Einfall, es zu stehlen?«

»Jemand, der einen Nutzen vom Untergang des Waldkönigreichs hätte«, entgegnete der Seneschall. »Und diese Beschreibung trifft im Moment auf viele zu.«

»Die ganze Mühe!«, murmelte Julia, zu müde, um zynisch zu werden. »Die ganze Mühe umsonst! Kommen Sie, Sir Seneschall, was stehen wir hier noch herum?«

»Natürlich, Prinzessin – der König muss die Wahrheit erfahren.« Der Seneschall kehrte der leeren Schwerthülle den Rücken zu und starrte in das Dunkel. »Irgendwo in dieser Burg gibt es einen Verräter. Wir müssen ihn finden, Prinzessin. Wir müssen ihn und das Curtana finden, bevor es zu spät ist.«

Julia starrte durch die Stalltür in den Regen hinaus und seufzte niedergeschlagen. Obwohl der Nachmittag kaum vorbei war, wurde es allmählich dunkel. Der Regen fiel jetzt seit mehr als einer Stunde; ein gleichmäßiges, beharrliches Nieseln, das sich aufs Gemüt schlug und seinen Weg selbst durch die höchsten Kamine fand, sodass die Feuer zischten und qualmten. Wasser plätscherte aus den Abflussrohren und von den überhängenden Dachrinnen und verwandelte den Hof in eine Schlammwüste. Es tropfte durch die vielen Ritzen im Strohdach des Pferdestalls und klatschte geräuschvoll auf den Strohboden. Die Holzbretter ächzten und knarrten in der Nässe, und Julia, die immer noch nach draußen starrte, seufzte von neuem, vielleicht aus Mitgefühl. Hinter ihr bewegte sich der Drache.

»Du solltest in deinem Zimmer sein und dich ausruhen«, sagte er streng.

Julia lächelte, ohne sich umzudrehen. »Mir fehlt nichts weiter. Ein paar todschicke Narben für meine Sammlung, das ist alles. Am schlimmsten hat es den Seneschall erwischt. Ich begreife immer noch nicht, wie er sich auf den Beinen halten konnte, bis wir den Südflügel verlassen hatten. Dem Hofarzt reichte ein einziger Blick, um ihm strenge Bettruhe zu verordnen, aber er bestand darauf, zuerst mit dem König zu sprechen. Bodeen und ich mussten ihn stützen, doch er blieb stur. Ein zäher alter Knochen, dieser Seneschall. Klappte erst zusammen, nachdem er dem König alles berichtet hatte, was er über den Einbruch in das Arsenal wusste und vermutete.

Bodeen und ich trugen ihn schließlich in sein Schlafgemach.

Ein zäher alter Knochen.«

»Du brauchst selbst Erholung«, sagte der Drache. »Ich wittere deine Schmerzen und deine Müdigkeit.«

»Ich kann nicht schlafen«, erklärte Julia. »Noch nicht. Ich muss erst mal mit jemandem reden.«

»Was ist es diesmal?«, fragte der Drache sanft. »Wieder jemand, der dir die Hofetikette beibringen will?«

»Zum Glück nicht. Ich bin von sämtlichen Lektionen befreit, da alle Anstandslehrer auf einer bewaffneten Eskorte bestehen, wenn sie mich unterrichten.«

»Was gibt es dann? Was bereitet dir Sorgen?«

»Ich weiß nicht recht.« Julia kehrte der Stalltür den Rücken zu und setzte sich neben den Drachen ins Stroh. Seine breite Flanke gab ihr Halt und Trost. Der Regen wurde zu einem angenehmen Hintergrundgemurmel, und das stete Triefen und Tropfen hatte etwas sonderbar Besänftigendes an sich. Der Duft nach frischem Heu hing in der Luft, kräftig und erdnah, und der Drache spürte, wie sich Julias Muskeln allmählich entspannten.

»Drache«, sagte sie schließlich, »was ist mit den Pferden geschehen, die hier untergebracht waren?«

»Köstlich!«, versicherte er würdevoll.

Julia stieß ihm den Ellbogen in die Seite, und er tat ihr den Gefallen und stöhnte, obwohl er kaum etwas spürte.

»Du hast doch nicht im Ernst die prächtigen Pferde verspeist?«

»Nein, Julia. Ich zog ein, und sie zogen aus – im Galopp, wenn ich mich recht entsinne.«

Julia lachte und schmiegte sich eng an die glatten Schuppen. Manchmal schien es ihr, als sei der Drache der einzige Freund, den sie auf der ganzen Welt hatte; eine Insel der Ruhe in einem Meer der Stürme. Nach Ruperts Aufbruch hatte der Drache ziellos das Gelände der Burg durchstreift, geschlafen, wo immer es ihm in den Sinn kam, und gefressen, was nicht die Flucht ergriff oder aktiven Widerstand leistete.

Schließlich hatte er sich in einem der alten Pferdeställe niedergelassen und zu verstehen gegeben, dass er dort bleiben werde, solange ihm jemand regelmäßig seine Mahlzeiten bringe. Die Diener übernahmen diese Aufgabe bereitwillig und mit sichtlicher Erleichterung, da der ungezügelte Appetit des Drachen und die plötzlichen Wutausbrüche der Prinzessin sie bis dahin ständig in Trab gehalten hatten.

»Wie geht es dir?«, fragte Julia den Drachen.

Er zuckte leicht mit den Flügeln. »Besser, schätze ich. Der Zauberspruch für den Regenbogen-Lauf hat meine ganze Kraft gekostet. Dann fielen die Dämonen über mich her und zerfleischten mich mit ihren Fängen und Klauen. Und schließlich musste ich noch Feuer spucken, und das hat wehgetan, Julia, das hat bis ins Mark wehgetan. Zu dem Zeitpunkt, da Rupert den Regenbogen bannte, lag ich im Sterben.

Wie es scheint, hat selbst die Macht der Wilden Magie ihre Grenzen. Sie hat mir das Leben gerettet, gut, aber gesund machen kann mich nur die Zeit. Ich werde jetzt bald in Winterstarre fallen und schlafen, bis alle Wunden geheilt sind.

Wenn sie noch heilen. Die Magie verschwindet aus der Welt, und Zauberwesen wie ich gehen harten Zeiten entgegen.« Der Drache lächelte traurig. »Vielleicht werde ich auch nur alt –

alt sogar für einen Drachen. Ich habe seit über dreihundert Jahren nichts mehr von einem Artgenossen gehört oder gesehen. Vielleicht bin ich der Letzte. Der letzte Drache in der Menschenwelt.«

»Dreihundert Jahre«, wiederholte Julia gedehnt. »Hast du dich nie einsam gefühlt?«

»Wir Drachen sind im Allgemeinen nicht sehr gesellig. Jeder hat sein eigenes Gebiet und seine eigenen Schätze und wacht eifersüchtig darüber, dass ihm weder das eine noch das andere abhanden kommt. Aber du hast Recht. Es gab in diesem letzten Jahrhundert Zeiten, da ich mich nach dem Anblick eines anderen Drachen gesehnt habe. Es ist so lange her, seit ich mit meinen Brüdern mit dem Nachtwind gesegelt bin

… so endlos lange.«

»Wenn das alles vorbei ist, machen wir uns auf die Suche nach anderen Drachen«, schlug Julia vor.

»Ja«, stimmte der Drache gutmütig zu. »Wenn das alles vorbei ist.«

Julia starrte in das Holzgebälk unter dem Strohdach und horchte auf das Plätschern des Regens. »Drache, glaubst du, dass mit mir etwas… nicht stimmt?«

»Nein. Wie kommst du denn darauf?«

»Ach, weißt du, diese verdammten Hofdamen tun so, als sei ich nicht normal. Weil ich nicht heiraten und eine Familie gründen will. Aber ich fühle mich einem solchen Leben nicht gewachsen. Noch nicht.«

»Dann lass dir Zeit!«

Julia runzelte die Stirn. »Nur… manchmal frage ich mich, ob sie nicht Recht haben. Meine Freundinnen und meine Schwestern sind fast alle verheiratet und wirken eigentlich ganz zufrieden. Die meiste Zeit jedenfalls. Vielleicht haben sie Recht. Vielleicht lasse ich mir was entgehen. Ich sehe nur nicht ein, warum ich für die Ehe mein Ich aufgeben muss.

Schau, ich soll Harald heiraten, aber der versteht unter einer Frau eine Mischung aus Bettgespielin und Dienstmagd. Das kann der Typ vergessen, echt. Und wenn er mich noch einmal kneift, ramme ich ihm das Knie so in die Eier, dass er in Zukunft im Knabenchor singt!«

Sie unterbrach sich und fuhr dann versonnen fort: »Weißt du, das gehört mit zu den Dingen, die mich verunsichern.

Wenn ich so etwas zu einer Hofdame sage, kriegt sie Zustände und schreit nach ihrem Riechsalz. Ein paar klare, ehrliche Worte gelten in diesen Kreisen nicht nur als rückständig, sondern auch als unweiblich. Findest du mich unweiblich, Drache?«

Der Drache lachte leise. »Julia, ich verstehe nicht viel von menschlichen Verhaltensmustern, aber wenn du eines dieser hilflosen, domestizierten Weibchen wärst, hättest du wohl kaum den Dunkelwald überlebt. Oder heute Nachmittag deine Entdeckungstour durch den Südflügel…«

»Da hast du verdammt Recht«, sagte Julia. »Warum also können sie mich nicht in Frieden lassen?«

»Du bist eine Prinzessin«, erwiderte der Drache. »Du hast deine Pflichten. Das weiß sogar ich.«

Julia rümpfte verächtlich die Nase, hob einen Strohhalm vom Boden auf und kaute auf seinem Ende herum. »Eine Prinzessin! Und deshalb ist es mir verboten, zu denken, zu fühlen oder zu hoffen? Deshalb kann mir hier jeder Vorschriften machen, wie ich mich zu kleiden, auszudrücken und zu benehmen habe? Deshalb muss ich einen Mann zu benehmen habe? Deshalb muss ich einen Mann heiraten, den ich nicht liebe? Die können mich alle mal…«

Der Drache drehte mühsam den Kopf nach hinten, um sie genauer zu betrachten. »Nun kommen wir dem wahren Grund deines Kummers allmählich näher, hm?«

»Ja«, sagte Julia ruhig. Sie studierte eingehend den Strohhalm in ihrer Hand und schleuderte ihn dann zu Boden. »Rupert müsste schon eine Ewigkeit zurück sein.«

»Es ist eine lange Reise, hin und zurück. Und was man so hört, wird der Große Zauberer nicht so leicht zu überreden sein.«

»Ich hätte nie zulassen dürfen, dass er in den Dunkelwald zurückreitet. Du weißt, was ihn dort erwartet.«

»Ja«, sagte der Drache leise. »Und ob ich das weiß!« Er versuchte die Schwingen zu dehnen, und Julia massierte ihm die Narben.

»Hast du immer noch Albträume?«, fragte sie plötzlich.

Der Drache schüttelte den Kopf. »Ich schon – manchmal. In jüngster Zeit sind es immer die gleichen. Dass Rupert allein durch die Finsternis irrt und sterben muss.«

»Rupert kann auf sich selbst aufpassen.«

Julia zog ein beleidigtes Gesicht. »Du bist ein echter Trost für mich.«

»Liebst du ihn, Julia?«

Julia starrte durch die offene Stalltür. »Sieht so aus, als hätte der Regen nachgelassen.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Ich weiß.«

»Menschen!« Der Drache lachte vor sich hin. »Warum sagst du ihm nicht, dass du ihn liebst?«

»Weil er nicht hier ist! Er hat sich aus dem Staub gemacht und mich im Stich gelassen!«

»Er konnte dich nicht gut mitnehmen und dein Leben aufs Spiel setzen, oder?«

»Ich wäre mitgekommen, wenn er es gewollt hätte! Ich kann mit dem Schwert ebenso gut umgehen wie er. Alles wäre besser gewesen, als mich hier allein zu lassen. Er kommt nicht mehr zurück, Drache. Ich weiß es. Die Dämonen haben ihn am Ende doch erwischt, und ich war nicht da, um ihm zu helfen…« Julia drückte das Gesicht gegen die Flanke des Drachen und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Der Drache hob eine Schwinge und legte sie sanft um ihre Schultern, bis sie endlich zu weinen aufhörte.

»Du bist erschöpft«, sagte er leise. »Warum gehst du nicht in dein Schlafgemach und ruhst dich aus?«

»Ich will nicht«, murmelte sie in die Flanke des Drachen.

»Ich habe Angst vor der Dunkelheit. Ich habe Angst vor den Dämonen.«

»Dann bleib hier bei mir! Hier bist du in Sicherheit, das verspreche ich dir.«

»Danke«, sagte Julia so leise, dass es nur ein Drache hören konnte. Sie schmiegte sich an seine Seite, ließ sich von seinem langsamen, gleichmäßigen Atem einwiegen und war schon bald eingeschlafen.

»Menschen!«, knurrte der Drache liebevoll. Er ließ den großen Kopf auf den Schweif sinken und hielt geduldig Wache, bis die Nacht vorbei war.

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