Licht flutete herein, als die Abdeckung der Kiste unvermittelt angehoben wurde: die rostigen Scharniere protestierten kreischend gegen jeden Zoll, den sich der Deckel öffnete. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte Zedd in das plötzlich gleißend helle Tageslicht. Schließlich schlugen fleischige Arme den Deckel ganz zurück. Hätte ihm die Kette um seinen Hals auch nur den geringsten Spielraum gelassen, wäre Zedd beim hallenden Scheppern des schweren Kistendeckels, der eine Wolke aus Dreck und rostigen Metallpartikeln auf ihn herniederrieseln ließ, hochgeschreckt.
Geblendet vom grellen Licht und dem wirbelnden Staub in der Luft, konnte Zedd fast nichts erkennen. Wenig hilfreich war auch die kurze, in der Mitte des Kistenbodens vernietete Kette um seinen Hals, die verhinderte, daß er seinen Kopf weiter als ein paar Zoll anheben konnte. Da man ihm zudem die Hände hinter dem Rücken in Eisen gelegt hatte, hatte er fast keine andere Möglichkeit; als flach auf dem Kistenboden zu liegen.
Immerhin konnte er, den Hals in unmittelbarer Nähe des eisernen Bolzens, trotz seiner erzwungenen Seitenlage wenigstens den überraschenden Strom kühlerer Luft in seine Lungen saugen. Die Hitze im Innern der Kiste war erdrückend gewesen. Man hatte ihm beim allabendlichen Halt mehrmals einen Becher mit Wasser gereicht, doch der war nicht annähernd ausreichend gewesen. Auch zu essen hatten er und Adie herzlich wenig bekommen, viel dringender als Essen aber benötigte er Wasser. Zedd hatte das Gefühl, verdursten zu müssen. Wasser war zu seinem allesbeherrschenden Gedanken geworden.
Längst hatte er aus den Augen verloren, wie viele Tage er nun schon angekettet am Boden der Kiste lag, trotzdem stellte er einigermaßen überrascht fest, daß er noch lebte. Während der ganzen holprigen, gleichwohl flotten Fahrt war die Kiste hinten auf der Ladefläche eines Wagens durchgerüttelt worden. Er konnte bestenfalls vermuten, daß man ihn zu Kaiser Jagang brachte; im Übrigen aber war er sicher, daß er es bedauern würde, das Ende dieser Reise zu erleben.
In der stickigen Hitze der Kiste hatte es mehrfach Augenblicke gegeben, in denen er fest damit gerechnet hatte, allmählich das Bewußtsein zu verlieren und jämmerlich zu krepieren; nicht selten hatte er seinen Tod geradezu herbeigesehnt. Ein sanftes Entschlummern in einen tödlichen Schlaf, dessen war er sicher, war dem, was ihn erwartete, gewiß vorzuziehen. Aber er hatte keine Wahl; die Schwestern wußten über die durch den Rada’Han ausgeübte Macht zu verhindern, daß er sich mit der Kette strangulierte, und ein Tod allein durch Willenskraft war, wie er herausgefunden hatte, ziemlich schwierig.
Zedd, dessen Kopf von der viel zu kurzen Kette am Boden des Verschlags festgehalten wurde, versuchte sich umzuschauen, doch außer einem winzigen Stück Himmel konnte er nichts erkennen. Dann hörte er, wie ein weiterer Kistendeckel knallend zurückgeschlagen wurde, und mußte, als ihn zum zweiten Mal eine Staubwolke einhüllte, husten. Als er kurz darauf Adie husten hörte, hätte er nicht zu sagen vermocht; ob er nun erleichtert oder betrübt darüber war. daß sie noch lebte – schließlich wußte er nur zu gut, was sie, ebenso wie er, würde erdulden müssen.
In gewisser Hinsicht war Zedd auf die Folter vorbereitet, der man ihn zweifellos in Kürze unterziehen würde, denn als Zauberer hatte er eine Schmerzensprüfung ablegen müssen. Die Folter machte ihm Angst, aber er würde sie ertragen, bis sie seinem Leben schließlich ein Ende bereitete. Angesichts seines geschwächten Zustands würde es vermutlich ohnehin nicht lange dauern. In mancher Weise erschien ihm das Gefoltertwerden mittlerweile fast wie ein alter Bekannter, der ihn fortwährend mit seinen Heimsuchungen verfolgte.
Aber viel mehr noch, als selbst gefoltert zu werden, graute ihm vor dem Leid, das Adie würde über sich ergehen lassen müssen. Die Qualen anderer verabscheute er mehr als alles andere. Die Vorstellung, daß Adie einer solchen Mißhandlung ausgesetzt sein würde, erfüllte ihn zutiefst mit Abscheu.
Ein Rütteln ging durch den Wagen, als die Vorderseite der anderen Kiste aufklappte. Unmittelbar darauf drang ein Schrei aus Adies Kehle, offenbar, nachdem jemand sie geschlagen hatte.
»Zur Seite, dämliches altes Weib, damit ich an das Schloß rankomme!«
Zedd hörte ihre Schuhe über den hölzernen Kistenboden scharren, als sie der Aufforderung mit auf den Rücken gebundenen Händen nachzukommen versuchte. Nach dem Geräusch der Fäuste auf ihrem Körper zu urteilen, war der Kerl mit ihren Bemühungen nicht zufrieden. Zedd schloß die Augen und wünschte sich, er könnte seine Ohren ebenso verschließen.
Die Vorderseite von Zedds beengender Kiste klappte mit einem Krachen auf, so daß noch mehr Helligkeit und Staub den Weg ins Innere fanden. Eine kräftige Hand langte ins Innere der Kiste und schob einen Schlüssel ins Schloß. Zedd hielt seinen Kopf so weit wie möglich von ihm entfernt, um ihm allen verfügbaren Platz zu lassen und ihn in seinem Tun nicht unnötig zu behindern. Seine Bemühungen trugen ihm einen derben Stoß seitlich gegen den Kopf ein, der ihm noch lange die Ohren klingen ließ.
Endlich öffnete sich das Schloß mit einem Schnappen. Der Kerl packte Zedd mit seiner kräftigen Hand bei den Haaren, zerrte ihn wie einen Sack Getreide aus der Kiste und schleifte ihn zum rückwärtigen Teil des Wagens. Zedd preßte die Lippen fest aufeinander, um nicht laut aufzuschreien, als seine Knochen über die vorstehenden Laufschienen auf der Ladefläche holperten. An der Ladekante angekommen, wurde er ohne großes Federlesen hinuntergestoßen und landete hart auf dem Boden. Dort packte ihn ein Hüne bei den Haaren und riß ihn unsanft auf die Beine.
Endgültig verließ ihn aller Mut, als er sah, daß sie sich inmitten einer Armee von furchterregenden Ausmaßen befanden. So weit das Auge reichte, bedeckten dunkle Menschenmassen, einem häßlichen Ausschlag gleich, die Landschaft. Offenbar waren sie also am Ziel.
Aus den Augenwinkeln sah er Adie mit hängendem Kopf neben sich im Staub hocken. Sie hatte eine blaugraue Prellung an der Wange und hob nicht einmal den Blick, als ein Schatten auf sie fiel.
Eine Frau in einem langen, schmutzfarbenen Rock trat vor sie beide hin und riß Zedd aus seiner Betrachtung der gegnerischen Streitkräfte. Er erkannte ihr graubraunes Wollkleid sofort wieder, es gehörte ebenjener Schwester der Finsternis, die ihnen den Halsring umgelegt hatte. Ihren Namen kannte er nicht, sie hatte sich ihm nicht vorgestellt; genau genommen hatte sie, seit man sie in ihren Kisten angekettet hatte, überhaupt nicht mehr mit ihnen gesprochen. Als sie jetzt vor ihnen stand, erinnerte sie ihn an eine strenge Gouvernante für schwer erziehbare Kinder.
Der Ring in ihrer Unterlippe, der sie als Sklavin auswies, nahm ihrem autoritären Gehabe in Zedds Augen unwiderruflich allen Glanz.
Der Boden war mit Pferdedung bedeckt, meist alt und trocken, wenn auch nicht überall. Hinter dem Rücken der Schwester standen, scheinbar ohne jede Ordnung, inmitten der Soldaten Pferde angepflockt. Diejenigen, die dem Anschein nach der Kavallerie angehörten, waren hervorragend gepflegt; die Arbeitstiere dagegen machten einen weniger gesunden Eindruck. Überall zwischen den Pferden und Soldaten war die spätnachmittägliche Landschaft mit Wagen und Vorratsstapeln übersät.
Über allem lag ein übler Gestank von nicht tief genug ausgehobenen Latrinen, von Pferden und Mist, vermischt mit den unerträglichen Ausdünstungen auf beengtem Raum hausender Menschen, die ihre gewohnten hygienischen Verrichtungen schon seit längerem vernachlässigten. Zedd kniff die Lider halb zusammen, als beißender Rauch von einem der unzähligen Kochfeuer vorüberzog und ihm in den Augen brannte.
Überdies wimmelte die Luft nur so von Moskitos, Mücken und Fliegen. Die Fliegen waren am schlimmsten. Die Moskitostiche würden später zu jucken beginnen, Fliegenstiche aber plagten einen vom Augenblick des Einstichs an, und mit seinen auf den Rücken gefesselten Armen vermochte er sich ihrer nicht anders als durch das Schütteln seines Kopfes zu erwehren, um sie wenigstens von Augen und Nase fernzuhalten.
Die beiden Soldaten, die Zedd und Adie aus ihren Kisten befreit hatten, warteten geduldig rechts und links neben ihnen. Hinter den Röcken der Frau erstreckte sich, so weit das Auge reichte, ein Feldlager von enormen Ausmaßen. Überall erblickte man Soldaten, Soldaten, die mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt waren, die schliefen oder irgendeiner Freizeitbeschäftigung nachgingen. Bekleidet waren sie mit allen nur erdenklichen Kleidungsstücken, von Lederrüstungen. Kettenhemden und dornenbewehrten Gürteln bis hin zu Fellen, schmutzstarrenden Waffenröcken oder Hosen im fortgeschrittenen Zustand des Verfalls. Die meisten waren unrasiert, und alle waren so verdreckt wie völlig verwilderte Einsiedler weit abseits jeder Zivilisation. Das Massenlager erzeugte ein dauerhaftes Getöse aus Rufen und Pfiffen, grölenden und lachenden Kriegern, dem Rasseln und Klirren von Metall, dem Klingen von Hämmern, dem rhythmischen Geräusch der Sägen sowie dem gelegentlichen Aufschrei eines von quälenden Schmerzen Gepeinigten.
Tausende Zelte jedweder Machart bedeckten, wie Laub nach einem kräftigen Wind, die sanft geschwungene Hügellandschaft am Fuß der Vorberge des sich im Osten emportürmenden Gebirges. Nicht selten waren sie mit Beuteteilen geschmückt: Ein Zelteingang war mit einem Baumwollvorhang dekoriert, vor einem anderen stand ein kleiner Hocker oder Tisch, da und dort flatterte ein Stück Frauenunterwäsche zum Zeichen der Eroberung im Wind. Wagen, Pferde und Ausrüstungsgegenstände standen oder lagen ohne ersichtliche Ordnung dicht gedrängt in diesem Chaos nebeneinander. Das Erdreich unter dieser Karikatur einer Stadt, die selbst der grundlegendsten Ordnung entbehrte, war zu feinem Staub zerwühlt.
Das Lager war der Alptraum einer auf die Roheit eines völlig enthemmten Pöbels reduzierten menschlichen Gemeinschaft, deren Streben allein von den Regungen des Augenblicks bestimmt wurde. Ihre Anführer mochten noch Ziele haben, diesen Männern hier war dergleichen allerdings unbekannt.
»Seine Exzellenz wünscht euch beide zu sehen«, verkündete die Schwester den beiden Gefangenen.
Weder Zedd noch Adie erwiderten etwas. Die Soldaten rissen sie mit einem Ruck auf die Beine; ein deftiger Stoß ließ sie der Schwester hinterhertorkeln, die bereits ein Stück vorausgegangen war. In diesem Augenblick bemerkte Zedd, daß sie noch von weiteren Soldaten, etwa einem Dutzend an der Zahl, eskortiert wurden.
Der Wagen hatte sie am Ende einer Art Straße abgesetzt, die sich auf verschlungenem Weg durch das schier endlose Feldlager wand. Das Ende dieser Straße, wo die Wagen in Reih und Glied aufgereiht standen, schien den Eingang zu einem inneren Lager, wahrscheinlich der militärischen Kommandozentrale, zu bilden. Die einfachen Truppen außerhalb des Rings aus schwer bewaffneten Wachen waren mit Essen, Würfeln und Zocken beschäftigt, sie betrieben einen regen Tauschhandel mit Beutegut, scherzten, unterhielten und betranken sich, während sie zusahen, wie die beiden Gefangenen von ihrer Eskorte abgeführt wurden.
Zedd kam der Gedanke, daß unter den Soldaten, wenn er mit lauter Stimme verkündete, er sei für den Lichtbann verantwortlich, der so viele ihrer Kameraden getötet oder verletzt hatte, ein Tumult ausbrechen, sie sich auf sie stürzen und sie umbringen würden, bevor Jagang Gelegenheit erhielt, ihn und Adie nach Belieben zu foltern.
Zedd, bereit, seinen Plan in die Tat umzusetzen, hatte den Mund bereits geöffnet, doch dann sah er die Schwester sich kurz zu ihm herumdrehen und mußte feststellen, daß ihre Kontrolle über den Ring um seinen Hals ihn seiner Stimme beraubt hatte. Ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis würde er kein einziges Wort über die Lippen bringen.
Sie folgten der Schwester vorbei an der Wagenreihe, die vor dem einen Gefährt stand, in dem sie hergebracht worden waren. Weit über ein Dutzend dieser Transportwagen reihten sich vor dem abgesperrten Bereich mit den größeren Zelten auf, keiner davon leer, sondern alle ausnahmslos mit Kisten voll gestapelt.
Mit wachsender Beklommenheit dämmerte es Zedd. Auf diesen Wagen lag das Beutegut aus der Burg der Zauberer; diese Wagen hatten sie auf ihrer Fahrt begleitet. Alle waren voll gepackt mit Gegenständen, die diese nicht mit der Gabe gesegneten Kerle auf Geheiß der Schwestern aus der Burg getragen hatten. Zedd wagte nicht, sich vorzustellen, welch unbezahlbare und hochgefährliche Dinge sich in diesen Kisten befinden mochten. Die Burg war voller Objekte, die jedem gefährlich werden konnten, sobald man sie von den sie bewachenden Schilden trennte. Es waren seltene Stücke darunter, die, wurden sie auch nur für kurze Zeit aus ihrer schützenden Umgebung – Dunkelheit etwa – entfernt, ihre Entwicklungsfähigkeit verloren.
Wachen, bekleidet mit mehreren Schichten aus Fellen, Kettenhemden und Leder und bewaffnet mit Langspießen, die mit langen Stahlspitzen sowie ausgestellten, scharf geschliffenen Klingen, mit riesigen Sicheläxten und dornenbewehrten Keulen versehen waren, durchstreiften die Sperrzone. Diese finsteren Krieger wirkten noch kräftiger und bedrohlicher als die regulären Truppen draußen im eigentlichen Lager – und die waren bereits furchterregend genug.
Die Wachen geleiteten die Schwester, Zedd und Adie durch eine Öffnung in einer Reihe eisendornenbewehrter Barrikaden. Dahinter schlossen sich die kleineren Sonderzelte an, von denen die meisten rund und etwa von der gleichen Größe waren. Zedd vermutete, daß Jagang in diesen Zelten sein persönliches Personal, seine Diener und Leibsklaven, untergebracht hatte. Er fragte sich, ob die Schwestern ausnahmslos im kaiserlichen Lager gefangen gehalten wurden.
Weiter vorn erhob sich der an einen Palast erinnernde Anblick der prunkvollen Zelte des Kaisers und seines Gefolge im spätnachmittäglichen Licht. Ohne Zweifel dienten einige dieser komfortablen, rings um den zentralen Bereich und innerhalb des Zeltrings für Diener und Gefolge errichteten Zelte hochrangigen Offizieren und Beamten sowie den engsten Beratern des Kaisers als Unterkünfte.
Nur zu gern hätte Zedd einen Lichtbann besessen sowie die Möglichkeit, ihn zu entzünden; vermutlich hätte er die Imperiale Ordnung gleich hier und jetzt ihres Oberhaupts berauben können.
Andererseits war er sich darüber im Klaren, daß das darauf folgende Chaos und die Tumulte bestenfalls einen vorübergehenden Rückschlag für die Imperiale Ordnung bedeutet hätten. Man würde kurzerhand einen anderen Rohling bereitstellen, der ihrer Mission nur um so nachdrücklicher Geltung verschaffen würde. Um der Gefahr der Imperialen Ordnung ein Ende zu bereiten, brauchte es mehr als nur Jagangs Ermordung. Er hätte nicht einmal mehr mit Sicherheit zu sagen vermocht, womit sich die Welt überhaupt noch von der Unterdrückung und Tyrannei der Imperialen Ordnung befreien ließe.
»Das sind sie?«, fragte ein Posten mit kurz geschorenem Schädel. Die Ringe, die ihm aus Nase und Ohren hingen, erinnerten Zedd an ein für den Sommerjahrmarkt herausgeputztes Preisschwein – obschon ein solches Schwein natürlich säuberlich gewaschen wäre und erheblich besser riechen würde.
»Ja«, antwortete die Schwester. »Alle beide, wie befohlen.«
Sorgfältig und ohne Hast erfaßten seine dunklen Augen erst Adie und dann Zedd. Seinem Stirnrunzeln nach hielt er sich offenbar für einen redlichen Menschen, dem zutiefst mißfiel, was er vor sich sah: das Böse. Nachdem er die Halsringe der beiden zur Kenntnis genommen hatte – Beweis, daß sie dem Kaiser nicht gefährlich werden konnten –, trat er zur Seite und beorderte sie mit einem Wink seines Daumens durch eine zweite Absperrung jenseits der dem Gefolge, den Dienern und Sklaven vorbehaltenen Zelte. Sein haßerfüllter Blick folgte den Sündern auf ihrem Weg zu ihrem wohlverdienten Schicksal.
Sofort stürmten aus dem zentralen Bereich weitere Posten herbei, die sie in ihre Mitte nahmen. Zedd fiel auf, daß diese Soldaten ordentlicher gekleidet waren. Ihre Uniformen bestanden aus ähnlichen Leder- und Kettenpanzerschichten, auch trugen sie ähnlich schwere Waffengurte, und vor ihrer Brust kreuzten sich dornenbesetzte Lederriemen. Aber ihnen war eine gewisse Einheitlichkeit, ja Gleichheit eigen, die sie als Spezialtruppen auswies. Die in ihren breiten Gürteln hängenden Waffen waren von besserer Machart, und sie trugen mehr davon. Ihre Art, sich zu bewegen, verriet Zedd, daß dies nicht die gewöhnlichen, zum Kriegsdienst gedungenen Männer waren, sondern eigens ausgebildete Spezialeinheiten, die über eine hoch entwickelte Befähigung zur Kriegsführung verfügten. Die Leibgarde Kaiser Jagangs.
Zedd warf einen schmachtenden Blick auf den nahezu vollen Wassereimer, der für die in der Hitze Wache stehenden Soldaten bereitstand. Einem Kaiser stünde es schlecht zu Gesicht, wenn seine Elitetruppen aus Wassermangel zusammenbrächen. Sich der vermeintlichen Antwort nahezu gewiß, verzichtete Zedd darauf, um einen Schluck zu bitten. Ein Blick zur Seite zeigte ihm, daß Adie ihre aufgesprungenen Lippen benetzte, doch auch sie blieb stumm.
Auf einer kleinen Anhöhe, inmitten der eindrucksvollen, aber minderen Quartiere des kaiserlichen Gefolges, stand das bei weitem größte Zelt. Tatsächlich erinnerte das kaiserliche Zelt eher an einen reisenden Palast denn an ein Zelt. Es besaß ein dreispitziges Dach, durchbohrt von hohen Stützpfählen, an denen bunte Wimpel und Fahnen befestigt waren. Reich bestickte Stoffbahnen schmückten die Außenwände; rote und gelbe Fähnchen wehten träge in der heißen, spätnachmittäglichen Luft. Wegen des mit Quasten und bunten Bändern gesäumtes Randes erinnerte es ein wenig an das große Versammlungszelt eines Jahrmarkts.
Ein Posten neben dem Zelteingang erwiderte Zedds Blick, ehe er den mit goldenen Schilden und Rundbildern aus getriebenem Silber verzierten Lamrnfellvorhang anhob, um sie eintreten zu lassen. Einer der anderen Posten stieß Zedd mit gestrecktem Arm gegen die Schulter und schickte ihn fast der Länge nach zu Boden. Zedd, unmittelbar gefolgt von Adie, stolperte durch den Zelteingang in das schwach beleuchtete Innere.
Drinnen dämpften mehrere Schichten dicker, scheinbar zufällig verteilter Teppiche das derbe Getöse des Feldlagers. Der Rand des Fußbodens war von Hunderten Kissen aus Seide und Brokat gesäumt. Bunt verzierte Stoffbahnen unterteilten den düsteren Innenraum des Zeltes und bedeckten die Außenwände, an deren Oberrand mit gazeartigem Stoff verhängte Öffnungen zwar nur wenig Licht, dafür aber einen milden Luftzug in die stille Düsterkeit des eindrucksvollen Zeltes hereinließen. Tatsächlich war die Beleuchtung so spärlich, daß man Lampen und Kerzen benötigte.
In der Mitte des Raumes stand, nach hinten versetzt, ein kunstvoll verzierter, mit schweren roten Seidenstoffen behangener Sessel. Wenn dies Jagangs Thron war, so saß er nicht darauf.
Während Zedd und Adie von Posten umringt wurden, die ihre Bewegungsfreiheit auf ein Minimum beschränkten, verschwand einer der Soldaten hinter den Stoffbahnen, hinter denen ein schwaches Licht hervordrang. Die Posten in Zedds unmittelbarer Nähe stanken nach Schweiß; ihre Schuhe waren mit Dung verkrustet. Trotz der aufwendigen, luxuriösen Umgebung, die sich nach Kräften bemühte, eine Atmosphäre ehrfürchtigen Respekts vorzutäuschen, durchzog ein hartnäckiger Scheunenhofgestank das Zelt, der durch den Pferdedung und den menschlichen Schweiß der Soldaten, die mit Zedd und Adie das Zelt betreten hatten, nur noch verstärkt wurde.
Der Soldat, der hinter den Stoffbahnen verschwunden war. steckte seinen Kopf wieder heraus und winkte die Schwester zu sich. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf sie ebenfalls hinter den Stoffbahnen verschwand.
Zedd warf einen verstohlenen Seitenblick auf Adie. Ihre völlig weißen Augen starrten genau nach vorn. Unter dem Vorwand, das Gewicht zu verlagern, beugte er sich zu ihr hinüber und streifte heimlich ihre Schulter – eine tröstliche Geste in einer vollkommen ausweglosen Situation. Als Antwort hielt sie leicht dagegen; seine Botschaft war angekommen und dankbar aufgenommen worden. Er sehnte sich danach, sie in die Arme zu schließen, wohl wissend, daß es wahrscheinlich das allerletzte Mal sein würde.
Man hörte dumpfe Stimmen, doch die schweren Stoffbahnen dämpften sie so sehr, daß Zedd kein Wort verstehen konnte. Hätte er Zugang zu seiner Gabe gehabt, wäre er imstande gewesen, jedes Wort klar und deutlich zu verstehen, doch der Halsring verwehrte ihm den Zugriff auf sein Talent. Nichtsdestoweniger hörte er heraus, daß der Bericht der Schwester, ihre Worte knapp und geschäftsmäßig klangen.
Die im Zelt arbeitenden Sklaven, damit beschäftigt, die Teppiche abzubürsten, elegante Vasen zu polieren oder Schränke zu wachsen, schenkten den von den Posten hereingeführten Personen keinerlei Beachtung, der plötzliche, leise Unterton von Bedrohlichkeit jedoch, der hinter den Stoffbahnen hervordrang, bewirkte, daß alle ihre Arbeit mit spürbar gesteigerter Sorgfalt verrichteten. Auch wenn dem Kaiser zweifellos des öfteren Gefangene vorgeführt wurden, ahnte Zedd, daß es von den im kaiserlichen Zelt Beschäftigten sicherlich nicht eben klug wäre, auch nur das geringste Interesse an den kaiserlichen Belangen zu bekunden.
Darüber hinaus drang hinter den aus gestickten Landschaftsszenen zusammengesetzten Stoffbahnen warmer Essensgeruch hervor. Zedd war erstaunt, welche Vielfalt an unterschiedlichen Düften er zu unterscheiden vermochte, auch wenn der alles überlagernde Gestank den angenehmen Wohlgerüchen von Fleischspeisen, Olivenöl, Knoblauch, Zwiebeln und Gewürzen etwas Widerwärtiges verlieh.
Als die Schwester hinter der Zwischenwand aus bunten Stoffbahnen wieder zum Vorschein kam, hob sich der Ring in ihrer Unterlippe auffallend deutlich von ihrer aschfahlen Gesichtsfarbe ab. Sie nickte den Soldaten rechts und links von den Gefangenen kurz zu, dann packten kräftige Hände Zedd und Adie bei den Armen, und die beiden wurden zur Öffnung und dem matten Lichtschein dahinter abgeführt.