EINFÜHRUNG

Carla Lemarchant

Wohlgefällig betrachtete Hercule Poirot das junge Mädchen, das in sein Zimmer trat.

Aus dem kurzen, sachlichen Brief, mit dem Carla Lemarchant sich angemeldet hatte, war der Grund ihres Besuches nicht hervorgegangen; aber an der Handschrift hatte Poirot erkannt, daß es sich um ein junges Mädchen handeln müsse. Nun stand sie in Fleisch und Blut vor ihm, groß, schlank, Anfang Zwanzig, eine junge Dame, nach der man sich auf der Straße umdreht. Sie trug ein tadellos geschnittenes Kostüm und einen kostbaren Pelz, hatte starke Brauen, eine wohlgeformte Nase, ein energisches Kinn und machte einen lebhaften Eindruck; diese Lebhaftigkeit war noch augenfälliger als ihre Schönheit. Bevor sie kam, hatte sich Poirot alt gefühlt, nun aber war er verjüngt, frisch, gespannt.

Bei der Begrüßung musterte sie ihn eingehend mit ihren ernsten dunkelgrauen Augen. Sie setzte sich, nahm die ihr angebotene Zigarette, rauchte einige Sekunden lang schweigend und betrachtete ihn immer noch ernst und nachdenklich. «Sie wollen sich erst klar werden, nicht wahr?» fragte Poirot freundlich.

Sie fuhr zusammen. «Wie bitte?» Ihre leise Stimme klang angenehm.

«Sie überlegen, ob ich ein Schwindler bin oder der Mann, den Sie brauchen?»

Lächelnd erwiderte sie: «So ungefähr, Monsieur Poirot. Sie sehen nämlich ganz anders aus, als ich Sie mir vorgestellt hatte.»

«Alt? Älter als Sie dachten?»

«Das auch. Entschuldigen Sie meine Offenheit, aber ich brauche... den besten Mann.»

«Dann können Sie beruhigt sein - ich bin der beste.»

«Bescheiden sind Sie nicht... aber ich glaube Ihnen.» Selbstgefällig erklärte er: «Ich verlasse mich nicht auf meine Muskeln. Ich habe es nicht nötig, mich zu bücken, um Fußabdrücke zu messen oder Zigarettenstummel aufzulesen oder niedergetretenes Gras zu studieren. Ich brauche mich nur in meinem Sessel zurückzulehnen und nachzudenken. Das hier», er tippte auf seinen eiförmigen Schädel, «das hier arbeitet.». «Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen», sagte Carla. «Was ich von Ihnen will, ist nämlich phantastisch.»

«Das klingt vielversprechend!» Poirot blickte sie an. Carla holte tief Atem. «Zunächst: ich heiße nicht Carla, sondern Caroline, wie meine Mutter.» Sie machte eine kleine Pause. «Auch Lemarchant ist nicht mein richtiger Name, obwohl ich, so lange ich mich erinnern kann, so genannt wurde... mein richtiger Name ist Crale.»

Poirot runzelte die Stirn und murmelte: «Crale... der Name kommt mir bekannt vor.»

«Mein Vater war Maler. Er war ziemlich bekannt; viele sagen, er sei ein großer Maler gewesen, und ich glaube, das stimmt.»

«Amyas Crale?»

«Ja.» Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: «Und meine Mutter, Caroline Crale, wurde angeklagt, ihn ermordet zu haben, und wurde für schuldig erklärt.»

«Ich erinnere mich, aber nicht sehr genau. Ich war damals im Ausland, und es ist ja schon sehr lange her.»

«Sechzehn Jahre», sagte sie. Ihr Gesicht war nun wachsbleich, und ihre Augen glühten. «Verstehen Sie? Sie wurde verurteilt... sie wurde nicht gehängt, weil man ihr mildernde Umstände zubilligte... sie wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Aber ein Jahr nach der Verurteilung starb sie. Verstehen Sie? Es ist alles vorbei... endgültig vorbei...»

«Und?» fragte Poirot ruhig.

Das Mädchen, das sich Carla Lemarchant nannte, antwortete langsam, stockend, die Hände zusammenpressend: «Sie müssen verstehen.. genau verstehen.. warum ich gekommen bin. Als es geschah, war ich fünf Jahre alt, zu jung, um etwas davon zu begreifen. Natürlich erinnere ich mich noch an meine Eltern, und ich erinnere mich auch, daß ich plötzlich aufs Land geschickt wurde. Ich sehe noch heute die Schweine vor mir und eine nette dicke Bauersfrau... alle waren sehr gut zu mir... und ich erinnere mich noch genau, daß mich alle merkwürdig ansahen... irgendwie verstohlen. Kinder merken es ja meist, wenn etwas nicht stimmt, aber ich wußte nicht, was es war.

Und dann wurde ich auf ein Schiff gebracht, was sehr aufregend für mich war. Wir fuhren mehrere Tage, und dann kam ich in Kanada an. Onkel Simon holte mich ab und nahm mich mit nach Montreal zu sich und Tante Louise, und wenn ich nach Papa und Mama fragte, sagten sie, sie würden bald nachkommen. Und bald fragte ich nicht mehr. Ich vergaß sie, und später dachte ich, daß sie tot wären, ohne daß es mir jemand gesagt hätte. Ich fühlte mich dort sehr glücklich, alle waren freundlich zu mir; ich ging in die Schule, hatte viele Freundinnen und wußte gar nicht mehr, daß ich je einen anderen Namen gehabt hatte. Tante Louise hatte mir erklärt, Lemarchant sei mein kanadischer Name, und das kam mir völlig plausibel vor.»

Sie reckte ihr energisches Kinn und fuhr fort: «Schauen Sie mich an! Wie Sie mich hier sehen, würden Sie doch sagen: Bis zu einem gewissen Grade stimmt das auch. fch habe Geld, ich bin gesund, ich bin ganz hübsch, ich kann das Leben genießen. Und als ich zwanzig war, hätte ich mit keinem Mädchen auf der Welt tauschen wollen. Aber ich fing an, Fragen zu stellen, mich nach meinen Eltern zu erkundigen. Wer sie waren. Ich wollte es wissen.. Und schließlich, als ich einundzwanzig wurde, sagten sie mir die Wahrheit. Sie mußten es, denn da ich großjährig wurde, bekam ich das Verfügungsrecht über mein Geld und außerdem den Brief, den meine Mutter vor ihrem Tod an mich geschrieben hatte.»

Sie blickte jetzt nicht mehr lebhaft drein, ihre Augen waren keine glühenden Kohlen mehr, sie waren dunkle, trübe Teiche. «Und so erfuhr ich die Wahrheit: meine Mutter war wegen Mordes verurteilt worden. Es war... entsetzlich... Und nun muß ich Ihnen noch etwas sagen: ich habe mich verlobt. Es hieß, wir müßten bis zu meiner Großjährigkeit warten. Jetzt weiß ich, warum.»

Poirot rührte sich und unterbrach sie zum ersten Mal: «Und was sagte Ihr Verlobter?»

«John? John sagte, das ändere nichts, wenigstens nicht für ihn. Wir wären John und Carla, und die Vergangenheit spiele keine Rolle.» Sie beugte sich vor. «Wir sind noch immer verlobt. Aber es spielt eine Rolle, für mich und auch für John... zwar nicht die Vergangenheit, aber die Zukunft.» Sie ballte die Fäuste. «Wir wollen Kinder haben, verstehen Sie? Beide wollen wir Kinder, aber wir möchten unsere Kinder nicht damit belasten.»

«Wir alle haben unter unseren Vorfahren jemanden, der etwas auf dem Kerbholz hat», warf Poirot ein. «Das stimmt, aber im allgemeinen weiß man nichts davon. Wir aber wissen es, und es liegt noch nicht lange genug zurück. Manchmal sieht John mich so merkwürdig von der Seite an. Stellen Sie sich vor, wenn wir verheiratet sind und wir bekommen Streit miteinander... und ich würde sehen, daß er mich so anschaut, daß er überlegt...»

«Wie ist Ihr Vater umgekommen?» fragte Poirot. Die Antwort war klar und bestimmt: «Er wurde vergiftet.»

«Hm.» Poirot schien bestürzt.

Nach kurzem Schweigen sagte das Mädchen sachlich: «Gott sei Dank, Sie sind ein vernünftiger Mensch. Sie begreifen, was es für mich bedeutet. Sie versuchen nicht, es zu bemänteln und mich zu beschwichtigen.»

«Was es für Sie bedeuten muß, begreife ich sehr gut», sagte Poirot, «nicht aber das, was Sie von mir wollen.»

«Ich möchte John heiraten», erwiderte Carla schlicht, «und ich möchte Kinder haben, mindestens zwei Knaben und zwei Mädchen. Und das sollen Sie mir ermöglichen.»

«Sie meinen.. ich soll mit Ihrem Verlobten sprechen? Unsinn, das ist ja lächerlich. Sie wollen etwas ganz anderes von mir. Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen.»

«Hören Sie, Monsieur Poirot: ich beauftrage Sie hiermit, einen Mordfall aufzuklären. »

«Wie bitte...?»

«Jawohl, ein Mord ist ein Mord, ob er gestern verübt wurde oder vor sechzehn Jahren.»

«Aber meine liebe junge Dame...»

«Einen Moment, Monsieur Poirot. Sie wissen noch nicht alles. Ich habe ein wichtiges Argument.»

«Ja?»

«Meine Mutter war unschuldig!»

Hercule Poirot rieb sich die Nase und murmelte: «Natürlich... ich verstehe...»

«Es ist keine Sentimentalität. Da ist dieser Brief. Sie schrieb ihn vor ihrem Tod. Er sollte mir bei meiner Großjährigkeit ausgehändigt werden. Sie hat ihn nur geschrieben, damit ich sicher sein kann. Es steht darin, daß sie es nicht getan hat; sie sei unschuldig, ich könne dessen sicher sein.» Poirot betrachtete nachdenklich das lebendige junge Gesicht, die ernsten Augen und sagte langsam: «Tout de même...» Carla lächelte. «Nein, so war meine Mutter nicht. Sie halten es für eine Lüge... eine fromme Lüge? Hören Sie, Monsieur Poirot, es gibt Dinge, die ein Kind gut begreift. Ich kann mich nur noch dunkel an meine Mutter erinnern, aber ich weiß genau, was für ein Mensch sie war. Sie sagte nie eine Lüge, nicht einmal eine fromme Lüge. Wenn ich zum Zahnarzt gehen sollte oder wenn mir ein Splitter aus dem Finger gezogen werden mußte, sagte sie mir stets vorher, daß es weh tun werde. Wahrheit war ihre zweite Natur. Ich glaube, ich war kein besonders zärtliches Kind, aber ich habe ihr vertraut, und ich vertraue ihr noch heute. Wenn sie sagt, daß sie meinen Vater nicht getötet hat, dann hat sie ihn nicht getötet. Sie war nicht der Mensch, der angesichts des Todes feierlich eine Lüge niederschreibt.»

Langsam, fast widerstrebend, nickte Poirot. Carla fuhr fort: «Darum kann ich von mir aus John heiraten. Ich weiß, daß sie die Wahrheit sagte, er aber nicht, er findet es nur normal, daß ich meine Mutter für unschuldig halte. Es muß also bewiesen werden, Monsieur Poirot, und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.»

Langsam erwiderte Poirot: «Angenommen, daß das, was Sie sagen, stimmt, Mademoiselle, so darf man nicht vergessen, daß inzwischen sechzehn Jahre vergangen sind.»

«Ich weiß, daß es sehr schwer sein wird, aber Sie sind der einzige, der es tun kann. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört. Sie interessieren sich doch hauptsächlich für die psychologische Seite eines Falles, und daran ändert die Zeit nichts. Die sichtbaren Dinge sind nicht mehr vorhanden... die Zigarettenstummel, die Fußspuren, das niedergetretene Gras. Aber die Tatsachen des Falles können Sie untersuchen. Sie können mit den Leuten sprechen, die damals dabei waren - alle leben noch - und dann... dann können Sie, wie Sie vorhin sagten, sich in ihrem Sessel zurücklehnen und denken. Und Sie werden wissen, was wirklich geschehen ist...» Poirot stand auf, strich liebevoll seinen Schnurrbart und sagte:

«Mademoiselle, ich fühle mich geehrt. Ich werde Ihr Vertrauen rechtfertigen; ich werde diesen Mord untersuchen. Ich werde mich in diese Ereignisse, die sechzehn Jahre zurückliegen, vertiefen und werde die Wahrheit herausfinden.» Auch Carla war aufgestanden; ihre Augen leuchteten, doch sagte sie nur: «Gut.»

Poirot hob warnend den Zeigefinger. «Einen Augenblick. Ich habe gesagt, ich werde die Wahrheit herausfinden, aber ich bin nicht voreingenommen. Ich nehme Ihre Behauptung, daß Ihre Mutter unschuldig sei, nicht als gegeben hin. Und wenn sie nun schuldig war... eh bien, was dann?» Carla reckte stolz den Kopf. «Ich bin die Tochter meiner Mutter! Ich will die Wahrheit wissen.»

«Dann en avant. Das heißt, das sollte ich eigentlich nicht sagen, sondern im Gegenteil: en arrière...»

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