Der Löwe schritt auf und ab und sang dabei sein neues Lied. Es war leiser und beschwingter als jenes, mit dem er Sterne und Sonne ins Leben gerufen hatte – sozusagen eine sanft dahinplätschernde Klangfolge. Während er singend umherschritt, begann im Tal das Gras zu grünen. Um den Löwen herum fing es an; dann breitete es sich ringsumher aus wie ein überquellender Teich; wie in Wogen wuchs es an den Hängen empor, es kroch auf die Berge in der Ferne und legte etwas Sanftes über diese junge Welt. Raschelnd strich der sanfte Wind durch die Halme. Kurz darauf begann alles mögliche zu wachsen. Die höhergelegenen Hänge verdunkelten sich unter Heidekraut, das Tal fleckte sich mit groben, stachligen Gewächsen. Erst beim Näherkommen sah Digory, was das für Pflanzen waren. Kleine stachlige Gebilde waren es, die nach allen Seiten Arme reckten, auf denen es zu grünen begann. Sie wuchsen ungefähr einen Fingerbreit pro Sekunde. Rund um Digory herum sprießten Dutzende von diesen Gewächsen. Was das war, entdeckte er erst, als sie fast so hoch standen wie er selbst. »Bäume!« rief er.
Unangenehm war nur, daß sie all das nicht in Ruhe betrachten konnten. Gerade als Digory »Bäume!« rief, mußte er nämlich einen Satz zur Seite machen, weil Onkel Andrew wieder angeschlichen kam und ihm den Ring aus der Tasche stibitzen wollte. Von seinem Ring hätte Onkel Andrew zwar nicht viel gehabt, denn er wollte Digory in die rechte Hosentasche greifen, weil er ja immer noch meinte, die grünen Ringe seien es, die nach Hause führten. Aber natürlich wollte Digory alle beide Ringe behalten.
»Halt!« kreischte die Hexe. »Zurück! Noch weiter! Wenn sich einer von euch weiter als zehn Schritte den Kindern nähert, dann schlage ich ihm den Schädel ein!«
Dabei schwang sie die Eisenstange, die sie von der Laterne abgerissen hatte. Allen war klar, daß sie ihr Ziel ganz bestimmt nicht verfehlen würde.
»So!« sagte sie dann. »Du wolltest also heimlich mit dem Jungen in deine Welt verschwinden und mich hier zurücklassen!«
Jetzt siegte Onkel Andrews Zorn endlich über seine Furcht. »Ja, werte Dame, das hatte ich vor«, sagte er.
»Daran besteht kein Zweifel. Und das wäre auch mein gutes Recht, so beschämend und abscheulich, wie Sie mich behandelt haben. Ich habe mein Bestes gegeben, ihnen soweit entgegenzukommen, wie es in meiner Macht stand. Und wie wurde mir das gedankt? Sie haben einen höchst ehrwürdigen Juwelier bestohlen – jawohl, bestohlen! Sie haben mich dazu gezwungen, Sie zu einem irrsinnig teuren, ja verschwenderischen Essen einzuladen, wes halb ich meine Taschenuhr mit Kette verpfänden mußte! Ich darf Ihnen mitteilen, werte Dame, daß es unter den Mitgliedern meiner Familie nicht üblich ist, Pfandleiher in Anspruch zu nehmen – mit Ausnahme meines Cousins Edward, aber der war ja auch bei der Kavallerie. Im Verlauf dieser schwerverdaulichen Mahlzeit, die mir noch immer im Magen liegt, hat Ihr Verhalten und Ihre Konversation auf eine sehr unangenehme Art und Weise dazu geführt, daß alle Anwesenden auf uns aufmerksam wurden Ich fühle mich öffentlich entehrt, und in diesem Restaurant kann ich mich nie mehr blicken lassen. Des weiteren haben Sie Polizisten angegriffen, Sie haben gestohlen,…«
»Schluß jetzt, alter Knabe, Schluß jetzt!« sagte der Kutscher. »Sie sollten zusehen und zuhören, statt zu quasseln.«
Tatsächlich gab es eine ganze Menge zu sehen und zu hören. Der Baum, den Digory als erstes bemerkt hatte, war zu einer voll ausgewachsenen Birke geworden, deren Zweige sanft über seinem Kopf schwankten, und überall wuchs kühles, grünes, mit Gänseblümchen und Butterblumen getupftes Gras. Ein Stückchen weiter am Flußufer standen Wiesen; auf der anderen Seite wucherten blühende Fliedersträucher, wilde Rosen und Rhododendronbüsche. Das Pferd war damit beschäftigt, köstlich saftige Grasbüschel zu rupfen.
Die ganze Zeit über schritt der Löwe majestätisch auf und ab und sang dabei. Ein klein wenig beunruhigend war, daß er jedesmal ein Stückchen näher kam, wenn er sich wieder umdrehte. Von Sekunde zu Sekunde fand Polly das Lied interessanter, denn langsam kam es ihr vor, als bestünde ein Zusammenhang zwischen dem Lied und dem, was um sie herum geschah. Als in der Nähe an einem Hang eine Reihe dunkler Fichten sproß, erkannte sie, daß dies mit einer Reihe von dunklen, langgezogenen Tönen zusammenhängen mußte, die der Löwe kurz zuvor gesungen hatte. Und als er überwechselte zu einer lebhafteren Klangfolge, war Polly nicht weiter überrascht, als sie entdeckte, wie ringsumher plötzlich Schlüsselblumen zu wachsen begannen. Sie wurde von einer unsagbaren Erregung ergriffen, und ihr wurde klar, daß all diese Dinge im Kopf des Löwen entstanden, wie sie es ausdrückte. Wenn man dem Lied lauschte, dann konnte man hören, welche Pflanzen er gerade entstehen ließ. Schaute man sich um, dann konnte man sie auch schon sehen. So aufregend war es, daß Polly gar keine Zeit hatte, Angst zu spüren. Digory und der Kutscher allerdings wurden ganz gegen ihren Willen ein wenig nervös, weil der Löwe nach jeder Wendung ein wenig näher kam. Onkel Andrew klapperte vor Angst mit den Zähnen, aber er konnte nicht weglaufen, weil seine Knie so schrecklich schlotterten.
Plötzlich ging die Hexe tollkühn ein paar Schritte auf den Löwen zu, der langsam, ständig singend, angetrottet kam, bis er nur noch etwas mehr als zehn Meter entfernt war. Nun hob Jadis den Arm und schleuderte ihm die Eisenstange an den Kopf.
Keiner hätte ihn auf diese Entfernung verfehlt, am allerwenigsten Jadis. Die Stange traf den Löwen genau zwischen die Augen, prallte ab und fiel mit einem dumpfen Schlag ins Gras. Doch das hielt den Löwen nicht auf. Er ging weder langsamer noch schneller als zuvor, und man konnte ihm nicht ansehen, ob er die Stange überhaupt gespürt hatte. Obwohl seine Tatzen nicht zu hören waren, erbebte doch die Erde.
Die Hexe kreischte auf, rannte davon und war schon kurze Zeit später zwischen den Bäumen verschwunden.
Onkel Andrew drehte sich um und wollte hinterherrennen, doch er stolperte über eine Wurzel und fiel platt auf die Nase. Er landete in einem Bächlein, das sich hinunterschlängelte zum Fluß. Die Kinder konnten sich nicht rühren, aber sie wußten ohnehin nicht so recht, ob sie sich überhaupt rühren wollten. Der Löwe schenkte ihnen keinen Blick. Er hatte sein großes Maul weit aufgerissen, doch nicht um zu brüllen, nein, um zu singen. So nah ging er an ihnen vorüber, daß sie seine Mähne hätten berühren können. Sie hatten schreckliche Angst, er könne sich umdrehen und sie ansehen, doch andererseits wünschten sie sich komischerweise, er möge es tun. Doch sie hätten geradesogut unsichtbar und unriechbar sein können, so wenig Beachtung schenkte er ihnen. Er ging an ihnen über, wandte sich ein Stückchen weiter wieder um, ging noch einmal an ihnen vorbei und schritt dann weiter in Richtung Osten.
Hustend und spuckend rappelte sich Onkel Andrew wieder auf.
»So, Digory«, sagte er. »Das Weib sind wir los, und der gräßliche Löwe ist auch weg. Du gibst mir jetzt sofort die Hand und steckst den Ring an.«
»Bleib mir vom Leib!« befahl Digory und wich zurück.
»Geh bloß nicht in seine Nähe, Polly. Komm hierher und stell dich neben mich. Ich warne dich, Onkel Andrew wenn du noch einen einzigen Schritt machst, dann verschwinden wir einfach.«
»Du tust jetzt sofort, was ich dir sage!« sagte Onkel Andrew. »Du bist ein gräßlich ungehorsamer, ungezogener Bengel!«
»Kommt nicht in Frage!« widersprach Digory. »Wir wollen hierbleiben und zusehen, was geschieht. Ich dachte, du interessierst dich für andere Welten? Gefällt es dir denn nicht, jetzt, wo du hier bist?«
»Ob es mir gefällt?« rief Onkel Andrew. »Sieh doch nur, in welchem Zustand ich mich befinde. Und ich habe meine allerbeste Jacke und meine allerbeste Weste an!«
Ohne Zweifel sah er inzwischen ganz schrecklich aus. Je besser die Kleider sind, die man trägt, desto schlimmer sieht man aus, wenn man aus einer zerschmetterten Droschke krabbeln mußte und in einen schlammigen Bach gefallen ist. »Ich will damit nicht sagen, daß es hier nicht äußerst interessant ist«, fuhr er fort. »Wenn ich ein junger Mann wäre, dann – vielleicht sollte ich erst einmal einen jungen, unternehmungslustigen Burschen hierherschicken – einen Großwildjäger vielleicht. Aus dem Land könnte man etwas machen. Das Klima ist herrlich. So eine Luft habe ich noch nie gerochen. Ich glaube fast, sie hätte mir gutgetan – wären nur die Umstände günstiger gewesen. Hätten wir bloß ein Gewehr gehabt!«
»Zum Teufel damit«, meinte der Kutscher. »Will mal sehen, ob ich Goldapfel abreiben kann. Das Pferd hat mehr Grips im Hirn als manch einer von den Menschen. Aber Namen will ich keine nennen.« Er ging hinüber zu seinem Pferd und stieß dabei Zischlaute aus, so wie das die Pferdeknechte machen.
»Glaubst du denn noch immer, diesen Löwen könnte man mit dem Gewehr erlegen?« fragte Digory. »Die Eisenstange hat ihm offensichtlich nicht viel ausgemacht.«
»Welche Fehler sie auch immer haben mag – ein tollkühnes Weib ist diese Jadis«, sagte Onkel Andrew. »Das war allerhand, was sie da getan hat.« Er rieb sich die Hände und ließ die Knöchel knacken. Offensichtlich hatte er schon wieder vergessen, welche Angst ihm die Hexe jedesmal einjagte, wenn sie ihm nahe kam.
»Also, ich finde, sie hat sich gemein verhalten«, sagte Polly. »Er hatte ihr doch gar nichts getan!«
»Ach du lieber Gott! Was ist denn das?« rief da Digory.
Er rannte ein paar Schritte weiter und beugte sich nieder, um sich etwas anzuschauen. »Komm her, Polly, und sieh dir das an!«
Onkel Andrew kam ebenfalls hinterhergestapft, nicht weil er sehen wollte, was es da zu sehen gab, sondern weil er in der Nähe der Kinder bleiben wollte. Vielleicht ergab sich ja doch noch eine Gelegenheit, die Ringe zu stehlen.
Aber als er sah, was Digory da betrachtete, erwachte sogar bei ihm das Interesse. Da stand nämlich ein kleiner, kaum ein Meter hoher Laternenpfahl. Während sie zusahen, wuchs er immer höher. Gleichzeitig wurde er entsprechend kräftiger, genau wie zuvor die Bäume.
»Es ist eine richtige Laterne – und brennen tut sie auch!« rief Digory. Und tatsächlich. Hier, in der hellen Sonne, sah man natürlich kaum etwas von dem kleinen Flämmchen, höchstens dann, wenn ein Schatten auf die Laterne fiel.
»Erstaunlich, ausgesprochen erstaunlich«, brummelte Onkel Andrew. »Nicht einmal ich hätte mir träumen lassen, daß es einen derartigen Zauber gibt. Wir befinden uns in einer Welt, in der alles zum Leben erwacht und wächst sogar Laternen. Nur ist mir nicht klar, aus was für Samen Laternen entstehen.«
»Verstehst du denn nicht?« fragte Digory. »Hier ist die Eisenstange zu Boden gefallen, die Jadis in London vom Laternenpfahl abgerissen hat. Sie blieb in der Erde stecken, und jetzt wächst eine kleine, neue Laterne daraus hervor.« So klein war sie allerdings gar nicht mehr – inzwischen war sie schon genauso groß wie Digory.
»So muß es sein! Phantastisch, absolut phantastisch!«
Jetzt rieb sich Onkel Andrew die Hände noch kräftiger als sonst. »Ho, ho! Sie haben gelacht über meine Zauberei. Meine Schwester, diese Närrin, denkt, ich sei übergeschnappt. Was werden sie jetzt wohl sagen? Ich habe eine Welt entdeckt, wo alles vor Leben und Wachstum strotzt. Kolumbus, alle reden von Kolumbus. Aber was ist schon Amerika, verglichen mit dem hier? Die kommerziellen Möglichkeiten dieses Landes sind unermeßlich. Man braucht nur ein paar Eisenabfälle herzubringen, sie einzupflanzen, und schon wachsen funkelnagelneue Lokomotiven daraus hervor oder Schlachtschiffe oder was man eben haben will. Völlig kostenlos. Und in England kann ich dann alles zum vollen Preis verkaufen. Bald bin ich Millionär. Und dazu noch das Klima! Schon jetzt fühle ich mich um zwanzig Jahre jünger. Ich könnte ein Erholungszentrum eröffnen. Ein gutes Sanatorium in dieser Lage müßte jederzeit zwanzigtausend Pfund im Jahr einbringen. Natürlich werde ich ein paar Leute in das Geheimnis einweihen müssen. Aber als allererstes muß dieses Vieh erschossen werden!«
»Sie sind genauso schlimm wie die Hexe!« meinte Polly. »Sie denken nur ans Umbringen!«
»Und was mich selbst betrifft«, spann Onkel Andrew seinen glücklichen Traum weiter, »so ist gar nicht auszudenken, wie lange ich leben werde, wenn ich mich hier niederlasse. Und an so etwas muß man ja schließlich denken, wenn man über sechzig ist. Es sollte mich nicht wundern, wenn ich hier in dieser Welt keinen einzigen Tag älter werde! Phantastisch! Das Land der ewigen Jugend!«
»Oh!« rief Digory. »Das Land der ewigen Jugend? Glaubst du das wirklich?« Natürlich erinnerte er sich noch dran, was Tante Letty zu der Frau mit den Trauben gesagt hatte, und jetzt begann er von neuem Hoffnung zu schöpfen. »Onkel Andrew, meinst du, hier gibt es etwas, das meine Mutter gesund machen könnte?«
»Wie kommst du denn auf die Idee?« wollte Onkel Andrew wissen. »Wir sind doch nicht in der Apotheke hier. Aber wie ich eben sagte…«
»Meine Mutter interessiert dich also keinen Pfifferling!« sagte Digory wütend. »Dabei ist sie nicht nur meine Mutter, sondern auch deine Schwester! Na ja, was soll’s. Ich frage einfach den Löwen, ob er mir helfen kann.« Er drehte sich um und ging rasch davon. Polly blieb einen Augenblick lang stehen, dann folgte sie ihm nach.
He! Halt! Kommt zurück! Der Junge ist übergeschnappt!« schrie Onkel Andrew. Er folgte den Kindern in angemessener Entfernung, denn einerseits wollte er in der Nähe der grünen Ringe bleiben, andererseits hatte er nicht vor, dem Löwen zu nahe zu kommen.
Ein paar Minuten später war Digory am Waldrand angekommen. Dort blieb er stehen. Der Löwe sang noch immer, doch inzwischen hatte sich das Lied wieder verändert. Jetzt klang es eher wie das, was wir eine Melodie nennen, nur viel wilder. Sobald man es hörte, war einem danach zumute, zu hüpfen und zu springen, zu klettern und zu schreien, und man bekam Lust, auf andere Menschen zuzurennen, sie zu umarmen oder gegen sie zu kämpfen. Digorys Gesicht wurde ganz heiß und rot. Sogar bei Onkel Andrew zeigte sich eine Wirkung, denn Digory hörte ihn sagen: »Ein mutiges Mädchen. Zu schade, daß sie so unbeherrscht ist, aber ein verdammt prächtiges Weib ist sie trotzdem. Ein verdammt prächtiges Weib.« Aber das, was dieses Lied bei den Menschen anrichtete, war noch gar nichts, verglichen mit dem, was es in der Natur auslöste.
Könnt ihr euch vorstellen, wie es aussieht, wenn eine Wiese zu blubbern beginnt wie Wasser in einem Topf?
Denn so ähnlich sah es aus, was da jetzt geschah. Ringsumher erhoben sich blasenartige Auswüchse, manche nicht größer als ein Maulwurfshügel, andere so groß wie Schubkarren und zwei so groß wie Häuser. Diese Auswüchse schwollen an und rührten sich, bis sie platzten und die lockere Erde hervorquoll. Dann tauchte aus jeder Öffnung ein Tier auf. Da kamen Maulwürfe herausgekrochen, genau wie man das auch in unserer Welt beobachten kann, und Hunde, die zu bellen begannen, sobald sie den Kopf frei hatten. Sie zappelten genauso, wie ein Hund das normalerweise tut, wenn er durch eine enge Lücke in der Hecke kriecht. Am eigenartigsten war es, den Hirschen zuzusehen, denn natürlich tauchten ihre Geweihe lange vor dem restlichen Körper auf, weshalb Digory zuerst meinte, es seien Bäume. Die Frösche, die alle in der Nähe des Flusses aus der Erde krabbelten, hüpften plitsch-platsch ins Wasser und begannen zu quaken. Die Panther, die Leoparden und die übrigen katzenartigen Tiere setzten sich sofort hin, putzten sich die Erdkrumen vom Fell und stellten sich an die Bäume, um die Krallen an ihren Vordertatzen zu schärfen. Aus den Bäumen erhoben sich Vogelschwärme, Schmetterlinge flatterten durch die Luft. Die Bienen ließen sich auf den Blumen nieder und machten sich so flugs an die Arbeit, als gälte es, keine Sekunde zu verlieren. Aber am beeindruckendsten war es, als der größte Auswuchs wie bei einem kleinen Erdbeben aufbrach und der gewölbte Rücken, der riesige, kluge Kopf und die vier wuchtigen Beine eines Elefanten auftauchten. Jetzt war der Gesang des Löwen kaum noch zu hören; so wie es von allen Seiten gackerte, gurrte, krähte, schrie, wieherte, kläffte, bellte, muhte, blökte und trompetete.
Zwar hörte Digory den Löwen nicht mehr, aber sehen konnte er ihn noch. Er war so riesig, und er leuchtete so, daß Digory die Augen nicht abwenden konnte. Die anderen Tiere schienen sich nicht vor dem Löwen zu fürchten.
Genau in diesem Augenblick hörte Digory von hinten Hufgeklapper; einen Augenblick später trabte der alte Droschkengaul an ihm vorbei und gesellte sich zu den übrigen Tieren. Offensichtlich hatte ihm die Luft hier genauso gut getan wie Onkel Andrew. Er sah nicht mehr aus wie der arme, alte, versklavte Gaul – jetzt hob er ordentlich die Füße an und hielt den Kopf hoch aufgereckt. Der Löwe verstummte und begann, zwischen den Tieren auf und ab zu gehen, die sich paarweise – jeweils ein männliches und ein weibliches Tier zusammen – aufgestellt hatten Von Zeit zu Zeit trat er zu einem Tierpaar und rieb mit seiner Nase an den ihren. Von allen Dachsen berührte er also zwei, genauso hielt er es bei den Leoparden, bei den Hirschen und bei all den anderen. Einige Tierarten ließ er allerdings ganz außer acht. Die Paare, die er berührt hatte, verließen ihre Artgenossen und folgten ihm.
Zuletzt blieb er reglos stehen, und all die ausgewählten Kreaturen umstanden ihn in einem weiten Kreis. Die anderen trollten sich nach und nach davon, und ihre verschiedenen Geräusche verklangen langsam in der Ferne.
Die auserwählten Tiere verhielten sich vollkommen still, und alle hatten den Blick auf den Löwen gerichtet. Die katzenartigen Tiere zuckten ab und zu mit dem Schwanz, doch sonst rührte sich keiner. Zum ersten Mal an diesem Tag herrschte absolute Stille. Nur das Plätschern des Wassers war noch zu hören. Digory schlug das Herz bis zum Hals; er wußte, daß etwas Feierliches bevorstand.
Seine Mutter hatte er nicht vergessen, aber er wußte, das, was hier stattfand, durfte er nicht unterbrechen, nicht einmal ihretwegen.
Ohne ein einziges Mal zu blinzeln, starrte der Löwe die Tiere so durchdringend an, als wolle er sie mit seinem Blick verbrennen. Nach und nach veränderten sie sich.
Die kleinen – so wie zum Beispiel die Kaninchen und die Maulwürfe – wurden wesentlich größer, die großen wurden ein bißchen kleiner. Vor allem bei den Elefanten fiel das auf. Viele setzten sich auf die Hinterbeine, und die meisten legten den Kopf schief, so als müßten sie sich mächtig anstrengen, um zu verstehen, was da vor sich ging. Der Löwe öffnete das Maul, doch kein Ton kam heraus. Er stieß einen langwährenden warmen Atemzug aus, unter dem die Tiere sanft zu schwanken begannen wie Bäume im Wind. Hoch oben, hinter dem Schleier des blauen Himmels, begannen die Sterne wieder zu singen, mit einer reinen, kalten, schwierigen Melodie. Dann zuckte ein Strahl herab, so grell wie Feuer, doch er verbrannte keinen. Entweder der Himmel oder der Löwe hatte ihn ausgesandt. Die Kinder erschauerten, als die tiefste, wildeste Stimme, die je vernommen wurde, verkündete: »Narnia, Narnia, erwache! Lieben sollst du. Denken. Reden. Den Bäumen sollen Füße wachsen, den Kreaturen Stimmen. Heilig seien deine Gewässer.«