Die Sonne brannte erbarmungslos. Auf dem staubigen Weg, vorbei an fruchtbaren Weizen-, Maisund Haferfeldern, ging ein alter erschöpfter Indianer. Auf den Armen trug er ein krankes Kind. Es war in eine zerschlissene Decke gebettet, die vor den sengenden Sonnenstrahlen schützen sollte. Die Augen des Kindes waren halb geöffnet. An seinem Hals wucherte eine große Geschwulst. Von Zeit zu Zeit, wenn der Alte stolperte, stöhnte es heiser auf und hob kurz die Augenlider. Der Alte hielt an, und besorgt fächelte er das Kind, um ihm etwas Kühlung zu verschaffen.
Wenn ich es nur lebend hinbringe, flüsterte er, seine Schritte beschleunigend.
Am eisernen Tor angelangt, nahm der Indianer das Kind in den linken Arm und schlug mit der rechten Hand viermal gegen die Pforte. Die Klappe öffnete sich ein wenig, ein Auge blickte durch den Spalt, die Riegel knarrten, es wurde geöffnet.
Der Indianer trat zaghaft über die Schwelle. Vor ihm stand ein alter Neger in einem weißen Arztkittel mit völlig weißem krausen Haar.
„Zum Arzt, das Kind ist krank“, sagte der Indianer. Der Neger nickte schweigend und bedeutete mit einer Bewegung, ihm zu folgen. Der Indianer blickte sich um. Sie befanden sich auf einem kleinen, mit Steinplatten belegten Hof. Eine Seite begrenzte die hohe Außenmauer, eine andere niedrige Mauer teilte den Hof von dem inneren Grund
stück ab. Kein Gras, kein Sträuchlein, wie ein richtiger Gefängnishof. Am Ende des Gevierts, am Tor der weiten Mauer, stand ein weißes Haus mit großen Fenstern. Neben dem Hause, auf dem Boden, lagerten Indianer, Männer und Frauen. Viele hatten Kinder dabei. Fast alle Kinder sahen vollkommen gesund aus, einige spielten mit Muscheln, andere balgten sich lautlos. Der alte, weißhaarige Neger wachte streng darüber, daß die Kinder nicht lärmten.
Der alte Indianer lies sich demütig im Schatten des Hauses nieder und hauchte das starre, bläulich angelaufene Gesicht des Kindes an. Neben ihm saß eine alte Indianerfrau mit einem dick geschwollenen Fuß. Sie betrachtete das auf den Knien des Indianers liegende Kind und fragte: „Deine Tochter?“
„Enkelin“, antwortete der Indianer.
„Der Sumpfgeist ist in deine Enkelin gefahren. Aber ER ist stärker als die bösen Geister, ER verjagt sie, und deine Enkelin wird wieder gesund.“
Der Neger im weißen Kittel machte bei den Kranken die Runde. Er warf einen aufmerksamen Blick auf das Kind des alten Indianers und deutete nach der Haustür.
Der Indianer trat in ein großes, fliesenbelegtes Zimmer. In der Mitte des Raumes stand ein schmaler langer Tisch, der mit einem weißen Laken bedeckt war. Eine weite, mit Milchglasscheiben versehene Tür öffnete sich und Dr. Salvator betrat das Zimmer.
Er war hochgewachsen, breitschultrig und brünett und trug einen weißen Kittel. Er hatte schwarze Augenbrauen und Wimpern, sein Schädel war kahlgeschoren und ebenso tief gebräunt wie sein Gesicht. Die ziemlich große, gebogene Nase, das etwas hervorspringende spitze Kinn und die fest zusammengepreßten Lippen gaben ihm einen wilden Ausdruck. Seine braunen Augen richteten sich kalt und durchdringend auf den Wartenden.
Der Indianer verbeugte sich demutsvoll und hielt das Kind dem Arzt entgegen. Mit einer raschen, bestimmten und doch vorsichtigen Bewegung nahm Salvator das kranke Mädchen aus den Armen des Indianers. Er entfernte die Lumpen, in die das Kind eingewickelt war, und warf sie geschickt in einen weit entfernt stehenden Behälter.
Der Indianer humpelte auf den Kasten zu, um die Lumpen wieder an sich zu nehmen, aber Salvator gebot ihm mit strenger Stimme: „Laß das, faß es nicht an!“
Dann legte er das Mädchen auf den Tisch und beugte sich tief zu ihm hinab. Er stand im Profil zum Indianer. Salvator tastete mit den Fingern die Geschwulst am Hals des Kindes ab. Diese Finger entsetzten den Indianer. Es waren lange bewegliche Finger, die sich in den Gelenken ebensogut auch seitwärts und nach oben wie unten zu biegen schienen. Der von Natur aus furchtlose Indianer bemühte sich, das Entsetzen zu überwinden, welches dieser unheimliche Mensch ihm einflößte.
„Sehr gut, ausgezeichnet“, sagte Salvator wie begeistert und betastete weiter die Geschwulst. Nach beendeter Untersuchung wandte er sich an den Indianer und sagte: „Wir haben jetzt Neumond. Komm in vier Wochen beim nächsten Neumond wieder, und du bekommst dein Kind gesund zurück.“
Er trug das kranke Mädchen durch die Glastür in den Teil des Hauses, wo sich die Baderäume, Operationssäle und Krankenzimmer befanden. Der Neger führte schon den nächsten Patienten in das Untersuchungszimmer — die Alte mit dem kranken Bein. Der Indianer verbeugte sich tief gegen die Glastür, die sich bereits hinter Salvator geschlossen hatte, und ging hinaus.
Genau achtundzwanzig Tage später öffnete sich dieselbe Glastür. Da stand das kleine Mädchen in einem neuen Kleid, gesund und blühend. Ängstlich sah es auf den Großvater. Der Indianer stürzte auf das Kind zu, nahm es in seine Arme, küßte es und betrachtete seinen Hals. Von der Geschwulst war nichts mehr zu sehen, nur eine kleine rötliche Narbe hatte die Operation zurückgelassen.
Das Mädchen stieß den Großvater mit den Händen zurück und schrie sogar auf, als die Stoppeln des lange nicht rasierten Bartes es beim Kusse stachelten. Er mußte das Kind wieder auf den Boden stellen. Jetzt lächelte der Arzt sogar, streichelte den Kopf des Kindes und sagte: „Nun, da hast du dein Mädchen. Du hast es gerade noch rechtzeitig hergebracht. Einige Stunden später, und sogar ich hätte ihm das Leben nicht erhalten können.“
Das Gesicht des alten Indianers verzog sich in tiefe Falten, die Lippen bebten, und die Augen füllten sich mit Tränen. Erneut hob er das Kind auf, drückte es an seine Brust, fiel vor dem Arzt in die Knie und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Ja, Sie haben meiner Enkelin das Leben gerettet. Was kann Euch ein alter Indianer zum Dank anbieten außer dem eigenen Leben?“
„Was soll ich mit deinem Leben?“ fragte verwundert Salvator.
„Ich bin alt, aber noch rüstig“, fuhr der Indianer fort, ohne sich zu erheben. „Für das Gute, das Ihr mir erwiesen habt, will ich für den Rest meines Lebens bei Euch bleiben und Euch dienen wie ein Hund. Ich werde das Kind zu seiner Mutter — meiner Tochter — bringen und selbst zu Euch zurückkehren. Verweigern Sie mir diese Gunst nicht!“
Salvator überlegte. Er nahm sehr ungern und nur mit strengster Vorsicht neue Dienstboten auf. Zwar wäre Arbeit genug da, sogar sehr viel Arbeit, denn Jim wurde im Garten allein schlecht fertig. Dieser Indianer schien ihm ein geeigneter Mensch zu sein, obwohl er einen Neger bevorzugt hätte.
„Du bietest mir dein Leben und flehst wie um eine Gnade, daß ich dein Geschenk annehme. Gut, du sollst deinen Willen haben. Wann kannst du kommen?“
„Bevor das erste Viertel des Mondes voll ist, bin ich wieder hier“, sagte der Indianer und küßte den Saum von Salvators Kittel. „Wie heißt du?“ „Ich — Christo — Christofer — “ „Geh, Christo, Ich erwarte dich.“ „Komm, Enkelchen!“ wandte sich Christo zu dem Kind und nahm es wieder in den Arm. Das Mädchen weinte. Christo beeilte sich, fortzukommen.