ERSTER TEIL Der Riesenvogel

DIE SCHLACHT IN DER LUFT

Sieben Jahre waren nach der Vertreibung Urfins aus der Smaragdenstadt vergangen, und vieles hatte sich in der Welt geändert. Elli Smith hatte die Schule beendet und ein pädagogisches College in der Nachbarstadt belegt, um Lehrerin zu werden. Ihre jüngere Schwester, Arm (sie wurde geboren, als Elli sich im unterirdischen Königreich befand), ging in die 1. Klasse und lernte das Abc. Der einbeinige Seemann Charlie Black hatte ein Schiff gekauft und mehrere Reisen nach den Inseln Kuru-Kusu unternommen, deren Bewohner ihn jedesmal freudig empfingen.

Wie aber sah es im Wunderland aus?

Die Zwinkerer und die Käuer lebten wie eh und je, doch völlig verändert hatte sich das Leben der unterirdischen Erzgräber, bei denen sich Elli während ihrer letzten Reise im Zauberland aufhielt.

In einer riesigen Höhle dieses Landes hatten Elli und ihr Cousin Fred Cunning viele wunderbare Abenteuer erlebt. Es war ihnen gelungen, die Schlafwasserquelle wieder sprudeln zu lassen und die sieben unterirdischen Könige einzuschläfern, die abwechselnd das Land regiert hatten. Das Merkwürdigste an der Sache war, daß die Monarchen nach ihrem Erwachen ihre königliche Würde völlig vergaßen und sich in Hufschmiede, Bauern und Weber verwandelten. Wie ihre ehemaligen Untertanen arbeiteten sie jetzt, um sich und ihre Familien redlich zu ernähren. Nach dem Sturz der Könige waren die Einwohner des unterirdischen Landes in die obere Welt gezogen, wo sie sich auf brachliegenden Böden in der Nachbarschaft der Käuer niederließen. Sie säten Weizen und Flachs, trieben Gartenbau, mästeten Vieh und bearbeiteten Metalle. Lange Zeit trennten sie sich nicht von den Sonnenbrillen, denn ihre an das Halbdunkel gewöhnten Augen konnten das Tageslicht nur schlecht vertragen.

In Urfins Leben hatte sich während der langen Jahre der Abgeschiedenheit nichts geändert. Er zog in seinem Garten Gemüse, von dem er jährlich drei Ernten einbrachte. Beim Umgraben der Beete untersuchte der ehemalige König sorgfältig den Boden seines Gartens. Er lechzte danach, Körnchen von der wunderbaren Pflanze zu entdecken, aus der er das lebenspendende Pulver gewonnen hatte. Jetzt würde er gewiß nicht mehr Holzsoldaten damit beleben, o nein! Er würde ein eisenbeschlagenes Ungeheuer anfertigen, unverwundbar gegen Pfeile und Feuer, und erneut Herrscher des Wunderlandes werden!

Aber all sein Suchen war vergeblich und obendrein sinnlos.

*Von der dritten Reise Ellis erzählt das Buch ,,Die sieben unterirdischen Könige".

Wäre auch nur ein einziger Keim der ungewöhnlichen Pflanze der Vernichtung entgangen, so hätte sie doch den ganzen Garten überwuchert! Jeden Abend und jeden Morgen blickte Urfin zum Himmel, in der Hoffnung, daß wieder ein Gewitter käme, wie einst, das die Samen der ungewöhnlichen Pflanze hierher verweht hatte, Es gingen zwar Gewitter über das Land nieder, aber sie hinterließen nichts als wüste Zerstörung.

Urfin, der im Bewußtsein seiner Macht über Tausende und aber Tausende Menschen geschwelgt hatte, mußte sich jetzt mit dem bescheidenen Los eines Gärtners zufriedengeben. Natürlich brauchte er sich unter dem segensreichen Himmel des Zauberlandes nicht um Essen zu sorgen, um so mehr, als der Bär ihm oft fette Kaninchen und Hasen aus dem Walde brachte.

Aber nicht darauf waren die Sinne des Ausgestoßenen gerichtet. Jede Nacht träumte er von einem königlichen Gewand, und jeden Morgen erwachte er enttäuscht und mit klopfendem Herzen.

In den ersten Monaten seines Einsiedlerlebens traf Urfin bei seinen Spaziergängen oft Käuer, besonders, wenn er in Richtung des kleinen Dorfes Kogida ging, in dem er geboren worden und aufgewachsen war. Die Landsleute mieden ihn aber und wichen seinen Blicken aus. Selbst ihre Rücken schienen Haß gegen ihn auszustrahlen. Aus den Wochen wurden Monate und aus den Monaten Jahre. Mit der Zeit legte sich der Haß, und die Erinnerung an Urfins Verbrechen verblaßte. Nach etlichen Jahren begannen die Einwohner Kogidas den Ausgestoßenen freundlich zu grüßen, Hätte Urfin jetzt in das Dorf umziehen wollen, so hätte ihn niemand daran gehindert. Aber Urfin erwiderte nur trocken die Grüße der Leute und ließ sich mit niemandem in ein Gespräch ein. Sein ganzes Gebaren zeigte, daß die Gesellschaft der Menschen ihm unangenehm sei. Die Käuer zuckten mit den Schultern und ließen den menschenscheuen Gärtner zufrieden. Urfin aber spann weiter seine rachgierigen Träume.

Als er einmal um die Mittagszeit in seinem Garten grub, hörte er über sich ein wildes Geschrei. Aufblickend gewahrte er im azurblauen Himmel drei Adler, die erbittert miteinander kämpften. Zwei schlugen mit ihren Schnäbeln und Schwingen wild auf einen dritten ein, der sich verzweifelt wehrte. Zuerst schienen die Adler nicht besonders groß zu sein, aber als sie tiefer herabstiegen, erkannte Urfin, daß es ungeheuer große Vögel waren.

Das Geschrei der Riesenvögel wurde, je mehr sie sich der Erde näherten, immer durchdringender, Einer, offenbar schwer verwundet, denn seine Bewegungen wurden immer langsamer, faltete plötzlich die Schwingen, überschlug sich mehrmals und stürzte.

Mit einem dumpfen Aufschlag fiel der Vogel auf die kleine Wiese vor Urfins Haus. Urfin näherte sich ihm zaudernd, denn der Vogel konnte, selbst wenn er tödlich verwundet war, mit einem einzigen Flügelschlag einen Mann umwerfen, Aus der Nähe erkannte Urfin, daß es ein Vogel von gewaltigem Ausmaß war. Seine ausgebreiteten Schwingen reichten von einem Ende der Wiese bis zum anderen, und das waren immerhin an die 30 Schritt. Mit Staunen gewahrte Urfin, daß der Vogel noch lebte. Sein Körper bebte kaum merklich, und in seinen Augen mischten sich Stolz und Demut. Die zwei anderen Adler näherten sich in der offenkundigen Absicht, den Feind völlig zu vernichten. „Hilf mir!" wimmerte der Riesenvogel.

Urfin ergriff einen dicken Knüppel, der am Zaun lehnte, und schwang ihn drohend in der Luft. Die Angreifer stiegen wieder in die Höhe und begannen um Urfins Garten Kreise zu ziehen.

„Sie wollen mir den Garaus machen", sagte der verwundete Adler. „Bitte, grabe ein Loch neben mir aus und tu so, als wolltest du mich begraben. Meine Feinde werden diesen Ort nicht eher verlassen, als bis sie sich überzeugt haben, daß ich verscharrt bin. In der Dunkelheit werde ich mich in die Büsche schleppen und mich dort verbergen, während du die Erde in die leere Grube schaufelst." Nachts wurde die List ausgeführt. Am Morgen kreisten die Riesenadler eine Zeitlang über dem leeren Grab, und als sich nichts darin regte, flogen sie in nördlicher Richtung fort.

DIE GESCHICHTE KARFAX'

Die Wunder des Zauberlandes sind so zahlreich, daß ein ganzes Menschenleben nicht ausreichen würde, sie alle zu erzählen.

In einem abgelegenen Tal der Weltumspannenden Berge, in ihrem Norden, lebte ein Stamm gigantischer Adler, zu dem Karfax, Urfins unerwarteter Gast, gehörte. Als er sich von seinen Wunden erholt hatte, erzählte Karfax

„Unser Stamm lebt in den Weltumspannenden Bergen seit unvordenklichen Zeiten. Wir sind nicht sehr zahlreich, denn wir ernähren uns nur von Wildziegen und Steinböcken, die die Hänge und Schluchten bevölkern. Die Ziegen könnten sich vermehren und ein sorgenfreies Leben führen, würden wir Adler sie nicht daran hindern. Mit unserem scharfen Blick, unserer Kraft und Geschwindigkeit könnten wir alle Ziegen und Steinböcke ausrotten. Doch wir tun es nicht, da wir wissen, daß wir dann Hungers sterben müßten. Ein altes Gesetz befiehlt, daß die Zahl unsrer Stammesgenossen 100 nicht überschreite." „Wie gelingt euch das?" fragte Urfin neugierig.

„Unser Gesetz ist in dieser Hinsicht sehr streng", erwiderte Karfax. „Eine Adlerfamilie darf nur dann ein Junges ausbrüten, wenn einer der alten Stammesangehörigen eines natürlichen Todes stirbt oder bei einem Unfall umkommt, zum Beispiel, wenn er durch Unvorsichtigkeit auf der Jagd an einem Felsen zerschellt." „Wer hat dann das Recht, den Ersatz für den Toten zu stellen?" „Dieses Recht haben in strenger Reihenfolge alle Familien, die das Adlertal bevölkern, Der Brauch, der viele Jahrhunderte lang genau befolgt wurde, ist aber unlängst verletzt worden, und das brachte viel Unheil über uns. Wir leben sehr lange, 150 bis 200 Jahre, und deshalb kommt in unserem Tal längst nicht jedes Jahr ein Junges zur Welt. Würdest du sehen, wie unsere Adlerfrauen das Junge hegen und pflegen, wie sie sich streiten, wer es füttern oder unter seinen Fittichen wärmen soll! Oft drängen sie sogar die eigene Mutter von dem Jungen ab. „Ja", seufzte Karfax, „die mütterlichen Gefühle unserer Frauen sind sehr stark, und das Glück, ein Junges ausbrüten zu dürfen, wird ihnen nur zwei - bis dreimal im Laufe ihres langen Lebens zuteil!"

,Bei uns Menschen ist das viel einfacher', dachte Urfin. ,Ein jeder darf so viel Kinder haben, wie er will, allerdings ist das keine geringe Bürde.' Karfax fuhr fort:

„Ich bin 80 Jahre alt, Bei uns Riesenadlern ist man in diesem Alter im Vollbesitz seiner Kräfte und Gesundheit. In diesem Jahr kamen meine Frau Araminta und ich zum erstenmal an die Reihe, ein Junges auszubrüten. Hoffnungsvoll warteten wir auf den Tag, da es meiner Frau vergönnt sein würde, ein Ei zu legen! Wir hatten in einer

Felsvertiefung ein warmes Nestchen aus dünnen Zweigen und Laub gebaut... Da brach der niederträchtige. Arraches, unser Stammesältester, das alte Gesetz und erklärte, daß jetzt seine Familie ein Junges ausbrüten werde! Er brauchte einen Erbfolger, denn, sein einziger Sohn war kurz vorher auf der Jagd umgekommen.,." Karfax bebte vor Zorn, als er das ehrlose Vorgehen des Stammesältesten schilderte. Urfin aber dachte spöttisch, daß er sich über eine solche Kleinigkeit gewiß nicht aufgeregt hätte. „Sag, durfte Arraches nach einem solchen Verstoß gegen den Brauch unserer Väter noch Stammesältester bleiben? Ich zumindest hielt es für eine Schande, ihm weiter zu gehorchen. Es fanden sich Artgenossen, die genauso dachten wie ich, und wir bereiteten einen Aufstand vor, um Arraches zu stürzen. Zum Unglück hatte sich ein Verräter in unsere Reihen eingeschlichen, der Arraches alles hinterbrachte und ihm die Namen der Verschwörer nannte. Eines Tages fielen Arraches und seine Anhänger über uns her. Ein jeder meiner Kameraden sah sich zwei bis drei Gegnern gegenüber. Araminta kam gleich in den ersten Minuten des Kampfes um. Auf mich stürzten sich Arraches und der Adler, der uns verraten hatte. Ich wollte mich durch Flucht retten, überquerte die Weltumspannenden Berge und flog tief in das Zauberland hinein. Die Feinde folgten mir.,, Das weitere ist dir bekannt", schloß Karfax müde seinen Bericht. Es trat ein langes Schweigen ein. Dann fuhr der Adler fort:

„Mein Leben liegt jetzt in deiner Hand, In die Berge kann ich nicht zurück. Selbst wenn ich mich in ihren entlegensten Winkel niederlasse, werden Arraches und seine Spione mich ausfindig machen und töten. In euren Wäldern kann ich nicht jagen. Du fütterst mich mit kleinen Tieren, die du Hasen und Kaninchen nennst. Sie sind schmackhaft, Aber kann ich sie im dichten Wald erspähen, geschweige denn mit den Krallen packen?"

Nach kurzem Nachdenken sagte Urfin:

„Meister Petz jagt Wild für dich, und er wird es solange tun, bis du wieder gesund bist. Das weitere wird sich finden, vielleicht fällt mir noch etwas ein," In Urfins finsterer Seele keimte ein Plan. ,Wie', dachte er, soll ich den Riesenvogel meinen Zielen dienstbar machen?' Bot sich ihm da vielleicht das langersehnte Mittel, aus seinem ruhmlosen Dasein wieder hervorzutreten und „das Schicksal an den Hörnern zu packen", wie er sich auszudrücken pflegte?

,Allerdings muß ich sehr vorsichtig sein', dachte Urfin. ,Dieser Vogel mit seiner seltsamen Auffassung von Gerechtigkeit wird mir gewiß nicht helfen wollen, wenn meine Handlungen ihm unehrlich vorkommen... Nun, ich will nichts überstürzen, ich habe noch Zeit genug, mir alles gründlich zu überlegen.'

DIE PLÄNE DES SCHLAUEN URFIN

Durch unauffällige Fragen überzeugte sich Urfin daß man im Adlertal von den Angelegenheiten der Menschen nichts wisse. Karfax hatte weder von dem schnellen Aufstieg Urfins noch von seinem schmählichen Sturz etwas gehört. Dem Bären verbot der Ausgestoßene, die Vergangenheit auch nur mit einem Wort zu erwähnen, und dem Clown befahl er, darauf zu. achten, daß der Vogel und der Bär, der gerne schwatzte, niemals allein blieben. Er selbst begann kühner vorzugehen. Während der langen Gespräche, die er mit dem genesenden Adler führte, sagte er einmal wie nebenbei, daß er von dem Wunsch beseelt sei, unter den Menschen Gutes zu stiften. „Warum lebst du dann im Wald, weit von der Schar deiner Stammesgenossen?" fragte Karfax verwundert. „Siehst du, ich möchte nicht nur einem Dorf helfen", erwiderte Urfin schlau. „Gelänge es mir, mich an die Spitze eines ganzen Volkes zu stellen, dann könnte ich alle meine Fähigkeiten entfalten und zeigen, was in mir steckt." „Wer hindert dich denn daran, Stammesältester zu werden?" fragte der vertrauensselige Adler. „Meine Mitbürger verstehen mich nicht", erwiderte Urfin listig. „Sie denken, ich begehre die Macht aus Ehrgeiz, und begreifen nicht, daß ich mir ein viel höheres und edleres Ziel gesteckt habe."

Schließlich glaubte der Adler, daß Urfin wirklich ein edler Mensch sei, und erklärte sich bereit, ihm zu helfen, eine hohe Stellung unter den Menschen einzunehmen, damit er recht viel Gutes tun könne.

,So, das wäre nun geschafft', dachte Urfin. Jetzt muß ich mir nur noch einfallen lassen, wie ich mit Hilfe des Riesenvogels die Macht zurückerobere.'

,Ein Krieg kommt nicht in Frage... Würde ich Karfax um meiner Erhöhung willen bitten, auch nur einen Menschen zu töten, dann wäre ihm meine Absicht sofort klar.

Wer weiß, ob er mich dann wegen des Betrugs nicht zerfleischt...' Urfin stellte sich mit Grauen vor, wie der ungeheure Vogel über ihn herfallen würde. Ich muß mir eben etwas Gescheiteres einfallen lassen. Wie, wenn ich mich mit Hilfe des Adlers zum Herrscher eines rückständigen Volkes mache? Habe ich das Volk einmal in meiner Hand, so werde ich auch eine Armee und Waffen besitzen... Oh, dann hütet euch, Scheuch und Holzfäller!'

Urfin überlegte, in welchem Teil des Landes er am leichtesten die Herrschaft erringen könnte. Da kamen ihm die Springer in den Sinn.

Das kriegerische Volk der Springer lebte in den Bergen zwischen dem Großen Fluß und dem Besitztum Stellas. Noch war es niemandem gelungen, das Land der Springer zu durchqueren, denn sie ließen niemanden ein.

Als Elli während ihres Aufenthaltes im Zauberland in Begleitung ihrer Freunde - des Scheuchs, des Eisernen Holzfällers und des Tapferen Löwen - in das Gebiet der guten Fee Stella zogen, lag ihnen das von Bergen umgebene Land der Springer als unüberwindliches Hindernis im Wege. Der Scheuch und der Löwe versuchten, die Berge zu besteigen, wurden aber von den mächtigen Fäusten der Springer niedergeschlagen. Elli und ihre Gefährten hätten das rosa Schloß Stellas niemals erreicht, besäße Elli nicht den Goldenen Hut, der ihr Macht über die Fliegenden Affen verlieh. Das Mädchen rief die Fliegenden Affen herbei, und diese trugen es mit seinen Gefährten durch die Luft zu Stella.[3]

Vor vielen Jahrhunderten lebten die Marranen (so nannten sich die Springer) in einem unterirdischen Land am Ufer eines Flusses, der in den Mittelsee mündete. Der Überlieferung nach hatten sie dort Zuflucht gefunden vor starken Feinden, die sie von allen Seiten bedrängten. Dort, zwischen den Felsen, hatten die Marranen eine Stadt erbaut, deren Ruinen Elli Smith und Fred Cunning sahen, als sie ihre lange und gefährliche Reise im Schoß der Erde beendeten.

In jener weit zurückliegenden Zeit wußten die Marranen noch, wie man Feuer erzeugt. Sie fertigten eiserne Werkzeuge an, trieben Fischfang und jagten Sechsfüßer, die in der Umgebung in Überfluß vorhanden waren. Mit der Zeit hatten sich die Marranen aber so stark vermehrt, daß ihre Nahrung - Fisch und Wildfleisch - nicht mehr ausreichte. Ackerbau konnten sie aber nicht treiben, weil dies auf dem felsigen Boden nicht möglich war.

Da verließen die Marranen unter der Führung des Fürsten Gron ihr düsteres Land. Sie versuchten zuerst, den unterirdischen Erzgräbern einen Teil ihrer weiträumigen Ebene abzuringen, aber die Krieger der Sieben Könige schlugen den Überfall der Springer zurück, und diesen blieb nichts anderes übrig, als auf der Erdoberfläche ihr Heil zu suchen.

Das Leben in der oberen Welt war für die Marranen nicht leicht. Ihre an das ewige Halbdunkel der Höhle gewöhnten Augen konnten sich monatelang dem grellen Tageslicht nicht anpassen. Deshalb bewegten sie sich nur nachts. Halb blind irrten sie lange durch das Zauberland, kamen in Schlachten mit der eingeborenen Bevölkerung um, fielen wilden Tieren zum Opfer, starben vor Hunger und ertranken beim Überqueren der Flüsse. So vergingen mehrere Jahre. Auf ihrer Wanderschaft verwilderten die Marranen, verloren ihr Handwerkszeug und verlernten es, das Feuer zu nutzen. Schließlich kam Fürst Gron mit einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen in ein verlassenes Tal, das ihnen auf Jahrhunderte als Zufluchtsstätte dienen sollte, Hier vermehrten sie sich wieder, blieben aber auf einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe.

Die Erinnerung, daß ihre Ahnen einst in einer düsteren Welt gelebt hatten, wurde zuerst den Kindern überliefert und verwandelte sich dann in Sagen, die nach und nach in Vergessenheit gerieten. Die Marranen hatten so lange in völliger Abgeschiedenheit gelebt, daß die Menschen in anderen Teilen des Zauberlandes über sie nur sehr wenig wußten.

Auch Urfin Juice hatte nur eine vage Vorstellung von den Marranen. Er wußte nicht, wie ihre Häuser aussahen, wovon sie sich ernährten, welchen Leidenschaften sie frönten und womit man auf sie Eindruck machen konnte, Vor ein starkes und unabhängiges Volk konnte er aber nicht hintreten, ohne zu wissen, was ihn dort erwarte. ,Ich werde alles genau auskundschaften müssen', dachte Urfin. Aber wer sollte ihm Kundschafterdienste leisten? Er selbst konnte nicht hingehen, denn er mußte unerwartet vor den Springern auftauchen, als ihr Herr und Gebieter. Sollte er Meister Petz hinschicken? Das ging nicht. Der Bär war zu schwerfällig und ungeschickt, zudem fehlte ihm die Gabe, sich zu verbergen und zu verstellen, was für einen guten Kundschafter unerläßlich ist. Da fiel Urfins Auge auf den Holzclown. Der ist der Richtige', dachte Juice.

Er erinnerte sich, wie der Clown ihm bei der Belagerung der Smaragdenstadt geholfen hatte. Mehrere Angriffe der Holzsoldaten waren damals zurückgeschlagen worden, und Urfin befand sich in einer sehr schwierigen Lage. Da hatte er den Einfall, den Clown über die Mauer zu werfen. Der listige Eot Ling konnte einen reichen Bürger zum Verrat überreden, und der öffnete den Belagerern nachts das Stadttor. „Eot Ling, komm her!" befahl Urfin. Der Clown trippelte beflissen auf seinen Herrn zu. „Da bin ich, Gebieter!"

„Hör zu. Ich habe einen sehr wichtigen Auftrag für dich."

Urfin weihte den Clown in seine Pläne ein und erklärte ihm, was er zu tun habe. Eot Ling aber wandte ein: „Das Land der Springer liegt sehr weit von hier, Herr! Es wird eine lange und gefährliche Reise sein."

„Karfax braucht für den Weg nur ein paar Stunden. Er wird dich hintragen, und du wirst alles ausspionieren." Von nun an warteten Urfin und sein Diener Eot Ling ungeduldig auf die Genesung des Adlers. Der Riesenvogel fraß jetzt die Kaninchen und Hasen, die

der Bär regelmäßig herbeischaffte, bis auf das letzte Knöchelchen. Karfax hatte den gutmütigen Bären, der ihn so wacker versorgte, liebgewonnen. Schließlich kam der Tag, an dem der Adler zum erstenmal nach seinem Sturz einen Flugversuch unternahm. Als er in geringer Höhe über dem Wald flog, zitterten unter seinen riesigen Schwingen die Wipfel der Bäume so heftig, daß die entsetzten Eichhörnchen auseinanderstoben. Mit jedem Tag flog nun Karfax immer weiter und höher, seine Kräfte nahmen zu, und bald war er so gut bei Kräften, daß er Urfin zu einem Spazierflug einlud.

Urfin willigte nur zaudernd ein. Er stellte sich vor, wie schrecklich es sein müsse, hoch in der Luft ohne eine andere Stütze als den Rücken des Adlers zu fliegen. ,Aber', dachte er, wenn ich mich dazu nicht entschließe, werde ich niemals das Land der Springer sehen, niemals die Macht erobern und mich niemals an meinen Feinden rächen können.' Urfin überwand seine Angst und gab seine Zustimmung.

Der erste Schritt ist immer schwer. Bald war Urfin soweit, daß er sein Gesicht mit Vergnügen dem Wind entgegenhielt und stolz auf die unter ihm vorbeirasenden Felder und Wälder blickte.

„Das alles wird bald mir gehören!" brummte er leise, damit Karfax ihn nicht höre. Urfin teilte dem Adler mit, daß er sich an die Spitze des Volkes der Springer zu stellen beabsichtige.

„Das sind dumpfe, unwissende Menschen", sagte er, „sie führen ein schweres Leben. Ich will ihnen alle Freuden bieten, die ein Mensch unter der Sonne unseres Landes erlangen kann."

Karfax erklärte sich bereit, Eot Ling zu den Springern zu fliegen. Urfin nähte für den Clown ein Kleid aus Kaninchenfell, in dem Eot wie ein kleines flinkes Tierchen aussah. Selbst wenn ihn jetzt ein Springer entdeckte, würde er ihn nicht für den Kundschafter eines fremden Landes halten.

Eines Morgens erhob sich Karfax von der kleinen Wiese vor Urfins Haus in die Luft und nahm Kurs auf das Land der Springer, das westwärts lag. Am Hals des Adlers hing als Proviant ein Bündel Kaninchen. Auf seinem Rücken lag der Clown, der sich an den Federn festhielt.

Am Abend des folgenden Tages kehrte der Adler zurück, Er erzählte, daß er nachts, als die Springer schliefen, Eot Ling über die Berge getragen und an einem verlassenen Ort abgesetzt habe. Dort würde der Clown ihn in zehn Tagen erwarten. Diese zehn Tage kamen Urfin wie eine Ewigkeit vor. Als sie um waren, flog Karfax wieder nach dem Westen und kehrte mit dem Clown zurück, der unversehrt war und recht zufrieden aussah. Eot Ling zog das lästige Kaninchenfellkleid aus und warf seinem Herrn einen vielsagenden Blick zu. Urfin verstand, daß er mit ihm unter vier Augen sprechen wolle, und trug ihn in das Haus.

Als sie allein waren, rief Eot Ling fröhlich: „Diese Dummköpfe! Ach, Herr, wüßtest du, wie einfältig sie sind. Freilich können sie auch gefährlich sein, und man muß sich deshalb vor ihnen in acht nehmen", fügte er hinzu. „Na, erzähl schon!" brummte Juice ungeduldig.

Der Clown begann zu erzählen, was er in den zehn Tagen seines Aufenthaltes im Lande der Marranen gesehen und gehört hatte.

LEBEN UND SITTEN DER SPRINGER

Eot Ling hatte vieles ausgekundschaftet. In seinem grauen Kleid, das ihn einer großen Ratte ähnlich machte, war er um die Dörfer gestrichen und in Häuser eingedrungen, hatte gelauert und gehorcht, Nur einmal erwischte ihn ein Junge (Kinder passen gewöhnlich schärfer auf als Erwachsene), doch der Clown biß ihn so stark in den Finger, daß der Kleine vor Schmerz aufschrie und ihn losließ.

Eot Ling erzählte: Das Volk der Springer sei zahlreich, es besitze allein an erwachsenen Männern mehrere Tausend. Bei dieser Nachricht nickte Urfin freudig mit dem Kopf: ,Aus ihnen wird eine starke Armee', dachte er bei sich.

Das Land der Springer liege in einer runden Ebene, die von steilen Bergen umgeben sei, fuhr der Clown fort, welche das Tal gegen Winde schützen. Tags sei es dort immer warm, nachts aber kalt. Die Einwohner bauen keine Häuser, dazu fehle es ihnen an Geschick. Sie leben in Strohhütten oder begnügen sich einfach mit Strohdächer, die auf Pfählen ruhen, und kleiden sich leicht. Die Männer tragen lange Hosen und ärmellose Röcke, die Frauen kurze Kleider. Bei den Schwätzern, den Untertanen Stellas, tauschen, die Marranen Edelsteine, die sie in den Bergen gewinnen, gegen Kleider, Äxte, Messer und Spaten.

Die Marranen seien klein von Wuchs, aber gedrungen, haben große Köpfe, lange, starke Arme mit mächtigen Fäusten und sehr kräftige Beine, die sie befähigen, gewaltige Sprünge zu machen. Deshalb nennen die Einwohner der Nachbarländer sie auch Springer. Allerdings mögen die Marranen diesen Namen nicht. Ihr Herrscher sei Fürst Torm...

„Wohl ein ehrwürdiger Greis mit einem langen, grauen Bart?" unterbrach Urfin seinen Diener.

„Nein, Herr", entgegnete Eot Ling. „Diese Leute tragen keine Bärte, nicht einmal Schnauzbärte. Das Haar im Gesicht ist ihnen lästig, und sie befreien sich davon auf eine merkwürdige Art. In ihrem Land gibt es eine Quelle, die von ätzendem braunen Schlamm umgeben ist. Wenn einem Marranenjüngling der Bart zu wachsen beginnt, begibt er sich zu dieser Quelle, schmiert das Gesicht mit Schlamm ein und läßt es in der Sonne trocknen. Nach einigen Stunden fällt die Schlammkruste stückweise ab und nimmt für immer die Haare mit. Nach dieser Operation wird der Jüngling von seinen Angehörigen mit Liedern und Tänzen empfangen, Erst dann erhält er die Bürgerrechte und darf heiraten." „Wirklich merkwürdig", murmelte Urfin. Eot Ling setzte seinen Bericht fort.

Im Land der Marranen gebe es oft Gewitter. In den zehn Tagen seines dortigen Aufenthaltes hatten sich zwei Gewitter entladen.

Die Gewitter im Springerland seien schrecklich. Ununterbrochen blitze und donnere es. Das Krachen des Donners, von den Hängen zurückgeworfen, vermische sich mit dem eigenen Echo zu einem ohrenbetäubenden Getöse. Dabei gieße es in Strömen. Die Blitze schlagen oft in die Strohhütten ein und setzen sie in Brand, Dann stürzen die Einwohner hinaus und blicken mit schreckgeweiteten Augen in die lodernden Flammen, die sie nicht zu löschen wagen, da sie das Feuer für eine strafende Gottheit halten, vor der sie sich verneigen. Es sei noch keinem Marranen eingefallen, das Feuer in seinem bescheidenen Haushalt zu nutzen.

,Großartig', dachte Urfin. Damit läßt sich allerhand anfangen!' In der Mitte des Tals liege ein großer, aber seichter See, auf dem üppig Schilfrohr wachse, führ Eot Ling fort. Im Schilf hausen unzählige Enten. Nach der Brutzeit, solange die Entenjungen noch nicht fliegen können, veranstalten die Marranen

Massenjagden auf sie, bei denen sie Schleudern benutzen. Die Beute werde eingesalzen und in natürlichen Kellern aufbewahrt - das sind Höhlen, die tief in die Berge hineinreichen.

Um den See breiten sich fruchtbare Felder, die die Springer mit Weizen bebauen. Sie backen kein Brot, weil sie kein Feuer zu machen verstehen, Sie zermahlen die Körner mit Mühlsteinen, und aus dem Mehl, das sie mit kaltem Wasser anrühren, bereiten sie einen Brei, den sie essen. „Sie sind mein!" rief Urfin. „Wenn ich ihnen beibringe, wie man Enten brät und Brot bäckt, werden sie mich für einen großen Wundertäter halten und mir überallhin folgen." Trotz dieser kargen Nahrung seien die Marranen kerngesund und sehr kräftig. Sie haben viel freie Zeit, die sie dem Sport widmen: dem Springen, Laufen und vor allem dem Faustkampf.

Die Boxkämpfe seien dort sehr beliebt. Die furchtbaren Hiebe könnten einen Stier umwerfen, ihnen aber machen sie nichts aus. Die Marranen haben eine komische Art, den Sieger auszuzeichnen. Er darf seine blauen Flecke mit dunklem Lehm untermalen und sie stolz zur Schau tragen. Der Besiegte hingegen ist verpflichtet, die Spuren zu verbergen und sie so schnell wie möglich zu heilen. Einen Besiegten, dem es einfallen würde, sich mit seinen Verletzungen zu brüsten, würde man als schamlos bezeichnen. Die Marranen seien leidenschaftliche Zuschauer der Sportkämpfe, richtige Fans, die oft wetten, welcher Boxer oder Läufer gewinnen werde. Da sie Geld nicht kennen, zahle derjenige, der die Wette verloren hat, mit der eigenen Freiheit. Im Laufe eines oder zweier Monate, manchmal auch länger, müsse er dann für den glücklichen Gewinner arbeiten: Ihm eine neue Hütte bauen, für ihn das Feld bestellen, Getreide mahlen oder Enten fangen und einsalzen.

Wer für eine Zeitlang die Freiheit verloren habe, werde durch ein besonderes Mal gezeichnet: Mit dem ätzenden Saft der Wolfsmilch werde auf seiner Stirn ein senkrechter Strich gezogen, der lange haftenbleibt. Vergeht das Zeichen, ehe die Frist der Unfreiheit abgelaufen ist, so wird es erneuert. Mancher Tropf, der es mit dem Wetten zu weit treibe, bleibt jahrelang in Unfreiheit, und das Zeichen der Sklaverei frißt sich für immer in seine Haut ein.

Selbst der mürrische Urfin mußte schmunzeln, als er diese Einzelheiten aus dem Leben der Springer hörte. Sie bestärkten ihn in der Überzeugung, daß er sich diese albernen Menschen leicht unterwerfen würde. Eot Ling schloß jedoch seinen Bericht mit eirrer Warnung:

„Die Marranen sind gefährliche Leute, Herr! Sie sind jähzornig und lassen sich leicht zu 'Tätlichkeiten hinreißen. Wenn einer von ihnen sich betrogen oder gekränkt fühlt, fängt er eine Schlägerei an, bei der er weder sich noch den Gegner schont." „Schon gut, mein treuer Diener. Das sind sehr wertvolle Auskünfte", sagte Urfin. „Aus den Marranen werden sich gute Krieger machen lassen, freilich nicht mit Gewalt, sondern mit Schlauheit. Ich weiß, was ich zu tun habe."

Urfin ging auf den Hinterhof, goß Wasser und Krappwurzelsaft in einen Kessel und zündete darunter ein Feuer an. Mit der Lösung wollte er seinen besten Anzug rot färben. Damit begann er die Vorbereitungen zu seinem riskanten Unternehmen.

EINE UNGEWÖHNLICHE ERSCHEINUNG

Urfin Juice war davon überzeugt, daß die Vorsehung ihm Karfax eigens geschickt habe, um ihm, Urfin, bei der Verwirklichung seiner ehrgeizigen Pläne zu helfen. Er beschloß, in einer mondlosen Nacht, von zuckenden Flammen umgeben, mit dem Riesenvogel zu den Marranen hinabzusteigen, die bei diesem Wunder erbeben und ihn für einen Gott halten würden.

Der Ausgestoßene traf Vorbereitungen zum Verlassen der Heimat, der er schon lange überdrüssig war, Karfax war mittlerweile mit dem Clown mehrmals in das Land der Marranen geflogen, wo Eot Ling nachts das Tischlerwerkzeug und die allernotwendigsten Haushaltsgeräte versteckte. Dann brachte der Adler auch den Bären dorthin. Der Bär, sagte sich Urfin, dem Pfeile und Lanzen nichts anhaben können und der weder Schlaf noch Essen braucht, würde ihm ein zuverlässiger Beschützer sein inmitten der starken und gefährlichen Springer, seiner zukünftigen Untertanen. Wichtig war auch, daß die Springer, in deren Land es keine Bären gab, Meister Petz für ein Wunder halten mußten.

Bei der Abreise schloß Urfin sein Haus nicht ab, wie das letztemal, sondern legte trocknes Laub und Zweige in ein Zimmer und zündete sie an. Ob er nun die Herrschaft über die Springer erringen werde oder nicht, hierher wollte er nie mehr zurückkehren, denn er hatte das Gärtnerleben satt. ,Was immer auch kommen möge, ich stelle mich dem Schicksal!' entschied er.

Im Glanz des Feuers wollte er vom alten Leben Abschied nehmen und ein neues beginnen.

Urfins Haus brannte lichterloh. Die Einwohner Kogidas sahen, wie der Himmel sich rötete und im Widerschein des Feuers ein riesiger Schatten nahte. Seit dem Auszug der Marranen aus dem unterirdischen Land waren Hunderte von Jahren vergangen, in denen es viele Naturkatastrophen gegeben hatte: Brände, Überschwemmungen, Erdrutsche. Aber noch nie hatten die Marranen solche Aufregung erlebt wie an jenem denkwürdigen Abend. Es begann damit, daß in dem Ort, in dem Fürst Torm regierte, nach Anbruch der Dunkelheit ein braunes zottiges Tier auftauchte, das keinem der von ihnen bisher gesehenen glich.

„Achtung, Marranen, Achtung!" brüllte es. „Heute abend wird euch am Himmel der mächtige Feuergott Urfin Juice erscheinen, euer künftiger Herrscher!"

Dann begann das kleine Holzmenschlein, das auf dem Rücken des Tieres saß, mit schriller Stimme zu rufen: „Menschen des Marranenlandes, freut euch und frohlocket, der Feuergott Urfin Juice wird jetzt vom Himmel zu euch herabsteigen!"

Die herbeieilenden Marranen fragten Fürst Torm bestürzt, was das zu bedeuten habe. Der Fürst konnte ihnen aber auch keine Antwort geben.

Da zeigte sich über dem Dorf ein riesiger Schatten, von zuckenden Flammen umgeben. „Blitze!" raunten entsetzt die Marranen. Während der Schatten immer tiefer sank, ertönte eine Donnerstimme: „Ich begrüße euch, meine geliebten Marranen!"

Auf den Platz ging ein riesiger Vogel nieder, von dessen Rücken ein Mann in rotem Gewande sprang. Er trug einen grellroten Hut mit weißen Federn und hielt in der hocherhobenen Hand eine brennende Fackel, von der nach allen Seiten hin Funken stoben.

Urfin Juices Erscheinen war außerordentlich effektvoll. Die Springer sanken auf die Knie und schlugen die Hände vors Gesicht, um sich vor den Flammen zu schützen. Da rief der Herabgestiegene mit schallender Stimme:

„Fürchtet euch nicht! Ich bin nicht mit bösen, sondern mit guten Absichten zu euch gekommen! Vor allem sollt ihr euch davon überzeugen, daß die Flamme, die bisher Tod und Verderben über euch brachte, von jetzt an euer Diener ist. Meister Petz", wandte sich Urfin an den Bären, „bring Stroh herbei!"

In der Nähe lag ein Haufen Stroh, das jemand für den Bau einer Hütte vorbereitet hatte.

Der Bär schleppte es heran, und Juice zündete es an. Eine Flamme schoß empor, vor der die Marranen scheu zurückwichen. Urfin brach in ein schallendes Gelächter aus.

„Habt keine Angst, Eure Durchlauchten Fürst Torm und Fürstin Juma, und ihr ehrwürdigen Ältesten - Grem, Laks und Wenk - fürchtet euch nicht und tretet näher!"

Ein Raunen ging durch die Menge:

„Er kennt alle beim Namen! O Wunder! Das ist ein Gott!"

Das Geraune wurde von Eot Lings schriller Stimme übertönt:

„Der große Urfin ist allmächtig, Himmel und Erde sind ihm untertan!"

Und der arglose Karfax fügte mit krächzendem Baß hinzu:

„Urfin Juice ist edel, er führt nur Gutes im Sinn!"

Als die Flamme erlosch, traten die Marranen näher, Die Nacht war kühl, wie immer in diesem Tal, und die Menschen froren. Die glimmende Asche strahlte wohlige Wärme aus, und Torm und die Stammesältesten wandten ihr bald die eine, bald die andere Seite ihrer Körper zu. Ei, dachten sie, dieser Abgesandte des Himmels hat uns die Wärme und das Licht der Sonne gebracht!

Alle glaubten jetzt an die Zauberkraft Urfin Juices und waren bereit, ihn nicht nur als König, sondern auch als Gott zu verehren.

CHARLIE BLACKS FEUERZEUG

Unter den Sachen Urfin Juices befand sich ein Gegenstand, der ihm besonders teuer war. In der Welt jenseits der Berge konnte man dieses zierliche Ding für wenig Geld kaufen, im Zauberland aber hielt man es für ein Wunder.

Dabei war es nur ein einfaches, flaches Feuerzeug. Urfin hatte es ergattert, als er, vom Thron gestürzt, im Gefängnis saß und auf die Gerichtsverhandlung wartete. Damals war der einbeinige Seemann Charlie Black zu ihm gekommen und hatte ihm lange zugeredet, er solle seine Verbrechen bereuen. Urfin war jedoch zu verstockt, um Reue zu üben.

Verärgert wandte sich der Seemann ab und ging, In diesem Augenblick glitt das Feuerzeug aus seiner Tasche und fiel auf das Stroh, das den Boden bedeckte. Kaum war Black aus der Tür, sprang Urfin auf und steckte das Feuerzeug ein, da er dessen Wert kannte.

Er verbarg das Feuerzeug in seinen Kleidern und nahm es in die Verbannung mit. Das schmucke Ding strömte einen Geruch aus, der Urfin gefiel, wenngleich er keine Ahnung hatte, was Benzin ist. Als das Benzin verdunstete, machte sich Urfin zunächst große Sorgen, aber dann trieb er eine Flasche leichten Petroleums auf, das ihm das Benzin ersetzte.

Viele Jahre lang bewahrte Juice das Feuerzeug, das er von Zeit zu Zeit hervorholte, um sich an seinem Anblick zu ergötzen. Als er die Rolle des Feuergottes der Marranen zu spielen beschloß, erwies ihm das Feuerzeug einen großen Dienst, denn damit konnte er den Springern vorgaukeln, daß das Feuer ihm auf den Wink gehorche. Früher pflegte er, um Feuer zu erzeugen, ein Stahlplättchen an einem Feuerstein zu reiben, bis ein Funken auf den Zunder fiel, und dann auf diesen zu blasen, bis er zu glimmen anfing. Das forderte Zeit und machte keinen starken Eindruck. Anders, wenn

das Feuer aus der ausgestreckten Hand hervorspringt und augenblicklich ein Bündel Stroh entzündet, das lichterloh brennt und Wärme verbreitet.

Natürlich hätte Urfin im Dorfladen Streichhölzer kaufen können, doch sagte er sich, mit einem Feuerzeug werde er sich viel besser als Gott aufspielen können. Gleich nach seiner Ankunft versetzte Urfin die Marranen in gewaltiges Staunen, als er aus der ausgestreckten Hand viele Male hintereinander Feuer aufblitzen ließ, worüber die Zuschauer jedesmal in helle Begeisterung ausbrachen.

WIE DIE GÖTTER LEBEN

Urfins Wunsch so schnell wie möglich Herrscher des Wunderlandes zu werden, war so stärk, daß er keinen Tag verlieren wollte,

Die erste Nacht verbrachte Urfin in der Hütte Torms auf dessen Lager, und am nächsten Morgen erklärte er dem Fürsten, man müsse sofort darangehen, einen Palast für ihn, den Feuergott, zu bauen. In seinen himmlischen Besitztümern, sagte Urfin, habe er herrliche Paläste zurückgelassen. Tausende Menschen begannen aus den Bergen Steine zu einem Hügel zu schleppen, den Urfin sich für seinen Palast ausgewählt hatte. Arbeiter schöpften Schlamm aus dem See, der als Zement dienen sollte. Urfin lehrte die Marranen, wie man Fundamente baut. Er zeigte ihnen, wie sie die Steine bearbeiten und mit Zement zusammenfügen sollten. Die Marranen erwiesen sich als sehr gelehrig, und die Arbeit ging ihnen flott von der Hand. Die Geschicktesten wurden von Urfin zu Vorarbeitern gemacht. Sein Werkzeug hatte er während des Gewitters aus dem Versteck geholt, als es donnerte und blitzte und die entsetzten Marranen, die Augen fest geschlossen und die Hände an den Kopf gepreßt, in ihren Hütten lagen.

Eot Ling, der den Herold spielte, verkündete den Springern, die Gegenstände, mit denen ihr Gebieter arbeite, seien heilig. Die Sonne, die Herrin und Gebieterin des Himmels, sagte er, habe sie dem großen Urfin geschickt, und wer sie ohne dessen Erlaubnis anrühre, begehe eine schreckliche Sünde.

Urfin begann an den Tür - und Fensterstücken zu arbeiten, die Balken für Decken und Dachstuhl zu behobeln und die Fensterrahmen zu zimmern. Alles gedieh unter seinen geschickten Händen. Die Arbeit machte ihm jetzt besondere Freude, hatte er doch seit Jahren weder Axt noch Meißel in die Hand genommen.

Ein anderer hätte dabei seine ehrgeizigen Pläne gewiß vergessen. Urfin dachte aber nur an die Schmach, die man ihm in der Smaragdenstadt angetan hatte, und die Verachtung, die ihm ihre Einwohner zeigten, als sie annahmen, er werde keinen Schaden mehr stiften können.

„Die Feinde sollen keine Gnade bei mir finden! Ich will Rache, nur Rache!" zischte er.

Um Urfin drängten sich respektvoll Gaffer und bestaunten die Gegenstände, die aus seinen Händen hervorgingen. Das Quietschen des Hobels, der über das Brett strich, das Klopfen des Meißels und das Surren der Säge kamen den Springern wie Wunder vor, die nur ein Gott vollbringen kann.

Fürst Torm war außerordentlich erfreut, als der Feuergott ihm erlaubte, mit dem Hobel mehrmals über ein Brett zu streichen. Er las die Hobelspäne von der Erde auf und trug sie als ein Zeichen göttlicher Gnade feierlich in seine Hütte. Die Wände des Palastes wuchsen, und der Bau wurde immer imposanter. Die Marranen schauten voller Ehrfurcht darauf.

Diese Leute hatten eine seltsame Eigenschaft: Nachdem sie am Tag viel gelaufen und gesprungen waren, schliefen sie nachts so fest, daß selbst ein Kanonenschuß sie nicht hätte wecken können. Urfin wußte das zu nutzen. Durch Eot Ling ließ er den Springern sagen, daß eine jede Familie dem Gott einen Edelstein zum Geschenk machen müsse, sonst würde schon in allernächster Zeit ein Unglück über sie hereinbrechen. Die erschrockenen Marranen schleppten ihre schönsten Edelsteine herbei. Eines Nachts, als die Einwohner schliefen, flog Urfin mit dem Adler in das Land der Schwätzer. In der Rosa Stadt fand er einen Kaufmann, der sich für zwei Dutzend Edelsteine bereit erklärte, ihm schöne Möbel, Teppiche, Fenstervorhänge, Kochgeschirr, Fensterglas und viele andere Gegenstände zu besorgen.

In der folgenden Nacht wurde alles in das Tal der Marranen befördert und in einer Höhle versteckt. Karfax mißfiel diese Geheimnistuerei. „Warum machst du deine Einkäufe nicht bei hellichtem Tage?" fragte der Adler, Urfin erwiderte schlau:

„Mein lieber Freund Karfax, versteh doch, wenn ich die Marranen belüge, so tu ich es doch mit einem edlen Ziel. Haben sie sich überzeugt, daß ich zaubern kann, werden sie mir williger in ein glückliches Leben folgen."

Der Palast war mittlerweile fertig geworden. Das Dach bestand aus Ziegeln, die die Frauen aus Lehm gemacht und Urfin selbst gebrannt hatte. Drinnen aber war es leer, die Fenster waren unverglast. Am Abend sagte Urfin zu Torm:

„Ich lade Eure Durchlaucht mit Gemahlin und Räten morgen zu einem Fest ein, daß ich aus Anlaß meines Einzugs in den Palast gebe."

Torm entgegnete verwundert:

„Großer Urfin, dein Palast ist doch leer!"

„Macht Euch keine Sorge", lächelte Urfin überheblich. „Ihr einfachen Sterblichen habt keine Ahnung, was ein Gott alles vermag."

Die ganze Nacht arbeiteten Urfin und der Bär im- Schweiße ihres Angesichts. Als Torm und die Ältesten am Morgen vor dem Palast erschienen, wollten sie ihren Augen nicht trauen.

Der Palast funkelte sie mit frischgeputzten Fenstern an, und in den Gemächern empfing sie eine ungewöhnliche Pracht. Auf den. Dielen lagen dicke Teppiche, vor den Fenstern hingen bunte Vorhänge, elegante Möbel standen in den Zimmern, und der Speisesaal strömte den Duft erlesener Gerichte aus, „Oh, Wunder!" riefen die Marranen und sanken in die Knie.

Die auf dem Feuer bereiteten Speisen schmeckten dem Fürsten, seiner Gemahlin und den Würdenträgern außerordentlich. Auf dem Tisch standen Schüsseln mit frischem E

Brot, gebratenen Enten, gebackenem Obst und anderen Delikatessen, deren Geschmack die Springer bisher nicht gekannt hatten.

„So leben die Götter!" rief Torm begeistert aus, lehnte sich in seinem Sessel zurück und streichelte seinen prallen Bauch.

, Ja, so leben die Götter", sagte Urfin. „Aber von heute an werdet auch ihr Marranen so leben, wenn ihr meinen Befehlen gehorcht."

„Wir sind dazu bereit, großer Gott!" riefen die Springer. „Vor allem müßt ihr euch Häuser bauen", sagte Juice. „Häuser für uns?" riefen die Marranen entsetzt. „Sollen sie vielleicht so sein wie deines?"

„Nicht ganz so", sagte Urfin herablassend. „Sie sollen einfacher und kleiner sein, aber immerhin Häuser. Außerdem sollt ihr euer Essen auf dem Feuer bereiten, Ihr seht ja, daß es so besser schmeckt,"

In den Gesichtern der Marranen spiegelte sich die alte Angst vor dem Feuer, das sie noch immer für eine drohende und strafende Gottheit hielten. „Folgt mir!" befahl Urfin.

Er führte die Gäste in die Küche und zeigte ihnen das Feuer, das friedlich im Herde brannte.

„Seht, wie ich das Feuer bezwungen habe", sagte Juice. „Genauso zahm soll es in euren Herden brennen. Es wird eure Wohnungen erwärmen., und eure Frauen werden darauf Suppe kochen und Semmeln backen."

„Oh, du bist gütig und groß, Feuergott der Marranen!" riefen Torm und seine Räte. Im Tal der Marranen begann nun ein großes Bauen. Die ganze Last der Arbeit hatte natürlich das einfache Volk zu tragen. Die Adligen taten nichts, als die Maurer und Zimmerleute anzutreiben, die Urfin angelernt hatte und die mit kurzen Eßpausen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiteten. Mit Wehmut gedachten die Arbeiter der fröhlichen Boxkämpfe, der schönen Lauf - und Springwettbewerbe, und manchem dünkte es, daß das Erscheinen des Feuergottes vielleicht gar nicht so erfreulich sei, wie es ihnen anfangs geschienen hatte. Aber aus Furcht wagte niemand, bei solchen Gedanken länger zu verweilen.

Der Umzug Torms, Wenks, Grems und der anderen Würdenträger in die neuen Häuser vollzog sich mit großem Pomp. Das Volk, das sich vor den mit Glimmer bespannten Fenstern drängte, sah die Silhouetten der Zecher und hörte ihre trunkenen Stimmen (Urfin hatte die Marranen gelehrt, aus Weizenkorn ein berauschendes Getränk zu bereiten).

Die vornehmen Marranen waren von Urfin ganz eingenommen. Selbst wenn sie jetzt darauf gekommen wären, daß Urfin ein ganz gewöhnlicher Mensch war, der sich nur als Gott aufspielte, würden sie ihm trotzdem überallhin folgen, und sei es bis ans Ende der Welt. Sie erinnerten sich nur ungern an die alte Zeit, da sie in Hütten lebten wie das gemeine Volk und sich wie dieses von Brei und Salzenten ernährten. Bei den Aristokraten hatten sich seit alters viele Edelsteine angesammelt: Amethyste, Rubine und Smaragde. Schon früher pflegten sie einen bescheidenen Handel mit den Schwätzern zu führen, bei denen sie gegen Edelsteine die allernotwendigsten Waren eintauschten. Jetzt blühte dieser Handel auf, der sich ungefähr so abwickelte: Die Marranen bestiegen den Berg, der dem Besitztum Stellas zugewandt war, gestikulierten und schrien so lange, bis sie die Aufmerksamkeit der Schwätzer auf sich lenkten, Dann kamen diese herbei, bewunderten die Edelsteine und boten für sie Hühner und Hammel, Milch und Butter, Obst, Stoffe und schöne Möbel an. Als Torm einen geschnitzten Tisch mit den dazugehörigen Stühlen erwarb, die genauso aussahen wie die im Palast des Gottes, begann er die Wahrheit zu ahnen, doch er sagte niemandem ein Wort davon.

Natürlich waren die Häuser, die die einfachen Leute für sich bauten, nicht aus Stein. Wie sollte ihnen auch der Sinn danach stehen, wo sie für die Stammesältesten so schwer arbeiten mußten. Als die Häuser fertig waren, begannen die Marranen, die Saatflächen auszudehnen. Für das Brotbacken und die sich schnell entwickelnde Weinbrennerei brauchten sie jetzt viel mehr Getreide als früher. Zum Heizen der Öfen in den Häusern der Aristokraten war Holz notwendig, und jeden Morgen zog ein Trupp Marranen in den Wald und kehrte abends, mit schweren Holzbündeln beladen, zurück. Früher hatte das einfache Volk viel leichter gelebt.

Es vergingen drei Monate, als neue Lasten die Untertanen des Fürsten Torm zu drücken begannen.

Die Adligen, die miteinander wetteiferten, wer sein Haus prunkvoller einrichte, hatten die von ihren Vorfahren ererbten Kostbarkeiten verschwendet und besaßen jetzt nichts, wofür sie schöne Teppiche, teure Möbel und elegante Kleider hätten kaufen können, Also befahlen sie den armen Leuten, neue Smaragde und Diamanten für sie zu beschaffen.

Die Edelsteinvorkommen an der Erdoberfläche waren aber versiegt, und deshalb mußte man Gruben bauen, Damit diese nicht einstürzten, mußte man sie mit Stützen versehen, für die das Holz aus dem fernen Wald herbeigeschafft wurde. Damit die Bergleute die gefundenen Schätze nicht verheimlichten, ließen die Reichen sie von Aufsehern überwachen, und damit diese ihre Pflichten redlich erfüllten, wurden ihnen hohe Gehälter ausgesetzt, was wiederum auf Kosten der armen Leute ging.

Der weise Karfax beobachtete diese unerfreulichen Zustände mit Entrüstung. Er selbst hatte es nicht schlecht im Land der Marranen. In den Bergen gab es genügend Ziegen und auf dem See viele Enten, die gleichfalls gut schmeckten. Aber angesichts der Ungerechtigkeit im Lande wurde er immer trauriger.

An den Abenden stellte er Urfin oft zur Rede:

„Sag, wo ist das Glück, das du diesem armen Volk versprochen hast?" Urfin erwiderte mit gespielter Begeisterung:

„Schau doch, wie Fürst Torm lebt und wie gut es Wenk, Grem und den anderen geht!" „Solcher Leute gibt es nur wenige in diesem Land", entgegnete Karfax, „die Mehrheit aber lebt viel schlechter als früher."

„Es geht doch nicht alles auf einmal!" wehrte Urfin ab. „Die anderen werden später an die Reihe kommen."

„Ich glaube dir immer weniger", sagte der edle Vogel traurig. ,,Der Fürst und seine Räte leben in Saus und Braus, weil Tausende Menschen für sie arbeiten." Um mit dem Adler nicht zu streiten, mied Urfin ihn jetzt. Im Land der Marranen aber ging alles weiter nach den Plänen des schlauen und ehrgeizigen Schwindlers.

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