DRITTER TEIL Die wunderbaren Maultiere

ANNS UND TIMS WUNSCHTRÄUME

Als Elli von ihrer dritten Reise aus dem Zauberland nach Kansas zurückkehrte; fand sie zu Hause ein Schwesterchen vor. Man hatte es nach der Mutter auf den Namen Anna getauf, aber alle nannten es zärtlich Ann. Über die Freude an dem Kind, das ihr wie ein kleines, lebendiges Wunder vorkam, verblaßten Ellis Erinnerungen an ihre ungewöhnlichen Abenteuer.

Die ersten Märchen, die die kleine Ann von ihrer Schwester hörte, handelten von der Smaragdenstadt und dem falschen Zauberer Goodwin, vom Scheuch und dem Eisernen Holzfäller, vom Feigen Löwen und der Krähe Kaggi-Karr, von Urfin Juice, seinen Holzsoldaten und den sieben unterirdischen Königen. Elli wußte sehr spannend von den grusligen und drolligen Begebenheiten zu erzählen, die sie in dem wunderbaren Land erlebt hatte, das durch eine Sandwüste und hohe Berge von der übrigen Welt getrennt war. Anns bester Freund wurde Tim O'Kelli von der Nachbarfarm, die nur eine Viertelmeile vom Häuschen John Smiths lag. Tim war anderthalb Jahre älter als Ann, und seine Freundschaft zu ihr hatte etwas Gönnerhaftes. Es war drollig und rührend, wie der Knirps, der selbst noch nicht fest auf den Beinen stand, seine kleine Freundin vor kollernden Truthähnen und übermütigen Kälbern schützte. Die Kinder waren unzertrennlich. Die beiden Mütter, Frau Anna Smith und Frau Margaret O'Kelli, machten keinen Unterschied zwischen dem eigenen und dem Nachbarkind. Sie streichelten beide mit der gleichen Liebe, und auch Klapse gaben sie ihnen, wenn sie's verdienten, mit der gleichen Strenge, einerlei, ob es das eigene Kind oder dag der Nachbarin war. Der kleine Tim war immer dabei, wenn Elli dem Schwesterchen ihre wunderbaren Geschichten erzählte. Als Tim und Ann größer wurden, wünschten sie sich nichts so sehnlich, als das Zauberland und dessen liebe und fröhliche Einwohner kennenzulernen.

Ann und Tim wußten, daß der Anlaß der zweiten Reise Ellis die Botschaft Kaggi-Karrs gewesen war. Die Krähe hatte dem Mädchen die Bitte des Scheuchs und des Eisernen Holzfällers überbracht, sie aus der Gefangenschaft des tückischen Urfin Juice zu befreien. In Begleitung des einbeinigen Seemanns Charlie Black hatte Elli, die im Zauberland die Fee des Tötenden Häuschens genannt wurde, die gefährliche Reise angetreten und den bösen Urfin besiegt.

Jetzt hielten Ann und Tim jede Krähe im Umkreis für Kaggi-Karr. Würden sie eine Botschaft aus dem geheimnisvollen Lande erhalten, sie würden keinen Augenblick zögern, gegen die tückischen Zauberer und bösen Hexen in den Kampf zu ziehen! Leider erwiesen sich die Krähen, mit denen sie sich anzufreunden suchten, nur als einfache Vögel und nicht als Boten des Scheuchs.

Die Krähen nahmen die Bewirtungen Anns und Tims gerne an und verbreiteten in ganz Kansas das Gerücht von den zwei guten Kindern. Unzählige Krähenschwärme gingen auf die Dächer der Häuser und Schuppen nieder und stritten sich um jedes freie Plätzchen auf den Zweigen der umstehenden Bäume, um etwas von den Leckerbissen zu ergattern, die Tim und Ann für sie bereithielten...

Das war den Farmern der Umgebung denn doch zuviel. Sie sahen das reife Korn auf ihren Feldern von den frechen Vögeln bedroht und beschlossen, sie zu vertreiben. Mit Steinen und Stöcken, Flinten und Pistolen zogen sie gegen die Schwärme los, und der alte Rolf hatte sogar aus seinem Schuppen die kleine Kanone geholt, die noch aus der Zeit des Bürgerkrieges stammte. Er füllte sie mit Pulver und Schrot und feuerte auf den größten Schwarm.

Zu seinem Entsetzen platzte aber die Kanone, und Großväterchen Rolf kam nur wie durch ein Wunder mit dem Leben davon. Allerdings erschraken auch die Krähen so sehr, daß sie nach allen Seiten auseinanderstoben.

„Vielleicht war Kaggi-Karr unter diesen Krähen?" seufzten die Kinder.

Zu ihrem siebenten Geburtstag bekam Ann von ihrer Schwester die Trillerpfeife geschenkt, die diese von Ramina, der Königin der Feldmäuse, bekommen hatte. Es tat Elli nicht leid, sich von diesem Andenken zu trennen, denn in Kansas, sagte sie, gäbe es doch keine Wunder. Ann war freilich anderer Meinung. Noch am selben Abend ging sie mit Tim hinter den Geflügelstall und blies dreimal in die Pfeife. Und siehe -das Wunder geschah!

Wie aus dem Boden gestampft, standen plötzlich unzählige Mäuse da! Beim Anblick der grauen Tierchen hätte manches andere Mädchen sicher zu schreien angefangen und wäre davongelaufen. Nicht aber Ann Smith. Sie stand ruhig da und betrachtete neugierig die winzigen Geschöpfe.

Den Mäusen gefiel die Beherztheit Anns. Sie rollten einen großen grauen Teppich auf, den eine große Maus, anscheinend die Königin, betrat. Sie richtete sich auf den Hinterpfoten auf, musterte mit ihren schwarzen Äuglein das Mädchen und piepste etwas, was die Kinder nicht verstanden. Leider haben Menschen und Tiere nur im Zauberland eine gemeinsame Sprache!

„Vielleicht überbringt uns die Königin Neuigkeiten aus dem Zauberland, oder sie will uns einen Rat geben, wie wir hingelangen könnten. Wie schade, daß wir ihre Sprache nicht verstehen!" sagte Ann zu Tim.

Dann winkte die Mäusekönigin zum Abschied dreimal mit den Vorderpfoten und verschwand mit ihren Untertanen. Das einzige, was von ihnen übrigblieb, waren die Spuren der kleinen Füße im Staub.

Ann und Tim trafen sich mehrmals mit den Mäusen, denn sie hofften, die Mäusekönigin werde einmal vielleicht doch eine menschliche Sprache sprechen. Das trat aber nicht ein.

Eines Morgens, als Ann und Tim sich in einem Winkel des Hofes erneut abmühten, aus der Sprache der Mäusekönigin klug zu werden, tauchte unerwartet Frau Anna auf. Sie war nicht so mutig wie ihre Tochter und stieß einen gellenden Schrei aus. Es fehlte nicht viel, und sie wäre in Ohnmacht gefallen, aber die Mäuse verschwanden, als hätte sie die Erde verschlungen.

„Oh, ihr schlimmen Kinder!" schrie Frau Anna zornig. „Nicht genug, daß ihr Schwärme gefräßiger Krähen auf die Farm gelockt habt, züchtet ihr jetzt noch eine Million Mäuse... Die werden uns noch eines Tages die Eier im Geflügelstall austrinken und das Korn in den Speichern aufessen." „Aber es sind ja viel weniger als eine Million, Mutti", entgegnete Ann. „Diese lieblichen Tierchen kommen nur, wenn man sie herbeipfeift. Sie rühren auf der Farm nichts an." „Genug!" schrie Frau Anna. „Gib die Pfeife her!" Ann mußte die Pfeife hergeben. Von diesem Tag an hörten die Begegnungen der Kinder mit den Mäusen auf.

Jetzt konnten Tim und Ann nicht mehr auf eine Begegnung mit Kaggi-Karr oder auf die Hilfe der Mäusekönigin hoffen. Da fiel ihnen der unterirdische Fluß ein, der einst Elli und ihren Cousin, Fred Cunning, in das Reich der Sieben Unterirdischen Könige geführt hatte. Eine solche Reise unter der Erde, meinten die Kinder, sei gewiß leicht zu verwirklichen.

,Wenn wir uns ein Boot verschaffen und viel Proviant, Kerzen, Fackeln und Streichhölzer mitnehmen, könnten wir in einigen Tagen das unterirdische Land erreichen. Dann wäre es ein leichtes, in das Zauberland hinaufzusteigen', überlegten die

Kinder. Sie dachten lange nach, ob sie Toto mitnehmen sollen. Das Hündchen wußte natürlich Bescheid im Zauberland und würde ihnen dort gewiß nützlich sein. Aber Hunde altern schnell, und Toto war jetzt nicht mehr so flink und unternehmungslustig wie einst. Außerdem hatte er auch schon Enkel. Ann und Tim beschlossen, einen dieser Enkel, das Hündchen Arto, mitzunehmen.

Arto sah jetzt fast genauso aus wie Toto, als der noch jung war: Dasselbe schwarze, seidige Fell, dieselben klugen Äuglein, dieselbe Treue und Bereitschaft, jederzeit das Leben für seinen Herrn hinzugeben.

Ann erzählte dem kleinen Arto, was sie beschlossen hatte. Verstand sie das Hündchen? Wahrscheinlich, denn es wedelte lustig mit dem Schwänzchen: Im Herbst wurden Ann Smith und Tim O'Kelli auf die Schule geschickt. Tim hätte eigentlich schon ein Jahr früher in die Schule gehen sollen, doch ohne Ann wollte er's nicht. Er schrie und heulte so lange, bis die Eltern ihm erlaubten, noch ein Jahr zu Hause zu bleiben.

Jetzt überragte er Ann und die anderen Abc-Schützen um einen ganzen Kopf. Rotbäckig, blond, breitschultrig und mit kräftigen Fäusten ausgestattet, konnte er jetzt Ann gegen jeden Buben schützen, der sie hätte kränken wollen. Selbstverständlich saßen Tim und Ann in einer Bank und machten auch die Hausaufgaben zusammen.

„Seht euch nur dieses unzertrennliche Pärchen an!" lachten die Erwachsenen. Schon in den ersten Schulferien fuhren Ann und Tim mit Erlaubnis der Eltern in den Staat Iowa zu Fred Cunning. Als John Smith seine jüngere Tochter ziehen ließ, konnte man an seinem Schmunzeln erkennen, daß er wohl wußte, was die beiden Kinder in die Ferne lockte. Er tat aber so, als merke er nichts, und wünschte ihnen angenehme Erholung. Fred Cunning, Student der Technischen Universität, empfing seine kleine Cousine und ihren Freund sehr herzlich.

Als Ann ihn aber schüchtern bat, er möchte sie, Tim und Arto zur Höhle mit dem unterirdischen Fluß führen, erwiderte er lachend:

„Hat dir denn Elli nicht gesagt, Kindchen, daß der Eingang zur Höhle eingestürzt ist? Deshalb mußten wir ja damals unsere abenteuerliche Reise unternehmen..." Ann entgegnete:

„Ich weiß, aber ich dachte, der Eingang zur Höhle sei mittlerweile freigelegt worden." „Wozu sollte man ihn freilegen?" fragte der Student. „Das ist doch leicht zu verstehen", erwiderte das Mädchen. „Damit ein jeder in das Zauberland reisen kann!" Fred bog sich vor Lachen.

„Du meine Güte! Du willst vielleicht, daß man hier ein Reisebüro eröffnet und Touristen haufenweise in das Zauberland strömen?"

„Ist denn das so schlimm?" fragte Tim O'Kelli. „Gewiß", sagte der Student ernst. „Das Zauberland ist gerade deshalb so reizend, weil es von der übrigen Welt völlig abgeschieden ist. Nur deshalb leben dort gute Zauberinnen wie Willina und Stella, sprechen die Tiere und herrscht ewiger Sommer in diesem Land. Stellt euch einmal vor, aus den Staaten kämen lärmende, freche Gentlemen und Ladies her. Das würde doch das Ende der braven Zwinkerer und Käuer bedeuten! Hier war schon einmal so ein unternehmungslustiger Geschäftsmann, der mir viele Dollar anbot, damit ich ihm den Zugang zur Höhle zeige. Ich nahm natürlich das Geld nicht an und zeigte ihm eine falsche Stelle. Zwei Wochen lang ließ er dort ein Dutzend Arbeiter graben und zog dann unverrichteterdinge fort.

„Du meinst, wir sollen nicht mehr davon träumen, dieses Land jemals zu sehen", sagte Ann, und Tränen traten ihr in die Augen.

„Du bist natürlich eine Ausnahme", tröstete sie Fred. „Du bist Ellis Schwester, und Elli achtet man im Zauberland als eine mächtige Fee, die viel Gutes getan hat. Ich glaube, der Scheuch und seine Freunde würden sich sehr freuen, wenn du, Ann, und dein Freund Tim über die Große Wüste und die Weltumspannenden Berge hinweg in ihr schönes Land kämet." „Aber wie schaffen wir das bloß?" seufzte Ann. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg", sagte Fred. „Wenn ihr angestrengt nachdenkt, werdet ihr schon ein Mittel finden, wie ihr in das Land eurer Träume kommen könnt. Auch ich will nachdenken, vielleicht fällt mir etwas ein."

Das Gespräch mit Fred gab den Kindern Hoffnung, und sie kehrten beruhigt nach Kansas zurück.

EINE SENDUNG VON FRED

Die Ferien näherten sich ihrem Ende, als eines Tages die Postkutsche mit zwei großen Kisten auf dem Dach vor der Farm John Smiths hielt. Der Postillon und der Kutscher hoben mit großer Mühe die Kisten vom Dach und trugen sie in das Haus. Auf den Kisten stand in großen Buchstaben die Adresse John Smiths und die des Absenders: Alfred Cunning aus dem Städtchen New-Ville, Staat Iowa. „Von unserem Neffen Fred", sagte Frau Anna. „Er schickt uns wahrscheinlich Obst. Aber warum sind die Kisten so groß?"

„Mutti, es rührt sich etwas drin", sagte Ann, die das Ohr an eine Kiste gelegt hatte. „Unsinn!" sagte die Farmerin.

Nichtsdestoweniger beschloß sie, mit dem Öffnen der Kisten zu warten, bis ihr Mann vom Feld gekommen war. Ann, Tim und die Nachbarkinder, die von der ungewöhnlichen Postsendung erfahren hatten, warteten ungeduldig auf die Heimkehr des Farmers. Alle sagten, in den Kisten scharre und klopfe es. Sie hielten es vor Neugier fast nicht mehr aus, da kam endlich der Farmer. Mit Meißel und Zange begann er, eine Kiste zu öffnen. Kaum hatte er den Deckel angehoben, da drang aus ihr ein lautes Wiehern. John wich zurück und Frau Anna bekreuzigte sich, während die umstehenden Jungen und Mädchen vor Freude jauchzten.

„Ein Pferdchen!" rief der dreijährige Bob. „Unmöglich", brummte Farmer John. „Welches Pferd könnte es drei Tage in diesem Sarg ohne Luft und Futter aushalten?" Wie staunte er aber, als aus der Kiste ein kleines, braunes Maultier kletterte, mit einem Huf stampfte und zu wiehern begann.

„Bei allen Heiligen!" rief der verdutzte Farmer und ergriff das Maultier am Halfer, damit es nicht davonlaufe. „Man könnte meinen, daß das Tier aus dem Zauberland kommt, wäre nicht Fred Cunning der Absender."

Des Vaters Worte machten auf Ann einen starken Eindruck. Sie ahnte, daß dieses Maultier das Mittel sei, mit dem sie ins Zauberland gelangen würde. Umsonst suchte Farmer John in der Holzwolle nach einem Brief von Fred. Statt dessen fand er einen schönen Sattel mit weichem Sitz und versilberten Steigbügeln. Ein Brief lag in der anderen Kiste, in der sich gleichfalls ein Maultier, allerdings ein graues, befand, das nur wenig kleiner war als das erste. Auch ein zweiter Sattel lag bei. Im Brief Alfred Cunnings stand:

„Meine liebe Cousine Ann! Dein Wunsch, das Zauberland zu sehen, ist so groß, daß ich mir den Kopf zerbrach, um dir zu helfen. Ich habe den ganzen Sommer an diesen zwei mechanischen Maultieren gearbeitet, die ich dir und deinem Freund Tim O'Kelli übersende."

John mußte das Lesen unterbrechen, weil Tim einen Jauchzer ausstieß und einen Purzelbaum schlug, wie ihn gewiß kein zweiter Junge hätte machen können. Als Tim sich wieder beruhigte, fuhr der Farmer zu lesen fort:

„Diese Maultiere brauchen weder Futter noch Wasser. Energie erhalten sie von den Sonnenbatterien, die ich ihnen eingebaut habe... In der großen Wüste gibt es reichlich Sonne, und ihr werdet nicht zu befürchten brauchen, daß die Tiere aus Futtermangel schwach werden."

Weiter enthielt der Brief Anweisungen, wie die Tiere zu steuern seien. In der Mähne jedes Tiers sei ein verstellbarer Stift verborgen. Schiebe man ihn rückwärts, stünden die Tiere still, bringe man ihn in Mittelstellung, bewegten sie sich im Trab, und schiebe man den Stift bis zum Anschlag vor, gingen sie, in Galopp über. Zum Wenden nach rechts oder links brauche man nur das Halfter in die gewünschte Richtung zu ziehen. Es genüge, hieß es weiter im Brief, die Maultiere zwei bis drei Stunden täglich in der Sonne zu halten. Bei heiterem Wetter lüden sich die Batterien von selbst auf. Der Erfinder teilte ferner mit, er schicke die Tiere unaufgeladen, damit unterwegs nichts passieren könne.

„Warum haben sie aber gewiehert und sind von selbst aus den Kisten gestiegen?" fragte Tim O'Kelli, der sich für sein Alter erstaunlich gut in Mechanik auskannte. Farmer John erwiderte nach kurzem Nachdenken: „Wahrscheinlich hat die Sonne die Kisten während der Reise so erwärmt, daß die Batterien sich aufgeladen haben. Aber hol mich der Teufel, wenn das nicht eine ganz ungewöhnliche Erfindung ist! Auf diese Maultiere kann man sich, allem Anschein nach, verlassen!" „Und folglich könnt ihr mich und Tim unbesorgt in das Zauberland ziehen lassen!" fügte Ann munter hinzu.

„Das ist noch lange nicht entschieden", entgegnete der Vater mit gespielter Strenge. Am Ende des Briefes stand ein wichtiger Hinweis für Ann und Tim. Sie sollten, schrieb Fred, auf der Reise niemandem das Geheimnis der Wundertiere verraten. Sollten die Leute sie für einfache Maultiere halten, von denen sie sich dem Aussehen nach auch nicht unterscheiden. Das verringere die Gefahr, daß irgend jemand sie ihnen raube. ,,Fred scheint überzeugt zu sein, daß Tim und Ann schon heute oder morgen aufbrechen", brummte der Farmer. „Er hat wohl vergessen, daß bald das Schuljahr beginnt."

Unerwartet setzte sich Frau Anna für die Kinder ein. „Elli ist doch viel länger als ein Jahr der Schule ferngeblieben", sagte sie, „dabei hätten sich viele Kinder, was das Lernen angeht, ein Beispiel an ihr nehmen können! Was sie gesehen und erlebt hat, wiegt gewiß viele Schuljahre auf..."

„Hast du denn keine Angst, Ann und Tim ins Zauberland ziehen zu lassen?" fragte John erstaunt.

Frau Anna wies diesen Einwand zurück, denn sie glaubte, daß eines jeden Menschen Schicksal vorbestimmt sei.

„Der eine stürzt von der Treppe und bricht sich das Genick", sagte Frau Smith, „während ein anderer von abenteuerlichen Reisen heil und gesund zurückkehrt wie unsere Elli."

Am nächsten Tag traf Elli ein, die gleichfalls für Tim und Ann Partei ergriff. Mit solchen Bundesgenossen setzten die Kinder natürlich ihren Wunsch durch. Selbst die O'Kellis willigten in die Reise ihres Jungen ein.

Es wurde beschlossen, daß Ann und Tim gleich am folgenden Sonntag aufbrechen, da Farmer John seinen Ruhetag hatte und ihnen mindestens zwei Meilen weit das Geleit geben konnte.

Elli war von den Maultieren entzückt.

„Oh, hätten ich und Toto solche Rappen gehabt, als wir uns müde auf dem Gelben Backsteinweg dahinschleppten!" sagte sie. „Erinnerst du dich noch an jene Zeit, Totochen?"

Toto erinnerte sich natürlich an jene Zeit. Er wußte auch, daß man ihn jetzt nicht in das Zauberland mitnehmen werde, und gab sich damit zufrieden. Da läßt sich eben nichts machen, bei meinem Alter!' dachte das Hündchen. Soll Arto nur ruhig ziehen. Schließlich muß man ja auch den Jungen eine Chance geben.' Elli dachte sich für die Maultiere Namen aus. Sie hatte im letzten Semester Altertumsgeschichte studiert und nannte das Tier mit dem grauen Fell Cäsar und das mit dem braunen Hannibal. Das waren klingende Namen, die den Kindern sehr gefielen.

DER AUFBRUCH

An einem frühen Augustmorgen nahmen Ann und Tim Abschied von ihren Eltern. Ihre Reiseausrüstung war bis ins einzelne durchdacht, was sie vor allem Elli zu verdanken hatten. Der Proviant war in den ledernen Satteltaschen verstaut, die die Tiere trugen. In zwei Rucksäcken lagen für jedes Kind zwei Paar Unterwäsche, Seife, Zahnbürste und Zahnpulver, Messer, Löffel und was man sonst noch für eine lange Reise braucht. Ann trug an einem Schulterriemen das Fernrohr, das seinerzeit der einbeinige Seemann Charlie Black Elli geschenkt hatte. Am linken Handgelenk hatte jedes Kind einen Kompaß, am rechten eine Armbanduhr. In Tims Reisetasche lag ferner ein unaufgeblasener Volleyball. Der Junge hatte sich nämlich vorgenommen, die Käuer und Zwinkerer das schöne Spiel zu lehren. Tim selbst war ein ausgezeichneter Volleyballspieler, den sogar die größeren Jungen gern in ihre Mannschaft nahmen. Außerdem besaß er noch einen keulenartigen Knüppel, der an seinem Gürtel hing. Aus einem Anns Sattel angehängten Sack ragte die Schnauze Artos hervor, dessen schwarzen Äuglein erwartungsvoll glänzten. Die Reise gefiel ihm außerordentlich. Wenn ihm das Sitzen im Sack lästig wurde, kläffte er kurz, und Ann setzte ihn ab, damit er hinter den Maultieren laufen konnte. John Smith begleitete die Kinder auf seiner braunen Stute Mary. Obwohl Hannibal und Cäsar auf den langsamsten Gang geschaltet waren, konnte das Stütlein mit den sonnenenergiegeladenen Maultieren kaum Schritt halten.

„Prächtige Rappen", brummte John zufrieden. „Vor einen Pflug gespannt, würden sie Gott weiß wie viele Acker täglich bearbeiten."

Als verstünden sie die Worte des Farmers, wackelten die Maultiere über dieses Ansinnen ärgerlich mit den langen Ohren.

Beim Abschied umarmte der Farmer Ann und Tim, wünschte ihnen eine glückliche Reise und ermahnte sie, vorsichtig zu sein. „Ihr sollt euch nicht allzu lange im Zauberland aufhalten", sagte er. „Denkt daran, daß eure Eltern euch sehnsuchtsvoll zurück erwarten werden."

Tim und Ann schalteten auf Galopp, worauf die Hufen der Maultiere hochschnellten und eine mächtige Staubwolke aufwirbelten. Fünf Minuten später waren von ihnen nur noch zwei Pünktchen am Horizont zu sehen.

„Donnerwetter", murmelte John, „das nenne ich Galopp! Bei diesem Tempo wird ihnen kein Feind etwas anhaben können... "

Auf dem Heimweg dachte der Farmer über die wunderlichen Begebenheiten nach, die seine Familie von dem denkwürdigen Tag an erlebte, da die Hexe Gingema das schreckliche Gewitter über Kansas heraufbeschworen hatte.

Ann und Tim freuten sich über den schnellen Ritt. Felder und Flüsse und Fuhren mit Getreide flogen an ihnen vorbei, und die seltenen Fußgänger sprangen entsetzt zur Seite und blickten ihnen entgeistert nach.

Am Abend hatten unsere Reisenden viele Meilen hinter sich gebracht. Sie beschlossen, in einem Wäldchen, fern von jeder Behausung, zu übernachten. Ann nahm aus ihrem Sack das Zaubertuch Charlie Blacks heraus, das sich auf Wunsch des Besitzers in ein Boot oder ein Zelt verwandeln konnte. Jetzt diente es den Kindern als Zelt, in dem sie unter der Obhut des treuen Arto ruhig die Nacht verbrachten. Die Tage vergingen schnell. Ann und Tim hielten Kurs auf Nordost und mieden die bewohnten Stätten. An den Bächen, an denen sie vorbeikamen, füllten sie ihre dickbäuchigen Flaschen mit Wasser nach. Die Maultiere brauchten sie nicht zu tränken und auch nicht in die Sonne zu stellen, denn das Wetter war sonnig, so daß Cäsar und Hannibal sich im Lauf mit Energie aufluden.

Am ersten breiten Fluß mußten die Reisenden haltmachen. Ann wollte das Zaubertuch zu einem Floß aufblasen, aber Tim meinte, die Tiere würden darauf ausgleiten, weil es kein Geländer habe, und ins Wasser fallen.

„Ich schlage vor, den Fluß reitend zu überqueren!" sagte der Junge.

Die Kinder stellten die Stifte auf „Langsam" und lenkten die Tiere beherzt ins Wasser.

Und siehe, Cäsar und Hannibal schwammen, als hätten sie es seit eh und je getan! In ihren Bäuchen war genügend Hohlraum, und sie hielten sich prächtig auf dem Wasser. Ihre muskulösen Beine ruderten so schnell, daß sie in wenigen Augenblicken das andere Ufer erreichten.

„Hurra!" frohlockte Tim. „Mit solchen Rappen können wir auch über ein Meer schwimmen!"

Eine große Gefahr erwartete die Kinder in der Steppe, in der es unzählige Wölfe gab. Zu einem Rudel zusammengerottet, versperrten sie den Reisenden den Weg. Ann und Tim wollten umkehren, aber da erblickten sie auch in ihrem Rücken viele Wölfe. „Vorwärts! Galopp!" kommandierte Tim. Die Maultiere stürmten wie im Sturm dahin. Mehrere Wölfe stürzten mit eingeschlagenen Köpfen und zerbrochenen Rippen zu Boden. Ein großer Wolf, anscheinend der Anführer des Rudels, wollte Tim aus dem Sattel reißen, aber der mutige Junge versetzte ihm mit seiner Keule einen solch wuchtigen Hieb, daß der Räuber zurückflog und sich rücklings überschlug. Eine Minute später waren die Reiter in Sicherheit. Tim strahlte vor Freude. „Hast du gesehen, wie ich's ihm gegeben hab!" rief er. „Mein Schlag hat ihn bestimmt erledigt!"

Da Ann daran zweifelte, schlug Tim vor, umzukehren und nachzusehen. Das Mädchen verspürte aber keine Lust auf ein Wiedersehen mit den Wölfen und beeilte sich, dem Jungen zuzustimmen. Tim spitzte die Lippen und begann einen Marsch zu pfeifen. Erst jetzt wagte es Arto, seinen Kopf, den er beim Anblick der grimmigen Wölfe in den Sack eingezogen hatte, wieder zu zeigen. Das Hündchen war zwar mutig, hatte aber auch Verstand genug, sich nicht in einen ungleichen Kampf einzulassen. Ein Wolf hätte ihm ja mit Leichtigkeit das Rückgrat zerbrechen oder den Bauch aufreißen können! Als jetzt, da die Gefahr vorbei war, Arto ein verächtliches Gebell anstimmte, sagte Ann zu ihm neckend: „Großartig, du Maulheld!"

DIE GROSSE WÜSTE

Mit Hilfe der Kompasse hielten unsere Reisenden den richtigen Kurs ein, obwohl die auch ohne Kompaß den Weg nicht verfehlt hätten. Ann hatte von ihrer Schwester so oft die Geschichte der Reise mit dem einbeinigen Seemann gehört, daß ihr jetzt schien, als sei sie selbst schon einmal hier gewesen, habe selbst den heißen Atem des Windes gespürt, der aus der Wüste blies, und die garstigen Köpfe der Echsen gesehen, die sich in den Dünen verbargen. Da war auch schon der Wald, hinter dem die große Wüste lag.

„Guten Tag, alter Freund!" rief Ann freudig. „Aus deinen Bäumen hat Onkel Charlie einst das Wüstenschiff gebaut, das noch jetzt irgendwo am Waldessaum steht. Aber wir wollen es nicht suchen, nicht wahr, Tim?"

„Wozu auch?" erwiderte der Junge. „Cäsar und Hannibal sind bestimmt besser als jedes Schiff, mag es ein Wüsten- oder Meeresschiff sein." Tim und Ann bereiteten sich gründlich, auf die riskante Wüstenreise vor. Sie beschlossen, schon in der Dämmerung aufzubrechen, solange es noch kühl war. Zunächst füllten sie ihre Flaschen an einer Quelle. und tranken so viel Wasser, wie sie konnten. Dann begossen sie sich und das Hündchen von Kopf bis Fuß und setzten dunkle Netzbrillen auf, um ihre Augen gegen den Flugsand zu schützen. Arto, dem es bange wurde, kauerte sich tief in seinen Sack, was seine Herrin sehr vernünftig fand. Natürlich trank sich auch das Hündchen vor der Reise ausgiebig satt.

Die Stimmung der beiden Kinder war sehr ernst. Scherz und Mutwillen waren verflogen, und ihre Herzen schlugen laut. Die bisherigen Erlebnisse kamen ihnen jetzt unbedeutend vor im Vergleich zu dem, was ihrer harrte.

Groß und unheimlich lag die Wüste in ihrer feierlichen Stille da.

„Nun aber los!" sagte Tim entschlossen. Wenn es sein muß, werde ich mein Leben ohne Zaudern für Ann hingeben', dachte er bei sich.

„Du hast recht: Wer auf der Stelle tritt, kommt nicht vom Fleck', wie der Weise Scheuch sagte", erwiderte Ann, die von ihrer Schwester viele Aussprüche des dreimalweisen Herrschers der Smaragdenstadt gehört hatte. Die Kinder ritten im Trab. An Galopp war hier nicht zu denken, denn die Hufen der Maultiere würden tief im Sand versinken. Trotzdem konnte Ann, als sie sich eine halbe Stunde später umwandte, kaum noch den Saum des Waldes erkennen. Während die elektrisch geladenen Tiere Meile um Meile hinter sich brachten, dachte Ann nur an eins: Wie umgehen wir nur die schrecklichen schwarzen Steine Gingemas? Sie wußte nämlich von ihrer Schwester, daß die böse Hexe lange vor ihrem Tod das Zauberland mit Steinen umgeben hatte, die eine geheimnisvolle Anziehungskraft besaßen. An einem solchen Stein waren Elli und Charlie Black beinahe umgekommen, weil der Stein ihr Wüstenschiff festhielt und die Bewegungsfreiheit der Insassen auf hundert Schritt im Umkreis bannte. Zum Glück hatten die beiden damals die Krähe Kaggi-Karr ziehen lassen, die mit einer Weintraube im Schnabel zurückkehrte, welche den Zauber des Steins brach.

Die Zauberkraft der Steine konnte in den verflossenen Jahren zwar versiegt oder schwächer geworden sein, dennoch war es besser, nicht zu riskieren. Ann befolgte den Rat ihrer Schwester, stoppte alle halbe Stunde den Lauf ihres Cäsar und hielt mit dem Fernrohr Ausschau. Als die Kleider der Kinder schon längst trocken

waren (sie hatten unterdessen mindestens dreimal Wasser getrunken), erspähte Ann in der Ferne einen schwarzen Fleck.

„Der schwarze Stein Gingemas!" rief das Mädchen aufgeregt. „Wo siehst du ihn?" fragte Tim.

Das Fernrohr ans Auge setzend, gewahrte auch er den Stein.

Ein Plan gegen die böse Zauberkraft Gingemas war schon zu Hause ausgearbeitet worden. Die Idee stammte von Elli: Wenn zwei Menschen einen Gegenstand, zum Beispiel einen Tisch, in entgegengesetzte Richtungen ziehen, bleibt er auf der Stelle stehen, hatte Elli gesagt. Wenn man sich in gleicher Entfernung zwischen zwei schwarzen Steinen bewege, würde der eine die Reisenden nach rechts, der andere nach links ziehen, und die Kräfe würden sich gegenseitig aufheben.

Nach dem Auftauchen des ersten Steins schwenkten Ann und Tim seitwärts ab und ritten langsam, bis sie den zweiten erblickten. Jetzt, dachten sie, sei es ein leichtes, den Weg mitten zwischen die beiden Steine zu nehmen, und ließen die Zügel schießen. Die Maultiere sausten, Sandwolken aufwirbelnd, im gestreckten Galopp dahin.

Als sich die Reisenden zwischen den beiden Steinen befanden, fühlten sie sich nach links gezogen. Ob sie nun die Mitte falsch bestimmt hatten und dem linken Stein näher waren, oder ob die magische Kraft des letzteren größer war - das wußten Ann und Tim nicht. Sie fühlten nur, daß die Hexerei Gingemas sie aus den Satteln zerrte.

Anns Kräfte versagten, und sie fiel mit einem leisen Aufschrei aus dem Sattel. Zum Unglück kam sie auf die Beine zu stehen, und die böse Kraft, die von dem Stein ausging, zog sie unwiderstehlich an.

Das Maultier Tims, das kräftiger war als Anns, hatte die Gefahrenzone fast überwunden, als der Junge den Aufschrei des Mädchens hörte und Cäsar mit leerem Sattel hinter sich hertraben sah.

Tim war fast schon in Sicherheit, aber angesichts der Gefahr, in der Ann schwebte, schwankte er keinen Augenblick: Er riß seinen Hannibal herum, erreichte im Nu das Mädchen und zog es mit kräftigem Ruck zu sich hinauf.

Später konnten sich die Kinder an die Einzelheiten dieser schrecklichen Minuten, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkamen, nicht mehr erinnern. Sie entsannen sich nur, wie das Maultier unter der doppelten Last gekeucht und der Sand unter seinen Hufen gespritzt hatte.

Zoll um Zoll entrang sich Hannibal der unheimlichen Kraft, bis sie zu wirken aufhörte. Ein siegreiches Wiehern verkündete, daß der Bann gebrochen war, und frei stürmte das edle Tier dahin.

Bald war auch Cäsar eingefangen. Die völlig erschöpfte

Ann blieb aber, von ihrem Gefährten gestützt, noch lange im Sattel Hannibals sitzen. Als sie zu sich kam, dankte sie, Tränen in den Augen, dem tapferen Jungen. „Laß nur", wehrte Tim ab, „nicht mir, sondern Hannibal hast du deine Rettung zu verdanken."

Die schwarzen Steine Gingemas lagen jetzt weit hinter ihnen, und die Maultiere trabten schnell dahin. Tiere aus Fleisch und Blut wären längst ermattet, die mechanischen Rappen aber schienen genau so frisch wie zu Beginn der Reise. In der Ferne tauchten die schneebedeckten Gipfel der Weltumspannenden Berge auf. Jetzt, da sie nicht mehr zu eilen brauchten, beschlossen die Reisenden, Rast zu machen. Von der überstandenen Gefahr noch ganz benommen, konnten Tim und Ann aber keinen Bissen herunterbringen, nur ihr Durst war schier unstillbar, und sie tranken sehr viel Wasser.

DURCH DIE BERGE

Die beiden Kinder wollten in das Tal mit den wunderbaren Weintrauben gelangen, in dem einst Elli und Charlie Black nach ihrer Wüstenreise ausgeruht hatten. Wegen der schwarzen Steine waren aber Tim und Ann vom Kurs abgekommen und erreichten die Berge an einer anderen Stelle. Allerdings sprudelte auch dort ein Bach, an dem Obstbäume standen, aber Reben waren da nicht zu sehen. Kaum hatten Ann und Tim auf einer kleinen Wiese ein Lager aufgeschlagen, da begannen auch schon die Wunder. Den Anfang machte Arto. Als Ann ihn aus dem Sack nahm, gähnte er, holte tief Atem und sagte mit klarer Stimme: „Uh, war das eine Qual in dem stickigen Loch! Endlich kann ich mir die Pfoten vertreten!"

Obwohl die Kinder längst wußten, daß im Zauberland auch die Tiere sprechen, blickten sie ihren vierbeinigen Gefährten voller Staunen an. Wie steigerte sich aber erst ihre Verwunderung, als das Hündchen um die Maultiere zu hüpfen begann und Anstalten machte, sie in die Beine zu beißen, und plötzlich Cäsar mit angenehmer Baritonstimme sagte:

„Nicht so übermütig, Freundchen, oder du bekommst meine Hufe zu spüren!" Hannibal fügte in tiefem Baß hinzu:

„Würde ihm nur recht geschehen! Diese Hündchen sind ja unausstehlich..."' „Wieso, Freunde, auch ihr habt das Sprechen erlernt?" rief Ann verdutzt. „Warum denn nicht?" erwiderte Cäsar.

In der Tat: Warum sollten sich Maultiere im Zauberland nicht wie lebende Wesen verhalten und nicht sprechen, wo doch eine Vogelscheuche aus Stroh und ein Mann aus Eisen hier lebten und sprachen?!

Cäsar war anscheinend neugieriger als sein Gefährte, denn er fragte: „Sag, bitte, Ann, was bedeuten unsere Namen? Warum heißen wir eigentlich Cäsar und Hannibal und nicht anders?" Ann und Tim wußten zunächst nichts zu antworten. Sie hatten ja erst die erste Klasse abgeschlossen, in der es noch keinen Geschichtsunterricht gab. Allerdings hatte Elli, als sie den Tieren die Namen gab, dem Schwesterchen ihre Bedeutung erklärt, und Ann hatte einiges behalten.

„Wie soll ich's euch erklären?" sagte das Mädchen, die Brauen zusammenziehend. „Hannibal und Cäsar waren im Altertum berühmte Leute. Ich weiß nicht mehr, ob Präsidenten oder Generale, aber jedenfalls etwas in dieser Art..."' Mit dieser Erklärung gaben sich die Tiere zufrieden und sagten, daß sie gern auf ihre Namen hören wollten.

Nach dem Abendbrot schliefen Ann, Tim und Arto sofort ein, während die Rappen unter einem Baum standen und ruhig auf den Sonnenaufgang warteten. In der Sonne würden sie sich wieder mit Energie aufladen, denn die Sonne ersetzte ihnen Speise und Trank.

Am Morgen nahm Tim aus seinem Sack die Hufeisen, die er mitführte, und schraubte sie Cäsar und Hannibal an die Füße. Im Sand hätten die Eisen den Lauf der Tiere nur gehemmt, auf den steinigen Bergpfaden aber waren sie unentbehrlich. An diesem Morgen ging unseren Reisenden der Proviant aus. Es war erstaunlich, wie genau Elli den Vorrat berechnet hatte. Die Kinder pflückten Obst von den Bäumen und stopften es in die Reisetaschen, füllten die Feldflaschen mit Wasser und zogen weiter.

Der Weg war jetzt sehr mühselig. Er führte über schwindelerregende Hänge, über schmale Felsvorsprünge, unter denen Abgründe gähnten, über Geröll, das schreckliche Lawinen entfesseln konnte, und über tiefe Schluchten. Manchmal brauchte die kleine Schar Stunden, um nur hundert Fuß hinter sich zu bringen. Erst jetzt wurde es Ann und Tim bewußt, welch unschätzbare Dienste ihnen Cäsar und Hannibal leisteten. Natürlich waren die mechanischen Maultiere nicht mit den Steinböcken zu vergleichen, die über die Felsen fegten, aber auch sie vollbrachten wahre Wunder an Geschicklichkeit.

Unermüdlich, furchtlos und flink wie Katzen kletterten sie die steilen Hänge hinan, die Reiter ermahnend, sie sollen sich fest in den Satteln halten. Wenn es zu Tal ging, zogen sie die Hinterbeine an und rutschten fast auf den Bäuchen hinab, und beim Aufstieg nützten sie jeden Felsvorsprung, der etwas Halt bot. Über Felsspalten setzten sie, die sehnigen Hinterbeine gestreckt, in schönem Sprung hinweg, während die Reiter die Hälse der edlen Tiere umklammerten, um nicht aus den Satteln zu fliegen.

Nach einiger Zeit tauchte eine breite Schlucht auf, die selbst das beste Pferd der Welt nicht hätte überspringen können. Aus dem Abgrund stiegen Nebel und das Rauschen eines Wildbachs auf.

An ein Umreiten des Hindernisses war nicht zu denken, denn rechts und links türmten sich mächtige Felsen, die selbst für Cäsar und Hannibal unüberwindlich waren. Bestürzt blickten sich die Kinder an. Um hier herauszukommen, hätten sie umkehren und einen Steg im Labyrinth der Berge suchen müssen.

Plötzlich hörten sie Flügelschläge über ihren Köpfen und sahen einen riesigen Schatten auf sich zukommen. Aufblickend gewahrten sie einen ungeheuren Adler. Ann stieß einen Schrei des Entsetzens aus und bedeckte das Gesicht mit den Händen, während Tim drohend seinen Knüppel schwang, obwohl ihm klar war, daß er mit dieser Waffe gegen den Vogel nichts ausrichten werde.

Der Adler (es war Karfax) ging vor den Reisenden nieder und sagte mit angenehmer Stimme: „Keine Angst, Kinder! Schwachen und Hilflosen tue ich nichts zuleide!" Tim runzelte beleidigt die Brauen, während Ann die Hände vom Gesicht nahm und den Vogel anblickte. Karfax sah so edel und gutmütig aus, daß das Mädchen sofort Vertrauen zu ihm faßte.

„Ich sehe, Kinder, daß ihr aus der großen Welt kommt und ins Zauberland wollt", fuhr der Adler fort. „Ihr habt einen weiten und gefährlichen Weg zurückgelegt, aber dieses Hindernis übersteigt eure Kräfte."

„Ja, Herr Adler", sagte Ann, „diesen Abgrund können unsere Maultiere nicht überspringen. Seid doch so gütig, und tragt uns hinüber."

„Das läßt sich machen", sagte der Adler sanft. „Halt dich am Sattel fest, Mädchen..." Während Ann sich an den ' Sattel klammerte, faßte Karfax mit seinen mächtigen Krallen behutsam Cäsar unter, und noch ehe das Mädchen erschrecken konnte, schwebte es schon über dem rauchenden Abgrund. Einen Augenblick später wurde Ann mit dem munter wiehernden Maultier auf der anderen Seite abgesetzt, und noch bevor sie den Kopf wenden konnte, standen auch Hannibal und Tim an ihrer Seite. „Von hier ist der Weg nicht mehr gefährlich, und ihr werdet meiner Dienste wohl nicht bedürfen", sagte der Adler und schwang sich in die Lüfe.

„Schönen Dar k, lieber Freund!" riefen die Kinder dem in einer Wolke entschwindenden Vogel nach. Wie war Karfax am Leben geblieben? Wir wissen doch, daß er Urfin verlassen und in die Heimat geflogen war, wo ihn der sichere Tod erwartete. Wie kam es, daß Arraches, der Anführer der Adlerschar, und seine Anhänger ihn nicht getötet hatten?

Das kam so:

Drei Tage vor der Rückkehr Karfax' war Arraches im Kampf mit dem Schlangenkönig gefallen, den er aus über mäßigem Ehrgeiz zum Streit herausgefordert hatte. Karfax wurde von den Adlern zum Anführer erwählt und fand bald eine neue Lebensgefährtin, mit der er nun glücklich lebte.

Hätten Tim und Ann gewußt, was sich erst kürzlich im Zauberlande zugetragen hatte, hätten sie gewußt, daß dieser selbe Adler, ohne es zu wollen, dem bösen Urfin geholfen ,selbe die Macht über die Springer zu erringen, sie hätten Karfax gewiß gebeten, das Übel, das er ungewollt so vielen Menschen zugefügt hatte, wiedergutzumachen! Ann und Tim wußten aber das alles nicht. Karfax mied jetzt die Menschen, besonders, nachdem der tückische Urfin ihn so bitter enttäuscht hatte. Ohne zu ahnen, welch mächtigen Bundesgenossen sie in Karfax hatten, blickten die Kinder lange auf die Wolke, die den Vogel verschlungen hatte. Als erster faßte sich Tim:

„Das nenne ich ein Abenteuer!" rief er. „Dergleichen hat selbst Elli nicht erlebt!" „Ja", sagte Ann, „sie hat nicht einmal gehört, daß es im Zauberland solche Adler gibt."'

„Das nenne ich Glück", sagte der Junge. „Wer weiß, wie lange wir in den Bergen umhergeirrt wären, wenn nicht dieser Vogel uns geholfen hätte."' Der schwerste Teil der Reise war jetzt zu Ende. Am leichtesten hatte sie Arto überstanden, der in seinem Sack gekauert und nur die Schnauze herausgesteckt hatte. Wenn es brenzlig wurde, hatte er sie eingezogen und die Augen zugedrückt, denn er glaubte, eine Gefahr sei weniger schrecklich, wenn man sie nicht sehe. Die Nacht überraschte die Wanderer auf einem Gletscher hoch in den Bergen. Das Zelt konnten sie da nicht aufschlagen, und die Kälte drang ihnen durch alle Kleider. Cäsar hatte einen guten Einfall. Auf seinen Rat hin falteten die Kinder das Zelt zu einem Rechteck zusammen und breiteten es auf dem Eis aus. Ann und Tim legten sich zwischen die Maultiere, deren Körper die Wärme ausstrahlten, die sie am Tag aufgespeichert hatten. Auf diese Weise verbrachten die Kinder und Arto, den sie in die Mitte genommen hatten, die Nacht ganz erträglich. Am folgenden Tag wurde der Weg besser. Die Auf- und Abstiege waren jetzt weniger steil, an den Hängen zeigte sich Gras und dann tauchten auch Sträucher und Bäume auf.

Die Weltumspannenden Berge lagen jetzt weit zurück. Ann sagte feierlich: „Das ist das Land der Käuer!"

SEINE FUCHSMAJESTÄT, KÖNIG NASEFEIN XVI.

Ann hatte sich aber geirrt, als sie das sagte. Die Kinder waren in der großen Wüste von dem Weg abgekommen, den Elli und der einbeinige Seemann einst gegangen waren, und hatten die Weltumspannenden Berge an einer anderen Stelle überquert. Das Land der Käuer lag jetzt rechts von ihnen. Die beiden Kinder sahen, daß der Steg, der durch den Wald führte, nicht von Menschenfüßen, sondern von den Füßen wilder Tiere herrührte.

Der Steg wurde breiter, doch kein Mensch war weit und breit zu sehen. Nur die geschwätzigen Elstern auf den Bäumen unterhielten sich laut über die Kleider und das Aussehen der Wanderer.

Nach zwei strapazenreichen Tagen fühlten sich Ann und Tim völlig erschöpft. Da das Wetter schön war, schlugen sie nicht das Zelt auf, sondern legten sich unter einen Strauch ins weiche Gras. Tim schlief augenblicklich ein. Auch Ann fielen die Augen zu, als plötzlich ein vielstimmiges Geheul und zwischendurch ein Schmerzensschrei: „Helft mir! Ach, helft mir doch! Ich sterbe...", an ihr Ohr drang. Ann versuchte, Tim zu wecken, doch da ihr das nicht gelang, beschloß sie, allein nachzusehen, was los war. Als sie aus den Büschen trat, bot sich ihr folgender Anblick: Mitten in einer Lichtung lag, eine Pfote in einem Fangeisen eingeklemmt, ein großer, brauner Fuchs und wimmerte. Um ihn standen mehrere kleine Füchse, die aus Mitleid mit ihm gleichfalls wimmerten und heulten.

Beim Auftauchen Anns verstummte das Konzert, und die Füchse verkrochen sich im Dickicht. Nur der Gefangene schaute das Mädchen aus flehenden Augen an. Ann verspürte Mitleid mit dem unglücklichen Fuchs, trat näher und fragte ihn sanft: „Wie bist du in diese Falle geraten, du Ärmster?" Noch bevor das braune Tier etwas erwidern konnte, sprang aus den Büschen eine Silberfüchsin und rief: „Wie wagst du es, Mädchen, so unhöflich mit dem Herrscher dieses Landes zu sprechen? Weißt du, wen du vor dir hast? Seine Fuchsmajestät Nasefein XVI., den König des Fuchslandes."

„Oh, bitte um Verzeihung, Eure Fuchsmajestät!" wandte sich Ann an den König. „Ich komme aus einem fernen Lande und wußte nicht, daß Ihr ein so hohes Amt bekleidet." König Nasefein XVI. nickte gnädig und erzählte, wie er in diese schlimme Lage geraten war. Er war einem Hasen nachgejagt und hatte die Falle nicht gesehen, die ein Jäger aus dem Nachbarland der Käuer vor langer Zeit hier aufgestellt hatte. Das Fangeisen hatte ihm die Pfote eingeklemmt. Das geschah vor einer Woche, und in dieser Zeit hatte sich kein Mensch auf der Wiese gezeigt. Hätten Ihre Fuchsmajestät, die Königin Schnellfuß, mit ihren Höflingen und Hofdamen ihn nicht gefunden, er wäre vor Hunger und Durst gestorben. Nasefein sagte, er habe schon ernsthaft nachgedacht, ob er sich nicht die Pfote abbeißen solle, um die Freiheit wiederzuerlangen. Aber dann hätte er seinen Thron verloren, denn nach den Gesetzen des Landes durfte ein Krüppel nicht König sein. Das Mädchen aus dem fernen Lande sei gerade noch rechtzeitig gekommen: Wenn sie ihn befreie, werde sie ihm mehr als das Leben retten - sie werde ihm die königliche Macht erhalten.

Ann wollte dem König helfen, aber ihre Kräfte reichten nicht, das Fangeisen wegzudrücken, das die Pfote festhielt. Da entschied sie, Tim herbeizuholen, doch als sie einen Schritt in Richtung der Büsche tat, begannen die Füchse so jämmerlich zu heulen, daß sie stehenblieb.

,Warum bin ich nur so unbeholfen', dachte das Mädchen mißmutig. Elli hätte an meiner Stelle bestimmt einen Ausweg gefunden. Da erblickte sie einen starken Ast, den ein Sturm vom Baum gerissen hatte. „Oh, das brauche ich gerade!" rief sie freudig.

Sie steckte das Astende zwischen die Zähne des Fangeisens und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Durch die Hebelwirkung öffnete sich das Eisen, und der Fuchs zog die Pfote heraus. Als die umstehenden Füchse das sahen, brachen sie in ein Lobgeheul auf die Befreierin ihres Königs aus. Nasefeins Pfote war geschwollen und blutete. Hilfe tat not. Mit großer Anstrengung hob Ann den Fuchs auf und trug ihn zu der Stelle, wo Tim schlief. Die anderen Füchse folgten ihr ehrerbietig.

Beim Anblick des Rudels erhob Arto ein ohrenbetäubendes Gebell, worüber Tim aufwachte. Er war sehr verwundert, Ann in solch ungewöhnlicher Gesellschaft zu sehen. Als sie ihm erzählte, was vorgefallen war, billigte er ihre Tat und lobte sie. Ann nahm die Reiseapotheke aus dem Rucksack, strich Jod auf die Wunde und legte einen Verband an. Dem König wurde es sofort besser, doch gehen konnte er nicht.

„Wohin befehlen Eure Fuchsmajestät, Euch zu tragen?" fragte das Mädchen. „Nach Fuchsstadt - in meinen Palast", erwiderte der König mit schwacher Stimme. Als Ann und Tim den Fuchs auf Cäsars Rücken setzten, streckte Arto den Kopf aus dem Sack und begann wütend zu bellen. Ein Nasenstüber Tims belehrte ihn jedoch, daß man seine Gefühle nicht immer so laut hinausschreien dürfe. Der Hund zog den Kopf wieder ein und knurrte nur leise:

„Warum machen sie nur so viel Aufhebens von diesem Knallprotz? König hin, König her - ein anständiger Hund hat die Pflicht, so einen zu jagen und zu hetzen... "

Die Maultiere setzten sich in Trab, das Gefolge lief hinterher. Die Königin hatte der beflissene Tim neben sich auf Hannibals Rücken gesetzt. Nasefein XVI. wies den Weg durch den dichten Wald.

„Wie viele Untertanen besitzen Eure Fuchsmajestät?" fragte Ann den König. „Oh, viele Tausende. Allerdings wurden sie das letztemal vor fünf Jahren gezählt, und jetzt weiß ich nicht mehr genau, wie viele es sind."'

„Und wo nehmt Ihr das Essen für sie her?" fragte Ann. „Ihr braucht wahrscheinlich sehr viele Hasen und Kaninchen, um eine solche Menge Esser satt zu machen!" „Dafür hat die Natur gesorgt", sagte der König. „Wir pflanzen Bäume, deren Früchte so groß sind wie ausgewachsene Kaninchen und deren Fleisch ebenso schmackhaft ist wie das der Kaninchen. Wir nennen sie Kaninchenbäume." ,Wie viele Wunder gibt es doch im Zauberland!' dachte Ann. Selbst Elli hat von den riesigen Adlern, dem Königreich der Füchse und den Kaninchenbäumen nichts gehört, obwohl sie doch dreimal hier war.' „Warum seid Ihr denn auf die Jagd gegangen, wo in Eurem Lande doch so herrliche Bäume wachsen?" wollte das Mädchen wissen.

„Ihre Früchte sind schmackhaft", erwiderte Nasefein, „aber wir überlassen sie dem einfachen Volk. Soll ich etwa dasselbe essen, was der Ackerbauer und Tagelöhner ißt? Pfui!" Der König verzog angewidert das Gesicht. „Und die Lust, einen Hasen zu zerfleischen!" Nasefeins Augen glänzten gierig. „Bei uns darf nur die königliche Familie jagen. Den einfachen Leuten ist die Jagd unter Todesstrafe verboten."' Jetzt bereute Ann fast, daß. sie den König aus dem Fangeisen befreit hatte. Aber,' dachte sie, wenn er umgekommen wäre, hätte sein Nachfolger. die Regierung des Landes übernommen, und im Königreich der Füchse hätte sich nichts geändert.' Eine Frage des Königs lenkte Ann von ihren Gedanken ab: „Was sind das für Tiere, auf denen wir reiten? Ich war in vielen Teilen unseres Landes, aber solche Tiere habe ich nirgends gesehen."

„Die gibt es sogar auf der anderen Seite der Berge nicht", sagte Ann.

Sie versuchte, dem König zu erklären, wie die mechanischen Maultiere funktionierten, aber da sie es selbst nicht genau wußte, blieben ihre Erklärungen unverstanden. Der König.begriff nur eins: daß die sogenannten Maultiere sich von Sonnenstrahlen ernähren. Und das wunderte ihn nicht sehr.

,Ein jeder ißt, was er kann', dachte er bei sich. Unser gemeines Volk ißt die Früchte des Kaninchenbaums, unsre Adligen ernähren sich von Kaninchen und Hasen, die mechanischen Maultiere - von Sonnenstrahlen. Aber Hasenfleisch schmeckt doch am besten!'

EIN KOSTBARER TALISMAN

Das Land der Füchse war sehr groß, und die Maultiere brauchten gut zwei Stunden, bis sie die Hauptstadt erreichten.

Fuchsstadt bestand aus zahllosen Hügeln, die eine breite Straße säumten. Es war leicht zu erkennen, daß es künstliche Baue waren, doch wer sie geschaffen hatte - ob Füchse in alten Zeiten oder sonst jemand -,das konnte selbst König Nasefein nicht sagen. In jedem Hügel waren viele Öffnungen zu sehen. Sie bildeten die Eingänge zu den Fuchsbauen. Davor tummelten sich braune und silbergraue kleine Füchse. König Nasefein erklärte:

„Unser Volk besteht aus zwei Stämmen, einem mit braunem und einem mit silbergrauem Pelz. In alten Zeiten lebten diese Stämme getrennt und befehdeten sich. Aber vor hundert Jahren schlossen sie sich zusammen und siedelten in diese Gegend über, wo sie die Hügel vorfanden, die für Baue wie geschaffen waren. Von jener Zeit rührt der Brauch her, daß ein König aus dem braunen Stamm seine Gattin unbedingt aus dem Stamm der Silberfüchse nimmt. Und umgekehrt: Wenn der König ein Silberfuchs ist, muß die Königin eine braune Füchsin sein."

Die Kinder hörten nur zerstreut zu, denn ihre Aufmerksamkeit -galt dem Treiben in Fuchsstadt, wo es wirklich viel Merkwürdiges gab. Hinter den Hügeln zogen sich Plantagen mit den Bäumen hin, von denen Nasefein erzählt hatte. An den Zweigen hingen große längliche Früchte mit dicker Schale. Da und dort löste sich eine reife Frucht und fiel zu Boden. Beim Aufschlag platzte die Schale, und das appetitliche rosa Fleisch kam zum Vorschein.

Den abgefallenen Früchten näherten sich auf den Hinterbeinen Füchse, die sie mit den Vorderpfoten aufhoben und in Vorratslager trugen.

Alle Plantagenarbeiter gingen auf den Hinterbeinen. Die einen lockerten mit spitzen Stöcken den Boden zwischen den Bäumen auf, andere trugen in großen Nußschalen Wasser zum Gießen, dritte klaubten schädliche Insekten und Larven aus den Ritzen der Rinde heraus. Auf allen vieren liefen nur die jungen Füchse, die Handlangerdienste versahen.

Unseren Reisenden fiel eine seltsame Prozession auf. Vier Füchse trugen eine mit Seide ausgeschlagene schmucke Sänfte, in der eine Silberfüchsin saß. Die Füchsin und der König tauschten Verbeugungen aus.

„Das ist meine Tante, Prinzessin Spitzohr. Sie macht gerade ihre Besuchsrunde", sagte der König zu Tim. Ann fragte:

„Fertigen Eure Handwerker so schöne Dinge an?" „Leider nicht", erwiderte Nasefein. „Unsere Ahnen haben solche Luxusgegenstände für Früchte der Kaninchenbäume bei den Menschen erworben."' „Treibt ihr auch heute Handel?"

„O nein", erwiderte der König unwillig mit einer verneinenden Bewegung seiner gesunden Vorderpfote. „Fragt nicht, warum der Handel aufgehört hat, ich werde es Euch ein andermal sagen."' Ann schwieg betroffen.

Auf der Straße schob eine braune Füchsin einen Kinderwagen mit drei Jungen vor sich her, die sich übermütig balgten und nicht auf die Amme hörten, die ihnen ruhig zu liegen befahl und sie mit Klapsen traktierte.

Der Palast König Nasefeins XVI. sah genau so aus wie die anderen -Fuchsbaue, nur war der Eingang so hoch, daß Tim und Ann sich beim Eintreten nicht zu bücken brauchten. Staunend gewahrten die Kinder, daß der Innenraum hell erleuchtet war. Das Licht strahlten Kugeln aus, die an der Decke hingen. Aus den Berichten ihrer Schwester wußte Ann, daß die Leuchten im unterirdischen Land mit dem Saft von Sechsfüßerfellen aus dem Reich der Erzgräber getränkt waren. Anscheinend hatten die Füchse auch diese Lampen bei den Menschen erworben. Den König danach zu fragen, wagte das Mädchen jedoch nicht, nachdem sie den Unmut Nasefeins bei ihrer letzten Frage bemerkt hatte.

An der Rückwand der Höhle standen zwei Throne, von denen einer etwas höher war als der andere. Würdevoll nahmen der König und die Königin auf den Thronen Platz, während die Höflinge sich auf den Hinterbeinen an den Wänden reihten. ,Genau wie bei den Menschen', dachte Ann.

König Nasefein hielt eine Rede. Er erzählte kurz von dem Unglück, das ihn heimgesucht hatte, und sprach Ann seinen tiefen Dank für die Rettung aus. „Ihr sollt nicht meinen, daß ich Euch meine Erkenntlichkeit lediglich in Worten bezeigen will", fuhr er, zu Ann gewandt, fort. „Ich will Euch etwas schenken, das Euch in unserem Lande von großem Nutzen sein wird." Dann rief er in den Saal hinein: „Minister Langschwanz!"

Ein Silberfuchs mit einem herrlichen flauschigen Schwanz trat bedächtig auf den Thron zu. Der Minister schien auf diesen Schwanz sehr stolz zu sein, denn er war sorgfältig gekämmt und gebürstet und roch nach Parfüm. „Was befehlen Eure Fuchsmajestät?" fragte der Würdenträger. „Geh in unsere königliche Schatzkammer und hole den Silberreif!" befahl der König. Diese Worte schlugen wie ein Blitz unter die Höflinge ein. Die einen stöhnten, während andere flehend die Pfoten erhoben. Der Reif, von dem der König sprach, mußte sehr kostbar sein. Doch niemand wagte zu widersprechen, denn seine Majestät Nasefein XVI. verstand keinen Spaß. Nach wenigen Minuten kehrte Langschwanz mit einem breiten, rubinbesetzten Silberreif zurück, der ungewöhnlich schön war. Ann erschauerte bei dem Gedanken, daß es ihr zuge- dacht sein konnte. Da sie sehr bescheiden war, meinte sie, es gezieme sich nicht, ein teures Geschenk für eine gute Tat anzunehmen, und sei es auch für die Rettung eines Lebens. Sie sagte:

„Eure Fuchsmajestät überschätzen meine Verdienste um Eure Rettung."' „Wieso?" wunderte sich der König. „Habt Ihr mir nicht den Thron erhalten?" „Den hättet Ihr auch ohne meine Hilfe bewahren können."' „Auf welche Weise?"'

„Ihr hättet einen Boten in das Land der Käuer schicken können, dann wären Menschen gekommen und hätten Euch geholfen, wie es Eurer königlichen Würde gebührt." Der König lachte bitter.

„Unterschätzet nicht unseren Verstand, Mädchen! Wir haben drei Boten nacheinander zu den Käuern geschickt, und alle sind für ihren Monarchen gefallen!" „Gefallen, warum?"

„Auf dem einzigen Weg, der von uns in das Land der Käuer führt, hat sich ein wilder, ewig hungriger Säbelzahntiger niedergelassen, der jeden Fuchs, der ihm in die Pranken fällt, zerreißt und auffrißt. Aus diesem Grunde hat auch der Handel zwischen uns und den Menschen vor acht Jahren aufgehört." Ann fragte betroffen:

„Ein Säbelzahntiger, sagt Ihr? Hat denn der Weise Scheuch den Holzköpfen nicht befohlen, alle diese Tiger auszurotten?"

Jetzt war es Nasefein, der staunte. Er erhob sich von seinem Thron und sagte feierlich: „Ihr kennt den Scheuch, die Holzköpfe und die Säbelzahntiger? Und Ihr kommt von der anderen Seite der Berge? Dann will ich Euch sagen, wer Ihr seid! Ihr seid Durchlaucht Elli, die Fee des Tötenden Häuschens. Wir heißen Euch willkommen in Fuchsstadt, liebe Fee!"

Nach diesen Worten setzte er das verwirrte Mädchen auf den Thron und verbeugte sich tief. Das gleiche taten die Königin und alle Höflinge. Nur Tim stand aufrecht und verstand nicht, warum man seiner Freundin solche Ehren bezeigte. Arto, den er auf dem Arm hielt, begann beim Anblick der vielen katzbuckelnden Füchse zu knurren. Ann aber stieg vom Thron hinab und sagte:

„Eure Fuchsmajestät irren. Nehmt wieder den Platz ein, der Euch zu Recht gebührt, und höret mich an. Elli ist meine ältere Schwester. Sie war wirklich mehrmals im Zauberland und hat hier viel Rühmliches vollbracht. Ich aber heiße Ann Smith, bin kaum zwei Tage in diesem wunderbaren Land und habe nichts getan, was des Lobes wert wäre." Der König entgegnete:

„Eure Verdienste sind sehr groß. Ihr habt das Land vor einem Dynastiewechsel bewahrt, vielleicht sogar vor einem Bürgerkrieg. Euch gebührt dieser silberne Reif, dessen Zauberkraft ich Euch sogleich vorführen will."

König Nasefein stieg wieder auf den Thron, setzte den Reif auf und berührte mit der Pfote den größten Rubin des Geschmeides. Im nächsten Augenblick verschwand er mitsamt dem massiven Thron. Ann und Tim standen mit weitaufgerissenen Augen da, während Arto laut zu bellen anfing, worüber die Füchse nicht wenig erschraken. Eine Minute später tauchte der Thron mit dem König wieder auf. Beim Anblick der vor Staunen erstarrten Ann brach Nasefein in ein schallendes Gelächter aus. „Wie Ihr seht, Durchlaucht, macht dieser Reif seinen Träger unsichtbar, wenn er diesen Rubin da" - der König wies auf den größten Stein - „berührt. Dabei werden auch alle Dinge, mit denen der Träger des Reifs in Berührung ist, unsichtbar. Außerdem paßt der Reif aufjeden Kopf, denn er dehnt sich nach der Größe des Kopfes aus oder zieht sich zusammen."

Ann zauderte, das kostbare Geschenk anzunehmen, aber der König drückte ihr den Reif fast gewaltsam in die Hand und schien die heißen Dankesworte des Mädchens gar nicht zu hören.

„Ihr könnt ihn ruhig annehmen", sagte er zu Ann, „ich brauche ihn nicht. Wenn ich mich allzu oft unsichtbar mache, werden meine Untertanen bald vergessen, wie ich aussehe, was einem König bestimmt nicht nützen kann, ha, ha, ha!"

Ann setzte schüchtern den Reif auf, der genau auf ihren Kopf paßte, als hätte ihn ein geschickter Goldschmied angefertigt.

„Er steht dir großartig, Ann!" rief Tim strahlend. „Einfach wunderbar! Und jetzt verschwinde mal!"

Das Mädchen berührte den großen Rubin, wie der Fuchskönig es getan hatte, und war im Nu verschwunden. Tim staunte nicht wenig, als der Platz, wo sie gestanden hatte, völlig durchsichtig wurde. Arto aber bat:

„Laß diese Späße, Ann, darüber muß ja jeder anständige Hund erschrecken!"

Von dem Platz.. 'wo Ann gestanden hatte, erklang ein lautes Lachen, dem die Worte folgten:

„He, Tim, fang mich mal!"

Tim lief auf die Stimme zu, aber kaum hatte er Anns Arm berührt, entschlüpfte sie ihm auch schon, und ihre Stimme erklang aus einer anderen Ecke der Höhle. Nach mehreren vergeblichen Versuchen sagte der Junge ärgerlich:

„Jetzt hab ich's aber satt! Das ist hundertmal schlimmer als Blindekuh spielen."' Da tauchte Ann wieder auf. König Nasefein sagte:

„Ich finde es nur gerecht, daß der Silberreif Eurer Durchlaucht gehören soll. Ihr seid die Schwester Ellis, der Fee, die Bastinda getötet hat, der dieser Zaubertalisman einmal gehört hat. Die böse Hexe hatte mich aus dem Mutterbau genommen, als ich noch ein kleines Füchslein war, und mich als Geschenk für ihre Schwester in den Violetten-Palast bringen lassen. Im Land der Zwinkerer gibt es keine Füchse, und alle starrten mich dort wie ein Wunder an. Bastinda hielt mich mehrere Jahre gefangen. Elli hat Euch gewiß erzählt, wie schwer es war, aus dem Palast der bösen Hexe zu fliehen. Mir aber ist es gelungen!" sagte Nasefein stolz. „Ich hatte herausbekommen, wie die Hexe den Reif benutzte, stahl ihn aus ihrer Schatzkammer und machte mich davon. Dieser Talisman hat mich auf dem Heimweg vor vielen Gefahren bewahrt. Er hat mir auch geholfen, die Macht im Reich der Füchse zu erringen. Aber jetzt trenne ich mich ohne Bedauern von ihm, weil..."-bei diesen Worten trat er ganz nahe an Ann heran und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich fürchte nämlich, daß der Silberfuchs Prinz, Krummbein mir den Reif entwendet. Er hat es auf meinen Thron abgesehen..."' Als Ann dieses Geständnis hörte, sagte sie sich, es sei wohl eine gute Tat, Nasefein von dem Talisman zu befreien. Mit reinem Gewissen werde sie Fuchsstadt verlassen, um sich mit ihren Gefährten in das Land der Käuer und von dort in die Smaragdenstadt zu begeben.

Vor dem Abschied gab König Nasefein XVI. zu Ehren Anns, Tims und Artos ein Festessen. Die Kaninchenbaumfrüchte, mit denen man sie bewirtete, schmeckten ausgezeichnet. Mehrere davon bekamen sie mit auf den Weg. Zum Dank schenkte Ann dem König ihren blauen Umhang. Nasefein war sehr stolz, als er ihn anzog, und sagte, von jetzt an solle dieser Umhang im Lande der Füchse als Königsgewand dienen.

IM LANDE DER KÄUER

Abgesandte des Königs Nasefein geleiteten Tim und A nn bis an die Grenze des Landes, wo der Steg begann, der in das Land der Käuer führte. Sie beschrieben den Kindern auch genau die Stelle, wo der letzte Säbelzahntiger auf der Lauer lag. Der Steg war gewunden und stellenweise von Gras überwuchert, so daß die Kinder ihre Maultiere zügeln mußten. Cäsar und Hannibal schnaubten unwillig, denn während der Rast in Fuchsstadt hatten sie sich mit Energie vollgeladen, die sie jetzt so schnell wie möglich loswerden wollten.

Als die Wanderer an einer Wegkrümmung das gestreifte Fell des Tigers erblickten, ließen sie die Zügel locker. Das Raubtier, das die Hufschläge schon aus der Ferne vernommen hatte, war aus den Büschen getreten und hatte sich zum Sprung geduckt, aber in diesem Augenblick schalteten Tim und Ann auf Höchstgeschwindigkeit, und die Maultiere sausten wie der Wind an dem Tiger vorbei.

„Ich werde wohl alt und schwerfällig", brummte der Säbelzahntiger, „da ich nicht einmal unterscheiden konnte, was so schnell an mir vorbeigesaust ist. Jedenfalls waren es keine Füchse."

Ann und Tim ritten mehrere Stunden, bis sich vor ihnen das herrliche Blaue Land auftat, das das Mädchen aus den Geschichten seiner Schwester so gut kannte. Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich Anns: Ihr war, als habe sie diese wunderbare Landschaft mit dem smaragdgrünen Gras, diese Bäume mit den ungewöhnlichen Früchten und diese rauschenden Bäche mit den unzähligen Gold- und Silberfischlein schon einmal gesehen.

Hinter den Bäumen traten liebliche Menschlein mit breitkrempigen, silberschellenbehangenen Hüten hervor.

Sie hatten blaue Mäntel und enge Hosen an und bewegten ununterbrochen die Kiefern. Am Rande der Lichtung blieben sie stehen und betrachteten ängstlich den Jungen und das Mädchen auf den hohen Maultieren.

„Guten Tag, liebe Käuer!" sagte das Mädchen, das vom Maultier stieg und mehrere Schritte zu den Menschlein hin machte, während Tim mißtrauisch im Sattel blieb. „Guten Tag, mächtige Fee", erwiderte ein beherzter Käuer und verbeugte sich vor den Ankömmlingen. Seinem Beispiel folgten die anderen, wobei die Schellen auf ihren Hüten gar lieblich läuteten.

„Warum meint ihr, daß ich eine Fee bin?" fragte Ann lächelnd.

„Weil nur eine Fee einen solch schönen Silberreif auf dem Haupt trägt. Auch siehst du der Fee des Tötenden Häuschens sehr ähnlich, die uns von der bösen Gingema befreit und den tückischen Urfin Juice mit seinen Holzsoldaten besiegt hat."

Bei diesen Worten fingen die Käuer zu schluchzen an, und damit das Gebimmel der Schellen sie dabei nicht störe, nahmen sie die Hüte ab und legten sie auf die Erde.

„Warum weint ihr denn, liebe Freunde?" fragte Ann verwundert.

„Wir weinen, weil der böse Urfin das Zauberland erneut unterjocht und den Weisen Scheuch gefangengenommen hat", erwiderte ein Käuer.

Ann und Tim traten vor Staunen die Augen fast aus den Höhlen.

„Aber wie konnte das geschehen?" fragte das Mädchen. „Ich will es euch erzählen",

sagte eine kleine alte Frau, die aus der Menge hervortrat. Sie trug ein weißes, mit funkelnden Sternchen besetztes Gewand.

„Guten Tag, Frau Willina!" sagte das Mädchen. „Ihr kommt wohl aus dem Gelben Lande?" „Ja, mein Kind", erwiderte die Frau und umarmte Ann. „Seit mehreren Tagen verfolge

ich deine Abenteuer und freue mich sehr, daß du die Zeit nicht vertrödelst."'

Bei diesen Worten berührte Willina den Zauberreif des Mädchens.

„Das ist ein Geschenk des Königs der Füchse", sagte das Mädchen schüchtern.

„Ich weiß, meine Liebe, und gratuliere dir dazu. Dieser Talisman wird dir und deinem Freund im Kampf mit Urfin Juice helfen."'

„Werden auch wir mit dem grausamen Urfin kämpfen müssen?" fragte Ann erschrocken.

„Ja, das werdet ihr, mein Kind", erwiderte die Zauberin. „Deine Schwester Elli und ihre Freunde sind zu milde mit diesem tückischen Mann verfahren, und jetzt hat er wieder die Macht erobert, ein Heer der Springer auf die Beine gebracht und den Scheuch und den Eisernen Holzfäller gefangengenommen."' „Auch den Holzfäller?"

„Ja, auch ihn hat Urfin überrumpelt. Von den drei wackeren Freunden Ellis lebt nur noch der Tapfere Löwe frei in seinem fernen Wald. Siehst du, mein liebes Mädchen, ich darf mein Land nicht für lange Zeit verlassen und kann dir nur mit einem Rat behilflich sein, aber ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht."'

„Ich danke Euch, liebe Frau", sagte Ann. „Hat das Schicksal mich und Tim hergeführt, um den Scheuch und den Eisernen Holzfäller zu retten, so werden wir unsere Pflicht tun."

„Ich denke genau wie Ann", sagte Tim.

„Ich will mein Zauberbuch um Rat fragen", sagte Willina und zog aus den Falten ihres Gewandes ein winziges Büchlein hervor.

Sie legte es auf einen Stein, blies darauf und sprach ein paar Zauberworte, worauf es sich in ein dickes Buch verwandelte. Willina blätterte darin, bis sie das Wort „Gefangene" fand, erhob die Augen und sprach die Beschwörung: „Bambara-tschufara, skoriki-moriki, turabo-furabo, lorikijoriki..." Mit geschlossenen Augen wiederholten die schreckensbleichen Käuer: „Bambara-tschufara, loriki-joriki..."

Auf einem leeren Blatt des Buches traten Worte hervor, die Willina feierlich verlas:

„Das Mädchen Ann und ihr Gefährte, die rittlings auf wunderbaren Tieren, die von Sonnenstrahlen gespeist werden,- in unser Land gekommen sind, mögen auf dem gelben Backsteinweg in die Zauberstadt ziehen... "

„Seltsam", sagte die Zauberin, „vor zehn Jahren hat dieses Buch deine Schwester Elli auf diesen Weg geschickt, und siehe, jetzt ist die Reihe an dir... Aber laßt uns weiter lesen."

„Im ehemaligen Palast Goodwins sollen Ann und ihr Freund den Zauberkasten des Scheuchs, dessen sich Urfin bemächtigt hat, an sich nehmen. Dabei wird ihnen der Silberreif helfen. Der Zauberkasten wird das übrige tun..." „Hm, das Ende ist nicht klar. Aber das Buch will wohl nicht mehr aussagen", meinte die Zauberin. „Das Weitere wird sich an Ort und Stelle zeigen. Nun denn, macht euch auf den Weg, meine lieben Kinder, ich wünsche euch Erfolg, lebt wohl!..."' Das Buch schrumpfte wieder zusammen und verschwand in den Falten des Gewandes. Eine Sekunde später war auch die Zauberin verschwunden. Wo sie gestanden hatte, erhob sich ein Wirbel, der über die Wiese fegte und sich in der Ferne verlor. Verblüfft betrachteten die Käuer die Stelle, wo eben noch Willina gestanden hatte. Da kam Ann ein kecker Gedanke: Sie wollte diesen scheuen Menschlein zeigen, daß auch sie Wunder tun könne wie die Zauberin aus dem Gelben Lande. Sie berührte den großen Rubin auf dem Reif und war im nächsten Augenblick verschwunden. Zwei solcher Kunststücke hintereinander - das war mehr, als die ängstlichen Käuer vertragen konnten. Mit Schreien des Entsetzens stoben sie auseinander und verbargen sich in den Büschen. Ann, die nach wenigen Sekunden wieder auftauchte, und Tim, der ihren Scherz mißbilligte, mußten den Käuern lange zureden, bis sie sich ein Herz faßten und aus den Büschen hervortraten.

Als sie erfuhren, daß es der Silberreif war, der den Zauber bewirkt hatte, waren sie überzeugt, daß Ann eine noch mächtigere Fee sei als ihre Schwester.

Sie baten das Mädchen inständig, den grausamen Urfin und die Springer zu vertreiben und den guten Scheuch wieder als Herrscher einzusetzen. Dann schafften sie eine Menge Proviant für die Kinder herbei. Zum Dank gab Ann ihnen Früchte des Kaninchenbaums. Die kleinen Menschlein freuten sich sehr über das Geschenk und sagten:

„Wir haben diese herrlichen Früchte seit dem Tag nicht mehr gegessen, da der blutrünstige Tiger uns den Weg in das Königreich der Füchse verlegt hat." „Warum tötet ihr ihn denn nicht?" fragte Tim.

Über diese Frage waren die Käuer so verwundert, daß die Schellen an ihren Hüten von selbst zu bimmeln anfingen. „Wie sollen wir ihn töten, wo wir doch so klein und schwach sind?" riefen sie. Tim lächelte nachsichtig.

„Ich habe leider keine Zeit, euch zu zeigen, wie man das macht. Aber ihr werdet es wohl auch ohne mich schaffen, wenn ich es euch erkläre. Grabt 300 Fuß von der Höhle des Raubtiers entfernt eine tiefe Grube aus, bedeckt sie mit Zweigen und Laub und bindet davor an einen Pflock zwei Lämmer an. Diese werden durch ihr Blöcken den Tiger anlocken, der herbeieilen und sich auf sie stürzen wird. Dabei wird er in die Grube fallen, und dort wird er _ verrecken."

Über diese Worte gerieten die Käuer in Entzücken. Sie hüpften und tanzten so lange, bis sie erschöpft umfielen. Wenige Tage später taten die Einwohner des Blauen Landes, wie Tim ihnen geraten hatte, und wie erwartet fand der Tiger in der Grube seinen Tod. Die Käuer schlugen neben der Grube einen Pflock in die Erde, an den sie ein Täfelchen mit der Aufschrift anbrachten:

Hier sind die Überreste des letzten Tigers des Zauberlandes begraben. Wir haben ihm

den Garaus gemacht, wie der wunderbare Tim, ein Junge von der anderen Seite der Berge, es uns gelehrt hat. Wir loben und preisen ihn!

Auf dem Weg in die Smaragdenstadt, sagten die Käuer, würden die Kinder durch ein großes Dorf der Unterirdischen Erzgräber kommen. Es seien zwar viele Jahre vergangen, seitdem die Erzgräber ihre Höhle verlassen und sich in der oberen Welt angesiedelt hatten, aber aus Gewohnheit nenne man sie bis auf den heutigen Tag die Unterirdischen. „Werden sie uns nichts Böses antun?" fragte Arto. „O nein, das sind herzensgute Menschen", versicherten die Käuer. „Freilich haben sie die Gewohnheit, beim Sprechen zu Boden zu blicken, was nicht einem jeden gefällt. Aber sie können nicht anders, weil das grelle Tageslicht sie immer noch stört." Beim Abschied versprachen Tim und Ann, auf dem Heimweg wieder bei den Käuern einzukehren.

Cäsar und Hannibal waren froh über den Aufbruch, denn Bewegung war ihnen das liebste auf der Welt. - das lag eben in ihrer Natur.

An diesem Tag kamen die Kinder durch mehrere Käuerdörfer. Alles war dort blau: die Häuser mit den Spitzdächern, die Tore und Zäune, die Einfriedungen der Gärten und Felder und die Kleider der Einwohner. Unsere Reisenden wurden überall freundlich begrüßt. Auf eine geheimnisvolle Weise hatten die Leute erfahren, daß die kleine Schwester der Fee des Tötenden Häuschens eingetroffen sei und den Kampf mit dem grausamen Urfin Juice aufnehmen wolle.

Im letzten blauen Dorf zeigte man Tim und Ann die Richtung, die sie einschlagen mußten, um auf den gelben Backsteinweg zu gelangen. Bald erreichten die Kinder die Lichtung, in der die Hütte John Smith' nach der wunderbaren Luftreise gelandet war. Der Wohnwagen stand noch immer da, allerdings geschwärzt von Wind und Wetter. Auf der Tür war noch die halbverwischte Aufschrift zu lesen: „Ich bin nicht zu Hause", die Elli hingekritzelt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war.

Natürlich traten die Kinder in den Wagen ein.

Drinnen herrschte eine große Unordnung. Die Stühle waren umgefallen, und ein Teil des Geschirrs, das aus dem Küchenschrank gerutscht war, lag zerbrochen auf den Dielen. Ann nahm zum Andenken ein mit Blumen bemaltes Tellerchen mit, Tim stellte die Stühle um den Tisch auf und staubte sie ab.

Schweigend verließen die Kinder das Häuschen, das seit zehn Jahren keines Menschen Fuß betreten hatte.

„Da muß irdendwo in der Nähe die Höhle Gingemas sein", sagte Ann leise. „Mir ist so bange... "

„Hab keine Angst", beruhigte sie Tim. „Mit unseren Maultieren und dem Silberreif brauchen wir nichts zu fürchten... Außerdem bin ich ja auch noch da!" Bei diesen Worten richtete sich der Junge im Sattel auf und machte ein grimmiges Gesicht. „Prahlhans!" lächelte Ann. „Du vergißt anscheinend, daß wir noch sehr klein sind, lieber Tim."'

Загрузка...