It rose into space, its wings spread wide, then fell, its wings now a fluttering cape wrapped tight about the body of a man.
Etwas lief schief.
Die Beamtin an der Paßkontrolle hatte zuerst breit gegrinst: »How are you, mate?«
»I'm fine«, hatte Harry Hole gelogen. Vor mehr als dreißig Stunden hatte er Oslo via London verlassen, und seit Bahrain, wo er ein anderes Flugzeug nehmen mußte, hatte er die ganze Zeit auf diesem verdammten Platz vor dem Notausgang gesessen. Aus Sicherheitsgründen konnte man den Sitz nur minimal nach hinten lehnen, und schon vor Singapur hatte sein Rückgrat damit gedroht, zu kollabieren.
Und jetzt grinste auch die Frau an der Paßkontrolle nicht mehr.
Sie hatte seinen Ausweis mit auffallendem Interesse studiert. Ob es das Bild war oder die Schreibweise des Namens, der sie am Anfang amüsiert hatte, war schwer zu sagen.
»Business?«
Harry Hole glaubte, daß die Zollbeamten in den meisten anderen Ländern der Welt dieser Frage ein »Sir« nachgestellt hätten, doch hatte er gelesen, daß diese Art formeller Höflichkeitsfloskeln in Australien nicht allzusehr verbreitet war. Das war auch ziemlich egal, Harry war weder sonderlich reiseerfahren noch irgendwie eingebildet, er wünschte sich nur, so schnell wie möglich in ein Hotelzimmer mit einem Bett zu gelangen.
»Yes« hatte er geantwortet und dabei mit den Fingern auf den Tisch getrommelt.
Genau in diesem Augenblick hatte sie häßlich ihre Lippen gespitzt und mit scharfer Stimme gesagt:
»Why isn't there a visa in your passport, Sir?«
Sein Herz zuckte unweigerlich zusammen, wie immer, wenn eine Katastrophe im Anmarsch zu sein schien. »Sir« wurde vielleicht nur verwendet, wenn eine Situation zu eskalieren drohte.
»Sorry, I forgot«, murmelte Harry und durchsuchte dabei fieberhaft die Innentaschen seiner Jacke. Warum hatten sie das Spezialvisum nicht wie gewöhnlich in seinen Paß heften können? Hinter sich in der Warteschlange hörte er das schwache Summen eines Walkmans und wußte genau, daß es der Nebenmann aus dem Flugzeug war. Er hatte während des ganzen Fluges immer wieder die gleiche Cassette gehört.
Warum, zum Teufel, konnte er sich nie daran erinnern, in welche Tasche er was gesteckt hatte? Zu allem Überfluß war es auch noch heiß, und das, obwohl es schon fast zehn Uhr abends war. Harry spürte, wie sein Kopf zu jucken begann.
Endlich fand er das Dokument und legte es vor ihr auf den Tisch.
»Police officer, are you?«
Die Beamtin schaute von dem Spezialvisum auf und musterte ihn, aber ihr verkniffener Mund hatte sich wieder entspannt.
»Ich hoffe, es sind keine norwegischen Blondinen ermordet worden?«
Sie lachte erfrischend auf und knallte gutgelaunt den Stempel auf das Visum.
»Well, just one«, antwortete Harry Hole.
Die Ankunftshalle des Flughafens war voller Vertreter von Reiseunternehmen und Abholern, die Schilder mit den jeweiligen Namen hochhielten, nur keins mit »Hole«. Er war kurz davor, sich ein Taxi zu nehmen, als er einen Schwarzen in Jeans und Hawaiihemd, einer ungewöhnlich breiten Nase und kurzen dunklen Locken bemerkte, der sich einen Weg durch die Schilder bahnte und langsam auf ihn zukam.
»Mr. Häo – li, I presume!« triumphierte er.
Harry Hole stutzte einen Moment. Er hatte sich darauf eingerichtet, die erste Zeit in Australien damit zu verbringen, die Aussprache seines Nachnamens zu korrigieren, um nicht mit einem Loch verwechselt zu werden. Mr. Heilig war ihm da schon um einiges lieber.
»Andrew Kensington, how are ya?« stellte sich der Mann vor, grinste und streckte ihm eine gewaltige Pranke entgegen.
Seine Hand war die reinste Saftpresse.
»Welcome to Sydney – hope you enjoyed the flight«, sagte der Fremde herzlich, wie ein Echo der Stewardeß vor etwa zwanzig Minuten. Er nahm Holes abgenutzten Koffer und begann, ohne sich noch einmal umzusehen, auf den Ausgang zuzugehen. Harry hielt sich dicht hinter ihm.
»Arbeiten Sie für die Polizei in Sydney?« begann er.
»Sure do, mate. Watch out!«
Die Schwingtür klatschte Harry voll auf die Nase, so daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Der Anfang einer miesen Slapstick- Komödie hätte nicht schlimmer sein können. Er rieb sich seinen Zinken und fluchte laut auf norwegisch. Kensington schaute ihn mitleidsvoll an.
»Bloody doors, ay?« sagte er.
Harry antwortete nicht. Er wußte nicht, was man hier unten auf so etwas antwortete.
Auf dem Parkplatz schloß Kensington den Kofferraum eines alten, kleinen Toyotas auf und hob den Koffer hinein.
»Do you wanna drive, mate?« fragte er überrascht.
Harry begriff, daß er auf der Fahrerseite stand. Scheiße, hier fährt man ja links. Auf dem Beifahrersitz lagen aber so viele Zeitungen, Cassetten und Müll, daß Harry sich ohne Umstände auf die Rückbank schob.
»You must be an aborigine«, fragte er, als sie auf die Autobahn fuhren.
»Guess there's no foolin' you, officer«, antwortete Kensington und blickte in den Rückspiegel.
»In Norway we call you ›australneger‹ – Australian negro.«
Kensington betrachtete ihn im Rückspiegel.
»Really?«
Harry begann sich unwohl zu fühlen.
»Äh, ich meine nur, daß Ihre Vorfahren ganz offensichtlich nicht zu den Strafgefangenen gehört haben, die vor zweihundert Jahren von England hierhergeschickt wurden«, entschuldigte er sich, um zu zeigen, daß er wenigstens gewisse Grundkenntnisse über die Geschichte dieses Landes besaß.
»That's right Häo-li, meine Vorfahren waren schon ein bißchen früher hier. Vierzigtausend Jahre, um genau zu sein.«
Kensington grinste in den Spiegel, und Harry beschloß, jetzt erst einmal für eine Weile den Mund zu halten.
»I see. Nennen Sie mich Harry!«
»Okay, Harry, ich bin Andrew.«
Den Rest der Strecke redete Andrew. Er fuhr Harry nach King's Cross und erklärte ihm alles: Dieses Viertel war die Heimat von Sydneys Prostituierten und das Zentrum für Drogenhandel und andere lichtscheue Aktivitäten der Stadt. Jeder zweite öffentliche Skandal schien Verbindungen zu dem einen oder anderen Hotel oder einer Stripbar dieses Quadratkilometers zu haben.
»Da wären wir«, sagte Andrew plötzlich. Er hielt am Straßenrand an, stieg aus dem Auto und holte Harrys Gepäck aus dem Kofferraum.
»See ya tomorrow«, sagte Andrew, und damit waren er und das Auto auch schon verschwunden. Mit steifem Rücken und einem Jetlag, der sich immer mehr bemerkbar machte, standen Harry und sein Koffer plötzlich alleine auf dem Bürgersteig einer Stadt, deren Einwohnerzahl in etwa der Bevölkerung von ganz Norwegen entsprach. Hinter ihm erhob sich die Fassade des Crescent Hotel. Neben dem Namen prangten drei Sterne. Oslos Polizeipräsidentin war nicht gerade bekannt dafür, besonders großzügig bei der Einquartierung ihrer Untergebenen zu sein. Aber vielleicht war es diesmal ja doch nicht so schlecht. Wahrscheinlich gab es Rabatt für den öffentlichen Dienst und besonders kleine Zimmer, dachte Harry.
Und so war es dann auch.
Harry klopfte vorsichtig an die Tür des Polizeichefs des Distriktes Sydney South.
»Komm' rein!« dröhnte eine tiefe Stimme von drinnen.
Ein großer, breiter Mann mit einem beeindruckenden Bauch stand hinter einem Schreibtisch aus Eiche am Fenster. Unter seinem schütteren Haar stachen graue, buschige Augenbrauen hervor, doch in den Augenfalten lag ein Lächeln.
»Harry Hole aus Oslo, Norge, Sir.«
»Setzen Sie sich, Holy. Sie sehen verdammt wach aus, so früh am Morgen. Ich hoffe, Sie haben nicht bereits Kontakt zu unseren Junkies aufgenommen?« Neil McCormack lachte herzlich.
»Jetlag. Seit vier Uhr heute nacht bin ich hellwach, Sir«, erklärte Harry.
»Natürlich. Nur ein kleiner Witz von mir. Wir hatten hier vor ein paar Jahren einen recht schwerwiegenden Korruptionsfall, verstehen Sie. Zehn Polizisten wurden verurteilt, unter anderem, weil sie Drogen verkauft hatten, untereinander. Der Verdacht kam damals auf, weil einige von ihnen so unbeschreiblich wach waren – den ganzen Tag über. Eigentlich sollte man darüber keine Witze machen«, brummte er gutmütig, setzte seine Brille auf und blätterte in den Papieren, die vor ihm auf dem Tisch lagen.
»Sie sind also hierher beordert worden, um uns bei den Untersuchungen im Mordfall Inger Holter, norwegische Staatsbürgerin mit Arbeitsvisum für Australien, zu unterstützen. Ein blondes, hübsches Mädchen, jedenfalls den Bildern nach. Dreiundzwanzig Jahre, nicht wahr?«
Harry nickte. McCormack war jetzt vollkommen ernst.
»Sie wurde von Fischern am Strand der Watson Bay gefunden, genauer gesagt, unterhalb des Gap Parks. Fast nackt, allen Anzeichen nach ist sie zuerst vergewaltigt und dann erwürgt worden, es gibt aber keine Spermaspuren. Dann hat man sie im Dunkel der Nacht in den Park gebracht und die Steilküste hinuntergeworfen.«
Er schnitt eine Grimasse.
»Bei etwas schlechterem Wetter wäre sie sicher von den Wellen erfaßt worden, so aber blieb sie zwischen den Steinen liegen, bis sie am nächsten Morgen gefunden wurde. Wir haben, wie gesagt, keine Spuren von Sperma. Der Täter hat ihre Scheide wie ein Fischfilet aufgeschnitten, und das Meerwasser hat dieses Mädchen gründlich ausgewaschen. Deshalb gibt es auch keine Fingerabdrücke, aber wir haben den ungefähren Todeszeitpunkt« – McCormack nahm seine Brille ab und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht – »und uns fehlt ein Mörder. Und was zum Teufel wollen Sie jetzt machen, Mr. Holy?«
Harry wollte etwas antworten, doch McCormack fuhr ihm ins Wort: »Doch, doch, ich weiß schon, was Sie sich vorgenommen haben: dabei zu sein, wenn wir diesen Bastard einlochen und der norwegischen Presse Bericht erstatten, wie ausgezeichnet die Zusammenarbeit funktioniert. Natürlich passen Sie auch darauf auf, daß niemandem in der Botschaft oder deren Umfeld zu nahe getreten wird, aber ansonsten gilt für Sie, ein wenig Urlaub zu machen und ein oder zwei Karten an Ihre reizende Polizeipräsidentin zu schicken. Wie geht es ihr übrigens?«
»Gut, gut, soweit ich weiß!«
»Eine tolle Frau. Sie hat Ihnen doch sicher auch erklärt, was hier von Ihnen erwartet wird.«
»In Grundzügen. Ich soll an den Untersuchungen mit-wir …«
»Wunderbar! Vergessen Sie das. Wir haben hier andere Regeln. Erstens: Von jetzt ab hören Sie auf mich, und nur auf mich. Zweitens: Sie beteiligen sich an nichts, um das ich Sie nicht vorher ausdrücklich gebeten habe. Und drittens: Ein Fehler und ich setze Sie ins erstbeste Flugzeug zurück nach Hause.«
All das sagte McCormack mit einem Lächeln, doch die Botschaft war klar: Finger weg! Er war hier nur Zuschauer. Ebensogut hätte er Badehose und Fotoapparat einpacken können.
»Soweit ich das verstanden habe, war Inger Holter irgendeine bekannte Persönlichkeit des norwegischen Fernsehens?«
»Mehr oder weniger, Sir. Sie hat vor ein paar Jahren eine Jugendsendung moderiert. Bevor der Mord geschah, war man gerade dabei, sie zu vergessen.«
»Ja, ich habe gehört, daß Ihre Zeitungen eine große Sache aus diesem Mordfall machen. Einige haben sogar ihre Reporter hergeschickt. Wir haben ihnen gegeben, was wir haben, aber das ist ja nicht allzuviel, und ich denke, daß sie es bald leid sein werden und die Heimreise antreten. Sie wissen nichts davon, daß Sie hier sind. Wir haben unsere eigenen Kindermädchen, die sich um so etwas kümmern, darüber brauchen Sie sich also keine Gedanken zu machen.«
»Danke, Sir«, sagte Harry aus tiefster Seele. Der Gedanke, übereifrige norwegische Journalisten im Schlepptau zu haben, war alles andere als verlockend.
»Okay, Holy, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Mein Vorgesetzter hat mir ganz klar zu verstehen gegeben, daß die Repräsentanten der Stadt Sydney sehr großes Interesse daran haben, daß diese Sache so schnell wie möglich aufgeklärt wird. Wie gewöhnlich dreht es sich dabei um Politik und Wirtschaft.«
»Wirtschaft?«
»Nun, wir rechnen damit, daß die Arbeitslosigkeit in Sydney in diesem Jahr auf über zehn Prozent ansteigen wird, die Stadt braucht jeden Dollar aus dem Fremdenverkehr. Im Jahr 2000 steht die Olympiade vor der Tür, und es kommen immer mehr Reisende aus Skandinavien. Da sind Morde, speziell unaufgeklärte Morde, eine schlechte Reklame. Deshalb tun wir, was wir können, wir haben ein Team von vier Ermittlern, die an der Sache arbeiten, und Priorität, was die Einrichtungen hier im Haus angeht – Datennetze, kriminaltechnisches Personal, Laboranten und so weiter.«
McCormack zog einen Zettel hervor und warf mit gerunzelter Stirn einen langen Blick darauf.
»Eigentlich sollten Sie Wadkins begleiten, aber da Sie explizit darum gebeten haben, mit Kensington zu arbeiten, sehe ich keinen Grund, Ihnen das abzuschlagen.«
»Sir, soweit ich weiß, habe ich nicht …«
»Kensington ist ein guter Mann. Nicht viele der Ureinwohner bringen es so weit wie er.«
»Wirklich?«
McCormack zuckte mit den Schultern.
»Es ist eben so. Gut, Holy, wenn es etwas gibt, Sie wissen ja jetzt, wo Sie mich finden. Noch Fragen?«
»Äh, nur eine kleine Formsache, Sir. Ich frage mich, ob Sir hier bei Ihnen die richtige Anrede für einen Vorgesetzten ist oder ob das vielleicht ein wenig zu …?«
»Formell, steif ist? Ja, das ist es wohl. Aber mir gefällt's. Das erinnert mich daran, daß ich hier in diesem Laden wirklich der Chef bin.« McCormack brüllte vor Lachen und beschloß die Begegnung mit einem saftigen Händedruck.
»Im Januar ist in Australien Hochsaison«, erklärte Andrew, während sie sich durch den dichten Verkehr am Circular Quay schoben.
»Die kommen alle, um sich das Opernhaus anzuschauen, eine Hafenrundfahrt zu machen und dann noch einen Blick auf die Mädchen am Bondi Beach zu werfen. Schade, daß du arbeiten mußt.«
Harry zuckte mit den Schultern.
»Das ist schon in Ordnung. In diesen Touristenfallen krieg ich doch nur Schweißausbrüche und Wutanfälle.«
Sie bogen in die New South Head Road ein, und der Toyota beschleunigte hastig in östlicher Richtung auf die Watson Bay zu.
»Der Osten von Sydney ist nicht gerade der Osten von London«, erklärte Andrew, während sie eine noble Villa nach der anderen passierten. »Diese Gegend hier heißt Double Bay. Wir nennen sie Double Pay.«
»Wo hat Inger Holter gewohnt?«
»Sie wohnte eine Weile zusammen mit ihrem Freund in Newtown, doch nachdem sie sich getrennt hatten, zog sie in ein kleines Einzimmerappartment in Glebe.«
»Freund?«
Andrew zuckte mit den Schultern.
»Er ist Australier, Computerfachmann. Kennengelernt hat er sie, als sie vor zwei Jahren hier Urlaub machte. Er hat ein Alibi für die Mordnacht, und außerdem ist er wirklich nicht der Prototyp eines Mörders. But ya never know, do ya?«
Sie parkten den Wagen vor dem Eingang zum Gap Park, einer der zahlreichen grünen Lungen von Sydney. Steile Steintreppen führten zu dem windumtosten Park hinauf, der hoch über der Watson Bay im Norden und dem Stillen Ozean im Osten lag. Die Hitze schlug ihnen entgegen, als sie die Autotüren öffneten. Andrew setzte ein große Sonnenbrille auf, die Harry an einen heimlichen Pornokönig erinnerte. Aus irgendeinem Grund trug sein australischer Kollege heute einen engen Anzug, und Harry fand, daß dem kräftigen schwarzen Mann, der die Treppe zum Aussichtspunkt hochkeuchte, etwas Komisches anhaftete.
»Das ist der Stille Ozean, Harry. Nächster Stop Neuseeland, circa zweitausend nasse Kilometer entfernt.«
Harry schaute sich um. Im Westen erblickte er das Zentrum mit der Hafenbrücke, im Norden den Strand und die Segelboote der Watson Bay und ganz hinten am Ende der Bucht die kleine, grüne Siedlung Manly. Richtung Osten krümmte sich der Horizont in einem Spektrum der unterschiedlichsten Blautöne. Die Klippen vor ihnen fielen senkrecht ab, und weit dort unten beendeten die Wellen ihre lange Reise in einem gewaltigen Crescendo zwischen den Steinen.
»Okay, Harry, jetzt stehst du auf historischem Boden«, sagte Andrew. »1788 schickten die Engländer das erste Boot mit Strafgefangenen nach Australien. Sie wollten sich in der Botany Bay, etwas weiter südlich von hier, ansiedeln, doch glücklich angekommen, meinte der gute Kapitän Philipp, daß die Landschaft dort zu karg sei, und er schickte ein kleines Boot nach Norden an der Küste entlang, um nach etwas Besserem Ausschau zu halten. Das Boot umrundete die Landzunge, auf der wir jetzt stehen, und fand den besten Hafen der Welt. Etwas später kam Kapitän Philipp mit dem Rest der Flotte; elf Schiffe, 750 Strafgefangene, Frauen und Männer, 400 Seeleute, vier Marinekompanien und Verpflegung für zwei Jahre. Aber dieses Land ist schwieriger als es aussieht, es gelang den Engländern nicht, die Natur so zu nutzen, wie es die Aborigines im Laufe der Jahre gelernt hatten. Als zweieinhalb Jahre später das nächste Versorgungsschiff anlegte, waren die Engländer drauf und dran, zu verhungern.«
»Es sieht so aus, als wenn es mit der Zeit besser geworden wäre.« Harry nickte in Richtung der grünen Hügel von Sydney und spürte, wie ein Schweißtropfen zwischen seinen Schulterblättern herabrann. Die Wärme ließ ihn eine Gänsehaut bekommen.
»Für die Engländer trifft das wohl zu«, sagte Andrew und spuckte über die Kante der Steilküste. Sie folgten der Spucke mit den Augen, bis sie sich im Wind auflöste.
»Sie kann froh sein, daß es ihr erspart blieb, den Sturz mitzuerleben«, sagte er. »Sie muß beim Herabstürzen an die Klippen geschlagen sein, es waren Fleischfetzen aus ihrem Körper gerissen, als man sie fand.«
»Wie lange war sie schon tot?«
Andrew schnitt eine Grimasse. »Der Polizeiarzt sagt 48 Stunden. Aber der …«
Er legte die Spitze seines Daumens an den Mund. Harry nickte. Der Polizeiarzt schien eine durstige Seele zu sein.
»Und du wirst skeptisch, wenn die Zahlen zu rund sind?«
»Sie wurde Freitagmorgen gefunden, laß uns also davon ausgehen, daß sie im Laufe der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag starb.«
»Gab es Spuren?«
»Wie du siehst, können die Autos direkt hier unten parken, die Gegend ist nachts nicht beleuchtet und ziemlich verlassen. Es gibt keine Zeugenaussagen, und ehrlich gesagt erwarten wir auch keine.«
»Also, was machen wir jetzt?«
»Jetzt tun wir, was mir der Chef befohlen hat. Wir gehen in ein Restaurant und hauen etwas vom staatlichen Repräsentationsbudget auf den Kopf. Du bist trotz allem der höchste Repräsentant der norwegischen Polizei in einem Umkreis von über zweitausend Kilometern. Mindestens.«
Andrew und Harry saßen an einem feierlich weiß gedeckten Tisch. Das Fischrestaurant Doyle's lag ganz unten an der Watson Bay. Nur ein schmaler Sandstrand trennte es vom Meer.
»Fast schon kitschig, nicht wahr«, meinte Andrew.
»Die ideale Postkarte.« Ein kleiner Junge und ein Mädchen bauten am Strand direkt vor ihnen Sandburgen. Dahinter lag die azurblaue Meeresbucht, dann fruchtbare grüne Hügel und etwas weiter entfernt die stolze Skyline von Sydney.
Harry bestellte Kammuscheln und tasmanische Forelle, Andrew eine australische Flunder, von der Harry vermutlich noch nie zuvor gehört hatte. Andrew bat um eine Flasche Chardonnay Rosemount, »völlig unpassend zu diesem Essen, aber der ist weiß und gut und liegt genau im Rahmen des Budgets.« Er sah reichlich überrascht aus, als Harry sagte, er trinke keinen Alkohol.
»Quäker?«
»Nein, damit hat das nichts zu tun«, erwiderte er. Doyle's sei ein alter Familienbetrieb und gelte als eines der besten Fischrestaurants in Sydney, erklärte Andrew. Es war Hochsaison, und alle Tische waren besetzt. Harry wunderte sich deshalb nicht, daß der Kellner sie warten ließ.
»Die Kellner sind hier wie der Planet Pluto«, brummte Andrew wütend. »Kreisen an der Peripherie herum und tauchen nur jedes zwanzigste Jahr im Zentrum auf, und selbst dann sind sie mit bloßem Auge nicht zu erkennen.«
Harry konnte sich beim besten Willen nicht darüber aufregen und lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer zurück.
»Aber die haben gutes Essen«, sagte er. »Das ist also der Grund für deinen Anzug.«
»Sowohl als auch. Du siehst ja, daß es hier nicht sonderlich formell ist. Aber ich habe gute Erfahrungen gemacht, an solchen Orten nicht in Jeans und T-Shirt zu erscheinen. Ich muß mein Äußeres ein bißchen kompensieren.«
»Wie meinst du das?«
Andrew blickte Harry in die Augen.
»Aborigines haben in diesem Land keinen besonders hohen Status, das hast du ja vielleicht schon gemerkt. Schon ganz früh schrieben die Engländer in den Briefen nach Hause, daß die Eingeborenen eine Schwäche für Alkohol und Diebstahl hätten«, erzählte er. Harry hörte ihm interessiert zu.
»Sie meinten, das sei in ihren Genen so angelegt. Das einzige, zu dem sie taugen, ist eine Art Höllenmusik zu machen, indem sie in lange hohle Holzstücke blasen, die sie Didgeridoo nennen, schrieb einer von ihnen. Nun, Australien ist ein Land, das sich damit brüstet, viele Kulturen erfolgreich zu einer funktionierenden Gemeinschaft vereint zu haben. Aber für wen? Das Problem oder der Vorteil, je nachdem wie du das siehst, ist die Tatsache, daß man die Eingeborenen überhaupt nicht mehr wahrnimmt.
Die Aborigines nehmen an dem gesellschaftlichen Leben in Australien so gut wie nicht teil, abgesehen von politischen Debatten, in denen es um besondere Interessen oder die Kultur der Aborigines geht. Die Australier kaufen sich frei, indem sie Aboriginekunst in ihren Häusern aufhängen. Auf der anderen Seite sind die Aborigines verdammt gut in den Schlangen beim Sozialamt, in den Selbstmordstatistiken und in den Gefängnissen vertreten. Wenn du Aborigine bist, sind die Chancen, im Gefängnis zu landen, sechsundzwanzigmal größer als bei einem Australier. Denk darüber nach, Harry Hole.«
Andrew trank den Rest des Weins, während Harry nachdachte. Auch darüber, daß er gerade wahrscheinlich das beste Fischgericht seines zweiunddreißigjährigen Lebens gegessen hatte.
»Und trotzdem ist Australien nicht rassistischer als andere Länder, wir sind ja eine multikulturelle Nation mit Menschen aus der ganzen Welt. Das bedeutet nur, daß es sich lohnt, einen Anzug anzuziehen, wenn man in ein Restaurant geht.«
Harry nickte wieder. Es gab dazu nichts mehr zu sagen.
»Inger Holter arbeitete in einer Bar?«
»Ja, natürlich. The Albury in der Oxford Street in Paddington. Ich dachte, wir könnten da heute abend hingehen.«
»Warum nicht jetzt gleich?« Harry bemerkte, daß ihn die Langsamkeit immer unruhiger werden ließ.
»Weil wir zuerst einmal dem Vermieter einen Besuch abstatten sollten.«
Pluto tauchte ohne Vorwarnung am Sternenhimmel auf.
Glebe Point Road erwies sich als eine angenehme, nicht allzu stark befahrene Straße, die zu beiden Seiten von ethnisch geprägten Restaurants aller Herren Länder gesäumt war.
»Das war früher Sydneys Bohemeviertel«, erzählte Andrew. »Ich habe hier in der Gegend in den siebziger Jahren gewohnt. Während meines Studiums. Es gibt noch immer die typischen vegetarischen Restaurants für Umweltschützer und Alternative, lesbische Buchläden und all das Zeugs. Aber die alten Hippies und Freaks sind verschwunden. Seit Glebe in ist, sind die Mieten in die Höhe geschossen, und ich könnte es mir jetzt auch mit meinem Polizeilohn kaum mehr leisten, hier zu wohnen.«
Sie bogen nach rechts in die Hereford Street ein, parkten das Auto und gingen in die Einfahrt von Nummer 54. Ein kleines, schwarzes, zottiges Tier kam kläffend auf sie zu und entblößte eine Reihe spitzer, scharfer Zähne. Das winzige Monster sah richtig wütend aus und hatte verblüffende Ähnlichkeit mit einem Bild des tasmanischen Teufels in der Touristenbroschüre. ›Aggressiv und höchst unerfreulich, wenn man es an der Kehle hängen hat‹, hieß es dort. Die Art war beinahe ausgerottet, und Harry hoffte, daß das wirklich stimmte. Als dieses Exemplar mit weit geöffnetem Rachen an ihm hochspringen wollte, hob Andrew seinen Fuß und beförderte das kreischende Wesen mit einem glatten Volley in den Busch am Zaun.
Ein dickbäuchiger Mann, der aussah, als sei er gerade erst aufgestanden, stand mit säuerlicher Miene in der Tür, als sie die Treppe emporstiegen: »Wo ist der Hund?«
»Der bewundert die Rosen«, grinste ihn Andrew vielsagend an. »Wir kommen von der Polizei, Mordkommission. Mr. Robertson?«
»Jaja, jaja. Was wollen Sie denn jetzt schon wieder? Ich habe doch schon gesagt, daß ich schon alles gesagt habe, was ich weiß.«
»Und jetzt haben Sie gesagt, daß Sie gesagt haben, daß Sie schon alles …« Es entstand eine lange Pause, während Andrew unverändert lächelte und Harry sein Gewicht von dem linken auf den rechten Fuß verlagerte.
»Tut mir leid, Mr. Robertson, wir haben nicht vor, Sie länger als nötig mit unserem Charme gefangenzunehmen, aber dieser Mann hier ist Inger Holters Bruder, und er würde gerne ihr Zimmer sehen, wenn Ihnen das nicht zu viele Umstände macht.«
Robertsons Haltung änderte sich schlagartig.
»Oh, entschuldigen Sie, ich hatte ja keine Ahnung … kommen Sie herein!« Er schob die Tür weit auf und ging vor ihnen die Treppe hoch.
»Ja, ich wußte ja nicht einmal, daß Inger einen Bruder hatte. Aber jetzt, wo Sie es sagen, die Ähnlichkeit der Geschwister ist wirklich verblüffend.«
Hinter ihm drehte sich Harry zu Andrew um und verdrehte die Augen.
Es war kein Versuch unternommen worden, Ingers Zimmer aufzuräumen. Überall lagen Kleider herum. Zeitschriften, volle Aschenbecher und leere Weinflaschen.
»Äh, die Polizei bat mich, erst einmal nichts anzurühren.«
»Ist schon klar.«
»Sie kam einfach eines Abends nicht nach Hause. War plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.«
»Danke, Mr. Robertson, wir haben Ihre Aussage gelesen.«
»Ich habe ihr gesagt, daß sie nachts nicht über die Bridge Road und am Fischmarkt vorbeigehen soll. Es ist total dunkel dort, und es wimmelt nur so von Schwarzen und Gelben …« Entsetzt blickte er auf Andrew Kensington: »Entschuldigen Sie, ich hab das nicht so gemeint …!«
»Ist schon okay. Sie können jetzt gehen, Mr. Robertson.«
Robertson schlurfte die Treppe hinunter. Kurz darauf hörten sie aus der Küche das Geklimper von Flaschen.
Ingers Zimmereinrichtung bestand aus einem Bett, ein paar Regalen und einem Schreibtisch. Harry ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und versuchte sich einen Eindruck von Inger Holter zu machen. Transposition: sich in die Rolle des Opfers zu versetzen. Er erinnerte sich nur noch dunkel an das irgendwie burschikose Mädchen auf dem Bildschirm mit ihrem gutgemeinten, jugendlichen Engagement und dem unschuldigen Blick.
Sie gehörte ganz offensichtlich nicht zu diesen hyperhäuslichen Frauen, die ihre ganze freie Zeit dafür nutzten, an ihrem Nest zu bauen. Abgesehen von einem Kinoplakat, Braveheart mit Mel Gibson, und einem kleinen, mit einer Nadel festgesteckten Foto hingen an den Wänden keine Bilder. Harry erinnerte sich an den Streifen nur noch, weil dieser aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen einen Oscar als bester Film erhalten hatte. Na ja, dachte er, sie hatte also, was Filme anging, einen schlechten Geschmack. Und auch was Männer betraf. Er selbst gehörte zu denjenigen, die sich persönlich beleidigt fühlten, als sich Mad Max zum Hollywood-Sternchen mauserte.
Das Foto zeigte Inger auf einer Bank vor einer bunten, westernartigen Hausfassade, umringt von einer Gruppe langhaariger, bärtiger Jugendlicher. Sie trug ein weites, violettes Kleid. Das blonde Haar hing glatt an beiden Seiten des ernsten Gesichtes herab. Der junge Mann, dessen Hand sie hielt, hatte ein kleines Baby auf dem Schoß.
Im Regal lagen ein Päckchen Tabak, ein paar Bücher über Astrologie und eine grobgeschnitzte Holzmaske mit einer langen, schnabelartig nach unten gebogenen Nase. Harry drehte die Maske um. Made in Papua New Guinea stand auf dem Preisschild.
Diejenigen Kleider, die nicht auf dem Boden oder auf dem Bett lagen, hingen in einem kleinen Kleiderschrank. Es war nicht viel. Ein paar Baumwolltops, ein abgenutzter Mantel und ein großer Strohhut auf der Hutablage.
Andrew kramte aus der Schreibtischschublade ein Päckchen Zigarettenpapier hervor.
»King Size Smoking Slim. Sie hat sich ein paar dicke Zigaretten gedreht.«
»Habt ihr Drogen gefunden?« fragte Harry.
Andrew schüttelte den Kopf und zeigte auf das Zigarettenpapier.
»Aber ich glaube, daß wir Spuren von Cannabis gefunden hätten, wenn wir die Aschenbecher genauer untersucht hätten.«
»Warum wurde nichts unternommen? War die Spurensicherung nicht hier?«
»Erstens gibt es keine Anzeichen dafür, daß das hier der Tatort ist. Zweitens ist das Rauchen von Marihuana nichts Besonderes. Hier in New South Wales haben wir eine etwas pragmatischere Einstellung gegenüber Marihuana als in manchen anderen Teilstaaten von Australien. Ich kann nicht ausschließen, daß der Mord etwas mit Drogen zu tun hat, aber ein oder zwei Joints sind in diesem Zusammenhang wohl eher unbedeutend. Ob sie andere Sachen genommen hat, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Im Albury kursieren allerhand Designerdrogen, aber niemand, mit dem wir gesprochen haben, hat irgendwelche Andeutungen gemacht, und auch die Blutuntersuchung hat nichts ergeben. Harte Drogen hat sie jedenfalls keine genommen. Sie hatte keine Einstiche, und im eigentlichen harten Milieu kennen wir uns ganz gut aus.«
Harry schaute ihn an. Andrew räusperte sich.
»Das ist jedenfalls die offizielle Version. Hier ist übrigens eine Sache, bei der du uns, wie sie meinten, vielleicht helfen könntest.«
Es war ein auf norwegisch geschriebener Brief. Er begann mit Liebe Elisabeth, war aber ganz offensichtlich nicht zu Ende geschrieben worden. Harry überflog die Seite:
O ja, es geht mir wirklich gut, und was noch viel wichtiger ist: Ich bin verliebt! Natürlich ist er schön wie ein griechischer Gott, mit langen lockigen, dunklen Haaren, einem kleinen Knackarsch und einem Blick, der dir all das zeigt, was er dir gerade zugeflüstert hat: Daß er dich haben will – jetzt sofort – hinter der nächsten Hausecke, auf der Toilette, auf dem Tisch, auf dem Boden, wo auch immer. Er heißt Evans, ist 32 Jahre alt, ist (welch Überraschung) schon einmal verheiratet gewesen und hat einen süßen, kleinen, eineinhalbjährigen Jungen, der Tom-Tom heißt. Im Moment hat er keinen richtigen Job, sondern arbeitet mehr für sich selbst.
Ja, ja, ich weiß, Du ahnst schon wieder Schwierigkeiten und ich verspreche Dir, mich nicht hineinreißen zu lassen. Jedenfalls vorläufig nicht.
Genug von Evans. Ich arbeite noch immer im Albury. ›Mr. Bean‹ hat endlich aufgehört, mich einzuladen, nachdem Evans einmal abends in der Bar war, und das ist in jedem fall ein Fortschritt. Aber er verfolgt mich noch immer mit seinem klebrigen Blick. Shit! Eigentlich habe ich den Job langsam satt, aber ich sollte noch so lange weitermachen, bis meine Aufenthaltsgenehmigung verlängert worden ist. Ich habe mit dem norwegischen Fernsehen gesprochen. Man plant für nächsten Herbst eine Fortsetzung der Serie, und es gibt wohl Möglichkeiten, daß ich mitmachen kann, wenn ich will. Decisions, decisions!
An dieser Stelle brach der Brief ab, ohne Unterschrift oder sonst ein Zeichen.
Als sie gingen, reichte Harry Robertson zum Dank die Hand, und daraufhin verbeugte sich Robertson und bekundete sein Beileid. Inger sei ein feines Mädchen und eine vortreffliche Mieterin gewesen, ja ein wahrer Stolz für das ganze Haus, wenn nicht sogar die ganze Nachbarschaft. Aber was wüßte er denn schon?
Er roch nach Bier, und auch seine Aussprache war nicht mehr ganz deutlich. Als sie aus dem Haus traten, hörten sie unter dem Rosenbusch ein Fiepen. Ein paar ängstliche Augen lugten hervor.
Sie bekamen einen Tisch in einem engen vietnamesischen Restaurant in Darling Harbour, wo sich außer ihnen fast ausschließlich Asiaten befanden. Die meisten von ihnen schienen Stammgäste zu sein. Sie führten unverständliche Gespräche mit dem Kellner in einem merkwürdigen Tonfall, der ganz plötzlich und unvorhersehbar ansteigen und abfallen konnte.
»Das hört sich so an, als wenn die in gewissen Abständen Helium inhalieren würden, richtige Donald-Duck-Stimmen«, meinte Harry.
»Magst du keine Asiaten?« fragte Andrew.
Harry zuckte mit den Schultern. »Mögen oder nicht mögen! Ich kenne keine. Ich habe keinen Grund, sie nicht zu mögen, um es so zu sagen. Es scheinen ehrliche und hart arbeitende Menschen zu sein. Und du?«
»Viele Asiaten wollen nach Australien, und vielen hier gefällt das nicht. Ich habe gegen niemanden etwas. Sollen sie doch kommen, sage ich immer.«
Zwischen den Zeilen schien Harry da etwas herauszuhören wie: Es ist ohnehin zu spät, mein Volk hat sein Land bereits verloren.
»Vor ein paar Jahren war es für einen Asiaten fast vollkommen unmöglich, eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Die Regierung wollte das Land möglichst weiß halten. Alles unter dem Vorwand, große kulturelle Konflikte vermeiden zu wollen. Die Erfahrungen bei der Integration der Aborigines seien ja, vorsichtig ausgedrückt, nicht sonderlich positiv. Aber dann boten die Japaner an, Australien finanziell unter die Arme zu greifen, und plötzlich wurde eine ganz andere Musik gespielt. Da hieß es auf einmal, man müsse aufpassen, sich nicht zu isolieren, und daß man berücksichtigen müsse, daß Asien unser nächster Nachbar sei und die Wirtschaftsverbindungen zu einem Land wie Japan mittlerweile wichtiger seien als zu Europa oder den USA. Also durften japanische Konzerne ihre Touristenburgen an der Gold Coast Richtung Brisbane errichten und japanische Manager, Köche und Empfangspersonal zu uns herüberbringen, während die Australier als Stubenmädchen oder Piccolos arbeiten durften. Früher oder später gibt es auf so etwas eine Reaktion. Niemand mag es, in seinem eigenen Land Schuhputzer zu werden.«
»Und das gilt auch für dein Volk, denke ich.«
Andrew lächelte gequält.
»Die Europäer haben den Aborigines nie irgendein Gesuch um Aufenthaltsbewilligung vorgelegt.«
Harry blickte auf die Uhr. Es dauerte noch ein paar Stunden bis das Albury aufmachte.
»Du möchtest vielleicht erst noch einmal nach Hause?« fragte er.
Andrew schüttelte den Kopf. »Dort begegne ich zur Zeit auch niemand anderem als mir.«
»Zur Zeit?«
»Tja, die letzten zehn Jahre. Ich bin geschieden. Meine Frau wohnt mit den Kindern in Newcastle. Ich versuche sie so oft wie möglich zu besuchen, aber das ist ein gutes Stück entfernt, und die Mädchen sind bald so groß, daß sie am Wochenende eigene Pläne haben. Bald wird mir wohl bewußt werden, daß ich nicht mehr der einzige Mann in ihrem Leben bin. Weißt du, es sind hübsche, kleine Teufel. Vierzehn und fünfzehn Jahre alt. Verdammt, ich sollte all die Köter, die sich vor ihrer Tür herumtreiben, zum Teufel jagen!«
Andrew grinste breit. Harry konnte nicht anders, ihm gefiel dieser plötzliche Ausbruch seines Kollegen.
»Well, that's the way it goes, Andrew.«
»That's right, mate. How 'bout you?«
»Nun, keine Frau, keine Kinder. Kein Hund. – Das einzige, was ich habe, ist eine Chefin, ein Vater und ein paar Typen, die ich noch immer Freunde nenne, auch wenn zwischen ihren Anrufen Jahre vergehen. Oder ich anrufe.«
»In dieser Reihenfolge?«
»In dieser Reihenfolge.« Sie lachten, blieben an dem Tisch sitzen und betrachteten die einsetzende nachmittägliche Rushhour. Andrew bestellte noch ein Victoria Bitter. Aus den Geschäften und Banken strömten die Menschen; grauhaarige Griechen mit Adlernasen, bebrillte Asiaten in dunklen Anzügen, Holländer und langnasige, rothaarige Mädchen, die zweifellos britischer Abstammung waren. Alle rannten sie, um den Bus nach Paramatta oder die U-Bahn nach Bondi Junction zu erreichen. Geschäftsleute in kurzen Hosen – ein typisch australisches Phänomen, wußte Andrew zu erzählen – hasteten zu den Kaianlagen, zu den Fähren in die Vorstädte auf der nördlichen Seite der Port Jackson-Bucht.
»Was machen wir jetzt?« fragte Harry.
»Wir gehen in den Zirkus! Das ist gleich hier oben in der Straße, und ich habe einem Freund versprochen, daß ich mal vorbeischaue. Und heute ist es soweit, oder?«
Im Powerhouse hatte eine kleine Zirkustruppe bereits ihre Gratisvorstellung am Nachmittag für ein nicht gerade zahlreiches, aber enthusiastisches junges Publikum begonnen. Das Gebäude war früher ein Kraftwerk gewesen, und später, als in Sydney noch die Straßenbahnen fuhren, eine Halle für Straßenbahnen. Jetzt diente es als eine Art zeitgenössisches technisches Museum. Ein paar durchtrainierte Frauen hatten gerade eine nicht sonderlich aufsehenerregende Trapeznummer beendet, trotzdem war der Beifall wohlwollend laut.
Ein Clown betrat die Manege, in die gleichzeitig eine wuchtige, riesige Guillotine geschoben wurde. Er trug eine bunte Uniform und eine gestreifte Mütze, was alles auf die Französische Revolution hindeuten sollte. Er stolperte und machte zur großen Freude der Kinder allerhand Unsinn. Dann erschien ein zweiter Clown mit langer weißer Perücke, und Harry erkannte, daß dieser Ludwig XVI. verkörpern sollte.
»Mit einer Stimme Mehrheit zum Tode verurteilt«, verkündete der Clown mit der gestreiften Mütze.
Der Verurteilte wurde zum Schafott geführt, wo sein Kopf – noch immer zur großen Begeisterung der Kinder – unter viel Ach und Weh schließlich auf der Guillotine, unter dem Fallbeil, plaziert wurde. Ein kurzer Trommelwirbel ertönte, das Beil ratterte zur Überraschung aller – Harry eingeschlossen – herab, trennte das Haupt des Monarchen mit einem Geräusch ab, das an winterliche Axtschläge im Wald erinnerte, und der Kopf löste sich mitsamt Perücke vom Körper und kugelte in einen Korb. Das Licht ging aus, und als es wieder eingeschaltet wurde, stand der kopflose König, seinen eigenen Kopf unter dem Arm, im Rampenlicht mitten in der Manege. Der Jubel der Kinder wollte kein Ende nehmen. Dann ging das Licht erneut aus, und als es zum zweiten Mal angeschaltet wurde, stand die gesamte Truppe da und verbeugte sich. Die Vorstellung war beendet.
Während die Besucher dem Ausgang entgegenströmten, gingen Andrew und Harry hinter die Bühne. In der provisorischen Garderobe zogen die Artisten bereits ihre Kostüme aus und schminkten sich ab.
»Otto, ich möchte dir einen Freund aus Norwegen vorstellen!« rief Andrew.
Ein Gesicht drehte sich um. Ludwig XVI. sah ohne Perücke und mit verschmierter Schminke deutlich weniger majestätisch aus: »Tuka The Indian!«
»Harry, das ist Otto Rechtnagel.«
Otto hielt ihm standesgemäß die Hand mit leicht abgewinkeltem Handgelenk entgegen und schien etwas beleidigt zu sein, als Harry sich, leicht verwirrt, damit begnügte, diese schwach zu drücken.
»No kiss, handsome?«
»Otto fühlt sich als Frau. Eine Frau adeliger Abstammung«, erklärte Andrew.
»Alles nur Unsinn, Tuka. Otto weiß nur zu gut, daß er ein Mann ist. Sie sehen verwirrt aus, junger Mann? Vielleicht wollen Sie sich selbst davon überzeugen?« Ottos Lachen war wie ein hoher Triller.
Harry spürte, wie seine Ohren heiß wurden. Ein paar falsche Augenwimpern flatterten Andrew vorwurfsvoll entgegen: »Redet er auch, dein Freund?«
»Entschuldigung, ich heiße … Harry … äh … Holy. War 'ne tolle Vorstellung da draußen. Schöne Kostüme. Sehr … lebendig. Ungewöhnlich.«
»Die Ludwig XVI.-Nummer? Ungewöhnlich? Ganz im Gegenteil. Das ist ein alter Klassiker. Er wurde zum ersten Mal von der Clownsfamilie Jandaschewsky in Szene gesetzt, und das war gerade einmal zwei Wochen nach der wirklichen Hinrichtung im Januar 1793. Die Menschen liebten es. Öffentliche Hinrichtungen waren schon immer sehr beliebt. Wissen Sie, wie viele Wiederholungen des Kennedy-Attentats jedes Jahr von amerikanischen Fernsehsendern ausgestrahlt werden?«
Harry schüttelte den Kopf.
Otto schaute nachdenklich an die Decke.
»Sehr viele.«
»Otto fühlt sich als Nachkomme des großen Jandy Jandaschewsky«, erklärte Andrew.
»Is that so?« Berühmte Clowns waren nicht gerade Harrys Fachgebiet.
»Ich glaube, dein Freund kennt sich da nicht sonderlich aus, Tuka. Die Jandaschewsky-Familie war eine herumreisende Truppe von musizierenden Clowns, die um die Jahrhundertwende nach Australien kamen und sich hier niederließen. Sie gaben Zirkusvorstellungen bis 1971, als Jandy starb. Ich habe Jandy das erste Mal gesehen, als ich sechs Jahre alt war. Von da an wußte ich, was ich einmal werden wollte. Und das bin ich jetzt.«
Otto warf ihm durch die angetrocknete Schminke ein trauriges Clownslächeln zu.
»Woher kennt ihr beiden euch?« fragte Harry. Otto und Andrew warfen sich schnelle Blicke zu. Harry sah das Zucken im Mundwinkel und begriff, daß er ein schwieriges Terrain betreten hatte.
»Ich meine nur … ein Polizist und ein Clown … das ist ja nicht gerade …«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Andrew. »Man kann wohl sagen, daß wir zusammen aufwuchsen. Otto hätte wohl seine Mutter verkauft für ein Stück von meinem Arsch, aber ich habe schon in ganz jungen Jahren einen merkwürdigen Hang zu den Mädchen und diesen ekligen Hetero-Spielchen verspürt. Das muß was mit Vererbung und Milieu zu tun haben, oder was glaubst du, Otto?«
Andrew kicherte vor sich hin, wobei er der Ohrfeige auswich, die Otto ihm verpassen wollte.
»Du hast doch keinen Stil, kein Geld, und dein Arsch wird viel zu hoch gelobt«, beklagte sich Otto. Harry schaute zu den anderen in der Truppe hinüber, aber das Auftreten von Andrew und Otto schien sie völlig kalt zu lassen. Eine der kräftigen Trapezdamen zwinkerte ihm aufmunternd zu.
»Harry und ich werden heute abend ins Albury gehen, kommst du mit?«
»Du weißt doch ganz genau, daß ich da nicht mehr hingehe, Tuka!« sagte Otto wütend.
»Du solltest langsam darüber hinweg sein, Otto, das Leben geht weiter.«
»Das Leben von allen anderen, meinst du. Meines hört hier auf, genau hier. Wenn die Liebe stirbt, sterbe ich.« Otto legte seine Hand entsprechend theatralisch auf seine Stirn.
»Wie du willst.«
»Außerdem muß ich erst nach Hause und Waldorf füttern. Geht Ihr nur, vielleicht komme ich etwas später.«
»See you soon«, sagte Harry und legte seine Lippen gelehrig auf Ottos ausgestreckte Hand.
»Looking forward to it, Harry Handsome.«
Die Sonne war untergegangen, als sie zur Oxford Street in Paddington hinauffuhren und das Auto am Rand eines kleinen Parks abstellten. »Green Park« stand auf einem Schild, doch das Gras war bräunlich verbrannt, und das einzig Grüne war ein kleiner Pavillon inmitten des Parks. Ein Mann, ein Aborigine, lag unter einem Baum im Gras. Seine Kleider waren zerrissen, und er war so dreckig, daß er eher grau als schwarz wirkte. Als er Andrew sah, hob er die Hand wie zum Gruß, aber Andrew ignorierte ihn.
Im Albury war es so voll, daß sie sich durch die Glastüren hineinschieben mußten. Dort blieb Harry ein paar Sekunden stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Kundschaft bestand aus einer farbenfrohen Mischung der unterschiedlichsten Typen, junge Männer waren dabei klar in der Überzahl: Langhaarige in verwaschenen Jeans, glattgescheitelte Yuppies in Anzügen, Künstler mit Spitzbärtchen und Vernissage-Bläschen in den Gläsern, schicke, surf-blonde Jüngelchen mit gewinnendem Lächeln und Motorrad- Freaks – oder the bikies, wie Andrew sie nannte – in schwarzen Lederkombis. Mitten im Lokal, hinter der eigentlichen Bar, war eine Show in vollem Gang. Langbeinige, halbnackte Frauen in purpurroten, tiefausgeschnittenen Tops hüpften herum und bewegten sich mit breiten, rotbemalten Lippen zu Gloria Gaynors »I will survive«. Die Mädchen wechselten sich ab, so daß diejenigen, die an der Vorführung nicht teilnahmen, die Gäste bedienten und ganz offensichtlich mit ihnen flirteten.
Harry kämpfte sich zum Tresen vor und bestellte.
»Coming up right away, Blondie«, sagte die Bedienung im Römerhelm mit tiefer Baßstimme und lächelte schelmisch.
»Sag mal, sind wir die einzigen Normalen in dieser Stadt?« fragte Harry, als er mit einem Bier und einem Glas Saft zurückkam.
»Nach San Francisco gibt es nirgendwo auf der Welt so viele Schwule wie in Sydney«, erklärte Andrew. »Die australische Landbevölkerung ist vor allem für ihre Toleranz gegenüber sexuell Andersdenkenden bekannt. Und wenn sich das Gerücht, daß es hier die größte Auswahl gibt, erst einmal richtig verbreitet hat, ist es ja kein Wunder, daß alle Homo-Bauernsöhne Australiens nach Sydney wollen. Und übrigens nicht nur aus Australien, jeden Tag strömen neue Schwule aus der ganzen Welt in die Stadt.«
Sie gingen zu einer anderen Bar am hinteren Ende des Lokals, wo Andrew einem Mädchen hinter dem Tresen etwas zurief. Sie hatte ihnen den Rücken zugedreht und die rotesten Haare, die Harry jemals gesehen hatte. Sie reichten ihr bis zu den Gesäßtaschen ihrer knackengen Jeans, doch verbargen sie nicht den geschmeidig- biegsamen Rücken und die harmonisch runden Hüften. Sie drehte sich um und lächelte sie mit einer Reihe strahlendweißer Zähne an. Ihr Gesicht war schmal und hübsch mit zwei azurblauen Augen und einer Unzahl Sommersprossen. Unverzeihliche Verschwendung, wenn das keine Frau ist, dachte Harry.
»Erinnern Sie sich an mich?« rief Andrew durch den dröhnenden Lärm der Siebziger-Jahre-Musik. »Ich war hier und habe nach Inger gefragt. Können wir reden?«
Die Rothaarige wurde ernst. Sie nickte, sagte einem der anderen Mädchen Bescheid und wies ihnen den Weg zu einem kleinen Pausenraum hinter der Küche.
»Any news about what happened?« fragte sie, und schon bei diesen wenigen Worten war Harry klar, daß sie vermutlich besser Schwedisch als Englisch sprach.
»Ich habe einmal einen alten Mann getroffen«, sagte Harry auf norwegisch. Sie schaute ihn überrascht an.
»Er war Kapitän auf einem Amazonasdampfer. Nach drei Worten von ihm auf portugiesisch wußte ich, daß er Schwede war. Er wohnte dort seit dreißig Jahren. Und ich kann nicht ein einziges Wort Portugiesisch.«
Die Rothaarige war zuerst perplex, doch dann mußte sie lachen. Ein trillerndes, klares Lachen, das Harry an irgendeinen seltenen Waldvogel erinnerte.
»Ist das wirklich so offensichtlich?« fragte sie auf schwedisch. Sie hatte eine tiefe, ruhige Stimme und sprach das »r« etwas im Hals.
»Der Tonfall«, erwiderte Harry. »Euren Tonfall werdet ihr niemals los.«
»Do you guys know each other?« fragte Andrew sie skeptisch.
Harry blickte die Rothaarige an.
»Nope«, gab sie zur Antwort.
Ist das nicht schade, dachte Harry insgeheim.
Die Rothaarige hieß Birgitta Enquist, war seit vier Jahren in Australien und arbeitete seit einem Jahr im Albury.
»Wir haben natürlich während der Arbeit miteinander geredet, aber ich hatte eigentlich keinen persönlichen Kontakt zu Inger, sie war die meiste Zeit für sich. Wir von der Bar unternehmen abends manchmal etwas, und hin und wieder tauchte sie dann auf, aber nur selten. Bevor sie hier anfing, hatte sie sich gerade von einem Typ in Newtown getrennt. Das einzig Persönliche, das ich von ihr weiß, ist, daß ihr diese Beziehung mit der Zeit zu eng geworden ist. Sie brauchte wohl neue Impulse.«
»Wissen Sie, mit wem sie zusammen war?«
»Eigentlich nicht. Wie gesagt, wir haben zwar miteinander geredet, aber sie hat mir nie richtig Einblick in ihr Leben gegeben. Ich habe auch nicht darum gebeten. Im Oktober ist sie einmal nach Queensland gefahren und hat dort wohl eine Gruppe aus Sydney getroffen, zu der sie seitdem Kontakt hatte. Ich glaube, sie hat dort oben einen Kerl kennengelernt, er war einmal abends hier. Aber das habe ich doch alles schon einmal erzählt«, sagte sie fragend.
»Ich weiß, liebe Miss Enquist, ich wollte nur, daß mein norwegischer Kollege das von Ihnen direkt hört und dabei auch zu sehen bekommt, wo Inger gearbeitet hat. Harry Hole gilt schließlich als Norwegens bester Ermittler, und es kann ja sein, daß wir von der Polizei in Sydney etwas übersehen haben, dem er gerne nachgehen möchte.«
Harry bekam einen kräftigen Hustenanfall.
»Wer ist Mr. Bean?« fragte er mit gequälter, fremd klingender Stimme.
»Mr. Bean?« Birgitta schaute ihn fragend an.
»Oder einer, der dem englischen Komiker … äh, Rowan Atkinson heißt der, glaube ich, ähnlich sieht.«
»Ah, Mr. Bean – ja«, sagte Birgitta und lachte wieder ihr Waldvogellachen. Das ist gut, weiter so, dachte Harry.
»Das ist Alex, der Barchef. Er kommt erst später.«
»Wir haben Grund zur Annahme, daß er an Inger interessiert war.«
»Ja, Alex hatte ein Auge auf Inger geworfen. Aber nicht nur auf Inger, die meisten Mädchen hier an der Bar waren irgendwann einmal mit seinen mehr oder weniger verzweifelten Annäherungsversuchen konfrontiert. Fiddler Ray, so nennen wir anderen ihn. Inger ist auf Mr. Bean gekommen. Er hat es nicht so leicht, der Arme. Über dreißig und wohnt noch zu Hause bei Mama. Es wird irgendwie nichts aus ihm. Aber als Chef ist er ganz in Ordnung. Und vollkommen harmlos, wenn es das ist, woran Sie denken.«
»Woher wissen Sie das?«
Birgitta rieb sich die Nase.
»Es steckt nicht in ihm.«
Harry tat so, als schreibe er etwas auf seinen Block.
»Wissen Sie, ob Inger jemanden kannte oder traf, in dem es … äh, steckte?«
»Nun, hier laufen ja eine ganze Reihe Typen herum. Das sind nicht nur Schwule, und Inger ist sicher vielen aufgefallen, so hübsch wie sie ist – war. Aber mir fällt keiner konkret ein. Nur …«
»Ja?«
»Nein, nichts.«
»Ich habe in dem Bericht gelesen, daß Inger an dem Abend, an dem sie vermutlich ermordet worden ist, hier gearbeitet hat. Hatte sie irgendwelche Verabredungen nach der Arbeit, oder ist sie direkt nach Hause gegangen?«
»Sie hat ein paar Essensreste aus der Küche mitgenommen, für den Köter, wie sie sagte. Ich wußte, daß sie keinen Hund hatte und habe deshalb gefragt, wo sie denn hin wolle. Aber sie sagte nur, sie wolle nach Hause. Mehr weiß ich nicht.«
»Der tasmanische Teufel«, murmelte Harry. Sie blickte ihn fragend an. »Ihr Vermieter hat einen Hund«, fügte er erklärend hinzu. »Den mußte sie wohl bestechen, um mit heiler Haut ins Haus zu kommen.«
Harry bedankte sich für ihre Aussage. Als sie gehen wollten, sagte Birgitta:
»Wir alle hier im Albury sind entsetzt über das, was geschehen ist. Wie haben es ihre Eltern aufgenommen?«
»Ich glaube, sie haben es nicht so leicht«, sagte Harry, »beide haben natürlich einen Schock und geben sich selbst die Schuld, daß sie zugelassen haben, daß Inger hierherkam. Der Sarg wird morgen nach Norwegen überführt. Ich kann Ihnen die Adresse in Oslo besorgen, falls jemand hier Blumen für die Beerdigung schicken will.«
»Danke, das wäre sehr nett.«
Harry hatte Lust, auch noch etwas anderes zu fragen, aber bei all dem Gerede über Tod und Beerdigung ging das einfach nicht. Auf dem Weg nach draußen brannte ihr Abschiedslächeln auf seiner Netzhaut. Er wußte, daß es dort noch eine ganze Weile brennen würde.
»Scheiße nochmal«, murmelte er, »entweder oder!«
Im Lokal standen all die Transvestiten und viele andere Gäste mittlerweile auf den Tischen und tanzten zu Katrina & The Waves. ›Walking On Sunshine‹ dröhnte aus den Lautsprechern.
»An einem Ort wie dem Albury gibt es nicht viel Zeit zum Nachdenken und Trauern«, sagte Andrew.
»Das ist wohl so«, sagte Harry, »das Leben geht weiter.«
Er bat Andrew, einen Moment zu warten, ging zurück zur Bar und winkte Birgitta zu.
»Entschuldigung, nur noch eine letzte Frage.«
»Ja?«
Harry holte tief Luft. Er ärgerte sich schon, aber jetzt war es zu spät.
»Kennen Sie hier in der Stadt ein gutes Thai-Restaurant?«
Birgitta dachte nach.
»Ja, in der Bent Street, in der City gibt es eins. Wissen Sie, wo das ist? Das soll angeblich sehr gut sein.«
»So gut, daß Sie sich vorstellen könnten, mitzukommen?«
Das klang jetzt wirklich nicht schlecht, dachte Harry. Aber es war reichlich unprofessionell. Da gab es keinen Zweifel. Birgitta stöhnte resignierend, aber so, daß Harry sich eher ermutigt fühlte. Außerdem kämpfte sie noch immer gegen ein Lächeln an.
»Verwenden Sie diese Masche oft, Wachtmeister?«
»Ganz oft.«
»Funktioniert sie?«
»Statistisch gesehen? Nicht häufig.«
Sie lachte, legte den Kopf zur Seite und schaute Harry neugierig an. Dann zuckte sie mit den Schultern.
»Warum nicht? Ich habe Mittwoch frei. Gegen neun Uhr? Und du zahlst, Bulle!«
Als Harry die Augen aufschlug, war es erst vier Uhr morgens. Er versuchte wieder einzuschlafen, aber der Gedanke an Inger Kolters unbekannten Mörder und daran, daß es in Oslo jetzt acht Uhr abends war, hielt ihn wach. Außerdem erschien ihm ständig dieses sommersprossige Gesicht, mit dem er nur zwei Minuten geredet hatte, das ihn aber dennoch dazu verleitet hatte, sich auffallend dämlich anzustellen.
»Du uneleganter Hole!« flüsterte er in das Dunkel des Hotelzimmers und verfluchte sich selbst.
Um sechs Uhr meinte er, aufstehen zu können. Nach einer erfrischenden Dusche trat er ins Freie, um irgendwo zu frühstücken. Auf dem blaßblauen Himmel zeichnete sich eine unscheinbare Sonne ab. Es brummte von der City herauf, aber die morgendliche Rushhour hatte die roten Lampen und die schwarzgeschminkten Augen hier oben noch nicht erreicht. King's Cross hatte gewissermaßen den Charme der Ungezwungenheit, eine gelebte Schönheit, die ihn dazu brachte, leise vor sich hin zu singen. Abgesehen von ein paar wenigen, verspäteten Nachtschwärmern, einem auf einer Treppe schlafenden Pärchen und einer blassen, nur dürftig angezogenen Prostituierten auf Morgenschicht waren die Straßen noch leer.
Vor einem Cafe spritzte ein Mann den Bürgersteig ab, und Harry gelang es mit einem Lächeln, sich ein zeitiges Frühstück zu bestellen. Während er Speck und Toast aß, wurde seine Serviette fast von einer vorwitzigen Morgenbrise davongeweht.
»Sie sind früh dran, Holy«, sagte McCormack. »Das ist gut, das Gehirn arbeitet zwischen halb sieben und elf Uhr am besten. Wenn Sie mich fragen – danach ist das meiste nur noch Schrott. Außerdem ist es hier morgens noch richtig still. Wenn es nach neun so richtig losgeht, kann ich kaum noch zwei und zwei zusammenzählen. Können Sie das? Mein Sohn behauptet immer, er müsse die Stereoanlage laufen lassen, wenn er lernt, die Stille würde ihn sonst so schrecklich ablenken. Verrückt, was?«
» — «
»Egal, gestern jedenfalls hatte ich irgendwann die Nase voll, bin zu ihm hineinmarschiert und habe die Höllenmaschine abgestellt. ›Ich brauche das, um nachzudenken!‹ hat er geschrien. Ich habe ihm gesagt, er solle wie ein normaler Mensch lernen. ›Die Menschen sind verschieden, Vater‹, hat er mir stinksauer erwidert. Ja, wissen Sie, er ist in dem Alter.«
McCormack hielt inne und schaute auf ein Bild auf seinem Schreibtisch.
»Haben Sie Kinder, Holy? Nein? Manchmal frage ich mich ja, was zum Teufel ich da getan habe. Übrigens, in was für ein Rattenloch hat man Sie einquartiert?«
»Crescent, King's Cross, Sir.«
»King's Cross, eben. Da sind Sie nicht der erste Norweger. Vor ein paar Jahren hatten wir offiziellen Besuch von dem norwegischen Bischof oder so, ich weiß nicht mehr genau, wie das hieß. Sein Büro in Oslo hatte jedenfalls ein Zimmer im King's Cross Hotel für ihn reservieren lassen. Sie hatten geglaubt, der Name des Hotels habe irgendeine biblische Bedeutung. Als der Bischof mit seiner Gefolgschaft abends im Hotel ankam, erblickte eine der alten, eingetrockneten Huren den priesterlichen Kragen und machte ihm eine paar saftige Angebote. Ich glaube, der Bischof hat schneller wieder ausgecheckt, als seine Koffer auf dem Zimmer waren …!«
McCormack lachte, daß ihm die Tränen kamen.
»Ja, ja, Holy, was haben Sie heute vor?«
»Ich frage mich, ob es möglich ist, einen Blick auf die Leiche von Inger Holter zu werfen, bevor man sie nach Norwegen überführt, Sir.«
»Kensington kann Sie zur Gerichtsmedizin begleiten, wenn er kommt. Aber Sie haben doch eine Kopie des Obduktionsberichtes erhalten?«
»Doch, doch, ja, Sir, nur …«
»Nur?«
»Ich kann besser denken, wenn ich die Leiche vor mir sehe.«
McCormack drehte sich zum Fenster und murmelte etwas, das Harry als Okay deutete.
Im Keller des South Sydney Morgue waren es acht Grad, auf der Straße draußen achtundzwanzig.
»Bist du jetzt klüger?« fragte Andrew. Er fröstelte und schlang die Jacke enger um seinen Körper.
»Klüger? Nein«, sagte Harry und betrachtete die sterblichen Überreste von Inger Holter. Das Gesicht hatte den Sturz recht gut überstanden. Ein Nasenloch war aufgerissen, und der eine Kieferknochen war in einer tiefen Mulde nach innen gedrückt, aber es gab keinen Zweifel, daß das wachsbleiche Gesicht zu dem gleichen Mädchen gehörte, das auf dem Bild im Polizeibericht so fröhlich strahlte. Am Hals waren schwarze Male zu erkennen. Auf dem restlichen Körper befanden sich überall blaue Flecken, Rißwunden und mehr oder weniger tiefe Schnitte. Einer von ihnen war so tief, daß man direkt bis auf den Knochen sehen konnte.
»Die Eltern wollten die Bilder sehen. Die norwegische Botschaft hat darauf hingewiesen, daß das nicht ratsam sei, aber der Rechtsanwalt hat darauf bestanden. Eine Mutter sollte ihre Tochter nicht so sehen.« Andrew schüttelte den Kopf.
Harry untersuchte die Würgemale am Hals mit einem Vergrößerungsglas.
»Der Mörder hat sie mit den bloßen Händen erwürgt. Es ist nicht leicht, einen Menschen so zu töten. Der Täter muß entweder sehr stark oder unheimlich motiviert gewesen sein.«
»Oder es schon ein paarmal gemacht haben.«
Harry schaute zu Andrew.
»Wie meinst du das?«
»Sie hat keine Hautreste unter den Fingernägeln, keine abgerissenen Haare des Mörders an ihrer Kleidung, und ihre Fingerknöchel zeigen nicht die Spur eines Kampfes. Sie muß so rasch und effektiv getötet worden sein, daß sie gar nicht mehr dazu gekommen ist, Widerstand zu leisten.«
»Erinnert diese Vorgehensweise an etwas, mit dem ihr früher schon einmal zu tun hattet?«
Andrew zuckte mit den Schultern.
»Wenn man lange genug gearbeitet hat, erinnern einen alle Morde an irgend etwas, das man schon einmal gesehen hat.«
Nein, dachte Harry. Im Gegenteil. Wenn man lange genug gearbeitet hat, lernt man, die kleinen Nuancen eines jeden Mordes zu erkennen, die Details der jeweiligen Tat, die sie von allen anderen unterscheidet.
Andrew warf einen Blick auf seine Uhr.
»In einer halben Stunde beginnt unsere morgendliche Besprechung. Wir sollten uns beeilen.«
Der Leiter der Ermittlungskommission war Larry Wadkins, ein Kommissar mit Jurastudium, der dabei war, auf direktem Wege die Karriereleiter emporzuklettern. Er hatte schmale Lippen, schütteres Haar und redete schnell und sachlich, ohne Emotionen oder unnötige Adjektive.
»Oder soziales Gespür«, sagte Andrew ohne Umschweife. »Ein verdammt guter Ermittler, aber du darfst ihn nicht bitten, den Eltern mitzuteilen, daß ihre Tochter tot aufgefunden worden ist. Und wenn er Streß hat, fängt er sofort an zu fluchen«, fügte Andrew noch hinzu.
Wadkins »rechte Hand« war Sergej Lebie, ein kahlköpfiger, immer gut angezogener Jugoslawe mit einem schwarzen Spitzbart, der ihn wie einen Mephisto im Anzug wirken ließ. Andrew sagte, daß er Männern, die so auf ihr Aussehen bedacht seien, normalerweise immer mit großer Skepsis begegne: »Aber Lebie ist eigentlich kein Dressman, er nimmt das nur sehr genau. Unter anderem hat er die Marotte, seine Nägel zu begutachten, wenn jemand mit ihm spricht, aber das ist nicht arrogant gemeint. Und nach jeder Lunchpause putzt er seine Schuhe. Und erwarte bloß nicht, daß er viel redet, weder über sich selbst noch über sonst irgend etwas.«
Der jüngste im Team war Yong Sue, ein kleiner, spindeldürrer sympathischer Kerl, der immer ein Lächeln am Ende seines dünnen Vogelhalses spazierenführte. Yong Sues Familie war vor dreißig Jahren von China nach Australien gekommen. Vor zehn Jahren, Yong Sue war damals neunzehn, reisten seine Eltern für einen Besuch zurück nach China. Sie kamen nie wieder zurück. Der Großvater meinte, daß sein Sohn in etwas »Politisches« involviert gewesen sei, aber er wollte der Sache nicht nachgehen. Sue hatte nie herausgefunden, was wirklich geschehen war. Jetzt mußte er sich um die Großeltern und zwei jüngere Geschwister kümmern, arbeitete zwölf Stunden am Tag und lächelte mindestens zehn davon. ›Wenn du einen schlechten Witz weißt, erzähl ihn Sue, er lacht über alles,‹ hatte Andrew gesagt. Jetzt waren alle in einem winzigen, engen Zimmer versammelt, in dem ein jammernder Eckventilator für eine gewisse Luftbewegung sorgte. Wadkins stand vorne vor einer Tafel und stellte Harry vor.
»Unser norwegischer Kollege hat den Brief übersetzt, den wir in Ingers Wohnung gefunden haben. Können Sie uns dazu etwas Interessantes sagen, Hole?«
»Ho-li!«
»Sorry, Holy.«
»Nun, sie hatte anscheinend gerade ein Verhältnis mit einem Mann namens Evans begonnen. Ausgehend von dem, was in dem Brief stand, ist anzunehmen, daß es sich bei dem Mann auf dem Foto über dem Schreibtisch um ihn handelt.«
»Wir haben das überprüft«, sagte Lebie. »Wir glauben, es ist Evans White.«
»Ach ja?« Wadkins hob die eine Augenbraue leicht an.
»Viel wissen wir nicht über ihn. Seine Eltern kamen Ende der sechziger Jahre aus den USA hierher und bekamen eine Aufenthaltsgenehmigung. Das war damals kein Problem«, fügte Lebie erklärend hinzu.
»Jedenfalls – sie fuhren mit einem VW-Bus quer durch das Land, vermutlich ernährten sie sich wie damals üblich von vegetarischer Kost, Marihuana und LSD. Dann bekamen sie ein Kind, trennten sich, und als Evans achtzehn Jahre alt war, kehrte der Vater in die USA zurück. Die Mutter hat mit Healing, Scientology und Astralmystik zu tun. Sie betreibt einen Laden namens Crystal Castle auf einer Ranch an der Gold Coast. Dort verkauft sie Steine mit Karma und aus Thailand importierten Stoff an durchreisende Touristen und andere suchende Seelen. Evans entschloß sich, mit achtzehn das zu tun, was immer mehr junge Australier machen«, sagte er, jetzt wieder zu Harry gewandt: »Nichts.«
Andrew lehnte sich zu ihm herüber und flüsterte leise: »Australien ist das perfekte Land, um ein bißchen zu surfen und ansonsten das Leben zu genießen. Ein super soziales Netz und ein tolles Klima. Wir wohnen in einem wunderbaren Land.« Er lehnte sich wieder zurück.
»Zur Zeit haben wir keine Adresse von ihm«, berichtete Lebie, »aber wir glauben, daß er bis vor kurzem zusammen mit Sydneys white trash in einer Baracke am Stadtrand gehaust hat. Alle, mit denen wir dort draußen gesprochen haben, sagen, daß sie ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen haben. Er ist noch nie im Gefängnis gewesen. Leider haben wir deshalb nur ein Bild von ihm als Dreizehnjährigem, als er einen Paß bekam.«
»Ich bin beeindruckt«, sagte Harry aufrichtig. »Wie ist es Ihnen in so kurzer Zeit gelungen, nur anhand eines Fotos und eines Vornamens einen Mann ohne Akte zu finden? Und das bei einer Bevölkerung von achtzehn Millionen?«
Lebie nickte zu Andrew.
»Andrew hat die Stadt auf dem Foto erkannt. Wir haben der lokalen Polizeistation das Foto gefaxt, und die haben uns den Namen gegeben. Sie haben uns informiert, daß er dort oben eine gewisse Rolle im Milieu spielt. Im Klartext heißt das, daß er Marihuana raucht.«
»Das muß eine verdammt kleine Stadt sein«, sagte Harry.
»Nimbin, etwas über tausend Einwohner«, ergänzte Andrew. »Der Ort lebte größtenteils von der dortigen Molkerei, bis Australiens nationale Studentenorganisation auf die Idee kam, dort 1973 das sogenannte Aquarius-Festival auszurichten.«
Ein gedämpftes Lachen war am Tisch zu hören.
»Bei dem Festival ging es eigentlich um Idealismus, um alternativen Lebensstil, zurück zur Natur und das alles. Die Zeitungen aber konzentrierten sich auf die Jugend, die Drogen und den hemmungslosen Sex. Das Fest dauerte mehr als zehn Tage, und für manch einen ist es wohl noch immer nicht zu Ende. Rund um Nimbin sind die Anbaubedingungen gut, und zwar für alles mögliche. Laß es mich so ausdrücken, ich zweifle daran, daß die Molkereiprodukte heute noch die größte Einnahmequelle sind. Auf der Hauptstraße, nur fünfzig Meter von der lokalen Polizeistation entfernt, gibt es, fürchte ich, Australiens offensten Markt für Marihuana und LSD.«
»Jedenfalls«, fiel ihm Lebie ins Wort, »hat ihn die dortige Polizei vor kurzem in Nimbin gesehen.«
»Der Gouverneur von New South Wales hat dort oben aber inzwischen eine große Kampagne gestartet«, ergänzte Wadkins, »die Regierung in Canberra hat wohl Druck auf ihn ausgeübt, etwas gegen den zunehmenden Drogenhandel zu unternehmen.«
»Das stimmt«, sagte Lebie, »die Polizei setzt Kleinflugzeuge und Helikopter ein, um Bilder von den Flächen zu machen, auf denen sie Hanf anbauen.«
»Okay«, sagte Wadkins. »Wir holen uns diesen Typ. Kensington, Sie kennen sich dort oben offensichtlich aus, und Sie, Holy, haben sicher nichts dagegen, etwas mehr von Australien zu sehen. Ich werde McCormack bitten, mit der Polizeistelle zu telefonieren, damit man dort darüber informiert ist, daß ihr kommt. Yong, Sie bearbeiten weiter Ihren PC und schauen, was Sie damit erreichen können. Let's do some good!«
»Let's have some lunch!« sagte Andrew.
Sie mischten sich unter die Touristen und fuhren mit der eingleisigen Eisenbahn nach Darling Harbour, stiegen an der Harbourside aus und setzen sich an einen Tisch mit Blick über den Hafen.
Ein paar lange Beine stolzierten auf Stilettabsätzen vorbei. Andrew verdrehte die Augen und pfiff ihnen politisch höchst unkorrekt nach. Ein paar Köpfe drehten sich im Restaurant um und schauten irritiert zu ihnen herüber. Harry schüttelte den Kopf.
»Wie geht es deinem Freund Otto?«
»Tja, er ist am Boden zerstört. Er ist wegen einer Frau verlassen worden. Wenn Liebhaber erst anfangen, sich in beiden Richtungen umzuschauen, landen sie immer bei einer Frau, hat er geschimpft. Aber er wird es wohl auch dieses Mal überleben.«
Zu seiner Überraschung bemerkte Harry ein paar Tropfen Regen, und ganz richtig: Eine dicke Wolkendecke hatte sich fast unbemerkt von Nordwesten her über ihre Köpfe geschoben.
»Wie konntest du dieses Nimbin bloß anhand des Bildes einer einzigen Fassade erkennen?«
»Nimbin? Habe ich vergessen, dir zu erzählen, daß ich ein alter Hippie bin?« grinste Andrew. »Es wird behauptet, daß diejenigen, die sich an das Aquarius-Festival erinnern, nicht daran teilgenommen haben. Nun, ich kann mich jedenfalls noch an die Fassaden auf der Hauptstraße erinnern. Daß es aussah wie die Stadt der Gesetzlosen in einem alten Westernfilm, allerdings in psychedelischem Lila und Gelb. Nun, ehrlich gesagt, hatte ich geglaubt, daß dieses Lila und Gelb nur auf die Wirkung gewisser Stoffe auf mein Wahrnehmungsvermögen zurückzuführen waren. Bis ich eben dieses Foto in Ingers Wohnung sah.«
Als sie vom Essen zurückkamen, berief Wadkins eine neuerliche Besprechung im Sitzungszimmer ein. Yong Sue hatte seinem PC ein paar interessante Neuigkeiten entlockt.
»Ich bin alle unaufgeklärten Morde der letzten zehn Jahre in New South Wales durchgegangen. Dabei bin ich auf vier Morde gestoßen, die Gemeinsamkeiten mit unserem aufweisen. Die Leichen wurden an abgelegenen Stellen gefunden, zwei auf einer Müllkippe, eine an einem Waldrand an einer Landstraße und eine trieb im Darling River. Alle sind wahrscheinlich an anderen Stellen getötet und sexuell mißbraucht worden, bevor sie an diesen Orten abgeladen wurden. Und – und das ist das Entscheidende – alle sind erwürgt worden und haben die Würgemale von Fingern am Hals.«
Yong Sue strahlte.
Wadkins räusperte sich. »Nun, lassen Sie uns nichts überstürzen. Erwürgen ist im Zusammenhang mit Vergewaltigung nicht gerade ungewöhnlich. Wie sieht es mit dem geographischen Zusammenhang aus, Yong? Der Darling River ist verdammt weit draußen im Outback, über tausend Kilometer von Sydney entfernt.«
»No luck, Sir. Ich hab kein geographisches Muster erkennen können.«
Yong sah aus, als täte ihm das wirklich leid.
»Nun, vier erwürgte Leichen im ganzen Staat verteilt und das in zehn Jahren … das ist nicht gerade …«
»Es gibt noch etwas, Sir. Alle Frauen hatten helle Haare. Ich meine nicht einfach blond, sondern richtig helle, fast weiße Haare.«
Lebie pfiff tonlos. Dann wurde es still am Tisch.
Wadkins sah noch immer skeptisch aus. »Können Sie das nicht irgendwie statistisch auswerten, Yong? Die Signifikanz berechnen und diese Sachen, um herauszufinden, ob die Wahrscheinlichkeit sich in einem vernünftigen Rahmen bewegt, bevor wir hier schlafende Hunde wecken? Sicherheitshalber sollten Sie vielleicht ganz Australien untersuchen. Und überprüfen Sie auch die unaufgeklärten Vergewaltigungen, vielleicht finden wir da etwas.«
»Das kann etwas dauern. Aber ich kann es versuchen, Sir.« Yong lächelte wieder.
»Okay, Kensington und Holy, warum sind Sie noch nicht auf dem Weg nach Nimbin?«
»Wir fahren morgen früh, Sir«, sagte Andrew. »Es gibt eine aktuelle Vergewaltigungssache in Lithgow, die ich mir zuerst einmal anschauen möchte. Ich hab das Gefühl, daß es da eine Verbindung geben könnte. Wir waren gerade auf dem Weg dorthin.«
»Just a hunch, Sir.«
Wadkins seufzte.
»Tja, McCormack meint ja, Sie hätten so etwas wie einen sechsten Sinn …«
»Wissen Sie, Sir, wir Aborigines haben einen engeren Kontakt zu der Geisterwelt als ihr Bleichgesichter.«
»In meiner Abteilung baut die Polizeiarbeit nicht auf so etwas auf.«
Wadkins schüttelte den Kopf. »Aber seien Sie morgen früh in diesem Flugzeug, okay?«
Sie nahmen von Sydney aus die Autobahn. Lithgow ist eine Industriestadt mit zehn- bis zwölftausend Einwohnern, doch der Ort erinnerte Harry eher an ein mittelgroßes Dorf. Vor der Polizeistation prangte ein leuchtendes Blaulicht auf einem Pfosten.
Der örtliche Polizeichef empfing sie herzlich. Er war ein übergewichtiger, freundlicher Herr mit gleich mehreren Doppelkinnen und dem Namen Larsen. Larsen hatte entfernte Verwandte in Norwegen.
»Do you know any of the Larsens in Norway, mate?« fragte er.
»Well there are quite a few of them«, antwortete Harry.
»Ja, ich weiß, meine Großmutter hat erzählt, daß wir dort oben eine große Familie haben.«
»Sure do.«
Larsen erinnerte sich gut an den Vergewaltigungsfall.
»So etwas passiert hier in Lithgow zum Glück nicht so oft. Es war Anfang November. Sie wurde nach der Spätschicht auf dem Heimweg von der Firma, in der sie arbeitet, in einer Nebenstraße niedergeschlagen, in ein Auto gezerrt und weggeschafft. Er hat ihr mit einem großen Messer gedroht, fuhr mit ihr auf einen abseits gelegenen Waldweg am Fuße der Blue Mountains und vergewaltigte sie auf dem Rücksitz des Autos. Der Vergewaltiger hatte ihr die Hände an den Hals gelegt und begonnen sie zu würgen, als ein Auto hinter ihnen hupte. Der Fahrer hinter ihnen war auf dem Weg zu seiner Hütte und glaubte, vor sich auf dem verlassenen Waldweg ein Liebespaar überrascht zu haben, und wollte deshalb nicht aussteigen. Als sich der Vergewaltiger wieder auf den Vordersitz gesetzt hatte, um loszufahren, ist es der Frau gelungen, aus dem Auto zu flüchten und zu dem anderen Fahrzeug zu laufen. Der Vergewaltiger sah, daß er verloren hatte, gab Gas und verschwand.«
»Hat sich jemand die Autonummer merken können?«
»Nope, es war dunkel und ging alles viel zu schnell.«
»Konnte die Frau den Mann richtig erkennen? Habt ihr eine Beschreibung?«
»Sure. Sort of. Wie gesagt, es war dunkel.«
»Wir haben ein Bild mit. Haben Sie eine Adresse, wo wir die Frau finden können?«
Larsen ging zum Archivschrank und begann zu suchen. Er atmete schwer.
»Übrigens«, begann Harry, »wissen Sie, ob sie blond ist?«
»Blond?«
»Ja, hat sie helles, faßt weißes Haar?«
Larsens Doppelkinn begann sich zu schütteln, wobei er noch schwerer atmete, und Harry begriff erstaunt, daß er lachte.
»Nein, das glaube ich nicht, mate. Sie ist eine Koori!«
Harry blickte Andrew fragend an. Andrew schaute zur Decke. »Sie ist schwarz«, sagte er.
»Wie Kohle«, sagte Larsen.
»Dann sind die Koori ein Stamm?« fragte Harry, als sie von der Polizeistation wegfuhren.
»Nun, nicht ganz«, erwiderte Andrew.
»Nicht ganz?«
»Das ist eine lange Geschichte, aber als die Weißen nach Australien kamen, verteilten sich die 750.000 Ureinwohner auf sechs- bis siebenhundert Stämme. Sie sprachen mehr als 250 Sprachen, und viele davon waren so unterschiedlich wie Englisch und Chinesisch. Aber Pulver und Blei, fremde Krankheiten, gegen die die Eingeborenen keine Abwehrkräfte hatten, Integration und all die anderen Güter, die die Weißen mitbrachten, verringerten die ursprüngliche Bevölkerung dramatisch. Manche Stämme starben vollkommen aus. Als die ursprüngliche Stammesstruktur verschwand, begann man allgemeine Bezeichnungen für die Übriggebliebenen zu suchen. Die Aborigines, die hier im Südwesten leben, werden Kooris genannt.«
»Aber warum hast du nicht zuerst überprüft, ob sie blond war?«
»Ein Fehler. Ich muß das falsch gelesen haben. Flimmern die Bildschirme in Norwegen nicht auch manchmal?«
»Zum Teufel, Andrew, wir haben keine Zeit für solche Longshots!«
»Doch, haben wir. Und wir haben auch die Zeit für etwas, das dir bessere Laune machen wird«, rechtfertigte sich Andrew und bog plötzlich nach rechts ab.
»Wohin fahren wir?«
»Auf eine australische Landwirtschaftsmesse, echte Ware.«
»Landwirtschaftsmesse? Ich habe heute eine Verabredung zum Essen, Andrew.«
»Oha, mit Miß Sverige vielleicht? Reg dich ab, das geht schnell. Und übrigens, ich gehe davon aus, daß du dir als Repräsentant der Anklage über die Konsequenzen im klaren bist, wenn du dich mit einer potentiellen Zeugin einläßt?«
»Dieses Essen steht natürlich in eindeutigem Zusammenhang mit den Ermittlungen. Es geht um wichtige Fragen.«
»Of course.«
Der Messeplatz lag auf einem freien Feld mit einigen verstreuten Fabrikhallen und Garagen als einzigen Nachbarn. Der letzte Durchgang des Traktorrennens war gerade vorüber, und die Abgase waberten noch dicht über den Boden, als sie vor einem großen Zelt anhielten. Der Platz summte vor Aktivität, an den verschiedensten Ständen wurde gerufen und geschrien, und wirklich alle schienen ein Glas Bier in der Hand und ein Lächeln auf den Lippen zu haben.
»Feiern und Handeln in seiner schönsten Verbindung«, grinste Andrew, »So etwas habt ihr in Norwegen nicht.«
»Äh, wir haben etwas, das wir martnad nennen.«
»Maar …«, versuchte sich Andrew.
»Never mind.«
An der Zeltplane hingen große Plakate. »The Jim Chivers Boxing- Team« stand dort mit großen roten Buchstaben geschrieben. Darunter hing ein Bild von zehn Boxern, die offensichtlich das Team ausmachten. Daneben waren konkrete Daten wie Namen, Alter, Geburtsort und Gewicht angegeben und ganz unten auf dem Plakat stand: »The Challenge, Are you up to it?«
Im Innern des Zeltes wärmte sich bereits der erste Boxer im Ring auf. Er trug einen Morgenmantel aus einem glatten, glänzenden Stoff, während er in dem bleichen Licht, das von der Zeltkuppel herabstrahlte, gegen seinen eigenen Schatten boxte. Ein älterer, untersetzter Mann in einem etwas abgenutzten Smoking betrat – unter großem Jubel – den Ring. Er war ganz offensichtlich nicht zum ersten Mal hier, denn die Menschen begannen, seinen Namen zu rufen: »Ter-ry, Ter-ry!«
Mit einer selbstbewußten Geste brachte er sie zum Schweigen und ergriff das Mikrophon, das von der Decke herabhing: »Ladies and Gentlemen! Who'll take the glove?« Großer Jubel. Danach folgte eine längere ausgeschmückte Rede über the noble art of self-defence, die fast ein Ritual zu sein schien. Es ging um Ehre und Berühmtheit und die starrsinnige Einstellung der Behörden zum Boxen, das mit Ausdrücken verfolgt werde, die einem Exorzisten würdig seien. Das Ganze endete aber damit, daß der Redner seine Frage wiederholte: »Who'll take the glove?«
Mehrere Arme schossen empor, und Terry winkte sie zu sich. Sie stellten sich hintereinander an einem Tisch auf und wurden gebeten, etwas zu unterschreiben.
»Was passiert jetzt?« fragte Harry.
»Das sind junge Leute aus der Gegend, die versuchen wollen, einen von Jim Chivers' Boxern herauszufordern und zu besiegen. Wenn es ihnen gelingt, winkt eine große Prämie und, noch wichtiger, lokale Ehre und Berühmtheit. Jetzt unterschreiben sie eine Erklärung, daß sie gesund und schnell sind und ihnen bewußt ist, daß der Veranstalter jedwede Haftung für eine plötzliche Gesundheitsverschlechterung ablehnt«, erklärte Andrew.
»Mein Gott, ist das legal?«
»Mmmh«, Andrew druckste herum, »1971 gab es eine Art Verbot, so daß sie die Form etwas ändern mußten. Aber das ist eine Art von Unterhaltung, die in Australien eine lange Tradition hat, verstehst du. Sie haben seinen Namen geklaut, der wirkliche Jim Chivers war der Leiter eines Boxteams, das nach dem Zweiten Weltkrieg im ganzen Land auf Messen und Jahrmärkten auftrat. Der Kerl war eine Institution. Viele der späteren Meister kamen aus Jimmys Boxteam. Dort gab es immer eine Vielzahl von Nationalitäten: Chinesen, Italiener, Griechen und Aborigines. Die Menschen, die an dem Wettkampf teilnahmen, konnten selber wählen, gegen wen sie boxen wollten. So daß du dir, wenn du zum Beispiel Antisemit warst, einen Juden wählen konntest. Auch wenn die Chance, dann von einem Juden verdroschen zu werden, ziemlich groß war.«
Harry mußte lächeln. »Verstärkt das nicht noch den Rassismus in einem Volk?«
Andrew kratzte sich am Kinn.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall ist das eine Möglichkeit, unterdrückte Aggressionen loszuwerden. Die Menschen in Australien sind es gewohnt, mit vielen Rassen und den unterschiedlichsten Kulturen zusammenzuleben, und im großen und ganzen funktioniert das recht gut. Aber irgendwelche Probleme gibt es ja immer. Und dann ist es doch besser, in einem Boxring aufeinander loszugehen als auf offener Straße. Nimm, zum Beispiel, die Kämpfe zwischen den Weißen und den Aborigines. Diese Kämpfe interessieren die Menschen immer am meisten. Ein Aborigine, der es in Jimmys Team zu etwas brachte, konnte unter den Seinen in seinem Dorf schnell zum Helden werden. Er schaffte so etwas wie Zusammenhalt und Ehrgefühl in all der Erniedrigung. Ich glaube nicht, daß die Kluft zwischen den Rassen dadurch tiefer wird. Wenn die weißen Jungs von einem Schwarzen verdroschen werden, dann führt das wohl eher zu Respekt als zu Haß. So gesehen sind die Australier ein sportliches Volk.«
»Du hörst dich wie ein echter Redneck an.«
Andrew lachte. »Fast, ich bin ein Ocker. Ein einfacher Mann vom Land.«
»Das bist du ganz bestimmt nicht.«
Andrew lachte noch lauter.
Der erste Kampf begann. Ein gedrungener, rothaariger kleiner Kerl, der seine eigenen Boxhandschuhe und einen privaten Fanclub mitgebracht hatte, kämpfte gegen einen noch kleineren Mann aus dem Team von Chivers.
»Ire gegen Ire«, sagte Andrew mit dem Blick des Kenners.
»Dein sechster Sinn?« fragte Harry.
»Meine zwei Augen. Rote Haare. Also: Iren. Zähe Kerle, das wird ein langer Kampf werden.«
»Go-go-Johnny-go!« stimmte der Fanclub an.
Es gelang ihnen, das zweimal zu rufen, bevor der Kampf vorüber war. Da hatte Johnny drei ordentliche Schläge auf die Nase bekommen und wollte nicht mehr weiterkämpfen.
»Die Iren sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren«, seufzte Andrew.
Die Zuschauer wetteten bereits ganz offen, wer den nächsten Kampf gewinnen würde. Sie scharten sich um zwei Männer mit breitkrempigen Hüten, die ganz offensichtlich die Buchmacher waren. Alle schrien durcheinander, während die knitterfreien australischen Dollarnoten den Besitzer wechselten. In rasendem Tempo wurden mündliche Vereinbarungen getroffen, ohne daß irgend etwas notiert wurde, einzig ein Nicken der Buchmacher bestätigte, daß die Wette angenommen worden war.
»Wie war das wieder mit der Glücksspielverordnung?« brummte Andrew und rief drei, vier Worte, die Harry nicht verstand.
»Was hast du gemacht?«
»Ich habe hundert Dollar darauf gesetzt, daß der Boxer von der Mannschaft von Chivers seinen Gegner in weniger als zwei Runden k.o. schlägt.«
»Das hat doch wohl keiner in dem Gewühl dort vorne mitbekommen?«
Andrew amüsierte sich im stillen. Anscheinend gefiel ihm seine Rolle als Dozent.
»Hast du nicht gesehen, daß der Buchmacher mit der Augenbraue gezuckt hat? Das nennt man simultane Aufnahmefähigkeit, Harry. Teils angeboren, teils erlernt. Viele Sachen gleichzeitig hören zu können und dabei das Wichtige aus all dem Lärm herauszufiltern.«
»Hören?«
»Ja, hören. Hast du das schon einmal versucht, Harry? Das ist in manchen Situationen recht nützlich.«
Es knackte in den Lautsprechern, und Terry kündigte über das Mikrophon Robin »The Murri« Toowoomba und Bobby »The Lobby« Pain, einen lokalen tapferen Streiter, an, der mit einem Brüllen über die Seile des Boxrings sprang. Er zog sein T-Shirt aus und entblößte eine haarige, kräftige Brust und angespannte Oberarmmuskeln. Eine weißgekleidete Frau hüpfte unmittelbar vor dem Ring auf und ab, und Bobby warf ihr eine Kußhand zu, bevor ihm zwei Assistenten in die Boxhandschuhe halfen. Ein Raunen ging durch den Saal, als Toowoomba durch die Seile stieg und den Ring betrat. Er war ein großgewachsener, ungewöhnlich schwarzer, hübscher Mann.
»The Murri?« fragte Harry.
»Ein Aborigine aus Queensland.«
Johnnys Fanclub meldete sich wieder zu Wort. Sie hatten bemerkt, daß sie auch »Bobby« in ihrem Schlachtruf verwenden konnten. Der Gong wurde geschlagen, und die beiden Boxer näherten sich einander. Der Weiße war fast einen Kopf größer als sein schwarzer Kontrahent, aber selbst mit ungeschulten Augen war zu erkennen, daß er sich nicht mit der gleichen schnellen Eleganz bewegte wie der Murri.
Bobby schoß nach vorne und schlug mit aller Wucht nach Toowoomba, der aber schnell und leicht abtauchte. Das Publikum im Saal stöhnte auf, und die Frau in Weiß johlte begeistert. Bobby schlug noch ein paar weitere Luftlöcher, bevor sich Toowoomba näherte und vorsichtig, fast prüfend »The Lobby« einen leichten Schlag in das Gesicht versetzte. Bobby stolperte zwei Schritte zurück und es sah aus, als wäre der Abend für ihn schon gelaufen.
»Ich hätte zweihundert setzen sollen«, brummte Andrew.
Toowoomba umkreiste Bobby, versetzte ihm noch ein paar weitere, leicht provozierende Schläge und entschwand auf die gleiche elegante Weise, als Bobby mit seinen baumstammartigen Armen zu einem Schwinger ausholte. Bobby atmete schwer und brüllte vor Ärger, weil Toowoomba niemals da zu sein schien, wo er doch noch vor einem Augenblick gewesen war. Das Publikum begann zu pfeifen. Toowoomba sah aus, als wolle er Bobby die Hand zum Gruß reichen, doch seine Faust landete in dessen Magen, woraufhin Bobby zusammenklappte und gekrümmt in einer Ecke des Ringes stehenblieb. Toowoomba trat zwei Schritte zurück und sah fast etwas bekümmert aus.
»Finish him off, you black bastard!« schrie Andrew. Toowoomba drehte sich überrascht zu ihnen um, lächelte und winkte ihnen mit der Hand über dem Kopf zu.
»Grins nicht blöd rum. Mach deine Arbeit, du Idiot! Ich hab hier eine Wette laufen!«
Toowoomba drehte sich um, er wollte es jetzt anscheinend hinter sich bringen, aber gerade als er Bobby den Gnadenstoß geben wollte, ertönte der Gong. Die beiden Boxer gingen in ihre Ecken, und der Ansager griff zum Mikrophon. Die Frau in Weiß wartete bereits in Bobbys Ecke und schimpfte, während ihm zwei Helfer eine Flasche Bier reichten.
Andrew war sauer. »Robin will den Weißen nicht verletzen, das ist in Ordnung. Aber er sollte respektieren, daß ich Geld auf ihn gesetzt habe, dieser Nichtsnutz!«
»Kennst du ihn?« ' »Ja, Robin Toowoomba kenne ich«, erwiderte Andrew.
Wieder erklang der Gong, und diesesmal blieb Bobby in seiner Ecke stehen und wartete auf Toowoomba, der sich mit entschlossenen Schritten näherte. Bobby hielt die Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen, und Toowoomba schlug einen leichten Körperhaken. Bobby sank nach hinten in die Seile. Toowoomba drehte sich um und schaute fragend zu Terry, dem Ansager, hinüber, der auch als eine Art Schiedsrichter fungierte, um ihn aufzufordern, den Kampf abzubrechen.
Andrew schrie auf, doch zu spät.
Bobbys Faust schickte Toowoomba mit einem Schlag rücklings auf die Bretter. Als er sich benommen wieder aufrappelte, war Bobby wie ein Orkan über ihm. Die Schläge waren gerade und präzise, und Toowoombas Kopf tippte wie ein Ping-Pong-Ball vor und zurück. Ein dünnes Rinnsal Blut rann aus einem seiner Nasenlöcher.
»Scheiße! Ein Hustler!« brüllte Andrew.
»Hustler?«
»Unser Freund Bobby tut so, als sei er Amateur, ein alter Trick, um Chivers' Leute aus der Deckung zu locken. Der Typ ist vermutlich der lokale Champion hier. Scheiße, Robin, dem bist du ins Messer gelaufen!«
Toowoomba hielt die Hände vor das Gesicht und wich zurück, während Bobby ihm folgte. Bobbys linker Arm schoß vor und zurück, gefolgt von schweren rechten Haken und Uppercuts. Das Publikum geriet in Ekstase, und auch die Frau in Weiß war wieder auf den Beinen. Sie schrie nur die erste Silbe seines Namens und zog den Vokal in einem langen, schneidenden Ton in die Länge: »Booo …«
Terry schüttelte den Kopf, während der Fanclub hastig einen neuen Refrain probierte: »Go-go-Bobby-go-go-go. Bobby be good!«
»Das war's. Es ist vorbei«, sagte Andrew.
»Toowoomba wird verlieren?«
»Bist du verrückt?« Andrew blickte Harry bestürzt an. »Toowoomba wird den Kerl töten. Ich hatte nur gehofft, daß es heute einigermaßen sauber abgehen würde.«
Harry konzentrierte sich, um zu verstehen, was Andrew sagte. Toowoomba hatte sich nach hinten in die Seile gelehnt und sah fast entspannt aus, obwohl Bobby auf seine Bauchmuskeln einhämmerte. Einen Augenblick lang glaubte Harry, Toowoomba würde einschlafen. Die Weißgekleidete zerrte hinter dem Murri an den Seilen. Bobby änderte seine Taktik und versuchte den Kopf zu treffen, doch Toowoomba wich den Schlägen aus, indem er den Oberkörper mit einer sachten, beinahe langsamen Bewegung vor und zurück schwang. Fast wie eine Brillenschlange, dachte Harry, wie eine … Kobra!
Bobby erstarrte mitten in der Ausholbewegung zu einem Schlag. Sein Kopf war leicht nach links gedreht, und sein Gesicht sah aus, als sei ihm gerade etwas eingefallen, das er vergessen hatte, dann rollten seine Augen nach hinten, der Zahnschutz flutschte aus seinem Mund, und Blut spritzte in einem feinen gleichmäßigen Strahl aus einer kleinen Wunde auf dem Nasenrücken. Sein Nasenbein war gebrochen. Toowoomba wartete, bis Bobby fiel und schlug dann noch einmal zu. Im Zelt war es jetzt vollkommen still, und Harry konnte ganz deutlich das ekelerregende Klatschen hören, als Bobbys Nase zum zweiten Mal getroffen wurde und die kreischende Frauenstimme, die den Rest von Bobbys Namen schrie:
»… biii!«
Ein hellroter Strahl aus Schweiß und Blut rann aus Bobbys Kopf und machte die Ecke des Ringes naß.
Terry stürmte vor und signalisierte etwas überflüssig, daß der Kampf beendet war. Noch immer war es mucksmäuschenstill im Zelt, nur das Klappern der Schuhe der Weißgekleideten war zu hören, die über den hölzernen Mittelgang aus dem Zelt rannte. Ihr Kleid hatte sich auf der Vorderseite rot verfärbt, und ihr Gesicht zeigte den gleichen überraschten Gesichtsausdruck, den auch Bobby gehabt hatte.
Toowoomba versuchte mitzuhelfen, Bobby wieder auf die Beine zu bekommen, aber dessen Assistenten schoben ihn zur Seite. Einige wollten applaudieren, doch der Beifall verstummte gleich wieder. Das Pfeifkonzert war um so lauter, als Terry den Ring betrat und Toowoombas Arm hochhielt. Andrew schüttelte den Kopf.
»Da haben heute wirklich einige Geld auf den lokalen Meister gesetzt«, sagte er. »Idioten! Komm, laß uns unser Geld holen und ein paar ernsthafte Worte mit diesem Murritölpel reden!«
»Robin, du Arsch. Dich sollte man einsperren – und das meine ich ernst!«
Robin »The Murri« Toowoombas Gesicht leuchtete in einem breiten Lächeln auf. Er drückte sich ein zusammengerolltes Handtuch mit Eis auf das eine Auge.
»Tuka! Ich habe dich da drinnen gehört. Hast du wieder mit Glücksspiel begonnen?« Toowoomba sprach leise. Ein Mann, der es gewohnt ist, daß man ihm zuhört, dachte Harry spontan. Seine Stimme war mild und sympathisch, und Harry fand, daß sich Toowoomba wirklich nicht wie jemand anhörte, der gerade einem fast doppelt so großen Mann die Nase gebrochen hatte.
Andrew schnaufte. »Glücksspiel? Zu meiner Zeit hatte es kaum etwas mit Glück zu tun, wenn man auf einen von Chivers' Jungs setzte. Aber heutzutage ist wohl nichts mehr richtig wirklich sicher. Sich von einem elenden weißen Yahoo so hinter's Licht führen zu lassen! Wo soll das bloß enden?«
Harry räusperte sich.
»Oh, ja. Robin, ich möchte dir einen Freund vorstellen. Das ist Harry Holy. Harry, das ist Queenslands schlimmster Grobian und Lustmörder, Robin Toowoomba.« Sie begrüßten sich und wieder hatte Harry das Gefühl, seine Hand sitze in einem Türspalt fest. Er stöhnte ein »how are you« und erntete ein breites Lächeln und ein strahlend weißes »absolutely magnificent, cobber – how are you yourself?«
»Haven't been better«, erwiderte Harry und massierte sich die Hand. Diese australischen Begrüßungen würden ihm noch den letzten Nerv rauben. Laut Andrew drehte es sich dabei insbesondere darum zu beschreiben, wie unglaublich gut es einem ging. Ein einfaches »Danke, es geht mir gut« konnte leicht als Beleidigung aufgefaßt werden.
Toowoomba zeigte mit seinem Daumen auf Andrew.
»Apropos Grobian, hat Tuka dir erzählt, daß er selbst einmal für Jim Chivers geboxt hat?«
»Es scheint noch eine Menge Dinge zu geben, die ich von … äh, Tuka nicht weiß. Er ist ein recht geheimnisvoller Kerl.«
»Geheimnisvoll?« Toowoomba lachte. »Es ist immer alles anders gemeint, als er es sagt. Tuka erzählt dir alles, was du wissen mußt, vorausgesetzt du weißt, auf was du achten mußt. Aber er hat dir natürlich nicht gesagt, daß man ihm geraten hat, bei Chivers aufzuhören, weil man ihn als zu gefährlich ansah? Wie viele Wangenknochen, Nasenbeine und Kiefer hast du auf dem Gewissen, Tuka? Er galt über viele Jahre hinweg als New South Wales' größtes Boxtalent. Aber er hatte ein Problem. Er war zu unbeherrscht – er hatte überhaupt keine Disziplin. Zu guter Letzt hat er sogar einen Schiedsrichter niedergeschlagen, weil er meinte, der habe einen Kampf zu früh abgebrochen. Zu Tukas Gunsten! Das nenne ich blutrünstig. Tuka wurde für zwei Jahre suspendiert.«
»Dreieinhalb, danke!« Andrew grinste. Er hatte ganz offensichtlich nichts dagegen, daß der andere seine Karriere als Boxer vor Harry ausbreitete. »He was a real drongo, I tell you. Ich habe diesen Schiedsrichter nur ganz leicht gestupst, aber, du glaubst es nicht, dieser Kerl stolperte und brach sich das Schlüsselbein.«
Toowoomba und Andrew lachten herzlich und klatschten ihre Handflächen aneinander.
»Robin war gerade erst auf der Welt, als ich boxte. Er zitiert nur, was ich ihm selbst erzählt habe«, erklärte Andrew. »Robin gehörte zu einer Gruppe Kinder aus schwierigen Verhältnissen, um die ich mich kümmerte, wenn ich Zeit hatte. Wir trainierten Boxen, und auch um den Kindern die Bedeutung von Selbstkontrolle klarzumachen, habe ich ein paar halbwahre Geschichten aus meiner eigenen Zeit erzählt. Als Abschreckung und Warnung. Robin hier hat nur leider einiges falsch verstanden, er eifert mir nach.«
Toowoomba wurde plötzlich ernst.
»Normalerweise sind wir ganz liebe Jungs, Harry. Wir lassen sie ein paarmal zuschlagen, bevor wir selbst ein paar leichte Treffer setzen, damit sie begreifen, wer im Ring das Sagen hat, verstehst du? Danach dauert es in aller Regel nicht mehr lange, bis sie aufgeben. Aber dieser Kerl da draußen konnte ja boxen, er hätte jemanden verletzen können. Solche Kerle kriegen doch nur, was sie wollen.«
Die Tür ging mit einem Schwung auf: »Scheiße, Toowoomba, als wenn wir nicht schon genug Probleme hätten, mußtest du wirklich dem Schwiegersohn des hiesigen Polizeichefs das Nasenbein brechen?« Terry, der Ansager, sah höchst unzufrieden aus, und er unterstrich das, indem er auf den Boden spuckte.
»Reiner Reflex, Chef«, entgegnete Toowoomba und blickte auf den kautabakbraunen Klecks Spucke. »Das wird nicht wieder vorkommen.« Er zwinkerte heimlich Andrew zu.
Sie erhoben sich. Toowoomba und Andrew umarmten einander und wechselten noch ein paar Worte in einer Sprache, von der Harry wirklich gar nichts verstand. Er selbst beeilte sich, Toowoomba auf die Schulter zu klopfen, um einem weiteren Händeschütteln zu entgehen.
»Was war das eben für eine Sprache?« fragte Harry, nachdem sie sich ins Auto gesetzt hatten.
»Ach das. Das war Kreol, eine Mischung aus Englisch und Aborigineworten. Viele Aborigines im ganzen Land sprechen das. Wie fandest du das Boxen?«
Harry wußte nicht so recht.
»Es war interessant zu beobachten, wie du ein paar Dollar verdient hast, aber wir könnten jetzt in Nimbin sein.«
»Wenn wir heute nicht hierhergefahren wären, könntest du heute abend nicht in Sydney sein«, sagte Andrew. »Man macht mit einer solchen Frau kein Rendezvous, um dann einfach nicht zu kommen. Wir reden hier vielleicht über deine zukünftige Frau und Mutter kleiner Holys, Harry.«
Beide mußten sie lächeln, während sie Bäume und flache Häuser passierten und im Osten die Sonne unterging.
Noch bevor sie Sydney erreichten, wurde es dunkel, aber der Fernsehturm in der Mitte der Stadt, der wie eine riesige Glühbirne aussah, wies ihnen den Weg. Andrew hielt am Circular Quay, unweit vom Opernhaus, an. Eine Fledermaus flatterte blitzschnell im Scheinwerferlicht des Autos hin und her. Andrew zündete sich eine Zigarre an und gab Harry ein Zeichen, sitzen zu bleiben.
»Die Fledermäuse sind das Todessymbol der Aborigines, wußtest du das?«
Harry hatte davon noch nie gehört.
»Stell dir mal einen Ort vor, an dem die Menschen über vierzigtausend Jahre isoliert waren. Sie haben, um es anders zu sagen, nichts mitbekommen vom Judentum, ganz zu schweigen vom Christentum und dem Islam, weil ein ganzer Ozean sie vom nächsten Kontinent trennte. Trotzdem haben sie ihre Schöpfungsgeschichte. Der erste Mensch war Ber-rok-boorn. Er wurde von Baime geschaffen, dem Ungeschaffenen, der der Beginn aller Liebe war und alle erschaffenen Dinge behütete. Mit anderen Worten, ein netter Kerl, dieser Baime, von Freunden nur der große väterliche Geist genannt. Nachdem Baime Ber-rok-boorn und seiner Frau einen nach allem Ermessen guten Ort zum Leben gegeben hatte, markierte er einen Yarran-Baum, in dem sich ein Bienenschwarm niedergelassen hatte.
›Ihr könnt euch im ganzen Land, das ich für euch erschaffen habe, Nahrung suchen, dieser Baum aber gehört mir‹, ermahnte er die beiden Menschen. ›Versucht ihr aber, auch von ihm Nahrung zu gewinnen, wird euch und euren Nachkommen viel Schlechtes widerfahrene.‹ Irgend so etwas. Jedenfalls, eines Tages, als Ber-rok- boorn fort war, um Holz zu sammeln, kam seine Frau am Yarran- Baum vorbei. Anfangs, als sie plötzlich bemerkte, daß sie unter dem heiligen Baum stand, verspürte sie große Angst, doch es lag so viel Holz unter diesem Baum, daß sie ihrer ersten Eingebung, möglichst schnell fortzulaufen, nicht folgte. Außerdem hatte Baime nichts von Holz gesagt. Während sie das Holz einsammelte, hörte sie ein schwaches Summen über sich und schaute auf, und da sah sie den Bienenschwarm und den Honig, der an dem Stamm des Baumes herablief. Sie hatte erst ein einziges Mal zuvor ein wenig Honig gekostet, doch hier gab es Nahrung für viele Mahlzeiten. Die Sonne glitzerte in den blanken, süßen Tropfen und schließlich konnte sich Ber-rok-boorns Frau nicht mehr länger zurückhalten, sie kletterte in den Baum.
In diesem Moment kam ein kalter Hauch von oben, und eine große dunkle Gestalt umkreiste mit riesigen schwarzen Schwingen ihren Körper. Es war die Fledermaus Narahdarn, die Baime mit der Bewachung des Baumes beauftragt hatte. Die Frau fiel zu Boden und rannte zurück zu ihrer Höhle. Dort versteckte sie sich. Aber es war zu spät, sie hatte den Tod auf die Welt gerufen, symbolisiert durch die Fledermaus Narahdarn, und alle Nachkommen Ber-rok-boorns würden diesem Bann unterliegen. Der Yarran-Baum weinte seine bitteren Tränen über das Tragische, das geschehen war. Die Tränen rannen am Baum herab und erstarrten, und deshalb kann man heute an der Rinde des Yarran-Baumes rotes Gummi finden.«
Andrew zog zufrieden an seiner Zigarre.
»Adam und Eva auf australisch, nicht wahr?«
Harry nickte und mußte anerkennen, daß es eine ganze Menge Ähnlichkeiten gab.
»Vielleicht ist es einfach so, daß die Menschen, egal wo sie auf der Erde leben, auf irgendeine Weise die gleichen Visionen und Phantasien haben. Daß das naturgegeben ist, sich sozusagen fertig auf der Harddisk befindet. Daß wir trotz aller Unterschiede früher oder später bei den gleichen Antworten landen.«
»Laß uns das hoffen«, sagte Andrew. Er schaute mit zusammengekniffenen Augen durch den Rauch. »Laß uns das hoffen.«
Harry hatte schon seine zweite Cola bestellt, als Birgitta zehn Minuten nach neun erschien. Sie trug ein einfaches, weißes Baumwollkleid und hatte die roten Haare in einem beeindruckenden Pferdeschwanz gebändigt.
»Ich habe schon befürchtet, daß du nicht kommst«, sagte Harry. Er hatte das im Spaß gesagt, aber innerlich meinte er es so. Diese Befürchtung hatte er schon, seit er sich mit ihr verabredet hatte.
»Wirklich?« antwortete Birgitta auf schwedisch und warf Harry einen schelmischen Blick zu. Und er fühlte instinktiv, daß dies ein schöner Abend zu werden versprach.
Sie bestellten grünes Schweinecurry, Hühnchen mit Cashewnüssen, einen australischen Chardonnay und Perrier.
»Ich muß ja sagen, daß ich ziemlich überrascht bin, so weit von zu Hause entfernt auf jemand aus Schweden zu treffen.«
»Das solltest du nicht sein. Es wohnen ungefähr neunzigtausend Schweden in Australien.«
»Was?«
»Die meisten sind vor dem Zweiten Weltkrieg hierher emigriert, aber eine ganze Reihe junger Leute kam erst in den achtziger Jahren, als die Arbeitslosigkeit in Schweden zu steigen begann.«
»Und ich habe geglaubt, ihr Schweden vermißt eure Fleischklößchen und den Mitsommernachtsbaum schon, bevor ihr Helsingör erreicht.«
»Du mußt da was mit den Norwegern verwechselt haben. Ihr seid doch verrückt! Die Norweger, die ich hier unten getroffen habe, haben alle schon nach ein paar Tagen Heimweh bekommen, und nach zwei Monaten waren sie alle wieder zu Hause. Heim zum Norwegerpulli.«
»Nur nicht Inger?«
Birgitta wurde still.
»Nein, Inger nicht.«
»Weißt du, warum sie hier unten blieb?«
»Wohl aus dem gleichen Grund wie die meisten von uns. Man kommt in den Ferien hierher, verliebt sich in das Land, in das Klima, in das unkomplizierte Leben oder irgendeinen Kerl. Man versucht, eine erweiterte Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Mädchen aus Skandinavien haben in der Regel keine Probleme, in einer australischen Bar Arbeit zu finden, und plötzlich ist es so weit bis nach Hause und so einfach zu bleiben.«
»War das bei dir auch so?«
»So oder so ähnlich.«
Sie aßen eine Weile schweigend. Das Curry war gut, stark und kräftig.
»Weißt du etwas über Ingers neuen Freund?«
»Er war, wie gesagt, einmal abends in der Bar. Sie hat ihn in Queensland kennengelernt. Auf Fräser Island, glaube ich. Er sah aus wie diese Hippies, von denen ich geglaubt hatte, sie seien längst ausgestorben, aber hier in Australien gibt es sie immer noch, als wenn in der Zwischenzeit nichts geschehen wäre. Lange Haare mit Zöpfchen, bunte, weite Gewänder und Sandalen. Er sah aus, als käme er geradewegs vom Strand von Woodstock.«
»Woodstock liegt im Landesinneren. In New Jersey.«
»Aber gab es da nicht einen See, in dem man baden konnte? Ich meine, ich hätte so etwas gehört.«
Harry schaute sie genauer an. Sie saß etwas nach vorne gebeugt da und konzentrierte sich auf das Essen. Die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken schienen fast zusammengewachsen zu sein. Harry fand sie sehr anziehend.
»Du brauchst doch so was nicht zu wissen. Du bist zu jung.«
Sie lachte. »Und du, was bist du – ein Opa?«
»Ich? Ja, vielleicht, an manchen Tagen bin ich das wohl. So etwas bringt die Arbeit manchmal mit sich – irgendwo innerlich wird man da viel zu schnell alt. Aber hoffentlich bin ich noch nicht so desillusioniert und ausgedient, daß ich mich nicht hin und wieder lebendig fühle.«
»Oh, du Armer …«
Harry mußte lächeln. »Du kannst glauben, was du willst, aber ich sage das nicht, um an deine Muttergefühle zu appellieren – auch wenn das vielleicht gar keine so schlechte Idee wäre – das ist einfach so.«
Der Kellner ging am Tisch vorbei, und Harry nutzte die Gelegenheit, um noch eine Flasche Perrier zu bestellen.
»Jedesmal, wenn man die Geschichte eines Mordes untersucht, ist man selbst irgendwie ein wenig betroffen und verletzt. Außerdem finden sich da im verborgenen immer noch viel mehr menschliche Scheiße und traurige Schicksale und viel weniger ausgetüftelte Motive, als man nach all den Agatha-Christie-Romanen glauben mag. Anfangs habe ich mich selbst als eine Art Ritter der Gerechtigkeit angesehen, aber manchmal fühle ich mich jetzt eher wie ein Müllmann. Mörder sind meistens jämmerliche Gestalten, und es ist nur selten wirklich schwierig, mindestens zehn gute Gründe dafür zu finden, warum sie so geworden sind, wie sie sind. In der Regel endet es damit, daß man an erster Stelle ganz einfach frustriert ist. Frustriert darüber, daß sie sich nicht damit begnügen, ihre eigenen Leben zugrunde zu richten, sondern daß sie auch noch andere mit in die Tiefe reißen müssen. Das hört sich immer noch ein bißchen sentimental an, oder …«
»Sorry, das sollte nicht zynisch klingen. Ich verstehe, wie du das meinst«, sagte sie.
Ein warmer Windhauch wehte von der Straße herein, und die Kerze zwischen ihnen begann zu flackern.
Birgitta erzählte von sich und ihrem Freund, wie sie damals vor vier Jahren in Schweden ihre Rucksäcke gepackt hatten und als backpackers losgefahren waren, von ihrer Tour mit dem Bus und per Autostop von Sydney nach Cairns, von den Übernachtungen im Zelt und in billigen Hotels, in denen sie später auch am Empfang und in der Küche gejobt hatten und davon, wie sie am Great Barrier Reef mit Schildkröten und Hammerhaien um die Wette geschwommen waren. Sie hatten am Ayers Rock meditiert, Geld gespart für den Zug von Adelaide nach Alice Springs, waren beim Konzert von Crowded House in Melbourne gewesen und schließlich in einem Motel in Sydney gestrandet.
»Es ist merkwürdig, wie etwas, das so gut funktioniert, so … falsch sein kann.«
»Falsch?«
Birgitta zögerte etwas. Vielleicht meinte sie, diesem aufdringlichen Norweger bereits mehr als genug erzählt zu haben.
»Ich weiß nicht so recht, wie ich das erklären soll. Uns kam unterwegs irgend etwas abhanden, etwas, das es vorher gegeben hatte und das wir als Selbstverständlichkeit angesehen hatten. Wir haben damit aufgehört, uns anzuschauen, und bald danach damit, uns zu berühren. Wir wurden ganz einfach Reisegefährten, Menschen, die zusammenblieben, weil es billiger ist, ein Doppelzimmer zu nehmen und sicherer, wenn man im Zelt übernachtete. Er traf in Noosa ein deutsches Millionärstöchterchen, und ich reiste weiter, damit er seine Affäre in Ruhe beenden konnte. Mir war das scheißegal. Als er nach Sydney kam, sagte ich ihm, daß ich mich in einen amerikanischen Surffreak verliebt hätte. Ich weiß nicht, ob er mir geglaubt hat, vielleicht hat er verstanden, daß ich uns beiden die Gelegenheit verschaffte, einen Schlußstrich zu ziehen. Wir versuchten, uns in diesem Motel zu streiten, aber nicht einmal mehr das gelang uns noch. Ich bat ihn schließlich, nach Schweden zurückzufahren und zu sagen, ich käme bald nach.«
»Er dürfte inzwischen einen großen Vorsprung haben.«
»Wir waren sechs Jahre zusammen. Glaubst du mir, wenn ich sage, daß ich fast nicht mehr weiß, wie er aussah?«
»Ja, doch.«
Birgitta seufzte.
»Ich hätte das niemals geglaubt. Ich war mir so sicher, daß wir heiraten und Kinder bekommen und in einer kleinen Vorstadt von Malmö in einem Häuschen mit Garten leben würden, das Sydsvenska Dagbladet auf der Treppe, und jetzt – jetzt weiß ich kaum mehr, wie sich seine Stimme angehört hat oder wie es war, ihn zu lieben …« – sie schaute auf und blickte Harry an: »Oder daß er zu höflich war, mich zu bitten, doch einmal ruhig zu sein, wenn ich nach ein paar Gläsern Wein nicht mehr aufhören konnte zu reden.«
Harry lächelte breit. Sie hatte nichts dazu gesagt, daß er keinen Wein trank.
»Ich bin nicht höflich, ich bin einfach interessiert«, sagte er.
»Dann solltest du erst mal etwas mehr über dich erzählen, auch wenn du Polizist bist.«
Birgitta lehnte sich vor. Harry riß sich zusammen, nicht in ihren Ausschnitt zu gucken. Er roch ihren schwachen Duft und zog die Luft begierig durch die Nasenlöcher ein. Er durfte sich nicht täuschen lassen. Das waren nur irgendwelche gerissenen Leute von Karl Lagerfeld oder Christian Dior, die ganz genau wußten, was nötig war, um einen armen Teufel hinters Licht zu führen.
Sie roch phantastisch.
»Tja«, begann Harry, »ich habe eine ältere Schwester, meine Mutter starb vor neun Jahren, ich wohne in einer Wohnung in Oslo, die ich irgendwie nicht wieder loswerde. Ich habe keine längere Beziehung hinter mir und überhaupt nur eine, die Spuren hinterlassen hat.«
»Wirklich? Und es gibt in deinem jetzigen Leben niemanden?«
»Nein, nicht wirklich. Es gibt da ein paar unkomplizierte und oberflächliche Verhältnisse zu Frauen, die ich ab und zu anrufe, wenn sie sich nicht melden.«
Birgitta zog die Stirn in Falten.
»Stimmt etwas nicht?« fragte Harry.
»Ich weiß nicht, ob ich diese Sorte Männer sonderlich schätze. Oder Frauen. So gesehen bin ich etwas altmodisch.«
»Das alles habe ich jetzt natürlich hinter mir gelassen«, sagte Harry und hob sein Perrierglas.
»Und ich weiß auch nicht, ob ich deine überlegten, klugen Antworten mag«, erwiderte Birgitta und stieß mit ihm an.
»Also, was ist dir wichtig bei einem Mann?«
Sie stützte ihr Kinn auf die Hand und dachte nach. »Ich weiß nicht. Ich glaube, ich weiß besser, was ich nicht mag, als was ich mag.«
»Was magst du nicht, abgesehen von klugen Antworten?«
»Männer, die versuchen, mich anzumachen.«
»Macht dir das sehr zu schaffen?«
Sie lächelte. »Laß mich dir ein paar Tips geben, Casanova. Wenn du einer Frau gefallen willst, mußt du sie dazu bringen, sich einzigartig zu fühlen, zu glauben, daß sie ganz besonders behandelt wird und etwas bekommt, das nur ihr zusteht. Männer, die versuchen, Mädchen in irgendwelchen Bars aufzureißen, haben das einfach nicht begriffen. Aber bei so einem Libertin wie dir heißt das ja wohl, Perlen vor die Säue zu werfen!«
Harry lachte.
»Mit ein paar meine ich zwei. Ich habe ›ein paar‹ gesagt, weil sich das vielleicht ein bißchen wilder anhört, eher wie … drei. Die eine der beiden ist, nach allem, was sie mir gesagt hat, als wir uns das letzte Mal getroffen haben, ohnehin auf dem Weg zurück zu ihrem Ex- Freund. Sie hat sich bei mir bedankt, daß die Beziehung so unkompliziert gewesen sei … oberflächlich, würde ich sagen. Bei der anderen handelt es sich um eine Frau, die ich einmal für mich gewinnen wollte und die jetzt darauf besteht, daß ich, da ich es war, der die Beziehung später beendete, ganz einfach die Pflicht hätte, dafür zu sorgen, daß sie, solange keiner von uns eine neue Beziehung eingeht, wenigstens ein Minimum an Sexualleben hat. Aber Moment mal … Warum soll ich mich verteidigen? Ich bin ein braver Kerl, der keiner Fliege ein Haar krümmt. Willst du damit sagen, daß ich versuche, dich zu …?«
»O ja, das versuchst du. Versuch das bitte nicht zu leugnen.«
Harry leugnete es nicht.
»Okay. Wie stelle ich mich dabei an?«
Sie nahm einen großen Schluck Wein und dachte nach.
»Gut, glaube ich. Brauchbar, auf jeden Fall. Nein, ich denke gut … ziemlich gut.«
»Das hört sich an wie zwei minus.«
»Etwa so, ja.«
Unten am Hafen war es dunkel und fast menschenleer. Frischer Wind kam auf. Auf der Treppe zum beleuchteten Opernhaus hatte sich ein ungewöhnlich dickes Brautpaar vor einem Fotografen aufgestellt. Er dirigierte sie hin und her, und die beiden Frischvermählten schienen keinen großen Gefallen daran zu haben, ihre schweren Körper zu bewegen. Schließlich einigten sie sich aber, und die nächtliche Fotosession vor der Oper endete mit einem Lächeln, Lachen und vielleicht mit einer kleinen Träne.
»Das muß es sein, was man mit ›vor Glück platzen‹ meint«, sagte Harry. »Oder sagt man so etwas auf schwedisch nicht?«
»Doch, man kann so glücklich sein, daß man auch auf schwedisch platzt.« Birgitta löste das Band, das ihre Haare zusammenhielt, und stellte sich vor dem Opernhaus an das Geländer der Kaimauer.
»Doch, das gibt es«, wiederholte sie, fast wie zu sich selbst. Sie drehte ihre Sommersprossennase zum Meer, und der Wind wehte ihr die Haare nach hinten aus dem Gesicht.
Sie sah aus wie eine Feuerqualle. Harry hatte nicht gewußt, daß Feuerquallen so schön sein konnten.
Der große Zeiger von Harrys Armbanduhr zeigte eindeutig auf die Elf, doch die Stimme der Stewardeß, die durch den Lautsprecher erklang, bestand darauf, daß es erst zehn war.
»Hier in Queensland gibt es keine Sommerzeit«, erklärte Andrew. »Das war hier oben eine große politische Sache. Es fand schließlich eine Volksabstimmung statt, und die Bauern waren dagegen.«
»Mein Gott, mir scheint, wir sind im Land der Rednecks.«
»I'd say, mate. Bis vor kurzem durften Langhaarige diesen Staat nicht betreten. Es war ganz einfach verboten.«
»Du machst doch Witze?«
»Queensland ist eben anders. Bald ist es hier wahrscheinlich verboten, Skinhead zu sein.«
Harry strich sich zufrieden über seinen kurzgeschorenen, blonden Schädel. »Gibt es noch etwas, das ich über Queensland wissen sollte?«
»Tja, wenn du Marihuana in den Taschen hast, solltest du es besser im Flugzeug lassen. In Queensland sind die Gesetze, was Drogenmißbrauch angeht, härter als in den anderen Teilstaaten. Nicht von ungefähr wurde das Aquarius-Festival nach Nimbin verlegt. Die Stadt liegt unmittelbar hinter der Grenze zu New South Wales.«
Sie fanden das Büro des Avis-Autoverleihs, wo man ihnen mitteilte, daß ein Wagen für sie bereitstünde.
»Dafür hat Queensland aber solche Orte wie Fräser Island, wo Inger Holter Evans White getroffen hat. Die Insel sieht eigentlich aus wie eine riesige Sandbank, aber im Inneren findet man Regenwald und Süßwasserseen mit dem saubersten Wasser der Welt. Der Sand dort ist so weiß, daß man meinen könnte, die Strände bestünden aus Marmor. Quarzsand nennt man das, weil der Siliciumgehalt so viel höher ist als bei normalem Sand. Wahrscheinlich kannst du den direkt in deinen PC schütten.«
»The land of plenty, ay?« sagte der Mann hinter dem Tisch und reichte ihnen den Schlüssel.
»Ford Escort?« Andrew verzog die Nase, unterschrieb dann aber doch. »Gibt's die immer noch?«
»Special rate, Sir.«
»Das bezweifle ich nicht.«
Die Sonne brannte auf den Pacific Highway herab und ließ Brisbanes gläserne Skyline in der Ferne glitzern wie einen Kristallüster.
»Schön«, sagte Harry. »So sauber und ordentlich. Als wenn all das auf dem Reißbrett entstanden und dann alles gleichzeitig gebaut worden wäre.«
»Das ist beinahe richtig. Brisbane ist in vielerlei Hinsicht eine funkelnagelneue Stadt. Noch vor ein paar Jahren war hier nur ein großes Dorf mit ein paar hunderttausend Bauern. Wenn du genau hinschaust, kannst du erkennen, daß die Leute hier noch immer ein bißchen O-Beine haben. Die Stadt ist wie eine hochmoderne Küche in einem alten Bauernhof: glänzend, geradlinig und effektiv – umgeben von einer Unzahl wiederkäuender Kühe.«
»Das ist ja wirklich ein toller Vergleich, Andrew.«
»Blas dich nicht zu sehr auf, offsider!«
Nachdem sie den Highway verlassen hatten, fuhren sie Richtung Osten durch eine grüne, hügelige Landschaft mit Wald und Ackerflächen.
»Willkommen auf dem australischen Land«, sagte Andrew.
Auf den Weiden grasten Kühe, die ihnen träge nachschauten.
Harry amüsierte sich.
»Was ist?« fragte Andrew.
»Kennst du den Comicstrip von Larson, in dem die Kühe auf zwei Beinen auf der Wiese stehen, sich unterhalten und rauchen und eine von ihnen dann plötzlich ausruft: Achtung, da kommt noch ein Auto?«
Es entstand eine Pause.
»Wer ist Larson?« fragte Andrew.
»Vergiß es.«
An der Straße lagen niedrige Holzhäuser mit Veranda und Moskitonetzen an den Türen, und in den Einfahrten standen Pick-ups. Kräftige, melancholisch dreinblickende Arbeitspferde waren am Straßenrand zu sehen und Bienenkörbe. Immer wieder fuhren sie an einem Pferch vorbei, in dem sich Schweine zufrieden im Schlamm suhlten. Die Straßen wurden zusehends schmaler. Gegen Mittag tankten sie in einer kleinen Siedlung. Auf dem Ortsschild stand Uki und daß der Ort zweimal hintereinander zur saubersten Stadt Australiens gekürt worden war, nicht aber, wer letztes Jahr gewonnen hatte.
»Holy macarony«, sagte Harry, als sie nach Nimbin kamen.
Das Zentrum verteilte sich auf rund hundert Meter, leuchtete in allen Regenbogenfarben und glich einer Personengalerie aus einem der Cheec & Chong-Filme, die Harry in seiner Videosammlung hatte.
»Das sind ja die reinsten Siebziger!« rief er. »Ich meine, guck doch mal da rüber, da steht Peter Fonda und knutscht mit Janis Joplin.«
Schläfrige Blicke folgten dem langsam über die Straße rollenden Auto.
»Das ist phantastisch. Ich hätte nicht gedacht, daß es solche Orte noch gibt. Das ist ja zum Totlachen.«
»Warum?« fragte Andrew.
»Findest du das nicht komisch?«
»Komisch? Was ist daran schon komisch?« brummte Andrew. »Ich verstehe ja, daß es heutzutage leicht ist, über diese Träumer zu lachen. Mir ist klar, daß die heutige Jugend glaubt, die Flower-Power- Generation sei eine Gang Potheads gewesen, die nichts anderes im Kopf hatte, als Gitarre zu spielen, sich gegenseitig eigene Gedichte vorzutragen und nach dem Zufallsprinzip miteinander zu schlafen. Ich weiß, daß die damaligen Veranstalter von Woodstock mit Schlips und Kragen zum Interview kommen und sich mit einem milden Lächeln über ihre früheren ›Ideen‹ amüsieren, die ihnen heute selber als im höchsten Grade naiv erscheinen. Aber ohne die Ideen, für die diese Generation gestanden hat, würde die Welt heute vollkommen anders aussehen. Schlagworte wie Love und Peace mögen jetzt vielleicht wie Klischees erscheinen, aber wir, die wir damals aufgewachsen sind, haben das wirklich so gemeint. Von ganzem Herzen.«
»Bist du nicht ein bißchen alt, um Hippie gewesen zu sein, Andrew?«
»Ja, ich war alt, ein routinierter, schlauer Hippie war ich«, grinste Andrew. »Manch ein junges Ding hat ihre erste Einführung in die vielfältigen Geheimnisse der Liebe bei Onkel Andrew bekommen.«
Harry boxte Andrew auf die Schulter. »Ich dachte, du hättest gerade von Idealismus gesprochen, du alter Schwerenöter. «
»Natürlich war das Idealismus«, sagte Andrew beleidigt. »Ich konnte diese zarten Knospen doch nicht irgendeinem plumpen, pickeligen Jungspund überlassen und damit riskieren, daß die Mädchen für den Rest der siebziger Jahre ein Trauma davontrugen.«
»Das war also der wichtigste Beitrag der siebziger Jahre zur heutigen Gesellschaft?«
Andrew schüttelte den Kopf.
»Die Luft, Mann. Es lag in der Luft. Die Freiheit. Der Glaube an die Menschen. Die Möglichkeit, etwas Neues aufzubauen. Auch wenn Bill Clinton behauptet, niemals Marihuana geraucht zu haben – er hat damals die gleiche Luft geatmet, den gleichen Geist wie wir anderen. Und natürlich hat das einen Einfluß darauf, wer du bist. Mann, du hättest ja fünf Jahre lang oder länger die Luft anhalten müssen, um davon nicht geprägt zu werden! Lach du nur, Harry Holy. In zwanzig Jahren, wenn die Schlaghosen und all die schlechten Gedichte vergessen sind, wird das Gedankengut von damals in einem ganz neuen Licht erscheinen, du wirst es schon sehen!«
Harry lachte trotzdem.
»Nimm das nicht persönlich, Andrew, aber ich bin in der Generation danach aufgewachsen. Genauso wie ihr über die engen Hemden und die pomadigen Frisuren der Generation der fünfziger Jahre gelacht habt, haben wir uns über eure Mahatmas und die Blumen in den Haaren lustig gemacht. Glaubst du nicht, daß die heute Zehnjährigen über solche wie mich lachen werden? Das ist halt so. Aber hier unten kann man doch glauben, daß die siebziger Jahre überlebt haben?«
Andrew machte eine resignierte Geste mit der Hand. »Ich glaube, in Australien gibt es besonders gute Bedingungen für so etwas wie das hier. Die Hippie-Welle ist nie richtig ausgestorben, aber irgendwie hat es einen direkten Übergang zu dieser New Age-Bewegung gegeben. In jedem Buchladen gibt es mindestens ein Regal mit Büchern über den alternativen Lebensstil, Naturmedizin, den Kontakt zu seinem innersten Ich, Vegetarismus, wie man sich vom Materialismus befreit und in Harmonie mit sich und der Umwelt lebt. Aber die rauchen natürlich nicht alle Gras!«
»Das hier ist nicht New Age, Andrew! Das sind gute, alte, eingerauchte Hippies, jedenfalls mehr oder weniger.«
Andrew schaute durch das Seitenfenster und lächelte. Ein Kerl mit langem grauen Bart saß in ein Gewand gehüllt auf einer Bank und winkte ihnen, die Finger zum V-Zeichen gespreizt, zu. »The Marihuana Museum« stand auf einem Schild unter einer Zeichnung von einem alten, gelben Hippie-VW-Bus. Darunter stand in noch kleinerer Schrift: »Entrance: One Dollar. If you can't pay, go in anyway.«
»Es gibt ein Dope-Museum hier in Nimbin«, erklärte Andrew. »Das meiste ist Mist, aber wenn ich mich richtig erinnere, gab es auch ein paar Originalbilder von der Mexicoreise von Ken Kensey, Jack Kerouac und den anderen Pionieren aus der Zeit, als sie mit bewußtseinserweiternden Drogen experimentierten.«
»Aus der Zeit, als LSD ungefährlich war?«
»Und Sex nur gesund. Eine wunderbare Zeit, Harry Hole. You should have been there, man!«
Sie stellten den Wagen etwas weiter die Straße hinunter ab und gingen zurück. Harry nahm seine Ray Ban-Sonnenbrille ab und versuchte, zivil auszusehen. Es war ganz offensichtlich ein stiller Tag in Nimbin, so daß der Weg zwischen den Händlern hindurch für Harry und Andrew zum reinsten Spießrutenlauf wurde: Good grass … Best grass in Australia, man! … Grass from Papua New Guinea, mindblowin'!
»Papua New Guinea«, schnaubte Andrew, »sogar hier, in der Hauptstadt des Gras, leben die Menschen mit der Vorstellung, daß das Gras besser ist, wenn es von einem Ort stammt, der nur weit genug entfernt liegt. Kauft australisches, sage ich nur!«
Eine schwangere und trotzdem magere junge Frau saß auf einem Stuhl vor dem Museum und winkte ihnen zu. Ihr Alter war schwer zu schätzen, irgendwo zwischen zwanzig und vierzig. Sie trug ein weites buntes Gewand, und die Knöpfe ihres Hemdes waren vorne und unten geöffnet, so daß ihr runder Bauch mit der gespannten Haut wie eine Trommel darunter hervorragte. Harry fühlte sich durch sie an irgend jemanden erinnert, wußte aber nicht an wen. Die Größe ihrer Pupillen zeigte deutlich, daß mehr als nur Gras auf ihrem Frühstücksmenü gestanden hatte.
»Looking for something else?« fragte sie. Sie hatte bemerkt, daß die beiden kein Interesse gezeigt hatten, Marihuana zu kaufen.
»Nein …« begann Harry.
»Acid? LSD? Ihr wollt LSD, nicht wahr?« Sie lehnte sich zu ihnen vor und sprach schnell und eindringlich.
»Nein, wir wollen kein LSD«, antwortete Harry, »wir suchen nach etwas anderem, klar?«
Sie blieb sitzen und schaute sie an. Andrew machte ein Zeichen, weiterzugehen, doch da sprang sie plötzlich auf, als würde sie ihr Bauch nicht im geringsten hindern, und ergriff Andrews Arm: »Okay. Aber das können wir nicht hier machen. Ihr könnt mich in zehn Minuten in dem Pub da drüben treffen.«
Andrew nickte und sie drehte sich um und ging mit ihrem runden Bauch die Straße hinunter, dicht gefolgt von einem Hundewelpen.
»Ich weiß, was du meinst, Harry«, sagte Andrew und zündete sich eine Zigarre an. »Daß es nicht nett war, diese gutherzige Mutter glauben zu lassen, wir wollten Heroin kaufen. Daß die Polizeistation nur hundert Meter entfernt ist und daß wir da vielleicht alles erfahren könnten, was wir wissen müssen, um Evans White zu finden. Aber ich habe das Gefühl, daß das so schneller geht. Laß uns ein Bier trinken und abwarten, was passiert.«
Eine halbe Stunde später kam die gutherzige Mutter gemeinsam mit einem Typ, der mindestens genauso gehetzt aussah wie sie selbst, in die fast menschenleere Bar. Er sah wie die Klaus Kinski-Variante von Graf Dracula aus: blaß, dürr, in schwarzen Gewändern und mit bläulichen Ringen unter den Augen.
»Jetzt schau dir den an«, flüsterte Andrew, »dem kann man auf jeden Fall nicht vorwerfen, nicht selbst zu testen, was er verkauft.«
Die gutherzige Mutter und der Kinski-Klon steuerten mit raschen Schritten auf sie zu. Der Typ sah nicht so aus, als wolle er mehr Zeit als unbedingt nötig im Tageslicht verbringen, und übersprang sämtliche Höflichkeitsphrasen:
»Für wieviel wollt ihr kaufen?«
Andrew hatte ihm demonstrativ den Rücken zugedreht. »Hier sind mir noch zu viele Leute, um konkret zu werden«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Kinski machte eine Bewegung mit dem Kopf und die gutherzige Mutter zog mit saurer Miene ab. Wahrscheinlich bekam sie Prozente, und Harry nahm an, daß das Vertrauen zwischen ihr und Kinski so war wie zwischen allen Junkies – es existierte nicht.
»Ich habe nichts bei mir, und wenn ihr Bullen seid, dann schneide ich euch die Eier ab. Zeig mir erst mal deine Visage, und dann verschwinden wir hier.« Er redete schnell und nervös, wobei sein Blick unruhig hin und her flatterte.
»Ist das weit von hier?« fragte Andrew.
»It's a short walk, but a lo-ong trip.« Etwas, das wie ein Lächeln aussehen sollte, entblößte für einen kurzen Moment die Zähne.
»Good on ya, mate. Setz dich hin und halt das Maul«, zischte Andrew und zeigte ihm seine Polizeimarke. Kinski erstarrte. Harry erhob sich und klopfte mit der Hand hinter seinem Rücken auf seinen Gürtel. Es gab keinen Anlaß, zu überprüfen, ob Harry eine Waffe hatte.
»Was soll dieses Amateurgetue? Ich habe nichts bei mir, das hab ich doch gesagt!« Trotzig ließ er sich vor Andrew in einen Stuhl fallen.
»Ich gehe davon aus, daß du den hiesigen Sheriff und seine Assistenten kennst? Und die kennen wohl auch dich. Aber wissen die, daß du begonnen hast, auch horse zu verkaufen?«
Der Typ zuckte mit den Schultern.
»Wer hat etwas von horse gesagt, ich dachte, ihr wolltet Gras …«
»Natürlich, von Junk war nie die Rede, und es ist auch nicht gesagt, daß wir jemals ein Wort darüber verlieren, vorausgesetzt, du kannst uns ein paar Auskünfte geben.«
»Ihr macht Witze, oder? Soll ich das Risiko eingehen, als Spitzel geköpft zu werden, nur weil zwei fremde Bullen, die noch nicht einmal was gegen mich in der Hand haben, hereingeschneit kommen und …«
»Spitzel? Wir haben uns hier getroffen, wurden uns aber nicht einig über Preis und Ware – und das war's. Du hast sogar eine Zeugin, daß wir uns hier wegen eines normalen Geschäftes getroffen haben. Wenn du tust, was wir von dir verlangen, wirst du uns nie mehr Wiedersehen, und das gilt auch für alle anderen hier.«
Andrew zündete sich eine Zigarre an, blinzelte mit kleinen Augen dem armen Junkie auf der anderen Seite des Tisches zu, und während er ihm den Rauch ins Gesicht blies, fuhr er fort:
»Wenn wir nicht kriegen, was wir wollen, kann es allerdings passieren, daß wir uns beim Rausgehen die Polizeimarken anheften und es in nächster Zukunft ein paar Verhaftungen geben wird, die deine Popularität hier in der Gegend nicht gerade steigen lassen dürften. Ich weiß nicht, ob man hier die Methoden anwendet, von denen du eben gesprochen hast, ob man den Spitzeln die Eier abschneidet, potheads sind doch in der Regel ganz friedlich. Aber die wissen ja vielleicht das eine oder andere, und es würde mich nicht überraschen, wenn der Sheriff eines Tages über dein ganzes Lager stolpern würde, so rein zufällig. Potheads haben es ja nicht so gerne, wenn sie Konkurrenz von härteren Sachen bekommen, weißt du, auf jeden Fall nicht von herumspitzelnden Junkies. Und das Strafmaß für den Handel mit Heroin in größeren Mengen ist dir ja wohl geläufig, nicht wahr?«
Noch mehr Zigarrenrauch in Kinskis Gesicht. Es gibt nicht jeden Tag die Gelegenheit, einem solchen Arsch Qualm ins Gesicht zu blasen, dachte Harry.
»Okay«, sagte Andrew, als er keine Antwort bekam. »Evans White. Du wirst uns sagen, wo er ist, wer er ist und wie wir ihn schnappen können. Und zwar jetzt!«
Kinski schaute sich um. Der hohlwangige, große Kopf drehte sich auf dem dünnen Hals hin und her und ließ ihn wie einen Geier auf einem Stück Aas aussehen, der ängstlich Ausschau hält, ob die Löwen nicht zurückkommen.
»Nur das?« fragte er. »Sonst nichts?«
»Sonst nichts«, erwiderte Andrew.
»Und wie kann ich wissen, ob ihr nicht zurückkommt und mehr von mir wollt?«
»Gar nicht.«
Er nickte, als sei ihm bereits klar, daß das die einzige logische Antwort war.
»Okay. Er ist kein großer Fisch mehr, aber nach allem, was ich gehört habe, ist er wieder auf dem Weg nach oben. Er hat für Madame Rosseau gearbeitet, das ist die Graskönigin hier oben, aber jetzt hat er sein eigenes Busineß begonnen. Gras, LSD und vielleicht auch irgendwelche Morphine. Das Gras ist das gleiche, das auch die anderen hier verkaufen, aus lokaler Produktion. Aber er scheint gute Verbindungen nach Sydney zu haben und liefert Gras gegen sauberes, billiges LSD. Das ist hier im Moment der Renner.«
»Nicht E oder Junk?« fragte Harry. »Warum das denn?« fragte Kinski sauer.
»Nun, ich weiß nur, wie das bei uns ist. Da wo ich herkomme, geht man nach der House-Welle davon aus, daß mehr als fünfzig Prozent der Jugendlichen über sechzehn in England schon einmal Ecstasy genommen haben. Und nach Train-spotting ist Junk das Modedope Nummer …«
»What? House? Trainspotting?« Der Mann blickte ihn verständnislos an. Harry hatte früher schon einmal bemerkt, daß die Geschehnisse der Gegenwart an den Junkies oftmals unbemerkt vorbeigingen.
»Wo können wir Evans finden?« fragte Andrew.
»Er ist zeitweise in Sydney, aber ich habe ihn vor ein paar Tagen in der Stadt gesehen. Er hat einen Sohn mit einer Frau aus Brisbane, die für gewöhnlich öfter hier auftaucht. Ich weiß nicht, wo sie im Augenblick ist, aber der Junge wohnt meistens auf dem Hof bei Evans, wenn er in Nimbin ist.«
Er erklärte ihnen, wo der Hof lag.
»Was ist White für ein Typ?« wollte Andrew wissen.
»Tja, was soll ich sagen?« Er kratzte sich am Kinn, »ein charmantes Arschloch, so nennt man das wohl.«
Andrew und Harry wußten nicht, ob man das so nannte, aber sie nickten als Zeichen, daß sie verstanden hatten.
»Es ist in Ordnung, mit ihm zu dealen, aber ich möchte nicht in der Haut von seiner Frau stecken, wenn ihr wißt, was ich meine.«
Sie schüttelten fragend die Köpfe.
»Er ist ja so ein Beau und nicht gerade bekannt dafür, sich nur mit einer Biene zu begnügen. Es gibt ständig Ärger mit seinen Frauen, sie kreischen und machen Theater, und da ist es ja wohl kein Wunder, wenn die eine oder andere von ihnen mal mit einem blauen Auge auftaucht.«
»Hm. Kennst du ein blondes, norwegisches Mädchen, das Inger Holter heißt? Sie wurde letzte Woche in der Watson Bay in Sydney tot aufgefunden, ermordet?«
»Ja? Hab nie von ihr gehört.« Er war ganz offensichtlich kein neugieriger Zeitungsleser.
Andrew drückte seine Zigarre aus, und er und Harry erhoben sich.
»Kann ich mich darauf verlassen, daß ihr das Maul haltet?« fragte Kinski und schaute sie skeptisch an.
»Natürlich«, erwiderte Andrew und bewegte sich auf die Tür zu.
Das Revier der Polizei lag in der Hauptstraße, kaum hundert Meter vom Museum entfernt, und sah wie ein gewöhnliches Wohnhaus aus. Der einzige Unterschied war ein kleines Schild im Vorgarten, das darüber Auskunft gab, daß sich hier die örtliche Polizeistelle befand. Drinnen saßen der Sheriff und sein Assistent hinter großen Schreibtischen in einem geräumigen Zimmer, das außerdem ein Sofa, einen Wohnzimmertisch, ein Fernsehgerät, eine beeindruckende Sammlung Topfpflanzen und ein Regal mit einer gediegenen Kaffeemaschine aufzuweisen hatte. Kleinkarierte Gardinen gaben dem Raum fast den Charme einer norwegischen Berghütte.
»Good day«, sagte Andrew.
»Good day, Sir«, antworteten der Sheriff und sein Assistent.
»Mein Name ist Kensington, und das ist Holy. Unsere Dienststelle in Sydney hat unser Kommen wohl angekündigt und Ihnen mitgeteilt, warum wir hier sind?«
»Teils ja, teils nein«, erwiderte der Sheriff. Er war ein blauäugiger, braungebrannter Kerl in den Vierzigern mit freundlichem Äußeren und einem kräftigen Händedruck. Er erinnerte Harry an den Vater in Flipper, einen dieser sicheren, moralisch vorbildhaften australischen Alltagshelden in Khakishorts, die so einiges abkonnten.
»Sydney war nicht so eindeutig. Wir haben verstanden, daß Sie auf der Suche nach einem Kerl sind, den wir aber nicht auf die Wache bringen sollten?« Der Sheriff erhob sich und strich seine Hose glatt. »Befürchten Sie, daß wir uns zu dumm anstellen? Glauben Sie, daß wir hier oben unsere Arbeit nicht können?«
»No offense, chief. Wir wissen, daß Sie hier alle Hände voll zu tun haben mit der Kartierung von Marihuana, deshalb wollten wir Sie nicht auch noch mit diesem Kerl belästigen und sind selber gekommen. Wir haben eine Adresse, und wir wollen dieser Person eigentlich auch nur ein paar Fragen stellen.«
Andrew schob zum Zeichen, daß es sich wirklich nur um eine Lappalie handelte, seine Unterlippe vor.
Der Sheriff brummte unzufrieden. »Sydney oder Canberra, das ist immer der gleiche Mist. Sie geben Befehle und schicken ihre Leute, und wir hier vor Ort sind die letzten, die davon erfahren. Und wem wird die Schuld in die Schuhe geschoben, wenn etwas schief geht?«
»Amen«, grunzte der Assistent hinter seinem Schreibtisch.
Andrew nickte. »Regen Sie sich nicht auf. Uns geht es auch nicht anders. Wie man sich auch dreht und wendet, überall gibt es Chefs, die sich ihre Hände noch nie schmutzig gemacht haben. Das ist heute ganz einfach so. Wir, die wir vor Ort im Dreck wühlen und wissen, wie der Hase läuft, werden von Schreibtischtätern mit mittelmäßigen Juraexamen dirigiert, die nichts anderes als ihre Karriere im Kopf haben.«
Harry beeilte sich, zustimmend zu nicken und vielsagend zu seufzen.
Der Sheriff schaute sie skeptisch an, aber Andrews Gesicht war wie eine Maske. Obwohl er nicht wußte, was er von ihnen halten sollte, bot er ihnen Kaffee an.
»Das ist ja wirklich eine gewaltige Maschine«, sagte Harry und deutete auf das Kaffeemaschinenmonster im Regal.
Damit hatte er ins Schwarze getroffen.
»Da läuft der Kaffee in einer Minute durch«, sagte der Sheriff stolz und gab ihnen eine kurze Einführung in die technischen Finessen.
Nach ein paar Tassen Kaffee waren sie zu der Erkenntnis gelangt, daß das Rugbyteam der North Sydney Bears ein elitärer Scheißverein und der norwegische Schlittschuhfahrer und Freund von Samantha Reilly sicher ganz in Ordnung war.
»Habt ihr übrigens die Demonstrationsaufrufe in der Stadt gesehen?« fragte der Assistent. »Sie fordern die Leute auf, morgen zum Hubschrauberlandeplatz zu kommen und unseren Heli umzustürzen. Sie meinen, es sei verfassungswidrig, Privateigentum zu fotografieren. Gestern haben sich fünf Leute festgekettet. Wir haben den Heli erst am späten Nachmittag in die Luft bekommen.«
Sheriff und Assistent warfen sich vielsagende Blicke zu. Es war ganz offensichtlich, daß ihnen das alles nicht sonderlich leid tat.
Nach einem weiteren Kaffee erhoben sich Andrew und Harry, sagten, es sei an der Zeit, jetzt mit diesem Evans White zu reden und bedankten sich für die herzliche Aufnahme und den Kaffee.
»Ach übrigens«, sagte Andrew und drehte sich in der Tür noch einmal um. »Mir ist zu Ohren gekommen, daß jemand in Nimbin Junk verkauft. Ein dünner, dunkler Kerl. Sieht aus wie ein Vampir im Hungerstreik.«
Der Sheriff schaute abrupt auf.
»Junk?«
»Der Beschreibung nach muß das Mondale sein«, sagte der Assistent.
»Mondale, dieses abgewichste dumme Arschloch!« rief der Sheriff.
Andrew tippte mit dem Finger an seinen fehlenden Hut.
»Ich dachte, das würde euch vielleicht interessieren.«
»Wie war das Essen mit unserer schwedischen Zeugin?« wollte Andrew wissen, als sie auf dem Weg zu Whites Anwesen waren.
»Gut. Ziemlich pfeffrig, aber gut«, antwortete ihm Harry. »Also bitte, Harry, worüber habt ihr geredet?«
»Oh, über vieles. Über Norwegen und Schweden.«
»Wer hat gewonnen?«
»Sie.«
»Was hat Schweden, das ihr in Norwegen nicht habt?« fragte Andrew.
»Um das Wichtigste gleich als erstes zu sagen: ein paar gute Filmregisseure. Bö Widerberg, Ingmar Bergmann …«
»Äh, Regisseure«, grunzte Andrew, »die haben wir hier auch. Edvard Grieg aber, den habt nur ihr.«
»Aber hallo«, sagte Harry, »ich hab nicht gedacht, daß du ein Kenner von klassischer Musik bist. Also wirklich.«
»Grieg war ein Genie. Nimm zum Beispiel den zweiten Satz der C-moll-Symphonie, da …«
»Sorry Andrew«, unterbrach ihn Harry. »Ich bin mit Zwei-Griff-Punk aufgewachsen und einer Symphonie nie näher gekommen als mit Gruppen wie Yes oder King Crimson. Ich höre keine Musik aus dem letzten Jahrhundert, okay? Alles vor 1980 ist für mich Steinzeit. Es gibt bei uns eine Band, die heißt Dum-Dum-Boys, und die …«
»Die C-moll-Symphonie wurde erst 1981 uraufgeführt«, sagte Andrew. »Dum-Dum-Boys, das ist aber ein wirklich prätentiöser Name.«
Harry gab es auf.
Evans White schaute sie mit halbgeschlossenen Augen an. Seine Haare hingen ihm in Strähnen ins Gesicht. Er kratzte sich im Schritt und rülpste demonstrativ. Er wirkte nicht sonderlich überrascht, sie zu sehen. Nicht, weil er sie erwartet hatte, sondern vermutlich weil er es gewohnt war, daß Menschen zu ihm kamen. Schließlich saß er auf dem besten LSD der ganzen Gegend, und Nimbin war ein kleiner Ort, in dem sich Gerüchte schnell verbreiteten. Harry rechnete damit, daß ein Mann wie White nicht in kleinen Mengen dealte und sicher nicht vor der eigenen Haustür, aber das hinderte die Menschen wohl kaum, auf seinem Hof zu erscheinen, um zwischendurch auch einmal ein größeres Geschäft zu machen.
»Ihr seid hier falsch. Versucht es in der Stadt«, sagte er und schloß die Tür mit dem Moskitonetz wieder.
»Wir kommen von der Polizei, Mr. White.« Andrew hielt seine Marke in die Höhe. »Wir würden gerne mit Ihnen sprechen.«
Evans drehte ihnen den Rücken zu.
»Heute nicht. Ich mag keine Bullen. Kommen Sie wieder, wenn Sie einen Haftbefehl oder einen Durchsuchungsbefehl oder so etwas haben, dann können wir sehen, was ich für Sie tun kann. Bis dann, gute Nacht.«
Er warf auch die innere Tür zu.
Harry lehnte sich an den Rahmen und rief: »Evans White! Hören Sie mich? Wir fragen uns, ob Sie das auf diesem Foto sind, Sir? Und falls das zutreffen sollte, ob Sie das blonde Mädchen kennen, das auf dem Foto neben Ihnen sitzt? Sie heißt Inger Holter, jetzt ist sie tot.«
Es war einen Moment lang still. Dann knirschten die Scharniere. Evans White blickte sie verstohlen an. Harry hielt das Bild an das Moskitonetz.
»Sie sah nicht mehr so gut aus, als die Polizei sie in Sydney fand, Mr. White.«
In der Küche lagen überall auf dem Tisch Zeitungen verstreut, das Spülbecken quoll vor Tellern und Gläsern über, und der Fußboden hatte sicher monatelang kein Seifenwasser mehr gesehen. Trotzdem sah Harry mit einem Blick, daß das Haus keine Anzeichen des Verfalls zeigte, es sah nicht aus wie das Haus eines Junkies auf dem absteigenden Ast. Weder gab es verschimmelte Essensreste, noch stank es nach Urin, und auch die Gardinen waren nicht vorgezogen. Außerdem hatte der Raum so etwas wie eine innere Ordnung, die Harry zeigte, daß Evans White sein Leben noch im Griff hatte.
Sie setzten sich an den Küchentisch, und Evans holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, das er sofort an den Mund setzte. Der Rülpser hallte an den Küchenwänden wider, gefolgt von einem zufriedenen Kichern.
»Erzählen Sie uns etwas von der Beziehung, die Sie zu Inger Holter hatten, Mr. White«, sagte Harry und wedelte mit der Hand den Rülpsgeruch weg.
»Inger war ein liebes, hübsches und ziemlich dummes Mädchen, das sich in den Kopf gesetzt hatte, mit mir gemeinsam glücklich zu werden.« Evans schaute an die Decke. Dann kicherte er wieder vergnügt.
»Ich glaube, das trifft die Sache ziemlich gut«, fügte er dann noch hinzu.
»Haben Sie einen Verdacht, wer der Täter sein könnte oder wie sie zu Tode gekommen sein kann?«
»Ja, es gibt ja auch in Nimbin Zeitungen, ich weiß also, daß sie erwürgt worden ist. Aber wer? Ein Würger, vermutlich.« Er warf den Kopf in den Nacken und grinste. Eine Haarlocke fiel ihm in die Stirn, die Zähne glitzerten in dem sonnengebräunten Gesicht, und die Lachfalten an den braunen Augen zogen sich bis zu den mit schweren Seeräuberringen behängten Ohren.
Andrew räusperte sich.
»Mr. White, eine Frau, die Sie gut kannten, ja zu der Sie sogar ein intimes Verhältnis hatten, ist ermordet worden. Was Sie persönlich fühlen oder nicht fühlen, geht uns nichts an. Aber wie Sie vielleicht verstehen, sind wir auf der Suche nach dem Mörder, und wenn Sie hier und jetzt nicht wenigstens versuchen, uns zu helfen, wird es um so wahrscheinlicher, daß wir Sie mit nach Sydney auf die Wache nehmen müssen.«
»Ich muß sowieso nach Sydney, wenn das also bedeutet, daß Sie den Flug zahlen, dann gerne.« Verächtlich zuckte er mit seinem Kopf.
Harry wußte nicht, was er glauben sollte. War Evans White so abgebrüht, wie er sich gab, oder drehte es sich eher um eine sogenannte verminderte Zurechnungsfähigkeit.
»Wie Sie wollen, Mr. White«, sagte Andrew. »Flugticket, Kost und Logis, Rechtsanwalt und PR als Hauptverdächtiger des Mordfalls, alles gratis.«
»Big deal. Dann bin ich in 48 Stunden also wieder draußen.«
»Und dann bieten wir Ihnen eine Gratisüberwachung rund um die Uhr, einen Weckdienst umsonst, damit wir wissen, ob Sie nachts wirklich zu Hause sind und vielleicht sogar ein paar überraschende Razzien. Und wer weiß, was wir dann finden werden?«
Evans trank den Rest Bier, blieb aber sitzen und knibbelte an dem Bieretikett herum.
»Was wünschen die Herren zu erfahren?« sagte er mürrisch. »Alles, was ich weiß, ist, daß sie plötzlich eines Tages verschwunden war. Ich mußte nach Sydney, also hab ich versucht, sie anzurufen, aber sie war weder auf der Arbeit noch zu Hause, und als ich dann in die Stadt komme, lese ich in der Zeitung, daß sie ermordet aufgefunden worden ist. Zwei Tage lang bin ich wie ein Zombie durch die Straßen gelaufen. Ich meine, er-mor-det? Wie groß ist die statistische Wahrscheinlichkeit dafür, sozusagen zu Tode gequetscht zu werden?«
»Nicht gerade groß. Sie haben also ein Alibi für den Zeitpunkt der Tat? Das ist gut …« sagte Andrew und schrieb etwas auf.
Evans zuckte zusammen.
»Alibi? Wie meinen Sie das? Ich bin, verdammt noch mal, doch wohl kein Verdächtiger? Oder wollen Sie mir erzählen, daß die Polizei nach über einer Woche noch immer keine richtige Spur hat?«
»Wir untersuchen alle Spuren, Mr. White. Können Sie mir sagen, wo Sie sich in den zwei Tagen aufgehalten haben, bevor Sie nach Sydney kamen?«
»Hier auf dem Hof, natürlich.«
»Alleine?«
»Nicht ganz.« Evans grinste und warf die leere Bierflasche über die Schulter nach hinten. Sie drehte sich langsam um die eigene Achse, beschrieb einen eleganten Bogen und verschwand dann fast lautlos in dem Mülleimer vor der Küchenbank. Harry nickte anerkennend.
»Darf ich fragen, mit wem Sie zusammen waren?«
»Sie tun das ja doch. Aber okay, ich habe nichts zu verbergen. Es war eine Frau, Angeline Hutchinson. Sie wohnt hier in der Stadt.«
Harry schrieb es auf.
»Eine Geliebte?« fragte Andrew.
»So in etwa«, erwiderte Evans.
»Was können Sie uns über Inger Holter erzählen? Wer war sie?«
»Äh, wir haben uns nicht so richtig lange gekannt, ich habe sie in Sydney getroffen, da in der Bar, wo sie gearbeitet hat. The Albury. Wir kamen ins Gespräch, und sie hat mir erzählt, daß sie für eine Reise nach Byron Bay sparte. Das ist nur ein paar Meilen von hier entfernt, deshalb habe ich ihr meine Telefonnummer in Nimbin gegeben. Ein paar Tage später hat sie mich angerufen und gefragt, ob sie eine Nacht hier auf dem Hof übernachten könne. Sie blieb über eine Woche. Danach haben wir uns immer in Sydney getroffen, wenn ich dort war. So zwei-, dreimal. Sie verstehen ja vielleicht, daß es da nicht ganz gereicht hat, zu einem alten Ehepaar zu werden. Außerdem fing sie schon an zu nerven.«
»Zu nerven?«
»Ja, sie hatte meinen kleinen Jungen, Tom-Tom, wirklich ins Herz geschlossen und träumte von einer Familie und einem Haus auf dem Land. Das paßte mir nicht so richtig, aber ich ließ sie gewähren.«
»Gewähren? Warum denn?«
Evans rutschte auf seinem Stuhl herum.
»Sie gehörte zu denen, die am Anfang noch eine große Klappe haben, die aber, kaum daß du sie ein wenig unter dem Kinn kraulst und sagst, daß du sie liebst, weich wie Butter werden. Die wissen dann kaum noch, wie sie dich noch weiter verwöhnen sollen.«
»Sie war also ein rücksichtsvolles, liebes Mädchen?« fragte Harry.
Evans fühlte sich bei der Richtung, die das Gespräch nahm, ganz offensichtlich nicht mehr wohl.
»Ja, wahrscheinlich schon. Aber ich kannte sie ja, wie gesagt, nicht so gut. Sie hatte ihre Familie in Norwegen so lange nicht gesehen, vielleicht fehlten ihr einfach … Menschen, jemand, der da war, nicht wahr? Aber was weiß ich denn? Sie war ganz einfach ein dummes, romantisches Mädchen. Sie hatte ganz bestimmt nichts Böses …«
Evans Stimme war plötzlich ein wenig brüchig, und es wurde still in der Küche. Entweder war er ein guter Schauspieler, oder er zeigte auf einmal doch noch menschliche Regungen, dachte Harry.
»Wenn Sie dieser Beziehung keine Zukunft gegeben haben, warum haben Sie sich dann nicht von ihr getrennt?«
»Ich war wohl schon auf dem Wege dahin. Stand irgendwie in der Tür und wollte Lebewohl sagen. Aber ich bin ja nicht mehr dazu gekommen, bevor sie verschwand. Just like that …« Er schnippte mit den Fingern.
Doch, seine Stimme klang jetzt eindeutig belegt, dachte Harry.
Evans schaute auf seine Hände.
»Was für eine Art, abzuhauen, nicht wahr?«
Sie fuhren über steile Bergstraßen. Ein Schild wies ihnen den Weg nach Crystal Castle.
»Die Frage ist – sagt Evans White die Wahrheit?« überlegte Harry.
Andrew wich einem entgegenkommenden Traktor aus.
»Laß mich ein bißchen von meiner Erfahrung mit dir teilen, Harry. Über zwanzig Jahre rede ich jetzt mit Menschen, die aus den verschiedensten Gründen die Wahrheit sagen oder lügen. Schuldige und Unschuldige, Mörder und Taschendiebe, Nervenbündel und abgebrühte Eisklötze, blauäugige Babygesichter, narbige Schurkenvisagen, Soziopathen, Psychopathen, Philanthropen …«
Andrew suchte nach weiteren Beispielen.
»Point taken, Andrew.«
»… Eingeborene und Weiße. Alle haben sie mir ihre Geschichte erzählt und gehofft, daß ihnen geglaubt wird. Und weißt du, was ich gelernt habe?«
»Daß es unmöglich ist, zu wissen, wer lügt und wer nicht?«
»Genau, Harry.« Andrew lebte jetzt richtig auf. »In der traditionellen Kriminalliteratur hat jeder Schnüffler, der etwas auf sich hält, einen untrüglichen Riecher dafür, wenn jemand lügt. Bullshit! Die menschliche Natur ist wie ein großer, undurchdringlicher Wald, in dem sich niemand richtig auskennt. Selbst eine Mutter hat keine Ahnung von den verborgensten Geheimnissen ihrer Kinder.«
Sie hielten auf einem Parkplatz vor einem großen grünen Garten mit Springbrunnen, Blumenrabatten und exotischen Bäumen an, durch den sich ein Kiesweg schlängelte. Hinter der Grünanlage lag ein großes Haus, bei dem es sich vermutlich um das Crystal Castle handelte, das ihnen der Sheriff in Nimbin auf der Karte gezeigt hatte. Das Kristallschloß.
Eine Glocke über der Tür meldete ihre Ankunft. Es war ganz offensichtlich ein beliebter Ort, denn der Laden war gut besucht. Eine kräftige Frau kam mit strahlendem Lächeln auf sie zu und hieß sie mit einem Enthusiasmus willkommen, der vermuten ließ, sie seien die ersten Menschen, die sie hier seit Monaten gesehen hatte.
»Sind Sie das erste Mal hier?« fragte sie. Als wenn ihre Kristallboutique eine süchtigmachende Angelegenheit sei, zu der die Menschen in regelmäßigen Abständen pilgerten, wenn sie erst einmal auf den Geschmack gekommen waren. Und nach allem, was sie wußten, konnte das ja genau zutreffen.
»Ich beneide Sie«, sagte die Frau, als sie bestätigten, daß sie das erste Mal an diesem Ort seien. »Es ist euch vorbehalten, Crystal Castle zum ersten Mal zu erleben!«
Die Frau, die ihnen am nächsten stand, quietschte vor Freude.
»Gehen Sie durch diesen Gang dort. Rechterhand liegt unser vegetarisches Restaurant mit den wundersamsten Rezepten. Wenn Sie dort gewesen sind, gehen Sie anschließend nach links in den Kristall- und Mineralienraum hinein. That's where the real action is! Now go, go!«
Sie winkte ihnen hinterher. Nach einer solchen Einführung war es eine herbe Ernüchterung, festzustellen, daß das Restaurant im Grunde nichts anderes war als eine einfache Klitsche, in der Kaffee, Tee, Salate mit Yoghurt sowie Salatsandwiches angeboten wurden. Im sogenannten Kristall- und Mineralienraum standen eine Reihe glitzernder Kristalle, Buddhafiguren mit gekreuzten Beinen, blaue und grüne Quarze und Natursteine in einem avancierten Lichtspiel. In dem Raum lag ein leichter Rauchgeruch, und einschläfernde Panflötenmusik und das Geräusch von plätscherndem Wasser waren zu hören. Harry fand die Boutique allein schon schön genug, das ganze Arrangement aber war reichlich camp und kaum so, daß einem die Luft wegblieb. Das einzige, das einem wirklich den Atem verschlug, waren die Preise.
»Hähä«, lachte Andrew, nachdem er auf ein paar der Preisschilder geschaut hatte. »Die Gute ist genial!«
Er zeigte auf die Kunden im Laden. Die meisten waren mittleren Alters und schienen gutsituiert zu sein. »Die Flower-Power- Generation ist erwachsen geworden. Sie haben vernünftigte Jobs, ein vernünftiges Einkommen, aber ihre Herzen schlagen noch immer für den Astralplaneten.«
Sie gingen zum Ladentisch zurück. Die Frau strahlte noch immer. Sie ergriff Harrys Hand und drückte ihm einen blaugrünen Stein in die Handfläche.
»Du bist Steinbock, nicht wahr? Leg diesen Stein hier unter dein Kopfkissen. Er wird alle negative Energie aus dem Raum entfernen. Er kostet eigentlich 65 Dollar, aber ich bin wirklich der Meinung, daß du diesen Stein haben solltest, also sagen wir 50 Dollar.«
Sie drehte sich zu Andrew um.
»Und du mußt Löwe sein?«
»Äh, nein, gute Frau, ich bin Polizist.« Diskret hielt er seine Marke hoch.
Sie wurde blaß und schaute ihn entsetzt an.
»Wie schrecklich. Ich hoffe, ich habe nichts falsch gemacht.«
»Nicht, daß ich wüßte, Ma'am. Ich nehme an, Sie sind Margaret Dawson, frühere White? Wenn dem so ist, können wir vielleicht ein paar Worte mit Ihnen wechseln?«
Margaret Dawson hatte sich schnell wieder unter Kontrolle und rief nach einem der Mädchen, das die Kasse übernahm. Dann geleitete sie Harry und Andrew in den Garten, wo sie sich an einen weißen Holztisch setzten. Zwischen zwei Bäumen war ein großes Netz gespannt. Harry hatte zuerst geglaubt, daß es sich um ein Fischernetz handelte, doch bei genauerem Hinsehen stellte es sich als ein gewaltiges Spinnennetz heraus.
»Es scheint Regen zu geben«, sagte sie und rieb sich die Hände.
Andrew räusperte sich. Sie biß sich auf die Unterlippe.
»Tut mir leid, Konstabel. Das macht mich nur so nervös.«
»Ist schon in Ordnung. Ein gewaltiges Netz haben Sie da.«
»Ach das, das ist das Netz von Billy, unserer Mäusespinne. Sie liegt sicher wieder irgendwo und schläft.«
Harry zog unwillkürlich die Beine an.
»Mäusespinne? Heißt das, daß sie … Mäuse frißt?« fragte er.
Andrew lächelte.
»Harry ist aus Norwegen. Dort ist man keine großen Spinnen gewöhnt.«
»Oh, da kann ich Sie trösten. Die großen sind selten die gefährlichen«, sagte Margaret Dawson. »Ganz im Gegenteil. Wir haben hier ein winzigkleines tödliches Tierchen, das redback heißt. Aber dem gefällt es in der Regel besser in den Städten, wo es sich sozusagen in der Menge verstecken kann. In dunklen Kellern und feuchten Ecken.«
»Hört sich fast an wie jemand, den ich kenne«, sagte Andrew. »Aber zurück zur Sache, Mrs. Dawson, es geht um Ihren Sohn.«
Jetzt wurde sie wirklich blaß.
»Evans?«
Andrew warf Harry einen Blick zu.
»Soweit wir wissen, hat er bislang noch nichts mit der Polizei zu tun gehabt, Mrs. Dawson«, begann Harry.
»Nein, nein, bestimmt nicht. Gott sei Dank.«
»Wir sind eigentlich vorbeigekommen, weil Ihre Anlage hier quasi auf unserem Rückweg nach Brisbane liegt. Wir fragen uns, ob Sie jemanden mit Namen Inger Holter kennen?«
Sie zögerte ein wenig, dann schüttelte sie den Kopf.
»Evans kannte nicht so viele Frauen. Wenn er eine kennenlernte, brachte er sie hierher, um sie mir vorzustellen. Nachdem eine von ihnen … dieses blöde Kindchen, an deren Namen ich mich wirklich nicht erinnern will … ihm ein Kind vermacht hat, habe ich ihm verboten … habe ich ihm gesagt, daß ich der Meinung sei, er solle ein wenig abwarten. Bis er die Richtige findet.«
»Warum sollte er warten?« fragte Harry.
»Weil ich ihm das gesagt habe!«
»Und warum haben Sie das gesagt?«
»Weil … weil das nicht paßte« – sie warf einen Blick in Richtung Boutique, als wolle sie ein Zeichen geben, wie kostbar ihre Zeit war – »und weil Evans ein so sensibler, so leicht verletzbarer Junge ist. In seinem Leben hat es soviel negative Energie gegeben, und er braucht eine Frau, auf die er sich voll und ganz verlassen kann. Nicht diese … Luder, die ihn nur verwirren.«
Ein grauer Schleier hatte sich über ihre Iris gelegt.
»Treffen Sie Ihren Sohn oft?« fragte Andrew.
»Evans kommt, so oft es nur geht. Er braucht den Frieden hier. Er arbeitet so hart, der Arme. Haben Sie etwas von den Kräutern, die er verkauft, probiert? Manchmal bringt er etwas davon mit hierher, ich verwende es dann für den Tee im Restaurant.«
Andrew räusperte sich wieder. Aus den Augenwinkeln sah Harry eine Bewegung zwischen den Bäumen.
»Wir sollten uns wieder auf den Weg machen, Mrs. Dawson. Nur noch eine letzte Frage.«
»Ja?«
Andrew hatte sich bestimmt verschluckt – er räusperte sich unentwegt. Das Spinnennetz hatte zu schwingen begonnen.
»Waren Sie immer so blond, Mrs. Dawson?«
Am späten Abend landeten sie wieder in Sydney. Harry war todmüde und sehnte sich nur noch nach seinem Hotelbett.
»Einen Drink?« schlug Andrew vor.
»Nein, danke«, sagte Harry.
»Im Albury?«
»Das ist ja fast Arbeit«, sagte Harry.
»Eben drum.«
Birgitta lächelte, als sie hereinkamen. Sie bediente einen Gast und kam zu ihnen herüber. Ihre Augen waren auf Harry gerichtet.
»Hei«, grüßte sie.
Harry spürte, daß er einfach nur Lust hatte, in ihren Schoß zu kriechen und dort einzuschlafen.
»Zwei doppelte Gin Tonic, im Namen des Gesetzes«, sagte Andrew.
»Bring mir lieber einen Grapefruitsaft«, sagte Harry.
Sie servierte ihnen die Getränke und lehnte sich über den Tresen.
»Danke für den schönen Abend«, flüsterte sie Harry auf Schwedisch zu. Im Barspiegel hinter ihr sah er sein eigenes idiotisches Grinsen.
»He, he, keine skandinavischen Turteleien bitte, ja? Solange ich die Drinks zahle, wird hier englisch gesprochen.« Andrew schaute sie streng an.
»Und jetzt werde ich euch zwei Jungspunden etwas erzählen. Die Liebe ist ein größeres Mysterium als der Tod.«
Er machte eine Kunstpause.
»Onkel Andrew wird euch eine uralte australische Legende erzählen, die Geschichte von der Riesenschlange Bubbur und Walla.«
Sie rückten näher zusammen, und Andrew schmatzte zufrieden, als er sich seine Zigarre anzündete.
»Es war einmal ein junger Krieger mit Namen Walla, der bis über beide Ohren verliebt war in die junge, hübsche Moora. Und sie liebte ihn. Walla hatte die Einweihungszeremonie seines Stammes bestanden, er war ein Mann und durfte sich deshalb mit jeder Frau des Stammes verheiraten, vorausgesetzt sie wollte ihn und war nicht bereits die Frau eines anderen. Und Moora wollte. Walla gelang es kaum noch, sich von seiner Angebeteten zu trennen, aber die Tradition forderte von ihm, auf eine Jagdexpedition zu gehen, deren Beute als Geschenk den Brauteltern darzubringen war. Vorher konnte die Hochzeit nicht stattfinden. Eines schönen Morgens, Tau lag auf den Blättern, zog Walla los. Moora gab ihm eine weiße Kakadufeder, die er sich in die Haare steckte.
Während Walla fort war, machte sich Moora daran, Honig für das Fest zu suchen. Dieser war nicht so leicht zu finden, und sie mußte sich weiter vom Lager entfernen, als sie das normalerweise tat. Sie kam schließlich zu einem Tal mit großen Steinen. Über diesem Tal lag eine wundersame Ruhe, nicht ein Vogel, ja nicht einmal ein Insekt war zu hören. Sie wollte gerade weitergehen, als sie ein Nest mit großen weißen Eiern entdeckte. Es waren die größten Eier, die sie jemals gesehen hatte. ›Die muß ich für das Fest einsammeln‹, dachte sie und streckte ihre Hand aus.
Im gleichen Moment hörte sie etwas Großes über die Steine gleiten, und noch bevor sie davonkommen oder den Mund öffnen konnte, hatte sich eine riesige braungelbe Schlange um ihre Taille gewunden. Sie kämpfte, aber es gelang ihr nicht, sich zu befreien, und die Schlange begann, sich immer enger um sie zu schlingen. Moora schaute zu dem blauen Himmel über dem Tal hinauf und versuchte Wallas Namen zu rufen, aber sie hatte keine Luft mehr in den Lungen, um einen Ton über die Lippen zu bringen. Der Würgegriff der Schlange wurde härter und härter, und schließlich war alles Leben aus ihr herausgepreßt und alle Knochen in ihrem Leib zermalmt. Dann glitt die Schlange zurück in den Schatten, aus dem sie gekommen war. Dort konnte man sie nicht erkennen, denn die Farben der Schlange waren eins mit dem Schattenspiel des Lichts unter dem Baum und auf den Steinen.
Es vergingen zwei Tage, bis sie ihren zermalmten Körper zwischen den Steinen in dem Tal fanden. Ihre Eltern waren untröstlich, und die Mutter weinte und fragte den Vater, was sie nur Walla sagen sollten, wenn er nach Hause kam.«
Andrew sah mit glänzenden Augen zu Harry und Birgitta.
»Das Lagerfeuer war gerade im Begriff auszugehen, als Walla beim nächsten Morgengrauen von der Jagd zurückkehrte. Obwohl es eine strapaziöse Reise gewesen war, waren seine Schritte leicht, und seine Augen glänzten vor Glück. Er ging zu Mooras Eltern hinüber, die schweigend am Feuer saßen. ›Hier sind meine Gaben für euch‹, sagte er. Und seine Jagdausbeute war gut, er brachte ein Känguruh, ein Wombat und die Schenkel eines Emus mit.
›Du kommst rechtzeitig zur Beerdigung, Walla, du, der du unser Sohn hättest werden sollen‹, sagte Mooras Vater. Walla sah aus, als habe ihm jemand ins Gesicht geschlagen, und er konnte seine Trauer und seinen Schmerz kaum mehr verbergen, doch als hartgesottener Krieger hielt er seine Tränen zurück und fragte kalt: ›Warum habt ihr sie noch nicht beerdigt?‹ ›Weil wir sie erst heute gefunden haben‹, erwiderte der Vater. ›Dann werde ich sie begleiten und ihren Geist verlangen. Unser Wirinun kann ihre gebrochenen Glieder heilen, und ich werde ihr den Geist wiedergeben und ihr Leben einhauchen.‹ ›Es ist zu spät‹, sagte der Vater, ›ihr Geist ist bereits dort, wo der Geist aller gestorbenen Frauen ist. Aber die, die sie getötet hat, lebt noch immer. Kennst du deine Pflicht, Sohn?‹
Walla ging, ohne ein Wort zu erwidern, davon. Er wohnte gemeinsam mit den anderen unverheirateten Männern des Stammes in einer Höhle. Auch mit ihnen sprach er nicht. Viele Monate vergingen, ohne daß Walla an den Tänzen und den Gesängen teilnahm. Er saß immer nur für sich allein da. Manche glaubten, sein Herz sei versteinert und daß er versuche, Moora zu vergessen. Andere glaubten, daß er plante, Moora in das Reich der toten Frauen zu folgen. Das wird ihm niemals gelingen, sagten sie. Es gibt einen Ort für Männer und einen für Frauen.
Eine Frau kam zum Feuer und setzte sich. ›Ihr habt unrecht‹, sagte sie. ›Er ist nur in Gedanken vertieft, wie er seine Frau rächen kann. Glaubt ihr etwa, es ist damit getan, einfach einen Speer zu nehmen und Bubbur, die große braungelbe Schlange, zu töten? Ihr habt sie niemals gesehen, aber ich habe sie gesehen, als ich jung war, und an jenem Tag habe ich mein graues Haar bekommen. Es war der schrecklichste Anblick, den man sich nur denken kann. Glaubt meinen Worten, Bubbur kann nur auf eine einzige Art besiegt werden, mit Mut und List. Und das, glaube ich, hat unser junger Krieger.‹
Am nächsten Tag kam Walla ans Feuer. Seine Augen glänzten, und er wirkte fast gutgelaunt, als er fragte, wer mitkommen wolle, um Gummi zu sammeln. ›Wir haben Gummi‹, gab man ihm, überrascht über seinen Humor, zur Antwort. ›Du kannst es von uns haben.‹ – ›Ich brauche frisches Gummi‹, sagte er. Er lachte über ihre verschreckten Gesichter und sagte: ›Kommt mit, dann zeige ich euch, wofür ich das Gummi brauche.‹ Neugierig folgten sie ihm, und nachdem sie genug Gummi gesammelt hatten, führte er sie zu dem Tal mit den großen Steinen. Dort baute er sich in dem höchsten Baum eine Plattform und bat die anderen, sich zum Talschluß zurückzuziehen. Er nahm seinen besten Freund mit auf den Baum, und von dort oben riefen sie Bubburs Namen, wobei das Echo durch das Tal grollte und die Sonne immer höher an den Himmel stieg.
Plötzlich war Bubbur da – ein riesiger braungelber Kopf schwang hin und her und schien nach der Herkunft der Rufe zu suchen. Um sie herum wimmelte es von kleinen gelbbraunen Schlangen, sicher aus den Eiern, die Moora gesehen hatte. Walla und sein Freund kneteten das Gummi zu großen Kugeln. Als Bubbur sie im Baum erblickte, öffnete sie ihren Rachen, zischelte mit der Zunge und streckte sich zu ihnen empor. Die Sonne stand jetzt ganz hoch am Himmel, und die Strahlen glitzerten in Bubburs weißrotem Rachen. Als sie versuchte anzugreifen, warf Walla die größte Kugel direkt in Bubburs geöffneten Rachen, und die Schlange biß instinktiv zu, so daß die Zähne tief im Gummi versanken.
Bubbur wand sich auf dem Boden herum, aber es gelang ihr nicht, das Gummi, das in ihrem Maul festsaß, wieder loszuwerden. Es gelang Walla und seinem Freund, damit auch alle kleineren Schlangen ungefährlich zu machen. Denn ihre Rachen waren versiegelt. Dann rief Walla die anderen Männer herbei, und diese zeigten keine Gnade. Alle Schlangen wurden getötet. Bubbur hatte schließlich die schönste Tochter des Stammes getötet, und Bubburs Nachkommen konnten eines Tages zu ebensolchen Riesen heranwachsen, wie ihre Mutter einer war. Seit diesem Tag ist die gefürchtete braungelbe Bubbur- Schlange in Australien sehr selten. Aber die Furcht der Menschen hat sie mit jedem Jahr, das verging, länger und dicker werden lassen.«
Andrew trank seinen Gin Tonic aus.
»Und die Moral von der Geschichte?« fragte Birgitta.
»Daß die Liebe ein größeres Mysterium ist als der Tod. Und daß man auf Schlangen aufpassen muß.«
Andrew bezahlte den Drink, gab Harry einen aufmunternden Klaps auf den Rücken und ging.