Er schlug die Augen auf. Draußen vor dem Fenster, von wo aus ihm die Gardine müde zuwinkte, summte und brummte die erwachende Großstadt. Er blieb liegen, und sein Blick fiel auf eine Absurdität, die an der gegenüberliegenden Wand des großen Zimmers hing – ein Bild des schwedischen Königspaares. Die Königin mit ihrem ruhigen, sicheren Lächeln und der König mit einem Ausdruck, als bedrohe ihn jemand von hinten mit einem Messer. Harry begriff, wie er sich fühlen mußte – er selbst hatte sich in der Grundschule in der dritten Klasse einmal überreden lasen, den alten König in »König Drosselbart« zu spielen.
Von irgendwoher hörte er fließendes Wasser, und Harry drehte sich auf die andere Seite, um an ihrem Kopfkissen zu riechen. Der Arm einer Feuerqualle – oder war es ein langes rotes Haar? – lag auf dem Laken. Plötzlich fiel ihm eine Überschrift auf der Sportseite des Dagbladet ein: »Erland Johnsen, FC Moss – bekannt für seine roten Haare und seine weiten Pässe«.
Er versuchte herauszufinden, wie er sich fühlte. Er war so leicht. Wirklich leicht wie eine Feder. So leicht, daß er befürchtete, die flatternde Gardine könnte ihn aus dem Bett und durch das Fenster nach draußen wehen, so daß er schließlich über Sydney schwebend feststellen müßte, daß er keine Kleider am Leib hatte. Vielleicht war diese Leichtigkeit ja damit zu erklären, daß er sich im Laufe der Nacht so nachdrücklich von gewissen Körpersäften getrennt hatte, daß er alles in allem sicher einige Kilo abgenommen haben mußte.
»Harry Hole, Kriminalpolizei Oslo – bekannt für seine merkwürdigen Ideen und seine leeren Eier«, murmelte er.
»Wie bitte?« fragte eine Stimme auf Schwedisch.
Birgitta stand in einem ziemlich häßlichen Morgenrock und mit einem weißen Handtuch, das sie sich wie einen Turban um den Kopf geschlungen hatte, im Zimmer.
»Oh, guten Morgen, du Schöne, du Freie. Ich habe nur das Bild von König ›Will nicht‹ dort an der Wand betrachtet. Glaubst du, daß er lieber Bauer wäre? Er sieht so aus.«
Sie warf einen Blick auf das Bild.
»Es ist im Leben nicht allen vergönnt, am richtigen Platz zu landen. Wie ist das zum Beispiel mit dir, Schnüffler?«
Sie ließ sich neben ihm aufs Bett fallen.
»Eine gute Frage so früh am Morgen. Bevor ich antworte, verlange ich, daß du diesen Morgenrock ausziehst. Ich will ja nichts Schlechtes darüber sagen, aber so ganz spontan würde ich behaupten, er ist das Scheußlichste, was ich in den letzten hundert Jahren, alle Träume Inbegriffen, gesehen habe.«
Birgitta lachte.
»Ich nenne ihn den Liebestöter. Der kommt zum Einsatz, wenn großmäulige fremde Kerle zu aufdringlich werden.«
»Hast du mal versucht herauszufinden, ob es einen Namen für diese Farbe gibt? Vielleicht sitzt du da auf einer bislang noch unbekannten Nuance, einer neuen Entdeckung, einem weißen Fleck auf der Landkarte der Farben, irgendwo zwischen braun und grün?«
»Versuch nicht, von der Frage abzulenken, du norwegischer Komiker!« Sie schlug ihm mit dem Kissen auf den Kopf, aber nach einem kurzen Ringkampf lag sie unter ihm. Harry hielt ihre Hände fest, wobei er versuchte, den Gürtel des Morgenrocks mit den Zähnen aufzumachen. Birgitta begann zu schreien, als sie seine Absicht erkannte, bekam ein Knie frei und zog es resolut unter sein Kinn. Harry stöhnte und ließ sich zur Seite fallen. Blitzschnell kniete sie sich auf seine Arme.
»Antworte!«
»Okay, okay, ich geb auf. Doch, doch, ich habe meinen Platz im Leben gefunden. Ich bin der beste Schnüffler, den du finden kannst. Ja, ich fange lieber böse Buben, als auf dem Feld zu arbeiten – oder an Galaessen teilzunehmen und auf einem Balkon zu stehen und den Massen zuzuwinken. Und – ja, ich weiß, daß das pervers ist.«
Birgitta küßte ihn auf den Mund.
»Du hättest dir ruhig die Zähne putzen können«, sagte Harry mit beinahe zusammengekniffenen Lippen.
Als sie spontan den Kopf in den Nacken legte und lachte, erkannte Harry seine Chance. Blitzschnell hob er den Kopf, packte den Gürtel mit den Zähnen und zog daran. Der Morgenrock glitt zur Seite. Dann hob er ihre Knie an und schob sie über sich. Ihre Haut war warm und nach der Dusche noch voll dampfender Feuchtigkeit.
»Hilfe, Polizei!« rief sie und schlang ihre Beine um seinen Körper. Harry spürte, wie das Blut in seinem ganzen Körper pulsierte.
»Vergewaltigung«, flüsterte sie und biß ihm ins Ohr.
Anschließend lagen sie beide auf dem Bett und starrten an die Decke.
»Ich würde mir wünschen, daß …«, begann Birgitta.
»Was?«
»Ach, nichts.«
Sie standen auf und zogen sich an. Als Harry auf die Uhr schaute, wurde ihm klar, daß er es nicht mehr rechtzeitig zur morgendlichen Besprechung schaffen würde. Er stand an der Tür und hielt sie in den Armen.
»Ich glaube, ich weiß, was du dir wünschst«, sagte Harry. »Du wünschst dir, daß ich dir mehr von mir erzähle.«
Birgitta schmiegte ihren Kopf an seinen Hals. »Ich weiß, daß du das nicht gerne tust«, sagte sie, »ich habe nur das Gefühl, daß ich alles, was ich von dir weiß, aus dir herausquetschen mußte. Daß deine Mutter eine liebe und gute Frau war und halb Samin und daß sie vor sechs Jahren gestorben ist. Daß dein Vater Lehrer ist und deinen Beruf nicht mag, davon aber nie etwas sagt, und daß der Mensch, den du über alles in der Welt liebst, deine Schwester, geringfügig am Down- Syndrom leidet. Ich mag es, so etwas von dir zu wissen. Aber ich möchte, daß du das erzählst, weil du es erzählen willst.«
Harry streichelte ihren Nacken.
»Willst du etwas Richtiges wissen? Ein Geheimnis?«
Sie nickte.
»Aber Geheimnisse teilen, das verbindet«, flüsterte Harry in ihre Haare, »und nicht immer hört man das, was man sich wünscht.«
Sie standen still im Flur. Harry hielt den Atem an.
»Ich war mein ganzes Leben von Menschen umgeben, die mich gern hatten. Ich habe immer alles bekommen, wonach ich gefragt habe. Ich habe, mit anderen Worten, keine Erklärung dafür, warum ich das wurde, was ich bin.«
Ein Windhauch vom Fenster strich Harry so mild und leicht über die Haare, daß er die Augen schließen mußte.
»Alkoholiker.«
Er sprach das Wort hart und ziemlich laut aus. Birgitta schmiegte sich regungslos an ihn.
»Es gehört schon einiges dazu, einem öffentlichen Beamten in Norwegen zu kündigen. Unfähigkeit alleine reicht nicht aus, Faulheit existiert nicht und deinen Chef kannst du soviel beschimpfen wie du willst, no problem. Ehrlich gesagt, du kannst so ziemlich alles machen, das Recht ist meistens auf deiner Seite. Nur nicht trinken. Wenn du mehr als zweimal betrunken im Polizeidienst erscheinst, ist das Grund genug für eine fristlose Kündigung. Eine Zeitlang war es leichter, die Tage zu zählen, an denen ich nüchtern erschienen bin.«
Er nahm seinen Arm weg und schob sie ein Stück von sich weg. Er wollte ihre Reaktion sehen. Dann zog er sie wieder an sich.
»Trotzdem, alles ging irgendwie seinen Weg, und diejenigen, die etwas ahnten, schauten weg. Manch einer hätte vielleicht etwas sagen sollen, aber Loyalität und Zusammenhalt werden bei der Polizei großgeschrieben. Eines Abends fuhren ein Kollege und ich zu einer Terrassenwohnung oben am Holmenkolläs, um einem Kerl ein paar Fragen zu einem Mord im Drogenmilieu zu stellen. Er wurde nicht einmal verdächtigt, aber als wir vor seiner Tür standen und klingelten und sahen, wie er mit einem Wahnsinnstempo aus der Tiefgarage geschossen kam, warfen wir uns in den Wagen und nahmen die Verfolgung auf. Mit Blaulicht auf dem Dach rasten wir mit einhundertzehn den Sørkedalsvei hinunter. Es ging ein bißchen nach rechts und links, und wir fuhren ein paarmal auf die Bordsteinkante, und mein Kollege fragte, ob nicht vielleicht er fahren sollte, aber ich war so sehr damit beschäftigt, mich von dem Mann nicht abhängen zu lassen, daß ich das einfach mit einer Geste abtat.«
Was später geschehen war, wußte er nur aus Erzählungen. In der Höhe von Vindern war ein Auto aus einer Tankstellenausfahrt gekommen. In dem Auto hatte ein Junge gesessen, der gerade erst den Führerschein gemacht und an der Tankstelle Zigaretten für seinen Vater geholt hatte. Die beiden Polizisten waren mit dem Wagen kollidiert und hatten ihn mit sich durch den Zaun auf die Schienen gerissen. Dabei hatten sie einen Unterstand bei der Bushaltestelle niedergemäht, unter dem noch zwei Minuten zuvor sechs Menschen gewartet hatten. Auf dem Gleis am anderen Ende der Schienen hatte ihre Fahrt ein abruptes Ende gefunden. Harrys Kollege war durch die Windschutzscheibe geschleudert worden. Er wurde zwanzig Meter weiter vorne neben den Schienen gefunden. Mit seinem Kopf hatte er ein Schild getroffen, das durch die Wucht abgeknickt war. Sie hatten seine Fingerabdrücke nehmen müssen, um ihn zu identifizieren. Der Junge in dem anderen Auto war vom Hals ab gelähmt.
»Ich habe ihn an einem Ort namens Sunnäs besucht«, sagte Harry, »er träumt noch heute davon, eines Tages wieder Auto zu fahren. Mich haben sie mit gebrochenem Schädel und schweren inneren Blutungen im Auto gefunden. Ich bin ein paar Wochen lang künstlich beatmet worden.
Mutter kam jeden Tag zusammen mit meiner Schwester. Sie saßen an meinem Bett und hielten meine Hand. Vater kam abends, außerhalb der Besuchszeit. Weil ich infolge der schweren Gehirnerschütterung Wahrnehmungsstörungen hatte, durfte ich weder lesen noch fernsehen. Also hat Vater mir vorgelesen. Er saß an meinem Bett und flüsterte mir ins Ohr, um mich nicht zu sehr zu erschöpfen.
Ich hatte einen Mann getötet und das Leben eines anderen zerstört, trotzdem lag ich in einem Kokon aus Liebe und Fürsorge. Und das erste, was ich tat, als ich wieder in einem Mehrbettzimmer lag, war, meinen Nebenmann zu bestechen, damit der seinen Bruder dazu brachte, mir eine Flasche Gin zu kaufen.«
Harry hielt inne. Birgittas Atem ging ruhig und gleichmäßig.
»Bist du schockiert?« fragte er.
»Ich wußte vom ersten Augenblick an, daß du Alkoholiker bist«, anwortete Birgitta. »Mein Vater ist Alkoholiker.«
Harry wußte nicht, was er dazu sagen sollte.
»Erzähle weiter«, bat sie.
»Der Rest … der Rest betrifft die norwegische Polizei. Das brauchst du eigentlich nicht zu wissen.«
»Norwegen ist weit weg«, sagte sie.
Harry gab ihr schnell einen Kuß.
»Für heute hast du genug gehört«, sagte er. »Die Fortsetzung folgt beim nächsten Mal. Ich muß jetzt los. Ist es in Ordnung, wenn ich auch heute abend ins Albury komme und dich von der Arbeit abhalte?«
Birgitta lächelte etwas traurig – und Harry spürte, daß er sich viel tiefer in diese Sache verstrickte als gut war.
»Sie kommen spät«, stellte Wadkins fest, als Harry das Büro betrat. Er legte einen Stapel Kopien auf seinen Schreibtisch.
»Jetlag. Gibt es etwas Neues?« fragte Harry.
»Ich hab hier etwas Lesestoff für Sie. Yong Sue hat alte Vergewaltigungsfälle ausgegraben. Er und Kensington schauen sich das gerade an.«
Harry brauchte erst einmal eine richtige Tasse Kaffe und ging in die Kantine hoch. Dort stieß er auf einen gutgelaunten McCormack. Sie setzten sich jeder mit einem White flat an einen Tisch.
»Das Justizministerium hat angerufen. Sie sind dort vom norwegischen Justizministerium angerufen worden. Ich habe gerade mit Wadkins gesprochen und erfahren, daß Sie jemanden auf dem Kieker haben?«
»Evans White. Vielleicht. Er behauptet, ein Alibi für den Mordzeitpunkt zu haben. Wir haben die Polizei in Nimbin gebeten, die Frau, mit der er zusammengewesen sein will, zu verhören, um die Geschichte zu überprüfen. White hat die Anordnung erhalten, am Ort zu bleiben.«
McCormack grunzte.
»Sie haben den Kerl mit eigenen Augen gesehen, Holy, ist er es?«
Harry schaute in seinen Kaffee. Die weißen Milchspiralen wirbelten wie Sternennebel in der Tasse herum.
»Um mit einer Analogie zu sprechen, Sir, wußten Sie, daß das Milchstraßensystem ein Spiralnebel mit mehr als hunderttausend Millionen Sternen ist? Daß man, wenn man tausend Jahre lang mit Lichtgeschwindigkeit im rechten Winkel durch einen dieser Spiralarme fliegt, doch erst die halbe Strecke zurückgelegt hat? Ganz zu schweigen davon, wie lange es dauern würde, längs durchzufliegen, oder gar durch die ganz Milchstraße …«
»Sie sind mir für den frühen Morgen doch ein wenig zu philosophisch. Was wollen Sie damit sagen, Holy?«
»Daß die Natur des Menschen ein großer, dunkler Wald ist, in dem sich niemand im Laufe eines kurzen Menschenlebens richtig auskennt – daß ich keine Ahnung habe, Sir.«
McCormack schaute Harry an. Er sah besorgt aus.
»Sie fangen an, sich wie Kensington anzuhören, Holy. Vielleicht war es doch ein Fehler von mir, Sie beide zusammenarbeiten zu lassen, in dem Gehirn dieses Kerls spielt sich so viel Merkwürdiges ab.«
Yong legte eine Folie auf den Projektor.
»Jedes Jahr werden in diesem Land etwa fünftausend Vergewaltigungen gemeldet. Es versteht sich von selbst, daß es unmöglich ist, bei solch einer Auswahl ein Muster zu erkennen, ohne die Statistik anzuwenden. Ganz einfache, rationale Statistik. Stichwort Nummer eins: Signifikanz. Wir suchen mit anderen Worten nach einer Systematik, die nicht über statistische Zufälle zu erklären ist. Stichwort Nummer zwei: Demographie.
Ich habe zuerst nach Angaben in Verbindung mit unaufgeklärten Mordfällen oder Vergewaltigungen gesucht, die die Worte ›Würgen‹ oder ›Erdrosseln‹ beinhalteten. Dabei bin ich auf zwölf Morde und ein paar hundert Vergewaltigungen gestoßen. Dann habe ich die Auswahl reduziert, indem ich eingegeben habe, daß es sich bei den Opfern um blonde Frauen zwischen 16 und 35 handeln muß, noch dazu von der Ostküste. Die öffentliche Statistik und unsere eigenen Daten vom Paßamt zeigen, daß diese Gruppe weniger als fünf Prozent der weiblichen Gesamtbevölkerung ausmacht. Trotzdem blieben es sieben Morde und mehr als vierzig Vergewaltigungen.«
Yong legte eine neue Folie mit einer Prozentzahl und einem Säulendiagramm auf den Projektor. Er ließ die anderen lesen, ohne es zu kommentieren. Ein betretenes Schweigen folgte. Wadkins war der erste, der das Wort ergriff:
»Heißt das, daß …«
»Nein«, sagte Yong. »Das heißt nicht, daß wir mehr wissen als vorher. Die Zahlen sind zu vage.«
»Aber wir können zum Beispiel annehmen«, sagte Andrew, »daß dort draußen ein Kerl herumrennt, der systematisch blonde Frauen vergewaltigt und sie etwas weniger systematisch ermordet. Und dem es Spaß macht, seine Hände um einen Frauenhals zu legen.«
Plötzlich wollten alle gleichzeitig reden, und Wadkins mußte um Ruhe bitten. Harry bekam zuerst das Wort:
»Warum ist dieser Zusammenhang nicht bereits vorher aufgedeckt worden? Wir reden schließlich von sieben Morden und vierzig bis fünfzig Vergewaltigungen, die irgendwie miteinander zu tun haben können?«
Yong Sue zuckte mit den Schultern.
»Vergewaltigungen sind leider auch in Australien an der Tagesordnung, und man widmet ihnen vielleicht nicht immer soviel Aufmerksamkeit, wie man erwarten dürfte.«
Harry nickte. Er sah keinen Anlaß, sich über die Verhältnisse im eigenen Land zu brüsten.
»Außerdem suchen sich die meisten Vergewaltiger ihre Opfer in der Stadt oder an dem Ort, in dem sie wohnen, und sie verschwinden auch anschließend nicht. Deshalb gibt es bei gewöhnlichen Vergewaltigungen keine systematische Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Staaten. Das Problem bei den Fällen, die ich in meiner Auswahl habe, ist aber die geographische Verbreitung.«
Yong deutete auf die Liste mit Namen und Daten.
»An einem Tag in Melbourne, im nächsten Monat in Cairns und die Woche darauf in Newcastle. Vergewaltigungen in drei verschiedenen Teilstaaten in weniger als zwei Monaten. Manchmal mit Hut, manchmal mit Maske und mindestens einmal mit einem Nylonstrumpf, und einige Opfer haben ihren Vergewaltiger überhaupt nicht gesehen. An Tatorten gibt es alles, dunkle Nebenstraßen und Parks, manche haben ihre Opfer in Autos gezerrt, und wieder andere sind nachts bei ihnen eingebrochen. Kurz gesagt, es gibt kein Muster, abgesehen davon, daß die Opfer blond sind, gewürgt wurden und nicht eine den Mann beschreiben konnte.
Doch, eine Sache gibt es noch. Wenn er tötet, ist er sehr gründlich. Leider. Mit größter Wahrscheinlichkeit wäscht er seine Opfer, um alle Spuren, die auf ihn deuten könnten, zu entfernen; Fingerabdrücke, Sperma, Kleiderfetzen, Haare, die Haut unter den Nägeln der Opfer und so weiter. Aber darüber hinaus gibt es nichts, das uns in irgendeiner Weise an einen Serienmörder erinnert: keine Spur von grotesken Ritualen oder einer Botschaft an die Polizei nach dem Motto ›Ich war hier‹. Nach den drei Vergewaltigungen in zwei Monaten war es über ein halbes Jahr ruhig. Vorausgesetzt, er hat nichts mit den anderen Vergewaltigungen zu tun, die in diesem Jahr gemeldet wurden. Aber das können wir ja nicht sagen.«
»Was ist mit den Morden?« fragte Harry. »Hätten da nicht die Alarmsirenen klingeln müssen?«
Yong schüttelte den Kopf.
»Sie liegen räumlich so weit auseinander. Wenn die Polizei in Brisbane ein Vergewaltigungsopfer findet, sucht sie den Täter nicht zuerst in Sydney. Außerdem liegen die Morde auch zeitlich so weit auseinander, daß es einfach schwierig war, da einen Zusammenhang zu erkennen. Tod durch Erwürgen ist bei Vergewaltigungen wirklich nichts Besonderes.«
»Gibt es denn keine funktionierende Bundespolizei in Australien?« fragte Harry.
Die anderen um ihn herum lächelten. Harry ging nicht darauf ein und wechselte das Thema.
»Wenn es sich um einen Serienmörder handelt …«, begann Harry.
»Dann hat er oft ein Muster, ein Thema«, fuhr Andrew fort. »Aber dieser hier nicht, oder?«
Yong nickte. »Es gibt sicher den einen oder anderen bei der Polizei, der sich in den letzten Jahren mit der Frage beschäftigt hat, ob es sich nicht um einen Serientäter handeln könnte. Wahrscheinlich hat er sich die alten Sachen aus den Archiven geholt und verglichen, aber die Variationen waren ganz einfach zu groß, um diese These zu unterstützen.«
»Wenn es sich um einen Serientäter handelt, hat er dann nicht einen mehr oder weniger großen Drang, gefaßt zu werden?« fragte Lebie. Wadkins räusperte sich. Das war sein Fachgebiet.
»Das wird in der Fachliteratur oft so dargestellt«, sagte er, »daß es sich bei den Verbrechen um eine Art Hilferuf handelt und er kleine codierte Nachrichten und Spuren hinterläßt, quasi ein Indiz für den unbewußten Wunsch, von jemandem gestoppt zu werden. Und manchmal stimmt das auch. Aber ich befürchte, daß es so einfach nicht ist. Die meisten Serienmörder verhalten sich wie ganz normale Menschen; sie wollen nicht gefaßt werden. Und wenn es sich hier tatsächlich um einen Serientäter handelt, dann hat er uns wirklich nicht viele Anhaltspunkte gegeben. Es gibt hier ein paar Sachen, die mir gar nicht gefallen …«
Er zog seine Oberlippe hoch und entblößte eine Reihe gelber Zähne. »Erstens, daß er ganz offensichtlich kein Muster für die Morde hat, abgesehen davon, daß die Opfer blond sind und er sie erwürgt. Das kann darauf hindeuten, daß er die Morde als einzigartige Begebenheiten ansieht, als eine Art Kunstwerk, das sich von allem abheben soll, was er bisher gemacht hat. Und das macht die Sache für uns nur noch schwieriger. Die andere Möglichkeit aber ist, daß unter all dem doch ein Muster liegt, das wir aber noch nicht erkennen. Es kann aber auch bedeuten, daß er seine Morde überhaupt nicht plant, diese aber in gewissen Situationen notwendig werden, zum Beispiel, weil die Opfer sein Gesicht gesehen, Widerstand geleistet und nach Hilfe geschrien haben oder sonst irgend etwas Unvorhergesehenes geschehen ist.«
»Vielleicht hat er nur dann gemordet, wenn er keinen hoch gekriegt hat?« grunzte Lebie.
»Vielleicht sollten wir mal einen Psychologen bitten, sich der Sache anzunehmen«, schlug Harry vor. »Es könnte ja sein, daß die uns ein psychologisches Profil erstellen, das uns weiterhilft.«
»Vielleicht«, sagte Wadkins. Er sah aber aus, als denke er an etwas vollkommen anderes.
»Und zweitens, Sir?« fragte Yong.
»Was?« Wadkins erwachte.
»Sie sagten ›erstens‹. Was ist das zweite, was Ihnen nicht gefällt?«
»Daß er ganz plötzlich aufhört«, sagte Wadkins. »Es kann natürlich ganz praktische Gründe dafür geben. Daß er verreist ist oder krank. Aber vielleicht macht er sich auch Gedanken darüber, daß ihm jemand auf die Spur kommen könnte. Und dann hört er auf. Just like that!« Er schnippte mit den Fingern.
»Und wenn es so ist, dann haben wir es wirklich mit einem gefährlichen Mann zu tun. Dann ist er diszipliniert und schlau und wird eben nicht von diesem selbstzerstörerischen Trieb geleitet, der zu guter Letzt die meisten Serienmörder entlarvt. Einen kalkulierenden, klugen Mörder werden wir kaum kriegen, bevor er nicht ein gewaltiges Blutbad angerichtet hat. Wenn es uns denn überhaupt gelingt.«
Eine düstere Stille breitete sich im Raum aus. Harry lief ein Schauer über den Rücken. Er hatte von Serienmördern gelesen, die nie gefaßt worden waren und wo die Nachforschungen der Polizei auf der Stelle traten, weil die Morde plötzlich aufgehört hatten. Bis heute wußte man nicht, ob die Mörder am Leben und vielleicht nur vorübergehend in Deckung gegangen waren.
»Was tun wir jetzt?« fragte Andrew. »Sollen wir alle blonden Frauen unter dem Pensionsalter bitten, abends nicht mehr vor die Tür zu gehen?«
»Dann riskieren wir bloß, daß er untertaucht und wir ihn niemals finden«, sagte Lebie. Er hatte ein Taschenmesser hervorgekramt und reinigte sich damit mühselig die Fingernägel.
»Andererseits frage ich mich, ob wir die gesammelte australische Blondinenschar als Lockfutter für diesen Kerl herumlaufen lassen dürfen?« erwiderte Yong.
»Es nützt doch nichts, die Menschen zu bitten, nicht mehr raus zu gehen«, brummte Wadkins. »Wenn er nach Opfern sucht, findet er sie auch. Hat er nicht bei einigen seiner Opfer sogar eingebrochen? Vergeßt es, wir müssen ihn ausräuchern.«
»Wie das denn? Er operiert doch im ganzen verdammten Osten von Australien und niemand weiß, wann er wieder zuschlägt. Der Kerl vergewaltigt und tötet doch vollkommen willkürlich.« Lebie sprach mit seinen Nägeln.
»Nein, das stimmt nicht«, entgegnete Andrew, »jemand, der so lange durchhält, macht nichts willkürlich. Es kann sein, daß manche Serienmörder wollen, daß ihre Morde an die Öffentlichkeit kommen. Sie setzen bei den Opfern ihre Duftmarken und lassen sich identifizieren. Aber dieser hier nicht. Er versucht statt dessen, Übereinstimmungen zu vermeiden. Bloß seine Neigung zu würgen entlarvt ihn. Ansonsten ist er unberechenbar. Glaubt er. Aber er täuscht sich. Denn es gibt ein Muster. Es gibt immer ein Muster. Nicht weil man es plant, sondern weil alle Menschen Gewohnheitstiere sind, da gibt es keinen Unterschied zwischen mir und dir und einem Vergewaltiger. Es gilt ganz einfach nur, herauszufinden, was die Gewohnheiten dieses speziellen Tieres sind.«
»Der Mann ist verrückt«, sagte Lebie. »Sind nicht im Grunde alle Serientäter schizophren? So daß sie Stimmen hören, die ihnen befehlen zu töten, oder so? Ich bin da ganz Harrys Meinung, laßt uns einen Seelendoktor einschalten.«
Wadkins kratzte sich im Nacken. Er wirkte beinahe ratlos.
»Ein Psychologe kann uns sicherlich viel über einen Serienmörder erzählen, aber es ist nicht sicher, daß das wirklich das ist, was wir hier brauchen«, sagte Andrew.
»Sieben Morde. Das ist doch wohl ein Serienmörder«, brummte Lebie.
»Hör mal zu«. Andrew lehnte sich über den Tisch und streckte seine großen schwarzen Hände vor. »Für einen Serienmörder ist der Sexualakt dem Mord untergeordnet. Es ist für ihn sinnlos, eine Frau zu vergewaltigen, ohne sie anschließend zu töten. Für unseren Mann aber ist die Vergewaltigung das Wichtigste. In den Fällen, in denen er getötet hat, gab es dafür, wie Wadkins gesagt hat, vermutlich einen praktischen Grund. Zum Beispiel, daß ihn das Opfer sonst identifizieren könnte. Daß sie sein Gesicht gesehen haben.« Andrew machte eine Pause. »Oder daß sie wissen, wer er ist.« Er ließ die Hände wieder auf den Tisch sinken.
Der Ventilator in der Ecke knirschte, aber die Luft war dicker als jemals zuvor.
»Statistik ist etwas Feines«, sagte Harry, »aber wir dürfen uns von ihr nicht verwirren lassen. Ein norwegisches Sprichwort lautet: ›Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.‹«
Wadkins hatte sich ein Tuch aus der Tasche geholt und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Es ist wohl möglich, daß Mr. Holys Sprichwort durch die Übersetzung etwas an Sinn verloren hat, aber ich habe das wirklich nicht kapiert«, sagte er.
»Ich will damit bloß sagen, daß uns die großen Zusammenhänge nicht daran hindern dürfen, weiter die Möglichkeit im Auge zu behalten, daß es sich bei dem Mord an Inger Holter auch um einen Einzelfall handeln könnte. Auch während der Pest sind manche Menschen ganz einfach an Lungenentzündung gestorben, nicht wahr? Lassen Sie uns davon ausgehen, daß Evans White kein Serienmörder ist. Daß da ein anderer Kerl herumrennt und Blondinen ermordet, bedeutet noch nicht, daß Evans White nicht vielleicht doch der Mörder von Inger Holter ist.«
»Ein bißchen umständlich, Holy, aber wir verstehen, was Sie meinen«, sagte Wadkins und zog ein Fazit: »Okay, Leute, wir suchen nach einem Vergewaltiger und möglicherweise – ich wiederhole – möglicherweise nach einem Serienmörder. Es ist an McCormack zu entscheiden, ob wir die Nachforschungen ausdehnen müssen. Inzwischen arbeiten wir hier erst einmal mit dem, was wir haben. Kensington, gibt es bei Ihnen etwas Neues?«
»Tja, Holy war ja nicht rechtzeitig zur Morgenbesprechung da, ich möchte deshalb noch einmal wiederholen, daß ich ein zweites Mal mit Robertson, Inger Holters phantastischem Vermieter, gesprochen und ihn gefragt habe, ob ihm zu dem Namen Evans White etwas einfällt. Der Nebel scheint sich bei ihm inzwischen ein bißchen gelichtet zu haben, denn er hat sich gemeldet, und wir werden ihm heute nachmittag noch einmal einen Besuch abstatten. Ansonsten hat unser guter Freund, der Sheriff von Nimbin, angerufen. Diese Angeline Hutchinson hat bestätigt, daß sie an den zwei Tagen, die für den Mord an Inger Holter in Betracht kommen, mit Evans White zusammen war.«
Harry fluchte.
Wadkins klatschte in die Hände. »Also zurück an die Arbeit, Jungs. Let's nail this bastard!«
Der letzte Satz klang jedoch nicht so richtig überzeugend.
Harry hatte einmal gehört, daß Hunde ein durchschnittliches Erinnerungsvermögen von etwa drei Sekunden hätten, daß diese Zeitspanne aber durch zahlreiche Wiederholungen beträchtlich ausgedehnt werden konnte. Der Name »Pawlow'scher Hund« resultiert aus den Versuchen des russischen Physiologen Iwan Pawlow mit Hunden, mit denen er die sogenannten bedingten Reflexe im Nervensystem untersuchte. Eine gewisse Zeit lang erklang immer das gleiche Signal, wenn er den Hunden zu essen gab. Eines Tages aber gab er dieses Signal, ohne ihnen Essen zu geben. Trotzdem begannen die Speicheldrüsen und der Magen der Hunde zu arbeiten, um das Essen zu verdauen. Vielleicht nicht so überraschend, aber Pawlow bekam dafür den Nobelpreis. Es war der Beweis dafür, daß zahllose Wiederholungen den Körper dazu bringen können, sich zu »erinnern«.
Als Andrew zum zweiten Mal innerhalb nur weniger Tage den tasmanischen Teufel mit einem gutdosierten Flachschuß in die Hecke feuerte, gab es also noch immer die Hoffnung, daß ihm diese Begebenheit länger in Erinnerung bleiben würde als der erste Tritt. Sollte Robertsons Hund wieder einmal fremde Schritte vor dem Gartentürchen hören, würden ihm – statt daß sein kleines, bösartiges Gehirn zu kochen begann – vielleicht die Rippen schmerzen.
Robertson empfing sie in der Küche und bot ihnen Bier an. Andrew nahm dankend an, Harry aber bat um ein Glas Mineralwasser, das Robertson jedoch leider nicht auftreiben konnte, und so meinte Harry schließlich, daß er sich einfach mit einer Zigarette begnüge.
»Bitte nicht«, sagte Robertson, als Harry das Päckchen aus der Tasche zog. »In meinem Haus ist das Rauchen verboten. Zigaretten sind nicht gut für Sie«, sagte er und kippte die halbe Flasche Bier hinunter.
»Oh, Sie beschäftigen sich mit Gesundheitsfragen?« fragte Harry.
»Aber ja«, erwiderte Robertson scheinbar unbeirrt durch Harrys spöttische Bemerkung. »In diesem Haus wird weder geraucht noch Fleisch oder Fisch gegessen. Hier atmen wir frische Luft und essen das, was die Natur uns zu bieten hat.«
»Gilt das auch für den Hund?«
»Mein Hund hat seit seiner Welpenzeit kein Fleisch oder Fisch mehr gegessen. Das ist ein echter Lacto-Vegetarier«, sagte er mit unverhohlenem Stolz.
»Das erklärt die schlechte Laune«, brummte Andrew.
»Mr. Robertson, haben wir Sie richtig verstanden, daß Sie Evans White kennen? Was können Sie uns über ihn sagen?« fragte Harry und nahm sein Notizbuch hervor. Er hatte nicht vor, irgend etwas aufzuschreiben, aber nach seiner Erfahrung glaubten die Zeugen in Anbetracht eines Notizbuches, daß ihre Aussage von ganz besonderer Bedeutung war. Das brachte sie vielleicht unbewußt dazu, genauer zu werden, gründlicher über alles nachzudenken und exakter mit Fakten wie Uhrzeiten, Namen oder Orten umzugehen.
»Konstabel Kensington hat mich angerufen und gefragt, wer Inger Holter in der Zeit, in der sie hier gewohnt hat, besucht hat. Und da habe ich erzählt, daß ich oben in ihrem Zimmer gewesen bin und das Bild gesehen habe, das an ihrer Wand hing, und mir dabei eingefallen ist, daß ich den jungen Mann mit dem Kind auf dem Schoß gesehen habe.«
»Ach ja?«
»Ja, der Mann war, soweit ich weiß, zweimal hier. Beim ersten Mal haben sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und es fast zwei Tage lang getrieben. Sie waren sehr … äh, … laut. Ich hatte schon Sorge wegen der Nachbarn und habe dann laute Musik laufen lassen, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Inger und diesen Typen, meine ich. Auch wenn ich nicht gerade den Eindruck hatte, daß sie das gestört hätte. Das zweite Mal war er nur ganz kurz hier, bevor er wieder abdampfte.«
»Haben sie sich gestritten?«
»Das kann man wohl sagen, ja. Sie hat ihm nachgeschrien, daß sie dieser Tussi erzählen würde, was für ein Arschloch er sei. Und daß sie einen gewissen Mann über seine Pläne informieren würde.«
»Einen gewissen Mann?«
»Ja, sie hat einen Namen genannt, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«
»Und diese Tussi? Wer kann das sein?« fragte Andrew.
»Ich versuche mich aus dem Privatleben meiner Mieter herauszuhalten, Konstabel.«
»Das Bier ist sehr gut, Mr. Robertson. Wer ist die Tussi?« Andrew tat so, als habe er Robertsons letzten Satz nicht gehört.
»Wenn man das nur wüßte.« Robertson zögerte, wobei sein Blick von einem zum andern huschte. »Sie ist wahrscheinlich wichtig für die Ermittlungen, nicht wahr?« Die Frage blieb irgendwie zwischen ihnen in der Luft hängen, aber nicht allzu lange, denn Andrew knallte seine Bierflasche auf den Tisch und lehnte sich vor, so daß sein Gesicht unmittelbar vor dem von Robertson war.
»Sie haben zuviel ferngesehen, Robertson. Im wirklichen Leben schieben wir Ihnen jetzt nämlich keine Hundertdollarnote über den Tisch, worauf Sie uns leise einen Namen zuflüstern und wir dann ohne weiteren Kommentar verschwinden. Im wirklichen Leben rufen wir jetzt Verstärkung, die dann in einem Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene angerauscht kommt, Ihnen Handschellen anlegt und Sie, peinlich oder nicht, abführt, während die ganze Nachbarschaft zusieht. Dann bringen wir Sie zur Wache, stellen Ihnen eine Glühbirne vor die Nase und sperren Sie, falls Sie noch immer nichts gesagt haben oder Ihr Anwalt inzwischen aufgetaucht ist, über Nacht als ›möglichen Verdächtige‹ ein. Im wirklichen Leben werden Sie im schlimmsten Fall verurteilt, Informationen zurückgehalten und damit einen Mordfall gedeckt zu haben. Und das macht Sie automatisch mitschuldig und wird mit bis zu sechs Jahren Gefängnis bestraft. Also, was wollen Sie, Mr. Robertson?«
Robertson war blaß geworden. Er öffnete ein paarmal den Mund, ohne daß ein Laut zu hören war, und sah dabei aus wie ein Aquarienfisch, der soeben begriffen hatte, daß er nicht gefüttert wurde, sondern selbst das Futter war.
»Ich, ich … ich wollte damit nicht andeuten, daß …«
»Zum letzten Mal: Wer ist diese Tussi?«
»Ich glaube, die auf dem Foto … die, die hier war …«
»Welches Foto?«
»Sie steht auf dem Foto oben im Zimmer hinter Inger und dem Mann mit dem Kind. Die kleine Braune mit dem Stirnband. Ich habe sie wiedererkannt, weil sie vor ein paar Wochen hier war und nach Inger gefragt hat. Ich habe Inger geholt, und sie blieben auf der Treppe stehen und redeten. Schließlich wurde es laut, und die beiden haben sich gegenseitig nach Strich und Faden beschimpft. Dann knallte die Tür, und Inger rannte weinend die Treppe hoch in ihr Zimmer. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Holen Sie uns bitte das Bild, Mr. Robertson. Ich habe die Kopien im Büro gelassen.«
Robertson zeigte sich hilfsbereit und stürmte in Ingers Zimmer. Als er wieder zurück war, reichte Harry nur ein flüchtiger Blick, um zu erkennen, wer die Frau war, die Robertson meinte.
»Schon als wir sie getroffen haben, hat sie mich an irgendwen erinnert«, sagte Harry.
»Das ist ja unsere gutherzige Mutter«, stellte Andrew verblüfft fest.
»Ich denke, ihr richtiger Name ist Angeline Hutchinson.«
Der tasmanische Teufel war nirgends zu sehen, als sie gingen.
»Hast du dich selbst schon einmal gefragt, warum dich alle Konstabel nennen, Detektiv Kensington?« fragte Harry, als sie sich ins Auto setzten.
»Das hat wohl mit meinem vertraueneinflößenden Wesen zu tun. Konstabel, das hört sich doch an wie ›gutmütiger Onkel‹, nicht wahr?« sagte Andrew vergnügt. »Und ich bringe es einfach nicht übers Herz, alle zu korrigieren.«
»Ja, du bist der reinste Schmusebär«, lachte Harry.
»Koalabär«, korrigierte Andrew.
»… bis zu sechs Jahren Gefängnis«, amüsierte sich Harry, »du Lügner!«
»Was anderes ist mir nicht eingefallen«, antwortete Andrew.
Es regnete in Sydney. Das Wasser hämmerte auf den Asphalt, spritzte an den Hauswänden hoch und verwandelte sich in nur wenigen Minuten zu kleinen Strömen, die durch die Gossen rauschten. Die Menschen sprangen auf der Suche nach Schutz umher, während das Wasser unter ihren Fußsohlen klatschte. Einige hatten ganz offensichtlich der morgendlichen Wettervorhersage vertraut und Regenschirme mitgenommen. Jetzt entfalteten sie sich wie große, farbenfrohe Schildkrötenpanzer im Straßenbild. Andrew und Harry warteten an einer roten Ampel auf der William Street am Hyde Park.
»Erinnerst du dich an den Aborigine, der neulich abends in dem kleinen Park beim Albury saß?« fragte Harry.
»Im Green Park?«
»Er wollte dich grüßen, aber du hast seinen Gruß nicht erwidert – warum eigentlich nicht?«
»Ich kannte ihn nicht.«
Es würde Grün, und Andrew drückte das Gaspedal nach unten.
Das Albury war fast menschenleer, als Harry eintrat.
»Du bist aber früh«, sagte Birgitta. Sie stellte saubere Gläser in die Regale.
»Ich dachte mir, daß der Service sicher besser ist, bevor der große Run losgeht.«
»Bei uns kriegen alle etwas.« Sie kraulte Harry am Kinn. »Was möchtest du?«
»Nur einen Kaffee.«
»Der geht aufs Haus.«
»Danke, Schatz.«
Birgitta lachte. »Schatz? So nennt mein Vater meine Mutter.« Sie setzte sich auf einen Hocker und lehnte sich über den Tresen zu Harry hinüber. »Und eigentlich sollte es mich wohl nervös machen, wenn mir ein Kerl, den ich noch nicht einmal eine Woche kenne, einen Kosenamen gibt.«
Harry sog ihren Duft ein. In der Wissenschaft weiß man noch immer so gut wie gar nichts darüber, wie der Geruchssinn im Gehirn die Nervenimpulse der Riechzellen in bewußte Sinneseindrücke umsetzen kann. Aber Harry dachte nicht so sehr an das Warum, er spürte bloß, daß allerlei merkwürdige Dinge in seinem Kopf und seinem Körper abliefen, wenn er ihren Geruch wahrnahm. Daß zum Beispiel seine Augenlider ein wenig sanken, die Mundwinkel sich zu einem breiten Grinsen nach oben zogen und seine Laune merklich besser wurde.
»Entspann dich«, sagte er, »weißt du nicht, daß ›Schatz‹ zu den ungefährlichen Kosenamen gehört?«
»Ich wußte nicht einmal, daß es ungefährliche Kosenamen gibt.«
»Aber klar. Denk doch nur an ›Liebling‹, ›Engel‹ oder ›Kätzchen‹.«
»Und was, bitte, sind dann die gefährlichen?«
»Tja, ›Knuddelpuddel‹ ist ganz gefährlich«, sagte Harry.
»He? Was ist das denn?«
»Knuddelpuddel, Schmusidusi, Babbelchen. So Teddybärnamen, weißt du. Das Wichtige daran ist, daß das keine abgegriffenen, unpersönlichen Namen sind, sondern ganz private, intime Worte. Oft werden die dann auch noch durch die Nase gesprochen, so daß sie diesen nasalen Klang kriegen, wie wenn man mit Kindern spricht. Dann hat man wirklich einen Grund, einen klaustrophobischen Anfall zu bekommen.«
»Hast du noch mehr Beispiele?«
»Wie war das mit dem Kaffee?«
Birgitta schlug mit dem Handtuch nach ihm. Dann goß sie Kaffee in eine große Tasse. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht, und Harry bekam Lust, sich über den Tresen zu lehnen und ihre Haare zu berühren.
»Jetzt bin ich dann wieder an der Reihe. Ich will den Rest der Geschichte hören«, sagte sie und setzte sich hin. Sie legte ihre Hand auf die seine. Harry trank einen Schluck Kaffee und schaute sich um. Dann holte er tief Luft.
»Er hieß Stiansen, mein Kollege. Sein Vorname war Ronny. Der Name eines Draufgängers. Aber eigentlich war er keiner. Er war ein lieber, hilfsbereiter Junge, der seinen Beruf als Polizist sehr gerne ausübte. Meistens jedenfalls. Als die Beerdigung stattfand, wurde ich noch immer künstlich beatmet. Der Chef unserer Dienststelle besuchte mich später im Krankenhaus. Er richtete mir auch die Grüße der Polizeipräsidentin aus, und eigentlich hätte ich da schon Lunte riechen müssen. Aber ich war nüchtern und meine Laune alles andere als gut. Die Schwester hatte herausbekommen, daß ich Alkohol ins Krankenhaus hatte schmuggeln lassen, und meinen Zimmernachbarn in ein anderes Zimmer verlegt. Ich hatte zwei Tage nichts getrunken. ›Ich weiß, woran Sie denken‹, hatte mein Chef gesagt, ›aber vergessen Sie es, Sie haben einen Job zu erledigen.‹ Er glaubte damals, ich dächte an Selbstmord. Er irrte sich. Ich dachte daran, wie ich etwas zu trinken auftreiben konnte.
Mein Chef ist ein Mensch, der nicht lange um den heißen Brei herumredet. ›Stiansen ist tot, Sie können nichts mehr für ihn tun‹, hatte er gesagt. ›Die einzigen, denen Sie helfen können, sind Sie selbst und Ihre Familie. Und uns. Haben Sie die Zeitung gelesen?‹ Ich antwortete ihm, daß ich überhaupt nichts gelesen, sondern mein Vater mir ein paar Bücher vorgelesen hätte und daß wir, auf meinen Wunsch hin, kein Wort über den Unfall verloren hätten. Der Chef sagte, das sei schon in Ordnung. Daß es die Sache leichter machte, wenn ich mit niemandem darüber gesprochen hätte. ›Sie haben nämlich nicht am Steuer gesessen‹, sagte er. ›Oder, anders ausgedrückt, am Steuer hat kein besoffener Bulle aus Oslo gesessen.‹ Und dann fragte er mich, ob ich das begriffen hätte. Daß Stiansen gefahren sei. Derjenige von uns, dessen Blutprobe bewies, daß er stocknüchtern war. Er zeigte mir die wochenalten Zeitungen, und ich konnte mit meinem benebelten Blick erkennen, daß dort tatsächlich stand, der Fahrer des Wagens sei bei dem Unfall unmittelbar getötet worden, während sein Beifahrer mit lebensgefährlichen Verletzungen davongekommen war. ›Aber ich bin gefahren‹, sagte ich. ›Das bezweifle ich. Sie wurden auf dem Rücksitz gefunden‹, sagte der Chef. ›Denken Sie daran, daß Sie eine schwere Gehirnerschütterung hatten. Ich tippe, Sie können sich überhaupt nicht mehr an die Fahrt erinnern.‹ Natürlich begriff ich, worauf er hinaus wollte. Die Presse interessierte sich nur für die Blutprobe des Fahrers, und solange die in Ordnung war, kümmerte sich niemand um mich. Die Sache war so schon schlimm genug für die Polizei.«
Birgitta hatte eine tiefe Furche zwischen den Augen. Sie wirkte aufgewühlt.
»Aber wie konnte man Stiansens Eltern erzählen, daß er das Auto gefahren hatte? Diese Menschen müssen ja völlig gefühllos sein! Wie kann …?«
»Ich habe dir gesagt, daß die Loyalität innerhalb der Polizei groß ist. Manchmal wird mehr Rücksicht auf die Polizei als auf die Betroffenen genommen. Aber es ist gut möglich, daß Stiansens Familie in diesem Fall auch eine Version serviert bekommen hat, mit der sie leichter leben konnte. Laut meinem Chef hatte Stiansen das Risiko bei der Verfolgung eines mutmaßlichen Drogendealers und Mörders bewußt auf sich genommen, und ein Unfall im Dienst kann ja jedem passieren. Der Junge in dem anderen Auto war schließlich ein Fahranfänger, und es war ja nicht auszuschließen, daß ein anderer Fahrer die Situation anders eingeschätzt hätte und nicht vor uns auf die Straße gefahren wäre. Schließlich fuhren wir ja mit Blaulicht und Martinshorn.«
»Ja, und mit 110.«
»Wo man normalerweise fünfzig fährt, ja, ja, den Jungen trifft wohl keine Schuld. Es geht ganz einfach nur um die Argumentation. Warum mußte seine Familie wissen, daß ihr Sohn der Beifahrer war? Würde es den Eltern besser gehen, wenn man ihrem Sohn nachsagen würde, er habe völlig passiv einen betrunkenen Kollegen fahren lassen? Der Chef ist die Argumente immer wieder durchgegangen. Mein Kopf schmerzte so, daß ich glaubte, er würde zerspringen. Schließlich hing ich halb aus dem Bett und mußte kotzen, während die Schwester angestürmt kam. Am nächsten Tag besuchte mich Stiansens Familie. Die Eltern und eine jüngere Schwester. Sie brachten mir Blumen und hofften, daß ich bald wieder gesund werden würde. Der Vater sagte, er müsse mit sich selbst hart ins Gericht gehen, weil er nie konsequent genug gegen die Raserei seines Sohnes vorgegangen sei. Ich weinte wie ein Kind. Jede Sekunde war wie eine langsame Hinrichtung. Sie blieben über eine Stunde.«
»Mein Gott, was hast du ihnen gesagt?«
»Nichts. Sie haben geredet. Über Ronny. Welche Pläne er gehabt hatte, was er tun und lassen wollte. Über seine Freundin, die in den USA studierte. Daß er über mich gesprochen hätte. Daß ich ein tüchtiger Polizist und ein guter Freund sei. Einer, auf den er sich verlassen könnte.«
»Was geschah weiter?«
»Ich blieb zwei Monate im Krankenhaus. Der Chef hat mich noch ein paarmal besucht. Einmal wiederholte er, was er beim ersten Mal gesagt hatte. ›Ich weiß, woran Sie denken. Vergessen Sie es.‹ Und da hatte er recht. Ich wollte nur noch sterben. Es ist gut möglich, daß die Tatsache, die Wahrheit im dunkeln zu halten, etwas mit Altruismus zu tun hatte – zu lügen war dabei nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, daß ich meine eigene Haut rettete. Das hört sich vielleicht merkwürdig an, aber ich habe viel darüber nachgedacht – laß mich versuchen, es dir zu erklären.
In den fünfziger Jahren gab es in den USA einen jungen Universitätsdozenten namens Charles Van Doren, der im ganzen Land bekannt war, weil er immer so souverän in einer Quizsendung auftrat, die landesweit ausgestrahlt wurde. Woche für Woche besiegte er seine Herausforderer. Die Fragen waren teilweise unglaublich schwierig, und alle waren stumm vor Bewunderung für diesen Mann, der anscheinend auf alles die richtige Antwort wußte. Er bekam begeisterte Zuschriften mit Heiratsangeboten, hatte seinen eigenen Fanclub, und seine Vorlesungen an der Universität waren natürlich überfüllt. Schließlich erzählte er bei einem öffentlichen Auftritt, daß die Programmproduzenten ihm alle Antworten vorher schon verraten hätten.
Auf die Frage, warum er die Schwindelei hatte auffliegen lassen, erzählte er von einem Onkel, der gegenüber seiner Frau, Van Dorens Tante, zugegeben hatte, untreu gewesen zu sein. Das hatte zu einiger Unruhe in der Familie geführt, und schließlich hatte Van Doren seinen Onkel gefragt, warum er dieses Geheimnis gelüftet habe. Der Seitensprung lag nämlich viele Jahre zurück, und er hatte seitdem keinen Kontakt mehr zu der Frau gehabt. Der Onkel hatte ihm geantwortet, daß seine Untreue nicht das Schlimmste für ihn gewesen sei. Was er nicht ertragen habe können, sei, daß dieser Treuebruch unbemerkt geblieben war und er ungestraft davongekommen sei. Und genau so war es auch bei Charles Van Doren.
Ich glaube, die Menschen haben ein gewisses Bedürfnis nach Strafe, wenn sie ihre eigenen Handlungen nicht mehr länger akzeptieren können. Ich habe mich auf jeden Fall danach gesehnt, bestraft zu werden, gepeitscht zu werden, gequält, erniedrigt. Egal was, nur daß ich mit mir hätte abrechnen können. Aber es gab niemanden, der mich bestrafte. Sie konnten mir nicht einmal kündigen, offiziell war ich ja nüchtern gewesen. Statt dessen bekam ich eine öffentliche Auszeichnung von der Polizeipräsidentin, weil ich in Ausübung meines Dienstes so schwer verletzt worden war. Also habe ich mich selbst bestraft. Ich erlegte mir die härteste Strafe auf, an die ich denken konnte: Ich entschloß mich, weiterzuleben und nie wieder einen Tropfen zu trinken.«
In der Bar war es voller geworden. Birgitta signalisierte, daß sie gleich zur Verfügung stünde.
»Und dann?«
»Ich bin wieder auf die Beine gekommen, habe wieder angefangen zu arbeiten. Länger und härter als alle anderen. Habe trainiert. Lange Spaziergänge gemacht. Bücher gelesen. Habe ein bißchen Rechtswissenschaften studiert. Den Kontakt mit üblen Freunden abgebrochen. Mit den guten übrigens auch. Denen, die noch übriggeblieben waren, nachdem der Alkohol die Übermacht gewonnen hatte. Ich weiß eigentlich nicht warum, es war wie ein Großreinemachen. Mein altes Leben mußte abgewickelt werden, Gutes wie Schlechtes. Ich habe mich hingesetzt und all jene angerufen, mit denen ich glaubte, in meinem alten Leben Kontakt gehabt zu haben, und gesagt: ›Hallo, wir können uns nicht mehr treffen. Es war schön, dich kennengelernt zu haben.‹ Die meisten haben das akzeptiert. Ein paar waren wohl auch froh darüber. Einige behaupteten, ich würde mich einigeln. Nun, es kann sein, daß sie recht hatten. In den letzten drei Jahren war ich mehr mit meiner Schwester zusammen als mit irgendeinem anderen Menschen.«
»Und die Frauen in deinem Leben?«
Harry schaute am Tresen entlang. Ein paar der Gäste begannen unruhig zu werden.
»Das ist eine andere und mindestens genauso lange Geschichte. Und alt ist sie auch. Seit dem Unglück gab es nichts, über das es wert wäre zu sprechen. Ich bin wohl so ein lonely wolf geworden, der sich mit seinen eigenen Sachen beschäftigt. Wer weiß, vielleicht hatte ich ja ganz einfach mehr Charme, wenn ich betrunken war?« Harry schüttete sich noch etwas Milch in den Kaffee und schien sich über diesen Gedanken zu amüsieren.
»Warum haben sie dich hierhergeschickt?«
Harry zuckte mit den Schultern.
»Das ist wohl nicht so wahnsinnig wichtig.« Er nickte zu der anderen Seite der Bar hinüber. »Jedenfalls nicht so wichtig wie für die Jungs da drüben der nächste Drink.«
Birgitta verschwand, und Harry rührte in seinem Kaffee. Dabei erregte das Geräusch des Fernsehapparates seine Aufmerksamkeit, der über den Flaschenregalen hinter der Bar hing. Es lief die Nachrichtensendung, und nach einer Weile begriff Harry, daß von einer Gruppe Aborigines die Rede war, die eine bestimmte Region des Landes beanspruchte.
»… in bezug auf die neue Native Title-Gesetzgebung«, sagte der Nachrichtensprecher.
»Damit die Gerechtigkeit siegt …«, hörte er eine Stimme hinter sich.
Harry drehte sich um. Zuerst erkannte er die langbeinige, braungepuderte Frau mit den groben Gesichtszügen und der hellen Perücke, die sich hinter ihm erhob, nicht. Doch dann fiel sein Blick auf die dicke Nase und den Zwischenraum zwischen den Schneidezähnen.
»The Clown«, sagte er. »Otto …«
»Otto Rechtnagel, in voller Größe, höchstpersönlich, handsome. Das ist der Nachteil an diesen hohen Absätzen. Ich habe es ja eigentlich lieber, wenn meine Männer größer sind als ich. May I?« Er setzte sich neben Harry auf den Barhocker.
»Was trinkst du?« fragte Harry und versuchte die Aufmerksamkeit einer geschäftigen Birgitta zu erlangen.
»Immer mit der Ruhe, sie weiß es«, sagte Otto.
Harry bot ihm eine Zigarette an, die er ohne ein Wort des Dankes nahm und in ein rosa Mundstück steckte. Dann gab er ihm Feuer, und Otto schaute ihn an, während er mit hohlen Wangen und vielsagendem Blick den Rauch einsog. Das kurze Kleid klammerte sich an die schlanken Schenkel und die glitzernden Strümpfe. Harry mußte sich selbst eingestehen, daß die Verkleidung ein kleines Meisterwerk darstellte. Otto sah in seinem Kostüm weiblicher aus als die meisten Frauen, die er kannte. Harry wich seinem Blick aus und zeigte auf den Fernseher.
»Was meinst du mit ›damit die Gerechtigkeit siegt‹?«
»Hast du nichts von Terra Nullius gehört? Eddy Mabo?« Harry schüttelte zweimal den Kopf. Otto formte seine Lippen wie zu einer Oralsexnummer, und heraus kamen zwei dicke Rauchringe, die langsam durch die Luft schwebten.
»Terra Nullius ist ein spaßiger kleiner Begriff, verstehst du. Ein paar Engländer haben sich das einfallen lassen, als sie hierherkamen und sahen, daß es in Australien kaum bearbeitetes Land gab. Die Aborigines waren nämlich ein halbnomadisches Volk, das sich von Jagd und Fischfang und den natürlich wachsenden Pflanzen ernährte. Und nur weil sie nicht den lieben langen Tag mit gekrümmten Rücken über den Kartoffeläckern standen, glaubten die Engländer, es müsse sich um weniger entwickelte Individuen handeln. Sie glaubten, die Landwirtschaft sei eine obligatorische Entwicklungsstufe jeder Zivilisation und vergaßen dabei die Tatsache, daß die ersten Engländer, die hierherkamen, bei dem Versuch, das karge Land zu bestellen, fast verhungert wären. Die Aborigines aber kannten die Natur in- und auswendig, je nach Jahreszeit zogen sie dorthin, wo es etwas zu essen gab, und lebten so in anscheinendem Überfluß. Captain Cook bezeichnete sie als die glücklichsten Menschen, denen er jemals begegnet war. Es gab für sie ganz einfach keine Notwendigkeit, das Land zu bestellen. Doch weil sie nicht seßhaft waren, schlossen die Engländer daraus, daß das Land niemandem gehörte. Deshalb Terra Nullius. Und nach dem Terra Nullius-Prinzip konnten die Engländer einfach Eigentumszertifikate für Siedler ausstellen, ohne sich dabei Gedanken zu machen, was die Aborigines dazu meinten. Sie hatten ihr Land ja nicht in Besitz genommen.«
Birgitta stellte ein großes Glas Marguerita vor Otto auf den Tresen.
»Vor ein paar Jahren tauchte ein Mann von den Torres Straight- Inseln auf, Eddy Mabo, der die Obrigkeit mit der Ansicht konfrontierte, das Terra Nullius-Prinzip sei falsch, und statt dessen behauptete, daß das Land damals unrechtmäßig den Aborigines gestohlen worden wäre. 1992 gab der Oberste Gerichtshof Eddy Mabo Recht und entschied, daß Australien den Aborigines gehört habe. Das Gerichtsurteil besagte, daß die Aborigines Anspruch auf die Bereiche des Landes hätten, von denen sie gelebt hätten, bevor die Weißen kamen, vorausgesetzt, sie hielten sich heute noch dort auf. Das führte natürlich zu einem gewaltigen Tohuwabohu mit einer Unzahl weißer Siedler, die vor Angst aufschrien, jetzt ihr Land zu verlieren.«
»Und was geschieht jetzt?«
Otto nahm einen tiefen Schluck aus seinem Cocktailglas mit Salzrand, machte ein Gesicht, als hätte man ihm Essig serviert, und trocknete sich mit seiner Serviette mit säuerlicher Miene vorsichtig den Mund.
»Nun, das Gerichtsurteil gibt es ja. Und die Native Title- Gesetzgebung ist klar. Aber man praktiziert es auf eine Weise, die nicht immer allzu konsequent ist. Es ist nicht so, daß ein armer Bauer jetzt von einem Tag auf den anderen damit rechnen muß, sein Land zu verlieren. Mit der Zeit hat sich die schlimmste Panik gelegt.«
Ich sitze hier in einer Bar, dachte Harry, und höre einem Transvestiten zu, der mir eine Vorlesung über australische Politik hält. Plötzlich fühlte er sich in etwa ebenso zu Hause wie Harrison Ford in der Barszene in Star Wars.
Die Nachrichten wurden von einer Werbung unterbrochen, in der lächelnde australische Männer mit Flanellhemden und Lederhüten auftraten. Sie warben für ein Bier, dessen hervorragende Eigenschaft anscheinend darin lag, daß es »proudly Australian« war.
»Na denn, trinken wir auf Terra Nullius«, sagte Harry.
»Prost, handsome. Oh, das hätte ich fast vergessen. Es gibt nächste Woche eine neue Vorstellung im St. George Theater am Bondi Beach. Ich verlange ganz einfach, daß ihr, du und Andrew, kommt. Du kannst gerne noch einen anderen Freund mitbringen. Und hebt euch bitte euren Applaus für meine Nummern auf.«
Harry machte eine tiefe Verbeugung und bedankte sich für die drei Eintrittskarten, die ihm Otto mit abgespreiztem kleinen Finger hinhielt.
Als Harry auf dem Weg vom Albury nach King's Cross am Green Park vorbeiging, suchte er unwillkürlich nach dem grauen Aborigine, aber an diesem Abend saßen nur ein paar betrunkene Weiße in dem fahlen Licht der Laterne auf der Parkbank. Die Wolken, die noch am Morgen den Himmel verdeckt hatten, waren verschwunden, jetzt war es sternenklar. Unterwegs passierte er zwei Menschen, die ganz offensichtlich gerade miteinander stritten. Sie standen jeder auf seiner Seite der Straße und brüllten sich an, während Harry zwischen ihnen hindurchgehen mußte. »Du hast nichts davon gesagt, daß du die ganze Nacht über wegbleiben würdest!« schrie der eine mit dünner, tränenerstickter Stimme.
Vor einem vietnamesischen Restaurant stand ein Kellner an eine Wand gelehnt und rauchte. Er sah aus, als habe er bereits einen langen Tag hinter sich. Die Schlange der Menschen und Autos schob sich langsam durch die Darlinghurst Road in Richtung King's Cross.
An der Abzweigung der Baywater Road stand Andrew und aß eine Bratwurst.
»Da bist du ja …«, sagte er. »Pünktlich auf die Minute, wie ein richtiger Germane.«
»Deutschland liegt …«
»Die Deutschen sind Teutonen. Du bist Nordgermane. Du siehst jedenfalls so aus. Willst du deine eigene Rasse verleugnen, Junge?«
Harry hatte Lust, diese Frage zurückzugeben, aber er ließ es bleiben. Andrew war in bester Laune. »Fangen wir mit jemandem an, den ich kenne.«
Sie waren sich einig, die Suche nach der berühmten Nadel so weit in der Mitte des Heuhaufens zu beginnen, wie sie nur konnten – bei den Huren der Darlinghurst Road. Sie waren nicht schwer zu finden. Harry kannte bereits einige von ihnen.
»Mongabi, my man, how's business?« Andrew hielt an und begrüßte herzlich einen dunklen Typ in engem Anzug, der reichlich mit Schmuck behängt war. Ein Goldzahn glitzerte, als er den Mund öffnete.
»Tuka, du geiler Hengst, ich kann nicht klagen, weißt du.«
Er sieht auf jeden Fall wie ein Zuhälter aus, dachte Harry.
»Harry, ich muß dir Teddy Mongabi vorstellen, Sydneys übelsten Zuhälter. Er macht das schon zwanzig Jahre und steht noch immer zusammen mit seinen Mädchen draußen auf der Straße. Wirst du nicht langsam ein bißchen alt dafür, Teddy?«
Teddy breitete die Arme aus und grinste.
»Es gefällt mir hier draußen, Tuka. Weißt du, hier passiert etwas. Wenn du dich in ein Büro hockst, dauert es nicht lange und du hast die Übersicht und die Kontrolle verloren. Und weißt du, Kontrolle ist das A und O in dieser Branche. Überblick zu haben über die Mädchen und die Kunden. Die Menschen sind wie Hunde, weißt du. Ein Hund, den du nicht unter Kontrolle hast, ist ein unglücklicher Hund. Und unglückliche Hunde beißen.«
»Wenn du das sagst, Teddy. Hör mal. Ich würde gerne mit ein paar von deinen Mädchen sprechen. Wir sind auf der Suche nach einem bösen Buben. Es kann sein, daß er auch hier ein bißchen herumgespielt hat.«
»Sure, mit wem willst du reden?«
»Ist Sandra hier?«
»Sie müßte jeden Augenblick wieder hier sein. Bist du sicher, daß es nicht ein bißchen mehr sein darf? Als reden, meine ich?«
»Besten Dank, Teddy. Wir sind im Palladium. Kannst du Sandra nicht dorthin schicken?«
Draußen vor dem Palladium stand ein Animateur und rief den Passanten aufmunternde Schlüpfrigkeiten zu. Sein Gesicht leuchtete auf, als er Andrew erblickte. Der wechselte zwei Worte mit ihm, und man winkte sie an der Kasse vorbei hinein. Eine schmale Treppe führte hinunter in den Keller des schwach beleuchteten Stripteaseclubs, wo eine Handvoll Männer an den Tischen saß und auf die nächste Vorstellung wartete. Sie setzten sich an einen Tisch im hinteren Teil des Lokals.
»Es scheint so, als würden dich hier alle kennen?« fragte Harry.
»Alle, die etwas davon haben, mich zu kennen. Und die ich kennen muß. Bei euch in Oslo gibt es doch vermutlich auch diese merkwürdige Symbiose zwischen Polizei und Unterwelt, oder?«
»Ja, natürlich. Aber es sieht so aus, als wenn du ein etwas herzlicheres Verhältnis zu deinen Kontakten hättest, als wir das haben.«
Andrew lachte.
»Ich fühle wohl eine gewisse Seelenverwandtschaft. Wenn ich nicht Polizist geworden wäre, wäre ich vermutlich selbst in dieser Branche gelandet, wer weiß?«
Ein schwarzes Minikleid stöckelte auf hohen Stilettabsätzen die Treppe herunter. Unter dem schwarzen Pony schaute sich die Frau mit einem schweren, verschleierten Blick um. Dann kam sie zu ihrem Tisch herüber.
»Sandra, das ist Harry Holy.«
»Wirklich?« antwortete sie und verzog ihren breiten, rotbemalten Mund zu einem schiefen Lächeln. Ihr fehlte ein Eckzahn. Harry ergriff ihre kalte, leichenblasse Hand. Sie kam ihm bekannt vor, er mußte sie an einem der vergangenen Abende in der Darlinghurst Road gesehen haben. Vielleicht war sie anders geschminkt gewesen oder hatte andere Kleider getragen.
»Also, worum geht es? Bist du auf der Suche nach Banditen, Kensington?«
»Wir suchen einen ganz speziellen Banditen, Sandra. Einen, der gerne würgt, mit den Händen. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«
»Bekannt? Das trifft auf die Hälfte unserer Kunden zu. Hat er jemanden verletzt?«
»Wahrscheinlich nur diejenigen, die ihn identifizieren konnten«, sagte Harry. »Haben Sie diesen Typen schon einmal gesehen?« Er hielt ihr das Bild von Evans White vor die Nase.
»Nein«, antwortete sie, ohne einen Blick auf das Bild zu werfen. Statt dessen drehte sie sich zu Andrew um. »Wer ist dieser Typ hier neben dir, Kensington?«
»Er kommt aus Norwegen«, sagte Andrew. »Er ist Polizist. Seine Schwester hat im Albury gearbeitet. Sie wurde letzte Woche vergewaltigt und ermordet. 23 Jahre alt. Harry hat sich freigenommen und ist hierhergekommen, um den Mann zu finden, der das getan hat.«
»Das tut mir leid«, sagte Sandra und warf einen Blick auf das Foto.
»Ja«, sagte sie nur.
Harry lebte plötzlich auf. »Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, ja, ich habe ihn gesehen.«
»Haben Sie ihn … äh, getroffen?«
»Nein, aber er ist ein paarmal in der Darlinghurst Road gewesen. Ich habe keine Ahnung, was er hier gemacht hat, aber das Gesicht kenne ich. Ich kann mich ja ein wenig umhören …«
»Danke … äh, Sandra«, sagte Harry. Sie lächelte flüchtig.
»Ich muß wieder an die Arbeit, Jungs. Wir sehen uns.« Und damit verschwand das Minikleid auf dem gleichen Weg, auf dem es gekommen war.
»Yes!« sagte Harry.
»Yes? Nur weil jemand diesen Typ in King's Cross gesehen hat? Es ist nicht verboten, sich auf der Darlinghurst Road zu zeigen. Auch nicht, Huren zu vögeln, wenn es das ist, was er getan hat. Jedenfalls nicht sonderlich.«
»Spürst du denn das nicht, Andrew? Es wohnen vier Millionen Menschen in Sydney, und sie hat den einen gesehen, den wir auf dem Kieker haben. Natürlich beweist das noch nichts, aber das ist doch ein Zeichen, nicht wahr? Riechst du nicht Lunte?«
Die Musik wurde leiser gedreht und das Licht gedämpft. Die Gäste des Etablissements richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Bühne.
»Du bist dir ziemlich sicher mit diesem Evans White, nicht wahr?«
Harry nickte. »Jede Faser meines Körpers sagt Evans White. Ich habe ein Gefühl im Bauch, das mir sagt, daß er es sein kann, ja.«
»Ein Gefühl im Bauch?«
»Intuition ist kein Hokuspokus, wenn du ernsthaft darüber nachdenkst, Andrew.«
»Ich denke darüber nach, Harry. Aber ich spüre nichts im Bauch. Erklär mir doch bitte, wie dein Bauch funktioniert.«
»Nun …« Harry sah Andrew an, um zu sehen, ob er ihn verarschen wollte, doch Andrew begegnete seinem Blick mit aufrichtigem Interesse.
»Intuition ist ganz einfach die Summe aller Erfahrungen, die man gemacht hat. Ich verstehe das so, daß alles, was man einmal erlebt hat, alles, was man weiß und auch das, von dem man nicht weiß, daß man es weiß, irgendwo im Unterbewußtsein vor sich hindämmert. In der Regel merkst du von diesem schlafenden Tier nichts, es liegt einfach da, schnarcht vor sich hin und nimmt neue Eindrücke auf, nicht wahr? Aber ab und zu zwinkert es mit den Augen, streckt sich aus und teilt dir mit: Heh, Achtung, dieses Bild hab ich doch schon einmal gesehen. Und dann sagt es dir, wie die Sachen auf dem Bild zusammengehören.«
»Nett, Holy. Aber bist du dir sicher, daß dein Schlaftier denn wirklich alle Details dieses Bildes mitbekommt? Bei dem, was man sieht, kommt es schließlich auch auf den Blickwinkel an.«
»Wie meinst du das?«
»Nimm zum Beispiel den Sternenhimmel. Der Sternenhimmel, den du in Norwegen siehst, ist genau der gleiche, den du hier von Australien aus siehst. Aber weil du jetzt down under bist, stehst du kopf, verglichen mit dem, was du von zu Hause aus siehst, nicht wahr? Deshalb sind alle Sternenbilder sozusagen falsch herum. Wenn du aber nicht weißt, daß du ›auf dem Kopf stehst‹, verwirrt es dich und du machst Fehler.«
Harry blickte Andrew an.
»Auf dem Kopf, was?«
»Na klar.« Andrew paffte seine dicke Zigarre.
»In der Schule habe ich gelernt, daß euer Sternenhimmel ein völlig anderer ist als unserer. Wenn man in Australien ist, verdeckt der Erdball die Sterne, die man in Norwegen während der Nacht sieht.«
»Das sagt man so«, fuhr Andrew unbeirrt fort. »Trotzdem kommt es darauf an, von wo aus man die Dinge betrachtet. Der Knackpunkt ist doch, daß alles relativ ist, nicht wahr? Und das macht eben alles so schrecklich kompliziert.«
Von der Bühne hörten sie ein fauchendes Geräusch, und weißer Rauch quoll hervor. Im nächsten Augenblick war er rot gefärbt, und Geigenmusik erklang durch die Lautsprecher. Eine Frau in einem einfachen weißen Kleid und ein Mann mit einer langen Hose und einem weißen Hemd entstiegen dem Rauch.
Harry hatte die Musik schon einmal gehört. Es war die gleiche, die während der ganzen Strecke von London aus den Kopfhörern des Walkmans seines Nebenmannes im Flugzeug gesickert war. Aber erst jetzt bekam er den Text mit. Eine Frauenstimme sang, daß man sie »wild rose« nannte, sie aber nicht wußte, wieso.
Die jungmädchenhafte Stimme stand in grellem Kontrast zu der tiefen, dunklen Männerstimme.
»Then I kissed her goodbye, said all beauty must die, I bent down and planted a rose between her teeth …«
Harry träumte von Sternen und braunen und gelben Schlangen, als er von einem leisen Klopfen an der Tür seines Hotelzimmers geweckt wurde. Einen Augenblick lang lag er still und spürte ganz einfach, wie wohl er sich fühlte. Es hatte wieder zu regnen begonnen, und es rauschte in einer Abflußrinne draußen vor dem Fenster. Er stand auf, nackt, riß die Tür sperrangelweit auf und hoffte, daß seine beginnende Erektion Aufmerksamkeit erregen würde. Birgitta lachte überrascht und ließ sich in seine Arme fallen. Ihr Haar war klitschnaß.
»Ich dachte, du hättest drei Uhr gesagt«, sagte Harry und tat so, als sei er beleidigt.
»Die Gäste wollten einfach nicht gehen«, antwortete sie und hob ihr Sommersprossengesicht zu ihm empor.
»Ich bin wild, hemmungslos und bis über beide Ohren verliebt in dich«, flüsterte er und hielt ihren Kopf fest zwischen seinen Händen.
»Das weiß ich doch«, sagte sie ernst und packte sein pochendes Glied mit ihrer kalten, nassen Hand. »Aber so was! Ist das für mich?«
Harry stand am Fenster, trank Orangensaft aus der Minibar und schaute zum Himmel. Die Wolken waren wieder verschwunden, und jemand hatte mit einer Gabel viele Male in den samtenen Himmel gestochen, so daß das göttliche Licht dahinter durch die Löcher schien.
»Was hältst du von Transvestiten?« fragte Birgitta vom Bett aus.
»Du meinst, was ich von Otto halte?«
»Sowohl als auch.«
Harry dachte nach. Er mußte lächeln.
»Ich glaube, ich mag seine arrogante Art. Die gesenkten Augenlider, sein unzufriedenes Mienenspiel. Die Lebensmüdigkeit. Wie soll ich das nennen? Es ist wie ein melancholisches Cabaret, in dem er mit allem und jedem flirtet. Ein oberflächlicher, selbstverachtender Flirt.«
»Und das magst du?«
»Ich mag diese Scheißegal-Haltung. Daß er all das verkörpert, was die meisten Menschen hassen.«
»Und das wäre?«
»Schwäche. Verletzlichkeit. Die Australier brüsten sich damit, ein liberales Volk zu sein. Vielleicht sind sie es auch. Aber ich habe doch begriffen, daß das Ideal ein ehrlicher, einfacher, hart arbeitender Australier mit viel Humor und einer gewissen Portion Patriotismus ist.«
»True blue.«
»Was?«
»Sie nennen das True blue. Oder Dinkum. Das heißt soviel wie, daß eine Person oder eine Sache echt ist, aus dem Volk stammt.«
»Und hinter dieser Fassade aus jovialer Volkstümlichkeit läßt sich so viel Scheiße verbergen. Otto hingegen, mit all seinem aufgesetzten Flitter, der die Verführung, die Täuschung und das Falsche repräsentiert, scheint mir da noch das Echteste zu sein, das mir hier begegnet ist. Nackt, verletzbar und echt.«
»He, das hört sich ja politisch verdammt korrekt an, wenn du mich fragst. Harry Holy, der beste Freund aller Schwulen, sozusagen.« Birgitta war in der Stimmung, ihn aufzuziehen.
»Aber es hört sich doch gar nicht so schlecht an, oder?«
Er legte sich aufs Bett, schaute sie an und zwinkerte mit seinen unschuldigen, blauen Augen. »Ich bin ja nur froh, daß ich nicht noch einmal auf Sie Lust habe, Fräulein. Wo wir doch morgen so früh raus müssen, meine ich.«
»Das sagst du doch nur, um mich anzumachen«, sagte Birgitta. Sie warfen sich wie zwei geile Tiere aufeinander.
Harry fand Sandra vor dem Dez Go-Go. Sie stand am Straßenrand und hielt Ausschau über ihr kleines Königreich in King's Cross. Mit müden Beinen balancierte sie auf hohen Absätzen, die Arme vor der Brust verschränkt. Zwischen ihren Fingern klemmte eine Zigarette, und sie hatte wieder diesen Dornröschenschlafblick aufgesetzt, der gleichermaßen anziehend wie abweisend war. Sie sah, kurz gesagt, aus wie eine x-beliebige Hure irgendwo auf der Welt.
»Guten Morgen«, sagte Harry. Sandra schaute ihn an ohne ein Anzeichen des Wiedererkennens. »Remember me?«
Sie zog die Mundwinkel nach oben. Vielleicht sollte das ein Lächeln sein.
»Sure, love, let's go!«
»Ich bin es, Holy, der Polizist.«
Sandra blinzelte ihn an.
»Klar, Scheiße, natürlich. Meine Kontaktlinsen fangen morgens immer an zu streiken. Vielleicht wegen all der Abgase.«
»Kann ich Ihnen einen Kaffee spendieren?« fragte Harry höflich.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Es passiert hier ohnehin nichts mehr, ich kann ebensogut Schluß machen.«
Teddy Mongabi stand plötzlich in der Tür des Nachtclubs und kaute auf einem Streichholz herum. Er nickte Harry kurz zu.
»Wie nehmen es Ihre Eltern auf?« fragte Sandra, als sie ihren Kaffee bekamen. Sie hatten sich in Harrys Frühstückskneipe, Bourbon & Beef, gesetzt, und der Kellner erinnerte sich an Harrys übliche Bestellung: Eggs Benedicte, hashbrowns und Kaffee, white flat. Sandra trank ihren Kaffee schwarz.
»Excuse me?«
»Ihre Schwester …«
»Ja, natürlich.« Er hob seine Kaffeetasse an die Lippen, um ein wenig Zeit zu gewinnen.
»Tja, es geht ihnen wohl so, wie man es von Eltern wohl erwarten kann, danke der Nachfrage.«
»Die Welt, in der wir leben, ist einfach zu beschissen!«
Die Sonne war noch nicht über die Hausdächer der Darlinghurst Road gestiegen, aber der Himmel war bereits azurblau mit ein paar kleinen weißen Wolkenknäueln. Er sah aus wie die Tapete eines Kinderzimmers. Aber das schien nicht zu helfen, denn die Welt war anscheinend einfach zu beschissen.
»Ich hab mit ein paar Mädchen gesprochen«, sagte Sandra. »Der Typ auf dem Bild heißt White. Er dealt mit Speed und Acid. Ein paar Mädchen haben bei ihm etwas gekauft. Aber keine hatte ihn als Kunden.«
»Vielleicht braucht er nicht zu zahlen, um zu bekommen, was er will«, sagte Harry.
Sandra lachte kurz. »Der Bedarf nach Sex ist die eine Sache, die andere ist, sich Sex zu kaufen. Für viele ist das wie ein Kick. Es gibt einiges, was wir für euch tun können, was ihr zu Hause nicht bekommt. Das können Sie mir glauben.«
Harry blickte auf. Sandra schaute ihn direkt an, und für einen Augenblick verschwand der Nebel aus ihren Augen.
Er glaubte ihr.
»Haben Sie die Daten überprüft, die wir Ihnen genannt haben?«
»Eines der Mädchen behauptet, an dem Abend, bevor Ihre Schwester gefunden wurde, bei ihm Acid gekauft zu haben.«
Harry knallte die Tasse so hart auf den Tisch, daß der Kaffee herausschwappte, und lehnte sich vor. Er sprach leise und schnell. »Kann ich mit ihr sprechen? Kann man sich auf sie verlassen?«
Sandras breite Lippen öffneten sich zu einem weiten Lächeln. Dort, wo der Eckzahn fehlte, klaffte ein schwarzes Loch. »Wie gesagt, sie hat Acid gekauft. Acid ist auch in Australien verboten. Sie können nicht mit ihr reden. Und die andere Frage: ob man sich auf einen Acidfreak verlassen kann?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich habe Ihnen nur gesagt, was sie mir erzählt hat. Aber sie hat vielleicht nicht die klarste Vorstellung davon, was Mittwoch und was Donnerstag ist, um es so zu sagen.«
Die Stimmung bei der Morgenbesprechung war gereizt. Selbst der Ventilator brummte tiefer als sonst.
»Sorry, Holy. Wir lassen White aus dem Spiel. Er hat kein Motiv, und seine Freundin hat bestätigt, daß er zum Zeitpunkt des Mordes in Nimbin war«, sagte Wadkins.
Harry wehrte sich.
»Aber hören Sie denn nicht, was ich sage. Angeline Hutchinson ist von Speed abhängig und was weiß ich, wovon sonst noch. Sie ist schwanger, vermutlich von Evans White. Herrgott noch mal, er ist ihr Dealer! Ihr Herr und Meister in einer Person. Sie würde alles bestätigen. Wir haben mit dem Vermieter gesprochen – diese Frau haßte Inger Holter und das mit gutem Grund, schließlich hat dieses norwegische Mädchen versucht, ihr ihren Goldjungen auszuspannen.«
»Vielleicht sollten wir uns statt dessen mal genauer diese Hutchinson anschauen«, kam es leise von Lebie. »Sie hat auf jeden Fall ein klares Motiv. Vielleicht braucht sie White als Alibi und nicht umgekehrt.«
»White lügt doch! Er wurde an dem Tag, bevor Inger Holter gefunden wurde, in Sydney gesehen.« Harry war aufgestanden und ging die zwei Schritte, für die es im Besprechungszimmer noch Platz gab, auf und ab.
»Von einer Prostituierten, die LSD nimmt und nicht einmal aussagen will«, ergänzte Wadkins und drehte sich zu Yong: »Was haben die Fluggesellschaften gesagt?«
»Die Polizei in Nimbin hat White noch drei Tage vor dem Mord mit eigenen Augen auf der Hauptstraße gesehen. Weder Ansett noch Quantas haben einen White zwischen diesem Tag und dem Zeitpunkt des Mordes auf den Passagierlisten.«
»Das heißt gar nichts«, brummte Lebie. »Ein Dealer reist ja wohl kaum unter seinem eigenen Namen. Außerdem kann er den Zug genommen haben. Oder das Auto, wenn er genug Zeit hatte.«
Harry war es richtig heiß.
»Ich sag das noch einmal: Eine amerikanische Statistik besagt, daß das Opfer in über siebzig Prozent aller Tötungsdelikte seinen Mörder kennt. Trotzdem konzentrieren wir uns bei unseren Nachforschungen auf einen Serienmörder. Und die Chancen, den zu fassen, sind, wie wir alle wissen, wohl ebenso groß wie ein Lottogewinn. Laßt uns doch lieber da etwas unternehmen, wo wir etwas in der Hand haben. Immerhin gibt es einen Kerl, für den ein paar Indizien sprechen. Es geht jetzt ganz einfach darum, ihn ein bißchen weich zu kochen. Zu handeln, solange die Spuren noch frisch sind. Ihn herzuzitieren und ihm mit einem Haftbefehl vor der Nase herumzuwedeln. Ihn dazu zu bringen, Fehler zu machen. Im Moment hat er uns genau da, wo er uns haben will, nämlich auf dem … dem …« Vergeblich suchte er ein englisches Wort für »Abstellgleis«.
»Hmm«, sagte Wadkins und dachte laut, »natürlich würde es nicht gut aussehen, wenn sich jemand, den wir so unmittelbar vor der Nase hatten, schließlich als schuldig herausstellen würde. Ohne daß wir reagierten.«
In diesem Moment ging die Tür auf, und Andrew kam herein. »Guten Tag, Leute, entschuldigt die Verspätung. Aber irgend jemand muß ja dafür sorgen, daß die Straßen da draußen sicher sind. Was ist los, Chef, Sie haben so tiefe Falten auf der Stirn wie das Jamison Valley.«
Wadkins seufzte.
»Wir überlegen uns gerade, ob wir unsere Ressourcen ein wenig umverteilen. Ob wir die Serienmördertheorie ein bißchen ruhen lassen und uns statt dessen mehr auf Evans White konzentrieren. Oder Angeline Hutchinson. Holy glaubt, daß ihr Alibi nicht sonderlich viel wert ist.«
Andrew lachte. »Ich würde gerne die fünfundvierzig Kilo schwere Schwangere sehen, die mit bloßen Händen das Leben aus einer drallen skandinavischen Matrone quetscht. Und sie anschließend noch fickt.«
»War ja nur ein Gedanke«, murmelte Wadkins.
»Und was Evans White betrifft, das könnt ihr ruhig vergessen.« Andrew wischte den Apfel an seinem Jackenärmel ab.
»Aha?«
»Ich habe mit einem Informanten gesprochen. Er war am Mordtag in Nimbin, um Gras zu kaufen, und hat dort von Evans Whites toller Ware gehört.«
»Ja und?«
»Es hat ihm niemand gesagt, daß White bei sich zu Hause nichts verkauft, und so ist er zu ihm aufs Land gefahren, nur um dann von einem übelgelaunten Kerl mit Schrotflinte vom Hof gejagt zu werden. Ich habe ihm das Bild gezeigt. Sorry, Leute, aber es gibt keinen Zweifel mehr, daß Evans White am Mordtag in Nimbin war.«
Es wurde still im Raum.
Nur das Knacken und Schlagen des Ventilators war zu hören, als Andrew in seinen Apfel biß.
»Also zurück an die Arbeit«, sagte Wadkins.
Harry verabredete sich mit Birgitta um fünf Uhr vor dem Opernhaus, um mit ihr einen Kaffee zu trinken, bevor sie zur Arbeit mußte. Als sie sich dort trafen, war die Cafeteria geschlossen. Auf einem Zettel stand irgend etwas von einer Ballettvorstellung.
»Es ist immer irgend etwas«, sagte Birgitta. Sie lehnten sich an das Geländer und schauten über die Meeresbucht nach Kirribilli auf der anderen Seite. Ein rostiger, häßlicher Kahn mit russischer Flagge fuhr hinaus, und weiter draußen vor Port Jackson sahen sie gespannte weiße Segel, die stillzustehen schienen.
»Was machst du jetzt?« fragte sie.
»Es bleibt hier nicht mehr so viel für mich zu tun. Der Sarg mit Inger Holter ist auf dem Weg nach Hause. Das Beerdigungsinstitut in Oslo hat mich heute früh angerufen. Sie erklärten mir, daß sich die Botschaft um die Überführung gekümmert habe: Sie sprachen von dem ›Leichnam‹, fast ein Fachwort für die Toten in dieser Branche. Geliebte Kinder haben so viele Namen, und ich finde es immer wieder merkwürdig, daß der Tod ebenso viele hat.«
»Also, wann fährst du?«
»Sobald wir mit allen, die mit Inger Holter zu tun hatten, gesprochen haben und wir wissen, daß sie nichts mit der Sache zu tun haben. Ich werde heute morgen mit McCormack sprechen. Vermutlich fliege ich noch vor dem Wochenende. Wenn nicht noch eine konkrete Spur auftaucht. Sonst kann das eine langwierige Sache werden, und für diesen Fall haben wir abgesprochen, daß sich die Botschaft um den weiteren Kontakt kümmert.«
Sie nickte. Eine japanische Reisegruppe stellte sich unmittelbar neben sie, und das Surren der Filmkameras mischte sich mit einer Kakophonie aus Japanisch, Möwengeschrei und dem Motorengeräusch vorbeifahrender Schiffe.
»Wußtest du übrigens, daß derjenige, der das Opernhaus auf dem Zeichenbrett entworfen hat, sich ganz einfach abgesetzt hat?« fragte Birgitta plötzlich. »Als sich die Wellen wegen der Kostenüberschreitung des Sydney Opera House überschlugen, hat der dänische Architekt Jørn Utzon das ganze Projekt aus Protest einfach fallen lassen und ist abgehauen.«
»Ja«, sagte Harry, »wir haben letztes Mal, als wir hier waren, darüber gesprochen.«
»Aber stell dir das doch mal vor, einfach abzuhauen, wenn du etwas begonnen hast. Etwas, von dem du wirklich glaubst, daß es gut wird. Ich glaube, ich könnte das nicht.«
Es war längst klar, daß Harry Birgitta ins Albury begleiten würde, sie also nicht den Bus nahm. Aber sie hatten sich nicht allzuviel zu sagen und gingen schweigend durch die Oxford Street in Richtung Paddington. In der Ferne grummelte ein Donner, und Harry blickte verwundert in den klaren blauen Himmel. An einer Ecke stand ein grauhaariger, distinguierter älterer Herr in korrektem Anzug mit einem Plakat: »Der Geheimdienst hat mir meine Arbeit und mein Heim gestohlen und mein Leben zerstört. Offiziell gibt es sie nicht. Sie haben weder Adresse noch Telefonnummer und tauchen auch im Staatsbudget nicht auf. Sie glauben, daß man sie nicht anklagen kann. Helfen Sie mir, die Banditen zu finden und sie für ihre Untaten zu bestrafen. Unterschreiben Sie oder helfen Sie mir mit einer Spende.« Er hielt ein Heft voller Unterschriften in die Höhe.
Sie kamen an einem Plattenladen vorbei, und intuitiv hielt Harry an und ging hinein. Im Halbdunkel hinter dem Verkaufstisch stand ein Kerl mit Sonnenbrille. Harry fragte, ob er Platten von Nick Cave habe.
»Sure, he's Australian«, sagte der Typ und nahm seine Brille ab. Er hatte sich einen Adler auf die Stirn tätowieren lassen.
»Ein Duett, etwas mit ›wild rose‹…«, begann Harry.
»Ja, ja, ich weiß, was Sie meinen. ›Where the wild roses grow‹ von Murder Ballads. Ein Scheißlied. Ein Scheißalbum. Kaufen Sie lieber eine von seinen guten Platten.«
Der Kerl setzte wieder seine Sonnenbrille auf und verschwand hinter dem Tisch.
Harry blieb verblüfft stehen und blinzelte ins Halbdunkel hinein.
»Was ist an diesem Lied so Besonderes?« fragte Birgitta, als sie wieder auf der Straße waren.
»Nichts, im Grunde.« Harry lachte laut. Der Kerl in dem Laden hatte ihm wieder zu guter Laune verholfen. »Cave und diese Frau singen über einen Mord. Es gelingt ihnen, daß sich das schön anhört, fast wie eine Liebeserklärung. Aber das ist bestimmt ein Scheißlied.« Er lachte wieder. »Ich glaube, ich fange an, diese Stadt zu mögen.«
Sie gingen weiter. Harry suchte mit den Augen immer wieder die Straße ab. Sie waren beinahe das einzige Paar auf der Oxford Street, das nicht aus zwei Jungs oder zwei Mädchen bestand. Birgitta nahm seine Hand.
»Du hättest die Schwulenparade am Mardi Gras sehen sollen«, sagte Birgitta. »Die geht hier über die Oxford Street. Im letzten Jahr, hieß es, sind mehr als eine halbe Million Menschen aus dem ganzen Land hierhergekommen, um die Parade zu sehen oder selbst teilzunehmen. Das war vollkommen verrückt.«
Die Schwulenstraße. Die Lesbenstraße. Erst jetzt bemerkte Harry, was für Kleider in den Schaufenstern ausgestellt waren. Latex. Leder. Engsitzende Oberteile und winzige Seidenhöschen, Reißverschlüsse und Nieten. Aber exklusiv und stilvoll, ohne das Plumpe und Vulgäre, das die Nachtclubs von King's Cross auszeichnete.
»Ganz in der Nähe von dort, wo ich aufgewachsen bin, wohnte ein Schwuler«, erzählte Harry. »Er war so um die Vierzig, wohnte alleine, und alle in der Nachbarschaft wußten, daß er ein Homo war. Im Winter haben wir ihm Schneebälle hinterhergeworfen, ihm ›Arschficker‹ nachgeschrien und sind dann wie die Wahnsinnigen davongerannt. Wir waren überzeugt davon, daß er uns von hinten einen stechen würde, wenn er uns zu fassen bekäme. Aber er ist uns niemals nachgerannt, er hat nur seine Mütze tiefer in die Stirn gezogen und ist nach Hause gegangen. Eines Tages war er umgezogen. Er hat mir niemals etwas getan, und ich habe mich immer gefragt, warum ich ihn so gehaßt habe.«
»Die Menschen haben Angst vor allem, was sie nicht verstehen. Und sie hassen das, wovor sie Angst haben.«
»Wie klug du bist«, sagte Harry, und Birgitta boxte ihn in den Bauch. Er ließ sich schreiend auf den Bürgersteig fallen, und sie lachte und bat ihn leise, keine Szene zu machen. Schließlich stand er auf und folgte ihr die Oxford Street hinunter.
»Ich hoffe, er ist hierhergezogen«, sagte Harry.
Nachdem er sich von Birgitta verabschiedet hatte (er war sich im klaren darüber, daß er jede Trennung von Birgitta, gleich ob kurz oder lang, als Abschied betrachtete), wartete er an einer Bushaltestelle. Vor ihm stand ein Junge mit einer norwegischen Flagge auf dem Rucksack. Harry dachte gerade darüber nach, ob er sich zu erkennen geben sollte, als der Bus kam.
Der Busfahrer stöhnte, als Harry ihm eine Zwanzigdollarnote hinhielt.
»So you didn't have a fifty, did ya?« fragte er sarkastisch.
»Wenn ich einen hätte, hätte ich ihn Ihnen wohl gegeben, Sie blöder Schwanzlutscher!« Den letzten Teil sagte er auf breitestem Norwegisch, wobei er unschuldig lächelte, aber der Busfahrer schien sich weder für das zu interessieren, was er verstand, noch was er nicht verstand. Er machte eine häßliche Grimasse, als er Harry das Wechselgeld gab.
Harry hatte sich entschlossen, der Route zu folgen, die Inger in der Mordnacht auf dem Weg nach Hause genommen hatte. Nicht weil das bisher versäumt worden war: Lebie und Yong hatten alle Bars und Restaurants auf der Strecke abgeklappert und das Bild von Inger Holter herumgezeigt – natürlich ohne Resultat. Er hatte versucht, Andrew zum Mitkommen zu bewegen, aber der hatte sich quergestellt und behauptet, dadurch würde er nur wertvolle Zeit vergeuden, die er besser vor dem Fernseher verbringen könnte.
»Ich mache keine Witze, Harry. Fernsehen gibt Selbstvertrauen. Wenn man sieht, wie dumm die Leute im Fernsehen normalerweise sind, fühlt man sich richtig klug. Und wissenschaftliche Untersuchungen haben bewiesen, daß sich Menschen, die sich klug fühlen, besser verkaufen als diejenigen, die sich für dumm halten.«
Harry konnte auf diese Art Logik nichts erwidern, aber Andrew hatte ihm wenigstens den Namen einer Bar an der Bridge Road genannt, deren Besitzer er von Andrew grüßen sollte. »Er kann dir bestimmt auch nichts erzählen, aber vielleicht kriegst du deine Cola da zum halben Preis«, hatte Andrew gesagt und zufrieden gegrinst.
Harry stieg am Rathaus aus dem Bus und schlenderte in Richtung Pyrmont weiter. Er schaute sich die hohen Häuser an und beobachtete, wie die Menschen in Großstadtmanier an den Gebäuden entlanghasteten, ohne daß ihm das aber zu weiteren Erkenntnissen darüber verhalf, was an jenem Abend mit Inger Holter geschehen war. Am Fischmarkt ging er in ein Cafe und bestellte einen Bagel mit Lachs und Kapern. Vom Fenster aus konnte er die Brücke über die Blackwattle Bay und dahinter auf der anderen Seite Glebe sehen. Sie hatten begonnen, draußen auf dem Platz eine Freilichtbühne aufzubauen, und die Plakate verrieten Harry, daß das mit dem Nationalfeiertag, dem Australian Day, am nächsten Sonntag zusammenhängen mußte. Harry bestellte einen Kaffee und begann, sich erst einmal mit dem Sydney Morning Herold herumzuschlagen, einer Zeitung, mit der man einen ganzen Fischlaster hätte einpacken können. Dieses Blatt war eine wahre Herausforderung, selbst wenn man nur die Bilder anschaute. Aber es war noch eine Stunde lang hell, und Harry wollte wissen, welches Tier in Glebe zum Vorschein kam, wenn die Nacht hereinbrach.
Der Inhaber des Cricket war auch der stolze Inhaber des Trikots, das der Nationalheld Nick Amrose getragen hatte, als Australien Anfang der achtziger Jahre England in drei Testspielen hintereinander im Cricket geschlagen hatte. Es hing gerahmt und hinter Glas an der Wand über dem einarmigen Banditen. An der anderen Wand hingen zwei Holzschläger und der Ball, die 1978 in denn Spiel verwendet worden waren, als Australien nach langer Zeit ohne Sieg endlich gegen Pakistan gewinnen konnte. Nachdem jemand die Wicket-Stäbe aus dem Match gegen Südafrika geklaut hatte, die direkt über der Eingangstür gehangen hatten, hatte der Inhaber damit begonnen, seine Kleinode anzunageln. Daraufhin war der eine Knieschutz des legendären Willard Stauntons von einem Gast, dem es nicht gelang, ihn von der Wand zu nehmen, in Fetzen geschossen worden.
Als Harry zur Tür hereinkam, das Arrangement der Heiligtümer an der Wand und all die mutmaßlichen Cricketfans erblickte, die das Klientel des Cricket ausmachten, dachte er spontan, er müsse seine Einschätzung von Cricket als snobistischer Sportart revidieren. Die Gäste sahen nicht gerade frisch frisiert und parfümiert aus, und auch Borroughs hinter dem Tresen machte keinen solchen Eindruck.
»Evening«, wurde er begrüßt. Borroughs' Stimme klang wie die Schneide einer Sense auf dem Schleifstein.
»Tonic, no Gin«, bestellte Harry und sagte, er könne den Rest der Zehndollarnote behalten.
»Für Trinkgeld zu viel, für Bestechung zu wenig«, sagte Borroughs und wedelte mit dem Schein. »Sind Sie Polizist?«
»Ist das so leicht zu erkennen?« fragte Harry mit resignierter Miene.
»Abgesehen davon, daß Sie sich wie einer von diesen Touristen anhören, ja.«
Borroughs legte das Wechselgeld vor ihm auf den Tresen und drehte sich um.
»Ich bin ein Freund von Andrew Kensington«, sagte Harry.
Borroughs drehte sich blitzschnell um und nahm das Wechselgeld wieder an sich.
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« brummte er.
Borroughs konnte sich nicht daran erinnern, etwas von Inger Holter gehört oder sie jemals gesehen zu haben, das wußte Harry bereits, schließlich hatte Andrew schon mit Borroughs gesprochen. Aber wie sein alter Lehrmeister bei der Osloer Polizei, »Lumbago« Simonsen, immer sagte: »Frag lieber einmal mehr …!«
Harry schaute sich um.
»Was gibt es hier zu essen?« fragte er.
»Grillspieß mit griechischem Salat«, antwortete Borroughs, »Tagesmenü, sieben Dollar.«
»Sorry, ich hab mich blöd ausgedrückt«, erwiderte Harry, »ich meinte, was für Menschen kommen hierher, wie sieht Ihre Kundschaft aus?«
»Tja, das sind wohl diejenigen, die man als ›Unterschicht‹ bezeichnet.« Er lächelte ein wenig resigniert. Dieses Lächeln verriet sehr viel über Borroughs' Alltag und darüber, was aus seinem Traum geworden war, aus dieser Bar etwas zu machen.
»Sind das Stammgäste da drüben?« fragte Harry und nickte mit dem Kopf zu einer dunklen Ecke des Raumes hinüber, in der fünf Männer saßen und Bier tranken.
»Ja, natürlich. Die meisten hier sind das. Die großen Touristenscharen verirren sich kaum hierher.«
»Haben Sie etwas dagegen, daß ich denen da drüben ein paar Fragen stelle?« fragte Harry.
Borroughs zögerte.
»Die Kerle da drüben sind nicht gerade Mamas Lieblinge. Ich habe keine Ahnung, wie die das Geld für ihr Bier verdienen, und ich habe auch nicht vor zu fragen. Die arbeiten jedenfalls nicht von neun bis vier, um es so auszudrücken.«
»Es ist wahrscheinlich niemandem recht, wenn hier in der Nachbarschaft unschuldige Mädchen vergewaltigt und erwürgt werden? Auch diejenigen, die es mit dem Gesetz nicht so genau nehmen, sind wohl dieser Ansicht, oder? Das schreckt die Leute von dieser Gegend ab und ist nicht gut für's Geschäft, egal was man verkauft, nicht wahr?«
Borroughs nickte noch immer zögerlich und drehte ein Glas in der Hand hin und her.
»Ich wäre an Ihrer Stelle trotzdem vorsichtig.«
Harry nickte Borroughs zu und ging mit langsamen Schritten zu dem Tisch in der Ecke hinüber, so daß die fünf Zeit hatten, auf ihn aufmerksam zu werden. Einer von ihnen stand auf, noch ehe Harry am Tisch angelangt war. Er verschränkte die Arme vor der Brust und präsentierte einen tätowierten Dolch auf seinem muskulösen Unterarm.
»Die Ecke hier ist besetzt, Blondie!« sagte er mit heiserer, fast tonloser Stimme.
»Ich habe eine Frage …«, begann Harry, aber der Heisere schüttelte bereits den Kopf.
»Nur eine. Kennt jemand von Ihnen diesen Mann, Evans White?«
Harry hielt das Bild hoch.
Bis jetzt hatten die zwei anderen, die ihm zugewandt saßen, ihm eher uninteressierte als feindliche Blicke zugeworfen. Als Whites Name erwähnt wurde, betrachteten sie ihn mit neuerlichem Interesse, und Harry registrierte, daß es auch in der Nackenmuskulatur der beiden anderen, die ihm den Rücken zuwandten, zuckte.
»Nie von ihm gehört«, sagte der Heisere. »Wir führen hier gerade ein … persönliches Gespräch, Mister. Guten Abend.«
»Dieses Gespräch dreht sich wohl nicht gerade um den Verkauf von Stoffen, die nach dem australischen Gesetz verboten sind?«
Es folgte langes Schweigen. Er hatte eine lebensgefährliche Taktik gewählt. Direkte Provokation war etwas, auf das man zurückgreifen konnte, wenn man stabile Rückendeckung oder gute Rückzugsmöglichkeiten besaß. Harry besaß weder noch. Er war ganz einfach nur der Meinung, daß endlich etwas passieren mußte. Der eine Hinterkopf erhob sich. Er hatte fast die Decke des Raumes erreicht, als er sich umdrehte und die häßliche kupferrote Vorderseite präsentierte. Ein glatter Bart, der an den Mundwinkeln herabhing, unterstrich das orientalische Äußere des Mannes.
»Dschingis-Khan! Schön, Sie zu sehen, ich dachte Sie seien tot!« platzte es aus Harry heraus, während er seine Hand ausstreckte.
Khan öffnete den Mund.
»Wer sind Sie?«
Es hörte sich an wie ein Todesröcheln, eine gurgelnde Baßstimme, für die jede Heavy-Metal-Band über Leichen gegangen wäre.
»Ich bin Polizist, und ich glaube nicht …«
»Aidi.« Khan schaute von der Decke aus auf ihn herab.
»Pardon?«
»The badge – den Ausweis!«
Harry war sich klar darüber, daß diese Situation mehr als nur die Plastikkarte der Osloer Polizeibehörde mit dem alten Paßfoto erforderte.
»Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, daß Ihre Stimme haargenauso klingt wie die des Sängers von Sepultura, wie heißt er doch gleich …«
Harry hielt sich einen Finger unter das Kinn und versuchte den Eindruck zu erwecken, als denke er nach. Der Heisere war bereits auf dem Weg um den Tisch herum. Harry zeigte auf ihn:
»Und Sie sind Rod Stewart, nicht wahr? Aha, ihr sitzt hier zusammen und macht Pläne für Life Aid II und s …«
Der Schlag traf Harry genau auf seine Zähne. Er blieb schwankend stehen und hielt sich den Mund.
»Soll ich das so verstehen, daß Sie glauben, daß ich keine Zukunft als Kabarettist habe?« sagte Harry. Er warf einen Blick auf seine Finger. Sie waren voller Blut, Speichel und etwas Weißem, das Harry für das Mark eines Zahnes hielt.
»Man sollte doch meinen, daß die Pulpa rot ist? Das weiche Innere der Zähne, nicht war?« fragte er Rod und hielt seine Hand hoch.
Rod schaute Harry skeptisch an, bevor er sich vorlehnte und sich die weißen Brocken genauer anschaute.
»Das ist Zahnbein, das, was hinter dem Zahnschmelz ist.« sagte er. »Mein Alter ist Zahnarzt«, erklärte er den anderen. Dann trat er einen Schritt zurück und schlug noch einmal zu. Harry wurde es für einen Augenblick schwarz vor Augen, aber er fand sich selbst noch immer in aufrechter Position, als es wieder hell wurde.
»Schau nach, ob du jetzt die Pulpa findest!« forderte ihn Rod neugierig auf.
Harry wußte, daß es eigentlich bescheuert war. Die Summe all seiner Erfahrung und ein gesunder Verstand sagten ihm, daß es bescheuert sei, sein schmerzender Kiefer sagte ihm, daß es bescheuert sei, nur seine rechte Hand fand das leider eine Superidee, und in diesem Moment war sie es, die die Initiative ergriff. Sie traf Rod unter dem Kinn, so daß Harry hören konnte, wie der Kiefer zuklappte, bevor Rod zwei Schritte zurücktaumelte. Die typische Reaktion auf einen schweren, perfekt plazierten Kinnhaken.
Ein solcher Schlag pflanzte sich durch den Kieferknochen direkt ins Kleinhirn fort (in diesem Fall ein sehr treffender Name, wie Harry meinte), wo eine wellenartige Bewegung eine Reihe von Kurzschlüssen auslöste oder aber, wenn man Glück hatte, augenblickliche Bewußtlosigkeit und/oder bleibende Hirnschäden. In Rods Fall schien sich das Gehirn nicht entscheiden zu können, was es tun sollte, ob totaler Blackout oder nur kurzfristige Erschütterung.
Kollege Khan hatte anscheinend nicht vor, auf die Entscheidung zu warten. Er packte Harry am Kragen, hob ihn in Schulterhöhe hoch und stieß ihn wie ein Mehlsack, der auf die Ladefläche eines Lastwagens geworfen wurde, von sich. Das Pärchen, das gerade sein Sieben- Dollar-Menü gegessen hatte, bekam im wahrsten Sinne des Wortes ein Haar in die Suppe und sprang zur Seite, als Harry mit dem Rücken auf den Tisch knallte. Herrgott, hoffentlich werde ich bald ohnmächtig, dachte Harry, als er die Schmerzen spürte und sah, daß Khan auf ihn zukam. Das Schlüsselbein ist ein zerbrechlicher Knochen und ziemlich exponiert. Harry zielte und trat zu, doch die Auseinandersetzung mit Rod schien sich auf sein räumliches Sehvermögen ausgewirkt zu haben, denn er trat nur in die Luft.
»Smertzen!« versprach Khan und hob die Arme über seinen Kopf. Er brauchte keinen Hammer. Der Schlag traf Harry auf der Brust und lähmte augenblicklich alle Herz- und Atemfunktionen. Deshalb konnte er den dunklen Mann nicht sehen, der den Ball von der Wand nahm, mit dem Australien 1969 Pakistan besiegt hatte; eine steinharte kleine Kugel mit einem Durchmesser von 7,6 cm und einem Gewicht von 160 Gramm. Der Neuankömmling neigte den Oberkörper nach kurzem Anlauf etwas seitlich zurück und streckte den Arm nach hinten aus. Mit gewaltiger Kraft fuhr der Arm in einer horizontalen Bewegung nach vorne – mit gebeugtem Ellbogen wie beim Baseball, nicht wie beim Cricket mit gestrecktem Arm in einem Bogen über dem Kopf –, so daß der Ball nicht erst lange durch die Luft flog, sondern geradewegs auf sein Ziel zuschoß.
Im Gegensatz zu Rods zögerte Khans Kleinhirn nicht eine Sekunde, als der harte Ball direkt unter dem Haaransatz auf seine Stirn knallte: es sagte unmittelbar »Gute Nacht«. Khan begann zu fallen, langsam und unaufhörlich wie ein gesprengter Wolkenkratzer.
Inzwischen hatten sich auch die anderen drei am Tisch mit düsteren Mienen erhoben. Der dunkle Neuankömmling tänzelte nach vorne und hielt dabei die Arme locker schützend vor sich. Einer der Männer sprang auf ihn zu, und Harry – der trotz seiner Benommenheit den Mann zu erkennen glaubte – tippte richtig: Der dunkle Mann wich aus, tänzelte dann wieder vor und schlug zwei leichte linke Gerade, fast als wolle er den Abstand messen, bevor die Rechte in einem vernichtenden Aufwärtshaken hervorschoß. Zum Glück war es in diesem Teil des Lokals so eng, daß sich nicht alle gleichzeitig auf ihn stürzen konnten. Während der erste Mann ausgezählt wurde, ging der zweite zum Angriff über. Er bewegte sich etwas vorsichtiger und hielt seine Arme auf eine Weise vor sich, die vermuten ließ, daß er zu Hause den einen oder anderen farbigen Gürtel irgendeiner Kampfsportart mit asiatischem Namen hängen hatte. Der erste, testende Ausfall blieb in der Deckung des Dunklen hängen, und während er herumwirbelte, um den klassischen Karatetritt anzuwenden, hatte der Farbige bereits eine neue Position eingenommen. Der Tritt ging ins Leere.
Nicht aber die rasche Links-Rechts-Links-Kombination, die den Karatemann taumelnd an die Wand schickte. Der Dunkle tanzte ihm nach und schlug eine linke Gerade, so daß der Kopf nach hinten kippte und mit ekligem Klatschen an die Wand knallte. Er glitt wie ein Essensrest, den jemand an die Wand geschmissen hatte, langsam zu Boden. Der Cricket-Werfer verpaßte ihm auf dem Weg zum Boden noch eine, doch das war vermutlich vollkommen überflüssig.
Rod hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und schaute dem ganzen Treiben mit glasigen Augen zu.
Es klickte scharf, als das Springmesser des dritten Mannes aufklappte. Als er mit gebeugtem Rücken und ausgestreckten Armen auf den dunklen Mann zuging, kotzte Rod auf seine Schuhe – ein sicheres Zeichen für eine Gehirnerschütterung, stellte Harry zufrieden fest. Ihm war tatsächlich auch ein bißchen übel, insbesondere als er sah, daß sich der erste Mann wieder aufgerappelt und den einen Cricket-Schläger von der Wand genommen hatte und sich von hinten dem Boxer näherte. Der Mann mit dem Messer stand jetzt direkt neben Harry, ohne ihn allerdings zu beachten.
»Hinter dir, Andrew!« rief Harry und warf sich über den Arm mit dem Messer des dritten Mannes. Er hörte den dumpfen, dunklen Knall des Schlägers und daß Stühle und Tische umgeworfen wurden, mußte sich aber auf den Mann mit dem Messer konzentrieren, der sich wieder befreit hatte und jetzt mit weitausschweifenden, theatralischen Bewegungen und einem irrwitzigen Grinsen auf den Lippen auf ihn zukam. Harrys Blick fixierte den Mann, während er versuchte, auf dem Tisch hinter sich irgend etwas Brauchbares zu finden. Immer noch hörte er das Geräusch des Cricket-Schlägers hinter sich.
Der Messermann lachte und näherte sich, wobei er das Messer zwischen der rechten und der linken Hand jonglierte.
Harry sprang vor, stach zu und sprang wieder zurück. Der rechte Arm des Mannes sank schlapp an die Seite seines Körpers, und das Messer fiel klirrend auf den Steinboden. Verwirrt schaute er auf seine rechte Schulter, aus der das Ende eines Grillspießes mit einer einsamen Champignonscheibe herausragte. Der rechte Arm wirkte vollkommen gelähmt. Ungläubig und noch immer mit einem verwirrten Gesichtsausdruck zog er mit der linken Hand an dem Spieß, wie um zu überprüfen, ob dieser wirklich echt war. Ich muß einen Muskelansatz getroffen haben oder einen Nerv, dachte Harry, als er zuschlug.
Er spürte nur, daß er etwas Hartes traf, und ein stechender Schmerz fuhr ihm durch die Hand und Arm. Der Messermann schwankte einen Schritt zurück, wobei er Harry mit einem verletzten Blick anschaute. Aus seinem Nasenloch troff zähes, dunkles Blut. Harry hielt sich seine rechte Hand. Dann hob er sie an, um noch einmal zuzuschlagen, entschied sich schließlich aber anders.
»Es tut so verdammt weh, zuzuschlagen! Kannst du nicht einfach aufgeben?« fragte er.
Der Messermann nickte und setzte sich neben Rod, der den Kopf noch immer zwischen den Beinen hatte.
Als Harry sich umdrehte, sah er, daß Borroughs den ersten Mann mit einer Pistole in Schach hielt, während Andrew leblos zwischen umgestürzten Tischen auf dem Boden lag. Ein Teil der anderen Gäste hatte sich aus dem Staub gemacht, andere standen da und schauten neugierig zu, die meisten aber saßen noch immer ganz einfach an der Bar und sahen fern. Es lief das Cricket-Match zwischen Australien und England.
Als die Krankenwagen kamen, um die Verletzten abzuholen, sorgte Harry dafür, daß Andrew den ersten Wagen bekam. Harry blieb an seiner Seite, als sie ihn auf einer Bahre hinaustrugen. Andrew blutete noch immer aus dem einen Ohr, und es rasselte gräßlich, wenn er atmete, aber er war mittlerweile bei Bewußtsein.
»Ich wußte nicht, daß du Cricket spielst, Andrew. Ein feiner Wurfarm, aber war es wirklich nötig, so hart vorzugehen?«
»Du hast recht. Ich habe die Lage vollkommen falsch eingeschätzt. Du hattest ja alles unter Kontrolle.«
»Nein«, sagte Harry, »ich sollte ehrlich sein und zugeben, daß das nicht stimmt!«
»Okay«, sagte Andrew. »Und ich gebe zu, daß ich verdammt üble Kopfschmerzen habe und mich ärgere, daß ich überhaupt aufgetaucht bin. Es wäre richtiger, wenn du jetzt hier liegen würdest. Und das meine ich jetzt wirklich so.«
Die Krankenwagen kamen und fuhren wieder weg, und schließlich waren nur noch Harry und Borroughs in der Bar.
»Ich hoffe, wir haben nicht zu viel Inventar zerschlagen«, sagte Harry.
»Nein, das war nicht so tragisch. Außerdem legen meine Gäste Wert auf ein bißchen Live-Unterhaltung zwischendurch. Aber Sie sollten in der nächsten Zeit vielleicht ein wenig auf der Hut sein. Der Chef der Jungs wird nicht sonderlich glücklich sein, wenn er davon erfährt«, sagte Borroughs.
»Aha?« erwiderte Harry. Er ahnte, daß Borroughs ihm etwas zu sagen versuchte. »Und wer ist ihr Chef?«
»Ich habe nichts gesagt, aber der Kerl auf dem Bild, mit dem Sie da rumgewedelt haben, sieht ihm verdammt ähnlich.«
Harry nickte einvernehmlich.
»Darauf hätte ich vorbereitet sein sollen und entsprechend bewaffnet. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich noch einen extra Grillspieß mitnehme?«
Harry fand in King's Cross tatsächlich einen Zahnarzt, der einen Blick in seinen Mund warf und feststellte, daß da einige Instandsetzungsarbeiten notwendig seien, um den einen, in der Mitte durchgebrochenen Schneidezahn wieder in Ordnung zu bringen. Er machte ein Provisorium und verlangte ein gewaltiges Honorar, das Harry hoffte, später einmal, in einer wohlgesonnenen Stunde, vom Osloer Polizeipräsidium erstattet zu bekommen.
Im Büro erfuhr er, daß der Cricket-Schläger Andrew drei Rippen gebrochen und eine kräftige Gehirnerschütterung verpaßt hatte und daß dieser kaum vor Ablauf der nächsten Woche das Krankenbett verlassen würde.
Nach dem Lunch bat Harry Lebie, ihn bei ein paar Krankenbesuchen zu begleiten. Sie fuhren zum St. Etienne Hospital, wo sie sich in die Besucherliste, ein dickes Buch, eintragen mußten, das aufgeschlagen vor einer noch dickeren Nonne lag, die mit verschränkten Armen hinter ihrer Luke thronte. Harry versuchte sie nach dem Weg zu fragen, aber sie schüttelte nur den Kopf und zeigte den Gang hinunter.
»Sie spricht kein Englisch«, erklärte Lebie.
Sie kamen zu einer Rezeption, an der ein junger, lächelnder Mann sogleich die Namen in seinen PC eingab, ihnen die Zimmernummern mitteilte und erklärte, wie sie dorthin kamen.
»Vom Mittelalter ins EDV-Zeitalter in zehn Sekunden«, flüsterte Harry.
Sie wechselten ein paar Worte mit einem gelbblauen Andrew, der aber schlechte Laune hatte und sie nach fünf Minuten bat zu verschwinden. Auf der Etage darunter lag der Messermann in einem Einzelzimmer. Er ruhte mit geschwollenem Gesicht, den Arm in einer Schlinge, in den Kissen und schaute Harry mit dem gleichen verletzten Blick wie bei ihrer letzten Begegnung an.
»Was willst du, du Scheißbulle?« brummte er.
Harry setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett.
»Ich will wissen, ob Evans White den Befehl gegeben hat, Inger Holter zu töten, wer diesen Auftrag erhalten hat und wieso?«
Der Messermann versuchte zu lachen, mußte aber statt dessen husten.
»Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst, Bulle, und das weißt du wohl auch nicht.«
»Wie geht es deiner Schulter?« fragte Harry.
Die Augen schienen aus der Stirn des Messermannes herauszuquellen.
»Du kannst mir mal …«
Harry zog den Grillspieß aus seiner Tasche. Eine dicke, blaue Ader erschien auf der Stirn des Messermannes.
»Mach keine Witze, Bulle!«
Harry sagte nichts.
»Du bist ja, verdammt noch mal, vollkommen verrückt! Du glaubst doch wohl nicht, daß du, wenn du das machst, so einfach davonkommst. Wenn die, nachdem ihr gegangen seid, nur einen einzigen Kratzer auf meinem Körper finden, bist du deinen verdammten Job los, du Scheißbulle!«
Die Stimme des Messermannes war jetzt zu einer Fistelstimme mutiert. Harry legte seinen Zeigefinger auf die Lippen des Mannes. »Pssst, sei brav. Siehst du den großen, glatzköpfigen Kerl dort drüben an der Tür? Es ist nicht so leicht, die Ähnlichkeit zu erkennen, aber das ist der Vetter von dem, dem ihr gestern mit dem Cricket-Schläger den Schädel eingeschlagen habt. Er hat ganz speziell darum gebeten, heute mitkommen zu dürfen. Sein Job ist es, dir das Maul zu stopfen, wenn ich deine Bandage löse und dir dieses nette Spielzeug hier in die einzige Stelle reinstecke, an der es keine Spuren hinterläßt. Da ist nämlich schon ein Loch, nicht wahr?«
Er drückte vorsichtig gegen die rechte Schulter des Mannes. Tränen quollen aus den Augen des Messermannes, und seine Brust hob und senkte sich gewaltig. Sein Blick flatterte von Harry zu Lebie und zurück. Die menschliche Natur ist ein wilder, undurchdringlicher Wald, aber es schien Harry, als sehe er eine richtige Waldbrandschneise, als der Messermann seinen Mund öffnete. Er sagte ganz ohne Zweifel die Wahrheit.
»Ihr könnt mir nichts tun, was Evans mir nicht zehnmal schlimmer heimzahlt, wenn er erfährt, daß ich ihn verraten hab. Ich weiß und ihr wißt, daß ich, selbst wenn ich etwas zu erzählen hätte, das Maul halten würde. Also fangt ruhig an. Aber laßt mich zuvor noch eine Sache klarstellen: Ihr seid auf der falschen Fährte. Auf einer verdammt falschen Fährte!«
Harry blickte Lebie an. Der schüttelte sachte den Kopf. Harry dachte einen Moment lang nach, dann legte er den Grillspieß auf das Nachtschränkchen.
»Gute Besserung«, wünschte Harry.
»Hasta la vista«, erwiderte der Messermann und zielte mit seinem Ziegefinger auf ihn.
Im Hotel wartete eine Nachricht auf Harry an der Rezeption. Er erkannte die zentrale Nummer der Polizeidienststelle und rief von seinem Zimmer aus sofort an. Yong Sue nahm ab.
»Wir sind noch einmal alle Akten durchgegangen«, sagte er. »Ein bißchen gründlicher dieses Mal. Ein paar Sachen sind aus den Akten nach drei Jahren gestrichen worden. So ist bei uns das Gesetz, wir dürfen ältere Vergehen nicht berücksichtigen. Aber weil es ja Sexualvergehen sind … also, laß es mich dir erklären, wir haben da so eine höchst inoffizielle Back-up-Liste, und in der habe ich etwas Interessantes gefunden.«
»Aha?«
»Die offizielle Akte von Inger Holters Vermieter, Hunter Robertson, war blütenweiß. Aber als wir etwas genauer nachgeschaut haben, hat sich gezeigt, daß er zweimal wegen Exhibitionismus verurteilt worden war. Schwerem Exhibitionismus. «
Harry versuchte sich leichten Exhibitionismus vorzustellen.
»Wie schwer?«
»Er hat in aller Öffentlichkeit seine Geschlechtsorgane berührt. Das muß natürlich noch nichts heißen, es gibt jedoch noch mehr. Lebie ist vorbeigefahren, aber außer einem übelgelaunten Köter, der hinter der Haustür rumgebellt hat, war niemand da. Während Lebie dort wartete, kam der Nachbar. Dabei stellte sich heraus, daß dieser Nachbar von Robertson den Auftrag hatte, jeden Mittwochabend mit dem Hund Gassi zu gehen und ihm zu fressen zu geben. Er hat einen Schlüssel für die Tür. Lebie hat ihn dann natürlich gefragt, ob er das auch an dem Mittwochabend vor Ingers Tod gemacht hat – und das hat er.«
»Und weiter?«
»Robertson hat früher zu Protokoll gegeben, daß er an diesem Abend alleine zu Hause war. Ich dachte mir, du würdest das gerne sofort wissen.«
Harry spürte, daß sein Herz schneller zu schlagen begann.
»Was macht ihr jetzt?«
»Ein Wagen wird ihn morgen früh zu Hause abholen, bevor er zur Arbeit fährt.«
»Hm. Wann und wo hat er diese schrecklichen Untaten begangen?«
»Laß mal sehen. Ich glaube, das war in einem Park. Hier steht es ja. Green Park, das ist ein kleiner …«
»Den kenn ich.« Er dachte schnell nach. »Vielleicht sollte ich einen kleinen Spaziergang machen. Ich hab den Eindruck, daß sich da ein paar Leute fest niedergelassen haben. Vielleicht wissen die was.«
Harry notierte sich die Daten der Vergehen in einem kleinen, schwarzen Kalender, den er jedes Jahr von seinem Vater zu Weihnachten bekam.
»Nur zum Spaß, Yong, was ist leichter Exhibitionismus?«
»Achtzehn Jahre alt zu sein, besoffen und dann am norwegischen Nationalfeiertag einer vorbeipatrouillierenden Polizeistreife den nackten Arsch entgegenzustrecken.«
Er war so perplex, daß er kein Wort mehr herausbrachte.
Yong mußte am anderen Ende der Leitung kichern.
»Wie …?« stotterte Harry.
»Es ist unglaublich, was man mit ein paar Paßwörtern und einem dänischen Kollegen im Nachbarzimmer alles erreichen kann.« Yong lachte herzlich. Harry spürte, wie die Temperatur unter seinem Pony langsam zu steigen begann.
»Ich hoffe, das macht nichts!« Yong hörte sich plötzlich besorgt an. Er befürchtete, zu weit gegangen zu sein. »Ich habe den anderen nichts verraten.«
Er hörte sich so unglücklich an, daß Harry es nicht übers Herz brachte, wütend zu sein.
»In der Patrouille war eine Frau, sie hat mir hinterher ein Kompliment für meine knackigen Arschbacken gemacht.«
Yong lachte zufrieden.
Die Lichter im Park schalteten sich an, als Harry auf die Bank zuging. Er erkannte den grauen Mann sofort.
»Guten Abend.«
Der Kopf, der mit dem Kinn auf der Brust geruht hatte, wurde langsam gehoben, und ein paar braune Augen schauten Harry an – oder besser gesagt durch ihn hindurch – und hefteten sich auf einen Punkt in weiter Ferne.
»Fig?« fragte er mit brüchiger Stimme.
»Sorry?«
»Fig, fig?« wiederholte er und wedelte mit zwei Fingern in der Luft herum.
»Oh, fag. You want a cigarette?«
»Yeah, fig.«
Harry kramte zwei Zigaretten aus der Schachtel und nahm selbst eine. Einen Augenblick lang blieben sie still nebeneinander sitzen und genossen das Rauchen. Sie saßen in einer kleinen grünen Lunge mitten in einer Millionenstadt, und dennoch hatte Harry den Eindruck, weit, weit entfernt in einer öden Wildnis zu sitzen. Vielleicht, weil es dunkel wurde und die Luft dabei von dem elektrischen Zirpen unsichtbarer Heuschreckenbeine erfüllt war, die aneinandergerieben wurden. Oder war es das Gefühl des Rituellen, Zeitlosen, gemeinsam zu rauchen, der weiße Polizist und der schwarze Mann mit dem breiten, fremdartigen Gesicht, das so typisch für die Ureinwohner dieses riesigen Kontinents war.
»Willst du meine Jacke kaufen?«
Er warf einen Blick auf die Jacke des Mannes, eine Art Windjacke aus dünnem Stoff in frischen Rot- und Schwarztönen.
»Die Aborigine-Flagge«, erklärte der Mann und zeigte ihm den Rücken der Jacke. »Mein Vetter macht die.«
Harry lehnte höflich ab.
»Wie heißt du?« fragte der Aborigine. »Harry? Das ist ein englischer Name. Ich habe auch einen englischen Namen. Ich heiße Joseph. Mit p und h. Eigentlich ist das ein jüdischer Name. Der Vater von Jesus, dig? Joseph Walter Roderigue. Mein Stammesname ist Ngardagha. N-gar-dag-ha.«
»Bist du oft hier im Park, Joseph?«
»Ja, oft.« Joseph stellte wieder seinen Tausendmeterblick ein und entschwand. Er zog eine große Saftflasche aus seiner Jacke, bot Harry etwas an und nahm dann selbst einen großen Schluck, bevor er den Verschluß wieder sorgsam auf die Flasche schraubte. Die Jacke war aufgegangen, und Harry konnte die Tätowierung auf der Brust des Mannes erkennen. »Jerry«, stand dort diagonal über einem großen Kreuz.
»Du hast eine schöne Tätowierung, Joseph. Darf ich fragen, wer Jerry ist?«
»Jerry ist mein Sohn. Mein Sohn. Er ist vier Jahre alt.« Joseph spreizte seine Finger, während er versuchte bis vier zu zählen.
»Vier. Ich verstehe schon. Wo ist Jerry jetzt?«
»Zu Hause.« Joseph wedelte mit der Hand in die Luft, um anzudeuten, in welcher Richtung zu Hause war. »Zu Hause bei seiner Mutter.«
»Hör mal, Joseph. Ich bin auf der Suche nach einem Mann. Er heißt Hunter Robertson. Es handelt sich um einen Weißen, er ist klein und hat nur wenig Haare. Manchmal ist er auch hier im Park. Und er … zeigt sich gern. Weißt du, wen ich meine? Hast du ihn gesehen, Joseph?«
»Ja, ja, er kommt«, sagte Joseph und rieb sich die Nase, als meinte er, Harry rede von wirklichen Alltäglichkeiten.
»Warte nur, er kommt.«
Harry zuckte mit den Schultern. Er konnte wohl kaum allzuviel auf Josephs Behauptung geben, aber er hatte nichts anderes vor, und so gab er ihm noch eine Zigarette. Sie blieben auf der Bank sitzen, während sich die Dunkelheit langsam über sie senkte, immer dichter wurde und zum Schluß fast greifbar zu sein schien.
Eine Kirchenglocke schlug in der Ferne, als Harry seine achte Zigarette anzündete. Søs hatte gesagt, daß er endlich aufhören solle zu rauchen, als er sie das letzte Mal mit ins Kino genommen hatte. Sie hatten sich Robin Hood – König der Diebe angeschaut, das schlechteste Casting, das er diesseits von Plan 9 from Outer Space gesehen hatte. Aber es hatte Søs nicht gestört, daß Kevin Costners Robin Hood dem Sheriff von Nottingham auf breitestem Amerikanisch geantwortet hatte. Überhaupt ließ sich Søs durch fast nichts stören, sie lachte lustig, wenn Costner im Sherwood Forest für Ordnung sorgte, und seufzte mit Tränen in den Augen, als sich Marian und Robin am Schluß des Filmes endlich in den Armen lagen.
Anschließend waren sie in ein Cafe gegangen. Dort hatte er ihr einen Kakao bestellt, und sie hatte ihm erzählt, wie gut ihr ihr neues Zimmer im Studentenwohnheim gefiele, auch wenn ein paar der Leute auf dem Flur nichts im Kopf hätten. Und dann wollte sie, daß Harry mit dem Rauchen aufhörte. »Ernst sagt, daß das gefährlich ist, daß man daran sterben kann.«
»Wer ist Ernst?« hatte Harry gefragt, aber die Frage hatte sie nur mit einem Kichern beantwortet. Und dann hatte sie wieder ganz nüchtern gesagt: »Du sollst nicht rauchen, Harald. Du darfst nicht sterben, hörst du?« Das mit »Harald« und »hörst du« hatte sie von der Mutter.
Mit dem Taufnamen Harry hatte Vater sich durchgesetzt. Harrys Vater, Fredrik Hole, ein Mann, der seiner Frau normalerweise in allem und jedem Recht gab, hatte seine Stimme erhoben und darauf bestanden, daß der Junge nach seinem Großvater benannt wurde, der Seemann und somit sicher ein ganzer Kerl gewesen war. Mutter hatte nach eigener Aussage in einem schwachen Moment nachgegeben, etwas, das sie später bitter bereut hatte.
»Gibt es irgendwo irgend jemanden, der jemals gehört hat, daß aus einem, der Harry heißt, jemals etwas geworden ist?« hatte sie gesagt. (Und wenn Vater in der richtigen Laune war, zitierte er sie und zog sie wegen all der »jemande« auf).
Auf jeden Fall begann Mutter, ihn nach ihrem eigenen Onkel »Harald«, zu nennen, nur daß das, abgesehen von ihr selbst, niemand sonderlich wichtig nahm. Und jetzt, nachdem Mutter gestorben war, hatte also auch Søs begonnen, ihn Harald zu nennen. Vielleicht war das Søs' Art, die durch Mutters Tod entstandene Leere aufzufüllen. Harry wußte es nicht. In dem Kopf dieses Mädchens gingen so viele merkwürdige Dinge vor. So hatte sie zum Beispiel mit Tränen in den Augen und Sahne auf der Nase gestrahlt, als er ihr zugesichert hatte, aufzuhören, wenn schon nicht sofort, so doch sicher irgendwann einmal.
Jetzt saß er da und stellte sich vor, wie sich der Tabakqualm als große Schlange in seinen Körper hinunterschlängelte. Bubbur.
Joseph schreckte auf. Er war eingeschlafen.
»Meine Vorfahren gehörten zum Krähen-Volk, Crow People«, sagte er ohne Einleitung und rappelte sich auf. »Sie konnten fliegen.« Der Schlaf schien ihn erfrischt zu haben. Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht.
»Fliegen ist toll. Hast du einen Zehner?«
Harry hatte nur eine Zwanzigdollarnote.
»Das geht auch«, sagte Joseph und nahm sie ihm ab.
Als wenn es sich nur um eine vorübergehende Wetterbesserung gehandelt hätte, zogen sich die Wolken wieder über Josephs vernebeltem Gehirn zusammen, und er murmelte in einer unverständlichen Sprache vor sich hin, die Harry an die Unterhaltung zwischen Andrew und Toowoomba erinnerte. Hatte Andrew das nicht Kreol genannt? Schließlich sackte das Kinn des betrunkenen Aborigines wieder auf seine Brust.
Harry hatte sich entschlossen, seine Zigarette noch zu Ende zu rauchen und dann zu gehen, als Robertson auftauchte. Harry erwartete beinahe, ihn in einem Mantel zu sehen, der Standardausrüstung eines Exhibitionisten, wie er glaubte, doch Robertson trug ganz einfach ein weißes T-Shirt und Jeans. Er schaute nach rechts und links und ging mit einem merkwürdig wippenden Gang, als singe er im stillen ein Lied und marschiere automatisch im Takt. Er erkannte Harry erst, als er unmittelbar vor der Bank stand, und nur wenig von Robertsons Gesichtsausdruck ließ erkennen, daß ihn dieses Wiedersehen sonderlich freute.
»Guten Abend, Robertson. Wir haben versucht, Sie zu finden. Setzen Sie sich.«
Robertson blickte sich um und trippelte auf der Stelle. Er sah aus, als wolle er am liebsten davonlaufen, doch zu guter Letzt setzte er sich mit einem resignierten Seufzer hin.
»Ich habe alles gesagt, was ich weiß«, sagte er. »Warum quält ihr mich noch?«
»Weil wir herausgefunden haben, daß Sie in der Vergangenheit andere gequält haben.«
»Andere gequält? Ich hab, zum Teufel noch mal, doch wohl niemanden gequält!«
Harry schaute ihn an. Robertson war ein Mann, den man nur schwerlich sympathisch finden konnte, aber Harry konnte sich auch beim besten Willen nicht vorstellen, daß er einen Serienmörder vor sich hatte. Ein Faktum, das ihn eigentlich ziemlich müde machte, denn es bedeutete, daß er Zeit vergeudete.
»Wissen Sie, wie vielen jungen Mädchen Sie den Schlaf geraubt haben?« fragte Harry und versuchte soviel Verachtung wie nur möglich in seine Stimme zu legen. »Wie viele von denen nicht vergessen können, sondern für alle Ewigkeit mit dem Bild eines wichsenden Angreifers leben müssen, der sie mental vergewaltigt hat? Wie Sie sich in ihre Gedanken gedrängt haben, ihnen die Sicherheit genommen und ihnen Angst eingejagt haben, allein hinaus in die Dunkelheit zu gehen. Wie Sie sie erniedrigt haben, so daß die Mädchen sich ihr Leben lang beschmutzt fühlen?«
Robertson mußte lachen. »Sonst noch was, Konstabel? Was ist mit all jenen, deren Sexualleben gestört ist? Und jenen, die aus chronischer Angst fortwährend Tabletten nehmen müssen? Übrigens muß ich sagen, daß sich Ihr Kollege in acht nehmen sollte. Derjenige, der gesagt hat, daß man mich wegen Unterstützung einer Straftat zu sechs Jahren verurteilen könnte, wenn ich nicht stramm stünde und vor solchen yob-bos wie euch meine Aussage machte. Aber inzwischen habe ich mit meinem Anwalt gesprochen und der wollte, soweit ich weiß, mit Ihrem Chef darüber sprechen. Versuchen Sie also nicht, mich noch einmal zu bluffen!«
»Okay, wir können das auf verschiedene Arten machen, Robertson«, sagte Harry, merkte aber, daß er als Wüstling nicht die gleiche Autorität hatte wie Andrew. »Sie können mir hier und jetzt sagen, was ich wissen will, oder …«
»… oder ich kann Sie aufs Revier vorladen! Ja, danke, das hab ich mittlerweile verstanden. Also bitte, laden Sie mich vor, dann laß ich meinen Rechtsanwalt kommen, der mich in weniger als einer Stunde wieder herausholt und Sie und Ihre Kollegen als Zugabe noch wegen Belästigung und Verfolgung verklagt. Be my guest!«
»Sorry, aber daran hab ich nicht gedacht«, sagte Harry ruhig. »Ich habe eher an eine diskrete, undichte Stelle gedacht, kaum aufzuspüren natürlich, die einen guten Draht zu einer von Sydneys neuigkeitsgeilen und durchaus sensationshungrigen Sonntagszeitungen hat. Sie können sich das vielleicht vorstellen? ›Inger Holters Vermieter, siehe Foto, ein früher wegen Exhibitionismus verurteilter Mann, steht im Rampenlicht der polizeilichen Ermittlungen …‹«
»Verurteilt! Ich mußte ein Bußgeld zahlen, vierzig Dollar!« Hunter Robertsons Stimme überschlug sich.
»Ja, ich weiß, Robertson, das war ein kleiner Irrtum«, sagte Harry. »So klein, daß es sicher kein Problem für Sie war, das gegenüber Ihrer nächsten Umgebung bis heute geheimzuhalten. Um so trauriger, daß man in Ihrer Gegend Sonntagszeitungen liest, nicht wahr? Und auf der Arbeit … Wie verhält es sich mit Ihren Eltern? Können die lesen?«
Robertson sackte zusammen. Die Luft entwich aus seinen Lungen wie aus einem löchrigen Wasserball. Wie er so dasaß, erinnerte er Harry an einen Mehlsack, und er begriff, daß er Robertsons wunden Punkt getroffen hatte, als er seine Eltern erwähnte.
»Du herzloses Arschloch!« fauchte Robertson mit heiserer, gequälter Stimme. »Wo kommen nur solche Menschen wie du her?« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Was wollen Sie wissen?«
»Zu allererst will ich einmal wissen, wo Sie an dem Abend, bevor Inger gefunden wurde, gewesen sind.«
»Ich habe der Polizei doch bereits erzählt, daß ich alleine zu Hause war und daß …«
»Das wars dann wohl. Ich hoffe, daß die in der Redaktion ein schönes Bild finden.« Harry stand auf.
»Okay, okay, ich war nicht zu Hause!« Roberston schrie jetzt fast. Er legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Harry setzte sich wieder.
»Als ich Student war und ein Zimmer in einem der besseren Stadtviertel hatte, wohnte gegenüber, auf der anderen Straßenseite eine Witwe«, erzählte Harry, »jeden Freitagabend um sieben Uhr, genau sieben Uhr, zog sie die Gardinen zur Seite. Ich wohnte genau vis-à-vis von ihr, so daß ich geradewegs in ihre Wohnung hineinschauen konnte. Besonders freitags, wenn sie den gediegenen Kronleuchter einschaltete. Wenn man sie an den anderen Tagen der Woche sah, war sie eine leicht ergraute Frau mit Brille und Strickjacke, so eine, die man ständig in der Straßenbahn sieht oder in der Apotheke.
Aber freitags um sieben, wenn die Vorstellung begann, dachte man an alles andere als an griesgrämige alte Damen mit Stock. Dann trug sie einen seidenen Morgenrock mit einem japanischen Muster und hochhackige, schwarze Schuhe. Um halb acht bekam sie Herrenbesuch. Um Viertel vor acht zog sie ihren Morgenrock aus und präsentierte ihr schwarzes Korsett. Und um acht Uhr hatte sie ihr Korsett abgelegt, und auf ihrem Chesterfield-Sofa ging es voll zur Sache. Um halb neun war der Besucher verschwunden, die Gardine vorgezogen und die Vorstellung beendet.«
»Interessant«, sagte Robertson sarkastisch.
»Was daran vor allem interessant war, ist die Tatsache, daß es nie irgendwelchen Ärger gegeben hat. Wohnte man auf meiner Seite der Straße, war es kaum zu vermeiden, alles mitzubekommen, und die meisten meiner Nachbarn verfolgten die Vorstellung wohl regelmäßig. Aber es wurde, soweit ich weiß, nie darüber geredet, sie wurde auch nicht der Polizei gemeldet oder angezeigt. Außerdem war die Regelmäßigkeit der Vorstellung bemerkenswert. Zuerst dachte ich, das hätte mit ihrem Partner zu tun, damit, wann er Zeit hatte, vielleicht arbeitete er ja oder war verheiratet, aber schließlich stellte ich fest, daß ihre Partner wechselten, nicht aber die Zeiten ihrer Aktivität. Und da habe ich es verstanden: sie hatte ganz einfach begriffen, was alle TV- Sender wissen – wenn man erst einmal das Publikum an einen bestimmten Sendezeitpunkt gewöhnt hat, ist es in höchstem Grade schädlich, die Zeiten zu ändern. Und es war ja gerade das Publikum, das ihrem Sexualleben die Würze gab. Verstanden?«
»Ich verstehe«, sagte Robertson.
»Eine überflüssige Frage, natürlich. Nun, warum ich diese Geschichte erzählt habe? Sie ist mir wieder eingefallen, als unser schlafender Freund hier, Joseph, mit solch unerschütterlicher Sicherheit behauptete, Sie würden heute abend kommen. Und dann habe ich in meinem Kalender nachgesehen, und das meiste stimmte überein. Heute abend ist Mittwoch, Inger Holter verschwand an einem Mittwoch, und die zweimal, als man Sie erwischt hat, war das auch an einem Mittwoch. Sie haben feste Vorstellungen, nicht wahr?«
Robertson gab keine Antwort.
»Meine nächste Frage lautet deshalb: Warum sind Sie nicht öfter angezeigt worden? Das letzte Mal liegt schließlich vier Jahre zurück! Sich in einem Park vor kleinen Mädchen auszuziehen wird schließlich nicht von allen geschätzt!«
»Wer hat etwas von kleinen Mädchen gesagt«, fragte Robertson mürrisch, »und daß man das nicht schätzt?«
Wenn Harry hätte pfeifen können, er hätte leise gepfiffen. Er mußte plötzlich an das streitende Schwulenpärchen denken, das ihm früher am Abend ganz in der Nähe begegnet war.
»Sie machen das vor Männern«, sagte er, beinahe zu sich selbst. »Den Schwulen aus der Nachbarschaft. Das erklärt, warum Sie in Ruhe gelassen werden. Haben Sie auch ein festes Publikum?«
Robertson zuckte mit den Schultern.
»Die kommen und gehen. Aber die wissen jedenfalls, wann und wo sie mich sehen können.«
»Und die Anzeigen?«
»Irgendwelche zufällige Passanten, wir sind jetzt vorsichtiger.«
»Gehe ich recht in der Annahme, daß es hier heute abend ein paar Zeugen dafür gibt, daß Sie an dem Abend, als Inger verschwand, hier waren?«
Robertson nickte. Sie saßen schweigend nebeneinander und lauschten Josephs leisem Schnarchen.
»Es gibt noch etwas, das nicht ganz stimmt«, sagte Harry nach einer Weile. »Das schwirrt schon eine ganze Weile in meinem Hinterkopf herum, aber ich konnte es erst auf den Punkt bringen, als ich hörte, daß Ihr Nachbar jeden Mittwoch den Hund füttert und mit ihm Gassi geht.«
Ein paar Männer gingen langsam vorbei und blieben dann am Rande des Lichtkegels der Laterne stehen.
»Und dann habe ich mich gefragt: warum ihn füttern, wenn Inger doch mit Fleischresten aus dem Albury auf dem Heimweg war? Zuerst habe ich nicht glauben wollen, daß Sie überhaupt nichts miteinander geredet haben, und dachte, das sei vielleicht für den nächsten Tag oder so, aber dann fiel mir etwas ein, an das ich sofort hätte denken müssen – daß Ihr Hund kein Fleisch frißt … jedenfalls kein Fleisch fressen soll. Aber was wollte Inger dann mit den Essensresten? Sie hatte in der Bar gesagt, das sei für den Hund, und warum sollte sie da lügen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Robertson.
Harry sah, daß Robertson auf die Uhr schaute. Seine Vorstellung sollte wohl gleich beginnen.
»Nur eine letzte Frage, Robertson. Was wissen Sie über Evans White?«
Robertson drehte sich zu ihm um und schaute ihn mit wäßrigen, hellblauen Augen an. Lag da eine Spur von Furcht in seinem Blick?
»Herzlich wenig«, sagte Robertson.
Harry gab auf. Er war nicht großartig weitergekommen. In seinem Inneren kochte eine Lust zu jagen und zu fangen, aber das Ganze schien ihm immer wieder durch die Finger zu gleiten. Verdammt noch mal, in ein paar Tagen würde er ohnehin auf dem Weg weg von hier sein, aber auch der Gedanke daran besserte seine Laune merkwürdigerweise kein bißchen.
»Was Sie von den Zuschauern gesagt haben«, begann Robertson, »es wäre mir wichtig, daß Sie …«
»Ich werde Ihre Vorstellung nicht kaputtmachen, Robertson. Ich weiß, daß diejenigen, die kommen, sicher etwas davon halten.« Er warf einen Blick in seine Zigarettenschachtel, nahm eine Kippe heraus und steckte das Päckchen mit den restlichen Zigaretten in Josephs Jackentasche. Dann stand er auf.
»Ich hab die Nummer meiner Witwe jedenfalls geschätzt!«
Wie gewöhnlich herrschte im Albury gute Stimmung. In voller Lautstärke lief »It's Raining Men«, und auf der Bühne standen drei Jungs, die alle nur eine lange Stola und sonst keine weiteren Kleidungsstücke trugen. Das Publikum grölte und sang mit. Harry blieb stehen, um einen kurzen Blick auf die Show zu werfen, bevor er zu Birgitta an die Bar ging.
»Warum singst du nicht mit, handsome?« fragte ihn eine wohlvertraute Stimme. Harry drehte sich um. Otto trug heute nicht seine volle Montur, sondern ganz einfach ein ausgeschnittenes, rosa Seidenkleid. Die zarte Andeutung von Mascara und Lippenstift ließ aber erkennen, daß er trotz allem mit seinem Äußeren einverstanden war.
»Ich habe wohl kaum die Stimme dafür, Otto, tut mir leid.«
»Puh, ihr Skandinavier seid alle gleich. Ihr könnt einfach nicht aus eurer Haut, bevor ihr nicht so viele Drinks intus habt, daß ihr ohnehin nicht mehr in der Lage seid zu … ach du weißt schon, was!«
Harry lächelte über Ottos gesenkte Augenlider.
»Flirte nicht mit mir, Otto. Ich bin verloren.«
»Hoffnungsloser Hetero, was?«
Harry nickte.
»Laß mich dir wenigstens einen Drink spendieren, handsome. Was willst du?« Er bestellte einen Grapefruitsaft für Harry und eine Bloody Mary für sich. Sie stießen miteinander an, und Otto kippte die Hälfte seines Drinks in einem Schluck hinunter.
»Das einzige, das gegen Liebeskummer hilft«, sagte er und kippte den Rest hinterher, schauderte, bestellte einen neuen Drink und fixierte Harry mit seinem Blick. »Du hast also noch nie Sex mit einem Mann gehabt? Und auch noch nie davon geträumt?«
Harry drehte das Glas in seiner Hand herum. »Das kommt darauf an, was du mit träumen meinst. Ich würde das wohl eher einen Alptraum nennen.«
»Aha, da haben wir es!« Otto wedelte mit seinem Zeigefinger. »Du hast dir im Schlaf also schon diese Frage gestellt! Auch du kannst dein Unterbewußtsein nicht betrügen, handsome. Ich seh doch in deinen Augen, daß du das in dir hast. Die Frage ist bloß, wann es aktiviert wird.«
»Ich habe schon immer darauf gewartet, daß jemand den Schwulen in mir weckt«, erwiderte Harry trocken. »Sorry aber ich glaub da nicht dran. Das ist doch von Geburt an irgendwie physisch festgelegt. Entweder man ist so oder nicht. Das ganze Gerede über Umwelt und Erziehung ist doch Bullshit!«
»Was sagst du da? Wo ich doch immer geglaubt habe, meine Schwester und meine Mutter seien an all dem schuld …«, rief Otto und faßte sich theatralisch an die Stirn.
Harry überhörte ihn und fuhr fort:
»Die Wissenschaftler wissen das, weil man in den letzten Jahren die Gehirnforschung bei Schwulen intensivieren konnte. Aids hat die Verfügbarkeit von Leichen solcher Personen, die bekanntermaßen schwul waren, effektiv erhöht …«
»Ohne Zweifel eine der wenigen positiven Seiten dieser Krankheit«, sagte Otto lakonisch und saugte an seinem Strohhalm.
»Man hat herausgefunden, daß physische Unterschiede zwischen Gehirnen von Homosexuellen und Heterosexuellen existieren.«
»Euer Gehirn ist kleiner, erzähl mir was Neues, handsome!«
»Das Paradoxe ist, daß dieser winzige Spalt, oder was auch immer einen zum Schwulen werden läßt, vererbbar sein soll!«
Otto verdrehte die Augen. »Na und? Glaubst du etwa, ein Schwuler vögelt nicht auch Frauen, wenn es sein muß? Wenn die Gesellschaft das von ihm verlangt? Wenn man ihm keine Alternativen läßt?« Otto gestikulierte unzweideutig herum. »Wenn die Frau ein Surrogat sein kann, warum nicht? Das ist doch der gleiche soziale Mechanismus, der dazu führt, daß es Heteromänner im Gefängnis miteinander treiben.«
»So, so, Schwule vögeln also auch Frauen?« fragte Harry.
»Ich habe zum Glück nie in einem solchen mentalen Gefängnis gesteckt, wie es die meisten Schwulen erdulden müssen. Ich stamme aus einer Künstlerfamilie und habe mich zum Schwulsein bekannt, als ich zehn Jahre alt war. Damals bloß, um mich interessant zu machen. Später habe ich aber nie einen Grund gefunden, es wieder zurückzunehmen. Für mich ist es wohl ebenso schwer, mir vorzustellen, was alles passieren müßte, damit ich es mit einer Frau mache, wie für dich, den jungen Mann in der Nachbarzelle zu bespringen. Obwohl ich ja glaube, daß das für dich doch etwas leichter wäre …«
»Jetzt hör aber auf! Was ist denn das überhaupt für eine Diskussion?« rief Harry.
»Du quetschst mich doch nur aus Neugierde aus, handsome!« Otto legte seine Hand auf die von Harry. »Vielleicht sollten wir uns irgendwann einmal um dieses Interesse kümmern.«
Harry spürte, daß er warme Ohren bekam. Insgeheim verfluchte er diesen schwulen Clown, der ihn, den alten Jungen, so verlegen werden ließ, daß er aussah wie ein Engländer nach sechs Stunden an einem spanischen Strand.
»Laß uns eine derbe, richtig vulgäre Wette abschließen«, sagte Otto mit vor Freude glänzenden Augen. »Ich setze hundert Dollar darauf, daß deine weiche, schlanke Hand, noch bevor du nach Norwegen zurückfährst, meine edleren Teile streicheln wird. Wagst du es? Hältst du die Wette?«
Otto klatschte in die Hände und jubelte vor Begeisterung, als er Harrys purpurrotes Gesicht sah.
»Wenn du darauf bestehst, Geld unter die Leute zu bringen, also bitte!« sagte Harry. »Aber ich dachte, du hättest Liebeskummer, Otto! Solltest du nicht lieber zu Hause sitzen und an etwas anderes denken als daran, Heteros zu verführen?« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, bereute er sie auch schon. Er hatte es nie vertragen können, wenn sich jemand auf seine Kosten amüsierte.
Otto zog seine Hand zurück und schaute ihn verletzt an.
»Entschuldigung, das war dumm, ich habe das nicht so gemeint«, sagte Harry.
Otto zuckte mit den Schultern.
»Gibt es etwas Neues bei euren Nachforschungen?« fragte er.
»Nein«, sagte Harry erleichtert darüber, daß sie das Thema gewechselt hatten. »Es sieht so aus, als müßten wir außerhalb ihres Bekanntenkreises suchen. Kanntest du sie übrigens?«
»Alle hier kannten Inger.«
»Hast du mal mit ihr gesprochen?«
»Tja, ich werd schon mal ein Wort mit ihr gewechselt haben. Wenn du mich fragst, sie war ein bißchen zu leichtsinnig.«
»Leichtsinnig?«
»Sie hat wohl einigen der Heterogäste hier den Kopf verdreht. Zog sich immer so verführerisch an, und ihre Blicke waren so … tief und vielleicht auch ein bißchen zu lang, wenn ihr das zu extra Trinkgeld verhalf. So was kann gefährlich werden.«
»Meinst du, daß einer der Gäste …?«
»Ich meine bloß, daß es sein kann, daß du vielleicht gar nicht so weit weg suchen mußt, Konstabel!«
»Wie meinst du das?«
Otto sah sich um und nahm den letzten Schluck von seinem Drink.
»Ach, ich rede doch einfach nur drauf los, handsome.« Er sammelte seine Sachen zusammen, um zu gehen. »So, nun gehe ich, wie du mir geraten hast, nach Hause und denke an andere Sachen, war es nicht das, was Sie mir verordnet hatten, Doktor?«
Er winkte einem der Stola-Jungs hinter der Bar zu, der ihm eine Papiertüte brachte.
»Denk an die Vorstellung!« rief Otto über die Schulter zurück, als er ging.
Das Albury war proppenvoll, und Harry setzte sich diskret an den Rand der Bar, um Birgitta bei der Arbeit zuzusehen. Er beobachtete ihre Bewegungen: die flinken Hände, die Bier zapften, Geld wechselten und Drinks mischten, die Art, wie sie ihren Körper hin- und herdrehte, die sicheren, entschlossenen Bewegungen hinter der Bar; alle Abstände schienen in ihrem Rückenmark gespeichert zu sein: vom Zapfhahn zur Kasse zum Tresen. Er sah, wie ihr das Haar ins Gesicht fiel, wie sie es mit einer flüchtigen Bewegung zur Seite wischte und ihr Blick in regelmäßigen Abständen über die Reihe der Gäste huschte, um neue Bestellungen entgegenzunehmen – und Harry im Blickfeld zu haben.
Das Sommersprossengesicht leuchtete auf, und er spürte, wie sein Herz schwer und warm in seiner Brust schlug.
»Gerade ist ein Freund von Andrew gekommen«, sagte sie, als sie zu ihm herüberkam. »Er hat ihn im Krankenhaus besucht und Grüße von ihm ausgerichtet. Er hat auch nach dir gefragt, ich glaube, er sitzt immer noch irgendwo. Ja, dort drüben ist er.«
Sie zeigte zu einem Tisch hinüber, und Harry erkannte sogleich den hübschen, schwarzen Mann. Es war Toowoomba, der Boxer. Er ging zu seinem Tisch hinüber.
»Störe ich?« fragte er und erhielt ein breites Lächeln als Antwort.
»Aber auf keinen Fall. Setz dich. Ich sitze hier eigentlich, um zu schauen, ob nicht irgendein alter Freund auftaucht.«
Harry setzte sich.
Robin Toowoomba, genannt »The Murri«, lächelte noch immer. Es entstand eine jener peinlichen Pausen, die niemand so recht wahrhaben will, und Harry beeilte sich, etwas zu sagen:
»Ich habe heute mit jemandem, der dem Krähen-Volk angehört, gesprochen. Ich wußte nicht, daß ihr solche Stammesnamen habt. Zu welchem Volk gehörst du?«
Toowoomba schaute ihn verwundert an.
»Was meinst du, Harry? Ich bin aus Queensland.«
Harry merkte, wie dümmlich sich seine Frage anhörte.
»Sorry, das war eine blöde Frage. Meine Zunge hat heute eine Tendenz, schneller zu sein als mein Gehirn. Ich wollte dich nicht … ich weiß ja nicht so viel über eure Kultur. Ich hab mich einfach gefragt, ob ihr alle zu bestimmten Stämmen oder so etwas gehört.«
Toowoomba klopfte Harry auf die Schulter. »Ich habe dich nur ein bißchen hochgenommen, Harry. Laß mal gut sein.« Er lachte still, und Harry fühlte sich noch unbeholfener.
»Du reagierst wie die meisten Weißen«, sagte Toowoomba. »Was sollte man auch anderes erwarten? Du steckst ja voller Vorurteile.«
»Vorurteile?« sagte Harry und spürte, daß er begann, unsicher zu werden. »Habe ich etwas gesagt, das …«
»Es geht nicht darum, was du gesagt hast«, sagte Toowoomba. »Es ist das, was du unbewußt von mir erwartest. Du glaubst, etwas Dummes gesagt zu haben, und ohne weiter darüber nachzudenken, erwartest du, daß ich wie ein verletztes Kind reagiere. Du kommst gar nicht auf die Idee, daß ich intelligent genug sein könnte, dir mit Toleranz zu begegnen, weil du Ausländer bist. Du bist doch wohl nicht persönlich beleidigt, wenn japanische Touristen in Norwegen nicht alles über dein Land wissen? Daß euer König Harald heißt, zum Beispiel!«
Toowoomba zwinkerte ihm zu.
»Das betrifft nicht nur dich, Harry. Selbst weiße Australier sind hysterisch darauf bedacht, nichts Falsches zu sagen. Das ist es, was so paradox ist. Erst haben sie unserem Volk den Stolz genommen, und jetzt, wo er weg ist, haben sie eine Heidenangst davor, ihn zu verletzen.«
Er seufzte und drehte Harry die großen weißen Handflächen zu. Als würde man eine Flunder umdrehen, dachte Harry.
»Aber erzähl mir lieber etwas über Norwegen, Harry. Ich habe gelesen, daß es dort so schön sein soll. Und kalt.«
Harry erzählte. Über Fjorde und Gebirge und die Menschen, die sich dazwischen angesiedelt hatten. Über die Union mit Dänemark, die Unterdrückung, Ibsen, Nansen und Grieg. Über das Land dort oben im Norden, das sich als wirtschaftskräftiges, fortschrittliches Volk ansah, am ehesten aber einer Bananenrepublik glich. Das Wald und Häfen hatte, als Holländer und Engländer Holz brauchten, das Wasserfälle hatte, als man die Elektrizität entdeckte, und das zu all dem noch direkt vor seiner Haustür auf Öl stieß.
»Wir hatten niemals so etwas wie Volvo oder Tuborg«, sagte Harry. »Wir haben bloß unsere Natur exportiert und aufgehört nachzudenken. Wir sind ein Volk mit vergoldeten Arschbacken«, sagte Harry, ohne auch nur zu versuchen, einen vergleichbaren englischen Ausdruck zu finden.
Und dann sprach er über Ändalsnes, einen kleinen Ort oben im Romsdal, umgeben von hohen Bergen, wo es so schön war, daß Mutter immer gesagt hatte, Gott habe hier sein Werk begonnen und so viel Zeit für die Natur im Romsdal aufgewendet, daß er den Rest der Welt Hals über Kopf hatte erschaffen müssen, um bis Sonntag fertig zu sein.
Wie es war, mit Vater morgens in aller Frühe auf dem Fjord fischen zu gehen oder am Ufer zu liegen und das Meer zu riechen – während die Möwen schrien und die Berge ringsherum wie stille Wachen ihr kleines Königreich beschützten.
»Mein Vater stammt aus Lejaskog, einem kleinen Ort noch weiter oben im Tal. Er und Mutter trafen sich bei einem Volksfest in Ändalsnes. Sie redeten ständig davon, als Pensionisten wieder nach Ändalsnes zu ziehen.«
Toowoomba nickte und trank Bier. Harry nippte an einem weiteren Grapefruitsaft. Sein Bauch begann, langsam sauer zu werden.
»Ich würde mich freuen, wenn ich dir erzählen könnte, woher ich stamme, Harry, es ist aber einfach so, daß solche wie ich keine Beziehung zu irgendeinem Ort haben. Ich bin in einer Hütte unter der Autobahn in einem Vorort von Brisbane groß geworden. Es gibt niemanden, der weiß, welchem Stamm mein Vater angehört hat, er kam und ging so schnell, daß es niemanden gelang zu fragen. Und meiner Mutter ist es egal, woher sie kommt, solange sie nur genug Geld für eine Flasche Wein auftreiben kann. Es muß reichen, daß ich ein Muni bin.«
»Und Andrew?«
»Hat er es dir nicht erzählt?«
»Was?«
Toowoomba zog seine Hände wieder zurück. Zwischen seinen Augen war eine tiefe Falte. »Andrew Kensington hat noch weniger Wurzeln als ich.«
Harry fragte nicht weiter, aber nach einem weiteren Bier fing Toowoomba selber wieder davon an.
»Im Grunde sollte er das selber erzählen, denn Andrew hat eine ganz spezielle Kindheit und Jugend hinter sich. Er gehört nämlich zu der familienlosen Generation der Aborigines.«
»Wie meinst du das?«
»Das ist eine lange Geschichte. Vor allem geht es um schlechtes Gewissen. Schon seit Anfang des Jahrhunderts ist die Ureinwohnerpolitik von dem schlechten Gewissen der Obrigkeit geprägt, weil unser Volk so vielen Übergriffen ausgesetzt war. Es ist einfach schade, daß guter Wille nicht immer reicht. Will man ein Volk regieren, muß man es verstehen.«
»Und die Aborigines sind nicht verstanden worden?«
»Es gibt Epochen der unterschiedlichsten Politik. Ich gehöre zu der zwangsurbanisierten Generation. Nach dem Zweiten Weltkrieg meinte die Regierung, daß man die frühere Politik ändern müsse, um zu versuchen, die Ureinwohner zu integrieren, statt sie zu isolieren. Sie versuchten das, indem sie kontrollierten, wo wir wohnten, ja sogar, wen wir heirateten. Viele wurden in Städte zwangsumgesiedelt, um sich der europäischen, urbanen Kultur anzupassen. Die Ergebnisse waren katastrophal. Im Laufe ganz kurzer Zeit stürmten wir alle üblen Statistiken: Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Ehescheidungen, Prostitution, Kriminalität, Gewalt und Drogen. You name it. Die Aborigines waren und blieben Australiens große Verlierer.«
»Und Andrew?«
»Andrew wurde vor dem Krieg geboren. Damals lief die Politik der Regierung darauf hinaus, uns zu ›beschützen‹, als wenn wir eine bedrohte Tierart wären. Wir hatten deshalb nur begrenzte Möglichkeiten, Land zu besitzen oder Arbeit zu suchen. Aber das Verrückteste war, daß das Gesetz der Obrigkeit das Recht gab, einer Aborigine-Mutter ihr Kind wegzunehmen, wenn es einen Verdacht gab, daß der Vater nicht Aborigine war. Wenn ich auch über meine Geschichte nicht gerade die fetteste Story erzählen kann, es gab auf jeden Fall eine. Andrew hat nichts. Er hat seine Eltern niemals gesehen. Sie haben ihn als Neugeborenen abgeholt und in ein Kinderheim gesteckt. Das einzige, was er weiß, ist, daß man seine Mutter kurz nach dem Kindesraub tot an einer Bushaltestelle fünf Meilen nördlich des Kinderheimes in Bankstown gefunden hat und daß niemand wußte, wie sie dorthin gekommen oder woran sie gestorben war. Der Name des weißen Vaters wurde vor Andrew geheimgehalten, bis es ihn nicht mehr interessierte.«
Harry versuchte, das alles zu begreifen.
»Und so etwas war wirklich vor dem Gesetz okay? Was ist mit der UNO, der Menschenrechtserklärung?«
»Das hat es alles erst nach dem Krieg gegeben. Und denk daran, daß die Aboriginepolitik ja guten Willens war, das Ziel war, die Kultur zu bewahren, nicht sie zu zerstören.«
»Was geschah weiter mit Andrew?«
»Sie fanden heraus, daß er ein guter Schüler war und schickten ihn auf eine Privatschule nach England.«
»Ich dachte, Australien sei nicht so elitär, daß man Schüler auf Privatschulen schickt?«
»All das wurde von der Obrigkeit gesteuert und bezahlt. Man wünschte sich wohl, daß Andrew zu einem Vorzeigeobjekt eines politischen Experimentes wurde, das ansonsten nur zu Schmerz und menschlichen Tragödien geführt hatte. Als er zurückkam, schrieb er sich in Sydney an der Universität ein. Da begannen sie, die Kontrolle über ihn zu verlieren. Er hatte ein paar Schwierigkeiten, galt bald als gewalttätig und bekam schlechte Noten. Soweit ich weiß, hat das irgendwie mit einer unglücklichen Liebe zu tun, einer Weißen, die ihn verließ, weil ihre Familie nicht mit ihm einverstanden war … Andrew wollte nie darüber reden. Es war so oder so eine schwarze Periode in seinem Leben, und es hätte sicher alles viel schlimmer kommen können. In England hatte er gelernt zu boxen. Er behauptete immer, nur so habe er das Internat überleben können. Auf der Universität fing er wieder mit dem Boxen an, und als man ihm anbot, mit Chivers auf Tournee zu gehen, ließ er das Studium sausen und kehrte Sydney für eine Weile den Rücken.«
»Ich habe ihn gerade boxen gesehen«, sagte Harry. »Er hat nicht viel verlernt.«
»Er hatte das Boxen eigentlich nur als eine Art Unterbrechung angesehen, ehe er sein Studium wiederaufnahm, aber er hatte Erfolg bei Chivers, und die Presse begann sich für ihn zu interessieren, und so machte er weiter. Als er sich bis ins Finale der australischen Meisterschaft vorboxte, kamen sogar ein paar Profiagenturen aus Amerika herüber, um ihn sich anzuschauen. Aber irgend etwas ist an dem Abend vor dem Finale in Melbourne geschehen. Sie waren in einem Restaurant, und jemand sagte, Andrew habe die Freundin des anderen Finalisten angemacht. Er hieß Campbell und war mit einer tollen Frau aus dem Norden von Sydney zusammen, die später Miß New South Wales wurde. Es kam zu einer Prügelei in der Küche, an der Andrew, Campbeils Trainer, sein Agent und noch irgendein Kerl beteiligt waren. Dabei ging so ziemlich alles drauf, was dort zu finden war.
Sie fanden Andrew über dem Waschbecken hängend mit aufgerissener Lippe, einem Schnitt in der Stirn und verstauchtem Handgelenk. Es gab keine Anzeige, daher stammt wohl das Gerücht, daß sich Andrew an der Geliebten von Campbell vergriffen habe. Auf jeden Fall mußte Andrew seine Teilnahme an dem Finale zurückziehen, und danach schien die Luft aus seiner Karriere raus zu sein. Er hat zwar noch bei anderen Turnieren ein paar gute Boxer schlagen können, aber die Presse hatte das Interesse an ihm verloren, und die Profiagenturen haben sich nie wieder blicken lassen.
Schließlich hat er nicht mehr auf Turnieren geboxt, ein neuerliches Gerücht behauptete, er trinke, und nach einer Tournee an der Westküste bat man ihn, bei Chivers aufzuhören, wahrscheinlich weil er es ein paar Amateuren zu heftig gezeigt hatte. Danach verschwand Andrew, es ist schwierig, von ihm etwas über diese Zeit zu erfahren, aber er ist wohl irgendwie ein paar Jahre lang ohne richtiges Ziel durch Australien getingelt, bevor er wieder an der Universität zu studieren begann.«
»Mit dem Boxen hat er also aufgehört?« fragte Harry.
»Ja«, antwortete Toowoomba.
»Und wie ist es dann weitergegangen?«
»Tja.« Toowoomba signalisierte der Bedienung, daß er gerne die Rechnung haben wollte. »Andrew war, nachdem er sein Studium wiederaufgenommen hatte, wohl motivierter als zuvor, und eine Weile ging es gut. Aber inzwischen waren die siebziger Jahre angebrochen, die Hippiezeit, die Zeit der Partys und der freien Liebe, und es ist gut möglich, daß er da verbotene Sachen in zu großen Mengen konsumiert hat. Die Stoffe erwiesen sich als langfristig nicht sonderlich leistungsfördernd, und die Examen fanden ja trotzdem statt.«
Er schmunzelte vor sich hin.
»Also, eines Tages erwachte Andrew, stand auf, schaute in den Spiegel und zog ein Fazit. Er hatte einen gewaltigen Kater, ein blaues Auge, dessen Herkunft ihm ein vollkommenes Rätsel war, war inzwischen über dreißig, ohne ein einziges Examen und ein vermutlich steigendes Abhängigkeitsverhältnis zu gewissen chemischen Substanzen. Hinter ihm lag eine gescheiterte Boxkarriere und vor ihm, gelinde gesagt, eine unsichere Zukunft. Und was machst du dann? Du bewirbst dich bei der Polizei.«
Harry lachte.
»Ich zitiere lediglich Andrew«, sagte Toowoomba. »Erstaunlicherweise wurde er trotz seines Vorstrafenregisters und des hohen Alters angenommen, vielleicht, weil die Regierung sich einen höheren Anteil an Aborigines bei der Polizei wünschte. Andrew schnitt sich also die Haare ab, nahm den Ring aus dem Ohr und verzichtete auf die Chemikalien. Den Rest kennst du. Als Karrieremensch ist er natürlich untauglich, aber er gilt trotzdem als einer der besten Ermittler in ganz Sydney.«
»Zitierst du noch immer Andrew?«
Toowoomba lachte.
»Natürlich.«
Auf der Bühne hinten lief das Finale der täglichen Stripteaseshow mit »Y.M.C.A.« von den Village People, ein sicherer Erfolgssong.
»Du weißt viel über Andrew«, sagte Harry.
»Andrew ist für mich fast wie ein Vater«, sagte Toowoomba. »Als ich nach Sydney zog, hatte ich keine anderen Pläne, als möglichst weit von zu Hause wegzukommen. Ich wurde von Andrew buchstäblich auf der Straße aufgelesen, und er begann mich und ein paar andere Jungs, die in der Gosse gelandet waren, zu trainieren. Er war es auch, der mich dazu brachte, wieder an der Universität anzufangen.«
»Oha, noch ein studierter Boxer?«
»Englisch und Geschichte. Mein Traum ist es, eines Tages mein Volk zu unterrichten.« Er sagte das mit Überzeugung und Stolz.
»Und bis dahin willst du besoffenen Seeleuten und Bauerntölpeln den Mist aus dem Hirn klopfen?«
Toowoomba lächelte.
»Man braucht Startkapital, um es in dieser Welt zu etwas zu bringen, und ich habe nicht die Illusion, als Lehrer viel zu verdienen. Aber ich boxe nicht nur gegen Amateure. Ich habe mich für die australische Meisterschaft in diesem Jahr angemeldet.«
»Um den Titel zu bekommen, den Andrew nie erhalten hat?«
Toowoomba hob sein Glas, um anzustoßen.
»Vielleicht.«
Nach der Show begann es sich an der Bar zu lichten. Birgitta hatte gesagt, sie hätte heute abend eine Überraschung für Harry, und er wartete ungeduldig, daß das Albury endlich schloß.
Toowoomba saß noch immer am Tisch. Er hatte bezahlt, und jetzt saß er da und drehte sein Bierglas in der Hand. Harry hatte ganz plötzlich das unbestimmte Gefühl, daß Toowoomba etwas wollte, etwas anderes, als alte Geschichten zu erzählen.
»Seid ihr in der Sache, wegen der du hier bist, weitergekommen, Harry?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Harry, und das stimmte. »Manchmal hat man das Gefühl, daß man etwas mit dem Fernglas sucht und die Lösung so nah liegt, daß man nichts anderes wahrnimmt als einen unscharfen Fleck auf der Linse.«
»Oder daß man in die falsche Richtung schaut.«
Harry schaute ihn an, während er den Rest seines Glases herunterkippte.
»Ich muß gehen, Harry, aber laß mich dir erst noch eine Geschichte erzählen, die deine Kenntnis über unsere Kultur vielleicht ein wenig erweitert. Hast du schon einmal von der black snake gehört?«
Harry nickte. Er hatte etwas über die Reptilien gelesen, vor denen man sich in Australien in acht nehmen mußte. Wenn er sich richtig erinnerte, war die black snake nicht sonderlich groß, dafür aber um so giftiger.
»Das ist richtig. Aber wenn man der Fabel glaubt, war das nicht immer so. Vor langer, langer Zeit, in der Zeit der Träume, war die black snake eine ungefährliche Schlange. Statt dessen war die Guana- Echse giftig und viel größer als heute. Sie fraß Menschen und Tiere, und eines Tages rief das Känguruh alle Tiere zusammen, um zu beraten, wie sie den gierigen Mörder – Mungoongali, den Häuptling der Guana-Echsen – beseitigen konnten. Ouyouboolooey – black snake – die furchtlose, kleine Schlange, erklärte sich sofort bereit, die Aufgabe zu übernehmen.«
Toowoomba saß leicht zurückgelehnt und erzählte mit leiser, ruhiger Stimme, sein Blick aber war dabei fest auf Harry gerichtet.
»Die anderen Tiere lachten über die kleine Schlange und sagten, daß man wohl größer und stärker sein müsse, um gegen Mungoongali zu kämpfen. ›Wartet nur ab und schaut zu‹, sagte Ouyouboolooey und machte sich schlängelnd in Richtung des Lagers des Echsen- Häuptlinges auf. Dort angekommen, grüßte sie das riesige Exemplar einer Echse und sagte, sie sei ja nur eine kleine Schlange, kein sonderlich appetitlicher Leckerbissen, und sie suche nach einem Ort, wo sie von all den anderen Tieren, die sie nur aufzögen und ärgerten, in Ruhe gelassen würde. ›Paß auf, daß du nicht im Weg bist, sonst wird es dir übel ergehen‹, sagte Mungoongali und sah nicht so aus, als interessiere ihn die kleine Schlange. Am nächsten Morgen ging Mungoongali auf die Jagd, und Ouyouboolooey schlich ihm nach. An einem Lagerfeuer saß ein Reisender. Er konnte nicht einmal mehr mit den Augen zwinkern, da hatte Mungoongali schon mit einem gewaltigen, gutgezielten Schlag seinen Schädel zerschmettert. Dann schleppte die Echse ihn auf dem Rücken zurück zu ihrem Lager, wo sie ihre Gifttasche aus dem Maul nahm und begann, das frische Menschenfleisch zu verzehren. Rasch wie ein Blitz sprang Ouyouboolooey herbei, riß die Gifttasche an sich und verschwand in den Büschen. Mungoongali rannte ihr nach, aber er konnte die kleine Schlange nicht finden. Die anderen Tiere berieten noch immer, als Ouyouboolooey zurückkam.
›Seht her‹, schrie sie und riß ihr Maul auf, so daß alle die Gifttasche sehen konnten. Alle Tiere scharten sich um die kleine Schlange und gratulierten ihr dazu, sie vor Mungoongali bewahrt zu haben. Als die anderen nach Hause gegangen waren, ging das Känguruh zu Ouyouboolooey und sagte, daß sie jetzt das Gift in den Fluß spucken solle, so daß sie alle für immer gut schlafen könnten. Doch Ouyouboolooey antwortete, indem sie zubiß, woraufhin das Känguruh gelähmt zu Boden fiel.
›Ihr habt mich immer alle verachtet, jetzt bin ich einmal an der Reihe‹, sagte Ouyouboolooey zu dem toten Känguruh. ›Solange ich dieses Gift habe, werdet ihr euch mir nicht mehr nähern können. Keines der anderen Tiere wird erfahren, daß ich noch im Besitz des Giftes bin. Sie werden glauben, daß ich, Ouyouboolooey, ihr Retter und Beschützer bin, während ich mich in aller Ruhe an jedem einzelnen werde rächen können.‹ Mit diesen Worten schob sie das Känguruh in den Fluß, in dem es verschwand. Sie selbst schlängelte sich wieder unter die Büsche. Und dort findest du sie noch heute. In den Büschen.«
Toowoomba trank die Luft aus seinem leeren Glas und stand auf.
»Es ist spät geworden.«
Auch Harry stand auf. »Danke für die Geschichte, Toowoomba. Ich werde bald abreisen, also für den Fall, daß ich dich nicht mehr sehe, viel Glück für die Meisterschaft. Und für deine Zukunftspläne.«
Er fragte sich selbst, wann er es endlich lernen würde, als Toowoomba seinen Händedruck erwiderte. Seine Hand fühlte sich wie ein Stück mürbes Fleisch an.
»Ich hoffe, du findest heraus, was die Gläser unscharf macht«, sagte Toowoomba. Er war bereits gegangen, als Harry verstand, wie er das meinte.
Der Wachmann gab Birgitta eine Taschenlampe.
»Du weißt, wo du mich finden kannst, Birgitta. Paß auf, daß ihr nicht aufgefressen werdet«, sagte er und hinkte lächelnd zurück in sein kleines Aufsichtsbüro.
Birgitta und Harry gingen in beinahe völliger Finsternis durch die langen, geschwungenen Korridore des gewaltigen Aquariums in Sydney. Es war fast zwei Uhr in der Nacht, aber Ben, der Wachmann, hatte sie hereingelassen.
Eine beiläufige Frage von Harry, warum denn alle Lichter ausgeschaltet seien, hatte zu einem längeren Vortrag des betagten Wächters geführt.
»Natürlich spart das Strom, aber darum geht es eigentlich nicht – das Wichtigste ist, daß die Fische wissen, daß es Nacht ist. Glaube ich jedenfalls. Früher haben wir das Licht ganz normal ausgeschaltet, und man konnte den Schock hören, wenn es ganz plötzlich vollkommen dunkel war. Es ging wie ein Rauschen durch das ganze Aquarium, das Geräusch Hunderter von Fischen, die in plötzlicher Aufregung ein Versteck suchten oder in blinder Panik einfach davonzuschwimmen versuchten.«
Ben senkte seine Stimme dramatisch und zeichnete die Zickzackbewegung der Fische mit seinen Händen nach.
»Es platschte und schwappte noch ein paar Minuten danach. Und einige Fischarten, die Makrelen zum Beispiel, verhielten sich vollkommen verrückt, wenn das Licht gelöscht wurde. Sie klatschten mit voller Wucht an die Scheibe, so daß manche von ihnen starben. Deshalb haben wir uns dann Dimmer angeschafft, die das Licht parallel zum schwächer werdenden Tageslicht langsam dämpfen, um die Nacht zu imitieren. Danach gab es unter den Fischen auch weniger Krankheiten. Das Licht zeigt dem Körper an, wann es Tag und wann es Nacht ist, und ich persönlich glaube, daß die Fische einen natürlichen Tagesrhythmus brauchen, um nicht zu sehr unter Streß zu stehen. Sie haben genau wie wir eine biologische Uhr, und daran sollte man nicht herumfingern. Ich weiß, daß es unter den Fischzüchtern, zum Beispiel denen, die unten auf Tasmanien Barramundis großziehen, einige gibt, die den Fischen im Herbst mehr Licht geben. Die Fische sollen glauben, daß es noch Sommer ist und deshalb mehr laichen.«
»Ben redet gerne und lang, wenn er sich erst einmal auf ein Thema eingeschossen hat«, erklärte Birgitta. »Es macht ihm fast genausoviel Spaß mit den Menschen zu reden wie mit seinen Fischen.« Sie hatte während der letzten zwei Sommer als Aushilfskraft im Aquarium gearbeitet und sich dabei mit Ben angefreundet, der, seinen eigenen Angaben nach, seit der Eröffnung des Aquariums dort arbeitete.
»Nachts ist es hier so unglaublich friedlich«, sagte Birgitta. »Bleib stehen! Dort!« Sie leuchtete mit der Lampe an eine Glaswand, hinter der eine gelbschwarze Muräne ihr Versteck verließ und ihnen eine Reihe kleiner scharfer Zähne präsentierte. Etwas weiter hinten im Gang leuchtete sie auf zwei gefleckte Stachelrochen, die hinter dem grünen Glas mit Bewegungen wie Flügelschlägen in Zeitlupe durch das Wasser schwebten. »Ist das nicht wunderbar?« flüsterte sie mit glänzenden Augen. »Wie ein Ballett ohne Musik.«
Harry hatte das Gefühl, durch einen Schlafsaal zu schleichen. Die einzigen Geräusche waren ihre Schritte und ein gleichmäßiges, leises Blubbern in den Aquarien.
Vor einer großen Glaswand blieb Birgitta stehen. »Und hier haben wir den Saltie des Aquariums, Matilda aus Queensland«, sagte sie und leuchtete mit der Lampe auf die Glaswand. Dahinter lag in einem rekonstruierten Flußbett ein ausgetrockneter Stamm. In dem davorliegenden Bassin trieb ein großes Holzstück.
»Was ist ein Saltie?« fragte Harry und versuchte hinter der Glasscheibe etwas Lebendiges zu erkennen. In diesem Augenblick hob das Holzstück die Lider, und zwei grünschimmernde Augen kamen zum Vorschein. Sie reflektierten das Licht im Dunkeln.
»Das ist ein Krokodil, das im Salzwasser lebt, im Gegensatz zu den Freshies. Die Freshies ernähren sich fast ausschließlich von Fischen. Vor denen braucht man keine Angst zu haben.«
»Und die Salties?«
»Vor denen solltest du wirklich Angst haben. Manche sogenannten gefährlichen Raubtiere greifen Menschen nur an, wenn sie sich bedroht fühlen, wenn sie Angst haben oder man in ihr Territorium eingedrungen ist. Ein Saltie aber ist eine einfache, unkomplizierte Seele. Den interessiert nur dein Körper. In den Sumpfgebieten im Norden werden jedes Jahr viele Australier von Krokodilen getötet.«
Harry lehnte sich an die Glaswand.
»Führt das denn nicht zu einer gewissen … äh … Antipathie? In manchen Gegenden in Indien hat man die Tiger ausgerottet, weil die angeblich Säuglinge fraßen. Warum sind diese Menschenfresser nicht ausgerottet worden?«
»Hier unten haben die meisten ein ebenso entspanntes Verhältnis zu Krokodilen wie zu Autounfällen. Na ja, jedenfalls fast. Wenn man Straßen will, muß man halt damit rechnen, daß manch einer darauf ums Leben kommt, nicht wahr? Nun ja, und wenn man Krokodile will, dann ist das eben genauso. Diese Tiere fressen Menschen, das ist nun einmal so.«
Harry schauderte es. Matilda hatte ihre Lider wieder wie die Lichtklappen eines Porsche geschlossen. Nicht eine Bewegung an der Wasseroberfläche verriet, daß das Holzstück, das einen halben Meter von ihm entfernt hinter der Glasscheibe lag, in Wirklichkeit aus zwei Tonnen Muskeln, Zähnen und schlechter Laune bestand.
»Laß uns weitergehen«, schlug Harry vor.
»Hier haben wir Mr. Bean«, sagte Birgitta und leuchtete zu einem kleinen, braunen, flunderartigen Fisch hinein. »Das ist ein Fiddler Ray, so nennen wir auch Alex an der Bar, den Inger Mr. Bean nannte.«
»Warum Fiddler Ray?«
»Ich weiß nicht. Der hieß schon so, als ich hier angefangen habe.«
»Ein vornehmer Name. Der scheint gerne unten am Boden zu liegen?«
»Ja, und darum solltest du dich beim Baden in acht nehmen. Der ist nämlich giftig und sticht, wenn du auf ihn trittst.«
Sie gingen eine geschwungene Treppe hinunter, bis sie zu einem der großen Tanks kamen.
»Die Tanks sind eigentlich im herkömmlichen Sinn keine richtigen Aquarien, da ist einfach ein Teil des Port Jackson eingezäunt worden«, sagte Birgitta, als sie weitergingen.
Von der Decke fiel ein schwaches, grünliches Licht in wellenartigen Streifen auf sie herab. Es glitt über Birgittas Körper und ihr Gesicht. Harry hatte das Gefühl, unter der Kristallkugel einer Diskothek zu stehen. Erst jetzt richtete sie die Taschenlampe zur Decke, und Harry erkannte, daß er auf allen Seiten von Wasser umgeben war. Sie standen in einem gläsernen Tunnel unter dem Meer, und das Licht kam von außen und wurde durch das Wasser gefiltert. Ein großer Schatten glitt ganz nah an ihnen vorbei, und Harry zuckte unwillkürlich zusammen. Birgitta lachte und richtete den Lichtkegel der Taschenlampe auf einen riesigen Rochen mit einem gewaltigen Schwanz, der an der Glaswand vorbeischwamm.
»Mobulidae«, sagte sie. »Teufelsrochen.«
»Mein Gott, so etwas Riesiges!« flüsterte Harry.
Der Rochen war eine einzige, wellenartige Bewegung, wirkte wie ein endloses Wasserbett, und Harry wurde allein von dem Anblick müde. Dann drehte der Rochen um, neigte sich zur Seite, winkte ihnen zu und entschwebte wie ein schwarzes Gespenst in die dunkle Wasserwelt.
Sie setzten sich auf den Boden, und Birgitta breitete eine Decke aus, holte zwei Gläser aus ihrem Rucksack, eine Kerze und eine Flasche Rotwein ohne Etikett. Das Geschenk von einem Freund, der auf einem Weingut im Hunter Valley arbeitete, erklärte sie und öffnete die Flasche. Dann legten sie sich nebeneinander auf die Decke und schauten nach oben ins Wasser.
Es war, wie in einer auf den Kopf gestellten Welt zu liegen, wie in einen umgestürzten Himmel zu blicken, mit Fischen in allen Regenbogenfarben und merkwürdigen Geschöpfen, die jemandem mit allzu wilder Phantasie eingefallen sein mußten. Ein blauschimmernder Fisch mit einem fragenden Mondgesicht blieb direkt über ihnen mit schwach vibrierenden Brustflossen stehen.
»Ist es nicht wunderbar, wieviel Zeit sie sich nehmen, wie ziellos ihre Beschäftigung zu sein scheint?« flüsterte Birgitta. »Spürst du, wie sie die Zeit bremsen?« Sie legte eine kalte Hand auf Harrys Hals und drückte leicht zu.
»Spürst du, wie dein Puls fast zu schlagen aufhört?«
Harry mußte schlucken.
»Ich habe nichts dagegen, wenn die Zeit nur langsam verrinnt. Jetzt nicht«, sagte er, »nicht in den nächsten paar Tagen.«
Birgitta drückte fester zu.
»Rede jetzt nicht davon«, sagte sie.
»Manchmal denke ich: ›Harry du bist, verdammt noch mal, doch nicht so blöd.‹ Ich hab zum Beispiel gemerkt, daß Andrew von Aborigines immer als ›die‹, daß er über sein eigenes Volk in der dritten Person spricht. Deshalb habe ich mir schon eine ganze Menge über seine persönliche Geschichte zusammengereimt, bevor Toowoomba mir die konkreten Details erzählt hat. Ich hätte wirklich getippt, daß Andrew nicht bei seiner Familie aufgewachsen ist, daß er irgendwie nirgendwo richtig zu Hause ist, sondern an der Oberfläche dahintreibt und die Dinge von außen betrachtet. So wie wir jetzt hier sitzen und eine Welt betrachten, an der wir selbst nicht teilhaben können. Nach dem Gespräch mit Toowoomba war mir noch einiges mehr klar: Andrew wurde keineswegs der natürliche Stolz in die Wiege gelegt, den man als Mitglied eines bestimmten Volkes hat, sondern er mußte sich seinen eigenen schaffen. Zuerst glaubte ich, er schäme sich für seine Brüder, aber jetzt verstehe ich, daß es seine eigene Scham ist, gegen die erkämpft.«
Birgitta murmelte etwas, aber Harry fuhr fort:
»Manchmal glaube ich, daß ich teilweise verstehe. Aber nur, um dann im nächsten Augenblick wieder in die große Verwirrung zu stürzen. Ich mag diese Verwirrung nicht, ich kann sie nicht akzeptieren. Deshalb wünschte ich mir, ich hätte entweder nicht diese Gabe, Details wahrzunehmen, oder aber ich besäße die Fähigkeit, diese Bruchstücke zu einem Bild zusammenzusetzen, das Sinn macht.« Er drehte sich zu Birgitta und begrub sein Gesicht in ihren Haaren.
»Es ist einfach ein Fehler von Gott, einen Menschen von so geringer Intelligenz mit einer so ausgeprägten Beobachtungsgabe auszustatten«, sagte er und versuchte herauszufinden, woran ihn der Geruch von Birgittas Haaren erinnerte. Aber es lag so lange zurück, daß er es vergessen haben mußte.
»Also, was glaubst du zu erkennen?« fragte sie.
»Daß alle versuchen, auf etwas hinzuweisen, das ich nicht begreife!«
»Was denn?«
»Ich weiß es nicht. Sie sind wie Frauen, erzählen mir eine Geschichte, die etwas ganz anderes bedeuten soll. Wahrscheinlich ist das, was zwischen den Zeilen steht, überdeutlich zu erkennen, aber ich habe eben, wie gesagt, nicht den Blick dafür. Warum könnt ihr Frauen nicht einfach sagen, was ihr wollt? Ihr überschätzt die männliche Interpretationsgabe.«
»Willst du mir jetzt die Schuld geben?« rief sie lachend und schlug nach ihm. Das Echo rollte durch den unterirdischen Tunnel.
»Psst, weck nicht das Seeungeheuer«, sagte Harry.
Es dauerte eine Weile, bis Birgitta sah, daß er sein Weinglas nicht angerührt hatte.
»Ein kleines Glas Wein kann doch nicht schaden?« sagte sie.
»Doch«, erwiderte Harry, »das kann es.« Er zog sie lächelnd an sich. »Aber rede nicht davon.« Dann küßte er sie, und sie atmete ganz tief ein, als habe sie eine Ewigkeit auf diesen Kuß gewartet.
Harry schreckte auf. Die Kerze war ausgegangen, und es war stockfinster. Er wußte nicht, woher das grüne Licht im Wasser gekommen war, ob es der Mond über Sydney oder die Scheinwerfer am Hafen waren, auf jeden Fall aber war es jetzt verschwunden. Trotzdem hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er tastete neben Birgitta, die sich nackt und mit zufriedener Miene in ihren Teil der Wolldecke gewickelt hatte, nach der Taschenlampe und richtete den Lichtkegel auf die Glaswand. Zuerst glaubte er, sein eigenes Spiegelbild zu sehen, doch dann gewöhnten sich seine Augen an das Licht, und er spürte, wie sein Herz einen letzten donnernden Schlag tat, bevor es einfror. Das Seeungeheuer stand direkt neben ihm und blickte ihn mit kalten, leblosen Augen an. Harry ging die Luft aus, und die Scheibe vor dem blassen wäßrigen Gesicht beschlug. Es war wie das Gespenst eines ertrunkenen Mannes, nur so groß, daß es den ganzen Tank auszufüllen schien. Die Zähne ragten aus seinem Kiefer hervor und sahen wie von einem Kind gemalt aus, eine Zickzacklinie dreikantiger, weißer Dolche, die zufällig in zwei blutrünstigen Reihen angeordnet waren. Dann schwamm es hoch und über ihn hinweg, doch während der ganzen Zeit fixierten ihn die toten Augen, erstarrt in einem haßerfüllten Blick, ein weißer, leichenartiger Körper, der mit langsamen, schlängelnden Bewegungen an dem Lichtkegel vorbeiglitt und einfach kein Ende nehmen wollte.
»So, morgen wollen Sie also fahren?«
»Jawoll.« Harry saß mit einer Kaffeetasse auf dem Schoß da. Er wußte nicht so recht, wo er sie hinstellen sollte. McCormack stand hinter seinem Schreibtisch auf und begann vor dem Fenster auf und ab zu gehen.
»Sie glauben also, wir sind noch weit davon entfernt, den Fall aufzuklären? Sie glauben, wir haben es wirklich mit irgendeinem Psychopathen dort draußen zu tun, einem gesichtslosen Mörder, der auf einen Impuls hin tötet, ohne Spuren zu hinterlassen, und daß wir nur warten können – und hoffen, daß er beim nächsten Mal einen Fehler macht?«
»Das habe ich nicht gesagt, Sir. Ich glaube nur, daß ich hier keinen Beitrag mehr leisten kann. Außerdem hat man mich angerufen und mir ausgerichtet, daß man mich in Oslo braucht.«
»Okay. Ich werden denen mitteilen, daß Sie sich hier gut geschlagen haben, Holy. Ich habe das so verstanden, daß man Sie zu Hause für eine Beförderung vorgeschlagen hat.«
»Mir hat noch niemand etwas gesagt, Sir.«
»Nehmen Sie sich den Rest des Tages frei und schauen Sie sich Sydney noch ein bißchen an, bevor Sie abreisen, Holy.«
»Vorher werde ich nur noch diesen Alex Tomaros überprüfen, damit ich sicher bin, daß er nichts mit der Sache zu tun hat, Sir.«
McCormack blieb vor dem Fenster stehen und blickte über ein bewölktes, quälend warmes Sydney.
»Manchmal sehne ich mich nach Hause, Holy. Hinüber zu der schönen Insel.«
»Sir?«
»Kiwi. Ich bin ein Kiwi, Holy. So werden die Leute aus Neuseeland hier genannt. Meine Eltern kamen hierher, als ich zehn Jahre alt war. Dort drüben sind die Menschen netter zueinander. So habe ich das wenigstens in Erinnerung.«
»Wir öffnen erst in ein paar Stunden«, brummte die Frau am Eingang müde und wedelte mit ihrem Lappen in der Hand.
»Das geht in Ordnung, ich habe einen Termin mit Mr. Tomaros«, sagte Harry und fragte sich, ob sie sich von einem norwegischen Polizeischild würde beeindrucken lassen. Es war nicht notwendig. Sie öffnete die Tür gerade so weit, daß Harry hineinschlüpfen konnte. Es roch nach abgestandenem Bier und Seife. Erstaunlicherweise wirkte das Albury bei Tageslicht und so ganz ohne Gäste viel kleiner.
Er fand Alex Tomaros, alias »Mr. Bean«, alias »Fiddler Ray« in seinem Büro hinter der Bar. Harry stellte sich vor.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Mr. Holy?« Tomaros sprach schnell und mit einem deutlichen Akzent, so wie es die Leute gerne tun, die schon eine ganze Weile in einem anderen Land leben – in ihrer fertig entwickelten Version der Sprache.
»Danke, daß ich Sie so kurzfristig sprechen kann, Mr. Tomaros. Ich weiß, daß Sie schon von den anderen über alles mögliche befragt worden sind, ich werde Sie also nicht länger damit aufhalten, nur …«
»Das ist gut, wie Sie sehen, habe ich allerhand zu tun, Rechnungen, wissen Sie …«
»Ich verstehe. Aus Ihren Aussagen entnehme ich, daß Sie an dem Abend, an dem Inger verschwand, hier die Abrechnung gemacht haben. Kann das jemand bestätigen?«
»Ich bin mir sicher, daß Sie, wenn Sie die Akten noch deutlicher studiert hätten, gesehen hätten, daß ich alleine war. Ich bin immer alleine …« Harry beobachtete Alex Tomaros' arrogantes Auftreten und seinen nassen, spuckenden Mund: das glaube ich, dachte er – »… wenn ich die Abrechnung mache. Mutterseelenalleine. Ja, wenn ich wollte, könnte ich diesen Laden hier um Hunderttausende betrügen, ohne daß jemand auch nur das Geringste davon bemerken würde.«
»Rein formal betrachtet haben Sie also kein Alibi für den Abend, an dem Inger Holter verschwand?«
Tomaros nahm seine Brille ab. »Rein formal betrachtet habe ich gegen zwei Uhr meine Mutter angerufen und ihr gesagt, daß ich auf dem Weg bin.«
»Formal betrachtet hätten Sie zwischen ein Uhr, als die Bar schloß, und zwei Uhr eine ganze Menge anstellen können, Mr. Tomaros. Ich will damit nicht sagen, daß ich irgendeinen Verdacht gegen Sie habe …«
Tomaros blickte ihn starr an.
Harry blätterte in dem leeren Notizbuch und tat so, als suche er etwas.
»Warum haben Sie überhaupt Ihre Mutter angerufen? Ist es nicht ein wenig ungewöhnlich, jemanden wegen einer so banalen Nachricht nachts anzurufen?«
»Meine Mutter möchte immer gerne wissen, wo ich bin. Die Polizei hat auch mit ihr gesprochen, ich verstehe also nicht, warum wir das alles jetzt noch einmal durchkauen müssen.«
»Sie sind Grieche, nicht wahr?«
»Ich bin Australier und wohne seit zwanzig Jahren hier. Mein Vater und meine Mutter sind wohl Griechen. Meine Mutter ist jetzt australische Staatsbürgerin. Sonst noch etwas?« Er hatte sich voll im Griff.
»Sie haben sich für Inger Holter auf eine etwas persönlichere Art interessiert. Wie haben Sie reagiert, als sie Sie abwies und andere Männer bevorzugte?«
Tomaros leckte sich die Lippen und wollte etwas sagen, hielt sich dann aber doch zurück. Die Zungenspitze kam erneut zum Vorschein. Wie bei einer kleinen Schlange, die alle verachten und von der alle glauben, sie sei harmlos.
»Miß Holter und ich haben darüber gesprochen, einmal gemeinsam zu essen, wenn Sie das meinen. Sie war nicht die einzige hier, die ich eingeladen habe, Sie können gerne eine der anderen befragen. Cathrine oder Birgitta zum Beispiel. Ich lege nämlich Wert auf ein gutes Verhältnis zu meinen Angestellten.«
»Ihre Angestellten?«
»Nun, formal gesehen bin ich …«
»Der Geschäftsführer, eben, und wie fanden Sie es, als ihr Liebhaber hier auftauchte?«
Tomaros' Fassade begann zu bröckeln.
»Inger hatte zu vielen Kunden ein gutes Verhältnis. Woher sollte ich da wissen, daß einer von ihnen ihr Geliebter war? Sie hatte also einen Geliebten? Wie schön für sie …«
Harry brauchte keine psychologischen Fähigkeiten, um Tomaros' Versuch, den Gleichgültigen zu spielen, zu durchschauen.
»Sie hatten also keine Ahnung, zu wem sie einen besonders guten Draht hatte, Tomaros?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Der Clown, natürlich, aber sein Interesse geht ja wohl eher in eine andere Richtung …«
»Der Clown?«
»Otto Rechtnagel, ein Stammgast. Sie hat ihm gewöhnlich Essen für …«
»… den Hund!« schrie Harry. Tomaros sprang aus seinem Stuhl auf. Harry stand auf und schlug mit der Faust in die offene Handfläche.
»Das ist es! Otto hat gestern an der Bar eine Tüte bekommen. Das waren Essensreste für den Hund! Ich erinnere mich jetzt auch daran, daß er mir gesagt hat, er habe einen Hund. Inger hat Birgitta an dem Abend, bevor sie ging, gesagt, daß sie noch Essensreste für den Hund mitnimmt, und wir haben die ganze Zeit geglaubt, die seien für den Hund ihres Vermieters bestimmt gewesen. Aber der tasmanische Teufel ist Vegetarier. Wissen Sie, was das für Reste waren? Und wo Rechtnagel wohnt?«
»Guter Gott, woher soll ich das denn wissen?« fragte Tomaros erschrocken. Er hatte seinen Stuhl ganz nach hinten an das Bücherregal geschoben.
»Okay, hören Sie mir zu. Sagen Sie nichts über dieses Gespräch, zu niemandem, nicht einmal Ihrer lieben Frau Mutter, sonst komme ich zurück und mache Sie einen Kopf kürzer. Haben Sie verstanden, Mr. Be … Tomaros?«
Alex Tomaros nickte nur.
»Und jetzt brauche ich Ihr Telefon.«
Der Ventilator knirschte jämmerlich, aber das bemerkte niemand im Zimmer. Alle hatten ihre Aufmerksamkeit auf Yong gerichtet, der eine Folie mit der Karte von Australien auf den Tageslichtprojektor gelegt hatte. Auf der Karte hatte er kleine rote Punkte und Daten eingezeichnet.
»Das sind die Orte und Zeiten der Vergewaltigungen, von denen wir glauben, daß sie unser Mann begangen hat«, sagte er. »Wir haben früher schon einmal vergeblich versucht, ein geographisches oder zeitliches Muster zu erkennen. Jetzt scheint Harry das aber für uns herausgefunden zu haben.«
Yong legte eine andere Folie mit derselben Karte über die erste. Auf ihr waren blaue Punkte eingezeichnet, die fast alle roten auf der Folie darunter abdeckten.
»Was ist das?« fragte Wadkins ungeduldig.
»Das haben wir aus dem Tourneeplan des Australian Travelling Showpark entnommen, eines umherreisenden Vergnügungsparks. Die Punkte zeigen, wo sie sich während der entsprechenden Daten aufgehalten haben.«
Der Ventilator fuhr mit seinem Klagelied fort, doch ansonsten war es vollkommen still im Raum.
»Heiliger Jeremias, wir haben ihn!« platzte Lebie heraus.
»Die Wahrscheinlichkeit, daß das ein Zufall ist, entspricht statistisch in etwa eins zu vier Millionen«, lächelte Yong.
»Moment, Moment, auf wessen Spur sind wir jetzt, wen suchen wir?« fiel Wadkins ein.
»Wir suchen nach diesem Mann«, sagte Yong und legte eine dritte Folie auf. Auf der Leinwand erschien ein schüchternes Lächeln in einem blassen, etwas aufgedunsenen Gesicht. Zwei traurige Augen schauten sie an. »Harry kann uns erzählen, um wen es sich hier handelt.«
Harry stand auf.
»Das ist Otto Rechtnagel, ein professioneller Clown, 42 Jahre alt, der in den letzten zehn Jahren mit dem Australian Travelling Showpark herumgereist ist. Wenn er nicht auf Reisen ist, wohnt er alleine hier in Sydney und arbeitet als Freelancer. Im Augenblick hat er eine kleine Zirkustruppe um sich geschart, die hier in der Stadt Vorstellungen gibt. Soweit wir informiert sind, hat er keine Vorstrafen, und er wurde früher auch noch nie im Zusammenhang mit Sexualverbrechen verdächtigt. Er gilt als ein gemütlicher, ruhiger Zeitgenosse, ist aber recht exzentrisch. Der springende Punkt ist, daß er die Ermordete kannte. Er ist Stammgast in dem Restaurant, in dem Inger Holter arbeitete, und sie haben sich wohl auch miteinander angefreundet. Sie war in der Nacht, in der sie ermordet wurde, vermutlich auf dem Weg zu Otto Rechtnagel. Mit Essensresten für seinen Hund.«
»Essenreste für den Hund?« lachte Lebie. »Um halb zwei Uhr nachts? Da wollte unser Clown doch vielleicht noch mehr, denke ich.«
»Und genau das ist das Komische an der Sache«, sagte Harry. »Otto Rechtnagel genießt, seit er zehn Jahre alt war, den Ruf eines hundertprozentigen Homosexuellen.«
Diese Auskunft wurde rund um den Tisch mit Gemurmel quittiert.
Wadkins stöhnte: »Glauben Sie, daß ein homosexueller Mann sieben Frauen ermordet und sechsmal so viele vergewaltigt haben kann?«
McCormack hatte den Raum betreten, er war vorher bereits informiert worden: »Wenn du ein Leben lang schwul warst und immer nur schwule Freunde hattest, ist es wohl nicht gerade unverständlich, daß du es mit der Angst bekommst, wenn du auf einmal bemerkst, daß es bei dem Anblick praller, wohlgeformter Busen in deinem kleinen Freund da unten plötzlich zu zucken beginnt. Zum Teufel noch mal, wir sind in Sydney, der einzigen Stadt der Welt, in der man als Hetero etwas Unnatürliches ist.«
McCormacks dröhnendes Lachen übertönte Yongs Gewieher, das seine Augen zu zwei kleinen, schmalen Schlitzen verformte.
Wadkins aber ließ sich nicht von der guten Stimmung mitreißen. Er kratzte sich am Kopf. »Trotzdem gibt es da einiges, das nicht paßt. Warum sollte sich jemand, der immer so kalt und berechnend war, plötzlich so bloßstellen? Ein Opfer auf diese Art zu sich nach Hause einzuladen … ich meine – er konnte ja nicht wissen, ob Inger jemandem sagen würde, wohin sie wollte. Das würde ja heißen, daß er uns selbst direkt zu sich leitet. Außerdem scheinen doch all die anderen Opfer zufällig ausgewählt worden zu sein. Warum sollte er seine Verhaltensweise auf einmal so grundlegend ändern und ein Mädchen nehmen, das er kennt?«
»Das einzige, was wir über diesen armen Kerl wissen, ist doch, daß er kein klares Muster hat«, sagte Lebie und hauchte einen seiner Ringe an. »Ganz im Gegenteil scheint er doch selbst die Variationen zu lieben. Abgesehen davon, daß die Opfer Blondinen sein müssen« – er putzte den Ring mit dem Ärmel seines Hemds – »und hinterher mit Vorliebe erwürgt werden.«
»Eins zu vier Millionen«, wiederholte Yong.
Wadkins seufzte.
»Okay, ich gebe auf. Vielleicht sind unsere Gebete ganz einfach erhört worden. Vielleicht hat er endlich diesen Fehler gemacht.«
»Was werdet ihr jetzt tun?« fragte McCormack.
Harry ergriff das Wort. »Otto Rechtnagel wird wohl kaum zu Hause sein, heute abend ist die Premiere eines neuen Programmes seiner Zirkustruppe am Bondi Beach. Ich schlage vor, daß wir dort hingehen, ihn auftreten lassen und unmittelbar nach der Vorstellung festnehmen.«
»Ich glaub, unser norwegischer Freund hat einen Hang zum Dramatischen«, sagte McCormack.
»Wenn die Vorstellung abgebrochen werden muß, haben wir sofort die Medien auf dem Hals, Sir.«
McCormack nickte leicht. »Wadkins?«
»Für mich ist das in Ordnung, Sir.«
»Okay, holt ihn euch, Jungs.«
Andrew hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen und sah aus, als liege er in einem Ausstellungsbett. Die Schwellungen in seinem Gesicht hatten ein interessantes Farbspektrum angenommen. Seine Züge verzogen sich voller Schmerzen, als er versuchte, Harry zuzulächeln.
»Mein Gott, tut es so weh zu lächeln?« fragte Harry.
»Alles tut weh. Es tut sogar weh zu denken«, brummte Andrew mürrisch.
Auf seinem Nachtschränkchen stand ein Blumenstrauß.
»Von einer heimlichen Verehrerin?«
»Nenn es, wie du willst. Er heißt Otto. Und morgen kommt mich Toowoomba besuchen, und heute bist du da. Es tut gut, sich geliebt zu fühlen.«
»Ich habe dir auch etwas mitgebracht. Gönn sie dir, wenn es niemand sieht.« Harry hielt eine dicke, schwarze Zigarre hoch.
»Ah, Madura. Natürlich. Von meinem geliebten norwegischen Amarillo!« Andrew strahlte und lachte so vorsichtig wie es nur ging.
»Wie lange kenne ich dich jetzt, Andrew?«
Andrew streichelte die Zigarre wie ein Katzenjunges.
»Schon ein paar Tage, mate. Man kann uns bald als Brüder betrachten.«
»Und wie lange, glaubst du, braucht man, um einen Menschen richtig zu kennen?«
»Richtig kennen?« Andrew schnupperte voller Begeisterung an der Zigarre.
»Nun, Harry, die ausgetretensten Wege in dem großen, dunklen Wald lernt man recht schnell kennen. Manche Menschen haben gute, gerade Wege, Straßenlaternen und sogar Schilder. Die scheinen dir alles erzählen zu wollen. Aber gerade da sollte man am vorsichtigsten sein. Denn auf den hell erleuchteten Wegen findet man nicht die Tiere des Waldes, die sind draußen in den dornigen Sträuchern und Büschen.«
»Und wie lange braucht man, bis man sich mit all dem vertraut gemacht hat?«
»Das kommt darauf an, wer dort geht. Und auf den Wald. Manche Wälder sind dunkler als andere.«
»Und wie sieht dein Wald aus?« fragte Harry.
Andrew versteckte die Zigarre in seinem Nachtschränkchen.
»Dunkel, dunkel wie eine Madura-Zigarre.« Er blickte Harry an.
»Aber das weißt du doch schon …«
»Ich habe mit einem Freund über dich gesprochen, der ein wenig mehr Licht in das Dunkel rund um Andrew Kensington gebracht hat, ja.«
»Nun, dann weißt du ja, worüber ich spreche. Sich nicht von den hell erleuchteten Pfaden täuschen zu lassen. Aber bei dir gibt es doch wohl auch ein paar dunkle Flecken, so daß ich dir wohl nichts erklären muß.«
»Wie meinst du das?«
»Laß es mich so sagen: Ich sehe in dir einen Mann, der mit gewissen Dingen aufgehört hat. Mit dem Trinken, zum Beispiel.«
»Das trifft wohl auf alle zu«, murmelte Harry.
»Alles, was man hinter sich gelassen hat, hinterläßt Spuren, nicht wahr? Das Leben, das man gelebt hat, ist wie ein Buch für denjenigen, der es zu lesen weiß.«
»Und du kannst es lesen?«
Andrew legte seine schwere Faust auf Harrys Schulter. Er war beeindruckend schnell munter geworden.
»Ich mag dich, Harry. Du bist mein Freund. Ich glaube, du weißt, worum es geht, also suche nicht am falschen Ort. Ich bin nur eine der vielen Millionen einsamen Seelen, die versuchen, auf dieser Erdkugel zurechtzukommen. Ich versuche, mich ohne zu viele fatale Fehler durchzuschlagen. Manchmal gelingt es mir dabei auch, so weit oben zu sein, daß ich versuchen kann, etwas Gutes zu tun. Das ist alles. Ich bin hier nicht wichtig, Harry. Mich richtig zu kennen führt nirgendwo hin. Zum Teufel noch mal, ich selbst will ja gar nicht alles über mich wissen!«
»Warum nicht?«
»Wenn dein eigener Wald so dunkel ist, daß man sich darin nicht einmal selbst richtig auskennt, ist es wohl besser, nicht allzuviel auf Entdeckungsreise zu gehen. Sonst stürzt man noch einen Abhang hinunter.«
Harry nickte, blieb sitzen und betrachtete die Blumen.
»Glaubst du an Zufälle?« fragte er.
»Tja«, sagte Andrew, »das Leben besteht doch aus einer zusammenhängenden Reihe ganz unwahrscheinlicher Zufälle. Wenn du ein Los kaufst und zum Beispiel die Losnummer 822531 hast, ist die Chance, daß gerade diese Nummer kommt, etwa eins zu einer Million.«
Harry nickte wieder. »Was mich quält«, sagte er, »ist die Tatsache, daß ich diese Losnummer jetzt ein paarmal zu oft gezogen habe.«
»Aha?« Andrew richtete sich mit einem Stöhnen im Bett auf. »Erzähl es dem Onkel!«
»Kaum bin ich in Sydney, erfahre ich, daß du eigentlich gar nicht an diesem Fall arbeiten solltest, daß du aber darauf bestanden hast, den Inger-Holter-Fall zu übernehmen und dann noch speziell darum gebeten hast, mit mir, dem Ausländer, zusammenzuarbeiten. Schon da hätte man durchaus die eine oder andere Frage stellen können. Das nächste, was du gemacht hast, war, mir unter dem Vorwand, mit einer mittelmäßigen Zirkusnummer die Zeit totzuschlagen, einen deiner Freunde vorzustellen. Sydney hat vier Millionen Einwohner, und ich lerne an diesem Abend hier diesen Typ kennen. Einen Menschen! Einen aus vier Millionen! Und der gleiche Kerl taucht dann wieder auf, ja, wir gehen sogar eine höchst persönliche Wette um hundert Dollar ein, aber der Knackpunkt ist, daß er in der Bar auftaucht, in der Inger Holter gearbeitet hat und er sie noch dazu kannte! Auch hier wieder: einer unter vier Millionen. Und während wir versuchen, einen möglichen Mörder einzukreisen, nämlich Evans White, tauchst du plötzlich mit einem Informanten auf, der White gesehen haben will, einen von achtzehn Millionen Menschen auf diesem Kontinent, ein Informant, der sich ganz zufällig genau an diesem Abend in Nimbin aufgehalten hat!«
Andrew sah aus, als sei er in tiefe Gedanken versunken. Harry fuhr fort: »Es ist wohl ganz natürlich, daß du mir die Adresse von dem Pub gibst, in dem Evans Whites Clique rein zufällig zu den Stammgästen zählt, so daß diese unter Druck die Geschichte bestätigen können, die ich glauben soll, nämlich, daß Evans White nichts damit zu tun hat.«
Zwei Krankenschwestern waren hereingekommen, und eine hatte das Fußende des Bettes gepackt. Die andere sagte freundlich aber bestimmt: »Entschuldigung, aber die Besuchszeit ist vorüber. Mr. Kensington muß zum EEG, die Ärzte warten.«
Harry lehnte sich zu Andrews Ohr hinunter:
»Ich bin bestenfalls nur ein durchschnittlich intelligenter Mann, Andrew. Aber ich begreife, daß du mir etwas erzählen willst. Ich verstehe nur nicht, warum du mir das nicht einfach sagen kannst. Und wofür du mich brauchst. Gibt es jemanden, der dich unter Druck setzt?«
Er trippelte neben dem Bett her, aber die Krankenschwestern schoben es resolut durch die Tür auf den Flur. Andrew hatte den Kopf auf das Kissen gelegt und die Augen geschlossen.
»Harry, du hast gesagt, daß Weiße und Aborigines deshalb auf ähnliche Geschichten über die ersten Menschen gekommen sind, weil wir die gleichen Schlüsse ziehen, wenn wir etwas nicht wissen, daß es fast so etwas wie angeborene Gedankengänge gibt. Auf der einen Seite ist das wahrscheinlich das Dümmste, was ich jemals gehört habe, auf der anderen aber hoffe ich, daß du recht hast. Und in diesem Fall gilt es einfach, die Augen zu schließen und zu sehen …«
»Andrew!« Harry fauchte beinahe in Andrews Ohr. Sie hatten vor einem Lastenaufzug angehalten, und eine der Krankenschwestern öffnete die Tür.
»Veranstalte jetzt keine Spielchen mit mir, Andrew, hörst du! Ist es Otto? Ist es Otto Bubbur?«
Andrew schlug die Augen auf.
»Wie …«
»Wir verhaften ihn heute abend, Andrew, nach der Vorstellung.«
»Nein!« Andrew richtete sich im Bett ein Stück auf, doch eine der Krankenschwestern drückte ihn vorsichtig aber bestimmt wieder in die Kissen.
»Der Arzt hat Ihnen gesagt, daß Sie ganz ruhig liegen sollen, Mr. Kensington. Denken Sie daran, daß Sie eine schwere Gehirnerschütterung haben.« Sie drehte sich zu Harry um: »Sie können nicht weiter mitgehen.«
Andrew rappelte sich im Bett noch einmal auf.
»Noch nicht, Harry! Gib mir zwei Tage. Noch nicht! Versprich mir, daß ihr zwei Tage wartet! Ach Scheiße, Schwester!«
Er schlug die Hand zur Seite, die ihn wieder nach unten drücken wollte.
Harry stand am Kopfende und hielt das Bett fest. Er beugte sich hinunter und flüsterte schnell und entschieden, indem er fast jedes Wort einzeln ausspuckte:
»Bis jetzt weiß niemand von den anderen, daß Otto dich kennt, aber das ist natürlich nur noch eine Frage der Zeit. Sie werden anfangen, über deine Rolle in dem Ganzen nachzudenken, Andrew. Ich kann diese Festnahme nicht aufhalten, wenn du mir nicht einen verdammt guten Grund dafür gibst, und zwar jetzt auf der Stelle!«
Andrew packte Harrys Jackenkragen: »Du mußt genauer hinschauen, benutze deine Augen! Sieh doch, daß …«, begann er, brach dann aber ab und sank in die Kissen zurück.
»Was?« versuchte Harry zu fragen, aber Andrew hatte die Augen geschlossen und machte eine ablehnende Handbewegung. Er sah plötzlich so alt und klein aus, dachte Harry. Alt, klein und schwarz in einem großen, weißen Bett.
Eine der Schwestern schob Harry zur Seite, und das letzte, was er sah, bevor sich die Türen des Fahrstuhls schlossen, war Andrews große schwarze Hand, die noch immer winkte.
Am Bondi Beach hatte sich ein dünner Wolkenschleier vor die Nachmittagssonne geschoben. Der Strand begann sich zu leeren und ein gleichmäßiger Strom von Menschen, der Australiens berühmte und glamourösen Strände bevölkert, kam ihnen entgegen: Surfer mit weißgemalten Nasen und Lippen, Bodybuilder mit wiegendem Gang, Mädchen in abgeschnittenen Jeans auf Rollerblades, sonnengebräunte Prominente und silikonoperierte Badenymphen; kurz gesagt: »The Beautiful People«, die Jungen und Schönen und – zumindest nach außen – Erfolgreichen. Die Campbell Parade war mit ihren dicht an dicht liegenden Modeboutiquen, den kleinen, aber begehrten Hotels und den einfachen, aber unverhältnismäßig teuren Restaurants gerade zu dieser Zeit des Tages ein vor Menschen überquellender Boulevard. Offene Sportwagen schoben sich durch die Schlangen, und die Motoren heulten ihre ungeduldigen Brunftschreie, während die Fahrer mit ihren Sonnenbrillen durch die verspiegelten Scheiben ihrer Wagen den Bürgersteig beobachteten.
Harry dachte an Kristin.
An damals, als er und Kristin auf ihrer Interrail-Tour in Cannes aus dem Zug gestiegen waren. Es war in der Hauptsaison gewesen, und sie hatten nicht ein einziges anständiges Zimmer auftreiben können. Sie waren damals schon so lange unterwegs gewesen, daß ihre Reisekasse sehr zur Neige gegangen war, eine Übernachtung in einem der zahlreichen Luxushotels kam deshalb überhaupt nicht in Frage. Deswegen schauten sie nach, wann der nächste Zug nach Paris fuhr, verstauten ihre Rucksäcke in einem Schließfach und gingen zur Croisette hinunter. Dort promenierten sie hin und her und schauten sich die Menschen und Tiere an, alle gleichermaßen schön und reich, und die wahnwitzigen Jachten mit eigener Mannschaft – mit Cabincruisern als Zubringerbooten am Achterende befestigt und Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach – und sie schworen sich noch an Ort und Stelle, ihr Leben lang links zu wählen.
Schließlich waren sie von all dem Hin- und Herlaufen so verschwitzt, daß sie ein Bad nehmen mußten. Handtuch und Badezeug waren im Rucksack, so daß sie in ihrer Unterwäsche schwimmen gehen mußten. Kristin hatte keine sauberen Slips mehr und trug deshalb Harrys triste Männerunterwäsche. Sie wateten glücklich kichernd mit ihren weißen Doppelripp-Unterhosen zwischen teuren Tangas und schwerem Goldschmuck ins Mittelmeer.
Harry erinnerte sich daran, daß er hinterher auf dem Rücken im Sand lag und Kristin anschaute, die das T-Shirt lose um ihre Hüften geknotet hatte, während sie die nasse, schlabberige Unterhose auszog. Er genoß den Anblick ihrer glühenden Haut, die in der Sonne glitzernden Wassertropfen, das T-Shirt, das an einem langen, sonnengebräunten Schenkel entlangglitt, den weichen Bogen ihrer Hüfte und die langen Blicke der Franzosen, und er sah, daß auch sie ihn einen Augenblick lang anschaute, ihn auf frischer Tat ertappte, lächelte und seinem Blick standhielt, während sie zögerlich die Jeans hochzog – eine Hand unter das T-Shirt gleiten ließ, so als wolle sie den Reißverschluß hochziehen, sie aber dort liegen ließ, den Kopf hob und die Augen schloß … Dann fuhr sie sich neckend mit einer roten Zungenspitze über die Lippen, ließ sich fallen und landete, von Lachen geschüttelt, hart auf ihm.
Später aßen sie in einem viel zu teuren Straßenrestaurant mit Aussicht auf das Meer, und als die Sonne unterging, saßen sie eng umschlungen am Strand, und Kristin weinte ein bißchen, weil es so schön war. Da entschlossen sie sich, im Carlton-Hotel einzuchecken und später ohne zu bezahlen abzuhauen und dafür eventuell die zwei Tage Paris sausen zu lassen.
Immer wenn er sich an Kristin erinnerte, mußte er sofort an diesen Sommer denken. Alles war so intensiv gewesen, und im nachhinein fiel es leicht zu behaupten, daß der Grund dafür der Abschied gewesen war, der in der Luft lag. Außerdem konnte sich Harry nicht daran entsinnen, damals an so etwas überhaupt gedacht zu haben.
Im Herbst des gleichen Jahres ging Harry zum Militär, und noch vor Weihnachten hatte Kristin einen Musiker kennengelernt, mit dem sie nach London zog.
Ab der Ecke Campbell Parade und Lamrock Avenue saßen Harry, Lebie und Wadkins in einem Straßencafe. Ihr Tisch lag jetzt am späten Nachmittag im Schatten, aber es war noch nicht so spät, daß ihre Sonnenbrillen auffielen. Unangenehmer waren die Jacken bei der Wärme, aber die Alternative war, im Hemd und mit offenem Pistolengurt dazusitzen. Sie sagten nicht viel, sondern warteten einfach.
Auf der Strandpromenade, genau zwischen Strand und Campbell Parade, lag das St. George-Theater, ein schönes, gelbes Gebäude, in dem Otto Rechtnagel bald auftreten würde.
»Hast du früher schon einmal eine Browning Hi-Power benutzt?« fragte Wadkins.
Harry schüttelte den Kopf. Sie hatten ihm den Ladegriff gezeigt und wie man die Waffe sicherte, als man sie für ihn aus dem Depot geholt hatte, aber das war alles. Das war nicht so schlimm, Harry rechnete nicht gerade damit, daß Otto eine Maschinenpistole ziehen und sie alle niedermähen würde.
Lebie überprüfte seine Uhr. »Es wird Zeit,« sagte er. Sein Kopf war von einer Reihe Schweißperlen bedeckt.
Wadkins räusperte sich.
»Okay, zum letzten Mal: Wenn alle auf der Bühne stehen und sich nach der letzten Nummer verbeugen, nehmen Harry und ich den Seiteneingang neben der Bühne. Ich habe mit der Wache besprochen, daß diese Tür offen bleibt. Er hat auch ein großes Namensschild an der Garderobe von Otto Rechtnagel befestigt. Wir stellen uns vor die Tür und warten, bis Rechtnagel kommt. Und klick – Handschellen und keine Waffen, wenn es nicht unbedingt sein muß. Wir gehen zur Hintertür hinaus, wo ein Polizeiwagen auf uns wartet. Lebie bleibt im Saal sitzen und gibt uns über das Walkie-Talkie ein Signal, wenn Rechtnagel kommt. Das gleiche, wenn Rechtnagel Lunte riecht und versucht, durch den Saal in Richtung Haupteingang abzuhauen. Laßt uns auf unsere Plätze gehen und hoffen, daß die da drin Air- Conditioning haben.«
In dem kleinen, intimen Saal des St. George-Theaters war es brechend voll, und als sich der Vorhang hob, klatschten die Menschen voller Begeisterung. Das heißt, der Vorhang hob sich nicht, er fiel herunter. Die Clowns schauten zuerst verwirrt an die Decke, wo sich der Vorhang plötzlich gelöst hatte, und dann diskutierten sie mit weitausholenden Gebärden, bevor sie bei dem Versuch, den Vorhang zu beseitigen, planlos über die Bühne rannten, übereinander stolperten und entschuldigend mit den Hüten ins Publikum grüßten. Gelächter und aufmunternde Rufe folgten. Es schienen eine ganze Menge Freunde und Bekannte der Akteure im Saal zu sein. Die Bühne wurde aufgeräumt und zu einem Schafott umgebaut. Begleitet von einem langsamen, monotonen Trauermarsch, der auf einer einfachen Trommel gespielt wurde, betrat Otto die Szene.
Harry sah die Guillotine und wußte gleich, daß es sich um eine Variante der Nummer handeln mußte, die er im Power House gesehen hatte. Heute mußte ganz offensichtlich die Königin daran glauben, denn Otto trug ein rotes Ballkleid und eine riesige weiße Perücke. Auch sein Gesicht war weiß gepudert.
Der Henker trug ebenfalls ein neues Kostüm, einen enganliegenden, schwarzen Kittel mit großen Ohren und »Schwimmhäuten« unter den Armen, der ihn wie einen Teufel aussehen ließ.
Oder eine Fledermaus, dachte Harry. Das Fallbeil der Guillotine wurde hochgezogen, ein Kürbis darunter plaziert, und dann wurde das Beil wieder fallengelassen. Mit einem dumpfen Laut schlug es auf dem Boden der Guillotine auf, als hätte es den Kürbis gar nicht gegeben. Der Henker hielt die zwei großen Hälften triumphierend in die Höhe, während das Publikum jubelte und pfiff. Nach ein paar herzzerreißenden Szenen, in denen die Königin weinte und flehte und erfolglos versuchte, sich bei dem Schwarzgekleideten einzuschmeicheln, wurde sie zur Guillotine geschleppt, wobei ihre Beine zur großen Belustigung des Publikums unter dem Kleid hervorstrampelten.
Das Fallbeil wurde hochgezogen, und der Trommler stimmte einen immer lauter werdenden Trommelwirbel an. Die Lichter auf der Bühne wurden gedämpft.
Wadkins lehnte sich nach vorne:
»Er bringt also auch auf der Bühne Blondinen um?«
Der Trommelwirbel wurde immer wilder. Harry schaute sich um, die Menschen saßen ganz still da, manche beugten sich mit geöffneten Mündern nach vorne, während andere sich die Augen zuhielten. Generationen von Menschen hatten seit mehr als hundert Jahren so dagesessen und sich von der gleichen Nummer erfreuen und erschrecken lassen. Wie als Antwort auf seine Gedanken lehnte sich Wadkins wieder nach vorne:
»Gewalt ist wie Coca-Cola und die Bibel. Ein Klassiker.«
Der Trommelwirbel erklang noch immer, und Harry bemerkte, daß es sich ein wenig in die Länge zog. So lange hatten sie doch beim letzten Mal, als er die Nummer gesehen hatte, nicht gebraucht, um das Beil fallenzulassen? Der Henker schien unruhig geworden zu sein, er trippelte vor und zurück und schaute immer wieder zur Guillotine hoch, als wenn etwas nicht stimmte. Dann rauschte plötzlich, ohne daß jemand etwas getan zu haben schien, das Beil herab. Harry erstarrte unwillkürlich und ein Seufzen ging durch den Saal, als das Beil den Nacken traf. Die Trommel schwieg plötzlich, und der Kopf fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden. Eine ohrenbetäubende Stille folgte, bevor jemand in der Reihe vor Wadkins und Harry losschrie. Unruhe breitete sich im Saal aus, und Harry blinzelte durch das Halbdunkel, um zu erkennen, was geschah. Er sah nur, wie der Henker zurückschreckte.
»Mein Gott«, flüsterte Wadkins.
Von der Bühne kam ein Geräusch, als würde jemand in die Hände klatschen. Dann konnte Harry etwas erkennen. Aus der Halskrause der Geköpften ragte das Rückgrat heraus wie ein weißer Wurm, der langsam mit dem Kopf nickte. Aus dem klaffenden Loch spritzte stoßweise das Blut auf die Bühne.
»Er wußte, daß wir auf dem Weg waren!« flüsterte Wadkins, »er wußte, daß wir kommen würden! Er hat sich sogar wie eines seiner abgewrackten Vergewaltigungsopfer herausgeputzt!« Er lehnte sich unmittelbar bis vor Harrys Gesicht nach vorne. »Scheiße, Holy, scheiße!«
Harry wußte nicht, warum ihm plötzlich übel wurde – war es das Blut, Wadkins geschmacklose Wortwahl »abgewrackte Vergewaltigungsopfer« oder ganz einfach sein schrecklich abstoßender Mundgeruch.
Nach einer Weile hatte sich ein rotes Rinnsal gebildet, in dem der Henker offensichtlich im Schockzustand ausrutschte, als er den Kopf aufheben wollte. Er klatschte auf den Boden, und zwei andere Clowns rannten auf die Bühne und schrien durcheinander:
»Macht doch das Licht an!«
»Den Vorhang hoch!«
Zwei weitere Clowns schleppten den Vorhang auf die Bühne, und alle vier blieben dann stehen und schauten abwechselnd sich und die Aufhängung des Vorhangs an der Bühnendecke an. Hinter der Bühne hörte man jemanden rufen, die Scheinwerfer knisterten, und dann knallte es laut, worauf es im Saal stockfinster wurde.
»Da stinkt doch was zum Himmel, komm mit!« Wadkins zog Harry am Ärmel, stand auf und wollte nach vorne.
»Setz dich hin«, flüsterte Harry und zog ihn auf den Stuhl.
»Wie bitte?«
Das Licht wurde wieder eingeschaltet, und die Bühne, die noch vor wenigen Sekunden ein einziges Chaos aus Blut, Köpfen, Guillotine, Clowns und Vorhang gewesen war, war leer, abgesehen von dem Henker und Otto Rechtnagel, der am Bühnenrand stand und den blonden Kopf der Königin unter dem Arm trug. Sie wurden mit einem Jubelschrei aus dem Saal empfangen und dankten es mit einer tiefen Verbeugung.
»l'll be damned,« sagte Wadkins.
In der Pause genehmigte sich Wadkins ein Bier. »Die erste Zirkusnummer, die mir fast den Verstand geraubt hat,« sagte er. »Ich bin, zum Teufel noch mal, noch immer ganz zittrig. Vielleicht sollten wir uns den Kerl jetzt schon schnappen, das Warten macht mich ganz nervös.«
Harry zuckte mit den Schultern.
»Warum? Er will nicht weg und hegt auch keinen Verdacht. Laß uns unseren Plan verfolgen.«
Wadkins schaltete diskret sein Walkie-Talkie ein, um zu überprüfen, ob er Kontakt mit Lebie hatte, der sicherheitshalber im Saal geblieben war. Der Polizeiwagen an der Hintertür war bereits an Ort und Stelle.
Harry mußte sich selbst eingestehen, daß die neuen technischen Finessen der Nummer ihre Wirkung zeigten, aber er grübelte noch immer darüber nach, warum Otto Ludwig XVI. gegen die nicht eindeutig zu identifizierende blonde Frau eingetauscht hatte. Er rechnete wohl damit, daß Harry das Gratisticket nutzte und sich die Vorstellung ansah. War das seine Art, mit der Polizei zu spielen? Harry hatte gelesen, daß es nicht ungewöhnlich war, daß Serienmörder immer selbstsicherer wurden, je länger man sie nicht zu fassen bekam. Oder war es eine Bitte, daß ihn endlich jemand aufhielt? Aber natürlich gab es auch noch eine dritte Möglichkeit – daß es sich ganz einfach um eine Zirkusnummer handelte, die sie ein klein bißchen verändert hatten.
Eine Glocke ertönte.
»Here we go again,« sagte Wadkins. »Ich hoffe, heute abend werden nicht noch mehr Menschen umgebracht.«
Etwas später im zweiten Akt kam Otto, verkleidet als Jäger, wieder auf die Bühne geschlichen. Er hielt die Pistole in der Hand und schaute zwischen ein paar Bäumen, die man auf die Bühne geschoben hatte, nach oben. Aus den Bäumen klang Vogelgezwitscher, das der Jäger Otto zu imitieren versuchte, während er nach oben in die Zweige zielte. Es knallte, eine kleine Rauchwolke stieg aus der Pistole empor, und etwas Schwarzes fiel aus dem Baum und landete mit leisem Klatschen auf der Bühne. Der Jäger rannte zu der Stelle und hob überrascht eine schwarze Katze hoch! Otto verbeugte sich tief und verließ unter lautem Applaus die Bühne.
»Das habe ich nicht verstanden«, flüsterte Wadkins.
Harry hätte die Vorstellung vielleicht genießen können, wenn er nicht so aufgeregt gewesen wäre. Aber nun schaute er mehr auf die Uhr als auf die Bühne. Außerdem steckte in vielen Nummern eine politische Satire eher nationalen Charakters, die an Harry spurlos vorüberging, das Publikum aber sehr zu schätzen schien. Zum Schluß spielte die Musik auf, die Lampen blinkten, und alle Akteure betraten die Bühne.
Harry und Wadkins entschuldigten sich, als sie sich an der Reihe der Menschen vorbeischoben, die aufstehen mußten, um sie vorbeizulassen, und hasteten zu der Tür neben der Bühne. Sie war, wie abgesprochen, nicht verschlossen und ging auf einen Flur, der in einem Halbkreis hinter der Bühne entlang führte. Im hinteren Teil des Flures fanden sie die Tür mit dem Schild »Otto Rechtnagel, Clown« und warteten. Die Musik und das Getrampel aus dem Saal ließen die Wände wackeln. Gleichzeitig war ein kurzes Rauschen in Wadkins Walkie-Talkie zu hören. Er nahm es hoch.
»Schon?« fragte er. »Die Musik spielt doch noch! Over!«
Er riß die Augen auf.
»Was? Sag das noch einmal! Over!«
Harry begriff, daß etwas schiefgelaufen war.
»Bleib da und behalte die Bühnentür im Auge! Over und Ende!«
Wadkins steckte das Walkie-Talkie zurück in seine Innentasche und nahm die Pistole aus dem Schulterhalfter:
»Lebie sieht Otto Rechtnagel nicht auf der Bühne!«
»Vielleicht erkennt er ihn nicht wieder, die verwenden ja verdammt viel Schminke, wenn die …«
»Das Schwein ist nicht auf der Bühne!« wiederholte er und drückte die Klinke der Garderobentür runter, aber die Tür war verschlossen.
»Scheiße, Holy, ich spüre, daß da was verdammt schiefläuft! Scheiße!«
Der Flur war eng. Wadkins stemmte sich mit dem Rücken gegen die gegenüberliegende Wand und trat dann gegen das Türschloß. Nach drei Tritten zersplitterte das Holz am Schloß, die Tür gab nach. Sie taumelten in eine leere Garderobe voll mit weißem Dampf. Der Boden war naß. Das Wasser und der Dampf drangen durch eine halbgeöffnete Tür, die offensichtlich zu einem Bad führte. Sie bezogen an den Seiten der Tür Stellung, auch Harry hatte jetzt seine Pistole gezogen und versuchte, die Waffe mit den Fingern zu entsichern.
»Rechtnagel!« schrie Wadkins. »Rechtnagel!«
Keine Antwort.
»Das gefällt mir gar nicht«, flüsterte er erregt.
Harry hatte zu viele Krimis gesehen, um der Situation etwas Positives abgewinnen zu können. Laufende Duschen, in denen niemand antwortete, hatten eine Tendenz, unschöne Dinge zu beherbergen.
Wadkins wies mit dem Zeigefinger auf Harry und mit dem Daumen in Richtung Dusche. Am liebsten hätte Harry ihm auch einen Finger gezeigt, aber er begriff, daß er jetzt an der Reihe war. Er trat gegen die Tür und ging zwei Schritte in eine glühendheiße Dampfhölle hinein. In dem Bruchteil einer Sekunde war er vollkommen durchnäßt. Direkt vor seinem Gesicht erahnte Harry einen Duschvorhang. Mit gezückter Pistole schob er den Vorhang mit einem Ruck zur Seite.
Die Dusche war leer.
Er verbrannte sich den Arm, als er das Wasser abdrehte, und fluchte laut auf norwegisch. Dann trat er einen Schritt zurück, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, als sich der Dampf lichtete. Es gurgelte in seinen Schuhen.
»Hier ist niemand!« rief er.
»Warum gibt es hier so verdammt viel Wasser?«
»Irgend etwas verstopft den Abfluß! Einen Augenblick!«
Harry steckte die Hand dort ins Wasser, wo er den Abfluß vermutete. Er tastete ein bißchen darin herum und stieß dann auf etwas Glattes, Weiches, das im Abfluß feststeckte. Er bekam es zu fassen und zog es hoch. Schlagartig wurde ihm übel, er würgte und versuchte zu atmen, aber der Dampf, den er einatmete, schien ihn plötzlich zu ersticken.
»Was ist los?« fragte Wadkins. Er stand in der Tür und blickte auf Harry, der vor der Dusche auf den Knien kauerte.
»Ich glaube, ich habe eine Wette verloren und schulde Otto Rechtnagel hundert Dollar«, sagte Harry leise, »oder dem, was von ihm noch übrig ist.«
Später erinnerte sich Harry an das, was im St. George-Theater geschehen war, wie durch einen Nebel. Als wenn sich der Dampf aus Ottos Dusche überallhin ausgebreitet hätte: hinaus, auf den Flur, so daß die Silhouette des Wachmanns ihm undeutlich erschien, der die Tür des Requisitenraums zu öffnen versuchte, durch das Schlüsselloch in den Raum hinein, in dem er sich wie ein roter Filter über den Anblick legte, der sich ihnen bot, als sie die Tür aufbrachen und die blutüberströmte Guillotine sahen – in ihre Gehörgänge, in denen er das Geräusch der Schreie merkwürdig dämpfte, als es ihnen nicht gelang, die Zirkuskollegen daran zu hindern, den Raum zu betreten, wo sie Otto Rechtnagels zerstückelte Leiche im ganzen Raum verteilt sahen.
Die Extremitäten lagen wie die Arme und Beine einer Puppe in allen Ecken verstreut. Der Boden und die Wände waren über und über mit echtem, zähem Blut bespritzt, das in kurzer Zeit koagulieren und schwarz werden würde. Ein gliedloser Körper lag auf der Bank der Guillotine, ein Torso aus Fleisch und Blut mit weit aufgerissenen Augen, einer Clownsnase und Lippenstift auf Mund und Wangen.
Der Dampf klebte an Harrys Haut, an seinem Mund und Gaumen. Wie in Zeitlupe sah er Lebie aus dem Nebel treten, zu ihm herüberkommen und hörte ihn dann flüstern: »Andrew ist aus dem Krankenhaus verschwunden.«
Wadkins stand immer noch wie festgenagelt an der Bank der Guillotine.
»So scheiß arrogant«, hörte Harry ihn in weiter Ferne fluchen.
So logisch, dachte Harry.
Der Mörder hatte Otto eine weiße Perücke aufgesetzt.
Jemand mußte den Ventilator geölt haben, er schnurrte gleichmäßig und beinahe lautlos.
»Der einzige, den die Polizeibeamten in dem Streifenwagen aus der Hintertür haben kommen sehen, war also diese schwarzgekleidete Henkerfigur, habe ich das richtig verstanden?«
McCormack hatte alle zu einer Besprechung gebeten.
Wadkins nickte.
»So ist es, Sir. Wir müssen noch abwarten, ob die Schauspieler und Wachen etwas gesehen haben, die werden gerade vernommen. Der Mörder hat entweder im Saal gesessen und ist über die offene Bühne hereingekommen, oder er hat die Hintertür genommen, bevor der Streifenwagen an Ort und Stelle war.«
Er seufzte.
»Der Wachmann sagt, daß die Hintertür während der Vorstellung abgeschlossen war, der Mörder muß also entweder einen Schlüssel gehabt haben, hereingelassen worden sein oder sich unbemerkt zusammen mit den Akteuren hereingeschlichen und sich irgendwo versteckt haben. Und dann muß er nach der Katzennummer angeklopft haben, als Otto sich in seiner Garderobe auf das Finale vorbereitete. Wahrscheinlich hat er ihn betäubt, die Jungs von der Spurensicherung haben Spuren von Diethyläther sichergestellt. Entweder in der Garderobe oder nachdem sie den Requisitenraum betreten haben – hoffen wir es jedenfalls«, fügte Wadkins hinzu. »Nichtsdestotrotz ist der Kerl ein eiskalter Teufel. Nach der Zerstückelung muß er das abgeschnittene Glied wieder mit in die Garderobe genommen und die Dusche angedreht haben, so daß alle, die eventuell zu Otto wollten, das Wasser hörten und glauben mußten, er dusche gerade.«
McCormack räusperte sich.
»Was ist mit der Guillotine? Es gibt einfachere Möglichkeiten, jemanden umzubringen …«
»Tja, Sir, ich glaube fast, das mit der Guillotine war ein spontaner Einfall. Er konnte wohl kaum wissen, daß sie in der Pause in den Requisitenraum geschoben worden war.«
»Ein wirklich sehr, sehr kranker Mann«, sagte Lebie.
»Was ist mit den Türen? Die waren doch alle geschlossen. Wie sind die in den Requisitenraum gekommen?«
»Ich habe mit dem Wachmann gesprochen«, sagte Harry. »Als Chef des Ensembles hatte Otto einen Generalschlüssel. Der ist verschwunden.«
»Und was ist mit diesem … Teufelskostüm?«
»Das lag zusammen mit dem losen Kopf und der Perücke im Kopfkasten der Guillotine. Der Mörder muß es nach der Tat als Verkleidung angezogen haben. Auch das war ziemlich gerissen und sicher nicht vorher geplant.«
McCormack stützte den Kopf schwer auf die Hände.
»Was sagen Sie, Yong?«
Yong hatte, während die anderen redeten, seinen PC bearbeitet.
»Lassen Sie uns den schwarzgekleideten Teufel mal für einen Augenblick vergessen«, sagte er, »alles spricht dafür, daß der Mörder ein Mitglied des Ensembles sein muß.«
Wadkins grunzte laut.
»Lassen Sie mich ausreden, Sir«, sagte Yong, »wir suchen nach jemandem, der die Vorstellung kennt, der wußte, daß Otto nach der Katzennummer keinen Auftritt mehr hatte und deshalb auf der Bühne bis zum Finale etwa zwanzig Minuten später nicht vermißt werden würde. Jemand aus dem Ensemble hätte sich auch nicht hereinschleichen müssen, ich bezweifle übrigens, daß es jemand anderem möglich gewesen sein soll, unbemerkt hereinzukommen. Vermutlich hätte wenigstens einer von euch bemerkt, wenn jemand den Seiteneingang neben der Bühne benutzt hätte …« Die anderen konnten nicht anders, als synchron mit dem Kopf zu nicken.
»Außerdem habe ich herausgefunden, daß auch drei andere aus dem Ensemble mit von der Partie beim Australian Travelling Showpark gewesen sind. Das heißt, daß es dort heute noch drei andere Personen gegeben hat, die zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort waren. Vielleicht war Otto ganz einfach ein unschuldiger Mann, der zu viel wußte? Laßt uns da anfangen zu suchen, wo wir auch eine Chance haben, etwas zu finden. Ich schlage vor, daß wir mit dem Ensemble beginnen, statt einem Phantom der Oper nachzujagen, das längst über alle Berge ist.«
Wadkins schüttelte den Kopf.
»Wir können nicht einfach die Fakten vergessen – eine unbekannte Person hat in einer Verkleidung, die neben der Mordwaffe aufbewahrt wurde, den Tatort verlassen. Es ist kaum möglich, daß diese Person nichts mit dem Mord zu tun hat.«
Harry stimmte ihm zu:
»Ich glaube, wir können die anderen im Ensemble vergessen. Erstens gibt es keinen Beweis, daß Otto nicht der gesuchte Vergewaltiger und Mörder all dieser Mädchen gewesen sein kann. Es kann viele Gründe dafür geben, warum jemand einem Serienmörder den Garaus machen möchte. Der Betroffene kann, zum Beispiel, auf irgendeine Weise da mit drin stecken. Vielleicht wußte er, daß Otto im Begriff war, von der Polizei gefaßt zu werden, und wollte ganz einfach nicht riskieren, von Otto durch ein Geständnis mit hineingezogen zu werden. Zweitens ist es nicht sicher, daß der Mörder wirklich wußte, wieviel Zeit er hatte – er kann Otto gezwungen haben, ihm zu sagen, wann er wieder auf die Bühne mußte. Und drittens: Hört doch mal auf eure Gefühle!«
Er schloß die Augen.
»Ihr fühlt das doch, nicht wahr? Der Fledermausmann ist unser Mann. Narahdarn!«
»Ha?« fragte Wadkins.
McCormack amüsierte sich. »Unser norwegischer Freund scheint in die Bresche gesprungen zu sein, die unser lieber Detektiv Kensington aufgerissen hat«, sagte er.
»Narahdarn«, wiederholte Yong. »Das Todessymbol der Aborigines, der Fledermausmann.«
»Es gibt noch eine andere Sache, die mich etwas beunruhigt«, fuhr McCormack fort. »Der Kerl kann unbemerkt während der Vorstellung durch die Hintertür hinausschlüpfen und ist nur zehn Schritte von einer der belebtesten Straßen von Sydney entfernt, wo er garantiert in nur wenigen Sekunden in der Menge verschwunden ist. Trotzdem zieht er sich ein Kostüm an, mit dem er ganz sicher die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, das ihm aber auch garantiert, daß wir keine Beschreibung von ihm haben. Man hat fast das Gefühl, er wußte, daß die Hintertür von einer Streife beobachtet wurde. Und wenn das so ist, wie konnte er das wissen?«
Es wurde still.
»Wie geht es übrigens Kensington im Krankenhaus?« McCormack kramte eine Pastille aus einer Schachtel und begann, darauf herumzukauen.
Jetzt war es vollkommen still. Nur der Ventilator bewegte sich tonlos.
»Er ist nicht mehr dort«, sagte Lebie schließlich.
»Teufel noch mal, das war wirklich eine verdammt kurze Zeit der Genesung!« sagte McCormack. »Ja, ja, okay, wir brauchen so schnell wie möglich alle verfügbaren Mannschaften, denn eins sage ich euch: Zerstückelte Clowns machen größere Schlagzeilen als vergewaltigte Mädchen. Und was ich früher schon gesagt habe, Jungs, wer von euch glaubt, wir brauchten uns um die Zeitungen nicht zu kümmern, irrt sich! Die haben in diesem Land schon mehr als einen Polizeichef angeschwärzt und gefeuert! Also, wenn ihr mich nicht ganz heftig im Nacken haben wollt, wißt ihr, was ihr zu tun habt! Aber geht jetzt erst mal nach Hause und schlaft ein bißchen! Ja, Harry?«
»Nichts, Sir!«
»Okay. Gute Nacht!«
Irgend etwas hatte sich verändert. Die Gardinen vor dem Hotelfenster waren nicht zugezogen, und in dem Schein der Neonlampen von King's Cross zog sich Birgitta vor ihm aus.
Er lag im Bett, während sie mitten im Zimmer stand und Kleidungsstück für Kleidungsstück fallen ließ, wobei sie ihn mit ernstem, fast wehmütigem Blick anschaute. Birgitta war langbeinig, schlank und leuchtete in dem blassen Licht fast weiß wie Schnee. Durch das halbgeöffnete Fenster hörten sie das Rauschen des intensiven Nachtlebens – Autos, Motorräder, Spielautomaten mit Leierkastenmusik und dumpf dröhnende Discomusik. Und als Basis des Ganzen – wie menschliche Grillen – die Geräusche lauter Diskussionen, entrüsteter Ausrufe und geilen Gelächters.
Birgitta knöpfte ihre Bluse auf, nicht bewußt zögerlich oder in der Absicht zu verführen, sondern langsam. Sie zog sich einfach nur aus.
Für mich, dachte Harry.
Er hatte sie früher schon nackt gesehen, aber an diesem Abend war es anders. Sie war so hübsch, daß er spürte, wie es ihm den Hals zuschnürte. Früher hatte er ihre Scheu nicht verstanden, warum sie das T-Shirt und den Slip immer erst auszog, wenn sie unter der Bettdecke lag, und warum sie ein Handtuch um sich wickelte, wenn sie vom Bett ins Bad ging. Doch mit der Zeit hatte er es verstanden: Es hatte nichts damit zu tun, daß sie schüchtern war oder sich wegen ihres Körpers schämte, sondern damit, daß sie sich nicht bloßstellen wollte. Es war ihr wichtig, erst einmal Zeit und Gefühle aufzubauen, ein kleines Nest aus Vertrautheit, das einzig ihm das Recht geben würde. Deshalb war es in dieser Nacht anders. Die Art, wie sie sich auszog, hatte etwas Rituelles an sich, als wolle sie mit ihrer Nacktheit zeigen, wie verletzlich sie war. Daß sie es wagte, weil sie ihm vertraute.
Harry spürte, wie sein Herz schlug, teils weil er stolz und glücklich war, daß diese starke, schöne Frau ihm so viel Vertrauen entgegenbrachte, teils weil er Angst hatte, sich dieses Vertrauens als nicht würdig zu erweisen. Aber am meisten, weil er spürte, daß ihm alles, was er fühlte und dachte, ganz deutlich in dem roten, dann blauen, dann grünen Licht des Reklameschildes anzusehen war. Daß sie, indem sie sich auszog, auch ihn entkleidete.
Als sie nackt war, blieb sie stehen, und all die weiße Haut schien das Zimmer zu erhellen.
»Komm«, sagte er mit einer Stimme, die rauher war als beabsichtigt, und schlug die Decke zur Seite, doch sie blieb stehen.
»Sieh her«, wisperte sie, »sieh mich an.«
Es war acht Uhr morgens, und Dschingis Khan schlief, als die Krankenschwester nach langwierigen Verhandlungen einwilligte, Harry ins Krankenzimmer zu lassen. Er schlug die Augen auf, als Harry einen Stuhl an den Bettrand schob.
»Guten Morgen«, sagte Harry. »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Wissen Sie noch, wer ich bin? Der auf dem Tisch mit der Atemnot.«
Dschingis Khan stöhnte. Er hatte eine große weiße Bandage am Kopf und sah deutlich weniger gefährlich aus als zu dem Zeitpunkt, als er sich im Cricket über Harry gebeugt hatte.
Harry zog einen Cricketball aus seiner Tasche.
»Ich habe gerade mit Ihrem Anwalt gesprochen. Er sagte, daß Sie meinen Kollegen nicht verklagen werden.«
Harry warf den Ball von der rechten in die linke Hand.
»In Anbetracht der Tatsache, daß Sie gerade dabei waren, mir das Leben zu nehmen, wäre ich natürlich sehr unangenehm geworden, wenn Sie den, der mich gerettet hat, verklagt hätten. Aber dieser Advokat von Ihnen scheint wirklich zu glauben, Sie hätten etwas in der Hand. Zum einen behauptet er, daß Sie mich nicht angegriffen, sondern lediglich von einem Freund getrennt hätten, dem ich im Begriff gewesen sei, ernsthafte Schäden zuzufügen, zum anderen, daß Sie es nur einem Zufall zu verdanken hätten, daß Sie mit gebrochenem Schädel davongekommen seien, statt von diesem Cricketball getötet worden zu sein.«
Er warf den Ball in die Luft und fing ihn unmittelbar vor dem Gesicht des blassen Kriegsfürsten wieder auf.
»Und wissen Sie, was? Ich bin einverstanden. Ein fast ball aus vier Metern Entfernung direkt auf die Stirn – es war wirklich blankes Glück, daß Sie überlebt haben. Ihr Anwalt rief mich heute im Büro an und wollte den genauen Handlungsverlauf wissen. Er glaubt, daß es eine Möglichkeit für einen Antrag auf Schmerzensgeld gibt, auf jeden Fall, wenn Sie bleibende Schäden zurückbehalten. Diese Art Anwälte gehören ja bekanntermaßen zur Familie der Geier, sie berechnen für sich selbst ein Drittel der Erstattungssumme, aber das hat er Ihnen ja wohl vorher erzählt? Ich fragte ihn, warum es ihm nicht gelungen sei, Sie zu einer Klage zu bewegen, und er meinte, das sei nur eine Frage der Zeit. Tja, und nun frage ich mich – ist das nur eine Frage der Zeit, Dschingis?«
Dschingis schüttelte vorsichtig den Kopf.
»No. Please go now«, gurgelte er leise.
»Aber warum denn nicht? Was haben Sie zu verlieren? Für den Fall, daß Sie zum Krüppel werden, können Sie doch viel Geld machen. Denken Sie daran, daß es keine einfache Privatperson ist, die Sie verklagen, sondern der Staat selbst. Ich habe festgestellt, daß es Ihnen sogar gelungen ist, Ihre Akte einigermaßen sauber zu halten. Wer weiß, vielleicht hätte eine Jury Mitleid mit Ihnen und würde Sie zum Millionär machen. Und Sie wollen es wirklich nicht einmal versuchen?«
Dschingis antwortete nicht, er schaute Harry nur mit schiefen, traurigen Augen an.
»Es fängt mir langsam an, auf den Geist zu gehen, die ganze Zeit im Krankenhaus zu sitzen, Dschingis, ich will mich also kurz fassen. Ihr Angriff auf mich resultierte in zwei gebrochenen Rippen und einer punktierten Lunge. Da ich weder eine Uniform trug noch meine Marke zeigte oder einen Befehl ausführte und Australien zudem ein gutes Stück von meinem Hoheitsgebiet entfernt liegt, sind die Rechtsbehörden zu dem Schluß gekommen, daß ich rein juristisch als Privatperson aufgetreten bin und nicht dienstlich. Das heißt, daß ich selbst entscheiden kann, ob ich Sie wegen Ihrer Gewalttätigkeit verklagen will oder nicht. Was uns zu Ihrer fast sauberen Akte zurückbringt. Sie sind nämlich wegen Körperverletzung zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt, nicht wahr? Wenn wir noch einmal sechs Monate hinzufügen, macht das ein Jahr. Ein Jahr … oder Sie erzählen mir …« – er lehnte sich zu dem Ohr hinunter, das wie ein roter Pilz aus Dschingis Khans Kopfbandage herausragte, und schrie — »…WAS ZUM TEUFEL HIER VORGEHT!«
Harry setzte sich wieder auf seinen Stuhl.
»Nun, was meinen Sie?«
McCormack hatte Harry den Rücken zugedreht. Er schaute aus dem Fenster, hielt die Arme locker vor der Brust verschränkt, wobei eine Hand am Kinn lag. Der dichte Nebel draußen hatte alle Farben ausgewischt und die Bewegungen eingefroren, so daß sich die Aussicht auf ein nicht fokussiertes Schwarzweiß-Bild der Stadt beschränkte. Die Stille wurde durch ein leises, klopfendes Geräusch abgelöst. Nach einer Weile begriff Harry, daß McCormack mit den Fingerspitzen auf die Zähne seines Oberkiefers trommelte.
»Also, Kensington kannte Otto Rechtnagel. Und Sie haben das die ganze Zeit gewußt?«
Harry zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß, ich hätte das vorher sagen sollen, Sir. Aber ich habe gefunden, daß es mich nichts …«
»… angeht, wen Andrew Kensington kennt und wen nicht? Okay, aber jetzt ist Kensington schließlich aus dem Krankenhaus abgehauen, niemand weiß, wo er ist, und Sie beginnen, ein ungutes Gefühl zu bekommen?«
Harry nickte hinter seinem Rücken zustimmend.
McCormack sah ihn über das Spiegelbild der Scheibe an. Dann machte er eine halbe Pirouette, so daß er direkt vor Harry stand.
»Sie wirken ein wenig …« — er vollendete seine Pirouette und drehte ihm wieder den Rücken zu – »unruhig, Holy. Gibt es etwas, das Sie quält? Haben Sie mir noch etwas zu sagen?«
Harry schüttelte den Kopf.
Otto Rechtnagels Wohnung lag in Surrey Hills, passend auf halbem Weg zwischen dem Albury und Inger Holters Wohnung in Glebe. Eine unbeschreiblich fette Frau versperrte ihnen den Treppenaufgang, als sie ankamen.
»Ich habe den Wagen gesehen. Sind Sie von der Polizei?« kreischte sie mit hoher, kläffender Stimme und fuhr dann, ohne auf eine Antwort zu warten, fort: »Sie hören den Hund ja selber. So geht das nun schon den ganzen Tag heute.«
Hinter der Tür mit Otto Rechtnagels Nummer hörten sie ein heiseres Bellen.
»Es ist schrecklich, was mit Herrn Rechtnagel geschehen ist, aber jetzt müssen Sie wirklich seinen Hund mitnehmen. Der bellt in einem fort und treibt noch alle hier zum Wahnsinn. Es sollte überhaupt verboten sein, hier Hunde zu halten. Wenn Sie nichts unternehmen, müssen wir … ach, ja, Sie wissen schon, was ich meine.«
Die Frau himmelte mit den Augen und breitete ihre fleischigen Arme aus. Es roch sofort nach saurem Schweiß und dem unausweichlichen, kompensierenden Parfüm.
Harry verabscheute das monströse Frauenzimmer bereits von ganzem Herzen.
»Hunde wissen«, sagte Lebie, strich mit zwei Fingern über das Treppengeländer und schaute dann mißbilligend auf seinen Zeigefinger, als sei er gekommen, um die Reinlichkeit zu überprüfen.
»Wie meinen Sie das, junger Mann?« fragte der Fleischberg, stemmte die Arme in die Seite und machte nicht den Anschein, sich bewegen zu wollen.
»Er weiß, daß sein Herrchen tot ist, gute Frau«, sagte Harry. »Er trauert.«
»Trauert?« Sie schaute ihn mißtrauisch an. »Ein Köter? Was für ein Unsinn.«
»Was würden Sie denn tun, wenn jemand die Arme und Beine von Ihrem Herrchen abgetrennt hätte?« Lebie schaute sie direkt an. Sie blieb mit offenem Mund stehen.
»Und den Schwanz?« ergänzte Harry. Er vermutete, daß dick auch in Australien ein Begriff war.
»Wenn Sie denn ein Herrchen haben.« Lebie musterte sie von ihrem feisten Kopf bis zu den Zehen.
Nachdem der Fleischberg das Feld geräumt hatte, holten sie die verschiedenen Schlüssel heraus, die sie in der Garderobe in Ottos Hosentasche gefunden hatten. Aus dem Bellen dort drinnen war mittlerweile ein Knurren geworden, Otto Rechtnagels Hund hörte wohl, daß sich Fremde näherten.
Der Bullterrier stand breitbeinig und kampfbereit im Flur, als die Tür aufging. Lebie und Harry blieben stehen und schauten den komischen weißen Hund an, wie um zu zeigen, daß er jetzt die Initiative ergreifen mußte. Das Knurren verwandelte sich in ein kraftloses Bellen, bevor er das Projekt ganz aufgab und sich ins Wohnzimmer trollte. Harry ging ihm nach.
Das Tageslicht flutete durch zwei große Fenster in das Wohnzimmer, das im Vergleich zu dem einfachen Standard überreich möbliert war: Ein gediegenes rotes Sofa voller großer bunter Kissen, riesige Malereien an den Wänden und ein flacher, aber monumentaler grüner Glastisch. In den Ecken des Raumes standen zwei Porzellanleoparden.
Auf dem Tisch lag ein Lampenschirm, der dort nicht hätte liegen sollen.
Der Hund hatte sich mit der Nase in einem nassen Fleck mitten im Wohnzimmer postiert. Über dem nassen Fleck hingen zwei Männerschuhe in der Luft. Es roch nach Pisse und Exkrementen. Harry folgte der Socke das Bein hinauf und sah die schwarze Haut zwischen Strumpf und Hose. Er ließ den Blick weiter die Hose emporgleiten, sah die große Faust, die leblos herabhing, und mußte seinen Blick an dem weißen Hemd emporzwingen. Nicht, weil er nicht schon einmal einen erhängten Mann gesehen, sondern weil er die Schuhe wiedererkannt hatte.
Der Kopf war zu der einen Schulter gekippt, und das Ende der Leitung baumelte mit einer grauen Glühbirne vor der Brust. Das Leitungskabel war an einem kräftigen Haken in der Decke befestigt – vielleicht hatte da früher einmal ein Kronleuchter gehangen – und war dreimal um Andrews Hals geschlungen, dessen Kopf beinahe an die Decke stieß. Ein verträumter, gebrochener Blick starrte ins Leere, und eine blauschwarze Zunge hing aus dem Mund, als wolle er dem Tod die Zunge herausstrecken. Oder dem Leben. Neben dem Wohnzimmertisch lag ein umgestürzter Stuhl.
»Scheiße noch mal«, fauchte Harry, »Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Er ließ sich kraftlos in einen Stuhl fallen. Lebie kam herein und schrie leise auf.
»Hol ein Messer«, sagte Harry. »Und ruf einen Krankenwagen oder was immer ihr in einer solchen Situation ruft.«
Von dort, wo Harry saß, hatte Andrew das Tageslicht im Rücken, so daß der herabbaumelnde Körper nur eine fremde, schwarze Silhouette vor dem Fenster war. Harry schlug dem Schöpfer vor, einen anderen am Ende der Leitung zu befestigen, bevor er sich wieder erhob. Er versprach, niemandem gegenüber ein Wort über dieses Wunder zu sagen. Es war nur als Vorschlag gedacht. Nicht als Gebet. Jedenfalls nicht, wenn Gebete nichts halfen.
Er hörte Schritte im Flur und Lebie, der plötzlich aus der Küche brüllte: »Raus, Sie fettes Monster!«
Nach der Beerdigung seiner Mutter war Harry fünf Tage lang nur mit dem Gefühl herumgerannt, etwas fühlen zu müssen. Man sagte ihm, die Realisierung der Trauer würde bei Männern, die ihr Leben lang trainiert hätten, ihre Gefühle im Zaum zu halten, oft auf sich warten lassen. Es überraschte ihn deshalb, daß er zwischen den Kissen im Sofa versank und spürte, wie sich seine Augen füllten und sich der Schmerz einen Weg durch den Hals nach oben bahnte.
Nicht, daß er nicht schon früher einmal geweint hätte. Er hatte den Klumpen in seinem Hals gespürt, als er alleine in seinem Zimmer in der Kaserne in Bardufoss gehockt und in dem Brief von Kristin gelesen hatte, daß »… es das Beste ist, was mir in meinem Leben je widerfahren ist …«. Aus dem Zusammenhang ging aber nicht klar hervor, ob sie ihn meinte oder den englischen Musiker, mit dem sie fort wollte. Er wußte nur, daß es das Schlimmste war, was ihm in seinem Leben je widerfahren war. Trotzdem waren die Tränen irgendwo in seinem Hals steckengeblieben. Wie eine Übelkeit, so daß er sich fast hatte übergeben müssen.
Er stand auf und schaute nach oben. Andrew war nicht ausgetauscht worden. Harry glaubte, ein paar Schritte vorgehen und den Stuhl wieder aufrichten zu müssen, damit Andrew auf etwas stehen konnte, wenn sie ihn abschnitten, aber er konnte sich nicht bewegen. Er stand noch immer so da, als Lebie mit einem Küchenmesser ins Zimmer kam. Als Lebie ihn so merkwürdig anschaute, bemerkte Harry, daß warme Tränen über seine Wangen rollten.
Mein Gott, ist das nicht schlimmer, dachte Harry verwundert.
Ohne etwas zu sagen, schnitten sie Andrew ab, legten ihn auf den Boden und durchsuchten seine Taschen. Er hatte zwei Schlüsselbunde bei sich, einen kleinen und einen größeren, sowie einen losen Schlüssel, der, wie Lebie sogleich überprüfte, zur Eingangstür paßte.
»Keine Zeichen für äußere Gewalteinwirkung«, sagte Lebie nach flüchtiger Überprüfung.
Harry knöpfte Andrews Jacke auf. Auf seine Brust war ein Krokodil tätowiert. Harry schob auch die Hosenbeine hoch und überprüfte die Beine.
»Nichts«, sagte er, »überhaupt gar nichts.«
»Wir müssen warten, was der Arzt sagt«, brummte Lebie.
Harry spürte wieder, wie die Tränen kamen und zuckte nur mit den Schultern.
Sie schoben sich durch den Vormittagsstau zurück zur Dienststelle.
»Merde«, schrie Lebie und drückte wütend auf die Hupe.
Harry hatte The Australian in der Hand, der Clownsmord nahm die ganze Titelseite ein. »In seiner eigenen Todesmaschine zerhackt«, stand unter dem Bild der blutigen Guillotine. Ein kleineres Bild zeigte Otto Rechtnagel im Clownskostüm, es war das Bild aus dem Programmheft.
Die Reportage war in einem leichten, fast humoristischen Ton gehalten, vermutlich aufgrund des bizarren Charakters des Falles. »Aus unerklärlichen Gründen ließ der Mörder den Kopf des Clowns am Körper«, schrieb der Reporter, der weiterhin schloß, daß der Mord sicher nicht stellvertretend für die generelle Einstellung des Publikums gewesen sei: »… so schlecht sei die Vorstellung nämlich nicht gewesen«. Etwas säuerlich lobte er die Polizei dafür, ungewöhnlich schnell am Tatort gewesen zu sein. »Aber trotzdem hatte Kriminalchef Wadkins von der Polizei in Sydney keine weitergehenden Kommentare abzugeben, als daß die Polizei die Mordwaffe sichergestellt habe …« Harry las laut vor.
»Sehr witzig«, sagte Lebie, hupte und zeigte einem Taxifahrer, der sich vor ihnen auf ihre Spur schob, den Finger. »Your mother is a …!«
»Diese Nummer, in der der Kerl den Vogel jagt …«
Der Satz blieb unvollendet zwischen zwei Ampeln hängen.
»You said …«, fragte Lebie.
»Nein, nichts. Ich habe mich nur über diese eine Nummer gewundert, sie macht irgendwie keinen Sinn. Ein Jäger, der glaubt, einen Vogel zu jagen und plötzlich entdeckt, daß seine Beute eine Katze ist, also etwas, das selbst Vögel jagt. Soweit ist es klar, aber was soll das bedeuten?«
»Such my hairy, sorry potato ass, you pigfucker …«
Es war das erste Mal, daß Lebie in Harrys Gegenwart so viele Worte verlor.
Wie Harry erwartet hatte, war auf der Dienststelle die Hölle los.
»Es steht bei Reuters«, sagte Yong. »AP will einen Fotografen vorbeischicken, und das Büro des Bürgermeisters hat angerufen und uns mitgeteilt, daß NBC ein Fernsehteam herüberfliegen lassen will, um eine Story zu machen.«
Wadkins schüttelte den Kopf.
»Sechstausend Menschen kommen bei einer Springflut in Indien ums Leben und werden in einer kurzen Notiz erwähnt. Aber wenn ein schwuler Clown ein paar Glieder verliert, ist das eine Weltsensation.«
Harry bat die anderen ins Besprechungszimmer. Er schloß die Tür.
»Andrew Kensington ist tot«, sagte er.
Wadkins und Yong schauten ihn entgeistert an. Kurz und ohne Umschweife erzählte Harry, daß sie Andrew in Otto Rechtnagels Wohnung erhängt an der Decke gefunden hatten.
Er schaute ihnen direkt in die Augen und seine Stimme war fest: »Wir haben das nicht telefonisch weitergegeben, um sicher zu sein, daß nicht die falschen Leute davon erfahren. Vielleicht sollten wir versuchen, das vorerst geheimzuhalten.«
Es wurde ihm klar, daß es ihm leichter fiel, darüber zu reden, wenn er es als Polizeifall betrachtete. Dann wurde es zu etwas Konkretem, mit dem er umzugehen wußte. Eine Leiche, eine Todesursache und ein Handlungsverlauf, den sie aufzudecken hatten. Das schob den Tod – dieses fremde Etwas, von dem er nicht wußte, wie er ihm begegnen sollte – für eine Weile beiseite.
»Okay«, sagte Wadkins verwirrt. »Nur ruhig jetzt. Wir dürfen nun keine vorschnellen Schlüsse ziehen!«
Er wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. »Lassen Sie mich McCormack holen. Scheiße. Verdammte Scheiße, Kensington, was hast du gemacht? Wenn die Presse Wind davon bekommt …« Wadkins verschwand durch die Tür.
Die drei anderen blieben sitzen und lauschten dem Klagelied des Ventilators.
»Er arbeitete hier in der Mordkommission ja ein bißchen von Fall zu Fall«, sagte Lebie. »So gesehen war er eigentlich nicht so richtig einer von uns, aber trotzdem …«
»Ein netter Kerl«, sagte Yong und blickte zu Boden. »Ein netter Kerl, er war für mich da, als ich hier angefangen habe, er war … ein netter Kerl.«
McCormack verordnete Stillschweigen. Es gefiel ihm gar nicht, er stampfte die zwei Schritte in dem Besprechungszimmer noch schwerer als sonst hin und her, und seine buschigen Augenbrauen zogen sich zu einem grauen Tiefdruckgebiet über seinem Nasenrücken zusammen.
Nach der Besprechung setzte sich Harry an Andrews Schreibtisch und ging seine Aufzeichnungen durch. Er konnte nicht viel daraus entnehmen, nur einige Adressen, ein paar Telefonnummern, die, wie sich herausstellte, zu Autowerkstätten gehörten, und ein paar unverständliche Kritzeleien auf einem Blatt Papier. Die Schubladen waren, abgesehen von ein bißchen Büromaterial, leer. Danach schaute sich Harry die beiden Schlüsselbunde an, die sie bei Andrew gefunden hatten. Der eine trug am Anhänger Andrews Initialen, also ging er davon aus, daß es sich hierbei um Andrews private Schlüssel handeln mußte.
Er nahm den Hörer ab und rief zu Hause bei Birgitta an. Sie war schockiert, stellte ein paar Fragen, ließ aber eigentlich Harry reden.
»Ich begreife nicht«, sagte Harry, »daß ich weinen muß wie ein Kind, wenn ein Typ stirbt, den ich gerade erst einmal eine Woche kenne, ich mir aber beim Tod meiner Mutter nicht eine einzige Träne herauspressen konnte. Meine Mutter, die beste Frau der Welt! Während dieser Typ … ich weiß nicht einmal, wie gut wir uns eigentlich kannten. Wo ist da die Logik?«
»Logik«, sagte Birgitta. »Das hat wohl nichts mit Logik zu tun. Außerdem kann man sich nicht so sehr auf die Logik verlassen, wie das die Menschen gerne hätten.«
»Nun, ich wollte nur, daß du es weißt. Behalte es für dich. Kriege ich heute abend, wenn du fertig bist, Besuch?«
Sie zögerte. Sie erwartete in der Nacht ein Telefonat aus Schweden, von ihren Eltern.
»Ich habe Geburtstag«, sagte sie.
»Herzlichen Glückwunsch.«
Harry legte auf. Er spürte, wie ein alter Feind in seinem Magen knurrte.
Nach einer halben Stunde Fahrt erreichten Lebie und Harry Andrew Kensingtons Wohnung. Sie lag an der Sydney Road in Chatwick, einer netten Straße in einem gemütlichen Vorstadtviertel.
»Mein Gott, sind wir hier richtig?« fragte Harry, als sie vor der Hausnummer anhielten, die ihnen von der Personalabteilung genannt worden war. Es war eine große, steinerne Villa mit Doppelgarage und einem gepflegten Vorgartenrasen mit Springbrunnen. Ein Kiesweg führte zu einer beeindruckenden Mahagonitür. Ein kleiner Junge öffnete die Tür, als sie klingelten. Er nickte ernsthaft, als sie nach Andrew fragten, zeigte auf sich selbst und legte eine Hand auf seinen Mund, so daß sie verstanden, daß er stumm war. Dann führte er sie zur Rückseite des Hauses und zeigte auf ein kleines, niedriges Häuschen auf der anderen Seite des riesigen Gartens. Bei einem englischen Gut wäre es wohl als Gärtnerhäuschen bezeichnet worden.
»Wir werden hineingehen«, sagte Harry und bemerkte, daß er überdeutlich sprach. Als wenn auch mit den Ohren des Jungen etwas nicht stimmte.
»Wir sind … waren Kollegen von Andrew. Andrew ist tot.«
Er hielt Andrews ledernen Schlüsselbund hoch. Der Junge blickte einen Augenblick lang verwirrt auf die Schlüssel und schnappte dann nach Luft.
»Er ist ganz plötzlich heute nacht gestorben«, sagte Harry. Der Junge blieb mit hängenden Armen vor ihnen stehen, und seine Augen begannen langsam zu glänzen. Harry begriff, daß sich die beiden gut gekannt haben mußten. Er hatte erfahren, daß Andrew seit nunmehr fast zwanzig Jahren hier gewohnt hatte und mit einem Mal begriff er, daß der Junge vermutlich in dem großen Haus aufgewachsen war. Ohne es zu wollen, sah Harry sie vor sich – den kleinen Jungen und den großen schwarzen Mann, wie sie im Garten Fußball spielten oder wie der Kleine weinte und getröstet wurde und Geld kriegte, um schnell Eis und Bier zu holen. Vielleicht war er mit den halbseidenen Ratschlägen und den nicht immer ganz wahren Geschichten von dem Polizisten in dem Gartenhäuschen groß geworden, und später, wenn er erwachsen genug gewesen wäre, hätte er ihm erzählt, wie man mit den Mädchen umzugehen hat und man eine rechte Gerade schlägt, ohne die Deckung zu vernachlässigen.
»Übrigens, es stimmt nicht, wir waren mehr als Kollegen. Wir waren Freunde. Wir auch«, fügte Harry hinzu. »Ist es in Ordnung für dich, wenn wir hineingehen?«
Der Junge klapperte mit den Augenlidern, preßte den Mund zusammen und nickte.
Harry fluchte innerlich. Nimm dich zusammen, Hole, dachte er. Du fängst langsam an, dich wie eine Figur aus einer amerikanischen Seifenoper anzuhören.
Das erste, was ihm auffiel, als sie die kleine Junggesellenwohnung betraten, war die unglaubliche Sauberkeit und Ordnung. In der sparsam möblierten Stube lagen keine Zeitungen auf dem Tischchen vor dem Reisefernseher, und in der Küche wartete kein altes Geschirr auf den Abwasch. Im Flur standen die Schuhe und Stiefel in Reih und Glied und die Enden der Schnürsenkel lagen innen in den Schuhen. Die strenge Ordnung erinnerte ihn an etwas.
Das Bett im Schlafzimmer war untadelig mit weißen Laken bezogen, und die Bettdecke war so stramm an den Seiten unter der Matratze eingeschlagen, daß man sich auf akrobatische Weise in den Briefschlitz zwischen den Schichten klemmen mußte, um »unter die Decke« zu kommen. Harry hatte sich auch schon in seinem eigenen Hotelzimmer über dieses komische Deckenarrangement aufgeregt. Er warf einen Blick ins Bad. Auf dem Bord unter dem Spiegel standen Rasiermesser und Seife feinsäuberlich neben Rasierwasser, Zahncreme, Zahnbürste und Shampoo. Das war alles. Auch hier keine Extravaganz, dachte Harry – und plötzlich fiel ihm ein, an was ihn diese penible Ordnung erinnerte: an seine eigene Wohnung, nachdem er mit dem Trinken aufgehört hatte.
Harrys neues Leben hatte praktisch dort seinen Ausgangspunkt genommen. Eine einfache Übung der Disziplin, die sich darauf begründete, daß alles seinen Platz hatte, auf dem Regal oder in der Schublade, und nach jedem Gebrauch wieder genau dorthin zurückgelegt werden mußte. Nicht einmal ein einfacher Kugelschreiber durfte an einem zufälligen Ort liegen, und auch keine durchgebrannte Sicherung auf dem Boden des Sicherungskastens. Von dem praktischen Aspekt einmal abgesehen, hatte das Ganze natürlich auch eine symbolische Bedeutung – richtig oder falsch, das Chaosniveau in seiner Wohnung war ein Gradmesser für den sonstigen Zustand seines Lebens.
Harry bat Lebie, die Schränke und Kommoden im Schlafzimmer durchzugehen und wartete damit, das Toilettenschränkchen neben dem Spiegel zu öffnen, bis er gegangen war. Auf dem obersten Brett lagen sie ordentlich übereinandergestapelt und schauten ihn wie eine Horde von Miniatur-Sprengköpfen an: ein paar Dutzend vakuumverpackter Einwegspritzen.
Andrew Kensington hätte natürlich zuckerkrank sein können und sich Insulinspritzen setzen müssen, doch Harry wußte es besser. Wenn sie das halbe Haus abgerissen hätten, wäre sicher der Rest der Aussteuer zum Vorschein gekommen: Fixerbesteck und Pulver, aber das war gar nicht nötig. Harry wußte, was er wissen mußte.
Dschingis Khan hatte nicht gelogen, als er sagte, Andrew sei Junkie. Harry hatte eigentlich auch nicht mehr daran gezweifelt, nachdem sie ihn in Ottos Wohnung gefunden hatten. In einem Klima, das größtenteils kurzärmelige Hemden und T-Shirts erfordert, kann ein Polizist nicht mit Unterarmen voller Einstiche herumrennen. Er muß sich die Spritzen an Stellen setzen, wo die Einstiche nicht so leicht zu sehen sind – zum Beispiel auf der Rückseite der Beine. Andrews Beine und Kniekehlen waren voll davon gewesen.
Andrew war Kunde des Typen mit der Rod-Stewart-Stimme, solange Dschingis Khan zurückdenken konnte. Er meinte, Andrew gehöre zu den Menschen, die Heroin nehmen und trotzdem jobmäßig und sozial ein annähernd normales Leben führen. »Das ist wirklich nicht so ungewöhnlich, wie man meint«, hatte Dschingis gesagt.
»Aber als Speedy über Umwege erfuhr, daß der Kerl ein Bulle war, wurde er total panisch und wollte ihn abknallen. Dachte wohl, er sei V-Mann oder so was, aber wir haben ihm das ausgeredet. Der Kerl war ja schon ewig einer von Speedys besten Kunden. Kein Feilschen, immer die Kohle klar, kein Rumgelaber, hielt sich an Absprachen und das alles. Ich kenne keinen Aborigine, der Dope so gut verkraftet. Ach Scheiße, ich kenne überhaupt keinen, der das so gut packt!«
Er hatte keine Ahnung, ob Andrew jemals mit Evans White gesprochen hatte.
»White hat hier unten nichts mit den Kunden zu schaffen, er ist Großhändler, sonst nichts. Aber manchmal dealt er ein bißchen in King's Cross auf der Straße, habe ich gehört. Ich hab keinen blassen Schimmer, wieso, Kohle hat er jedenfalls genug. Aber, ich glaube, er hat schon wieder aufgehört – hatte anscheinend irgendwie Probleme mit ein paar Huren.«
Dschingis hatte alles ganz frei erzählt. Offener als notwendig, um seine Haut zu retten. Ja, er schien fast Gefallen daran gefunden zu haben. Er mußte damit gerechnet haben, daß Harry wohl keine sonderlich große Gefahr war, jedenfalls solange, wie einer seiner Kollegen auf ihrer Kundenliste stand.
»Du kannst den Kerl von mir grüßen und ihm ausrichten, daß er jederzeit wieder willkommen ist. Wir sind nicht nachtragend«, hatte Dschingis zum Schluß mit einem breiten Grinsen gesagt. »Egal, wer sie sind, die kommen immer alle wieder zurück, alle!«
Harry ging ins Schlafzimmer, wo sich Lebie ohne großen Enthusiasmus durch Unterhosen und Papiere wühlte.
»Gibt es etwas Interessantes?« fragte Harry.
»Nein, nichts Besonderes. Und bei dir?«
»Nichts.«
Sie schauten sich an.
»Laß uns gehen«, sagte Harry.
Der Wachmann des St. George-Theaters saß im Pausenraum und erinnerte sich noch vom Vortag an Harry. Er sah beinahe erleichtert aus.
»E-e-endlich jemand, der nicht hierherkommt, um zu fragen und zu bohren, wie das alles aussah. D-d-den ganzen Tag schwärmen hier schon die Journalisten herum«, sagt er. »Plus diese Sp-p-puren-Leute von Ihnen. Aber die haben ja genug zu tun, d-d-die stören uns nicht.«
»Ja, die haben da drinnen wohl genug zu tun.«
»Uff, ja. Ich habe heute nacht kein Auge zugetan. Meine Frau mußte mir schließlich eine von ihren Schlaftabletten g-g-geben. So was sollte man möglichst nicht erleben. Aber Sie sind wohl an so was gewöhnt, Sie …«
»Na, das war wirklich etwas heftiger als normal.«
»Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder in diesen Raum werde gehen können.«
»Oh, Sie werden darüber hinwegkommen.«
»Ach, hören Sie mir zu. Ich kann wirklich nicht mehr vom Requisitenraum reden, ich sage nur noch ›der‹ Raum.« Der Wachmann schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das braucht sicher seine Zeit«, sagte Harry. »Glauben Sie mir, ich habe mit so etwas meine Erfahrungen.«
»Ich hoffe, Sie haben recht, Konstabel.«
»Nennen Sie mich Harry.«
»Kaffee, Harry?«
Harry nahm gerne einen und legte den Schlüsselbund vor ihnen auf den Tisch.
»Ah, da ist er ja«, sagte der Wachmann. »Der Schlüsselbund, den sich Rechtnagel ausgeliehen hat. I-i-ich hatte schon Angst, der würde nicht wieder auftauchen. Dann hätten wir alle Schlösser auswechseln müssen. Wo haben Sie den gefunden?«
»Zu Hause bei Otto Rechtnagel.«
»Was? Er hat den Schlüssel doch gestern abend benutzt. Seine Garderobentür …«
»Denken Sie nicht daran. Ich frage mich, ob gestern noch andere Menschen als die Akteure hinter der Bühne waren.«
»Oh, ja, lassen Sie mich nachdenken. Der Beleuchter, die zwei Bühnenassistenten und unser Tonmeister. Keine Garderobieren oder Maskenbildner. Das war ja keine große Produktion. Ja, das sind wohl alle. Während der eigentlichen Vorstellung waren es dann nur die Bühnenassistenten und die anderen Akteure, und ich natürlich.«
»Und Sie haben niemand sonst dort gesehen?«
»Nee«, antwortete der Wachmann überzeugt.
»Hätte jemand über einen anderen Weg als durch die Hintertür oder die Tür neben der Bühne hereinkommen können?«
»Vielleicht, es gibt oben auf der Galerie einen Seitengang. Die Galerie war ja gestern abend geschlossen, aber die Tür war offen, denn der Beleuchter sitzt ja dort oben. Reden Sie mit ihm.«
Die Kropfaugen des Beleuchters quollen wie bei einem Tiefseefisch hervor, den man gerade an Land gezogen hatte. »Doch, warten Sie. Da oben hat vor der Pause jemand gesessen. Wir verkaufen ja nur die Plätze unten im Parkett, wenn wir vorher schon wissen, daß es nicht voll wird, aber es ist im Grunde nicht so merkwürdig, daß jemand da hochgeht, denn der Zugang zur Galerie wird ja nicht abgeschlossen, auch wenn die Platzkarten natürlich für unten sind. Er saß ganz alleine in der letzten Reihe. Ich weiß noch, daß ich mich gewundert habe, daß er so weit hinten sitzen wollte. Nun, es war ja nicht viel Licht, aber ich habe ihn jedenfalls gesehen. Als ich nach der Pause wiederkam, war er, wie gesagt, weg.«
»Kann er auf dem gleichen Weg wie Sie hinter die Bühne gekommen sein?«
»Tja«, der Beleuchter kratzte sich am Kopf. »Das nehm ich an. Wenn er direkt in den Requisitenraum gegangen ist, hat ihn wahrscheinlich auch niemand gesehen. Wenn ich richtig nachdenke, sah der Typ auch nicht sonderlich frisch aus. Genau. Ich weiß, da war etwas, etwas, das mich nachdenklich gestimmt hat, das irgendwie nicht richtig gepaßt hat.«
»Hören Sie«, sagte Harry. »Das ist alles schön und gut. Ich werde Ihnen jetzt ein Bild zeigen …«
»Übrigens war da noch etwas mit dem Mann …«
»… aber zuerst«, unterbrach ihn Harry, »möchte ich, daß Sie versuchen, sich den Mann, den Sie gestern gesehen haben, noch einmal genau vorzustellen und mir dann, wenn Sie das Bild sehen, das erste zu sagen, was Ihnen dazu einfällt. Hinterher gebe ich Ihnen dann noch einmal mehr Zeit, Sie können Ihre Aussage dann eventuell auch korrigieren, aber jetzt brauche ich einfach die erste Reaktion. Okay?«
»In Ordnung«, antwortete der Beleuchter und riß die vorstehenden Augen noch weiter auf, so daß er mehr und mehr wie ein Frosch aussah. »Ich bin bereit.«
Harry zeigte ihm das Bild.
»Das ist er!« sagte der Kropfmann wie aus der Pistole geschossen.
»Nehmen Sie sich etwas mehr Zeit und sagen Sie mir, was Sie glauben«, sagte Harry.
»Es gibt keinen Zweifel. Das habe ich doch gerade zu sagen versucht, daß, daß der Mann ein Schwarzer war … ein Aborigine. Das ist Ihr Mann!«
Harry war müde. Es war bereits ein langer Tag gewesen, und ihm graute davor, an die restlichen Stunden zu denken. Als er von einem Assistenten in den Obduktionssaal geführt wurde, beugte sich Doktor Engelssohns kleine gedrungene Gestalt über einen großen, fetten Frauenkörper, der auf einer Art Operationstisch unter großen Lampen lag.
Harry glaubte, an diesem Tag keine weiteren fetten Frauen ertragen zu können und bat den Assistenten, den Doktor darauf aufmerksam zu machen, daß er, Holy, gekommen sei. Er habe heute vormittag angerufen.
Mit seinem mürrischen Äußeren sah Engelssohn aus wie der Prototyp eines verrückten Professors. Seine wenigen Haare standen in alle Richtungen ab, und die hellen Bartstoppeln schienen ganz zufällig in dem rotwangigen Schweinsgesicht verteilt zu sein.
»Ja?«
Harry sah, daß er das erst zwei Stunden zurückliegende Telefongespräch bereits wieder vergessen hatte.
»Mein Name ist Harry Holy, ich habe Sie angerufen und Sie gebeten, mir die ersten Resultate der Obduktion von Andrew Kensington zu geben.«
Sogar in diesem Raum voller fremdartiger Gerüche und Lösungsmitteldämpfe konnte Harry die Ginfahne des Professors riechen.
»Oh, ja, natürlich. Kensington. Eine traurige Sache. Ich habe ein paarmal mit ihm gesprochen. Als er noch lebte, natürlich. Jetzt liegt er stumm wie ein Fisch in dieser Schublade dort.«
Engelssohn machte mit dem Daumen eine Bewegung nach hinten.
»Das bezweifle ich nicht, Doktor. Was haben Sie herausgefunden?«
»Hören Sie, Mr … wie war doch gleich Ihr Name? … Holy, ja! Wir haben hier eine lange Schlange von Leichen, die alle als erste an der Reihe sein wollen. Ja, nicht die Leichen, natürlich, aber die Ermittler. Aber alle müssen schön warten, bis sie an der Reihe sind. So sind halt die Regeln, keiner schleicht sich da vorbei, verstehen Sie? Heute morgen also, als der große Häuptling McCormack persönlich anrief und befahl, der Untersuchung eines Selbstmordopfers Priorität zu geben, bin ich neugierig geworden. Ich bin nicht mehr dazu gekommen, McCormack zu fragen, aber vielleicht können Sie, Mr. Hogan, mir sagen, was an diesem Kensington denn so Besonderes ist?«
Er warf verächtlich den Kopf in den Nacken und pustete Harry wieder seine Ginfahne in die Nase.
»Nun, wir hoffen, daß Sie uns da weiterhelfen können, Doktor! Gibt es etwas Besonderes?«
»Besonderes? Was meinen Sie mit Besonderes? Ob er drei Beine hatte, vier Lungen oder eine Brustwarze auf dem Rücken?«
Harry war müde. Was er jetzt am wenigsten gebrauchen konnte, war ein angetrunkener Gerichtsmediziner, der sich aufspielte, weil er sich auf den Schlips getreten fühlte. Und Menschen mit Staatsexamen haben oft teure Schlipse.
»Gab es etwas … Ungewöhnliches?« formulierte Harry seine Frage neu.
Engelssohn schaute ihn mit leicht verschleiertem Blick an.
»Nein«, sagte er. »Es gab nichts Ungewöhnliches, überhaupt nichts Ungewöhnliches.«
Der Doktor schaute ihn noch immer mit leicht schwankendem Kopf an, und Harry sah, daß er noch nicht alles gesagt hatte. Er hatte nur eine Kunstpause gemacht, die ihm und seinem alkoholbenebelten Hirn bestimmt nicht so übertrieben lang vorkam wie Harry.
»Hier bei uns ist es nicht ungewöhnlich«, fuhr der Doktor schließlich fort, »daß die Leichen bis zum Rand voll mit Dope sind. In diesem Fall: Heroin. Das Besondere muß wohl sein, daß er Polizist war, aber da wir nur selten Kollegen von Ihnen hier auf den Tischen haben, weiß ich nicht, wie besonders das ist.«
»Todesursache?«
»Sagten Sie nicht, Sie hätten ihn gefunden? Was glauben Sie, woran man stirbt, wenn man mit einem Stromkabel um den Hals von einer Decke herabhängt? An Keuchhusten?«
Es begann in Harry langsam zu brodeln, aber noch gelang es ihm, die Fassung zu bewahren.
»Er starb also an Sauerstoffmangel, nicht an einer Überdosis?«
»Bingo, Hogan!«
»Gut, nächste Frage: Wann ist der Tod eingetreten?«
»Sagen wir mal zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens.«
»Präziser geht es nicht?«
»Sind Sie glücklicher, wenn ich sage ›vier Minuten nach eins‹?« Die roten Wangen des Mediziners waren noch röter geworden. »Gut, dann sagen wir vier Minuten nach eins.«
Harry atmete ein paarmal tief ein und aus.
»Entschuldigen Sie, wenn ich mich so ausdrücke … wenn ich frech gewirkt habe … Doktor, aber mein Englisch ist nicht immer so …«
»… wie es sein sollte«, beendete Engelssohn seinen Satz.
»Genau. Sie sind ganz ohne Zweifel ein sehr beschäftigter Mann, Doktor, ich will Sie also nicht noch länger stören, ich brauche nur noch Ihre Bestätigung dafür, daß Sie verstanden haben, daß Mr. McCormack darum gebeten hat, den Obduktionsbericht nicht über den üblichen Dienstweg, sondern persönlich zugestellt zu bekommen.«
»Das geht wohl kaum. Diesbezüglich habe ich klare Vorschriften, Horgan. Das können Sie McCormack gerne mit den besten Grüßen ausrichten.«
Der kleine, verrückte Professor stand breitbeinig und selbstsicher mit verschränkten Armen vor Harry. Seine Augen glänzten jetzt kampfbereit.
»Vorschriften? Ich weiß nicht, welchen Stellenwert die Vorschriften bei der Polizei in Sydney haben, aber dort, wo ich herkomme, sind die Vorschriften dazu da, daß die Menschen auch dann wissen, was sie zu tun haben, wenn sie keine Anweisungen von ihren Vorgesetzten bekommen haben«, sagte Harry.
»Vergessen Sie das, Horgan. Berufsethik hat bei Ihnen wohl kaum einen sonderlich hohen Stellenwert, ich glaube also nicht, daß man mit Ihnen eine auch nur ansatzweise fruchtbare Diskussion über dieses Thema führen könnte. Sollen wir es nicht dabei belassen und uns ›Auf Wiedersehen‹ sagen, Mr. Horgan?«
Harry blieb stehen.
»Oder was meinen Sie?« fragte Engelssohn ungeduldig.
Harry sah einen Mann vor sich, der glaubte, nichts mehr verlieren zu können. Ein alkoholabhängiger, mittelaltriger und ebenso mittelmäßiger Gerichtsmediziner, der keine Hoffnungen oder Erwartungen mehr an seine Karriere hatte und der deshalb auch vor nichts und niemandem Angst hatte.
Denn was konnte ihm denn noch widerfahren? Hinter Harry lag der längste und schlimmste Tag seines Lebens. Und er hatte die Schnauze voll. Er packte den weißen Kittelkragen des Arztes und hob ihn an.
Es knackte in einigen Nähten.
»Was ich meine? Ich meine, wir sollten mal eine Blutprobe von Ihnen nehmen und dann anschließend über die Berufsethik sprechen, Mr. Engelssohn. Ich meine, wir sollten einmal darüber reden, wer alles bestätigen kann, daß Sie stinkbesoffen waren, als Sie Inger Holter obduzierten. Und dann denke ich, sollten wir mit jemandem reden, der an einem Ort arbeitet, wo die Berufsethik wirklich einen hohen Stellenwert hat, jemandem, der Sie feuern kann, nicht nur aus dieser Stellung hier, sondern aus jedem Job, für den Sie eine Arztlizenz benötigen. Was meinen Sie, Doktor Engelssohn? Was halten Sie jetzt von meinem Englisch?«
Doktor Engelssohn war der Meinung, Harrys Englisch sei ausgezeichnet, und nachdem er kurz nachgedacht hatte, schien es ihm dieses eine Mal auch möglich zu sein, den Dienstweg zu umgehen.
McCormack hatte Harry wieder den Rücken zugedreht und schaute aus dem Fenster. Draußen ging die Sonne unter, aber noch immer schimmerte das verlockende blaue Meer zwischen den Wolkenkratzern und dem quietschgrünen Royal Botanical Garden hindurch. Harry hatte einen trockenen Mund und pochende Kopfschmerzen. Er hatte fast ohne Unterbrechung einen fünfundvierzig Minuten langen Monolog gehalten. Über Otto Rechtnagel, Andrew Kensington, Heroin, The Cricket, den Beleuchter, Engelssohn – einfach über alles, was geschehen war.
McCormack legte die Fingerkuppen gegeneinander. Er hatte schon eine ganze Weile nichts mehr gesagt.
»Wußten Sie, daß weit dort draußen, in Neuseeland, die dümmsten Menschen der Welt wohnen? Sie wohnen ganz für sich auf einer Insel, ohne Nachbarn, die einen Grund haben könnten, sie zu quälen, nur unendlich viel Wasser. Trotzdem haben die Menschen dort in diesem Jahrhundert an allen großen Kriegen teilgenommen, die es nur gab. Kein anderes Land, nicht einmal die Russen, haben während des Zweiten Weltkriegs prozentual zur Bevölkerung so viele junge Menschen verloren. Der Frauenüberschuß auf Neuseeland wurde fast zur Legende. Und warum all diese Kriegsspielerei? Um zu helfen. Um anderen zur Seite zu stehen. Diese harmlosen Trottel haben nicht einmal auf eigenem Grund und Boden gekämpft, nein, sie hockten sich in Schiffe und Flugzeuge, um so weit entfernt wie nur möglich zu sterben. Sie halfen den Alliierten gegen die Deutschen und Italiener, den Südkoreanern gegen die Nordkoreaner und den Amerikanern erst gegen die Japaner und dann gegen die Nordvietnamesen. Mein Vater war einer von diesen hilfsbereiten Trotteln.«
Er drehte sich um und blieb von Angesicht zu Angesicht vor Harry sitzen.
»Mein Vater hat mir eine Geschichte über einen Kanonenschützen auf seinem Schiff erzählt. Im Krieg der Amerikaner gegen die Japaner 1945 bei Okinawa. Die Japaner hatten mit den Kamikaze-Fliegern begonnen, die in einer eigenen Taktik und in einer Formation angriffen, die sie ›Mohnblätter, die vom Himmel fallen‹ nannten. Und genauso machten sie es. Zuerst kam ein Flugzeug, und wenn das abgeschossen wurde, kamen zwei andere nach, und danach vier und so weiter in einer schier endlosen Pyramide herabstürzender Flugzeuge. Alle an Bord des Schiffes, auf dem auch mein Vater war, waren vollkommen entsetzt. Das war doch der blanke Wahnsinn, Piloten, die freiwillig in den Tod gingen, nur um sicher zu sein, daß ihre Bombenlast dort landete, wo sie hin sollte. Die einzige Möglichkeit, sie aufzuhalten, war ein möglichst dichtes Flak-, ein Sperrfeuer aus Flugabwehrkanonen. Ein noch so kleines Loch in dieser Sperre, und die Japaner waren über ihnen. Jedes Flugzeug mußte, nachdem es in Reichweite war, innerhalb von zwanzig Sekunden abgeschossen sein, ansonsten hätte das ihr Ende bedeutet, denn vermutlich wäre es dem Piloten gelungen, auf das Schiff zu stürzen. Die Flakschützen wußten, daß jeder Schuß treffen mußte, und manchmal dauerten die Luftangriffe den ganzen Tag. Mein Vater hat mir das gleichmäßige Dröhnen der Kanonen und das hohe, schrille Pfeifen der im Sturzflug herunterrasenden Flugzeuge beschrieben. Er sagte, er habe dieses Geräusch sein ganzes Leben lang jede Nacht aufs neue gehört.
Am letzten Tag des Angriffs hatte er auf der Brücke gestanden, als sie sahen, daß es einem der Flugzeuge gelungen war, das Sperrfeuer zu durchdringen und dieses geradewegs auf sie zu stürzte. Die Schiffskanonen donnerten los, während sich das Flugzeug langsam näherte. Es schien still am Himmel zu stehen und lediglich von Sekunde zu Sekunde ein wenig zu wachsen. Schließlich konnten sie deutlich das Cockpit und darin die Umrisse eines Piloten erkennen. Die Granaten des Flugzeugs begannen gerade in das Deck einzuschlagen, als die ersten Flakgranaten des Schiffes trafen. Sie zerfetzten die Flügel und den Rumpf des Flugzeuges. Das Heck flatterte weg und ganz langsam, wie in Zeitlupe, löste sich das Flugzeug in seine Bestandteile auf. Schließlich klatschte nur ein kleiner Teil des Propellers mit einem Schweif aus Feuer und Rauch auf das Deck. Die anderen Flakschützen waren bereits wieder dabei, ein neues Ziel anzuvisieren, als einer aus der Flakstation unterhalb der Brücke, ein junger Korporal, den Vater kannte, weil er wie er aus Wellington stammte, aufstand, herauskletterte, Vater lächelnd zuwinkte und sagte: ›Es ist heiß heute.‹ Mit diesen Worten sprang er über die Reling und verschwand.«
Vielleicht war es das Licht, aber Harry schien es, als wenn McCormack mit einem Mal alt aussehe.
»Es ist heiß heute«, wiederholte McCormack.
»Die Natur des Menschen ist ein großer, dunkler Wald, Sir.«
McCormack nickte.
»Das habe ich früher schon einmal gehört, Holy, und das ist verdammt wahr. Sie haben sich gut kennengelernt, Kensington und Sie, soviel habe ich begriffen. Und auch, daß einige fordern, daß Andrew Kensingtons Rolle in diesem Fall untersucht wird. Was meinen Sie, Holy?«
Harry blickte auf seine dunkle Hose hinab. Sie war verknittert von der langen Zeit im Koffer, und die Bügelfalte war schief. Die Beerdigung sollte um zwölf Uhr stattfinden.
»Ich weiß nicht, was ich meine, Sir.«
McCormack stand auf und begann seine Runde vor dem Fenster, die Harry mittlerweile kannte.
»Ich bin mein ganzes Leben Polizist gewesen, Holy, aber noch immer betrachte ich meine Kollegen und frage mich, was die Menschen dazu bringt, das zu tun, anderer Leute Kriege auszufechten. Was treibt sie an? Was sind das für Menschen, die bereit sind, so viele Leiden zu ertragen, nur damit anderen das zuteil wird, was sie als Gerechtigkeit betrachten? Das sind die Dummen, Holy. Wir. Wir sind mit einer Dummheit gesegnet, die so groß ist, daß wir tatsächlich glauben, etwas erreichen zu können.
Wir werden in der Luft zerfetzt, zerstört, und eines Tages springen wir ins Meer, aber bis dahin glauben wir in unserer grenzenlosen Naivität, daß wir von jemandem gebraucht werden. Und wenn wir uns dann doch eines Tages dieser Illusion bewußt werden, ist es bereits zu spät, denn wir sind Polizisten geworden, dann stehen wir bereits in den Schützengräben und können nicht mehr zurück. Wir können uns nur fragen, was zum Teufel geschehen ist, wann wir schlußendlich den großen Fehler gemacht haben. Wir sind dazu verurteilt, unser Leben lang do-gooders zu sein – und zu scheitern. Aber die Wahrheit ist glücklicherweise eine verdammt relative Sache. Und sie ist flexibel. Wir beugen und biegen sie so zurecht, daß sie in unserem Leben Platz findet. Jedenfalls ein Teil davon. Manchmal reicht es, einen Verbrecher festzunehmen, um ein bißchen Seelenfrieden zu bekommen. Aber jeder weiß doch, daß es nicht gerade gesund ist, sein ganzes Leben lang Ungeziefer auszurotten. Man bekommt sein eigenes Gift zu spüren.
Worum geht es also, Holy? Der Mann hat sein ganzes Leben lang in dem Flakturm gestanden, und jetzt ist er tot. Was soll man da noch sagen? Die Wahrheit ist relativ. Es ist für diejenigen, die es nicht erlebt haben, nicht so leicht zu begreifen, wie extreme Belastungen einen Menschen verändern können. Wir haben Gerichtspsychiater, die versuchen eine Grenzlinie zwischen den Kranken und den Kriminellen zu ziehen, und die biegen die Wahrheit so lange zurecht, daß sie in ihre theoretische Modellwelt paßt. Wir haben ein Rechtssystem, von dem wir im besten Fall hoffen können, daß es das eine oder andere subversive Element von den Straßen entfernt, und Journalisten, die sich gerne als Idealisten verstanden wissen, weil sie nach oben kommen, wenn sie berichten, wie andere die Spielregeln verletzen, und das Ganze für Gerechtigkeit. Aber die Wahrheit?
Die Wahrheit ist doch, daß niemand von der Wahrheit lebt und die Wahrheit deshalb niemanden interessiert. Die Wahrheit, die wir uns erschaffen, ist doch nur die Summe von all dem, was den Menschen zum eigenen Vorteil dient, und noch dazu abhängig davon, welche Macht sie innehaben.«
Er blickte Harry fest an.
»Wen also interessiert die Wahrheit über Andrew Kensington? Wem ist damit gedient, daß wir eine häßliche, verdrehte Wahrheit mit scharfen Ecken und Kanten erschaffen, die überall herausragen, weil sie nicht ins Bild passen wollen? Nicht dem Polizeipräsidenten, nicht den Politikern in der Stadtverwaltung. Nicht denen, die sich für die Rechte der Aborigines einsetzen. Nicht der Polizeigewerkschaft. Nicht unserer Botschaft. Niemandem. Oder?«
Harry hatte Lust, Inger Holters Angehörige zu erwähnen, aber er ließ es bleiben. McCormack blieb vor dem Porträt der jungen Königin Elisabeth II. stehen.
»Ich würde es vorziehen, wenn das, was Sie mir erzählt haben, unser Geheimnis bliebe, Holy. Sie begreifen sicher, daß es so am besten ist?«
Harry zupfte ein langes rotes Haar von seiner Hose.
»Ich habe mit dem Büro des Bürgermeisters gesprochen«, sagte McCormack. »Damit das alles nicht zu auffällig ist, geben wir dem Fall Inger Holter noch eine Weile Priorität. Wenn wir nichts mehr finden, werden sich die Menschen schon damit abfinden, daß der Clown das norwegische Mädchen getötet haben muß. Wer wiederum den Clown auf dem Gewissen hat, dürfte ein bißchen schwieriger zu erklären sein, aber vieles deutet ja daraufhin, daß es sich um ein crime passionel, ein Eifersuchtsdrama handelt, vielleicht ein heimlicher, betrogener Liebhaber, wer weiß? In solchen Fällen können die Menschen damit leben, wenn der Täter unerkannt bleibt. Natürlich wird nichts irgendwie bewiesen, aber die Indizien sind klar, und nach einer gewissen Zeit gerät der ganze Fall in Vergessenheit. Daß es das Machwerk eines Serienmörders sein könnte, war bloß eine mögliche Theorie, mit der die Polizei kurze Zeit gearbeitet, die sie dann aber verworfen hat.«
Harry machte Anstalten zu gehen. McCormack räusperte sich.
»Ich bin dabei, Ihr Zeugnis zu schreiben, Holy. Ich werde es der Polizeipräsidentin zustellen, wenn Sie abgereist sind. Sie fahren morgen, nicht wahr?«
Harry nickte kurz und ging.
Die milde Abendbrise linderte seine Kopfschmerzen nicht. Und auch die versöhnliche Dunkelheit ließ das Bild nicht freundlicher werden. Harry rannte ziellos durch die Straßen. Ein kleines Tier huschte über den Weg im Hyde Park. Zuerst dachte er, es handele sich um eine große Ratte, aber als er in seiner Nähe war, sah er, daß es ein kleines Tier mit dichtem Pelz war. Die Lichter der Lampen reflektierten in den Augen, die zu ihm hinaufschauten. Harry hatte so ein Tier noch nie gesehen, glaubte aber, daß es ein Opossum war. Der Nager schien sich nicht vor ihm zu fürchten, ganz im Gegenteil, er hob den Kopf und schnupperte neugierig, wobei er merkwürdige Geräusche von sich gab.
Harry hockte sich hin.
»Fragst du dich auch, was du eigentlich mitten in dieser Riesenstadt sollst?«
Das Tier neigte als Antwort den Kopf zur Seite.
»Was meinst du, sollen wir morgen nach Hause fahren? Du in deinen Wald und ich in den meinen?«
Der Nager trollte sich, er wollte sich nicht überreden lassen, irgendwohin zu fahren. Er hatte sein Heim hier in diesem Park, zwischen den Autos, den Menschen und den Mülleimern.
Draußen bei Woollomolo ging er an einer Bar vorbei. Die Botschaft hatte angerufen. Er hatte versprochen, zurückzurufen. Was dachte Birgitta? Sie hatte nicht so viel gesagt. Er hatte aber auch nicht sonderlich viel gefragt. Sie hatte ihm nichts von ihrem Geburtstag heute erzählt, vielleicht weil sie fürchtete, daß er sonst irgendeine Dummheit machte. Irgendwie über das Ziel hinausschoß. Ihr ein viel zu teures Geschenk kaufte oder Dinge sagte, die unnötig waren, nur weil es der letzte Abend war und er ganz hinten in seinem Kopf ein schlechtes Gewissen hatte, weil er abreiste. »Was soll das Ganze?« fragte sie sich vielleicht.
Wie Kristin, als sie aus England zurückkam.
Sie hatten sich auf der Terrasse des Frognercafes getroffen. Kristin hatte erzählt, daß sie zwei Monate lang hierbleiben würde. Sie war braungebrannt und fröhlich und lächelte ihr altes Lächeln über das Bierglas, und er wußte genau, was er zu tun und zu sagen hatte. Es war wie ein altes Lied auf dem Klavier zu spielen, das man geglaubt hatte, vergessen zu haben – der Kopf war leer, doch die Finger fanden sich zurecht. Sie hatten sich total vollaufen lassen, aber das war noch bevor es darum ging, sich zu betrinken, so daß sich Harry an alles erinnern konnte. Sie waren mit der Straßenbahn in die Stadt gefahren, und Kristin hatte sie beide durch ihr Lächeln an der Schlange des Sardine's vorbeigeschleust. In der Nacht, verschwitzt vom Tanzen, hatten sie ein Taxi hinauf nach Frogner genommen, waren über den Zaun der Badeanstalt und dann auf den Sprungturm geklettert. Zehn Meter über dem menschenleeren Park hatten sie eine Flasche Wein getrunken, über die Stadt geschaut und sich gegenseitig erzählt, was sie werden wollten, und immer war es etwas anderes als beim letzten Mal. Dann hatten sie sich an den Händen gefaßt, Anlauf genommen und waren über die Kante in die Tiefe gesprungen. Während sie fielen, hörte er nur ihren Schrei, der in seinen Ohren wie ein wunderbar übersteuerter Brandalarm klang. Er hatte laut lachend am Rand des Beckens gelegen, als sie aus dem Wasser stieg und mit eng am Körper klebendem Kleid auf ihn zukam. Am nächsten Morgen waren sie eng umschlungen in seinem Bett aufgewacht, verschwitzt, verkatert und geil, und er hatte die Tür zum Balkon geöffnet und war mit einer auf und ab hüpfenden Erektion zurückgekommen, auf die sie sich geradewegs gestürzt hatte. Sie hatten sich besinnungslos gevögelt, klug und innig, und der Lärm der spielenden Kinder verstummte im Innenhof, als der Brandalarm erneut ertönte.
Erst später hatte sie diese unbegreifliche Frage gestellt:
»Was soll das Ganze?«
Was sollte das Ganze, wenn ja doch nichts aus ihrer Beziehung werden würde? Weil sie nach England zurück mußte, weil er so egoistisch war und sie so unterschiedlich waren, daß sie ja doch niemals heiraten, Kinder kriegen und ein Haus bauen würden. Weil es doch zu nichts führte.
»Sind nicht die letzten vierundzwanzig Stunden Grund genug?« hatte Harry gefragt. »Was, wenn sie morgen eine Geschwulst in deiner Brust feststellen? Was soll das Ganze dann? Wenn du mit deinem Haus dasitzt, deinen Kindern, einem blauen Auge und hoffst, daß dein Mann einschläft, bevor du zu Bett gehst, was soll das Ganze dann? Bist du wirklich sicher, daß du mit deinem meisterhaften Plan das Glück einfangen kannst?«
Sie hatte ihn unmoralisch genannt, als Hedonisten beschimpft und gesagt, es gebe im Leben mehr als nur Vögeln.
»Ich begreife ja, daß du all das da willst«, hatte er erwidert, »aber du brauchst genau das andere, um einen Schritt auf deinem Weg zu diesem rosa Glücks-Nirwana weiterzukommen! Wenn du im Altersheim hockst, wirst du die Farbe des Services, das du zur Hochzeit bekommen hast, vergessen haben, aber ich bin mir verdammt noch mal sicher, daß du dich an den Sprungturm erinnern wirst und daran, wie wir es anschließend am Beckenrand getrieben haben.«
Eigentlich sollte sie die Boheme sein, die Unkonventionelle, diejenige von ihnen beiden, die das Leben genoß, doch das letzte, was sie sagte, bevor sie durch seine Tür hinausmarschierte und sie schließlich zuknallte, war, daß er nichts verstehe und endlich erwachsen werden müsse.
»Was soll das Ganze?« schrie Harry, und ein Passant auf der Harmer Street drehte sich um.
Wußte es Birgitta auch nicht? Hatte sie Angst, daß die Gefühle zu stark werden könnten, weil er morgen fahren mußte? Zog sie deshalb die Telefongeburtstagsgesellschaft aus Schweden vor? Natürlich hätte er sie ganz konkret zur Rede stellen müssen, aber wie gesagt, was sollte das Ganze?
Harry spürte, wie müde er war und wußte, daß er nicht würde schlafen können. Er drehte um und ging zurück zu der Bar. An der Decke hingen Leuchtstoffröhren, in deren Verkleidung tote Insekten lagen, und an den Wänden standen Spielautomaten. Er setzte sich an einen Tisch am Fenster, wartete auf den Kellner und entschloß sich, nichts zu bestellen, wenn ihn niemand ansprach. Er wollte sich einfach nur hinsetzen.
Der Kellner kam und fragte nach seiner Bestellung, und Harry schaute lange auf die Getränkekarte, bevor er um eine Cola bat. Er hatte Birgitta gebeten, auf Andrews Beerdigung zu gehen. Sie hatte genickt und »natürlich« gesagt.
Im Fenster sah er sein doppeltes Spiegelbild, und er dachte, daß Andrew jetzt hier sein sollte, damit er den Fall mit jemandem diskutieren konnte. Wäre das jetzt das alte Familien-Spiel gewesen, hätten er und Vater jetzt ihre Einsätze gemacht und die Hintergrundinformationen gelesen, während Mutter, wieder einmal nichts begreifend, idiotische Fragen gestellt hätte. Aber es war kein Spiel, und es war Harry, der nichts begriffen hatte.
Hatte Andrew versucht, ihm mitzuteilen, daß Otto Rechtnagel Inger Holter ermordet hatte? Und wenn ja, warum? Gab es so etwas hysterisch Komisches wie verdrängte heterosexuelle Neigungen und ließen diese Serienmörder entstehen, die sich an blonden Mädchen rächten? Wie hatte es Harry nur geschafft, all das nicht zu begreifen, was Andrew ihm hatte begreiflich machen wollen? Die Einführung, die tiefgründigen Hinweise, die offensichtliche Lüge über den Augenzeugen in Nimbin, der White gesehen haben wollte – war das nicht alles zu dem Zweck gewesen, ihn von White abzubringen und endlich zu begreifen?
Andrew hatte selbst dafür gesorgt, diesen Fall zu übernehmen und mit einem Ausländer zusammenzuarbeiten, den er glaubte kontrollieren zu können. Aber warum hatte Andrew Otto Rechtnagel nicht selber aufgehalten? Welche Verbindung war zwischen diesen beiden gewesen und hatte dazu geführt, daß er ihn, Harry, als Mittelsmann brauchte? Waren Otto und Andrew ein Liebespaar gewesen? War Andrew der Grund für Ottos Liebeskummer gewesen? Und wenn ja, warum mußte er Otto gerade dann töten, als sie ihn hatten festnehmen wollen? Weil Andrew einen anderen Plan gehabt hatte, einen Plan, der Otto hätte außer Gefecht setzen sollen, ohne ihn, Andrew, als Geliebten zu entlarven? Daß es so aussah, als ob Harry Otto Rechtnagel verdächtigte, um dann eine rasche Festnahme zu arrangieren, bei der er, Andrew, Otto bei einem »Fluchtversuch« oder aus Notwehr hätte erschießen können. Irgend so etwas mußte dahinterstecken. Harry ließ es sich auf der Zunge zergehen, aber es schmeckte fad. Wenn das stimmte, dann war Otto schon die ganze Zeit zum Tode verurteilt gewesen. Aber weil Andrew im Krankenhaus lag, als sie das Rätsel lösten, war alles für den ursprünglichen Plan viel zu schnell gegangen, so daß er sich nicht mehr durchführen ließ. »Gib mir zwei Tage«, hatte er gesagt.
Harry wies eine offensichtlich angetrunkene Frau ab, die sich an seinen Tisch setzen wollte.
Aber warum mußte er sich nach dem Mord selbst das Leben nehmen, Andrew wäre ja unentdeckt geblieben? Oder vielleicht nicht? Der Beleuchter hatte ihn ja gesehen, Harry wußte von Andrews Freundschaft mit Otto, und ein Alibi für den Tatzeitpunkt gab es wohl auch nicht. Tja, es schien wirklich Zeit für die Hintergrundinformationen zu sein. Zum Teufel, nein!
Harry konnte sich mit Mühe und Not vorstellen, daß Andrew vielleicht geplant haben konnte, Otto bei einer mißglückten Festnahme zu erschießen. Eine Verhaftung, bei der Otto überlebt hätte, hätte unweigerlich zu einem langwierigen Verfahren mit dem entsprechenden Medienrummel geführt. Andrew hätte riskiert, daß alles ans Licht gekommen wäre. Zeitungsüberschriften wie »Schwarzer Kommissar war der Ex-Geliebte des Serienmörders«, gewürzt mit einem großen Foto, hätten sein Leben für immer verändert. Außerdem konnte es sein, daß Andrew von Schuldgefühlen angetrieben worden war, daß er sich persönlich dafür verantwortlich fühlte, Otto nicht aufgehalten zu haben und ihm dafür eine Strafe auferlegte, zu der ihn ein australisches Gericht nicht verurteilen konnte – den Tod.
Die Gelegenheit, eine fiktive Schießerei ohne Zeugen heraufzubeschwören, war absolut gegeben, viel schwieriger war es aber gewesen, unbemerkt einen richtigen Mord zu begehen.
Harrys Magen zog sich zusammen.
Andrew hatte alle nur erdenklichen Möglichkeiten gehabt, Otto zu erledigen, bevor sich Harry und die anderen für ihn zu interessieren begannen. Und wie paßte es zusammen, daß ein Mann in einer Stadt, in der man als Hetero so lange als Abweichler betrachtet wurde, bis das Gegenteil bewiesen war, seinen Ex-Geliebten zerstückelte, um seine sexuelle Neigung zu verbergen? Und warum hatte er sich selbst danach getötet?
Harrys pochende Kopfschmerzen hatten sich langsam, aber sicher verschlimmert, und jetzt fühlte es sich so an, als benutze jemand seinen Kopf als Amboß. In dem Funkenregen hinter seinen Augen versuchte er, an einem Gedanken festzuhalten, aber immer wieder kamen neue, die den alten verdrängten. Vielleicht hatte McCormack recht – vielleicht war es einfach nur ein heißer Tag für eine malträtierte Seele. Harry vermochte nicht an die Alternative zu denken – daß es noch mehr gab. Daß Andrew Kensington noch mehr zu verbergen hatte, daß er vor mehr davonrannte als vor der Bloßstellung, hin und wieder auch Männerbeine zu mögen.
Ein Schatten fiel auf ihn, und er blickte hoch. Der Kopf des Kellners verdeckte das Licht, und in der Silhouette glaubte Harry, Andrews blauschwarze Zunge heraushängen zu sehen.
»Noch einen Wunsch, Sir?«
»Ich habe gesehen, daß Sie hier einen Drink haben, der Black Snake heißt …«
»Jim Beam und Cola.«
Sein Magen zog und zerrte jetzt wie wild.
»Gut. Bringen Sie mir einen doppelten Black Snake ohne Cola.«
Harry hatte sich verlaufen. Vor ihm lagen Treppen, hinter ihm Wasser und noch mehr Treppen. Das Chaosniveau stieg an, die Masten dort draußen in der Bucht schwangen hin und her, und er hatte keine Ahnung, wie er hier bei all diesen Treppen gelandet war. Er entschloß sich, nach oben zu gehen. »Immer nach oben«, pflegte Vater zu sagen.
Es ging nicht ganz ohne Probleme, aber mit Hilfe der Hauswände kämpfte er sich nach oben. Auf einem Schild stand Challis Avenue, aber das sagte ihm nichts, also ging er weiter geradeaus. Er versuchte, auf die Uhr zu schauen, konnte sie aber nicht finden. Es war dunkel, und die Straßen waren beinahe leer, so daß Harry annahm, es sei spät. Als er schließlich wieder zu einer Treppe kam, bog er nach rechts in die Macleay Street ab. Er wollte keine weiteren Stufen mehr bezwingen müssen. Er mußte bereits eine ganze Weile gegangen sein, denn seine Fußsohlen brannten. Oder war er gelaufen? Ein Riß in der Hose an seinem linken Knie verriet etwas von einem möglichen Sturz.
Er ging an ein paar Bars und Restaurants vorbei, aber alle waren geschlossen. Auch wenn es spät war, mußte es doch in einer Millionenstadt wie Sydney noch irgendwo möglich sein, einen Drink zu bekommen? Er lief auf die Straße und winkte einem gelben Taxi zu, dessen Schild auf dem Dach leuchtete. Der Wagen bremste, entschied sich dann aber doch anders und beschleunigte wieder.
Scheiße, sehe ich so schlimm aus, dachte Harry und kicherte.
Weiter oben in der Straße begegneten ihm immer mehr Menschen, er nahm das anziehende Rauschen von Stimmen, Autos und Musik wahr, und als er um die nächste Ecke bog, wußte er plötzlich wieder, wo er war. Vor ihm lagen King's Cross und die Darlinghurst Road mit ihrem Lärm und den blinkenden Lichtern. Jetzt hatte er wieder alle Möglichkeiten. In der ersten Bar verwehrte man ihm den Eintritt, aber in einer kleinen chinesischen Bude servierte man ihm Whiskey in einem großen Plastikbecher. Es war voll und eng dort drinnen. Die Spielautomaten an den Wänden machten einen unerträglichen Lärm. So ging er wieder auf die Straße hinaus, nachdem er den Inhalt des Bechers hinuntergekippt hatte. Er hielt sich an einem Pfosten fest, schaute den vorbeifahrenden Autos nach und versuchte, die aufkommende Erinnerung loszuwerden, daß er sich früher am Abend irgendwo in einer anderen Bar übergeben hatte.
Während er so dastand, spürte er, daß ihm jemand auf den Rücken tippte. Er drehte sich um und sah einen großen roten Mund und dann, als er sich öffnete, daß diesem Mund ein Eckzahn fehlte.
»Ich habe das mit Andrew gehört. Es tut mir leid«, sagte der Mund. Dann kaute er weiter auf seinem Kaugummi. Er gehörte Sandra.
Harry versuchte, etwas zu sagen, aber seine Aussprache mußte sehr schlecht gewesen sein, denn Sandra schaute ihn nur verständnislos an.
»Hast du Zeit?« fragte er sie schließlich.
Sandra lachte. »Yes, but I don't think you're up to it.«
»Ist das denn eine Voraussetzung?« stammelte Harry mit viel Mühe.
Sandra schaute sich um. Harry glaubte, dort im Schatten den Schimmer eines glatten Anzugs gesehen zu haben. Teddy Mongabi war sicher nicht weit.
»Hör mal, ich bin jetzt bei der Arbeit. Vielleicht solltest du nach Hause gehen und dich ausschlafen, wir können morgen miteinander reden.«
»Ich kann dich bezahlen«, sagte Harry und begann, sein Portemonnaie herauszuzerren.
»Pack das weg!« zischte Sandra und drückte die Geldbörse wieder zurück in die Tasche. »Ich komme mit, und du gibst mir ein bißchen Geld, aber nicht hier, verstanden?«
»Laß uns in mein Hotel gehen, das ist hier gleich um die Ecke, das Crescent«, sagte Harry.
Sandra zuckte mit den Schultern. »Whatever!«
Auf dem Weg zum Hotel kaufte Harry noch in einem Getränkemarkt zwei Flaschen Jim Beam.
Der Nachtportier des Crescent musterte Sandra von Kopf bis Fuß, als sie an der Rezeption vorbeigingen. Er sah aus, als wolle er etwas sagen, aber Harry kam ihm zuvor.
»Haben Sie noch nie eine Under-Cover-Agentin gesehen?«
Der Nachtportier, ein junger Asiate in feinem Anzug, lächelte unsicher.
»Also, vergessen Sie, daß Sie sie gesehen haben und geben sie mir meinen Zimmerschlüssel! Wir haben noch zu arbeiten.«
Harry zweifelte daran, daß der Portier ihm seine gelallten Ausflüchte abnahm, doch er bekam ohne weitere Proteste den Schlüssel.
Im Zimmer öffnete Harry die Minibar und nahm alle alkoholhaltigen Getränke heraus.
»Die nehm ich«, sagte Harry und nahm eine Miniaturflasche Jim Beam. »Den Rest kannst du haben.«
»Du scheinst ja wirklich ein großer Freund von Whiskey zu sein«, sagte Sandra und öffnete eine Dose Bier. Harry schaute sie etwas perplex an.
»Darf ich?« fragte er.
»Die meisten mögen ja alle möglichen Sachen. Allein schon wegen der Variation, nicht wahr?«
»Ach ja? Trinkst du?«
Sandra zögerte.
»Eigentlich nicht. Ich versuche damit aufzuhören. Ich bin auf Diät.«
»Eigentlich nicht«, wiederholte Harry, »du weißt also nicht, wovon du redest. Hast du Leaving Las Vegas gesehen mit Nicolas Cage?«
»Häh?«
»Vergiß es. Es ging um einen Alki, der sich vorgenommen hatte, sich zu Tode zu saufen. Daran konnte ich glauben. Das Problem war, daß der Typ alles Mögliche trank. Gin, Wodka, Whiskey, Bourbon, Brandy … die ganze Palette. Das ist okay, wenn man keine Alternative hat. Aber dieser Kerl stand in dem weitbesten Schnapsladen in Las Vegas, hatte Geld wie Heu und keine Vorlieben. Ich habe nicht einen einzigen Alki getroffen, dem es egal war, was er trank! Wenn du erst einmal deine Droge gefunden hast, dann bleibst du ihr treu, nicht wahr? Er wurde sogar für einen Oscar nominiert!«
Harry legte den Kopf in den Nacken, trank die Miniaturflasche leer und öffnete die Balkontür.
»Wie ging es weiter?« fragte Sandra.
»Er hat sich zu Tode gesoffen«, sagte Harry.
»Ich meine, hat er den Oscar gekriegt?«
»Nimm dir eine Flasche aus der Tüte und komm her. Ich möchte mit dir auf dem Balkon sitzen und über die Stadt schauen. Ich hatte gerade ein dejà vu.«
Sandra nahm zwei Gläser und die Flasche und setzte sich, den Rücken an der Wand angelehnt, neben Harry.
»Laß uns für einen Augenblick vergessen, was der Teufel bei lebendigem Leib gemacht hat. Laß uns auf Andrew Kensington anstoßen.« Harry füllte die Gläser. Sie tranken schweigend. Harry begann zu lachen.
»Nimm, zum Beispiel, den Typ von ›The Band‹, Richard Manuel. Er hatte Riesenprobleme, nicht nur mit dem Trinken, sondern mit dem … tja, ganzen Leben. Zum Schluß konnte er nicht mehr und erhängte sich in einem Hotelzimmer. Daheim in seinem Haus fand man zweitausend Flaschen, alle die gleiche Marke – Grand Manier. Sonst nichts. Verstehst du? Scheiß Apfelsinenlikör. Das war ein Mann, der seinen Stoff gefunden hatte. Nicolas Cage – hah! Das ist eine merkwürdige Welt, in der wir leben!«
Er schlug mit der Hand in Richtung der Sterne über Sydney, und sie tranken weiter. Harry begannen die Augen zuzufallen, als Sandra eine Hand an seine Wange legte.
»Hör mal, Harry, ich muß wieder an die Arbeit. Ich glaube, du bist reif fürs Bett.«
»Was kostet eine ganze Nacht?« Harry schenkte sich nach.
»Ich glaube nicht …!«
»Bleib hier. Wir trinken aus, und dann treiben wir es. Ich verspreche dir, daß ich ganz schnell komme!« Harry kicherte.
»Nein, Harry, ich gehe jetzt.« Sandra stand auf und blieb mit verschränkten Armen stehen. Harry rappelte sich auf, verlor aber das Gleichgewicht und taumelte zwei Schritte auf das Balkongeländer zu, bevor Sandra ihn zu fassen bekam. Er schlang seine Arme um ihre dünnen Schultern, lehnte sich schwer auf sie und flüsterte:
»Kannst du nicht ein bißchen auf mich aufpassen, Sandra? Nur heute nacht. Wegen Andrew. Ach, was sage ich, wegen mir!«
»Teddy wird sich schon fragen, wo ich …«
»Teddy wird sein Geld bekommen und die Klappe halten! Bitte!«
Sandra zögerte, seufzte dann aber:
»Okay, aber erst ziehen Sie mal diese Fetzen aus, Mr. Holy.«
Sie bugsierte ihn ins Bett, zog ihm die Schuhe und dann die Hose aus. Erstaunlicherweise gelang es ihm aus eigener Kraft, sein Hemd aufzuknöpfen und auszuziehen. Sandras schwarzes Minikleid verschwand in einem Rutsch über ihren Kopf. Ohne Kleider war sie noch dünner, die Schultern und Hüften stachen hervor, und ihre Rippen lagen wie ein Waschbrett unter den kleinen Brüsten. Als sie zu dem Lichtschalter hinüberging, um die Deckenlampe zu löschen, sah er, daß sie blaue Flecken auf dem Rücken und auf der Rückseite der Schenkel hatte. Sie legte sich neben ihn und streichelte über seine unbehaarte Brust und seinen Bauch.
Sandra roch schwach nach Schweiß und Knoblauch. Harry starrte an die Decke. Er wunderte sich, daß er in seinem Zustand überhaupt noch irgendwelche Gerüche wahrnahm.
»Der Geruch«, fragte er, »bist das du, oder sind das die anderen Männer, mit denen du heute nacht zusammen warst?«
»Beides, nehme ich an«, antwortete Sandra. »Stört dich das?«
»Nein«, antwortete Harry, ohne sicher zu sein, ob sie den Geruch meinte oder die anderen Männer.
»Du bist ziemlich voll, Harry, wir müssen nicht …«
»Fühl mal«, sagte Harry, nahm ihre feuchte, warme Hand und führte sie zwischen seine Beine.
Sandra lachte.
»Aber hallo, dabei hat mir meine Mama doch beigebracht, daß Männer, die trinken, nur eine große Klappe haben.«
»Bei mir ist das umgekehrt, der Sprit lähmt die Zunge, pumpt aber meinen Schwanz auf. Das ist wahr. Ich weiß nicht wieso, aber das war schon immer so.«
Sandra hockte sich auf ihn, zog den dünnen Slip zur Seite und führte ihn ohne weiteren Schnickschnack ein.
Er schaute sie an, während sie auf und nieder hüpfte. Sie erwiderte seinen Blick, lächelte ihn einmal flüchtig an und schaute dann wieder weg. Es war so ein Lächeln wie von jemandem in der Straßenbahn, dessen Blick man unabsichtlich zu lange erwidert hat.
Harry schloß die Augen, lauschte dem rhythmischen Quietschen des Bettes und dachte, daß es nicht ganz wahr war: der Alkohol lähmte. Die Empfindlichkeit, die ihn so früh kommen ließ, wie er versprochen hatte, war verschwunden. Sandra arbeitete unverdrossen weiter, während Harrys Gedanken unter der Bettdecke hervorschlüpften, das Bett verließen und aus dem Fenster entschwanden. Er reiste unter einem auf den Kopf gestellten Sternenhimmel über ein Meer, bis er eine Küste mit einem weißen Streifen erreichte.
Als er näherkam, sah er, daß es ein Sandstrand war, auf dem sich die Wellen brachen, und als er noch näher herankam, erkannte er dahinter eine Stadt, in der er früher schon einmal gewesen war, und daß ein Mädchen am Strand lag, das er ebenfalls kannte. Sie schlief, und er landete vorsichtig neben ihr, um sie nicht zu wecken. Dann legte er sich hin und schloß die Augen. Als er wieder erwachte, ging die Sonne unter. Er war alleine. Auf der Strandpromenade hinter ihm promenierten Menschen, die er auch zu kennen glaubte. Hatten nicht einige von ihnen in Filmen mitgespielt, die er gesehen hatte? Manche trugen Sonnenbrillen und führten vor den hohen Hotelfassaden, die sich auf der anderen Seite erhoben, winzige, spindeldürre Hündchen an der Leine spazieren.
Harry ging zur Brandungslinie hinunter und wollte ins Wasser gehen, als er sah, daß es voller Feuerquallen war. Sie schwappten in den Wellen hin und her und streckten ihre langen, roten Fäden aus, und tief unten in dem weichen geleeartigen Spiegel konnte er die Konturen von Gesichtern erahnen. Ein Boot stampfte vorbei. Es kam näher und näher, und plötzlich wachte Harry auf. Sandra schüttelte ihn.
»Da ist jemand«, flüsterte sie. Harry hörte, daß jemand an die Tür klopfte.
»Dieser Scheißtyp an der Rezeption!« fluchte er, sprang auf, hielt sich ein Kissen vor den Unterleib und öffnete die Tür.
Es war Birgitta.
»Hei«, sagte sie, doch ihr Lächeln erstarrte, als sie Harrys gequälten Gesichtsausdruck sah.
»Was ist los? Ist etwas nicht in Ordnung, Harry?«
»Ja«, sagte Harry, »es ist etwas nicht in Ordnung.« Sein Schädel dröhnte so, daß es ihm bei jedem Pulsschlag schwarz vor Augen wurde. »Warum bist du hier?«
»Sie haben nicht angerufen. Ich habe gewartet und gewartet, und schließlich habe ich dann zu Hause angerufen, aber keiner hat den Hörer abgenommen. Sie müssen sich von der Zeit her vertan und es versucht haben, als ich noch auf der Arbeit war. Sommerzeit und so, sie haben sich bestimmt mit dem Zeitunterschied vertan, typisch Papa.«
Sie redete schnell und versuchte wohl so zu tun, als sei es das Natürlichste von der Welt, mitten in der Nacht auf einem Hotelflur zu stehen und mit einem Kerl zu schwatzen, der offensichtlich nicht die Absicht hatte, sie hereinzulassen.
Sie blieben stehen und schauten einander an.
»Ist jemand bei dir?« fragte sie.
»Ja«, sagte Harry. Ihre Ohrfeige klang wie das Zerbrechen eines trockenen Astes.
»Du bist betrunken!« sagte sie. Tränen standen ihr in den Augen.
»Birgitta, ich …«
Sie gab ihm einen kräftigen Stoß, so daß er nach hinten ins Zimmer taumelte, und betrat dann selbst das Zimmer. Sandra hatte bereits wieder ihr Minikleid angezogen. Sie saß auf dem Bett und versuchte ihre Schuhe anzuziehen. Birgitta krümmte sich zusammen, als habe sie plötzlich Magenkrämpfe bekommen.
»You whore!« schrie sie.
»Richtig geraten«, sagte Sandra trocken. Sie nahm die Szene deutlich gelassener hin als die beiden anderen im Zimmer, bereitete sich aber dennoch auf einen schnellen Abgang vor.
»Nimm dein Zeug und verschwinde!« rief Birgitta mit tränenerstickter Stimme und bewarf Sandra mit der Handtasche, die auf dem Stuhl lag. Sie landete auf dem Bett und der Inhalt fiel heraus. Harry stand nackt und leicht schwankend in der Mitte des Zimmers und sah zu seiner großen Verwunderung, daß plötzlich ein Pekinese auf seinem Bett saß. Neben dem haarigen Dingsbums lagen eine Haarbürste, Zigaretten, Schlüssel, ein grünschimmerndes Steinchen und die größte Auswahl an Kondomen, die er jemals gesehen hatte. Sandra himmelte verärgert mit den Augen, packte den Pekinesen im Nacken und stopfte ihn wieder in ihre Tasche.
»Dann war'n da noch die Moneten, Süßer«, sagte sie.
Harry rührte sich nicht, und so hob sie seine Hose vom Boden auf und holte die Geldbörse aus der Gesäßtasche. Birgitta war auf einem Stuhl zusammengesunken. Einen Augenblick lang waren nur das konzentrierte Zählen von Sandra und das halberstickte Schluchzen von Birgitta zu hören.
»l'm outta here«, sagte Sandra, als sie zufrieden war, und verschwand durch die Tür.
»Warte!« sagte Harry, aber es war zu spät. Die Tür fiel ins Schloß.
»Warte?« fragte Birgitta. »Hast du ›warte‹ gesagt?« schrie sie und sprang vom Stuhl auf. »Du scheiß Hurensohn, du abgewichster Säufer. Du hast kein Recht …«
Harry versuchte, die Arme um sie zu legen, aber sie wehrte ihn ab. Sie blieben wie zwei Ringer voreinander stehen. Birgitta sah aus wie in Trance; ihre Augen waren blank und blind vor Haß, und ihr Mund zuckte vor Wut. Harry dachte, daß sie ihn jetzt ohne zu zögern töten würde, wenn sie die Gelegenheit dazu hätte.
»Birgitta, ich …«
»Sauf dich doch um deinen Verstand und verschwinde aus meinem Leben!« Sie drehte sich auf dem Absatz um und rauschte durch die Tür. Der ganze Raum zitterte, als die Tür ins Schloß knallte.
Das Telefon klingelte. Es war die Rezeption. »Was geht bei Ihnen vor, Mr. Holy? Die Dame in Ihrem Nachbarzimmer hat sich …«
Harry legte auf. Eine plötzliche, wilde Wut packte ihn, und voller Zorn suchte er nach etwas, das er zerstören konnte. Hastig riß er die Whiskeyflasche vom Tisch und wollte sie an die Wand schmeißen, doch im letzten Moment besann er sich.
Lebenslanges Training der Selbstbeherrschung, dachte er, öffnete die Flasche und setzte sie an den Mund.
Schlüssel klapperten, und Harry erwachte davon, daß die Tür aufging.
»No roomservice now, please come back later!« brüllte Harry in die Kissen.
»Mr. Holy, hier ist die Hotelleitung.«
Harry drehte sich um. Zwei Männer in Anzügen hatten das Zimmer betreten. Sie stellten sich in respektvollem Abstand zum Bett auf, machten aber dennoch einen höchst entschlossenen Eindruck. Harry erkannte den einen als denjenigen, der am Abend zuvor an der Rezeption gesessen hatte. Der andere fuhr fort:
»Sie haben gegen die Hotelordnung verstoßen, Mr. Holy, und es tut mir leid, daß ich Sie auffordern muß, möglichst bald die Rechnung zu begleichen und unser Hotel zu verlassen.«
»Hotelordnung?« Harry spürte, daß er sich bald übergeben mußte.
Der Anzug räusperte sich.
»Sie haben eine Frau mit auf das Zimmer genommen, von der wir annehmen, daß sie eine … Prostituierte ist. Außerdem haben Sie mit Ihrem Lärm in der vergangenen Nacht fast die ganze Etage aufgeweckt. Wir sind ein angesehenes Hotel und müssen uns deshalb gegen ein solches Verhalten verwahren. Das verstehen Sie doch sicher, Mr. Holy.«
Harry grunzte als Antwort und drehte sich um.
»Ist in Ordnung, ihr Repräsentanten der Hotelleitung. Ich reise heute ohnehin ab. Lassen Sie mich in Ruhe schlafen, bis ich auschecke.«
»Sie hätten bereits auschecken sollen, Mr. Holy«, sagte der von der Rezeption.
Harry blinzelte auf die Uhr. Es war Viertel nach zwei.
»Wir haben versucht, Sie zu wecken.«
»Mein Flug …«, sagte Harry und versuchte die Beine aus dem Bett zu bekommen. Nach zwei Versuchen hatte er festen Boden unter den Füßen und stand auf. Er hatte vergessen, daß er nackt war, und die beiden Hotelangestellten schreckten entsetzt zurück. Dann drehte sich nur noch alles, die Decke machte ein paar Loopings, er mußte sich wieder auf die Bettkante setzen – und begann zu kotzen.