Der Kellner des Bourbon & Beef nahm die unangetasteten Eier »Benedicte« voller Mitleid wieder mit. Er war seit über einer Woche jeden Morgen hierhergekommen, hatte die Zeitung gelesen und gefrühstückt. Manchmal hatte er vielleicht müde ausgesehen, aber so mitgenommen wie heute hatte ihn der Kellner noch nie gesehen. Noch dazu war Harry erst gegen halb drei aufgetaucht.
»A hard night, Sir?«
Der Gast starrte unrasiert und mit roten Augen vor sich in die Luft. Neben ihm stand ein Koffer.
»Ja, ja, das war eine harte Nacht, ich hab verdammt … viel angestellt.«
»Good on ya. Dafür gibt es ja King's Cross. Haben Sie noch einen anderen Wunsch, Sir?«
»Danke, nein, ich muß mein Flugzeug bekommen …«
Der Kellner bedauerte das insgeheim. Er hatte begonnen, diesen ruhigen, etwas einsam aussehenden Norweger, der immer freundlich und großzügig gewesen war, zu mögen.
»Ja, ich habe Ihren Koffer bemerkt. Wenn das bedeutet, daß wir Sie hier für eine Weile nicht mehr sehen werden, möchte ich Sie bitten, heute unser Gast zu sein. Sind Sie sicher, daß ich Ihnen keinen Bourbon mehr anbieten kann, einen Jack Daniels? One for the road, Sir?«
Der Norweger schaute überrascht zu ihm auf. Als habe der Kellner da etwas vorgeschlagen, auf das er, der Gast, niemals gekommen wäre und das ihm jetzt so vollkommen richtig und selbstverständlich erschien.
»Geben Sie mir einen Doppelten, bitte.«
Der Besitzer des Springfield Lodge hieß Joe und war ein übergewichtiger, netter Kerl, der seit nunmehr zwanzig Jahren mit kluger Genügsamkeit sein kleines, heruntergekommenes Etablissement in King's Cross führte. Es war weder besser noch schlechter als andere Hotels der unteren Preisklasse in diesem Viertel, und es gab so gut wie keine Beschwerden. Einer der Gründe dafür war Joes Freundlichkeit. Ein anderer, daß er immer darauf bestand, daß sich die Gäste zuerst das Zimmer anschauten und er noch einmal fünf Dollar abzog, wenn sie länger als eine Nacht blieben. Der dritte und vielleicht wichtigste Grund aber bestand darin, daß es ihm irgendwie gelang, Rucksacktouristen, Alkoholiker, Junkies und Prostituierte fernzuhalten.
Selbst unwillkommene Gäste konnten nicht umhin, Joe sympathisch zu finden. Denn im Springfield Lodge wurde niemand von Kopf bis Fuß gemustert oder barsch aufgefordert, doch bitte zu gehen, sondern einfach mit einem bedauernden Lächeln und der Nachricht empfangen, daß leider kein Bett mehr frei sei, vielleicht aber in der nächsten Woche ein Zimmer frei werden und man dann gerne noch mal vorbeischauen könnte. Joes beträchtliche Menschenkenntnis und seine rasche Klassifizierung der Zimmersuchenden ermöglichten es ihm, dies ohne Zögern oder unsicheren Blick vorzubringen, und er hatte deshalb fast nie Ärger mit schwierigen Typen. Nur selten vertat sich Joe bei der Einschätzung, was für einen Menschen er vor sich hatte, und einige Male hatte er sich später sehr darüber geärgert.
Einige dieser Fälle huschten durch sein Gedächtnis, als er in Windeseile versuchte, die widerstrebenden Eindrücke, die der große blonde Mann vor ihm auf ihn machte, zu sammeln. Er trug einfache Qualitätskleider, die darauf deuteten, daß er Geld hatte, es aber nicht unbedingt ausgeben mußte. Daß er Ausländer war, war ein großer Pluspunkt, in der Regel machten die Australier die Probleme. Rucksackreisende mit Schlafsäcken waren oft gleichbedeutend mit wilden Festen und verschwundenen Handtüchern, dieser hier aber trug einen Koffer, der zudem noch gut gepackt zu sein schien und nur so wenig abgenützt war, daß er wohl kaum jemandem gehören konnte, der sich konstant auf Reisen befand. Allerdings war der Mann unrasiert, seine Haare hingegen schienen noch vor kurzem das Innere eines Friseursalons gesehen zu haben. Außerdem waren seine Nägel sauber und ordentlich geschnitten und seine Pupillen von ansatzweise normaler Größe.
Die Summe all dieser Eindrücke und die Tatsache, daß der Mann eine Visa-Karte vor ihm auf den Tisch gelegt und sich als norwegischer Polizist ausgewiesen hatte, brachten es mit sich, daß ihm das übliche »Es tut mir wirklich leid, aber …« im Halse stecken geblieben war.
Denn es gab keinen Zweifel, daß der Mann betrunken war. Und nicht einfach nur betrunken, sondern voll bis zum Anschlag.
»Ich weiß, daß Sie wissen, daß ich ein paar Drinks intus habe«, sagte der Mann in einem nuscheligen, aber überraschend guten Englisch, als er Joes Zögern bemerkte. »Lassen Sie uns einmal annehmen, daß ich das Zimmer ruiniere, ja, lassen Sie uns ruhig davon ausgehen. Daß ich den Fernseher kaputtmache, den Spiegel im Bad und auf den Teppich kotze. Das wäre ja nicht das erste Mal. Reichen tausend Dollar als Kaution? Außerdem habe ich vor, mich so abzufüllen, daß ich kaum in der Lage sein werde, laute Geräusche zu machen, andere Gäste zu stören oder mich überhaupt allzu oft auf den Fluren oder hier an der Rezeption sehen zu lassen.«
»Es tut mir wirklich leid, aber wir sind in dieser Woche leider voll belegt. Sie können aber gerne nächste Woche …«
»Greg vom Bourbon & Beef hat mir Ihr Hotel empfohlen und mich gebeten, Joe zu grüßen. Sind Sie das?«
Joe schaute den Mann lange an.
»Sorgen Sie dafür, daß ich das nicht bereue«, sagte er und gab ihm den Schlüssel für Zimmer 73.
»Hello?«
»Hallo, Birgitta, ich bin es, Harry, ich …«
»Ich habe Besuch, Harry, es paßt jetzt wirklich nicht.«
»Ich wollte nur sagen, daß ich nicht wollte, daß …«
»Hör mal, Harry, ich bin nicht böse, es ist kein Schaden entstanden. Es gibt zum Glück Grenzen, wie sehr einen ein Kerl, den man gerade erst eine Woche kennt, verletzen kann, aber ich möchte, daß du dich nicht mehr meldest. Okay?«
»Nun, nein, eigentlich nicht …«
»Wie gesagt, ich habe Besuch. Viel Glück für deine restliche Zeit hier und komm gut zurück nach Norwegen. Mach's gut.«
»Tschüs.«
Teddy Mongabi hatte es gar nicht gut gefunden, daß Sandra die ganze Nacht mit dem norwegischen Polizisten verbracht hatte. Für ihn roch das nach Ärger. Als er den Mann in der Darlinghurst Road mit weichen Knien und schlaff herabhängenden Armen auf ihn zukommen sah, wollte er deshalb spontan ein paar Schritte zurücktreten und in der Menge verschwinden. Seine Neugierde war aber zu groß, so daß er die Arme vor der Brust verschränkte und sich dem schwankenden Polizisten in den Weg stellte. Als der Mann versuchte, an ihm vorbeizugehen, packte ihn Teddy an der Schulter und drehte ihn herum.
»Grüßt du deine Freunde nicht mehr, mate?«
Mate sah ihn mit glasigen Augen an. »Der Zuhälter …«, sagte er ausdruckslos.
»Ich hoffe, Sandra hat Ihren Erwartungen entsprochen, Konstabel.«
»Sandra? Laß mich nachdenken … Sandra war gut. Wo ist sie?«
»Sie hat heute abend frei. Aber vielleicht darf ich den Herrn Konstabel mit einer anderen verführen?«
Der Polizist fing sich mit einem Schritt zur Seite auf.
»Ja doch, ja doch, gerne! Los, Zuhälter, verführ mich!«
Teddy lachte. »Hier entlang, Konstabel.« Er schob den betrunkenen Konstabel die Treppe zu dem Club hinunter. Sie setzten sich an einen Tisch mit Blick auf die Bühne. Teddy schnippte mit den Fingern, und sofort kam eine leichtbekleidete Frau an ihren Tisch.
»Bring uns zwei Bier, Amy. Und sag Claudia, daß sie für uns tanzen soll.«
»Die nächste Vorstellung ist erst um acht Uhr, Mr. Mongabi.«
»Dann nennen wir es Extravorstellung, los jetzt, Amy!«
»Tja dann, Mr. Mongabi.«
Der Polizist hatte ein idiotisches Grinsen auf den Lippen.
»Ich weiß, wer jetzt kommt«, sagte er. »Der Mörder. Jetzt kommt der Mörder.«
»Wer?«
»Nick Cave.«
»Nick who?«
»Und die blonde Sängerin. Die hat bestimmt auch eine Perücke. Hören Sie …«
Die Discomusik war leise gestellt worden, und der Polizist hielt beide Zeigefinger in die Luft, als wolle er ein Symphonieorchester dirigieren, aber die Musik ließ auf sich warten.
»Ich habe das von Andrew gehört«, sagte Teddy. »Wie schrecklich. Einfach zu schrecklich. Soweit ich verstanden habe, hat er sich erhängt. Kannst du mir verraten, was in aller Welt einen so lebensfrohen Kerl dazu bringen kann, sich zu …«
»Sandra trägt eine Perücke«, sagte der Polizist. »Die ist ihr aus der Tasche gefallen. Deshalb habe ich sie nicht erkannt, als ich sie hier unten getroffen habe. Genau hier! Andrew und ich waren dort vorne gesessen. Ich habe sie in den ersten Tagen, als ich hier war, ein paarmal auf der Darlinghurst Road gesehen, aber da hat sie eine Perücke getragen. Eine helle Perücke. Warum trägt sie die nicht mehr?«
»Aha, der Herr Konstabel mag lieber Blondinen. Ich glaube, da hab ich etwas für Sie …«
»Warum?«
Teddy zuckte mit den Schultern.
»Sandra? Ach ja. Sie ist vor ein paar Tagen etwas heftig von einem Typen angefaßt worden. Sandra behauptete, das hätte etwas mit der Perücke zu tun gehabt und sich deshalb entschlossen, die für eine Weile nicht mehr zu tragen. Für den Fall, daß er wieder auftaucht, wissen Sie.«
»Wer?«
»Ich habe keine Ahnung, Konstabel. Und wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen nicht sagen. In unserer Branche ist Diskretion eine Tugend. Ich glaube, auch Sie legen da Wert drauf. Ich habe ein so schlechtes Namensgedächtnis, aber war Ihr Name nicht Ronny?«
»Harry. Ich muß mit Sandra sprechen.« Er versuchte sich aufzurappeln und hätte dabei fast das Tablett mit den zwei Bier umgestoßen, mit dem Amy gerade an ihren Tisch kam. Er lehnte sich schwer nach vorn über den Tisch.
»Wo? Haben Sie ihre Telefonnummer, Zuhälter?«
Teddy machte Amy ein Zeichen, zu verschwinden.
»Prinzipiell geben wir unseren Kunden nie die Adressen oder Telefonnummern unserer Mädchen. Aus rein sicherheitstechnischen Gründen. Das verstehen Sie doch!« Teddy ärgerte sich, daß er nicht seiner ersten Eingebung gefolgt und dem betrunkenen Norweger aus dem Weg gegangen war.
»Ich verstehe. Die Nummer.«
Teddy lächelte. »Wie gesagt, geben wir keine …«
»Jetzt!« Harry packte den Kragen der glatten, grauen Anzugjacke und blies Teddy eine Mischung aus Whiskeyfahne und altem Erbrochenen ins Gesicht. Ein einschmeichelndes Streicherarrangement erklang aus den Lautsprechern.
»Ich zähle bis drei, Konstabel. Wenn Sie mich dann noch immer nicht losgelassen haben, rufe ich Ivan und Geoff. Und das bedeutet dann Hintertür und Frischluft. Und hinter der Hintertür gibt es Treppen, wissen Sie. Steile Treppen mit zwanzig steinernen Stufen.«
Harry grinste und packte noch fester zu. »Sollte mich das erschrecken, du verdammter Zuhälterarsch? Schauen Sie mich an. Ich bin so voll, daß ich nichts, aber auch gar nichts mitbekommen werde. I'm fuckin' indestructable, man, Geoff, Ivan!«
Sie bewegten sich aus dem Schatten hinter der Bar heraus. Als er sich umdrehte, um besser sehen zu können, befreite sich Teddy mit einem Ruck. Dann gab er ihm einen Stoß. Harry stolperte nach hinten und riß seinen Stuhl und den Tisch mit sich, bevor er laut polternd zu Boden ging. Statt wieder aufzustehen, blieb er liegen und kicherte Geoff und Ivan an, die Teddy mit fragendem Blick anschauten.
»Schmeißt ihn zur Hintertür hinaus«, sagte Teddy und sah, wie der Polizist wie eine Strohpuppe hochgenommen und über die Schulter eines schwarzen, smokingtragenden Muskelberges gelegt wurde.
»Ich begreife einfach nicht, was den Menschen am Tage fehlt«, sagte Teddy und zupfte an seiner knitterfreien Anzugjacke herum.
Ivan ging vor und öffnete die Tür.
»Was, zum Teufel, hat dieser bloß geschluckt«, fragte sich Geoff, »der schüttelt sich ja vor Lachen.«
»Wir werden ja sehen, wie lange der noch lacht«, sagte Ivan. »Setz ihn hier ab.« Geoff stellte Harry vorsichtig auf die Beine, der darauf leicht schwankend vor den beiden stehenblieb.
»Können Sie ein Geheimnis für sich behalten, Mr?« sagte Ivan mit einem schüchternen Lächeln und blickte zu Boden. »Ich weiß, daß das ein Superschurken-Klischee ist, aber ich hasse Gewalt.«
Geoff kicherte.
»Sei ruhig, Geoff, das stimmt wirklich. Du kannst ja Leute fragen, die mich kennen. ›Er verkraftet es nicht‹, werden sie dir sagen. ›Ivan kann dann nicht schlafen, es deprimiert ihn so.‹ Die Welt ist für so ein armes Arschloch schon schlimm genug, da müssen wir nicht noch alles schlimmer machen, und uns gegenseitig die Arme und Beine brechen, nicht wahr? Deshalb. Deshalb gehst du jetzt einfach nach Hause und die Sache ist für uns hier erledigt. Alles klar?«
Harry nickte und suchte in seiner Tasche nach etwas.
»Und das, obwohl du hier heute nachmittag der Schurke bist«, sagte Ivan. »Du!«
Er tippte Harry mit dem Zeigefinger auf die Brust.
»Du!« wiederholte Ivan und tippte etwas fester. Der blonde Polizist schwankte bedrohlich.
»Du!«
Harry blieb auf den Hacken stehen und ruderte mit den Armen. Er hatte sich nicht umgedreht, um zu wissen, was sich hinter ihm befand, aber das schien er bereits zu wissen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als sein benebelter Blick Ivans Augen begegnete. Er kippte nach hinten und stöhnte auf, als sein Rücken und sein Nacken die ersten Stufen trafen. Auf dem restlichen Weg nach unten gab er nicht einen Laut von sich.
Joe hörte, daß jemand an der Eingangstür herumfummelte, und als er durch das Glas die zusammengekrümmte Gestalt des neuen Gastes erkannte, wußte er, daß er einen seiner seltenen Fehler begangen hatte. Als er die Tür öffnete, fiel ihm der Mann entgegen. Hätte Joe nicht einen so tiefen Schwerpunkt gehabt, wären die beiden vermutlich nach hinten auf den Boden gestürzt. Es gelang Joe, den Arm des Gastes um seine eigene Schulter zu legen und ihn zu einem Stuhl hinter der Rezeption zu führen, wo er ihn genauer in Augenschein nehmen konnte. Nicht, daß der blonde Säufer ein besonders hübscher Anblick gewesen wäre, als er eingecheckt hatte – aber jetzt nahm er sich wirklich übel aus. An einem Ellbogen hatte er eine große Schürfwunde, so daß das nackte Fleisch weißlich-rot zum Vorschein kam, die eine Wange war angeschwollen, und aus seiner Nase troff Blut auf seine schmutzige Hose. Sein Hemd war zerrissen, und es rasselte beängstigend, wenn er atmete. Aber er tat es wenigstens noch – atmen.
»Was ist passiert?« fragte Joe.
»Eine Treppe, ich bin gefallen, is nix passiert, ich muß mich nur ein bißchen hinlegen.«
Joe war kein Arzt, aber ausgehend von den rasselnden Geräuschen beim Atmen glaubte er, daß ein oder zwei Rippen gebrochen sein mußten. Er suchte eine antiseptische Salbe und Pflaster heraus, flickte seinen Gast notdürftig zusammen und schob ihm schließlich einen Wattebausch in sein blutverschmiertes Nasenloch. Der Gast schüttelte nur den Kopf, als Joe ihm zu guter Letzt eine Schmerztablette geben wollte.
»Painkilling stuff in my room«, sagte er.
»Sie brauchen einen Arzt«, sagte Joe. »Ich werde …«
»Kein Arzt. In ein paar Stunden bin ich wieder in Ordnung.«
»Ihr Atem hört sich nicht gut an.«
»War immer so. Asthma. Lassen Sie mir einfach zwei Stunden Ruhe, dann verschwinde ich.«
Joe seufzte. Er wußte, daß er im Begriff war, Fehler Nummer zwei zu begehen.
»Vergessen Sie's«, sagte er. »Sie brauchen mehr als nur ein paar Stunden. Außerdem ist es ja nicht Ihr Fehler, daß die Treppen hier in Sydney so verdammt steil sind. Ich schau morgen früh mal nach Ihnen.«
Er half dem Gast auf sein Zimmer, brachte ihn ins Bett und zog ihm die Schuhe aus. Auf dem Tisch standen drei leere und zwei noch ungeöffnete Flaschen Jim Beam. Joe war Antialkoholiker, aber er war alt genug, um zu wissen, daß man mit Trinkern reden konnte. Er öffnete eine der Flaschen und stellte sie auf das Nachttischchen. Der Kerl würde es ohnehin schwer genug haben, wenn er aufwachte.
»Crystal Castle. Hallo.«
»Guten Tag, kann ich bitte mit Margaret Dawson sprechen?«
»Speaking.«
»Ich kann Ihrem Sohn helfen, wenn Sie mir sagen, daß er der Mörder von Inger Holter ist.«
»Was bitte? Mit wem spreche ich?«
»Mit einem Freund. Sie sollten mir vertrauen, Mrs. Dawson, denn sonst ist Ihr Sohn verloren. Verstehen Sie? Hat er Inger Holter getötet?«
»Was soll das? Machen Sie Witze? Wer ist diese Inger Holter?«
»Sie sind Evans Mutter, Mrs. Dawson. Auch Inger Holter hatte eine Mutter. Sie und ich sind die einzigen, die ihrem Sohn helfen können. Geben Sie zu, daß er Inger Holter getötet hat! Hören Sie auf mich!«
»Ich höre doch, daß Sie getrunken haben. Ich rufe jetzt die Polizei an.«
»Ach ja?«
»Ich lege jetzt auf.«
»Ach j… – Dumme Fotze!«
Alex Tomaros verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und lehnte sich in seinem Stuhl nach hinten, als Birgitta das Büro betrat.
»Setz dich hin, Birgitta.«
Sie setzte sich auf den Stuhl, der vor Tomaros' bescheidenem Schreibtisch stand, und Alex nutzte die Gelegenheit, sie einmal genauer anzuschauen. Sie sah müde aus, hatte schwarze Ringe unter den Augen, machte einen unglücklichen Eindruck und war noch blasser als sonst.
»Ich bin vor ein paar Tagen von einem Polizisten verhört worden, Birgitta. Einem gewissen Mr. Holy, einem Ausländer. Aus dem Gespräch ging hervor, daß er auch mit einer oder mehreren Angestellten gesprochen und dabei Erkenntnisse etwas … äh, indiskreter Natur gewonnen hat. Wir sind natürlich alle daran interessiert, daß der Mörder von Inger Holter gefunden wird, aber trotzdem möchte ich doch klarstellen, daß solche Aussagen in Zukunft als … äh, illoyal aufgefaßt werden könnten. Und ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß wir es uns, so hart wie es in unserer Branche zugeht, nicht erlauben können, Leute zu beschäftigen, auf die wir uns nicht verlassen können.«
Birgitta sagte nichts.
»Heute vormittag hat ein Mann angerufen, und zufällig bin ich ans Telefon gegangen. Er hat zwar versucht, seine Stimme zu verstellen, aber ich habe ihn an seinem Akzent erkannt. Das war Mr. Holy, und er hat nach dir gefragt, Birgitta.«
Birgittas Kopf zuckte hoch.
»Harry? Heute?«
Alex nahm seine Brille ab.
»Du weißt, daß ich dich mag, Birgitta, und ich gebe gerne zu, daß ich dieses Leck ein bißchen persönlich nehme. Ich hatte gehofft, daß wir mit der Zeit richtig gute Freunde werden könnten. Sei also bitte nicht so dumm und mach das alles kaputt, ja?«
»Hat er aus Norwegen angerufen?«
»Schön wär's, aber die Leitung hat sich absolut nicht wie ein Ferngespräch angehört. Du weißt genau, daß ich nichts zu verbergen habe, Birgitta, jedenfalls nichts, was mit diesem Fall zu tun hat. Und darum geht es denen doch wohl, nicht wahr? Und es hilft Inger überhaupt nicht, wenn du über all das andere plapperst. Kann ich mich also auf dich verlassen, liebe Birgitta?«
»Was meinst du mit all dem anderen, Alex?«
Er sah überrascht aus.
»Ich dachte, Inger hätte dir davon erzählt – von der Fahrt.«
»Welcher Fahrt?«
»Nach der Arbeit. Ich habe Ingers Schäkern als sehr aufmunternd empfunden, und die Dinge haben sich dann ein wenig … äh … verselbständigt. Ich sollte sie ja nur nach Hause fahren und wollte ihr wirklich keinen Schreck einjagen, aber sie hat meinen kleinen Spaß wohl ein bißchen zu wörtlich genommen, fürchte ich.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest, Alex, und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es wissen will. Hat Harry etwas davon gesagt, wo er zur Zeit ist? Ruft er wieder an?«
»He, he, warte mal. Du bist per du mit dem Typ und kriegst schon rote Bäckchen, wenn ich bloß seinen Nachnamen erwähne? Was geht hier eigentlich vor? Ist da womöglich was zwischen euch?«
Verzweifelt knetete Birgitta ihre Hände ineinander.
Er beugte sich über den Schreibtisch und streckte einen Arm aus, um ihr mit seiner Hand über die Haare zu streicheln, doch sie schlug seinen Arm irritiert zur Seite.
»Laß das, Alex! Du bist ein Trottel, und das habe ich dir früher schon einmal gesagt. Sei das nächste Mal, wenn er anruft, bitte ein bißchen weniger trottelig und frag, wo ich ihn erreichen kann, okay?« Sie stand auf und stampfte aus dem Büro.
Speedy traute kaum seinen eigenen Augen, als er das Cricket betrat. Borroughs zuckte hinter dem Tresen mit den Schultern.
»Er sitzt da schon seit zwei Stunden«, sagte er, »der ist wirklich voll.«
Auf ihrem Stammplatz in der hintersten Ecke der Kneipe saß der Mann, der wenigstens indirekt dafür verantwortlich war, daß zwei von Speedys Kollegen im Krankenhaus gelandet waren. Speedy überprüfte, ob er seine neue HK.45 ACP im Beingurt hatte, und ging zu dem Tisch hinüber. Der Kopf des Kerls war mit dem Kinn auf die Brust gesackt, und er schien zu schlafen. Vor ihm auf dem Tisch stand eine halbleere Whiskeyflasche.
»Hallo«, rief Speedy.
Der Kerl hob langsam den Kopf und grinste ihn etwas schwachsinnig an.
»Ich habe auf dich gewartet«, nuschelte er.
»Du sitzt am falschen Tisch«, sagte Speedy und blieb stehen. Er hatte einen arbeitsreichen Abend vor sich und konnte es sich nicht erlauben, durch diesen Idioten Zeit zu verlieren. Jederzeit konnte ein Kunde auftauchen.
»Ich will, daß du mir erst einmal etwas erzählst«, sagte der Kerl.
»Warum sollte ich das tun?« Speedy spürte, wie sich die Pistole an sein Bein schmiegte.
»Weil du hier deine Geschäfte machst und weil du gerade erst durch diese Tür dort gekommen bist und in diesem Moment des Tages am verletzbarsten bist, weil du die Waren direkt bei dir trägst und du nicht willst, daß ich dich vor all diesen Zeugen hier durchsuche. Bleib stehen.«
Erst jetzt erblickte Speedy die Mündung der High-Power-Pistole, die der Mann auf ihn gerichtet hielt.
»Was willst du wissen?«
»Ich will wissen, wie oft Andrew Kensington und wann er das letzte Mal hier war.«
Speedy versuchte nachzudenken. Er haßte es, wenn eine Waffe auf ihn gerichtet war.
»Hast du einen Cassettenrecorder bei dir, Bulle?«
Der Bulle lächelte.
»Beruhige dich. Zeugenaussagen unter Waffengewalt gelten nicht. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, daß ich dich erschieße.«
»Okay, okay.«
Speedy spürte, daß er zu schwitzen begann. Er maß den Abstand zu seinem Pistolengurt.
»Wenn das, was ich gehört habe, richtig ist, dann ist er jetzt tot. Was kann das also schaden? Er war vorsichtig, wollte nie zu viel auf einmal haben. Er kam zweimal in der Woche und kaufte immer ein Tütchen. Feste Routine.«
»Wie lange ist es her, daß er das letzte Mal hierherkam und Cricket spielte?«
»Drei Tage, er hätte am nächsten Tag kommen sollen.«
»Hat er auch mal bei jemand anderem was gekauft?«
»Niemals. Das weiß ich genau. So etwas ist persönlich – Vertrauenssache, sozusagen. Außerdem war er Polizist und konnte es wohl kaum riskieren, sich allzusehr zu exponieren.«
»Dann hatte er also fast keinen Stoff mehr, als er hier war. Einige Tage später hatte er trotzdem noch genug für eine Überdosis, die ihn vermutlich umgebracht hätte, wenn das nicht die Leitung schon übernommen hätte. Wie paßt das für dich zusammen?«
»Er ist doch im Krankenhaus gelandet. Es war natürlich das Verlangen nach Stoff, das ihn dazu gebracht hat, abzuhauen. Wer weiß, vielleicht hatte er doch noch eine Reserve.«
Der Bulle seufzte müde.
»Du hast recht«, sagte er, steckte die Pistole in die Innentasche seiner Jacke und ergriff das Glas vor ihm. »Alles auf dieser Welt ist befleckt mit diesem Scheiß vielleicht! Warum kann nicht mal einer dazwischenfahren und einfach Klartext reden! So ist das, und nicht anders, basta, two and two are whatever it is and that's that. Das würde den Alltag für eine ganze Menge Menschen verdammt viel einfacher machen! Glaub mir!«
Speedy begann sein Hosenbein hochzuziehen, doch er änderte seine Meinung.
»Und wo sind die Spritzen geblieben?« murmelte der Bulle vor sich hin.
»Was?« fragte Speedy.
»Wir haben am Tatort keine Spritze gefunden. Vielleicht hat er die im Klo hinuntergespült. Wie du gesagt hast – ein vorsichtiger Mann. Auch noch so kurz vor seinem Tod.«
»Spendierst du mir ein Glas?« fragte Speedy und setzte sich.
»Es ist deine Leber«, antwortete der Bulle und schob ihm die Flasche über den Tisch.
Harry rannte durch den Nebel in den engen Gang hinein. Die Band spielte so laut, daß alles um ihn herum vibrierte. Es roch säuerlich nach Schwefel, und die Wolken hingen so tief, daß er mit seinem Kopf an ihnen entlangkratzte. Aus dem Lärm war ein Geräusch deutlich herauszuhören, ein intensives Knirschen, das auf einer freien Frequenz schwang. Es war das Knirschen von Zähnen auf Zähnen und Ketten, die über den Asphalt gezogen wurden. Ein Rudel Hunde hetzte hinter ihm her.
Der Gang wurde enger und enger. Schließlich mußte er die Arme nach vorne nehmen, um nicht zwischen den hohen roten Mauern steckenzubleiben. Er blickte nach oben. Aus den Fenstern hoch oben in der Wand schauten kleine Köpfe. Sie winkten mit blaugrünen Flaggen und sangen die ohrenbetäubende Musik mit.
»This is the lucky country, this is the lucky country, we live in the lucky country!«
Direkt hinter sich hörte Harry sabberndes Bellen. Er schrie und fiel hin. Zu seiner großen Verwunderung wurde es plötzlich ganz dunkel um ihn herum, und statt unsanft auf den Asphalt zu knallen, fiel er immer weiter. Er mußte in ein Loch im Boden getreten sein. Und entweder mußte Harry sehr langsam fallen, oder dieses Loch war wahnsinnig tief, denn er fiel immer weiter. Die Musik dort oben entfernte sich immer mehr. Nachdem sich die Augen langsam an das Dunkel gewöhnt hatten, sah er, daß sich an den Seiten des Lochs Fenster befanden, durch die er in andere Menschen hineinschauen konnte.
Mein Gott, soll ich durch die ganze Erde fallen, dachte Harry.
»Sie sind Schwede«, sagte eine Frauenstimme.
Harry schaute sich um, und dabei kamen die Musik und das Licht zurück. Er stand auf einem offenen Platz, es war Nacht und hinter ihm auf der Bühne spielte eine Band. Er selbst stand vor einem Schaufenster, genauer gesagt dem Schaufenster eines Fernsehgeschäftes, in dem ein Dutzend Fernseher mit jeweils anderen Programmen liefen.
»Feiern Sie auch den Australian Day?« fragte eine andere Stimme, eine Männerstimme, in einer bekannten Sprache.
Harry drehte sich um. Ein Pärchen stand hinter ihm und schaute ihn aufmunternd an. Er gab seinen Mundwinkeln den Befehl, das Lächeln zu erwidern, aber er konnte nur hoffen, daß sie ihm gehorchten. Eine gewisse Straffung seines Gesichtes deutete aber darauf hin, daß er die Herrschaft über gewisse Körperfunktionen noch nicht verloren hatte. Andere hatte er aufgeben müssen. Sein Unterbewußtsein hatte nämlich rebelliert, und gerade jetzt lief der Kampf um seine Sinneswahrnehmungen und sein Gehör. Sein Gehirn arbeitete auf vollen Touren, um herauszufinden, was gerade geschah. Das war aber nicht einfach, denn es wurde ununterbrochen von den merkwürdigsten, ja zum Teil absurdesten Informationen bombardiert.
»Wir sind übrigens Dänen. Ich heiße Poul, und das hier ist meine Frau Gina.«
»Warum glaubt ihr, daß ich Schwede bin?« hörte Harry sich fragen.
Das dänische Pärchen blickte sich an.
»Sie haben Selbstgespräche geführt, Mann, haben Sie das nicht gemerkt? Sie haben ferngesehen und sich gefragt, ob Alice wohl durch den ganzen Erdball stürzen würde. Und das ist sie ja, ha-ha!«
»Ach ja, das«, sagte Harry und hatte keine Ahnung, wovon sie redeten.
»Das ist nicht so wie unsere Mittsommernacht, nicht wahr? Das hier ist doch zum Lachen. Man kann hören, daß ein Feuerwerk abgebrannt wird, aber bei all dem Nebel kann man ja überhaupt nichts sehen. Wahrscheinlich haben ein paar der Raketen den Wolkenkratzer dort oben in Brand gesetzt. Ha-ha! Riechen Sie den Pulvergeruch? Es ist die Feuchtigkeit, die dazu führt, daß er so am Boden klebt. Machen Sie hier auch Urlaub?«
Harry dachte nach. Er mußte sehr gründlich nachgedacht haben, denn als er seine Antwort parat hatte, waren die Dänen verschwunden.
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Fernsehbildschirme im Schaufenster. Brennende Hügel auf einem, Tennis auf einem anderen Bildschirm. Das waren die jährlichen Attraktionen in Melbourne: Waldbrand und Australian Open, ein weißgekleideter Teenager wurde Millionär, während ein paar Kilometer weiter noch eine Familie obdachlos wurde. Auf einem anderen Bildschirm sah er Gro Harlem Brundtland, verfolgt von norwegischen Fischerbooten und blauschwarzen Walkörpern, die durch das Meer pflügten. Und als wenn das noch nicht genug gewesen wäre, sah er auf einem vierten Bildschirm die norwegische Fußballmannschaft in einem Spiel gegen eine Mannschaft mit weißen Trikots. Es dämmerte Harry, daß er im Sydney Morning Herold etwas über ein Turnier zwischen Australien, Neuseeland und Norwegen gelesen hatte. Plötzlich kam eine Großaufnahme von Erik »Myggen« Mykland, und Harry lachte laut auf.
»Bist du auch hier, Myggen?« flüsterte er der kalten Glasscheibe zu. »Oder habe ich bloß Halluzinationen? Was hältst du von ein bißchen Acid, Myggen?«
»Spinnst Du? Ich bin doch ein Vorbild für die Jugend«, antwortete Myggen.
»Hendrix tut das. Bjørneboe tut das. Harry Hole tut das. Acid macht dich klar im Kopf, Myggen. Mehr als klar. Das hilft dir, Zusammenhänge zu sehen, die es gar nicht …« Harry lachte.
Myggen verlor ein Tackling.
»Du kannst sogar durch eine Glasscheibe mit einem Fernseher reden und eine Antwort bekommen. Kennst du Rod Stewart? Der hat mir dieses kleine Papierstückchen spendiert, und jetzt bekommt mein Hirn gleichzeitig sechs Fernsehprogramme, zwei Dänen und eine Band mit. Das Zeug sollte wirklich schon längst legalisiert sein. Was meinst du, Myggen?«
In einer Nachrichtensendung wurden Bilder von Windsurfern, einer weinenden Frau und Reste eines gelben Neoprenanzugs mit großen Bißmarken gezeigt.
»Das da war das Seeungeheuer. Es hat im Aquarium frei bekommen und einen Ausflug gemacht, Myggen, Picknick im Grünen! Ha-ha.«
Auf dem Fernsehgerät daneben flatterte das orangene Absperrband der Polizei an einem Waldrand im Wind, während uniformierte Polizisten mit Säcken hin- und herrannten. Dann erschien ein großes, blasses Gesicht auf der Mattscheibe. Es war ein schlechtes Foto eines blonden, nicht gerade hübschen Mädchens. Ihre Augen hatten einen tristen Ausdruck, als sei sie traurig darüber, nicht hübscher zu sein.
»Schön«, sagte Harry, »das ist schon eine merkwürdige Sache, wußtest du das …«
Lebie ging hinter dem Polizisten, der interviewt wurde, durch das Bild.
»Scheiße«, brüllte Harry. »Scheiße noch mal!« Er schlug mit seiner Handfläche gegen die Scheibe.
»Mach lauter! Dreh den Ton da drinnen an! Jemand …« Auf der Mattscheibe erschien jetzt eine Wetterkarte der australischen Ostküste. Harry drückte seine Nase an der Scheibe platt und sah auf der spiegelnden Mattscheibe eines ausgestellten Fernsehers das Gesicht von John Belushi.
»Hab ich mir das nur eingebildet, Myggen? Denk dran, daß ich im Augenblick unter dem Einfluß eines ziemlich starken Halluzinogens stehe.«
Myggen versuchte einen Paß, aber er verlor den Ball.
»Reiß dich zusammen, reiß dich verdammt noch mal zusammen!«
»Laß mich rein! Ich muß mit ihr reden …!«
»Geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus. Besoffene haben hier … Heh!«
»Laß mich los! Ich sage doch, daß ich ein Freund von Birgitta bin, sie arbeitet an der Bar!«
»Das wissen wir auch, aber unser Job ist es, solche wie dich, Blondie, draußen zu halten!«
»Au!«
»Verhalt dich jetzt ruhig, sonst sehe ich mich leider genötigt, dir den Arm zu brechen, du … omphh! Bob! Bob!«
»Sorry, aber ich bin es langsam leid, ständig angefaßt zu werden. Danke für den schönen Abend!«
»Was ist los, Nickie? War der das da?«
»Shit! Laß ihn nur gehen. Er hat sich nur losgerissen und mir einen Tritt in den Magen gegeben. Hilf mir hoch, bitte.«
»Diese Stadt ist, verdammt noch mal, wirklich dabei, aus dem Ruder zu laufen. Hast du heute abend die Nachrichten gesehen? Schon wieder ist ein junges Mädchen vergewaltigt und erwürgt worden. Sie haben sie heute nachmittag im Centennial Park gefunden. Ich glaub wirklich, ich ziehe wieder nach Melbourne zurück!«
Harry erwachte mit dröhnenden Kopfschmerzen. Das Licht brannte ihm in den Augen, und es gelang ihm nur mit Mühe, zu registrieren, daß er unter einer Wolldecke lag, als er sich zur Seite werfen mußte. Er erbrach sich in heftigen Schwallen, und sein Mageninhalt klatschte auf den Steinboden. Dann fiel er zurück auf die Bank und spürte, wie die Galle in seiner Nase stach, während er sich die klassische Frage stellte: Wo, zum Teufel, bin ich?
Das letzte, an das er sich erinnerte, war, daß er in den Green Park gegangen war und der Storch ihm einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen hatte. Jetzt schien er in einem kreisrunden Raum mit Bänken an den Wänden und einem großen Holztisch in der Mitte zu liegen. An den Wänden hingen Werkzeuge, Spaten, Harken und ein Wasserschlauch, und mitten auf dem Boden war ein Abfluß. Durch kleine, dreckige Fenster sickerte Licht in den Raum, aus dem eine enge, eiserne Wendeltreppe nach oben führte. Unter der Treppe stand etwas, das aussah wie ein elektrischer Rasenmäher. Plötzlich begann die Wendeltreppe zu knirschen und zu beben. Ein Mann kam herunter.
»Guten Morgen, weißer Bruder«, sagte eine tiefe Stimme, die er zu kennen glaubte.
»Ziemlich weißer Bruder«, sagte er, als er näher gekommen war. »Bleib nur liegen.«
Es war Joseph, der graue Aborigine – der Mann aus dem Krähenvolk.
Er drehte einen Wasserhahn an der gegenüberliegenden Wand auf, nahm den Schlauch und spülte das Erbrochene weg.
»Wo bin ich?« fragte Harry, um irgendwo zu beginnen.
»Im Green Park.«
»Aber …«
»Im Gartenhaus. Du bist im Gras eingeschlafen, und als es begonnen hat, zu regnen, habe ich dich hierher gebracht.«
»Aber …«
»Beruhige dich. Ich habe die Schlüssel. Das ist mein zweites Zuhause hier.« Er blickte durch eines der Fenster: »Heute ist ein schöner Tag.«
Harry schaute zu Joseph hoch. Er sah für einen Säufer verdammt frisch aus.
»Ich kenne den Wachmann schon lange, und wir haben so eine Art spezielles Abkommen«, erklärte Joseph. »Manchmal nimmt er sich einen Tag frei, ohne der Parkverwaltung davon etwas zu sagen, und dann kümmere ich mich um alles hier – sammle den Abfall auf, leere die Mülleimer, mähe den Rasen und so weiter. Dafür darf ich mich hier drinnen hin und wieder verkriechen. Manchmal stellt er mir auch etwas zu essen hin, aber heute nicht, tut mir leid.«
Harry versuchte etwas anderes zu sagen als »aber …«, doch er gab es auf. Joseph hingegen war richtig redselig:
»Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir an dieser Regelung am meisten, daß ich manchmal etwas zu tun habe. Das füllt den Tag aus und bringt einen irgendwie auf andere Gedanken. Manchmal glaube ich sogar, mich nützlich machen zu können.«
Joseph grinste breit und legte den Kopf zur Seite. Harry konnte nicht glauben, daß dies die gleiche Person war, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit in einem komaartigen Zustand, der unmöglich zu durchbrechen gewesen war, draußen auf der Bank gelegen hatte.
»Ich konnte es gestern fast nicht glauben«, sagte Joseph. »Daß du die gleiche Person warst, die noch vor ein paar Tagen so nüchtern und aufrecht dagesessen und Zigaretten verteilt hat.«
»Touche«, erwiderte Harry.
Joseph verschwand nach draußen und kam mit einer Portion Pommes frites und einem Becher Cola wieder. Er schaute zu, während Harry das einfache, aber verblüffend effektive Frühstück vorsichtig zu sich nahm.
»Der Vorläufer von Coca-Cola wurde von einem amerikanischen Apotheker erfunden, der ein Mittel gegen Kater herstellen wollte«, erzählte Joseph. »Aber er glaubte, einen Fehler gemacht zu haben, und verkaufte das Rezept für acht Dollar. Wenn du mich fragst, es gibt noch immer nichts Besseres.«
»Jim Beam«, sagte Harry mit vollem Mund.
»Ja, abgesehen von Jim Beam. Und Jack und Johnny und ein paar anderen Kerlen. Hä-hä. Wie fühlst du dich?«
»Besser.«
Joseph stellte zwei Flaschen auf den Tisch. »Der billigste Rotwein aus dem Hunter Valley«, sagte er. »Trinkst du ein Glas mit, Bleichgesicht?«
»Danke vielmals, Joseph, aber Rotwein ist nicht gerade mein Ding … Hast du nicht etwas anderes? Etwas Braunes, zum Beispiel?«
»Glaubst du, ich hab ein ganzes Lager hier?«
Joseph schien ein bißchen beleidigt darüber zu sein, daß sein großzügiges Angebot abgelehnt worden war.
Harry richtete sich schwerfällig auf. Er versuchte, das Loch in seinem Gedächtnis aufzufüllen, das zwischen dem Moment klaffte, in dem er Rod Stewart mit der Waffe bedroht hatte und einem späteren Zeitpunkt, wo sie sich buchstäblich in den Armen gelegen und ein bißchen Acid geteilt hatten. Es gelang ihm nicht, sich daran zu erinnern, was zu so viel Freude und gegenseitiger Sympathie geführt haben konnte, abgesehen natürlich von dem, was offensichtlich war – Jim Beam. Hingegen erinnerte er sich daran, den Türsteher des Albury geschlagen zu haben.
»Harry Hole, du bist ein pathetischer Säufer«, murmelte er.
Sie gingen hinaus und setzten sich in das Gras draußen vor der Laube. Die Sonne stach in den Augen, und der Alkohol vom Vortag brannte auf der Haut, aber abgesehen davon ging es gar nicht so schlecht. Eine leichte Brise wehte, und sie legten sich auf den Rücken und betrachteten die weißen Wolken, die langsam am Himmel entlangglitten.
»Heute ist das richtige Wetter zum Springen«, sagte Joseph.
»Ich habe nicht vor zu springen«, sagte Harry. »Ich werde ganz ruhig sitzenbleiben oder mich nur ganz langsam bewegen.«
Joseph blinzelte bei all dem Licht. »Ich habe nicht an das Springen gedacht, ich dachte daran, vom Himmel zu springen. Skydiving- Fallschirmspringen.«
»Was! Bist du Fallschirmspringer?«
Joseph nickte.
Harry hielt sich die Hand über die Augen und blickte zum Himmel hoch. »Und was ist mit den Wolken da oben? Sind die nicht im Weg?«
»Kein Problem. Das sind Zirruswolken, Federwolken. Die liegen mehr als 15 000 Fuß hoch.«
»Du überraschst mich, Joseph. Nicht daß ich nicht wüßte, wie ein Fallschirmspringer aussieht, aber ich habe mir nicht vorgestellt, daß er …«
»Alki ist?«
»Zum Beispiel.«
»Hä-hä. Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille.«
»Wie meinst du das?«
»Warst du jemals alleine in der Luft, Harry? Bist du jemals geflogen? Bist du mal aus großer Höhe abgesprungen und hast gespürt, daß die Luft versucht, dich oben zu halten, dich aufzufangen und deinen Körper zu streicheln?«
Joseph hatte bereits einen guten Teil der ersten Weinflasche in sich, und seine Stimme hatte einen wärmeren Klang bekommen. Mit glühenden Augen erzählte er Harry von der Schönheit des freien Falls:
»Das öffnet dir die Sinne. Dein ganzer Körper schreit, daß er nicht fliegen kann. ›Ich hab doch keine Flügel‹, schreit er dir zu und versucht lauter zu sein als das Rauschen der Luft, die an deinen Ohren vorbeizischt. Dein Körper ist überzeugt davon, sterben zu müssen, und schlägt Alarm – er öffnet alle Sinne so weit es nur geht, um doch irgendwo einen Ausweg zu finden. Dein Gehirn wird zu dem größten Computer, den es auf der Welt gibt, es registriert alles; deine Haut spürt, wie die Temperatur steigt, je tiefer du fällst, deine Ohren spüren den zunehmenden Druck, und du erkennst jede Furche, jede Farbveränderung in der Karte unter dir. Ja, du kannst den Planeten unter dir sogar riechen. Und wenn es dir gelingt, die Todesangst in den Hintergrund zu drängen, Harry, dann bist du für einen Moment lang dein eigener Engel. Du lebst in vierzig Sekunden ein ganzes Leben.«
»Und wenn es dir nicht gelingt, die Todesangst zu verdrängen?«
»Nicht verdrängen, nur in den Hintergrund schieben. Denn sie muß da sein, als scharfer, klarer Ton, wie kaltes Wasser auf der Haut. Es ist nicht der Fall, sondern die Todesangst, die dir die Sinne öffnet. Sie beginnt wie ein Stoß, wie ein plötzlicher Schwall durch deine Adern, wenn du aus dem Flugzeug springst. Wie sich eine Spritze setzen. Dann mischt sich das Serum mit dem Blut und macht dich selig und stark. Schließt du die Augen, kannst du es sehen, wie eine schöne, giftige Schlange, die in der Nähe liegt und dich mit ihrem Schlangenblick anschaut.«
»Das hört sich bei dir ja an wie Dope.«
»Das ist Dope!« Joseph gestikulierte jetzt wild mit den Armen. »Genau das ist es. Du willst, daß der Fall ewig dauert, und wenn du erst eine Weile gesprungen bist, merkst du, daß es immer schwieriger wird, die Reißleine zu ziehen. Schließlich bekommst du Angst, daß du eines Tages eine Überdosis nimmst und die Reißleine gar nicht mehr ziehst, und du hörst auf zu springen. Und in dem Moment merkst du, daß du abhängig bist. Die Abstinenz reißt und zerrt an dir, und dein Leben wirkt trivial und sinnlos, und schließlich findest du dich selbst wieder auf den engen Sitzen hinter dem Piloten einer kleinen, alten Cessna, die Ewigkeiten braucht, um sich auf 10.000 Fuß hochzuschrauben, dir aber trotzdem all dein Gespartes auffrißt.«
Joseph atmete tief ein und schloß die Augen.
»Kurz gesagt, Harry, es ist die andere Seite der gleichen Medaille. Das Leben ist die Hölle, aber die Alternative ist noch schlimmer. Hä- hä.«
Joseph stützte sich auf seine Ellbogen und nahm einen großen Schluck aus der Weinflasche.
»Ich bin ein Vogel, der nicht mehr fliegen kann. Weißt du, was ein Emu ist, Harry?«
»An australian ostrich – ein australischer Strauß.«
»Kluger Junge.«
Wenn Harry die Augen schloß, hörte er Andrews Stimme. Denn natürlich war das Andrew, der da neben ihm im Gras lag und sich über Wichtiges und Unwichtiges ausließ.
»Kennst du die Geschichte, warum der Emu nicht fliegen kann?«
Harry schüttelte den Kopf.
»Paß auf, Harry. In der Zeit der Träume hatten die Emus Flügel und konnten fliegen. Der Emu wohnte mit seiner Frau am Ufer eines Sees, an welchem sich ihre Tochter mit Jaribu, dem Storch, verheiratet hatte. Eines Tages, als Jaribu und seine Frau beim Fischen einen guten Fang gemacht hatten, fraßen sie fast alles sofort auf, ohne daran zu denken, wie es Sitte war, die besten Stücke für die Schwiegereltern aufzuheben. Als die Tochter mit den restlichen Fischen zu ihren Eltern kam, wurde der Vater, der Emu, wütend. ›Gebe ich euch nicht immer die besten Stücke, wenn ich von der Jagd nach Hause kommen?‹ fragte er, nahm seine Keule und einen Speer und flog hinüber zu Jaribu, um ihm eine gründliche Tracht Prügel zu verabreichen.
Jaribu aber hatte nicht vor, die Schläge hinzunehmen, ohne sich zu wehren, und er nahm einen großen Ast und schlug seinem Schwiegervater die Keule aus der Hand. Dann schlug er ihm zuerst auf die rechte und dann auf die linke Seite, so daß beide Flügel brachen. Der Emu rappelte sich wieder auf und schleuderte seinen Speer auf den Ehemann seiner Tochter. Der Speer fuhr ihm durch das Rückgrat und ragte aus seinem Schnabel heraus. Außer sich vor Schmerzen flog der Storch in die Sümpfe, wo sich der Speer schließlich als sehr hilfreich beim Fischfang erwies. Der Emu aber zog in die trockeneren Gegenden, wo man ihn mit kurzen, lahmen Flügeln, unfähig zu fliegen, herumlaufen sehen kann.«
Joseph setzte die Flasche an den Mund, aber es kamen nur noch ein paar Tropfen. Gekränkt drückte er den Korken wieder hinein. Dann öffnete er die andere Flasche.
»Und deine Geschichte ist ähnlich, Joseph?«
»Nun …«
Es gluckste in der Flasche, also war er bereit.
»Ich habe oben in Cessnok acht Jahre als Ausbilder für Fallschirmspringer gearbeitet. Wir waren eine tolle Truppe und hielten fest zusammen. Niemand wurde reich, weder wir noch der Besitzer des Clubs, der das aus reinem Enthusiasmus machte. Das Geld, das wir als Trainer verdienten, gaben wir für unsere eigenen Sprünge aus. Ich war ein guter Trainer. Einige meinten, ich sei der beste gewesen. Trotzdem hat man mir wegen eines unglücklichen Vorfalls die Ausbildungslizenz entzogen. Sie behaupteten, ich sei bei einem Sprung mit einem der Kursteilnehmer betrunken gewesen. Als wenn ich einen Sprung durch Alkohol versauen würde!«
»Was ist geschehen?«
»Wie meinst du das? Willst du Details wissen?«
»Hast du keine Zeit?«
»Hä-hä. Na gut, du sollst es wissen.«
Die Weinflasche blitzte in der Sonne.
»Es war eine unvorhersehbare Verkettung von unglücklichen Umständen und nicht die Folge eines oder mehrerer Drinks. Erst mal war da das Wetter. Als wir starteten, lag eine Wolkendecke auf etwa 8000 Fuß Höhe. Wenn die Wolken so hoch liegen, gibt es kein Problem, denn man soll die Reißleine nicht eher ziehen, bis man auf etwa 4000 Fuß Höhe ist. Das Wichtigste ist, daß die Schüler die Erde sehen, wenn sich der Schirm geöffnet hat, so daß sie nicht wie die Besessenen Richtung Newcastle steuern, sondern auf die Signale reagieren können, die man ihnen je nach Windrichtung und Topographie am Boden gibt, damit sie sicher in der Landungszone herunterkommen, verstehst du? Als wir abhoben, gab es zwar ein paar Wolken, die seitlich hereintrieben, aber die sahen noch sehr weit entfernt aus. Das Problem war, daß der Club nur eine alte Cessna hatte, die mit Leukoplast, Gebeten und viel gutem Willen zusammengehalten wurde. Das Flugzeug brauchte mehr als zwanzig Minuten, um auf die 10.000 Fuß Höhe zu kommen, in der wir abspringen wollten. Nachdem wir abgehoben hatten, war Wind aufgekommen, und als wir die Wolkenschicht auf 8000 Fuß Höhe durchflogen hatten, war die andere Schicht unter diese Wolken getrieben, ohne daß wir es sahen. Kapiert?«
»Hattet ihr denn keinen Funkkontakt zur Bodenstation? Konnten die euch nichts von den tieferen Wolkenschichten sagen?«
»Funk, ja. Hä-hä. Das war auch etwas, was später totgeschwiegen wurde, denn der Pilot ließ immer in voller Lautstärke Stones laufen, wenn wir uns den 10.000 Fuß näherten, sozusagen um die Schüler anzuheizen, sie ein bißchen aggressiv zu machen und ihnen die Scheißangst zu nehmen. Wenn sie etwas per Funk durchgegeben haben, dann haben wir es ganz sicher nicht gehört.«
»Habt ihr denn nicht noch einmal einen letzten Check mit der Kontrollstation am Boden durchgeführt, bevor ihr gesprungen seid?«
»Harry, mach die Geschichte nicht noch schwieriger, als sie schon ist, okay?
Das andere, was schieflief, war das Problem mit dem Höhenmesser. Der muß auf Null gestellt werden, bevor das Flugzeug abhebt, so daß er die relative Höhe über dem Boden anzeigt. Kurz bevor wir springen wollten, bemerkte ich, daß ich meinen Höhenmesser vergessen hatte, aber der Pilot hatte immer eine volle Springerausrüstung im Flugzeug, also lieh ich mir seine. Er befürchtete ebenso wie wir, daß das Flugzeug eines Tages einfach auseinanderfallen würde. Wir waren schon auf 10.000 Fuß Höhe, als der Pilot die Stones-Musik abdrehte und im Funk hörte, daß tiefe Wolken im Anmarsch waren, nicht, daß sie bereits hereingetrieben waren. Deshalb hatten wir es plötzlich eilig. Ich mußte mich beeilen, auf die Tragfläche zu kommen und kam nicht mehr dazu, meinen Höhenmesser mit dem des Schülers abzugleichen. Natürlich hatte ich am Boden überprüft, daß er ihn auf Null gestellt hatte. Ich rechnete ja damit, daß der Höhenmesser des Piloten in etwa das gleiche anzeigte, auch wenn der nicht bei jedem Start korrigiert wurde. Aber wie auch immer, ich machte mir deshalb jedenfalls keine großen Sorgen. Wenn du erst einmal, so wie ich, mehr als 5000 Sprünge hinter dir hast, entwickelst du einen ziemlich genauen Blick für die Höhe.
Wir standen auf den Tragflächen. Der Schüler hatte schon drei recht gute Sprünge hinter sich, und deshalb machte ich mir keine Gedanken. Es gab auch keine Probleme beim Absprung. Wir gingen in die X-Stellung, und er lag gut und stabil, als wir durch die erste Wolkendecke fielen. Ich erschrak etwas, als ich die neuerliche Wolkendecke unter uns sah, aber ich dachte, daß wir einfach unsere Übungen machen sollten und kontrollieren, wie hoch wir waren, wenn wir uns den Wolken näherten. Der Schüler machte ein paar Neunzig- Grad-Drehungen und einige saubere horizontale Verschiebungen, bevor wir wieder die X-Stellung einnahmen. Mein Höhenmesser zeigte 6000 Fuß, als der Schüler begann, nach der Reißleine zu suchen, also signalisierte ich ihm zu warten. Er sah mich an, aber es ist nicht so leicht, die Gesichtszüge eines Menschen zu lesen, dessen Wangen und Lippen ihm um die Ohren flattern wie die Wäsche auf einer sturmgepeitschten Leine.«
Joseph hielt inne und nickte zufrieden.
»Wäsche auf einer sturmgepeitschen Leine«, wiederholte er. »Das war, verdammt noch mal, nicht schlecht gesagt, Prost.«
Der Boden der Flasche zeigte zum Himmel.
»Mein Höhenmesser zeigte 5000 Fuß an, als wir die Wolkendecke erreichten«, fuhr er fort, als er wieder Luft geschnappt hatte.
»Noch 1000 Fuß, bis wir die Reißleine ziehen sollten. Ich hielt den Schüler fest und behielt meinen Höhenmesser im Auge, für den Fall, daß es eine dicke Wolkenschicht war und wir den Schirm in den Wolken öffnen mußten, aber wir waren sofort wieder draußen. Ich spürte, wie mein Herz zusammenzuckte, als ich den Boden auf uns zurasen sah, Bäume, Gras, Asphalt, das alles war wie ein schneller Zoom mit einer Kamera. Ich riß sofort für uns beide die Leine. Wenn bei einem von uns der Hauptschirm einen Funktionsfehler gehabt hätte, dann hätte es niemals mehr für den Ersatzschirm gereicht. Es zeigte sich nämlich, daß die untere Wolkenschicht auf etwa 2000 Fuß gelegen hatte. Die Leute am Boden sind verdammt blaß geworden, als sie uns ohne Schirm aus den Wolken rasen sahen. Dieser dusselige Schüler kriegte zu allem Überfluß dann auch noch Panik, obwohl sich der Schirm geöffnet hatte, und steuerte mit Erfolg in einen Baum. Das ging eigentlich ganz gut, aber er blieb vier Meter über dem Boden hängen, und statt zu warten, bis Hilfe kam, löste er sich aus dem Schirm, stürzte zu Boden und brach sich ein Bein. Er verklagte mich und behauptete, ich hätte nach Alkohol gerochen, und der Verbandsvorstand entschied, mich auf Lebenszeit auszuschließen.«
Joseph erledigte auch Flasche Nummer zwei.
»Was ist danach geschehen, Joseph?«
Er warf die Flasche zur Seite.
»Das hier. Stütze, falsche Kameraden und Wein.« Er hatte begonnen, ein wenig zu lallen. »Sie brachen mir die Flügel, Harry. Ich bin ein Abkomme des Krähenvolkes, ich bin nicht dafür geschaffen, wie ein Emu zu leben.«
Die Schatten im Park waren zusammengekrochen, doch jetzt begannen sie wieder, länger zu werden. Harry wachte davon auf, daß Joseph über ihm stand.
»Ich geh jetzt nach Hause, Harry. Du brauchst vielleicht ja noch einige von den Sachen, die in der Laube liegen, oder?«
»Oh, Scheiße, meine Pistole und die Jacke.«
Harry stand auf. Es war höchste Zeit für einen Drink. Nachdem Joseph das Gartenhäuschen abgeschlossen hatte, blieben sie noch einen Augenblick unschlüssig draußen stehen.
»Du rechnest also damit, bald nach Norwegen zurückzukehren?« fragte Joseph.
»Oh, any day now.«
»Ich hoffe, du erreichst beim nächsten Mal dein Flugzeug.«
»Ich wollte heute nachmittag mal die Fluggesellschaft anrufen. Und mich im Büro melden. Die fragen sich bestimmt, wo ich stecke.«
»Verdammt«, sagte Joseph und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Er kramte wieder die Schlüssel hervor. »Ich glaube, in diesem Rotwein ist zu viel Gerbsäure. Der ätzt mir die Gehirnzellen weg. Ich kann mich nie daran erinnern, ob ich das Licht ausgemacht hab, und der Wachmann wird immer stinkwütend, wenn er kommt und das Licht noch an ist.«
Er schloß die Tür auf. Das Licht war aus.
»Hä-hä. Du weißt, wie das ist, wenn man einen Ort so in- und auswendig kennt, laufen Bewegungen wie Lichtausschalten völlig automatisch ab, man denkt einfach nicht mehr darüber nach. Und deshalb erinnert man sich verdammt noch mal nicht daran, ob man … is was, Harry?«
Harry war erstarrt und blickte Joseph bestürzt an.
»Das Licht«, sagte er bloß, »das Licht war aus.«
Der Wachmann des St. George-Theaters schüttelte verständnislos den Kopf und schenkte Harry Kaffee nach.
»So etwas h-habe ich noch n-nie gesehen. Es ist jeden Abend brechend voll. Wenn sie die Nummer mit der Guillotine machen, sind die Leute richtig hysterisch, sie schreien und machen die wildesten Gebärden. Inzwischen steht d-d-das sogar schon auf dem Plakat: ›Die Todesguillotine – bekannt aus Zeitung und Fernsehen – sie tötet nicht zum ersten Mal …‹ Die N-N-Nummer ist jetzt der totale Hit. Wirklich merkwürdig.«
»Wirklich merkwürdig. Die haben also einen Ersatz für Otto Rechtnagel gefunden und spielen genau das gleiche Programm?«
»Mehr oder weniger, ja. Früher waren die ja nicht annähernd so erfolgreich.«
»Wie ist das mit der Nummer, in der die Katze erschossen wird?«
»Die haben sie gestrichen. Die kam irgendwie nicht an.«
Harry rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Unter seinem Hemd rann ihm der Schweiß.
»Nein, ich habe auch nicht ganz begriffen, was sie mit dieser Nummer wollten …?«
»Das war Rechtnagels eigene Idee. Ich habe mich in meiner Jugend selbst einmal als Clown versucht. Es macht mir deshalb Spaß, zu verfolgen, was auf der Bühne passiert, wenn wir einen Zirkus hier haben, und ich erinnere mich, daß diese Nummer erst bei der letzten Probe vor dem Unglück dabei war.«
»Ich hab mir schon gedacht, daß Otto damit zu tun hatte, ja.«
Er kratzte sich an seinem frischrasierten Kinn.
»Eine Sache beschäftigt mich besonders, und ich frage mich, ob Sie mir da vielleicht helfen können. Es gibt auf der Erde ja alles mögliche, aber hören Sie sich erst einmal meine Theorie an, und sagen Sie mir dann, was Sie meinen: Otto weiß, daß ich im Publikum sitze, und er weiß etwas, das ich nicht weiß, das er mir aber irgendwie klarmachen will. Aber er kann es nicht offen sagen. Aus vielerlei Gründen. Vielleicht, weil er selbst damit zu tun hat. Also, diese Nummer ist auf mich zugeschnitten. Er will mir sagen, daß derjenige, den ich jage, selbst der Jäger ist, einer wie ich, ein Kollege. Ich weiß, das hört sich etwas zurechtgebastelt an, aber Sie wissen ja, wie exzentrisch Otto sein konnte. Was meinen Sie? Würde das zu ihm passen?«
Der Wachmann schaute Harry lange an.
»Konstabel, ich glaube, Sie brauchen noch einen Kaffee. Die Nummer hatte überhaupt keine Verbindung zu Ihnen. Das ist eine klassische J-J-Jandy Jandaschewsky-Nummer, das kann Ihnen jeder, der etwas vom Zirkus versteht, bestätigen. Nicht mehr und nicht weniger. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen damit eine T-T-Theorie vermassel, aber …«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Harry erleichtert. »So etwas hatte ich im stillen gehofft. Dann kann ich diese Theorie wirklich fallenlassen. Sie sagten, Sie hätten noch einen Kaffee?«
Er bat darum, die Guillotine sehen zu dürfen, und der Wachmann führte ihn in den Requisitenraum.
»Mir läuft immer noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich hier reinkomme, aber inzwischen kann ich nachts wenigstens wieder schlafen«, sagte der Wachmann und schloß die Tür auf. »Wir haben den Raum zwei Tage lang geschrubbt.«
Ein kalter Hauch kam ihnen aus dem Zimmer entgegen, als sie die Tür öffneten.
»Los, anziehen«, sagte der Wachmann und knipste das Licht an. Die Guillotine thronte in der Mitte des Raumes. Sie war mit einer Decke verhüllt und sah aus wie eine schlafende Diva.
»Los, anziehen?«
»Oh, nur ein Scherz hier im Haus. Wir pflegen das hier im St. George-Theater zu sagen, bevor wir einen d-d-dunklen Raum betreten.«
»Warum das denn?« Harry schob die Decke zur Seite und fuhr mit dem Daumen über die Klinge der Guillotine.
»Oh, das ist eine alte dumme Geschichte aus den Siebzigern. Unser Chef war damals ein Belgier, Albert Mosceau, ein temperamentvoller Mann, aber wir als Angestellte kamen gut mit ihm zurecht, ein echter Theatermensch, bless his soul. Die Leute behaupten ja, daß die Theatermenschen üble Schürzenjäger und L-Libertins sind, und da ist vielleicht ja sogar etwas Wahres dran. Ich sage nur, wie es ist. Es gab jedenfalls damals einen etablierten guten Schauspieler im Ensemble, ich w-w-will keine Namen nennen, der sich als rechter … der ein verdammt geiler Bock war. Die Frauen wurden schwach, und die Männer fluchten und waren eifersüchtig. Wir haben damals ab und zu Führungen gemacht, wenn Gäste das Theater sehen wollten. Eines Tages betrat der Führer der Besichtigung zusammen mit einer Schulklasse den Requisitenraum. Er schaltete das Licht an – und da lag unser geiler Bock auf einem Rokokosofa, das wir für eine Aufführung brauchten, und bearbeitete eine der Kantinenfrauen.
Natürlich hätte die Aufsicht die Situation retten können, denn der bekannte Schauspieler, ich nenne keinen Namen, hatte ihnen den Rücken zugedreht. Aber die Führung machte ein junger Kerl, der selbst hoffte, eines Tages Schauspieler zu werden und der noch dazu, wie die meisten Theaterleute, ein eitler Fatzke war. Deshalb trug er keine Brille, obwohl er sehr kurzsichtig war.
Er sah einfach nicht, was da auf dem Rokokosofa vor sich ging und glaubte wohl, daß sich alle wegen seiner spannenden Erläuterungen plötzlich in den Raum drängten. Als er nicht aufhörte, seine Informationen abzuspulen, fluchte der alte Bock lauthals, achtete aber peinlich genau darauf, nicht sein Gesicht, sondern nur seinen behaarten Arsch zu zeigen. Aber die Aufsicht erkannte ihn an der Stimme und sagte laut: ›Aber was machen Sie denn hier, Bruce Lieslington?‹«
Der Wachmann biß sich auf die Unterlippe.
»Oh-Scheiße …«
Harry lachte laut und hob beschwichtigend die Hände: »Ist schon okay, ich hab den Namen bereits vergessen.«
»Jedenfalls berief Mosceau am nächsten Tag eine allgemeine Versammlung ein. Er erklärte kurz, was geschehen war, und sagte, daß er diesen Vorfall sehr ernst nehme. ›Wir können diese Art von Publicity nicht gebrauchen‹ sagte er. ›Deshalb sehe ich mich gezwungen, solche Führungen fortan nicht mehr anzubieten.‹«
Das Lachen des Wachmanns hallte an den Wänden des Requisitenraums wider. Harry mußte lächeln. Nur die ruhende Diva aus Stahl und Holz war noch immer genauso still und unnahbar.
»Jetzt verstehe ich, warum ihr ›los, anziehen‹ ruft! Was ist aus dem unglückseligen Besichtigungsleiter geworden? Hat er es zum Schauspieler gebracht?«
»Zu seinem Bedauern, aber zur großen Freude der Theaterszene: n- nein. Aber er ist noch immer in der Branche. Er arbeitet heute als Beleuchter hier im St. George's, aber – das habe ich ja ganz vergessen – Sie haben doch mit ihm gesprochen.«
Harry zog langsam die Luft ein. Es knurrte und zuckte in seinen Gelenken dort unten. Scheiße, Scheiße, warum mußte es hier so heiß sein?
»Ja, ja, das ist richtig. Er trägt heute wohl Kontaktlinsen, nicht wahr?«
»Fehlanzeige! Er behauptet, er könne besser arbeiten, wenn er die Bühne leicht unscharf sehe. Daß er sich dann besser auf das Ganze konzentrieren könne und sich nicht von irgendwelchen Details ablenken lasse. Das ist schon ein m-merkwürdi-ger Kauz.«
»Ein merkwürdiger Kauz«, wiederholte Harry.
Kristin war vor ein paar Jahren zurück nach Oslo gezogen. Über Freunde hatte Harry erfahren, daß sie eine zweijährige Tochter hatte, ihren Engländer aber in London gelassen hatte. Und eines Abends hatte er sie dann im Sardine's getroffen. Als er sich ihr genähert hatte, konnte er sehen, wie verändert sie war. Die Haut war blaß, und ihr Haar hing ihr leblos ins Gesicht. Als sie auf ihn aufmerksam wurde, verzerrte sich ihr Gesicht zu einer Art angestrengtem Lächeln. Er begrüßte Kjartan, einen »befreundeten« Musiker, den er wiederzuerkennen glaubte. Sie redete schnell und zusammenhanglos über alle möglichen unwichtigen Dinge und ließ Harry keine Gelegenheit, die Fragen zu stellen, die sie von ihm erwartete. Dann redete sie über Zukunftspläne, aber in ihren Augen war kein Feuer, und die wild gestikulierenden Arme der Kristin, die er kannte, waren jetzt langsam und apathisch.
Irgendwann glaubte Harry zu erkennen, daß sie weinte, aber da war er bereits so voll, daß er es nicht mit Sicherheit sagen konnte.
Kjartan war gegangen, tauchte dann noch einmal auf, flüsterte ihr etwas ins Ohr und löste sich dann mit einem überlegenen Lächeln, das Harry galt, aus ihrer Umarmung. Dann waren alle gegangen, und Harry und Kristin hockten zwischen zerknüllten Zigarettenpackungen und Glassplittern allein in dem leeren Lokal, bis sie vor die Tür gesetzt wurden. Es war nicht ganz klar, wer wen auf dem Weg nach draußen gestützt hatte und von wem der Vorschlag gekommen war, in ein Hotel zu gehen. Jedenfalls waren sie zu guter Letzt im Savoy gelandet, wo sie kurzen Prozeß mit der Minibar machten und dann ins Bett krochen. Harry hatte pflichtbewußt einen vergeblichen Versuch unternommen, sie zu vögeln, aber es war zu spät. Natürlich war es zu spät. Kristin hatte ihren Kopf in den Kissen begraben und heftig geweint. Als er aufgewacht war, hatte Harry sich aus dem Zimmer geschlichen und war mit einem Taxi in ein Cafe gefahren, das eine Stunde vor den anderen Löchern öffnete. Er hatte dagehockt und gespürt, wie sehr es zu spät war.
»Ja?«
»Sorry, daß ich so spät anrufe, Lebie, hier ist Harry Hole.«
»Holy, so eine Überraschung, wie spät es ist jetzt in Norwegen?«
»Weiß ich nicht. Hör mal, ich bin nicht in Norwegen. Es hat ein paar Probleme mit dem Flugzeug gegeben.«
»Was denn?«
»Es flog ein bißchen zu früh, um es so zu sagen, und es ist gar nicht so leicht, einen neuen Flug zu buchen. Ich brauche bei ein paar Sachen Hilfe.«
»Laß hören!«
»Kannst du mich in der Wohnung von Otto Rechtnagel treffen? Nimm sicherheitshalber ein Brecheisen mit, falls das mit dem Dietrich nicht klappt.«
»In Ordnung. Jetzt sofort?«
»Das wäre gut. Appreciate it, mate.«
»Ich habe ohnehin schlecht geschlafen.«
»Hallo?«
»Doktor Engelssohn? Es geht um die Leiche, mein Name ist …«
»Es ist mir scheißegal, wer Sie sind, es ist … drei Uhr morgens, fragen Sie Doktor Hansson, der hat Nachtdienst! Gute Nacht!«
»Hören Sie schlecht? Ich sagte Gute …«
»Ich bin es, Holy, bitte legen Sie nicht wieder auf.«
»Der Holy?«
»Ich freue mich, daß Sie sich doch noch an meinen Namen erinnern, Doktor. Ich bin in der Wohnung, in der Andrew Kensingtons Leiche gefunden worden ist, auf etwas Interessantes gestoßen. Ich muß ihn mir noch einmal anschauen, das heißt, ich muß mir die Kleider anschauen, die er trug, als er starb. Die haben Sie doch noch, oder?«
»Ja, aber …«
»Warten Sie in einer halben Stunde vor dem Leichenschauhaus auf mich.«
»Mein lieber Holy, ich sehe wirklich nicht …«
»Ersparen Sie es mir, alles wiederholen zu müssen, Doktor. Entzug der Lizenz, Schadensersatzansprüche der Betroffenen, Zeitungsgeschmiere … wollen Sie noch mehr hören?«
»Ich schaffe es auf keinen Fall in einer halben Stunde.«
»Um diese Uhrzeit gibt es wenig Verkehr, Doktor. Ich glaube, Sie schaffen es.«
McCormack betrat sein Büro, schloß die Tür und stellte sich vor das Fenster. Das wechselhafte Sommerwetter in Sydney machte seinen Launen alle Ehre, es hatte die ganze Nacht geregnet. McCormack war über sechzig, er hatte das Pensionsalter der Polizei überschritten und in der Art der Rentner begonnen, wenn er allein war, Selbstgespräche zu führen.
Meistens handelte es sich dabei um kleine, alltägliche Betrachtungen, die er als einziger glaubte, richtig einschätzen zu können, wie zum Beispiel: »Jetzt scheint es heute doch noch aufklaren zu wollen, so etwas, jajaja.« Er blieb vor dem Fenster stehen, wippte auf seinen Hacken vor und zurück und blickte über seine Stadt. Oder: »Bin ich heute also wieder der erste.«
Erst als er die Jacke in den Schrank hinter seinem Schreibtisch hängte, wurde er auf die Geräusche vom Sofa aufmerksam. Ein Mann war dabei, sich von der liegenden in die sitzende Stellung hochzuhieven.
»Holy«, rief McCormack verblüfft aus.
»Entschuldigung, Sir, ich hoffe, es war in Ordnung, daß ich mir mal Ihr Sofa ausgeliehen habe …«
»Wie sind Sie hier hereingekommen?«
»Ich bin noch nicht dazu gekommen, meinen Ausweis abzugeben, und so hat mich der Pförtner hereingelassen. Die Tür zu Ihrem Büro war offen, und weil ich ja mit Ihnen reden wollte, habe ich mich auf Ihrem Sofa ein bißchen hingelegt.«
»Sie sollten in Norwegen sein. Ihr Vorgesetzter hat angerufen. Sie sehen übel aus, Holy.«
»Was haben Sie gesagt, Sir?«
»Daß es so aussieht, als ob Sie bis zu Kensingtons Beerdigung bleiben würden, als norwegischer Repräsentant.«
»Aber wie …«
»Sie hatten der Fluggesellschaft ihre Büronummer hier bei uns gegeben, und als Sie eine halbe Stunde vor Abflug noch immer nicht am Flughafen waren, haben die hier angerufen. Da hab ich mir dann schon etwas gedacht. Der Rest wurde mir bei einem vertraulichen Telefonat mit dem Hoteldirektor des Crescent klar. Wir haben vergeblich versucht, Sie zu finden. Ich weiß, wie das ist, Holy, und ich schlage vor, daß wir nicht weiter darüber reden. Uns allen ist klar, daß das, was da geschehen ist, nicht ohne Reaktion bleibt. Das Wichtigste ist jetzt, daß Sie sich wieder beruhigt haben und wir Sie ins Flugzeug bekommen.«
»Danke, Sir.«
»Keine Ursache. Ich werde meine Sekretärin bitten, die Fluggesellschaft anzurufen.«
»Bevor Sie anrufen, muß ich noch ein paar Sachen mit Ihnen bereden, Sir. Wir haben heute nacht ganz gut gearbeitet, die endgültigen Resultate bekommen wir aber erst, wenn die Jungs von der Spurensicherung heute morgen ihre Arbeit aufnehmen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, was dabei herauskommen wird, Sir.«
Der alte Ventilator hatte, obgleich er geölt worden war, nun endgültig den Geist aufgegeben und war durch einen neuen, größeren und leiseren Nachfolger ersetzt worden. Harry mußte feststellen, daß die Welt also auch in seiner Abwesenheit Fortschritte machte.
Von den Anwesenden kannten nur Wadkins und Yong die Details noch nicht, Harry begann aber dennoch ganz von vorne.
»Wir hatten nicht daran gedacht, als wir Andrew fanden, weil es hellichter Tag war. Auch als ich den Todeszeitpunkt erfuhr, bin ich nicht sofort darauf gekommen. Erst später fiel mir wieder ein, daß das Licht ausgeschaltet war, als wir in Otto Rechtnagels Wohnung kamen. Wenn die Ereignisse dort so abgelaufen sind, wie wir uns das bisher ausgemalt haben, heißt das, daß Andrew den Lichtschalter neben der Wohnzimmertür ausgeschaltet hat und sich dann im Heroinrausch in einem Raum, der um zwei Uhr nachts stockfinster ist, zu dem wackeligen Stuhl vorgetastet hat, auf ihn raufgekraxelt ist und sich dann die Schlinge um den Hals gelegt hat.«
»Das hört sich merkwürdig an, ja«, sagte Wadkins. »Vielleicht war es ja nicht ganz dunkel, vielleicht wird das Zimmer nachts von Straßenlaternen oder irgendwelchen anderen Lampen erleuchtet?«
»Lebie und ich haben das heute nacht um zwei Uhr überprüft. In dem Zimmer herrschte totale Finsternis.«
»Kann nicht das Licht an gewesen sein, ohne daß ihr das bemerkt habt?« fragte Yong. »Es war ja Tag. Irgendeiner der Polizisten kann es doch vielleicht ausgeschaltet haben?«
»Wir haben Andrew mit einem Messer abgeschnitten«, sagte Lebie. »Ich wollte keine gewischt bekommen und habe deshalb vorher den Lichtschalter kontrolliert.«
»Okay«, sagte Wadkins. »Gehen wir davon aus, daß sich Kensington im Dunkeln erhängt hat, daß er ein Sonderling war, what else is new?«
»Aber er erhängte sich nicht im Dunkeln«, sagte Harry. McCormack räusperte sich hinten im Raum.
»Das hier haben wir in Otto Rechtnagels Wohnung gefunden«, sagte Harry und hielt eine Glühbirne in die Höhe. »Seht ihr den braunen Fleck hier? Das ist verschmorte, angebrannte Viskose.« Dann hielt er ein weißes Bekleidungsstück in die Höhe. »Und hier ist das Hemd, das Andrew trug, als wir ihn gefunden haben. Bügelfrei. 60 Prozent Viskose. Viskose schmilzt bei 260 Grad Celsius. Die Temperatur der Oberfläche einer Glühbirne beträgt etwa 450 Grad. Seht ihr den braunen Fleck über der Brusttasche hier? Dort hing die Glühbirne auf dem Hemd, als wir ihn fanden.«
»Beeindruckende Physikstunde, Holy«, sagte Wadkins. »Was ist Ihrer Meinung nach geschehen?«
»Es gibt zwei Möglichkeiten«, antwortete Harry. »Jemand kann vor uns da gewesen sein, Andrew dort gesehen und das Licht ausgeschaltet haben. Das Problem ist, daß die einzigen beiden registrierten Schlüssel zu der Wohnung in den Taschen von Andrew und Otto gefunden worden sind.«
»Die Tür hat ein Sicherheitsschloß, nicht wahr?« fragte Wadkins. »Vielleicht hat diese Person die Tür geöffnet und den Schlüssel dann in Andrews Tasche ge … nein, dann hätte Andrew ja nicht hereinkommen können.«
Wadkins errötete leicht.
»Trotzdem kann da etwas Wahres dran sein«, erwiderte Harry. »Meine Theorie ist, daß Andrew keinen Schlüssel zu der Wohnung hatte, sondern von jemand anderem hereingelassen worden ist, der entweder bereits da war oder mit ihm zusammen gekommen ist, jemand, der den anderen Schlüssel hatte. Diese Person war anwesend, als Andrew starb. Anschließend steckte sie den Schlüssel in Andrews Tasche, damit es so aussah, als habe er sich selber die Wohnung aufgeschlossen. Daß der Schlüssel nicht zusammen mit all den anderen Schlüsseln am Schlüsselbrett hing, läßt so etwas vermuten. Dann hat diese Person das Licht ausgeschaltet und, als sie ging, die Tür ins Schloß fallen lassen.«
Es wurde still.
»Glauben Sie, daß Andrew Kensington ermordet worden ist?« fragte Wadkins. »Und wenn ja, wie?«
»Ich glaube, daß man ihn zuerst gezwungen hat, sich eine Überdosis Heroin zu spritzen, vermutlich mit gezückter Pistole.«
»Warum kann er sich das nicht freiwillig gespritzt haben, bevor er dorthin kam?« fragte Yong.
»Erstens glaube ich nicht, daß ein so routinierter Junkie wie Andrew sich plötzlich eines Tages per Zufall eine Überdosis spritzt. Außerdem hatte Andrew gar nicht mehr genug Stoff für eine Überdosis.«
»Warum mußte er dann noch erhängt werden?«
»Eine Überdosis zu spritzen ist keine exakte Wissenschaft. Es ist nicht immer leicht zu sagen, wie ein abgehärteter Körper reagieren wird. Vielleicht hätte man ihn noch lebend gefunden. Der Punkt ist aber wohl eher, daß man ihn betäuben mußte, damit er keinen Widerstand leistete, wenn man ihn auf den Stuhl stellte und ihm die Leitung um den Hals wickelte. Apropos Leitung. Lebie?«
Lebie manövrierte seinen Zahnstocher mit leichter Lippen- und Zungengymnastik aus dem Mundwinkel.
»Die Jungs von der Spurensicherung haben die Leitung für uns überprüft. Kabel, die von der Decke herabhängen, werden selten gewaschen, nicht wahr, und so haben wir geglaubt, daß man dort vielleicht Fingerabdrücke finden mußte. Das Kabel war aber so sauber wie ein … äh …«
Lebie machte eine Bewegung mit der Hand.
»Wie etwas, was normalerweise sehr sauber ist?« eilte ihm Yong zur Hilfe.
»Genau. Die einzigen Abdrücke, die wir fanden, waren unsere eigenen.«
»Also, wenn Andrew nicht die Leitung abgewischt hat, bevor er sich erhängte«, überlegte Wadkins, »und den Kopf durch die Schlinge steckte, ohne das Kabel zu berühren – dann muß das jemand anders für ihn erledigt haben. Wollen Sie das damit sagen?«
»Es sieht so aus, Chef.«
»Aber wenn dieser Typ so schlau ist, wie ihr mich das glauben machen wollt, warum macht er dann das Licht aus?« Wadkins breitete die Arme aus und schaute in die Runde.
»Weil«, sagte Harry, »er das automatisch macht, ohne darüber nachzudenken. Wie Menschen, die ihre eigene Wohnung verlassen. Oder eine Wohnung, zu der sie einen Schlüssel haben und in der sie sich frei bewegen und kommen und gehen können, wann sie wollen.«
Harry lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er schwitzte wie ein Schwein und wußte nicht, wie lange er es noch ohne einen Drink aushalten konnte.
»Ich glaube, der Mann, den wir suchen, ist Otto Rechtnagels heimlicher Geliebter.«
Lebie stellte sich neben Harry in den Aufzug.
»Geht's zum Essen?« fragte er.
»Das hatte ich vor, ja«, antwortete Harry.
»Hast du was dagegen, daß ich mitkomme?«
»Ganz und gar nicht.«
Lebie war die richtige Gesellschaft, wenn man nicht vorhatte, zu viel zu reden.
Sie bekamen einen Tisch im Southern in der Market Street. Harry bestellte einen Jim Beam. Lebie schaute von der Karte auf.
»Bringen Sie uns zweimal Barramundisalat, schwarzen Kaffee und frisches Weißbrot.«
Harry blickte Lebie überrascht an.
»Danke, aber ich für meinen Teil möchte noch nichts«, sagte er zum Kellner.
»Bringen Sie, was ich gesagt habe«, sagte Lebie mit einem Lächeln. »Mein Kumpel wird sich das schon noch überlegen, wenn er euren Barramundi hier erst einmal probiert hat.«
Der Kellner verschwand. Harry schaute Lebie an. Er hatte beide Hände mit gespreizten Fingern vor sich auf den Tisch gelegt und schaute von der einen zu der anderen, als versuche er, einen Unterschied zu erkennen.
»Als ich jung war, bin ich die Küste hinauf nach Cairns getrampt, immer am Great Barrier Reef entlang«, sagte er zu seinen Handrücken. »In einem Hotel für back-packers habe ich zwei deutsche Mädchen getroffen, die auf einer Weltumsegelung waren. Sie hatten sich ein Auto gemietet, fuhren den ganzen Weg von Sydney zurück und erzählten ausführlich, wo sie gewesen waren, wie lange und warum sie dort gewesen waren und wie sie den Rest ihres Urlaubs geplant hatten. Es wurde dabei ganz deutlich, daß sie kaum etwas dem Zufall überließen. Das liegt vielleicht an der deutschen Mentalität. Und als ich sie fragte, ob sie auf ihrer Reise Känguruhs gesehen hatten, lachten sie überlegen und versicherten mir, daß sie natürlich welche gesehen hätten. Dabei schwang irgendwie mit, daß sie diesen Punkt auf ihrer Dagewesen-und-Gesehen-Liste abgehakt hatten. Ich fragte sie dann, ob sie angehalten und sie gefüttert hätten, aber diese Frage verblüffte sie völlig, und sie schauten mich fragend an:
›Aber, no!‹
›Why not? They are quite cute, you know.‹
›Aber, zey were dead!‹«
Harry war so verblüfft über Lebies langen Monolog, daß er vergaß zu lachen. Känguruhs sind auf den australischen Straßen ein wohlbekanntes Verkehrsproblem, und alle, die ein bißchen außerhalb der Städte herumgefahren sind, haben schon die Kadaver in den Straßengräben liegen sehen.
Der Kellner kam und brachte Harry den Drink. Lebie schaute auf das Glas.
»Vorgestern habe ich ein Mädchen gesehen, das so süß war, daß ich Lust hatte, ihr über die Wangen zu streicheln und ihr etwas Nettes zu sagen. Sie war etwas über zwanzig, trug ein blaues Kleid und hatte nackte Beine. Aber, she was dead. Wie du weißt, war sie blond, vergewaltigt und hatte blaue Würgemale am Hals.
Und heute nacht habe ich von all diesen unsinnig jungen und sinnlos hübschen Leichen geträumt, die in den Straßengräben von ganz Australien liegen – von Sydney bis Cairns, von Adelaide bis Perth und von Darwin bis Melbourne. Und das alles nur aus einem einzigen Grund. Weil wir die Augen davor verschlossen haben, weil wir die Wahrheit nicht verkraften. Weil wir uns nicht genügend dafür eingesetzt haben. Weil wir es uns gestattet haben, schwach und menschlich zu sein.«
Harry begriff, worauf Lebie hinaus wollte. Der Kellner brachte den Fisch.
»Du bist es, der ihm dort draußen am nächsten gekommen ist, Harry. Du warst es, der mit dem Ohr am Boden gelegen hat, und vielleicht kannst du seine Schritte an der Art der Vibration wiedererkennen. Es wird immer mehr als hundert gute Gründe dafür geben, sich zu betrinken, aber wenn du in einem Hotelzimmer liegst und auf den Boden kotzt, bist du für keinen hier mehr eine Hilfe. Er ist nicht menschlich. Deshalb dürfen wir auch nicht menschlich sein. Wir müssen alles aushalten, allem widerstehen.«
Lebie faltete seine Serviette auseinander. »Aber wir müssen essen.«
Harry setzte das Whiskeyglas an seine Lippen und trank langsam, wobei er Lebie anschaute. Dann stellte er das leere Glas wieder auf den Tisch, verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und griff nach Messer und Gabel. Dann aßen sie schweigend.
Harry mußte lächeln, als er erfuhr, daß Wadkins Yong geschickt hatte, um Otto Rechtnagels fette Nachbarin zu verhören.
»Wir können nur hoffen, daß sie sich nicht auf ihn setzt«, sagte Lebie. Harry und Lebie fuhren nach King's Cross hinaus, wo Harry ausstieg.
»Danke, Sergej. Ich glaube, wie gesagt, daß es besser ist, wenn ich von hier aus alleine weitermache.«
Lebie grüßte ihn mit den Fingern an der Stirn und verschwand.
Sandra stand an ihrem gewohnten Platz. Sie erkannte ihn nicht wieder, bis er unmittelbar vor ihr war.
»Danke für den netten Abend«, sagte sie, und ihre winzigen Pupillen machten einen höchst abwesenden Eindruck.
Sie gingen ins Bourbon & Beef hinüber. Eilig kam der Kellner angelaufen und schob ihr den Stuhl zurecht.
Harry fragte, was Sandra trinken wolle, und bestellte eine Cola und einen großen Whiskey.
»Puh, ich dachte, der käme so schnell, um mich hier rauszuwerfen«, sagte sie erleichtert.
»Ich bin so eine Art Stammgast«, erklärte Harry.
»Wie geht es deiner Freundin?«
»Birgitta?« Harry zögerte. »Ich weiß nicht. Sie will nicht mehr mit mir reden. Beschissen, hoffe ich.«
»Warum hoffst du, daß es ihr schlechtgeht?«
»Ich hoffe halt, daß sie mich liebt.«
Sandra lachte heiser.
»Und wie geht es dir, Harry Hole?«
»Beschissen!« Harry lächelte traurig. »Aber es mag sein, daß ich mich ein bißchen besser fühlen werde, wenn ich einen Mörder zu fassen kriege.«
»Und du glaubst, daß ich dir dabei helfen kann?« fragte sie und zündete sich eine Zigarette an. Ihr Gesicht war, wenn das überhaupt möglich war, noch blasser und ausgemergelter als sonst. Ihre Augen hatten rote Ränder.
»Wir ähneln einander«, sagte Harry und zeigte auf ihre Spiegelbilder in den geschwärzten Fensterscheiben neben ihrem Tisch.
Sandra sagte nichts.
»Ich erinnere mich, wenn auch etwas unklar, daß Birgitta deine Tasche auf das Bett geworfen hat und dabei alles herausgefallen ist. Zuerst habe ich geglaubt, du hättest einen Pekinesen in der Tasche gehabt.« Harry machte eine Pause. »Sag mal, wofür brauchst du denn eine blonde Perücke?«
Sandra schaute aus dem Fenster. Das heißt, sie schaute in das Fenster, vielleicht auf ihr eigenes Spiegelbild.
»Ein Kunde hat mir die gekauft. Er möchte, daß ich sie trage, wenn ich bei ihm bin.«
»Wer ist …«
Sandra schüttelte den Kopf. »Vergiß es, Harry. Das sage ich dir nicht. Es gibt in meinem Gewerbe nur wenige Regeln, aber nicht zu verraten, wer zu den Kunden gehört, ist eine davon. Und das ist eine gute Regel.«
Harry seufzte.
»Du hast Angst«, sagte er.
Sandras Augen schienen Feuer zu fangen.
»Versuch es nicht, Harry. Das führt zu nichts, okay?«
»Du brauchst mir nicht zu sagen, wer es ist, Sandra. Ich weiß es. Ich wollte nur erst einmal wissen, ob du Angst hast, es zu erzählen.«
»Ich weiß es«, äffte ihn Sandra verärgert nach. »Und woher willst du das wissen?«
»Ich habe den Stein gesehen, der aus deiner Tasche gekullert ist, Sandra. Den grünen Kristall. Ich habe ihn an dem aufgemalten Sternzeichen wiedererkannt. Er hat ihn dir gebeben. Der Stein kommt aus dem Geschäft seiner Mutter, Crystal Castle.«
Sie schaute ihn mit großen, schwarzen Augen an. Ihr roter Mund war zu einer häßlichen Grimasse erstarrt. Vorsichtig legte Harry seine Hand auf ihren Arm.
»Warum hast du so viel Angst vor Evans White, Sandra? Warum willst du ihn nicht uns überlassen?«
Sandra riß ihren Arm an sich. Sie drehte sich wieder zum Fenster, Harry wartete. Sie schluchzte, und Harry reichte ihr ein Taschentuch, das er aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen in der Hosentasche hatte.
»Es geht nicht nur dir beschissen, weißt du«, flüsterte sie nach einer Weile. Die Ränder um ihre Augen waren noch röter geworden, als sie sich wieder zu ihm wandte.
»Weiß du, was das ist?« Sie schob den Ärmel ihres Kleides hoch und zeigte ihm einen weißen Unterarm mit roten, entzündeten Malen. Auf einigen hatte sich eine Kruste gebildet.
»Heroin?« fragte Harry.
»Morphium«, sagte Sandra. »Es gibt nicht so viele in Sydney, die das in ihrem Sortiment haben, die meisten landen ja doch beim Heroin. Aber ich bin allergisch gegen Heroin. Mein Körper verkraftet das nicht. Ich habe es einmal probiert, und da wäre ich fast gestorben. Mein Gift ist also Morphium. Und im letzten Jahr gab es bloß einen einzigen Menschen hier im King's Cross, der in der Lage war, in ausreichenden Mengen zu liefern. Und er läßt sich durch eine Art Rollenspiel bezahlen. Ich schminke mich und setze eine weiße Perücke auf. Mir ist das scheißegal, wie er sich seinen Kick holt, solange ich den meinen bekomme. Außerdem gibt es wirklich krankhaftere Gestalten als die, die wollen, daß man sich wie ihre Mutter anzieht.«
»Wie die Mutter?« fragte Harry.
»Ich glaube, er haßt seine Mutter. Oder er liebt sie etwas mehr als normal, ich weiß es nicht genau, er will nicht darüber reden, und du kannst, verdammt noch mal, sicher sein, daß ich das auch nicht will.« Sie lachte hölzern.
»Warum glaubst du, daß er sie haßt?« fragte er.
»Die letzten Male war er etwas gröber als sonst«, sagte Sandra. »Ich habe blaue Flecken bekommen.«
»Würgemale?«
Sandra schüttelte den Kopf.
»Das hat er einmal versucht. Das war einen Tag, nachdem das von dem norwegischen Mädchen in der Zeitung gestanden hatte, daß sie erwürgt worden war. Er hat nur seine Hände um meinen Hals gelegt und mich gebeten, still zu liegen und keine Angst zu haben. Ich habe anschließend nicht mehr darüber nachgedacht.«
»Warum nicht?«
Sandra zuckte mit den Schultern.
»Die Menschen werden doch von allem, was sie lesen und hören, beeinflußt. Inspiriert. Denk doch nur daran, als damals hier im Kino 9 ½ Wochen lief. Plötzlich verlangten ganz viele Kunden von uns, nackt auf dem Boden herumzukriechen, während sie in einem Sessel saßen und zuschauten.«
»Ein Scheißfilm«, erwiderte Harry. »Was ist geschehen?«
»Er legte seine Hände um meinen Hals und fuhr mit seinem Daumen über meinen Kehlkopf. Nichts Gewalttätiges. Aber ich habe meine Perücke abgesetzt und gesagt, daß ich solche Spielchen nicht mitmache. Er kam dann wieder zu sich und sagte, das sei in Ordnung. Daß es einfach irgendwie über ihn gekommen sei und das alles nichts zu bedeuten habe.«
»Und du hast ihm geglaubt?«
Sandra zuckte mit den Schultern.
»Du weißt nicht, wie sich schon ein bißchen Abhängigkeit auf dein Wahrnehmungsvermögen auswirkt«, sagte sie und kippte den Rest Whiskey hinunter.
»Nein?« fragte Harry mürrisch und schaute voller Verachtung auf die noch unberührte Flasche Cola, die vor ihm stand.
McCormack trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Harry schwitzte, obgleich der Ventilator auf vollen Touren lief. Otto Rechtnagels fette Nachbarin hatte viel zu erzählen gehabt. Viel zu viel. Nur leider war nichts von dem, was sie erzählt hatte, von sonderlich großem Interesse. Selbst Yong schien in ihrer unangenehmen Gesellschaft Schwierigkeiten gehabt zu haben, die Rolle des braven Zuhörers zu spielen.
»Fat ass«, sagte er augenzwinkernd, als Wadkins ihn fragte, welchen Eindruck er von der Frau gehabt habe.
»Gibt es etwas Neues über das Mädchen im Centennial Park?« fragte McCormack.
»Nicht viel«, erwiderte Lebie. »Wir haben aber herausgefunden, daß sie nicht gerade Mamas Liebling war. Sie nahm Speed und hatte gerade in einem Striplokal in King's Cross angefangen. Sie war auf dem Heimweg, als sie ermordet wurde. Es gibt zwei Zeugen, die behaupten, sie gesehen zu haben, als sie in den Park ging.«
»Sonst noch etwas?«
»Vorläufig nicht, Sir.«
»Harry«, sagte McCormack und wischte sich den Schweiß ab, »laß uns deine Theorie hören.«
»Die neueste davon«, brummte Wadkins, gerade laut genug, damit alle es hören konnten.
»Nun«, begann Harry. »Wir haben den Zeugen, von dem Andrew behauptete, er habe Evans White am Mordtag in Nimbin gesehen, ja nie gefunden. Was wir inzwischen wissen, ist, daß Evans White mehr als normal von blonden Frauen angetan ist. Er hatte eine unausgeglichene Kindheit, und es wäre interessant, mehr über das Verhältnis zu seiner Mutter zu erfahren. Er hat nie eine feste Arbeit oder einen festen Wohnsitz gehabt. Es war deshalb schwierig, seine Bewegungen nachzuvollziehen. Es ist sicher nicht ausgeschlossen, daß er heimlich ein Verhältnis mit Otto Rechtnagel hatte, und es ist auch nicht unmöglich, daß er Otto auf seinen Tourneen gefolgt ist. Vielleicht hat er sich ein Hotelzimmer angemietet und seine Opfer an den jeweiligen Auftrittsorten gefunden. Aber das ist wirklich nur eine Theorie.«
»Vielleicht ist Otto Rechtnagel der Serienmörder«, sagte Wadkins. »Vielleicht wurden Rechtnagel und Kensington von jemand anderem getötet, jemand, der mit den ersten Morden gar nichts zu tun hat.«
»Centennial Park«, sagte Lebie. »Das war unser Serienmörder. Dafür verwette ich alles, was ich habe. Auch wenn ich da nicht allzuviel riskiere …«
»Lebie hat recht«, unterstützte ihn Harry. »Er ist noch irgendwo dort draußen.«
»Gut«, sagte McCormack, »ich stelle fest, daß unser Freund Holy dazu übergegangen ist, Begriffe wie ›nicht ausgeschlossen oder nicht unmöglich‹ zu verwenden, wenn er seine Theorien vorbringt, was sicher klug ist. Mit übertriebener Sicherheit können wir nichts erreichen. Außerdem sollte inzwischen wohl allen klar sein, daß wir es mit einem verdammt intelligenten Mann zu tun haben. Und einem ebenso selbstsicheren. Er hat uns die Antworten geliefert, die wir haben wollten, uns den Mörder auf einem Silbertablett präsentiert und rechnet jetzt wohl damit, daß wir uns mit diesen Antworten begnügen. Daß wir den Fall als erledigt ansehen, weil sich der Schuldige das Leben genommen hat. Als er mit dem Zeigefinger auf Kensington deutete, wußte er natürlich, daß wir die Sache nicht an die große Glocke hängen würden – verdammt klug, das Ganze!«
McCormack schaute Harry an und sagte abschließend:
»Da wir die Sache nicht an die große Glocke hängen wollen, müssen wir weitere Nachforschungen unterlassen. Unser Vorteil ist, daß er sich in Sicherheit glaubt. Menschen, die sich sicher fühlen, sind oft unvorsichtig. Für uns ist es jetzt wichtig, zu entscheiden, wie wir weiter vorgehen wollen. Wir haben einen Verdächtigen und können uns keinen weiteren Fehler erlauben. Das Problem ist, daß wir nicht allzu viele Wellen machen dürfen, um den dicken Fisch nicht zu vertreiben. Wir müssen eiskalt abwarten, bis wir den großen Fisch ganz deutlich erkennen – und zwar so deutlich, daß wir uns nicht täuschen, und so nah, daß wir ihn nicht verfehlen können – erst dann dürfen wir die Harpune schleudern.«
Er schaute in die Runde. Alle nickten zustimmend über den unbestreitbar gesunden Verstand ihres Chefs.
»Und um das wirklich zu erreichen, müssen wir defensiv, still und systematisch arbeiten«, fügte McCormack hinzu.
»Da bin ich anderer Meinung«, sagte Harry.
Die anderen wandten sich ihm zu.
»Es gibt nämlich noch eine andere Möglichkeit, Fische zu fangen, ohne zu viele Wellen zu machen«, sagte Harry, »eine Schnur und ein Haken mit einem Köder, bei dem wir wissen, daß er anbeißen wird.«
Der Wind trieb Staubwolken vor sich her, die er auf dem Kiesweg aufwirbelte und über den kleinen steinernen Begrenzungswall des Friedhofs in Richtung der wenigen Menschen wehte, die sich dort versammelt hatten. Harry mußte die Augen zusammenkneifen. Der Wind riß an ihren Kragen und Rockschößen, so daß es aus einiger Entfernung aussah, als tanzten die Menschen, die sich an Andrew Kensingtons Grab versammelt hatten.
»Ein höllischer Wind«, flüsterte Wadkins während der Predigt des Pfarrers.
Harry stand da und hoffte, daß Wadkins unrecht hatte. Natürlich konnte man nicht wissen, welches Ziel der Wind hatte, er schien es aber auf jeden Fall sehr eilig zu haben. Und wenn er hier war, um Andrews Seele mitzunehmen, dann konnte man auf keinen Fall behaupten, daß er seine Arbeit liderlich machte. Die Seiten der Gesangsbücher flatterten ebenso wie die grüne Plane, mit der die Erdhaufen an beiden Seiten des Grabes abgedeckt waren. All jenen, die keine Hüte festhalten mußten, blieb nichts anderes übrig, als den anderen bei deren verzweifelten Bemühungen, diese festzuhalten, zuzusehen.
Harry hörte dem Pfarrer nicht zu, sondern starrte durch seine Augenschlitze zur anderen Seite des Grabes hinüber. Birgittas Haare züngelten wie eine große rote Stichflamme im Wind. Sie begegnete seinem Blick – ausdruckslos. Eine alte, zittrige Frau mit grauen Haaren saß mit einem Stock zwischen den Beinen auf einem Stuhl. Ihre Haut war gelblich, und auch ihr Alter konnte ihr ausgeprägt englisches Pferdegesicht nicht überdecken. Der Wind hatte ihr den Hut etwas verschoben. Harry hatte allmählich begriffen, daß das Andrews Pflegemutter sein mußte, aber sie war dermaßen alt und eingeschrumpft, daß sie Harrys Beileidsbekundung draußen vor der Kirche kaum wahrgenommen, sondern lediglich kurz genickt und irgend etwas Unverständliches gemurmelt hatte. Hinter ihr stand eine kleine, schwarze, fast unsichtbare Frau mit einem Mädchen an jeder Hand.
Der Pfarrer warf Erde auf den Sarg. Harry hatte sich zuvor aufklären lassen, daß Andrew der Church of England angehört hatte, die gemeinsam mit der katholischen Kirche die am meisten verbreitete Glaubensrichtung in Australien war. Harry hatte als Erwachsener erst zwei Beerdigungen beigewohnt, konnte aber keinen Unterschied zu den Beerdigungen in Norwegen feststellen. Sogar das Wetter war gleich. Als sie seine Mutter beerdigt hatten, waren garstige, blaugraue Wolken über den Westfriedhof gehetzt, nur daß diese es glücklicherweise zu eilig gehabt hatten, um sie naß zu machen. Bei Ronnys Beerdigung hatte die Sonne geschienen. Aber da hatte Harry hinter zugezogenen Gardinen im Krankenhaus gelegen, weil ihm das Licht Kopfschmerzen bereitete. Genau wie heute bestand sicher auch damals der größte Teil der Trauergäste aus Polizisten. Vielleicht hatten sie am Ende sogar den gleichen Psalm gesungen: »Nearer my God, to Thee!«
Die Versammlung löste sich auf, und man brach in Richtung Autos auf. Birgitta ging direkt vor Harry her. Sie wartete einen Augenblick, bis er neben ihr war.
»Du siehst krank aus«, sagte sie, ohne aufzuschauen.
»Du hast keine Ahnung, wie ich aussehe, wenn ich krank bin«, sagte er.
»Siehst du nicht krank aus, wenn du krank bist?« fragte sie. »Egal, ich sage ja nur, daß du krank aussiehst. Bist du krank?«
Eine plötzliche Windböe fegte über den Friedhof, so daß sich Harrys Schlips quer über sein Gesicht legte.
»Vielleicht bin ich ein bißchen krank«, sagte er, »aber nicht sehr. Du siehst aus wie eine Feuerqualle, wenn der Wind mit deinen Haaren kämpft … und sie mir ins Gesicht bläst.« Er zog ein langes rotes Haar aus seinem Mund.
Birgitta lächelte.
»Sei froh, daß ich kein jelly box-fish bin«, sagte sie.
»Jelly was für ein Ding?«
»Jelly box-fish!« sagte Birgitta. »Das ist eine Quallenart, die es vereinzelt hier an den Küsten gibt. Die ist wirklich ein bißchen schlimmer als eine Feuerqualle …«
»Jelly box-fish?« hörte Harry eine bekannte Stimme hinter sich. Er drehte sich um. Es war Toowoomba.
»How are you?« sagte Harry und erklärte auf englisch, daß Birgittas Haare in seinem Gesicht ihn auf diese Assoziation gebracht hatten.
»Nun, wenn es ein jelly box-fish wäre, würden sich jetzt rote Streifen in deinem Gesicht abzeichnen und du würdest schreien, als würdest du ausgepeitscht«, sagte Toowoomba. »Und in ein paar Sekunden würdest du umfallen, das Gift würde deine Atmung lahmen, du bekämst keine Luft mehr und würdest, wenn dir nicht augenblicklich jemand zur Hilfe käme, einen äußerst schmerzhaften Tod sterben.«
Harry hielt die Hände abwehrend vor sich in die Höhe.
»Danke, aber für heute war das genug Tod für mich, Toowoomba.«
Toowoomba nickte. Er trug einen schwarzen Seidensmoking mit einer Schleife. Toowoomba bemerkte Harrys musternden Blick.
»Das ist das einzige, was ich habe, das im entferntesten an einen Anzug erinnert. Noch dazu habe ich diesen Smoking von ihm geerbt.«
Er nickte mit dem Kopf zu dem Grab hinüber.
»Natürlich nicht erst jetzt, sondern schon vor ein paar Jahren«, fügte er hinzu. »Andrew behauptete, er sei ihm zu klein geworden. Alles Blödsinn, natürlich. Er wollte das nicht zugeben, aber ich wußte, daß er diesen Smoking damals vor der australischen Meisterschaft gekauft hatte, um ihn danach beim Bankett anzuziehen. Er wünschte sich wohl, daß der Smoking mit mir erleben würde, was ihm bei Andrew verwehrt blieb.«
Sie gingen über den Kiesweg, während die Autos langsam an ihnen vorbeifuhren.
»Kann ich dich etwas Persönliches fragen, Toowoomba?« fragte Harry.
»Ich denke doch«, sagte Toowoomba.
»Wo glaubst du, wird Andrew hinkommen?«
»Wie meinst du das?«
»Glaubst du, daß seine Seele nach dort oben kommt oder eher nach unten verschwindet?«
Toowoomba sah sehr ernst aus.
»Ich bin ein einfacher Mann, Harry. Ich weiß über so etwas nicht besonders viel und auch nicht über Seelen. Aber ich weiß einiges über Andrew Kensington, und wenn es dort oben jemanden gibt und wenn sie dort gute Seelen wollen, dann gehört seine Seele dorthin.« Toowoombas Gesicht leuchtete auf. »Aber wenn es jemanden dort unten gibt, dann glaube ich, daß Andrew lieber dort wäre. Er haßte langweilige Orte.«
Sie mußten beide lächeln.
»Aber weil es eine persönliche Frage war, Harry, will ich dir eine persönliche Antwort geben. Ich glaube, daß meine und Andrews Vorfahren recht hatten. Sie hatten eine nüchterne Einstellung zum Tod. Zwar glaubte man in manchen Stämmen an ein Leben nach dem Tod. Einige glaubten auch daran, wiedergeboren zu werden, daß die Seele von Mensch zu Mensch wandert, und andere, daß die Seele als Geist umherwandeln konnte. Ein paar Stämme waren der Überzeugung, daß die Seelen der Verstorbenen als Sterne am Himmel zu sehen waren. Und so weiter. Aber alle glaubten daran, daß der Mensch früher oder später, nach diesen Stadien, ordentlich, endgültig und definitiv stirbt. Dann wurde man zu einem Häufchen Steine und verschwand. Irgendwie mag ich diesen Gedanken. Diese Ewigkeitsperspektiven lassen einen so schnell müde werden, nicht wahr? Was meinst du?«
»Ich meine, daß dir Andrew mehr hinterlassen hat als bloß den Smoking«, sagte Harry.
Toowoomba lachte.
»Ist das so leicht herauszuhören?« fragte er.
»His master's voice,« entgegnete Harry. »Der Kerl hätte Pfarrer werden sollen.«
Sie blieben vor einem verstaubten kleinen Auto stehen, das offensichtlich Toowoomba gehörte.
»Hör mal, Toowoomba«, sagte Harry wie auf eine plötzliche Eingebung hin, »es kann sein, daß ich jemanden brauchen werde, der Andrew kannte. Die Art, wie er dachte. Warum er tat, was er tat.«
Er richtete sich auf, und ihre Blicke begegneten sich.
»Ich glaube, Andrew ist von jemandem getötet worden«, sagte Harry.
»Bullshit!« sagte Toowoomba heftig. »Du glaubst es nicht, du weißt es. Alle, die Andrew kannten, wissen, daß er niemals freiwillig von einer Party verschwand. Und für ihn war das Leben die größte Party. Ich kenne niemanden, der das Leben so sehr liebte wie Andrew. Egal, was es mit ihm anstellte. Wenn es sein Stil gewesen wäre, auszuchecken – es hätte früher schon viele Gelegenheiten und Gründe dafür gegeben.«
»Dann sind wir uns einig«, sagte Harry.
»Du kannst mich fast immer unter dieser Nummer erreichen«, sagte Toowoomba und kritzelte etwas auf eine Streichholzschachtel. »Das ist eine Handynummer.«
Während Toowoomba in seinem alten weißen Holden davonholperte, blieben Birgitta und Harry zurück. Toowoomba wollte nach Norden, und Harry hatte Birgitta vorgeschlagen, einen Kollegen von ihm zu suchen, der sie mit in die Stadt nehmen konnte. Aber die meisten schienen bereits gefahren zu sein. Da hielt ein alter, stattlicher Buick neben ihnen. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter, und ein roter Kopf mit einer beeindruckenden Nase kam zum Vorschein. Sie ähnelte einer dieser Kartoffeln, die sich aus vielen kleineren Kartoffeln zusammensetzt und war, wenn das überhaupt noch möglich war, noch röter als der Rest des Kopfes und dabei von einem Netz feiner Adern überzogen.
»Wollt ihr in die Stadt, Leute?« fragte die Nase und forderte sie auf, einzusteigen.
»Meine Name ist Jim Conolly. Das ist meine Frau, Claudia«, sagte er, nachdem sie auf der breiten Rücksitzbank Platz genommen hatten. Ein winzig kleines, dunkles Gesicht drehte sich mit einem strahlenden Lächeln vom Beifahrersitz zu ihnen um. Sie sah indianisch aus und war so klein, daß ihr Kopf kaum über die Rücksitzlehne ragte.
Jim schaute Harry und Birgitta über den Spiegel an.
»Seid Ihr Freunde von Andrew? Kollegen?«
Er steuerte den Schlitten vorsichtig über den Kiesweg, während Harry die Zusammenhänge erklärte.
»Aha, ihr kommt also aus Norwegen und Schweden. Das ist weit weg, wirklich. Ja, ja, fast alle in diesem Land kommen irgendwie von einem weit entfernten Ort. Nimm Claudia zum Beispiel, sie stammt aus Venezuela, wo all die Miß Blablabla herkommen, ihr wißt schon. Wie viele Miß Universums habt ihr da, Claudia? Deine eigene Person mitgezählt? Hähähä.« Er schüttelte sich vor Lachen, so daß seine Augen in den Falten seiner Nase verschwanden, und Claudia lachte mit.
»Ich bin Australier«, fuhr Jim fort. »Mein Ur-Urgroßvater kam aus Irland. Er war ein Mörder und ein Dieb. Hähähä. Wußtet ihr, daß sich die Leute früher nur ungern eingestanden haben, daß sie von Strafgefangenen abstammten? Auch wenn das mehr als hundert Jahre zurücklag? Ich bin immer stolz darauf gewesen. Sie waren es doch, die gemeinsam mit ein paar Matrosen dieses Land aufbauten. And a fine country it is. Wir nennen es hier unten ›the lucky country‹. Ja, ja, die Dinge ändern sich. Inzwischen ist es hoch angesehen, wenn man seine Ahnen bis zu den Strafgefangenen zurückverfolgen kann. Hähähä. Häßliche Sache mit Andrew, nicht wahr?«
Jim redete wie ein Wasserfall. Es gelang Harry und Birgitta lediglich, ein paar kurze Sätze zu erwidern, bevor er weiterplätscherte. Und je schneller er sprach, desto langsamer fuhr er. Wie David Bowie auf Harrys altem Cassettenrecorder. Als kleiner Junge hatte er von seinem Vater einen batteriebetriebenen Cassettenrecorder bekommen, der immer langsamer lief, je lauter man die Musik stellte.
»Andrew und ich haben zusammen bei Jim Chivers geboxt. Wußtet ihr, daß sich Andrew nie seine Nase gebrochen hat? No, Sir, die hat niemals einer zu packen gekriegt. Die haben ja so schon ganz flache Nasen, diese Aborigines, vielleicht hat sich deshalb nie jemand wirklich Gedanken darüber gemacht. Aber innerlich war Andrew heil und ganz. Ein heiles Herz und eine heile Nase. Na ja, so heil wie ein Herz sein kann, wenn man als Säugling von den Behörden entführt worden ist. Das heißt, sein Herz war nach dem Aufstand, den es rund um die australische Meisterschaft in Melbourne gegeben hat, nicht mehr ganz so heil. Ihr habt sicher davon gehört? Da hat er einiges verloren, ja.« Sie fuhren jetzt nicht einmal mehr vierzig.
»Diese Tussi von Campbell, dem Champion, war ganz verrückt nach Andrew, aber sie war wohl schon ihr ganzes Leben so dermaßen mit Schönheit verwöhnt, daß sie es ganz einfach nicht gewohnt war, abgewiesen zu werden. Hätte sie damit umgehen können, dann hätte alles so von Grund auf anders laufen können. Aber als sie an diesem Abend an Andrews Zimmertür klopfte, und er sie höflich aufforderte zu verschwinden, verkraftete sie das nicht und rannte statt dessen zu ihrem Geliebten und behauptete ihm gegenüber, Andrew habe sie angemacht. Sie riefen ihn in seinem Zimmer an und baten ihn, hinunter in die Küche zu kommen. Noch immer kursieren die wildesten Gerüchte über die Prügelei dort unten. Andrews Leben landete danach auf einem Abstellgleis.
Aber seine Nase haben sie nie gekriegt. Hähähä. Seid ihr zusammen?«
»Nein, das kann man nicht gerade sagen«, stammelte Harry.
»Ihr seht so aus«, sagte Jim und schaute sie über den Rückspiegel an. »Ihr wißt es vielleicht selber nicht, aber obgleich ihr beide durch den Ernst der Stunde ein bißchen mitgenommen ausseht, habt ihr dieses Feuer in den Augen. Korrigiert mich, wenn ich etwas Falsches sage, aber ihr seht aus wie Claudia und ich, als wir frisch verliebt waren. So etwa die ersten zwanzig, dreißig Jahre. Hähähä. Jetzt sind wir nur noch verliebt. Hähähä.«
Claudia schaute ihren Mann mit glänzenden Augen an.
»Ich habe Claudia auf einer der Tourneen getroffen. Sie trat als Schlangenmensch auf. Sie kann sich noch heute wie ein Briefumschlag zusammenfalten. Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich mit diesem dicken Buick will. Hähähä. Ich machte ihr über ein Jahr lang den Hof, bis ich ihr endlich einen kleinen Kuß geben durfte. Und dann erzählte sie mir, daß sie sich auf den ersten Blick in mich verliebt hätte. Allein das war ja schon sensationell, wenn man bedenkt, daß meine Nase, hier, schon damals mehr Kloppe gekriegt hatte als Andrews in ihrem ganzen Leben. Aber daß sie tatsächlich ein liebes langes Jahr lang die Prüde gespielt hat? Frauen rauben mir manchmal wirklich den letzten Nerv. Was meinst du, Harry?«
»Ja«, sagte Harry, »ich verstehe, was du meinst.«
Er blickte Birgitta an. Sie lächelte vorsichtig.
Nachdem sie eine Dreiviertelstunde für eine Strecke gebraucht hatten, die man normalerweise in zwanzig Minuten zurücklegt, fuhren sie die Rampe zur Town Hall hinauf. Harry und Birgitta bedankten sich für den Lift und stiegen aus. Der Wind hatte auch in der City aufgefrischt, während sie dastanden und ganz offensichtlich nicht wußten, was sie sagen sollten.
»Ein verdammt ungleiches Paar«, sagte Harry.
»Ja«, erwiderte Birgitta, »die sind glücklich.«
Ein Windwirbel schüttelte einen Baum im Park, und Harry glaubte zu sehen, wie ein haariges Etwas blitzschnell in Deckung ging.
»Was machen wir jetzt?« fragte Harry.
»Du kommst mit zu mir nach Hause.«
»Ja«, sagte Harry.
Birgitta steckte Harry eine Zigarette in den Mund und zündete sie an.
»Genehmigt«, sagte sie.
Harry tastete seinen Körper ab. Er fühlte sich ganz gut. Dann zog er die Decke hoch.
»Schämst du dich?« lachte Birgitta.
»Ich mag nur deinen lüsternen Blick nicht«, parierte Harry. »Du willst das vielleicht nicht wahrhaben, aber ich bin wirklich keine Maschine.«
»Nein?« Birgitta knabberte an seiner Unterlippe. »Du hättest mich fast von etwas anderem überzeugt, dieser Stempel …«
»So so, mußt du ausgerechnet jetzt, wo das Leben so wunderschön ist, so vulgär werden, Liebste?«
Sie schmiegte sich an ihn und legte ihren Kopf auf seinen Brustkorb.
»Du hast mir den Rest der Geschichte versprochen«, flüsterte sie.
»Ja, natürlich.« Harry atmete tief durch. »Laß mich mal nachdenken. Das Ganze fing so an. In der achten Klasse hatten wir in der Parallelklasse eine Neue. Sie hieß Kristin, und es dauerte nur drei Wochen, bis sie und mein bester Freund, Terje – der hatte die weißesten Zähne der ganzen Schule und spielte in einer Band Gitarre – ganz offiziell und anerkannt miteinander gingen. Das Problem war bloß, daß sie das Mädchen war, auf das ich mein ganzes Leben gewartet hatte.«
Er hielt inne.
»Was hast du also gemacht?« fragte Birgitta.
»Nichts. Ich habe gewartet. Und galt bald als der Freund von Terje, mit dem man so gut über alles reden konnte. Dem sie sich anvertrauen konnte, wenn es zwischen Terje und ihr Probleme gab. Sie ahnte ja gar nicht, daß er sich im stillen darüber freute und nur auf eine Chance wartete, zuzuschlagen.«
Er grinste.
»Mein Gott, wie ich mich selbst haßte.«
»Ich bin zutiefst schockiert«, murmelte Birgitta und strich ihm zärtlich über die Haare.
»Dann wurde unsere ganze Clique an einem Wochenende, an dem Terjes Band einen Auftritt hatte, von einem Kumpel auf den leerstehenden Hof seiner Großeltern eingeladen. Wir tranken selbstgemachten Wein, und spät abends blieben Kristin und ich auf dem Sofa sitzen. Wir redeten und redeten. Nach einer Weile entschlossen wir uns, das große Gebäude genauer zu untersuchen, und gingen auf den Dachboden hinauf. Dort oben befand sich eine verschlossene Tür, doch Kristin fand an einem Nagel den passenden Schlüssel und sperrte auf. Wir legten uns in einem viel zu kurzen Himmelbett nebeneinander auf die Kissen. In den Falten und Senken des Bettzeugs lag eine schwarze Schicht, und ich erschrak, als ich erkannte, daß das alles tote Fliegen waren. Es mußten Tausende gewesen sein. Ich sah ihr Gesicht direkt neben dem meinen, umgeben von toten Fliegen auf einem weißen Kissen. In dem blauweißen Licht des Mondes, der groß und rund durch das Fenster schien, sah ihre Haut fast durchsichtig aus.«
»Bah«, rief Birgitta und warf sich auf ihn. Er schaute sie lange an.
»Wir haben über Gott und die Welt geredet. Und dann lagen wir ganz still nebeneinander und lauschten dem Nichts. Im Laufe der Nacht fuhren vereinzelte Autos draußen auf dem Weg vorbei, und dann huschten Lichter über die Decke, und allerlei merkwürdige Schatten bewegten sich durch den Raum. Zwei Tage später hat Kristin mit Terje Schluß gemacht.«
Er drehte sich von Birgitta weg auf die Seite, und sie schmiegte sich von hinten an ihn.
»Was geschah weiter, Valentino?«
»Kristin und ich haben uns heimlich getroffen. Bis es sich nicht länger geheimhalten ließ.«
»Wie hat Terje reagiert?«
»Nun, manchmal verhalten sich die Menschen wirklich wie im Bilderbuch. Er bat die Freunde in der Clique, sich zu entscheiden: er oder ich. Ich glaube, man konnte von einem erdrutschartigen Sieg reden. Zugunsten desjenigen mit den weißen Zähnen.«
»Das muß grausam gewesen sein. Warst du einsam?«
»Ich weiß nicht, was schlimmer war. Und wer mir mehr leid tat. Terje oder ich.«
»Kristin und du – ihr hattet wenigstens euch.«
»Ja schon, aber irgendwie war ein bißchen von dem Zauber verlorengegangen. Die Traumfrau war jedenfalls verschwunden.«
»Wie meinst du das?«
»Ich hatte eine Frau, die ihren Mann wegen seines besten Freundes verlassen hatte.«
»Und für sie warst du ein Mensch, der sich ohne moralische Skrupel seines Freundes bedient hatte, um sie zu gewinnen.«
»Genau. Und das sollte immer zwischen uns sein. Zwar ein bißchen unter der Oberfläche, aber trotzdem schwelte das immer irgendwie wie eine unausgesprochene, gegenseitige Verachtung. Als hätten wir gemeinsam einen feigen Mord begangen.«
»Du mußtest dich also mit einem Verhältnis begnügen, in dem nicht alles perfekt war. Willkommen in der Wirklichkeit!«
»Versteh mich nicht falsch! Ich glaube eher, daß uns unsere gemeinsamen Sünden irgendwie fester miteinander verbunden haben. Und ich glaube, daß wir uns damals wirklich eine Weile lang geliebt haben. Einige Tage waren … perfekt. Wie ein Wassertropfen oder ein schönes Gemälde.«
Birgitta lachte.
»Ich mag es, wenn du redest, Harry. Deine Augen glänzen richtig, wenn du davon erzählst. Als wenn du wieder da wärst. Sehnst du dich manchmal zurück?«
»Zu Kristin?« Harry dachte nach. »Manchmal sehne ich mich in die Zeit zurück, die wir miteinander hatten, aber zu Kristin? Die Menschen verändern sich. Die Person, nach der man sich sehnt, gibt es vielleicht gar nicht mehr. Verdammt, man verändert sich ja selbst auch. Wenn man erst einmal etwas erlebt hat, ist es zu spät, man bekommt nie wieder das Gefühl, das man hatte, als man es zum ersten Mal erlebte. Es ist schade, aber so ist das ganz einfach.«
»Wie zum ersten Mal verliebt zu sein?« sagte Birgitta leise.
»Wie zum ersten Mal … verliebt zu sein«, wiederholte Harry und streichelte über ihre Wange. Dann holte er wieder tief Luft:
»Es gibt etwas, um das ich dich bitten möchte, Birgitta. Einen Gefallen.«
Die Musik war ohrenbetäubend laut, so daß sich Harry zu ihm hinüberlehnen mußte, um etwas zu verstehen. Teddy schwärmte von seinem neuen Sternchen, Melissa, einer Neunzehnjährigen, die gerade dabei sei, die Bude auf den Kopf zu stellen, und Harry konnte ihm da kaum widersprechen.
»Gerüchte. Es gibt nichts Wichtigeres, weißt du«, sagte Teddy, »du kannst annoncieren soviel du willst oder neue Marketingkonzepte erarbeiten, das einzige, was wirklich etwas bringt, sind Gerüchte.«
Und das Gerücht hatte sich offensichtlich verbreitet, denn zum ersten Mal seit langem war es in dem Club brechend voll. Nach Melissas Cowboy-und-Lasso-Nummer standen die Männer auf den Stühlen, und sogar die wenigen Frauen applaudierten höflich.
»Siehst du«, sagte Teddy, »aber glaub nicht, daß das so gut ankommt, weil das keine normale Stripteasenummer ist, denn das ist es, so wahr ich hier stehe. Wir haben hier sicher schon ein Dutzend Mädchen gehabt, die genau die gleiche Show abgezogen haben, ohne daß auch nur einer mit der Augenbraue gezuckt hätte. Es gibt zwei Dinge, weshalb das diesmal anders gelaufen ist: Unschuld und Einfühlungsvermögen.«
Die Erfahrung sagte Teddy aber auch, daß solche Popularitätsschübe schnell wieder vorbeigingen. Zum einen war das Publikum ständig auf der Suche nach etwas Neuem, und zum anderen hatte diese Branche die häßliche Angewohnheit, ihre eigenen Kinder zu fressen.
»Ein guter Striptease verlangt Enthusiasmus, weißt du«, schrie Teddy durch den Lärm der Discomusik. »Nur ganz wenige dieser Mädchen können sich diesen Enthusiasmus lange bewahren. Dafür müssen sie zu hart arbeiten. Vier Shows und das jeden fucking day. Da fängt man schnell an, sich zu langweilen und das Publikum zu vergessen. Das habe ich schon viel zu oft miterlebt. Egal wie angesagt sie sind, ein trainiertes Auge sieht genau, wann ein Sternchen seinen Glanz verloren hat.«
»Wie das denn?«
»Nun, das sind Tänzerinnen, nicht wahr? Sie müssen auf die Musik hören, sich in sie vertiefen, verstehst du, und wenn sie beginnen, einen Tick zu schnell zu sein und ein bißchen vor dem Rhythmus liegen, ist das nicht etwa ein Zeichen, daß sie übereifrig sind, wie man vielleicht annehmen könnte, sondern im Gegenteil, daß sie es leid sind und schnell fertig werden wollen. Außerdem werden die Bewegungen verkürzt und nur noch angedeutet. Das ist, wie wenn man einen Witz schon zu oft erzählt hat; man beginnt, die kleinen, aber wichtigen Details auszulassen, weil man schnell zur Pointe kommen will. So etwas ist verdammt schwer zu beheben, die Körpersprache spricht immer die Wahrheit, und das färbt dann auf das Publikum ab, weißt du, und um die Show anzuheizen, um richtig abheben zu können, nehmen sie dann ein paar Drinks, bevor sie auf die Bühne gehen. Manchmal auch zu viele. Und dann …« Teddy legte einen Finger an das eine Nasenloch und schniefte.
Harry nickte. Die Geschichte kam ihm bekannt vor.
»Sie entdecken das Pulver, das sie im Gegensatz zum Alkohol aufmuntert, und das, wie man sagt, noch dazu schlank macht. Und schließlich müssen sie immer mehr nehmen, um den Kick zu kriegen, den sie jeden Abend für eine maximale Leistung brauchen, bis sie es dann ständig nehmen müssen, um überhaupt noch ihre Show abziehen zu können. Zu guter Letzt ist die Wirkung dann nicht mehr zu übersehen, und sie merken, daß sie die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, verlieren und beginnen, das grölende, besoffene Publikum zu hassen. Bis sie dann irgendwann eines Abends einfach von der Bühne spazieren. Wütend und in Tränen aufgelöst. Sie streiten sich mit den Managern, nehmen eine Woche Ferien und kommen zurück. Aber es gelingt ihnen nie mehr, das gleiche Feeling zu entwickeln wie früher und dem Unterbewußtsein genug Nahrung zu geben, um die Bewegungen wie früher richtig zu timen. Der Saal wird immer leerer, und irgendwann ist es dann Zeit für die Straße und neue Aufgaben.«
Ja, Teddy wußte, wie der Hase lief. Aber das lag alles noch in ferner Zukunft. Jetzt galt es, die Kuh zu melken, die gerade mit großen Kuhaugen und prallem Euter auf der Bühne stand und – allem Anschein nach – sehr glücklich war.
»Du glaubst gar nicht, wer alles hierherkommt, um unsere neuen Talente zu begutachten«, lachte Teddy und wischte seinen Jackettkragen ab. »Ein paar von denen kommen aus deiner Branche, und das sind nicht gerade die, die mit den Füßen auf dem Boden bleiben, wenn du weißt, was ich meine.«
»Ein bißchen Striptease kann wohl nicht schaden.«
»Schaden und schaden«, sagte Teddy langsam. »Aber, solange sie hinterher für ihre Schäden aufkommen, schadet die eine oder andere Schramme wohl nichts, glaube ich.«
»Wie meinst du das?«
»Ach, gar nichts«, erwiderte Teddy, »genug davon – was führt dich in diese Gefilde, Konstabel?«
»Zwei Dinge. Das Mädchen, das im Centennial Park gefunden worden ist, scheint nicht gerade so ein Unschuldslamm gewesen zu sein, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Die Blutproben haben ergeben, daß sie mit Amphetaminen vollgepumpt war, und genauere Untersuchungen ließen dann eine Verbindung hierher erkennen. Ja, wir wissen inzwischen, daß sie, bevor sie verschwand, hier oben auf der Bühne gestanden hatte.«
»Barbara, ja. Eine tragische Geschichte, nicht wahr?« Teddy versuchte ein trauriges Gesicht zu machen. »Nicht gerade ein großes Strippertalent, aber wirklich ein nettes Mädchen. Habt ihr etwas herausgefunden?«
»Wir haben gehofft, daß du uns da weiterhelfen kannst, Mongabi!«
Teddy fuhr sich nervös mit der Hand durch seine geschniegelten schwarzen Haare.
»Sorry, Konstabel. Sie gehörte nicht zu meinem Stall. Rede am besten mit Sammy, der taucht sicher heute abend noch auf.«
Ein Paar gewaltige, satinbespannte Brüste schoben sich für einen Augenblick zwischen sie, bevor sie wieder verschwanden und ein farbenfroher Drink vor Harry auf dem Tisch stand.
»Du hast gesagt, du seist wegen zwei Sachen hier, Konstabel. Um was geht es bei der zweiten?«
»Ach das. Eine reine Privatangelegenheit, Mongabi. Ich frage mich, ob du meinen Freund dort drüben schon einmal gesehen hast?« Harry zeigte zur Bar hinüber. Eine große, dunkle Gestalt in einem Smoking winkte ihnen zu. Teddy schüttelte den Kopf.
»Bist du ganz sicher, Mongabi? Er ist ziemlich bekannt. In nicht allzu ferner Zukunft wird er australischer Boxchampion sein.«
Es entstand eine Pause. Teddy Mongabis Blick wurde unruhig.
»Was willst du damit … sagen?«
»Im Schwergewicht, natürlich.« Harry fand zwischen Sonnenschirmen und Zitronenscheiben einen Strohhalm in seinem Fruchtsaftcocktail und saugte drauflos.
Teddy lächelte angestrengt.
»Hör mal, Konstabel, täusche ich mich, oder haben wir uns noch gerade recht amüsant unterhalten.«
»Natürlich haben wir das«, sagte Harry und lächelte. »Aber man kann sich nicht immer nur amüsieren, nicht wahr? Und jetzt ist die Schmusestunde vorbei.«
»Ich glaube, auch ich habe das neulich nicht sonderlich amüsant gefunden. Es tut mir leid. Auch wenn du deinen Teil der Schuld auf dich nehmen mußt. Als du heute abend hierherkamst und dich da an den Tisch gesetzt hast, habe ich das als Zeichen verstanden, die ganze Sache zu begraben. Ich glaube, wir können uns in vielen Dingen einig werden. Weißt du, wir reden doch die gleiche Sprache, du und ich, Konstabel.«
Eine Sekunde lang setzte die Discomusik plötzlich aus. Teddy hielt inne. Mit lautem Schlürfen verschwanden die letzten Fruchtsaftreste aus Harrys Glas in seinem Strohhalm.
Teddy schluckte.
»Zum Beispiel weiß ich, daß Melissa heute abend noch nichts weiter vorhat.« Er blickte Harry flehend an.
»Danke, Mongabi, ein netter Gedanke. Aber gerade jetzt habe ich leider keine Zeit. Ich muß mit dieser Sache erst fertig sein und dann verschwinden.«
Er zog einen schwarzen Polizei-Gummiknüppel mit Handgriff aus seiner Jacke.
»Wir haben es so verdammt eilig, daß ich nicht einmal weiß, ob es mir gelingt, dir richtig die Lampe auszublasen«, sagte Harry.
»Was zum Teu …«
Harry stand auf.
»Ich hoffe, daß Geoff und Ivan heute abend Dienst haben. Mein Freund hat sich so darauf gefreut, ihre Bekanntschaft zu machen.«
Teddy versuchte, von seinem Stuhl aufzustehen.
»Schließ die Augen«, sagte Harry und schlug zu.
»Uh?«
»Hallo, spreche ich mit Evans?«
»Vielleicht, wer will das wissen?«
»Hei, ich bin Birgitta, die schwedische Freundin von Inger, du weißt schon. Wir haben uns ein paarmal im Albury gesehen. Ich habe lange helle, leicht rötliche Haare. Erinnerst du dich?«
»Ja, natürlich erinnere ich mich. Birgitta, nicht wahr? Wie geht's? Wo hast du diese Nummer her?«
»Es geht so. Ein bißchen auf und ab, wie es einem so geht. You know. Ein bißchen neben der Spur wegen der Sache mit Inger und so. Aber da hast du ja sicher genug mit zu tun, und ich will dich nicht quälen. Die Nummer habe ich von Inger, für den Fall, daß wir sie in Nimbin erreichen müßten.«
»Ach so.«
…
»Äh, die Sache ist die, daß du etwas hast, von dem ich etwas brauchen könnte, Evans.«
»Ach ja?«
»So Sachen.«
»Schon klar. Sorry, daß ich dich enttäuschen muß, aber ich bezweifle, daß ich habe, was du brauchst. Hör mal … äh, Birgitta …«
»Du verstehst nicht, ich muß dich treffen!«
»Immer mit der Ruhe. Was du brauchst, kannst du auch bei Hunderten von anderen Menschen bekommen, und das hier ist eine offene Telefonleitung, ich würde deshalb vorschlagen, daß du nicht sagst, was du nicht mußt. Es tut mir leid, daß ich dir nicht helfen kann.«
»Was ich brauche, fängt mit ›M‹ an, nicht mit ›H‹. Und das hast nur du!«
»Blödsinn.«
»Ich weiß, daß es noch ein paar wenige andere gibt, aber ich hab zu keinem von denen Vertrauen. Ich kaufe gleich für mehrere Leute. Ich brauche viel, und ich bezahle gut.«
»Ich habe gerade einiges zu tun, Birgitta. Ruf mich hier nie wieder an, ja?«
»Warte! Ich kann … ich weiß ein paar Sachen. Ich weiß, wie du es gern hast.«
»Gern hast …?«
»Wie du es … magst. Wonach du auf der Suche bist.«
…
»Moment mal.«
…
…
»Sorry, aber ich mußte gerade jemanden hinausbefördern. Das ist ein ständiges Gequengel hier. Was, glaubst du, mag ich, Birgitta?«
»Das kann ich nicht am Telefon sagen, aber … Aber ich habe blonde Haare, und ich … ich mag das auch.«
»Ach du Scheiße! Freundinnen! Ihr verblüfft mich immer wieder. Ich habe wirklich geglaubt, daß Inger bei diesem Thema die Klappe halten würde.«
»Wann kann ich dich treffen, Evans? Es eilt!«
…
»Ich komme morgen nach Sydney, aber vielleicht sollte ich einen früheren Flug nehmen …«
»Ja!«
»Hm.«
»Wann können wir …«
»Psst, Birgitta, ich denke nach.«
…
»Gut, Birgitta, hör mir zu. Geh morgen abend gegen acht Uhr die Darlinghurst Road runter. Bei Hungry John auf der linken Seite bleibst du stehen und hältst nach einem schwarzen Holden mit getönten Scheiben Ausschau. Wenn der nicht bis halb neun da ist, kannst du wieder gehen. Und achte darauf, daß ich deine Haare sehen kann.«
»Das letzte Mal? Nun, Kristin rief mich plötzlich eines Abends an. Ich glaube, sie hatte getrunken. Sie hat mich wegen irgend etwas ausgeschimpft. Ich weiß nicht mehr, worum es ging. Weil ich ihr Leben zerstört hatte, wahrscheinlich. Sie hatte die Angewohnheit zu glauben, daß die Menschen, die sie umgaben, immer all das, was sie so schön geplant hatte, kaputtmachten.«
»Das ist so bei kleinen Mädchen, die in ihrer Jugend zu oft alleine mit ihren Puppen gespielt haben, weißt du«, fügte Birgitta hinzu.
»Vielleicht, aber ich weiß es, wie gesagt, selber nicht so genau. Ich war wohl auch nicht mehr ganz nüchtern.«
Harry stützte sich auf seinen Ellbogen im Sand auf und blickte über das Meer. Die Wellen stiegen hoch, wurden an der Spitze weiß, und der Schaum blieb einen Augenblick lang in der Luft hängen, bevor er glitzernd wie Sonnenstrahlen in zerbrochenem Glas auf die Klippen des Bondi Beach hinabstürzte.
»Aber ich habe sie danach noch einmal wiedergesehen. Sie hat mich nach dem Unglück im Krankenhaus besucht. Als ich die Augen aufschlug und sie blaß, ja fast durchsichtig neben meinem Bett sitzen sah, glaubte ich erst zu träumen. Sie war genauso schön wie damals, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte.«
Birgitta kniff ihm in die Seite.
»Übertreibe ich?« fragte Harry.
»Nein, nein, erzähl weiter.« Sie lag auf dem Bauch und kicherte.
»Was soll das? Ich hätte eigentlich erwartet, daß du ein bißchen eifersüchtig wirst, wenn ich so von meiner früheren Flamme erzähle, weißt du das denn nicht? Ha? Es scheint dir ja immer besser zu gefallen, je detaillierter ich über meine romantische Vergangenheit spreche.«
Birgitta blinzelte ihn über den Rand der Sonnenbrille an.
»Ich freue mich, festzustellen, daß mein Macho-Bulle anscheinend doch ein Gefühlsleben gehabt hat. Auch wenn dieses Stadium mittlerweile vorbei ist.«
»Vorbei? Und wie nennst du das hier dann?«
Sie lachte:
»Das hier ist die reife, gut abgeklärte Ferienromanze mit dem nötigen Abstand, damit es nicht zu eng wird, die aber gerade genug Sex mit sich bringt, daß sich der ganze Aufwand auch lohnt.«
Harry schüttelte den Kopf.
»Das stimmt nicht, Birgitta, und das weißt du.«
»Ja, ja, ist schon gut, Harry. Es ist jetzt gut, ja. Ich habe nur eine etwas verdrehte Zeit hinter mir, weißt du? Erzähl weiter. Wenn die Details zu leidenschaftlich werden, sage ich Bescheid. Außerdem werde ich dir das alles heimzahlen, wenn ich dir danach von meinem Ex-Geliebten erzähle.«
Sie drückte sich mit zufriedener Miene in den warmen Sand.
»Meine Ex-Geliebten, meine ich.«
Harry wischte den Sand von ihrem weißen Rücken.
»Bist du sicher, daß du keinen Sonnenbrand bekommst? Diese Sonne hier und deine Haut …«
»Sie waren es, der mich eingeschmiert hat, Mr. Hole.«
»Ich frage mich nur, ob der Sonnenschutzfaktor wirklich hoch genug ist. Okay, vergiß es. Ich will nur nicht, daß du hier verbrennst.«
Harry warf noch einen Blick auf ihre lichtempfindliche Haut.
»Reg dich ab, Papa, und erzähl weiter.«
Der Ventilator lief nicht.
»Scheiße, der ist doch nagelneu!« regte sich Wadkins auf und schlug auf die rückseitige Verkleidung, wobei er den Schalter hin und her knipste. Es nützte nichts. Es war bloß ein stummes Stück Aluminium und tote Elektronik.
McCormack brummte.
»Vergiß es, Larry. Sag Laura, daß sie einen neuen besorgen soll. Heute ist der D-Day, und wir haben wichtigere Dinge zu erledigen. Larry?«
Wadkins schob den Ventilator irritiert zur Seite.
»Alles ist bereit, Sir. Wir werden drei Autos in der Gegend haben. Birgitta Enquist wird einen Sender und ein Mikrophon bei sich tragen, so daß wir jederzeit wissen, wo sie ist und wir alles hören und so die jeweilige Situation einschätzen können. Unser Plan sieht vor, daß sie ihn mit in ihre Wohnung nimmt, wo sich Holy, Lebie und ich selbst aufhalten werden, vermutlich im Schlafzimmerschrank, auf dem Balkon und auf dem Flur draußen vor der Wohnung. Sollte etwas im Auto passieren oder sie doch zu einem anderen Ort fahren, folgen ihnen die drei Wagen.«
»Taktik?«
Yong schob sich seine Brille zurecht.
»Ihre Aufgabe ist es, ihn dazu zu bringen, etwas über die Morde zu sagen, Sir. Sie wird ihn unter Druck setzen, indem sie ihm sagt, daß sie ihn, nach allem, was Inger ihr über seine Sexualpraktiken erzählt hat, bei der Polizei anzeigen wird. Wenn er sich sicher ist, daß sie nicht verschwinden kann, wird er vielleicht seinen Schleier lüften.«
»Wie lange warten wir, bis wir hineingehen?«
»Bis wir handfeste Beweise haben. Im schlimmsten Fall aber, bis er handgreiflich wird.«
»Risiko?«
»Das ist natürlich nicht ganz ohne Risiko, aber so schnell kann man einen Menschen auch nicht erwürgen. Wir werden die ganze Zeit über so nah dabei sein, daß wir innerhalb von Sekunden eingreifen können.«
»Was, wenn er eine Waffe hat?«
Yong zuckte mit den Schultern.
»Nach allem, was wir wissen, wäre das sehr ungewöhnlich für ihn, Sir.«
McCormack hatte sich erhoben und seine Wanderung über die wenigen freien Meter begonnen. Er erinnerte Harry an den alten fetten Leoparden, den er als kleiner Junge im Tierpark gesehen hatte. Der Käfig war so klein gewesen, daß der Oberkörper sich immer schon wieder zu drehen begann, bevor das Hinterteil die vorhergehende Kurve abgeschlossen hatte. Hin und her, vor und zurück.
»Was, wenn er Sex will, bevor er überhaupt etwas gesagt hat oder sonst etwas geschehen ist?«
»Sie wird sich weigern. Sagen, daß sie es sich anders überlegt hat, daß sie das nur gesagt habe, damit er ihr das Morphium besorgt.«
»Und dann lassen wir ihn einfach gehen?«
»Wir machen keine Wellen, wenn wir nicht sicher sind, daß wir ihn auch wirklich kriegen, Sir.«
McCormack schob seine Unterlippe über die Oberlippe.
»Warum tut sie das alles?«
Es wurde still.
»Weil sie keine Mörder und Vergewaltiger mag«, sagte Harry nach einer langen Pause. »Insbesondere wenn sie Menschen töten, die sie kannte.«
»Und abgesehen davon?«
Es entstand eine noch längere Pause.
»Weil ich sie darum gebeten haben«, sagte Harry schließlich.
»Kann ich dich einen Augenblick stören, Yong?« Yong Sue schaute lächelnd von seinem PC auf. »Sure, mate!«
Harry sank auf einen Stuhl. Der eifrige Chinese hastete weiter über seine Tastatur, wobei er mit einem Auge den Bildschirm und mit dem anderen Harry beobachtete.
»Es wäre gut, wenn das zwischen uns bliebe, Yong, aber ich glaube nicht mehr daran.«
Yong Sue ließ die Tastatur ruhen.
»Ich glaube, bei Evans White handelt es sich um eine Sackgasse«, fuhr Harry fort.
Yong sah verwirrt aus.
»Warum das denn?«
»Das ist nicht leicht zu erklären, aber es gibt ein paar Sachen, die mir nicht aus dem Kopf gehen. Andrew hat versucht, mir damals im Krankenhaus etwas zu sagen. Und auch schon vorher.«
Harry hielt inne. Yong nickte, um zu signalisieren, daß er weiterreden solle.
»Er versuchte mir klarzumachen, daß die Lösung viel näher lag, als ich glaubte. Ich glaube, bei dem Täter handelt es sich um eine Person, die Andrew aus irgendeinem Grund nicht selber stellen konnte. Daß er einen Außenstehenden brauchte. Mich, zum Beispiel – einen Norweger, der einfach hereingeschneit kommt und mit dem nächsten Flugzeug wieder zurückfliegt. Das war mit ein Grund, warum ich auf Otto Rechtnagel gekommen bin. Denn wenn er, ein enger Freund von Andrew, der Mörder gewesen wäre, hätte Andrew sich gewünscht, daß ein anderer ihn außer Gefecht setzt. Aber innerlich kam mir das Ganze schon ein bißchen komisch vor. Mittlerweile begreife ich aber, daß nicht er es war, den Andrew durch mich am Weitermachen hindern wollte, sondern ein anderer.«
Yong räusperte sich:
»Ich habe das bist jetzt noch nie erwähnt, aber mir ist es schon merkwürdig vorgekommen, als Andrew plötzlich mit diesem Zeugen auftauchte, der Evans White am Mordtag in Nimbin gesehen haben wollte. Jetzt, im nachhinein ist mir klar geworden, daß Andrew noch ein anderes Motiv gehabt haben könnte, Evans White aus dem Fokus zu bekommen. Nämlich die Tatsache, daß Evans White etwas gegen ihn in der Hand hatte. Er wußte, daß Andrew heroinabhängig war, und wenn das herausgekommen wäre, hätte das für Andrew das Ende bei der Polizei und eine Zeitlang Gefängnis bedeutet. Ich mag diesen Gedanken nicht, aber hast du mal über die Möglichkeit nachgedacht, daß Andrew und White ein kleines Abkommen getroffen haben, mit dem Ziel, daß Andrew uns von White fernhält?«
»Es fängt langsam an, kompliziert zu werden, Yong, aber – ja, ich habe an diese Möglichkeit gedacht. Und sie verworfen. Denk doch nur daran, daß es Andrew war, der dafür gesorgt hat, daß wir Evans White anhand dieses Bildes identifizieren konnten.«
»Tja«, Yong kratzte sich mit einem Bleistift am Kinn. »Wir hätten das auch ohne ihn geschafft, aber das hätte dann sicher länger gedauert. Weißt du, wie groß bei einem Mordfall die prozentuale Chance ist, daß der Täter der jeweils andere Partner der Beziehung ist? Fünfundachtzig Prozent. Nachdem du den Brief übersetzt hattest, wußte Andrew, daß wir alle verfügbaren Kräfte daransetzen würden, Inger Holters heimlichen Freund zu finden. Wenn er White also wirklich beschützen wollte, ohne sich dabei zu verraten, konnte er ebensogut mithelfen. Nur zum Schein. Hast du es nicht merkwürdig gefunden, daß er diesen Ort nur anhand von ein paar Hauswänden wiedererkannt hat, die er irgendwann vor hundert Jahren im Marihuanarausch gesehen hatte?«
»Vielleicht hast du recht, Yong, ich weiß es nicht. Ich glaube ohnehin, daß es keinen Sinn hat, jetzt, wo alle wissen, was sie zu tun haben, allzuviel Zweifel zu säen. Vielleicht ist Evans White ja doch unser Mann. Aber wenn ich wirklich daran geglaubt hätte, dann hätte ich Birgitta niemals gebeten, dieses Spiel mitzumachen.«
»Also wer, glaubst du, ist unser Mann?«
»Du willst wohl sagen, wer, glaubst du, ist dieses Mal unser Mann?«
Yong lächelte.
»Oder so.«
Harry rieb sich das Kinn.
»Ich hab schon zweimal die Alarmglocken geläutet, Yong. Wenn man zu oft ›Hilfe‹ ruft, kommt schließlich keiner mehr. Deshalb muß ich diesmal wirklich sicher sein!«
»Warum erzählst du mir das Ganze, Harry? Warum nicht einem von unseren Chefs?«
»Weil du ein paar Sachen für mich erledigen kannst, ein paar diskrete Fragen stellen und ein paar Daten besorgen, ohne daß die anderen hier im Hause es mitkriegen.«
»Es soll sonst niemand davon erfahren?«
»Ich weiß, das hört sich ein bißchen fishy an. Und ich weiß, daß du hier mehr zu verlieren hast als die meisten anderen. Aber du bist der einzige, der mir helfen kann, Yong, was meinst du?«
Yong schaute Harry lange an.
»Wird dir das helfen, den Mörder zu stellen, Harry?« fragte er.
»Das hoffe ich.«
»Bravo, komm herein.«
Es knackte in den Lautsprechern des Funkempfängers.
»Ich kann alles gut hören«, rief Lebie. »Wie läuft's bei euch da drinnen?«
»Gut«, antwortete Harry.
Er saß auf dem frischgemachten Bett und betrachtete das Bild von Birgitta auf dem Nachtschränkchen. Es war ein Konfirmationsfoto. Sie sah mit all den Locken und ohne Sommersprossen, die man auf dem überbelichteten Bild nicht erkennen konnte, jung, ernst und fremd aus. Es schien ihr nicht gutzugehen. Birgitta hatte behauptet, das Bild stehe als Aufmunterung für schlechte Zeiten dort, als eine Art Beweis, daß alles trotz allem irgendwie weitergegangen war.
»Wie sieht der Zeitplan aus?« rief Lebie aus der Küche.
»Sie ist in einer Viertelstunde mit der Arbeit fertig. Jemand ist gerade bei ihr, um bei ihr den Sender und das Mikrophon anzubringen.«
»Fährt man sie dann in die Darlinghurst Road?«
»Nee. Wir wissen ja nicht, wo dieser White sich aufhält, und er darf sie ja nicht aus einem Auto steigen sehen und mißtrauisch werden. Sie geht vom Albury aus zu Fuß.«
Wadkins kam vom Flur herein.
»Es sieht gut aus. Ich kann im Eingangsbereich hinter dem Mauervorsprung stehen und ihnen hier bis nach oben folgen, ohne bemerkt zu werden. Wir werden dein Mädchen die ganze Zeit über im Auge haben, Holy. Holy, wo steckst du?«
»Hier drinnen, Sir. Ich hab es gehört, das ist gut zu wissen, Sir.«
»Der Funk? Lebie?«
»Ich hab Kontakt, Sir. Alle sind auf ihren Plätzen. Es kann losgehen.«
Harry war noch einmal alles durchgegangen. Vorwärts und rückwärts. Er hatte mit sich selbst eine Diskussion geführt und versucht, die Sache wirklich aus allen Blickwinkeln zu betrachten und sich schließlich entschlossen, daß es ihm egal war, ob sie das als hoffnungsloses Klischee, als kindische Art, etwas zu sagen, oder als zu einfachen Ausweg betrachten würde. Er packte die rote Wildrose, die er gekauft hatte, aus und stellte sie in ein Wasserglas, das neben dem Bild auf dem Nachtschränkchen stand.
Er zögerte etwas. Vielleicht würde sie die ablenken? Vielleicht würde Evans White beginnen, Fragen zu stellen, wenn er eine Rose neben ihrem Bett sah? Er fuhr mit dem Zeigefinger vorsichtig über eine der Dornen. Nein, Birgitta würde die Aufmunterung verstehen, der Anblick der Rose würde ihr im Gegenteil Kraft geben.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war acht Uhr.
»Los, laßt uns die Sache hinter uns bringen!« rief er in das Wohnzimmer.
Etwas stimmte nicht. Harry konnte nicht hören, was es war, aber er hörte im Wohnzimmer das Knacken in den Lautsprechern. Zu viel Knacken. Alle wußten genau, was sie tun mußten, wenn also alles nach Plan lief, gab es keinen Grund, so viel über Funk durchzugeben.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, fluchte Wadkins. Lebie nahm den Kopfhörer ab und drehte sich zu Harry um.
»Sie ist nicht gekommen«, sagte er.
»Was sagst du da?«
»Sie ist genau um Viertel nach acht im Albury losgegangen. Es sollte von dort nicht mehr als zehn Minuten dauern bis King's Cross. Das ist jetzt aber fünfundzwanzig Minuten her.«
»Ich dachte, ihr hättet gesagt, daß sie die ganze Zeit über unter Aufsicht ist?«
»Vom Treffpunkt an, ja. Warum sollte jemand …«
»Und das Mikrophon? Sie war doch richtig angeschlossen, als sie losging.«
»Sie haben den Kontakt verloren. Erst haben sie alles gehört, und dann war der Kontakt plötzlich weg. Nicht ein Laut.«
»Haben wir eine Karte? Welchen Weg ist sie gegangen?« Er sprach schnell und leise. Lebie nahm den Stadtplan aus seiner Tasche und reichte ihn Harry.
»Welche Straße sollte sie nehmen?« fragte Lebie über Funk.
»Die einfachste Route, die Victoria Street hinunter.«
»Hier, ich hab's«, sagte Harry. »An der Ecke Oxford Street in die Victoria Street, vorbei am St. Vincent Hospital und am Green Park und hinunter zur Kreuzung, wo die Darlinghurst Road anfängt. Von da aus sind es nur noch zweihundert Meter bis zum Hungry John. Das ist doch total einfach!«
Wadkins nahm das Funkgerät.
»Smith, schick zwei Wagen die Victoria Street hinunter, um dieses Mädchen zu finden. Und sag den Leuten, die im Albury waren, daß sie behilflich sein sollen. Ein Wagen bleibt für den Fall, daß sie doch noch auftaucht, am Hungry John stehen. Beeilt euch und macht so wenig Aufruhr wie eben möglich. Und meldet euch, wenn ihr wißt, wo sie ist!«
Wadkins schmiß das Funkgerät in die Ecke. »Scheiße, Scheiße! Was, zum Teufel, passiert hier eigentlich? Hatte sie einen Unfall? Ist sie überfallen worden – oder vergewaltigt, Scheiße noch mal!«
Lebie und Harry schauten sich an.
»Kann White zufällig die Victoria Street entlanggefahren sein, sie gesehen und ins Auto gebeten haben?« überlegte Lebie. »Er hat sie ja früher schon einmal gesehen, im Albury. Vielleicht hat er sie wiedererkannt.«
»Der Sender!« rief Harry plötzlich. »Der Sender muß doch noch arbeiten!«
»Bravo, Bravo! Hier ist Wadkins. Empfangt ihr Signale von dem Sender? Ja? Aus Richtung des Albury? Dann kann sie noch nicht weit weg sein. Los, beeilt euch! Gut. Ende.«
Die drei Männer blieben still nebeneinander sitzen. Lebie schaute verstohlen zu Harry hinüber.
»Frag nach, ob Evans Whites Auto aufgetaucht ist«, sagte Harry.
»Bravo, bitte melden. Lebie hier. Was ist mit dem schwarzen Holden? Hat den jemand gesehen?«
»Negativ.«
Wadkins sprang auf und begann leise fluchend hin und her zu laufen. Harry hatte, seit er den Raum betreten hatte, in der Hocke gesessen und bemerkte erst jetzt, daß seine Oberschenkel zitterten.
Es knackte wieder im Empfänger.
»Charlie, hier ist Bravo, bitte melden.«
Lebie drückte den Empfangsknopf.
»Charlie hier, Bravo, laß hören!«
»Stoltz hier. Wir haben ihre Tasche mit dem Sender und dem Mikrophon im Green Park gefunden. Das Mädchen ist wie vom Erdboden verschluckt.«
»In der Tasche?« rief Harry. »Das sollte ihr doch auf den Körper geklebt werden?«
Wadkins zögerte betroffen.
»Das habe ich wohl vergessen zu sagen, aber wir haben uns gefragt, was passieren würde, wenn er ihr … näherkommen würde … äh, sie anfaßt und, ach, du weißt schon, anmachen würde. Miß Enquist war auch der Meinung, daß es sicherer sei, die Ausrüstung in der Tasche zu haben.«
Harry hatte sich bereits die Jacke angezogen.
»Wohin willst du?« fragte Wadkins.
»Er hat auf sie gewartet«, sagte Harry. »Vielleicht ist er ihr vom Albury aus nachgegangen. Sie konnte nicht einmal schreien. Vermutlich hat er wieder ein Tuch mit Diethyläther benutzt. Wie bei Otto Rechtnagel.«
»Auf offener Straße?« fragte Lebie skeptisch.
»Nee. Im Park. Ich fahr da jetzt hin. Ich kenne da wen.«
Joseph versuchte krampfhaft, die Augen aufzureißen. Er war so voll, daß Harry am liebsten geheult hätte.
»Ich, ich dachte, die hätten geknutscht, Harry.«
»Das hast du jetzt schon viermal gesagt, Joseph. Wie sah er aus? Wohin sind sie gegangen? Hatten sie ein Auto?«
»Wir, Mikke und ich, haben unsere Kommentare abgelassen, als er sie hier an uns vorbeischleppte, daß sie ja noch voller sei als wir und so weiter. Ich glaube, Mikke hat sie richtig ein bißchen beneidet. Hihihi. Willst du Mikke nicht guten Tag sagen? Er ist aus Finnland.«
Mikke lag auf der anderen Bank und hatte sich für diesen Abend bereits verabschiedet.
»Schau mich an, Joseph. Schau mich an! Ich muß sie finden! Verstehst du? Der Typ ist wahrscheinlich ein Mörder!«
»Ich versuche es ja, Harry. Ich versuche mich ja zu erinnern. Scheiße, ich will dir ja helfen!«
Joseph kniff die Augen zusammen und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, wobei er laut jammerte.
»Das ist so verdammt dunkel in diesem Park, so daß ich ja nicht so viel sehen konnte. Ich glaube, er war ziemlich groß.«
»Dick, dünn, hell, dunkel? Hat er gehinkt oder eine Brille getragen? Einen Bart oder einen Hut?«
Joseph verdrehte als Antwort die Augen.
»Do ya habe a fig, mate? Makes me kinda think better, ya know.«
Aber auch nicht alle Zigaretten der Welt konnten den alkoholischen Nebel wegpusten, der Josephs Gehirn vernebelte. Harry gab ihm den Rest seines Zigarettenpäckchens und bat ihn, Mikke, wenn er wieder wach war, zu fragen, ob er sich an etwas erinnerte. Auch wenn er nicht damit rechnete, daß dabei etwas herauskommen würde.
Als Harry wieder zurück in Birgittas Wohnung kam, war es halb zwei Uhr nachts. Lebie saß am Funkgerät und sah Harry mitfühlend an.
»Gave it a burls, did ya? No good, ay?«
Harry verstand nicht ein einziges Wort, nickte aber zustimmend.
»No good«, brummte er und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Harry suchte nach einer Zigarette, bis ihm einfiel, daß er die Schachtel ja Joseph gegeben hatte.
»Ziemlich chaotisch. Wadkins ist kurz davor, vollkommen durchzudrehen, und in halb Sydney rasen sie jetzt wie aufgescheuchte Hühner mit Blaulicht herum. Das einzige, was sie von White wissen, ist, daß er gestern morgen in Nimbin aufgebrochen und mit dem Fire-Flight nach Sydney geflogen ist. Danach hat ihn keiner mehr gesehen.«
Er ließ sich von Lebie eine Zigarette geben, und beide rauchten schweigend.
»Geh nach Hause und schlaf ein bißchen, Sergej. Ich bleibe hier für den Fall, daß Birgitta doch noch auftaucht. Laß das Funkgerät an, damit ich alles mitbekommen kann.«
»Ich kann auch hier schlafen, Harry.«
Harry schüttelte den Kopf. »Geh nach Hause! Ich rufe dich an und wecke dich, wenn es etwas Neues gibt.«
Lebie setzte sich seine Bearscap auf seinen blankpolierten Schädel. An der Tür blieb er noch einen Augenblick stehen.
»Wir werden sie finden, Harry. Ich spüre das irgendwie. So hang in there, mate.«
Harry schaute Lebie an. Es war schwer zu sagen, ob er wirklich glaubte, was er sagte.
Sobald er alleine war, öffnete er das Fenster und ließ seinen Blick über die Hausdächer schweifen. Es war kühler geworden, aber die Luft war noch immer mild und voller Gerüche: Stadt, Menschen und Essen aus aller Herren Länder. Es war eine der schönsten Sommernächte der Welt in einer der schönsten Städte der Welt. Er schaute zu den Sternen hoch. Eine Unendlichkeit kleiner blinkender Lichter, die zu leben und zu pulsieren schienen, wenn er sie nur lange genug anschaute. All diese sinnlose Schönheit.
Vorsichtig versuchte er, seine eigenen Gefühle auszuloten. Vorsichtig, weil er sich nicht erlauben konnte, sich ihnen hinzugeben. Noch nicht, jetzt noch nicht. Zuerst die guten Gefühle. Nur ganz wenig. Er wußte nicht, ob sie ihn stärker oder schwächer machen würden. Birgittas Gesicht zwischen seinen Händen, die Reste eines Lachens, das noch in ihren Augen lag. Dann die schlechten Gefühle. Sie waren es, die er noch für eine Weile aus seinem Leben verdammen mußte, aber er versuchte, ihnen nachzuspüren, wie um sich einen Eindruck von ihrer Kraft zu verschaffen.
Er hatte das Gefühl, in einem U-Boot am Boden eines viel zu tiefen Meeres aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit festzusitzen. Das Meer erhöhte den Druck, und um ihn herum begann es bereits zu knacken und knirschen. Er konnte nur hoffen, daß der Bootskörper das aushielt, daß das lebenslange Training der Selbstbeherrschung endlich zu etwas nütze war. Harry dachte an die Seelen, die zu Sternen wurden, wenn der menschliche Körper starb. Aber es gelang ihm nicht, nach einem ganz speziellen Stern zu suchen.
Nach dem Unfall hatte Harry sich wiederholt gefragt, ob er sein Schicksal getauscht hätte, wenn er es gekonnt hätte. So daß er es gewesen wäre, der den Pfosten des Schildes am Sørkedalsvei verbogen, eine zeremonielle Beerdigung mit uniformierten Polizeikräften und trauernden Eltern erhalten hätte, ein Foto im Flur des Polizeipräsidiums und eine mit der Zeit verblassende, aber liebevolle Erinnerung bei Kollegen und Verwandten. War das nicht eine verlockende Alternative zu den Lügen, mit denen er leben mußte und die auf vielerlei Weise noch erniedrigender waren als einfach nur die Schuld- und Schamgefühle?
Anscheinend eine sinnlose und selbstzerstörerische Frage. Aber Harry spürte, daß ihm die Antwort, die er sich geben mußte, ihm die Sicherheit verlieh, die er brauchte, um neu zu beginnen. Er wollte nämlich nicht tauschen. Er war glücklich, am Leben zu sein.
Immer wenn er morgens im Krankenhaus benommen von den Pillen und mit leerem Kopf erwacht war, hatte er das Gefühl gehabt, daß etwas fürchterlich falsch lief. Es dauerte in der Regel ein paar schlaftrunkene Sekunden, bevor seine Erinnerung zu arbeiten begann und ihm mitteilte, wer und wo er war, und ihm dann mit gnadenloser Härte die Geschehnisse ins Gedächtnis zurückrief. Aber dann mußte er immer daran denken, daß er am Leben war. Daß er noch immer im Rennen und sein Spiel noch nicht verspielt war. Das war vielleicht nicht so viel, aber für Harry war es in dieser Situation genug.
Nachdem er das Krankenhaus hatte verlassen dürfen, bekam er einen Termin bei einem Psychiater. »Sie kommen eigentlich ein bißchen spät«, hatte der Psychiater gesagt, »Ihr Unterbewußtsein hat sich bestimmt schon entschieden, wie es die Dinge, die geschehen sind, aufarbeiten will, und diese Entscheidung können wir kaum mehr beeinflussen. Es kann sich zum Beispiel entschieden haben, die Geschehnisse zu verdrängen. Aber wenn es wirklich eine solch schlechte Entscheidung getroffen hat, können wir ja versuchen, diese rückgängig zu machen.«
Harry wußte nur, was ihm sein Unterbewußtsein erzählte, und zwar, daß es gut war, am Leben zu sein, und er wollte nicht riskieren, daß ein Psychiater es dazu brachte, sich anders zu entscheiden, also war es das erste und letzte Mal, daß Harry dort war.
In der darauffolgenden Zeit lernte er auch, daß es eine miese Taktik war, gegen alles, was sich in seinem Kopf befand, gleichzeitig vorzugehen. Erstens wußte er nicht, was in seinem Kopf vorging, jedenfalls hatte er kein klares, vollständiges Bild davon, so daß er sich fühlte, als würde er gegen ein Monster ankämpfen, das er nicht einmal gesehen hatte. Zweitens hatte er eine bessere Chance zu gewinnen, wenn er seinen Krieg in einzelne, kleine Gefechte aufteilte, bei denen er die Übersicht über seinen Feind nicht verlor, seine Schwachpunkte erkennen und ihn mit der Zeit überwältigen konnte. Es war, wie Papier in einen Aktenvernichter zu stopfen. Wenn man zu viel auf einmal hineinsteckt, bekommt die Maschine Panik, fängt an zu husten und gibt schließlich mit einem dumpfen Schlag vollends den Geist auf, so daß man wieder ganz von vorn anfangen muß.
Der Freund eines Kollegen, den Harry bei einer der wenigen Einladungen zum Essen kennenlernte, war Psychologe in der Gemeinde. Er hatte Harry sehr merkwürdig angeschaut, als dieser über seine Art, mit Gefühlen umzugehen, berichtete.
»Krieg?« hatte er gefragt. »Aktenvernichter?«
Er hatte wirklich besorgt ausgesehen.
Harry schlug die Augen auf. Das erste Morgenlicht sickerte zwischen den Gardinen hindurch in das Zimmer. Er schaute auf die Uhr. Es war sechs. Der Empfänger knackte.
»Hier ist Delta. Charlie, bitte melden.« Harry sprang aus dem Sofa und stürzte zum Mikrophon.
»Delta, hier ist Holy. Was ist los?«
»Wir haben Evans White gefunden. Wir haben einen anonymen Hinweis von einer Frau bekommen, die ihn oben in King's Cross gesehen hat und dann drei Wagen hingeschickt und ihn mitgenommen. Er wird gerade verhört.«
»Was hat er gesagt?«
»Er hat alles geleugnet, bis wir ihm die Aufnahme von dem Telefongespräch mit Birgitta vorgespielt haben. Daraufhin erzählte er, daß er kurz nach acht dreimal in einem weißen Honda am Hungry John vorbeigefahren ist. Dann habe er aufgegeben und sei zurück zu seinem Appartement gefahren. Später am Abend sei er dann in einen Nachtclub gegangen, und da haben wir ihn dann auch festgenommen. Die Frau, die uns den Tip gegeben hat, hat übrigens nach dir gefragt.«
»Das hab ich mir fast gedacht. Sie heißt Sandra. Habt ihr seine Wohnung untersucht?«
»Klar. Nichts. Überhaupt nichts. Und Smith sagt, er habe dreimal den gleichen weißen Honda am Hungry John vorbeifahren sehen.«
»Warum ist er nicht, wie abgesprochen, mit einem schwarzen Holden gekommen?«
»White behauptet, er habe bei dem Telefonat mit Birgitta Enquist absichtlich gelogen, für den Fall, daß sie ihn irgendwie aufs Kreuz legen wollte – in case of a setup – so daß er ein paarmal unbemerkt vorbeifahren könne, um zu überprüfen, ob die Luft rein sei.«
»Okay. Ich komme jetzt zu euch hinüber. Telefoniere bitte herum und wecke die anderen.«
»Die anderen sind erst vor zwei Stunden nach Hause gefahren, Holy. Sie waren die ganze Nacht auf und Wadkins hat uns gebeten …«
»Ich scheiße darauf, was Wadkins gesagt hat. Weck sie auf!«
Sie hatten den alten Ventilator wieder in das Besprechungszimmer gestellt. Es war schwer zu sagen, ob ihm die Pause gutgetan hatte, er beschwerte sich jedenfalls lauthals darüber, sein Rentnerdasein wieder aufgeben zu müssen.
Die Besprechung war vorbei, doch Harry war im Zimmer sitzen geblieben. Sein Hemd hatte große, nasse Schweißflecken unter den Armen, und er hatte ein Telefon vor sich auf den Tisch gestellt. Er schloß die Augen und murmelte etwas vor sich hin. Dann hob er den Hörer ab und wählte die Nummer.
»Hella?«
»Hier ist Harry Hole.«
»Harry, es freut mich, daß du auch an einem Sonntagmorgen so früh auf den Beinen bist. Eine gute Angewohnheit. Ich habe auf deinen Anruf gewartet. Bist du alleine, Harry?«
»Ich bin alleine.«
An beiden Enden der Leitung wurde heftig geatmet.
»You're on to me, aren't ya, mate?«
»Ich weiß seit einer Weile, daß du es sein mußt, ja.«
»Gute Arbeit, Harry. Und jetzt rufst du an, weil ich etwas habe, das du wiederhaben willst, right?«
»Richtig.«
Harry wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Du begreifst doch wohl, daß ich sie mir holen mußte, Harry?«
»Nein, das verstehe ich ganz und gar nicht.«
»Come on, Harry, du bist doch nicht blöd. Als ich gehört habe, daß jemand Nachforschungen anstellt, war mir gleich klar, daß du das sein mußt. Ich hoffe nur für dich, daß du klug genug warst, das für dich zu behalten. Hast du das, Harry?«
»Ich habe nichts gesagt.«
»Dann gibt es auch noch eine Chance für dich, deine rothaarige Freundin wiederzusehen.«
»Wie hast du es gemacht? Wie hast du sie überwältigt?«
»Ich wußte, wann ihre Schicht zu Ende sein würde und habe einfach draußen vor dem Albury im Auto gewartet. Und dann bin ich ihr nachgefahren. Als sie in den Park ging, dachte ich, daß ihr jemand sagen sollte, daß sie das abends um die Uhrzeit nicht mehr machen sollte. Also stieg ich aus dem Auto und ging ihr nach. Ich ließ sie ein bißchen an einem Lappen riechen, den ich mitgenommen hatte, und danach mußte ich ihr in den Wagen helfen.«
Harry begriff, daß er das Aufnahmegerät in ihrer Tasche nicht bemerkt haben konnte.
»Was willst du, was soll ich tun?«
»Du hörst dich nervös an, Harry. Beruhig dich. Ich habe nicht vor, um viel zu bitten. Dein Job ist es, einen Mörder zu fangen, und genau darum bitte ich dich. Du sollst einfach deine Arbeit machen. Birgitta hat mir nämlich erzählt, daß euer Hauptverdächtiger ein Dealer namens Evans White ist. Unschuldig oder nicht, jedes Jahr tötet er, oder solche wie er, mehr Menschen als ich in meinem ganzen Leben. Und das soll wirklich etwas heißen. Hähä. Ich glaube nicht, daß ich dir alles bis ins kleinste Detail erklären muß. Alles, was ich will, ist, daß dieser Evans White für seine Verbrechen verurteilt wird. Und für ein paar von mir. Vielleicht reichen die Beweise ja, wenn man in Whites Wohnung Hautreste und Blutspuren von Inger Holter findet? Du kennst ja den Gerichtsmediziner, vielleicht kann der dir ja das notwendige Beweismaterial besorgen, das du dann am Tatort plazieren kannst? Hähä. Ich mache nur Spaß, Harry. Aber vielleicht kann ich es dir besorgen? Vielleicht habe ich ja irgendwo Blut und Hautreste der verschiedenen Opfer und das eine oder andere Haar fein säuberlich in Plastiktütchen verstaut? So für alle Fälle, man weiß ja nie, wann es wichtig sein kann, ein bißchen Verwirrung zu stiften. Hähä.«
Harry umklammerte den nassen Telefonhörer. Er versuchte nachzudenken. Der Mann wußte ganz offensichtlich nichts davon, daß die Polizei über Birgittas Entführung informiert war und ihre Meinung über den möglichen Täter inzwischen revidiert hatte. Das konnte nur bedeuten, daß Birgitta ihm nicht erzählt hatte, daß sie unter der Aufsicht der Polizei Evans White hätte treffen sollen. Er hatte sie, ohne es zu wissen, einfach vor der Nase eines guten Dutzend Polizisten weggeschnappt!
Die Stimme riß ihn wieder aus seinen Gedanken: »Eine verlockende Möglichkeit, nicht wahr, Harry? Daß dir ein Mörder hilft, einen anderen Feind der Gesellschaft einzubuchten. Nun gut, laß uns in Kontakt bleiben. Du hast … laß uns sagen, 48 Stunden, um ihn zu verhaften. Ich erwarte am Dienstagabend gute Neuigkeiten in den Nachrichtensendungen. Bis dahin verspreche ich dir, die Rothaarige mit all dem Respekt zu behandeln, den man von einem Gentleman erwarten darf. Wenn ich nichts höre, fürchte ich, wird sie den Mittwoch nicht erleben. Aber ich kann ihr einen phantastischen Dienstagabend versprechen.«
Harry legte auf. Der Ventilator rülpste mit häßlichem Scheppern. Er schaute auf seine Hände. Sie zitterten ein wenig.
»Was meinen Sie, Sir?«
Der breite Rücken, der die ganze Zeit regungslos vor der Tafel gestanden hatte, kam in Bewegung.
»Ich denke, wir sollten uns diesen Teufel schnappen«, sagte McCormack. »Bevor die anderen wiederkommen, Harry – wie bist du auf ihn gekommen?«
»Wenn ich ehrlich sein soll, Sir, dann war das nur eine weitere Theorie, die plötzlich in meinem Kopf auftauchte, ohne daß ich zu Beginn wirklich an sie geglaubt habe. Nach der Beerdigung wurde ich von Jim Connolly, einem alten Boxerkollegen von Andrew, mitgenommen. Er war mit seiner Frau auf der Beerdigung, die, wie er sagte, Zirkusartistin war, als er sie kennenlernte. Er erzählte, daß er ihr ein Jahr lang jeden Tag den Hof gemacht habe, bevor sie ihn an sich herangelassen habe. Zuerst habe ich mir dabei nichts gedacht, bis ich an die Möglichkeit dachte, daß er das vielleicht wörtlich gemeint haben konnte – daß die zwei sich mit anderen Worten ein ganzes Jahr lang jeden Tag gesehen haben. Und plötzlich fiel mir wieder ein, daß Jim Chivers in einem großen Zelt boxte, als Andrew und ich in Lithgow waren, und daß da auch ein Tivoli gewesen war. Dann brachte ich Yong dazu, den Agenten von Jim Chivers anzurufen, um das zu überprüfen. Und es stimmte: Jim Chivers' Truppe ist so gut wie immer mit einem herumreisenden Zirkus oder Tivoli auf Tournee. Yong bekam heute morgen die alten Tourneelisten zugefaxt, und da zeigte sich, daß bei dem Tivoli, der Jim Chivers in den letzten Jahren begleitete, auch eine Zirkustruppe war. Otto Rechtnagels Truppe.«
»Gut. Das heißt, daß auch Jim Chivers' Boxer an den entsprechenden Terminen an den Orten der Verbrechen waren. Aber bei Jim Chivers gibt es viele, die Andrew kannten.«
»Andrew hat mir nur einen von ihnen vorgestellt, und ich hätte begreifen müssen, daß wir nicht wegen dieser unwichtigen Vergewaltigungssache nach Lithgow gefahren sind. Andrew betrachtete ihn wie einen Sohn. Ihre Entwicklung wies so viele Parallelen auf, und das Band, das sie zusammenhielt, war so eng, daß dieser Mensch vielleicht der einzige auf dieser Erde war, mit dem sich das Findelkind Andrew Kensington irgendwie blutsverwandt fühlte. Auch wenn Andrew niemals zugegeben hätte, eine engere Beziehung zu seinem Volk zu haben, glaube ich dennoch, daß er Toowoomba auch deshalb mehr als jeden anderen liebte, weil er einer aus seinem Volk war. Deshalb konnte ihn Andrew nicht selber stellen. Alle seine erlernten und vielleicht angeborenen Moralvorstellungen kollidierten mit der Loyalität für sein Volk und der Liebe zu Toowoomba. Ich weiß nicht, ob sich irgend jemand wirklich vorstellen kann, was für ein grausamer Konflikt das für ihn gewesen sein muß. Er mußte eine Möglichkeit finden, ihn aufzuhalten, ohne seinen eigenen Sohn zu ›ermorden‹. Deshalb brauchte er mich, einen Außenstehenden, den er auf das Ziel zusteuern konnte.«
»Toowoomba?«
»Toowoomba. Andrew hatte herausgefunden, daß er hinter all diesen Morden steckte. Vielleicht hatte der verzweifelte, verstoßene Geliebte Otto Rechtnagel es Andrew erzählt, nachdem Toowoomba ihn verlassen hatte. Vielleicht gelang es Andrew, Otto davon zu überzeugen, die Sache zu lösen, ohne daß sie beide involviert würden. Aber ich glaube, Otto war dabei zu zerbrechen. Er hatte mit gutem Grund Angst um sein Leben, nachdem ihm klargeworden war, daß Toowoomba alles andere als froh darüber war, daß es da einen Ex- Lover gab, der frei herumrannte und ihn verraten konnte. Toowoomba wußte, daß Otto mit mir in Kontakt getreten und sein Spiel beinahe verspielt war. Deshalb heckte er den Plan aus, Otto während der Vorstellung zu ermorden. Da sie früher mit einer beinahe identischen Show herumgereist waren, wußte Toowoomba genau, wann er zuschlagen mußte.«
»Warum hat er das nicht in Ottos Wohnung gemacht? Er hatte doch einen Schlüssel?«
»Das habe ich mich auch gefragt.« Harry zögerte.
McCormack wedelte mit der Hand. »Harry, du hast mir schon so viel aufgetischt, daß es jetzt auch auf ein paar Theorien mehr oder weniger nicht mehr ankommt.«
»Die Sache mit dem Gockel.«
»Gockel?«
»Toowoomba ist nicht einfach nur ein Psychopath. Er ist auch ein Gockel. Und die Eitelkeit eines Gockels darf man nicht unterschätzen. Während seine sexuell motivierten Morde einem Muster folgen, das mit zwanghaften Handlungen erklärt werden kann, ist der ›Clownsmord‹ etwas ganz anderes, nämlich ein rationeller, notwendiger Mord. Bei diesem Mord war er plötzlich frei, ungehemmt von den Psychosen, die den Ablauf der anderen Morde bestimmten. Es war die Chance, etwas wirklich Spektakuläres zu machen, seinem Lebenswerk die Krone aufzusetzen. Und man muß ja sagen, daß ihm das gelungen ist – an den Clownsmord wird man sich noch erinnern, wenn die Mädchen, die er getötet hat, längst vergessen sind.«
»Gut. Und Andrew ist aus dem Krankenhaus abgehauen, um die Polizei aufzuhalten, als er begriff, daß wir Otto festnehmen wollten?«
»Ich nehme an, daß er direkt in Ottos Wohnung gefahren ist, um mit ihm zu reden, ihn auf die Festnahme vorzubereiten und ihm einzubläuen, wie wichtig es sei, wegen Toowoomba die Klappe zu halten, damit sie beide, Otto und Andrew, nicht zu tief in die Sache verstrickt würden. Er wollte ihn beruhigen, daß Toowoomba, wie von Andrew geplant, festgenommen werden würde, wenn er nur noch etwas Zeit bekäme. Wenn ich nur noch etwas Zeit bekäme! Aber etwas ging schief. Ich habe keine Ahnung, was. Aber daß es Toowoomba war, der Andrew schließlich ins Jenseits befördert hat, ist für mich ziemlich klar.«
»Warum?«
»Intuition. Gesunder Menschenverstand. Und dann noch ein kleines Detail.«
»Was denn?«
»Als ich Andrew besuchte, hat er mir gesagt, daß Toowoomba am nächsten Tag kommen wollte.«
»Und?«
»Im St. Etienne-Krankenhaus werden alle Besucher registriert, bevor sie zur Rezeption kommen. Yong hat für mich im Krankenhaus angerufen, und nachdem ich gegangen war, hat es keine weiteren Anrufe oder Besuche mehr für Andrew gegeben.«
»Ich komme nicht ganz mit, Harry.«
»Wenn ihm etwas dazwischengekommen wäre, hätte Toowoomba Andrew sicher angerufen, um abzusagen. Da er das nicht tat, konnte er also unmöglich wissen, daß Andrew nicht mehr im Krankenhaus war, bevor er an der Rezeption stand. Nachdem er also in der Besucherliste vermerkt worden war. Außer …«
»Außer, daß er es war, der ihn am Abend zuvor ermordet hat.«
Harry breitete die Hände aus.
»Man besucht doch keinen, der nicht mehr da ist, Sir.«
Es sollte ein langer Sonntag werden. Verdammt, der war doch schon lang genug, dachte Harry. Sie saßen mit hochgekrempelten Ärmeln im Besprechungszimmer und versuchten, genial zu sein.
»Also du rufst ihn über das Handy an«, sagte Wadkins. »Und du glaubst nicht, daß er zu Hause ist?«
Harry schüttelte den Kopf.
»Er ist vorsichtig. Er hat Birgitta irgendwo anders.«
»Vielleicht finden wir jemanden bei ihm zu Hause, der uns einen Tip geben kann, wo er sie versteckt hält?« schlug Lebie vor.
»Nein!« sagte Harry entschlossen. »Wenn er herausfindet, daß wir bei ihm zu Hause waren, weiß er, daß ich geredet habe, und Birgitta ist verloren.«
»Nun, dafür müßte er erst einmal nach Hause kommen, und dann könnten wir ja bereitstehen und ihn festnehmen«, sagte Lebie.
»Was, wenn er Birgitta umbringt, ohne selbst physisch anwesend zu sein?« fragte Harry. »Wenn sie irgendwo gefesselt festsitzt und Toowoomba uns nicht erzählt, wo?« Er blickte in die Runde. »Was, wenn sie zum Beispiel auf einer tickenden Bombe sitzt, die innerhalb von einer gewissen Anzahl Stunden entschärft werden muß?«
»Stop!« Wadkins schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wir bewegen uns langsam auf Comic-Niveau! Verdammt, sollten wir es plötzlich mit einem Sprengstoffexperten zu tun haben, nur weil er ein paar Mädchen umgebracht hat? Die Zeit vergeht, und wir können nicht einfach auf unseren Ärschen hocken und warten! Ich finde die Idee, mal bei Toowoomba zu Hause vorbeizuschauen, ganz gut. Und es wird uns wohl auch gelingen, ihm eine Falle zu stellen, wenn er sich seiner Wohnung nähern sollte, glaubt mir!«
»Der Kerl ist, verdammt noch mal, nicht dumm!« sagte Harry. »Wir setzen Birgittas Leben aufs Spiel, versteht ihr das denn nicht?«
Wadkins schüttelte den Kopf.
»Sorry, Holy, aber ich fürchte, dein Verhältnis zu der Gekidnappten trübt ein wenig dein rationales Bewußtsein. Wir machen das so, wie ich es gesagt habe.«
Die Nachmittagssonne schien durch die Bäume der Victoria Street. Ein kleiner Kookaburra saß auf der Rückenlehne der anderen leeren Bank und wärmte seine Stimme für das abendliche Konzert auf.
»Du findest es vielleicht merkwürdig, daß heute jemand gutgelaunt herumlaufen kann«, sagte Joseph. »Daß sie in diesem Moment, wenn sie vom Strand, vom Zoo oder von der Großmutter in Wollongong zurückkommen, nur an das Sonntagsessen zu Hause denken. Du empfindest es bestimmt als persönliche Beleidigung, daß die Sonne in einem Moment, in dem du die Welt am liebsten im Elend versinken und in Tränen aufgelöst sehen würdest, mit dem Laub der Bäume spielt. Nun, Harry, mein Freund, was soll ich dir sagen? So ist das Leben. Der Sonntagsbraten wartet, und so muß es ein.«
Harry blinzelte in die Sonne.
»Vielleicht hat sie Hunger, vielleicht tut ihr etwas weh. Das Schlimmste aber ist, zu wissen, was sie für eine Angst haben muß.«
»Sie wird dir eine gute Frau, wenn sie diese Prüfung übersteht«, sagte Joseph und pfiff dem Kookaburra zu.
Harry schaute ihn fragend an. Joseph hatte gesagt, daß der Sonntag sein Ruhetag sei, und er war wirklich nüchtern.
»Früher mußte die Frau eines Aborigines vor der Hochzeit erst drei Prüfungen überstehen«, erklärte Joseph. »Als erstes mußte sie den Hunger überwinden. Sie mußte zwei Tage umherwandern oder jagen, ohne etwas zu essen. Dann wurde sie ganz plötzlich vor ein Lagerfeuer mit einem fertig gebratenen, saftigen Känguruh oder einer anderen Delikatesse geführt. Die Prüfung war, sich zu beherrschen und nicht zu gierig zu sein, sondern nur so viel zu essen, daß auch für die anderen genug übrigblieb.«
»Bei uns gab es früher etwas Ähnliches«, sagte Harry. »Man nannte das Tischmanieren. Ich glaube aber, das gibt es nicht mehr.«
»Bei der zweiten Prüfung mußte sie versuchen, Schmerzen auszuhalten.« Joseph gestikulierte wild, während er erzählte. »Der jungen Frau wurden Nadeln durch Nase und Wangen getrieben, und man ritzte Zeichen auf ihren Körper.«
»Na und? Heute bezahlen die Mädchen dafür!«
»Halt's Maul, Harry. Als letztes, wenn das Feuer ausging, mußte sie sich, nur durch ein paar Zweige von der Glut getrennt, über die Feuerstelle legen. Aber die dritte Prüfung war die schwierigste.«
»Furcht?«
»You bet. Nachdem die Sonne untergegangen war, versammelten sich die Stammesmitglieder am Feuer, und die Ältesten erzählten ihr abwechselnd haarsträubende Geschichten über Geister und muldarpe, den Teufels-Teufel. Manche Geschichten waren ziemlich hart. Anschließend forderte man sie auf, abseits an einem verlassenen Ort oder nahe der Gräber der Ahnen zu schlafen. Im Dunkel der Nacht schlichen sich dann die Ältesten mit weißgemalten Gesichtern oder Masken aus Holz an …!«
»Das ist ja wie Eulen nach Athen tragen?«
»… und machten unheimliche Geräusche. Tut mir leid, daß ich das sagen muß, aber du bist wirklich ein mieses Publikum, Harry.«
Joseph sah beleidigt aus.
Harry rieb sich das Gesicht.
»Ich weiß«, sagte er nach einer Weile. »Tut mir leid, Joseph. Ich bin nur hierhergekommen, um ein bißchen laut zu denken und nachzuprüfen, ob er vielleicht ein paar Spuren hinterlassen hat, die mir ein paar Hinweise geben könnten, wo er sie hingebracht haben kann. Aber es sieht nicht so aus, als wenn ich irgendwie weiterkommen würde, und du bist der einzige, auf den ich das abwälzen kann. Du findest bestimmt, daß ich mich wie ein zynisches, gefühlloses Arschloch anhöre.«
»Du hörst dich an wie einer, der glaubt, gegen die ganze Welt kämpfen zu müssen«, sagte Joseph. »Aber wenn du nicht hin und wieder deine Deckung sinken läßt, werden deine Arme zu müde zum Schlagen werden!«
Harry mußte lächeln.
»Und du bist wirklich ganz sicher, daß du nicht einen älteren Bruder hattest?«
Joseph lachte.
»Wie gesagt, es ist zu spät, um meine Mutter nach so etwas zu fragen, aber ich glaube, sie hätte mir das gesagt.«
»Ihr hört euch einfach wie Brüder an.«
»Das hast du schon ein paarmal gesagt, Harry. Vielleicht solltest du versuchen, ein bißchen zu schlafen.«
Joes Gesicht hellte sich auf, als Harry durch die Tür der Springfield Lodge trat.
»Ein schöner Nachmittag, nicht wahr, Mr. Holy? Sie sehen heute sehr gut aus. Ich habe übrigens ein Päckchen für Sie.« Er streckte Harry ein in graues Papier gewickeltes Paket entgegen, auf dem mit großen Buchstaben Harry Holy stand.
»Von wem ist das?« fragte Harry verwundert.
»Ich weiß nicht, ein Taxifahrer hat das hier vor ein paar Stunden abgegeben.«
In seinem Zimmer legte Harry das Päckchen auf das Bett, entfernte das Papier und öffnete die zum Vorschein kommende Schachtel. Er hatte sich bereits gedacht, von wem das Päckchen stammen mußte, und der Inhalt beseitigte jegliche Zweifel: Sechs kleine Plastikröhrchen mit weißen Aufklebern. Er nahm eines der Röhrchen heraus. Es trug das Datum von Inger Holters Todestag und die Aufschrift ›pubic hair‹. Es bedurfte nicht allzu viel Phantasie, um festzustellen, daß die anderen Röhrchen Blut, Kopfhaare, Kleiderfetzen und so weiter enthielten. Und so war es dann auch.
Eine halbe Stunde später wurde er durch das Klingeln des Telefons geweckt.
»Hast du die Sachen bekommen, die ich dir geschickt habe, Harry? Ich dachte mir, daß du alles so schnell wie möglich haben wolltest.«
»Toowoomba.«
»Zu Diensten. Hähä.«
»Ich habe die Sachen bekommen. Inger Holter, nehme ich an. Ich bin neugierig, Toowoomba. Wie hast du sie ermordet?«
»Keine Hexerei«, sagte Toowoomba. »Fast zu einfach. Ich war in der Wohnung von einer Freundin, als Inger spät abends anrief.«
Aha, Otto ist also eine Freundin, wollte Harry sagen, hielt sich aber zurück.
»Inger brachte Fressen für den Hund meiner Freundin, oder besser, meiner ehemaligen Freundin. Ich war in die Wohnung gegangen, hatte aber den ganzen Abend alleine dort verbracht, denn meine Freundin war wie üblich die ganze Zeit unterwegs.«
Harry hörte, daß die Stimme einen schärferen Klang bekam.
»Bist du da nicht ein ziemlich großes Risiko eingegangen?« fragte Harry. »Es hätte ja jemand wissen können, daß sie zu der Wohnung deiner … äh, Freundin wollte?«
»Ich habe sie gefragt«, erwiderte Toowoomba.
»Du hast sie gefragt?« wiederholte Harry ungläubig.
»Es ist unglaublich, wie naiv die Menschen sein können. Sie antworten, bevor sie nachdenken, weil sie sich sicher fühlen und glauben, nicht denken zu müssen. Sie war ein so süßes, unschuldiges Mädchen. ›Nein, keiner weiß etwas davon, daß ich hier bin, warum?‹ hat sie mich sogar gefragt. Hähähä. Ich fühlte mich wie der Wolf in Rotkäppchen. Also erklärte ich ihr, daß sie mir sehr gelegen käme. Oder hätte ich sagen sollen, ungelegen? Hähä. Willst du den Rest auch noch hören?«
Harry wollte gerne den Rest hören. Am liebsten hätte er alles gewußt, bis ins kleinste Detail, wie Toowoomba als Kind gewesen war, wann er zum ersten Mal getötet hatte, warum er kein festes Ritual hatte, warum er die Frauen manchmal nur vergewaltigte, wie er sich nach den Morden fühlte und ob er, wie so viele Serienmörder, nach der Ekstase deprimiert war, weil es auch diesmal nicht perfekt war, nicht so, wie er es geträumt und geplant hatte. Er wollte wissen wie viele, wann und wo, welche Methoden und Werkzeuge. Und er wollte die Emotionen begreifen, die Leidenschaft verstehen, was die Triebkraft dieses Wahns war.
Aber er konnte es nicht. Nicht jetzt. In diesem Moment war es ihm egal, ob er Inger vor oder nach dem Mord vergewaltigt hatte, ob es eine Strafe war, weil Otto ihn alleine gelassen hatte, ob er sie hinterher gewaschen hatte oder ob er sie in der Wohnung oder im Auto getötet hatte. Harry wollte nicht wissen, ob sie ihn angefleht hatte, ob sie geweint oder Toowoomba angestarrt hatte, als sie wußte, daß sie in der nächsten Sekunde sterben würde. Er wollte es nicht wissen, weil es ihm nicht gelungen wäre, Ingers Gesicht nicht durch das von Birgitta zu ersetzen, das hätte ihm alle Kräfte geraubt und ihn schwach werden lassen.
»Woher wußtest du, wo ich wohne?« fragte Harry, um etwas zu sagen und das Gespräch nicht abzubrechen.
»Harry, bitte! Fängst du an, müde zu werden? Du hast mir doch beim letzten Mal, als wir zusammen weg waren, gesagt, wo du wohnst. Übrigens danke für den schönen Abend neulich, das habe ich beim letzten Anruf glatt vergessen.«
»Hör mal, Toowoomba …«
»Ich habe mich ernsthaft gefragt, warum du mich an diesem Abend angerufen und gefragt hast, ob ich dir helfen kann, Harry. Abgesehen davon, die beiden Anabolika-Smokings ein bißchen zurechtzustutzen. Das war ja so weit ganz spaßig, aber waren wir wirklich nur da, damit du dich bei diesem Zuhälter für die Sonderbehandlung bedanken konntest? Ich bin vielleicht kein großer Menschenkenner, Harry, aber für mich paßt das Ganze nicht recht zusammen. Du steckst mitten in den Ermittlungen über einen Mord und vergeudest deine Kräfte für so eine Lappalie, weil du in einem Nachtclub etwas grob angefaßt worden bist?«
»Nun …«
»Nun, Harry?«
»Nicht nur. Das Mädchen, das wir im Centennial Park gefunden haben, hat zufällig in diesem Nachtclub gearbeitet, und so hatte ich die Hoffnung, daß derjenige, der sie getötet hat, vielleicht im Club war, am Bühnenausgang auf sie gewartet und sie dann auf dem Weg nach Hause verfolgt hat. Ich wollte wissen, wie du reagieren würdest, wenn dir klarwerden würde, wohin wir gingen. Außerdem bist du ja eine ziemlich auffällige Erscheinung, und ich wollte Mongabi auf dich aufmerksam machen, um zu überprüfen, ob er dich am Abend zuvor bemerkt hatte.«
»No luck?«
»Nee, Fehlanzeige, ich nehme an, du warst nicht da.«
Toowoomba lachte.
»Ich hatte nicht einmal einen blassen Schimmer, daß sie Stripperin war«, sagte er. »Ich sah sie in den Park gehen und dachte mir auch da, daß ihr jemand sagen sollte, daß das um die Uhrzeit gefährlich sei. Und dann habe ich ihr demonstriert, was da so alles passieren kann.«
»Nun, dann ist die Sache ja wenigstens gelöst«, sagte Harry trocken.
»Schade, daß sich außer dir niemand darüber freuen können wird«, erwiderte Toowoomba.
Harry entschloß sich, aufs Ganze zu gehen.
»Weil es niemanden sonst gibt, der sich darüber freuen kann, kannst du mir ja vielleicht auch erklären, was mit Andrew in Otto Rechtnagels Wohnung geschehen ist. Denn deine Freundin, das war doch wohl Otto, nicht wahr?«
Am anderen Ende der Leitung wurde es still.
»Willst du nicht lieber wissen, wie es Birgitta geht?«
»Nein«, antwortete Harry und strengte sich an, nicht zu schnell und nicht zu laut zu reden. »Du hast mir versprochen, sie so zu behandeln, wie sich das für einen Gentleman gehört, und ich vertraue dir.«
»Ich hoffe, du versuchst nicht, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, Harry. Das wäre völlig nutzlos. Ich bin ein Psychopath. Überrascht es dich, daß ich das weiß?«
Toowoomba lachte leise.
»Erschreckend, nicht wahr? Wir Psychopathen sollten ja eigentlich nicht wissen, daß wir Psychopathen sind. Aber ich wußte das die ganze Zeit. Und Otto. Otto wußte, daß ich sie hin und wieder bestrafen mußte. Aber Otto konnte nicht länger schweigen. Er hatte es schon Andrew erzählt und war im Begriff, vollends zusammenzubrechen. Ich mußte ganz einfach etwas tun. An dem Nachmittag, an dem Otto seinen Auftritt im St. George-Theater hatte, bin ich in seine Wohnung gegangen, um alles, was eine Verbindung zu mir hätte herstellen können, zu beseitigen. Also alle Bilder, Geschenke, Briefe und so weiter. Da klingelte es plötzlich an der Tür. Ich schaute vorsichtig aus dem Schlafzimmerfenster und sah zu meinem Erstaunen, daß es Andrew war. Zuerst wollte ich nicht aufmachen. Aber dann wurde mir klar, daß mein ursprünglicher Plan kaum mehr durchzuführen war. Ich hatte nämlich vor, Andrew am nächsten Tag im Krankenhaus zu besuchen und ihm still und heimlich einen Teelöffel, ein Feuerzeug, eine Einmalspritze sowie ein kleines Tütchen mit seinem heißersehnten Junk, angereichert mit meiner eigenen Hausmischung, mitzubringen.«
»Ein tödlicher Cocktail.«
»So kann man das nennen.«
»Wie konntest du sicher sein, daß er das nehmen würde? Er wußte doch, daß du der Mörder bist.«
»Er wußte nicht, daß ich wußte, daß er es wußte. Wenn du mich verstehst, Harry? Er wußte nicht, daß Otto sich verraten hatte. Außerdem ist ein Junkie auf beginnendem Entzug bereit, gewisse Risiken einzugehen. Zum Beispiel, jemandem zu vertrauen, der ihn, wie er glaubt, wie einen Vater verehrt. Aber über all das brauchte ich jetzt ja nicht mehr nachzudenken. Er war aus dem Krankenhaus abgehauen und stand unten vor der Gartentür.«
»Du hast dich also entschlossen, ihn hereinzulassen.«
»Weiß du eigentlich, wie schnell ein menschliches Gehirn arbeiten kann, Harry? Weißt du, daß die langen, verdrehten Geschichten in unseren Träumen, in denen wir glauben, die ganze Nacht gesteckt zu haben, sich in Wirklichkeit in wenigen Sekunden hektischster Gehirnaktivität abgespielt haben? Ungefähr so ist mir dieser Plan in den Kopf gekommen. Plötzlich begriff ich, daß es möglich war, alles so aussehen zu lassen, als stehe Andrew Kensington hinter allem. Ich schwöre, daß ich bis zu diesem Moment noch nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht hatte. Ich drückte also den Türöffner und wartete hinter der Tür mit meinem Wunderlappen bewaffnet darauf, daß er heraufkam …«
» – Acethyläther.«
»… und anschließend habe ich Andrew an einen Stuhl gefesselt, das Spritzbesteck herausgeholt und ihm den Rest Heroin gespritzt, den er noch bei sich hatte, so daß ich sicher sein konnte, daß er sich ruhig verhielt, bis ich vom Theater zurückkam. Auf dem Rückweg habe ich dann noch mehr Junk gekauft, und Andrew und ich hatten einen wirklich guten Abend zusammen. Ja, wir haben richtig die Sau rausgelassen, sind völlig abgehoben, und als ich schließlich ging, hing Andrew an der Wohnzimmerlampe.«
Wieder dieses leise Lachen. Harry versuchte krampfhaft, tief und ruhig zu atmen. Er war so ängstlich wie noch nie zuvor in seinem Leben.
»Wie meinst du das? Du hast gesagt, daß du sie hin und wieder bestrafen mußtest?«
»Was?«
»Du hast eben gesagt, daß du sie bestrafen mußt.«
»Ach, das. Ja, wie du weißt, sind Psychopathen ja oft paranoid, wenn sie nicht auch noch unter anderen zwanghaften Wahnideen leiden. Meine Lebensaufgabe ist es, mein Volk zu rächen.«
»Indem du weiße Frauen vergewaltigst?«
»Kinderlose weiße Frauen.«
»Kinderlose?« fragte Harry verblüfft. Das war eine Gemeinsamkeit, auf die sie im Laufe ihrer Ermittlungen nicht gekommen waren, aber wie auch? Es war ja nicht ungewöhnlich, daß so junge Frauen keine Kinder hatten.
»Na klar. Hast du das wirklich nicht begriffen? Terra nullius, Harry! Als ihr hierherkamt, habt ihr uns als besitzlos definiert, weil wir keine Samen in die Erde gelegt haben. Ihr habt uns unser Land genommen und es vor unseren Augen vergewaltigt und getötet.«
Toowoomba brauchte gar nicht lauter zu sprechen. Seine Worte waren laut genug. »Nun, eure kinderlosen Frauen sind meine Terra nullius, Harry. Niemand hat sie befruchtet, also besitzt sie niemand. Ich folge nur der Logik des weißen Mannes und mache es genauso wie er.«
»Aber du sprichst doch selbst von zwanghaften Wahnvorstellungen, Toowoomba? Du begreifst doch, wie krank du bist.«
»Natürlich ist das krank. Aber es ist doch ganz normal, krank zu sein, Harry. Es wird doch erst gefährlich, wenn die Krankheit fehlt, denn dann hört der Körper auf zu kämpfen und ist kurz davor auseinanderzubrechen. Aber Zwangsvorstellungen, Harry, die darfst du nicht unterschätzen. Die sind in jeder Kultur wertvoll. Nimm die deine, zum Beispiel. Im Christentum wird doch ganz offen davon gesprochen, wie schwierig es ist zu glauben, daß Zweifel manchmal den klügsten und frommsten Priester heimsuchen können. Aber ist die Erkenntnis des Zweifels nicht das gleiche wie das Eingeständnis, daß der Glaube, nach dem man leben will, eine Zwangsvorstellung ist, die trügerische Vorstellung eines Zusammenhangs, gegen den man mit all seiner Vernunft ankämpft? Man sollte seine Zwangsvorstellung nicht so einfach aufgeben, Harry. Am anderen Ende des Regenbogens wartet vielleicht eine Belohnung.«
Harry ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Er versuchte, nicht an Birgitta zu denken, daran, daß sie keine Kinder hatte.
»Wie konntest du wissen, daß sie keine Kinder hatten?« hörte er sich selbst mit heiserer Stimme fragen.
»Ich habe gefragt.«
»Was …«
»Einige von ihnen haben behauptet, sie hätten Kinder, weil sie glaubten, ich würde sie dann verschonen. Sie hatten dann dreißig Sekunden, das zu beweisen. Eine Mutter, die nicht ein Bild von sich und ihrem Kind bei sich hat, ist keine Mutter, wenn du mich fragst.«
Harry mußte schlucken.
»Und warum mußten sie blond sein?«
»Keine absolute Voraussetzung. Das minimiert nur die Möglichkeit, daß sie Blut von meinem Volk in den Adern haben.«
Harry zwang sich, nicht an Birgittas milchigweiße Haut zu denken.
Toowoomba lachte leise.
»Ich verstehe ja, daß du einiges wissen willst, Harry, aber Telefonate mit dem Handy sind teuer, und Idealisten wie ich sind nicht gerade reich. Du weißt, was du zu tun hast – und was nicht.«
Damit war das Gespräch beendet. Die schnell hereinbrechende Dämmerung hatte den Raum mittlerweile in graues Dunkel gehüllt. Unter der Tür schoben sich zwei tastende Fühler einer Kakerlake hindurch, um zu testen, ob die Luft rein war. Harry deckte sich zu und krümmte sich zusammen. Draußen, auf dem Dach vor dem Fenster, begann ein einsamer Kookaburra sein abendliches Konzert, und in King's Cross ging man in die Startlöcher für eine neue, lange Nacht.
Harry träumte von Kristin. Vielleicht tat er das innerhalb von ein paar hektischen Sekunden, aber es handelte von einem halben Leben und konnte deshalb vielleicht doch länger gedauert haben. Sie trug seinen grünen Morgenmantel, streichelte ihm über die Haare und bat ihn, sie zu dem Ort, zu dem sie wollte, zu begleiten. Er fragte sie, wohin, doch da stand sie bereits in der offenen Balkontür, umgeben von flatternden Gardinen, und die im Innenhof spielenden Kinder machten so viel Lärm, daß er nicht hörte, was sie antwortete. Manchmal blendete ihn die Sonne, und er konnte sie nicht mehr sehen.
Er stand auf und ging auf sie zu, um zu hören, was sie gesagt hatte, aber sie lachte nur, trat auf den Balkon hinaus, kletterte auf das Geländer und entschwebte wie ein grüner Ballon. Sie erhob sich langsam über die Hausdächer und rief »Alle kommen! Alle kommen!« Später war er herumgerannt und hatte alle, die er kannte, gefragt, wo das Fest denn sein sollte, aber entweder wußten sie es nicht, oder sie waren bereits gegangen. Dann war er zum Frognerbad gegangen, aber er hatte nicht genug Geld dabei und mußte über den Zaun klettern.
Auf der anderen Seite des Zaunes hatte er bemerkt, daß er sich verletzt hatte. Sein Blut zeichnete eine rote Spur in das Gras und über die Fliesen und Treppen bis hinauf zum Zehner. Dort oben war niemand, und so legte er sich auf den Rücken, schaute in den Himmel und hörte den kleinen nassen Platschern zu, die seine Blutstropfen weit dort unten auf dem Beckenrand erzeugten. Hoch dort oben, nahe an der Sonne, glaubte er, eine schwebende grünliche Gestalt zu sehen. Er hielt sich die Hände wie ein Fernrohr vor die Augen und sah sie plötzlich ganz deutlich. Sie war so schön. Fast durchsichtig.
Einmal wachte er von einem Knall auf, der ein Pistolenschuß gewesen sein konnte, und lag da und lauschte dem Regen und dem Rauschen von King's Cross. Nach einer Weile schlief er wieder ein. Dann träumte Harry wieder von Kristin, die ganze Nacht. Nur daß sie ab und zu rote Haare hatte und Schwedisch sprach.
Es war neun Uhr.
Lebie lehnte seine Stirn an die Tür und schloß die Augen. Zwei Polizisten standen mit schußsicheren Westen neben ihm und verfolgten das Geschehen gebannt. Ihre Waffen waren bereit. Hinter ihnen standen Wadkins, Yong und Harry auf der Treppe.
»Okay«, sagte Lebie und zog den Dietrich vorsichtig aus dem Schlüsselloch.
»Denken Sie daran, nichts zu berühren, falls die Wohnung leer ist!« flüsterte Wadkins den Polizisten zu.
Lebie stellte sich neben den Türrahmen und öffnete die Tür, woraufhin die beiden Polizisten, die Pistolen vorschriftsmäßig in beiden Händen, in die Wohnung stürmten.
»Sind wir wirklich sicher, daß da drinnen kein Alarm losgehen kann?« flüsterte Harry.
»Wir haben alle Sicherheitsdienste der Stadt überprüft, bei keinem ist diese Wohnung registriert«, sagte Wadkins.
»Ruhe, was ist das für ein Geräusch?« sagte Yong.
Die anderen spitzten die Ohren, konnten aber nichts Auffälliges hören.
»Somit können wir also die Bombenleger-Theorie vergessen«, sagte Wadkins trocken.
Einer der Polizisten kam wieder heraus. »Alles klar«, sagte er. Sie atmeten erleichtert auf und betraten die Wohnung. Lebie versuchte, das Licht im Flur einzuschalten, aber es funktionierte nicht.
»Merkwürdig«, sagte er und versuchte das Licht in dem kleinen, aber ordentlichen Wohnzimmer einzuschalten, aber auch das ging nicht. »Da muß eine Sicherung durchgebrannt sein.«
»Das macht nichts«, sagte Wadkins. »Es ist hier drinnen doch hell genug. Harry, du übernimmst die Küche. Lebie ins Bad und Yong?«
Yong stand vor dem PC, der auf einem Schreibtisch am Wohnzimmerfenster stand.
»Ich habe so ein Gefühl …«, sagte er. »Lebie, nimm dir eine Taschenlampe und überprüfe den Sicherungskasten im Flur.«
Lebie ging hinaus, und kurz darauf brannte das Licht im Flur, und es kam Leben in den Computer.
»Scheiße«, sagte Lebie, als er wieder den Raum betrat. »Es war ein Draht um die Sicherung gewickelt, den mußte ich erst wegmachen. Er führte an der Wand entlang und endete in der Tür.«
»Ein elektronisches Türschloß, nicht wahr? Die Sicherung war mit dem Türschloß gekoppelt, so daß der Strom unterbrochen wurde, als wir die Tür öffneten. Das Geräusch, das wir gehört haben, war der Ventilator des Computers, der sich abgeschaltet hat«, sagte Yong und drückte auf die Tastatur. »Dieses Gerät hat ein rapid resume, so daß wir überprüfen können, welche Programme gestartet waren, bevor sich der Computer ausgeschaltet hat.«
Eine blaue Erdkugel erschien auf dem Schirm, und eine lustige, kurze Melodie wurde abgespielt.
»Das hab ich mir doch gedacht!« sagte Yong. »Dieses gerissene Arschloch! Seht ihr das?« Er zeigte auf ein Symbol auf dem Bildschirm.
»Yong, zum Teufel, laß uns damit jetzt keine Zeit vergeuden!« brummte Wadkins.
»Sir, kann ich mir mal einen Augenblick Ihr Handy ausleihen?« Der kleine Chinese schnappte sich, ohne auf eine Antwort zu warten, Wadkins kleines Nokia-Telefon. »Was hat der hier für eine Nummer?«
Harry las die Nummer, die auf dem Telefon stand, laut vor, und Yong gab sie ein. Gleichzeitig mit dem Klingeln des Telefons machte der Computer ein Geräusch, und das Symbol auf dem Bildschirm entfaltete sich in seiner vollen Größe.
»Psst«, sagte Yong.
Ein Pfeifton war zu hören. Yong schaltete sofort das Handy aus.
Wadkins' Stirn legte sich in tiefe Falten.
»Was in Gottes Namen treibst du da, Yong?«
»Sir, ich fürchte, Toowoomba hatte doch ein Alarmsystem aufgebaut, und diesen Alarm haben wir ausgelöst.«
»Wie das denn?« Wadkins' Geduld hatte offensichtlich Grenzen.
»Haben Sie gesehen, wie sich das Programm eingeschaltet hat? Das ist ein gewöhnliches Anrufbeantworterprogramm, das über ein Modem mit dem Telefon verbunden ist. Bevor Toowoomba geht, liest er über dieses Mikrophon hier seinen Spruch ein. Wenn jemand anruft, wird das Programm aktiviert und Toowoombas Spruch abgespielt, und nach dem Pfeifton, den Sie gehört haben, können Sie Ihre Nachricht hinterlassen, die dann direkt auf dem Computer eingelesen wird.«
»Yong, ich weiß, was ein Anrufbeantworter ist. Wo ist das Problem?«
»Sir, haben Sie bei meinem Anruf vor dem Pfeifton einen Spruch gehört?«
»Nein …«
»Eben, die Ansage war eingegeben, aber nicht gespeichert worden.«
Es dämmerte Wadkins.
»Sie wollen damit sagen, daß die Ansage gelöscht wurde, als sich der PC ausschaltete?«
»Genau, Sir.« Yong zeigte mitunter merkwürdige Reaktionen. Jetzt, zum Beispiel, lächelte er breit.
»Und das ist für ihn ein Alarmsignal, Sir.«
Harry lächelte nicht, als er sich über das Ausmaß der Katastrophe klarwurde. »Toowoomba muß also nur hier anrufen und hören, daß sein Spruch gelöscht wurde, um festzustellen, daß jemand in seine Wohnung eingebrochen ist. Und daß es sich bei diesem jemand um uns handelt, weiß er dann wohl.«
Es wurde still im Zimmer.
»Er wird hier niemals auftauchen, ohne vorher anzurufen«, sagte Lebie.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, fluchte Wadkins.
»Er kann jeden Moment anrufen«, sagte Harry. »Wir müssen Zeit gewinnen. Hat jemand einen Vorschlag?«
»Tja«, sagte Yong, »wir können mit der Telefongesellschaft reden und sie darum bitten, die Nummer zu sperren und statt dessen eine Fehlermeldung abzuspielen.«
»Und wenn er bei der Telefongesellschaft anruft?«
»Kabelbruch in der Umgebung aufgrund von … Erdbewegungen.«
»Das klingt nicht glaubhaft. Er muß dann ja bloß überprüfen, ob die Nummer seines Nachbarn funktioniert«, sagte Lebie.
»Wir müssen die Telefone im ganzen Viertel abschalten«, sagte Harry. »Schaffen Sie das, Wadkins?«
Wadkins kratzte sich hinter dem Ohr.
»So ein Scheiß! So ein scheiß Chaos, warum nur …«
»Es eilt, Sir!«
»Verdammt! Geben Sie mir das Telefon, Yong. Das muß McCormack regeln. Wie auch immer, wir können die Telefone des ganzen Viertels nicht allzulang abschalten, Holy. Wir müssen uns Gedanken über den nächsten Schritt machen! So eine Scheiße!«
Es war halb zwölf.
»Nichts«, sagte Wadkins, »nicht ein kleiner Hinweis!«
»Nun, wir konnten wohl kaum erwarten, daß hier ein Zettel liegt, auf dem steht, wo er sie versteckt hält!« sagte Harry. Lebie kam aus dem Schlafzimmer. Er schüttelte den Kopf. Auch Yong, der den Keller und den Dachboden durchsucht hatte, brachte keine interessanten Neuigkeiten. Sie setzten sich ins Wohnzimmer.
»Das ist fast schon merkwürdig«, sagte Harry. »Wenn wir gegenseitig unsere Wohnung durchsuchen würden, wir würden immer etwas finden. Einen interessanten Brief, ein verstecktes Pornoheftchen, ein Bild von einer ehemaligen Freundin, einen Fleck auf dem Bettlaken, irgend etwas. Aber dieser Kerl hier ist ein Serienmörder, und wir finden absolut nichts, was darauf hindeutet, daß er ein normales Leben führt.«
»Ich habe noch niemals eine so normale Junggesellenwohnung gesehen«, sagte Lebie.
»Die ist zu normal«, entgegnete Yong. »Das ist fast unheimlich.«
»Was übersehen wir?« fragte Harry.
»Wir sind überall gewesen«, sagte Wadkins. »Wenn es Spuren gibt, dann nicht hier. Das einzige, was der Typ, der hier wohnt, tut, ist essen, schlafen, fernsehen, scheißen und Telefonansagen auf seinen PC sprechen.«
»Du hast recht«, unterbrach ihn Harry. »Der Mörder Toowoomba wohnt nicht hier. Hier wohnt ein ganz normaler Kerl, der sich nicht davor fürchten muß, wenn man ihm genauer in die Karten schaut. Aber der andere? Kann es noch einen anderen Ort geben? Eine andere Wohnung, ein Ferienhaus?«
»Auf jeden Fall nichts, das auf seinen Namen registriert ist«, sagte Yong. »Das habe ich überprüft, bevor wir hierhergekommen sind.«
Das Handy klingelte. Es war McCormack. Er hatte mit der Telefongesellschaft gesprochen. Bei dem Argument, es gehe um ein Menschenleben, hatte man gekontert, daß es durchaus auch um Menschenleben gehen könnte, wenn die Bewohner des Viertels versuchten, den Rettungswagen zu rufen. Aber es war McCormack mit der Unterstützung des Bürgermeisters trotzdem gelungen, die Telefone dieses Blocks bis abends um sieben abzuschalten.
»Jetzt können wir hier drin ruhig auch rauchen«, sagte Lebie und fischte ein dünnes Zigarillo aus seiner Tasche, »Asche auf den Teppich streuen und dicke Fußspuren im Flur hinterlassen. Hat jemand Feuer?«
Harry holte eine Schachtel Streichhölzer aus seiner Jacke und gab ihm Feuer. Er blieb sitzen und betrachtete die Streichholzschachtel mit offensichtlich steigendem Interesse.
»Wißt ihr, was das Besondere an diesen Streichhölzern hier ist?« fragte er.
Die anderen schüttelten pflichtbewußt die Köpfe.
»Hier steht, daß die wasserfest sind. ›Für alle, die sich am Meer oder in den Bergen aufhalten.‹ Hat jemand von euch wasserfeste Streichhölzer?«
Erneutes Kopfschütteln.
»Täusche ich mich, oder muß man in Spezialgeschäfte gehen, um so etwas zu kaufen, und daß die wohl etwas mehr als gewöhnlich kosten?«
Die anderen zuckten mit den Schultern.
»Auf jeden Fall sind das nicht normale, ich habe solche Streichhölzer noch nie gesehen«, sagte Lebie.
Wadkins schaute sich die Schachtel genauer an.
»Ich glaube, mein Schwager hat solche Streichhölzer auf seinem Boot«, sagte er.
»Die hab ich von Toowoomba«, sagte Harry, »er hat sie mir auf der Beerdigung gegeben.«
Es entstand eine Pause. Yong räusperte sich.
»Draußen im Gang hängt ein Bild von einem Segelboot«, sagte er zögernd.
Es war ein Uhr.
»Vielen Dank für deine Hilfe, Liz«, sagte Yong und legte das Handy zur Seite. »Wir haben es! Es liegt im Hafen der Lady Bay und ist auf einen Gert van Hoos registriert.«
»Okay«, sagte Wadkins. »Yong, du bleibst mit den zwei Beamten hier, falls Toowoomba doch noch auftaucht. Lebie, Harry und ich nehmen den Wagen und fahren da jetzt sofort hin.«
Es war wenig Verkehr, und Lebies neuer Toyota summte mit 120 vergnügt über die New South Head Road.
»No backup, Sir?« fragte Lebie.
»Wenn er dort ist, sind drei Mann mehr als genug«, sagte Wadkins. »Nach Aussage von Yong hat er keinen Waffenschein, und ich glaube auch nicht, daß er ein Typ ist, der gleich rumballert.«
Harry konnte sich nicht mehr beherrschen.
»Was ist das für ein Gefühl, Sir? Ist es das gleiche, das Ihnen gesagt hat, daß es eine gute Idee ist, in seine Wohnung einzubrechen? Oder den Sender in ihrer Tasche zu verstecken?«
»Holy, ich …«
»Ich frage ja nur, Sir. Wenn wir uns auf Ihr Gefühl verlassen sollen, dann müssen wir ja wohl, in Anbetracht all dessen, was geschehen ist, davon ausgehen, daß er sofort die Knarre zieht. Nicht daß …«
Harry spürte, daß er laut geworden war, und senkte ein wenig seine Stimme. Jetzt nicht, sagte er zu sich selbst. Noch nicht. Und dann vollendete er deutlich leiser seinen begonnenen Satz.
»Nicht daß ich etwas dagegen hätte, das heißt nur, daß ich ihn dann ja mit Blei vollpumpen darf.«
Wadkins zog es vor, nicht zu antworten, sondern statt dessen mit saurer Miene aus dem Fenster zu starren, während sie schweigend dahinfuhren. Im Rückspiegel sah Harry Lebies vorsichtiges, unergründliches Lächeln.
Es war halb zwei.
»Lady Bay Beach«, sagte Lebie und zeigte nach vorne. »Übrigens ein passender Name. Das ist nämlich Sydneys Schwulenstrand Nummer eins.«
Sie entschlossen sich, den Wagen außerhalb des Hafengeländes abzustellen, und gingen über eine Grasfläche zu dem kleinen Yachthafen hinunter. Die Masten der Boote ragten an beiden Seiten des schwimmenden Anlegers in die Höhe.
Am Eingang des Geländes saß eine schläfrige Aufsicht in einer sonnengebleichten, blauen Uniformjacke. Der alte Mann lebte auf, als Wadkins ihm die Polizeimarke unter die Nase hielt, und beschrieb ihnen sofort, wo das Boot von Gert van Hoos lag.
»Ist jemand an Bord?« fragte Harry.
»Nicht daß ich wüßte«, sagte die Aufsicht. »Aber es ist jetzt im Sommer ein bißchen schwierig, die Übersicht zu behalten. Ich glaube aber, daß schon seit ein paar Tagen niemand mehr auf dem Boot war.«
»Und davor?«
»Ja, wenn ich mich nicht täusche, war Herr van Hoos am späten Samstagabend hier. Er parkt seinen Wagen immer ganz unten am Wasser. Im Laufe der Nacht ist er dann wieder gefahren.«
»Und seitdem war niemand auf seinem Boot?« fragte Wadkins.
»Nicht während meiner Schicht. Aber ich bin hier ja zum Glück nicht alleine.«
»War er allein?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Hat er etwas an Bord gebracht? Hat er etwas getragen?«
»Bestimmt. Ich weiß nicht mehr. Die meisten bringen aber irgend etwas mit.«
»Können Sie uns Mr. van Hoos kurz beschreiben?« fragte Harry.
Die Aufsicht kratzte sich am Kopf. »Nein, eigentlich nicht.«
»Warum nicht?« fragte Wadkins überrascht.
Die Aufsicht druckste herum. »Nun, äh, um ehrlich zu sein, für mich sehen alle Aborigines gleich aus.«
Die Sonne glitzerte auf dem ruhigen Wasser zwischen den Anlegern, aber weiter hinten rollten große schwere Wellen auf den Strand zu. Als sie langsam über den schwimmenden Anleger gingen, bemerkte Harry, daß der Wind hier draußen kräftiger blies. Sie erkannten das Boot an dem Namen »Adelaide« und der Registrierungsnummer wieder, die seitlich auf den Rumpf geschrieben waren. Die »Adelaide« gehörte nicht zu den größten Booten des Yachtclubs, aber sie sah sehr gepflegt aus. Yong hatte ihnen erklärt, daß Segelboote mit Hilfsmotor erst ab einer bestimmten Größe registrierungspflichtig waren, daß sie also eine gehörige Portion Glück gehabt hätten. So viel, daß Harry das unbehagliche Gefühl hatte, es könne schon aufgebraucht sein. Der Gedanke, daß Birgitta vielleicht an Bord sein könnte, ließ sein Herz hart und heftig schlagen.
Wadkins signalisierte Lebie, als erster an Bord zu gehen. Harry entsicherte seine Pistole und zielte auf die Kabinenluke, während Lebie vorsichtig seine Füße auf das Achterdeck stellte. Wadkins stolperte bei dem Versuch, an Bord zu gehen, über das Ankerseil und knallte mit seinem Fuß hart auf das Kabinendeck. Sie hielten inne und lauschten, doch außer dem Wind und den Wellen, die sachte an der Seite des Bootes schmatzten und plätscherten, war nichts zu hören. Sowohl die Luke zum Salon als auch die zur Achterkabine waren mit Vorhängeschlössern verriegelt. Lebie kramte die Dietriche heraus und begann zu arbeiten, und nach wenigen Minuten war das Problem aus der Welt.
Lebie öffnete die Luke zum Salon, und Harry kletterte als erster hinein. Es war dunkel dort unten, und Harry hockte sich mit gezückter Pistole hin, bis Wadkins unten war und die Vorhänge zur Seite gezogen hatte. Das Boot war einfach, aber geschmackvoll eingerichtet. Der Salon war aus Mahagoni, ansonsten jedoch gab es keinen Überfluß. Eine Seekarte lag ausgebreitet auf dem Salontisch. Über dem Tisch hing ein Bild von einem jungen Boxer.
»Birgitta!« rief Harry. »Birgitta!«
Wadkins berührte seine Schulter.
»Sie ist nicht hier«, stellte Lebie fest, nachdem sie das Boot von der Achterkabine bis zur Bugspitze durchsucht hatten. Wadkins hatte seinen Kopf in einer der Kisten unter den Sitzen des Achterdecks vergraben.
»Vielleicht war sie hier«, sagte Harry und blickte über das Meer. Der Wind hatte aufgefrischt, und die Wellenberge weiter draußen hatten weiße Schaumkronen bekommen.
»Wir bestellen die Jungs von der Spurensicherung her, mal sehen, was die finden«, sagte Wadkins und richtete sich auf. »Das heißt dann aber, daß er noch ein Versteck hat, von dem wir keine Ahnung haben.«
»Oder …«, sagte Harry.
»Blödsinn! Er hat sie irgendwo versteckt, wir müssen sie bloß finden!«
Harry hockte sich hin. Der Wind spielte mit seinen Haaren. Lebie versuchte, sich ein Zigarillo anzustecken, gab aber schließlich nach ein paar ergebnislosen Versuchen auf.
»Was machen wir jetzt?« fragte er.
»Wir sollten auf jeden Fall hier vom Boot verschwinden«, sagte Wadkins. »Er kann uns oben vom Weg sehen, wenn er kommt.«
Sie standen auf, schlossen die Luken, und Wadkins machte einen großen Schritt über das Ankertau, um nicht noch einmal zu stolpern.
Lebie blieb stehen.
»Was ist los?« fragte Harry.
»Nun«, sagte Lebie, »ich verstehe ja nicht so viel von Booten, aber ist das da üblich?«
»Was denn?«
»Den Anker zu setzen, wenn man vorne und hinten am Anleger vertäut ist?«
Sie schauten einander an.
»Los, faß mit an«, sagte Harry.
Es war drei Uhr.
Sie rasten über die Straße. Die Wolken rasten am Himmel. Die Bäume am Rand des Weges schüttelten sich und winkten sie weiter. Das Gras drückte sich flach an den Boden, und es knackte im Funkgerät. Die Sonne war verblaßt, und dunkle Schatten huschten über das Meer.
Harry saß auf dem Rücksitz, aber er sah nichts von dem Sturm, der um sie herum aufkam. Er sah nur das grüne schmierige Tau, das sie mit langsamen, schweren Zügen aus dem Meer gezogen hatten. Die Wassertropfen waren wie glitzernde Kristallstückchen aus dem Tau ins Wasser zurückgefallen, und weit dort unten hatte er eine weiße Kontur erkennen können, die sich ihnen langsam näherte.
Einmal in den Sommerferien hatte Vater ihn im Ruderboot mitgenommen. Sie hatten einen Heilbutt gefangen. Der war weiß gewesen und unbeschreiblich groß, und auch da hatte Harry einen ganz trockenen Mund bekommen, und seine Hände hatten gezittert. Mutter und Großmutter hingegen hatten die Hände begeistert über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie mit ihrem Fang in die Küche gekommen waren, und hatten sofort begonnen, den kalten, blutigen Fischkörper mit großen, glänzenden Messern zu zerschneiden. Den Rest des Sommers hatte Harry von dem schweren Heilbutt geträumt. Von den herausquellenden Augen, die schockiert erstarrt waren, als wollten sie nicht glauben, daß er jetzt sterben mußte. An Weihnachten hatte er dann große, geleeartige Stücke auf seinem Teller gehabt, und sein Vater hatte stolz erzählt, wie Harry und er den großen Heilbutt aus dem Isfjord gezogen hatten. »Wir haben gedacht, wir essen dieses Jahr Weihnachten mal etwas anderes«, hatte seine Mutter gesagt. Es hatte nach Tod und Verwesung geschmeckt, und verbittert und wütend war Harry vom Tisch aufgestanden.
Und jetzt saß er auf dem Rücksitz eines rasenden Autos. Er schloß die Augen und sah sich selbst ins Wasser hinabstarren, in dem etwas schimmerte, das aussah wie eine Feuerqualle, die bei jedem Ruck mit dem Tau ihre roten Nesselfäden anlegte, um sie sogleich wieder auszubreiten, als wolle sie davonschwimmen. Als sie an die Oberfläche kam, breitete sie ihre Fäden fächerförmig aus, als versuchte sie den nackten weißen Körper darunter zu verbergen. Das Ankertau war um den Hals gewickelt, und der leblose Körper kam Harry merkwürdig fremd vor. Als ginge er ihn nichts an.
Aber als sie sie auf den Rücken drehten, spürte Harry ihn wieder. Diesen Blick von diesem Sommer. Ein gebrochener Blick, der eine überraschte, klagende letzte Frage ausdrückte: Ist das alles? Bedeutet das wirklich, daß es so mir nichts, dir nichts zu Ende ist? Sind Leben und Tod wirklich so banal?
»Ist sie das?« hatte Wadkins gefragt, und Harry hatte die Frage verneint.
Als er die Frage wiederholt hatte, war Harrys Blick auf das Schulterblatt gefallen, über das sich neben einem noch weißeren Streifen, an dem das Bikinioberteil gesessen hatte, rote Haut spannte.
»Sie hat sich verbrannt«, hatte er verwundert gesagt. »Sie bat mich, sie auf dem Rücken einzucremen. Sie sagte, sie vertraue mir, aber sie hat sich verbrannt.«
Wadkins hatte sich vor ihn gestellt und seine Hände auf Harrys Schultern gelegt. »Es ist nicht deine Schuld, Harry. Hörst du? Es wäre so oder so passiert. Es ist nicht deine Schuld!«
Es war jetzt merklich dunkler geworden, und ein paar gewaltige Böen rissen und zerrten an den großen Eukalyptusbäumen, so daß es aussah, als wollten sie sich losreißen und, vom Sturm zum Leben erweckt, herumlaufen. »Die Adler singen«, sagte Harry plötzlich vom Rücksitz. Seit sie losgefahren waren, hatte niemand auch nur ein Wort gesagt. Wadkins drehte sich um, und Lebie schaute ihn über den Rückspiegel an. Harry räusperte sich laut.
»Andrew hat das mal gesagt. Daß die Adler und die Menschen der Adlerfamilie die Macht hätten, mit ihrem Gesang Sturm und Regen zu erzeugen. Er erzählte, daß die große Flut von der Adlerfamilie heraufbeschworen worden war, sie hatten gesungen und sich mit den Flintmessern blutig geschnitten, um den Platybus — das Schnabeltier – zu ertränken.« Er lächelte andeutungsweise. »Fast alle Schnabeltiere starben. Aber einige überlebten. Wißt ihr, wie sie das geschafft haben? Sie lernten, unter Wasser zu atmen.«
Die ersten dicken Regentropfen legten sich zitternd auf die Windschutzscheibe.
»Wir haben wenig Zeit«, sagte Harry. »Es wird nicht mehr lange dauern, bis Toowoomba merkt, daß wir ihm auf den Fersen sind, und dann wird er schneller verschwinden als eine Erdratte in ihrem Loch. Ich bin der einzige, der eine Verbindung zu ihm hat, und ihr sitzt jetzt da und fragt euch, ob ich das schaffe. Nun, was soll ich sagen? Ich glaube, ich habe dieses Mädchen geliebt.«
Wadkins sah betroffen aus. Lebie nickte langsam.
»Aber ich habe mir vorgenommen, unter dem Wasser zu atmen«, sagte Harry.
Es war halb vier, und niemand im Besprechungszimmer bemerkte das Klagelied des Ventilators.
»Gut, wir wissen, wer unser Mann ist«, sagte Harry. »Und wir wissen, daß er glaubt, daß wir es nicht wissen. Vermutlich glaubt er, daß ich zur Zeit versuche, Beweise gegen Evans White heranzuschaffen. Aber ich befürchte, daß diese Situation nicht allzulange anhalten wird. Die Zeit, in der wir in all den Haushalten die Telefone blockieren dürfen, ist begrenzt, und außerdem wirkt das um so unglaubwürdiger, je länger es dauert, diesen angeblichen Fehler zu beheben.
Wir haben Beamte bei ihm zu Hause, für den Fall, daß er auftaucht. Ebenso am Segelboot. Doch ich persönlich bin mir sicher, daß er viel zu vorsichtig ist, etwas Dummes zu tun, ohne sich vorher zu vergewissern, daß die Luft rein ist. Es ist wohl anzunehmen, daß ihm im Laufe des Abends klar wird, daß wir in seiner Wohnung waren. Wir haben nur zwei Alternativen. Wir können Alarm schlagen, über das Fernsehen die Fahndung einleiten und hoffen, daß wir ihn kriegen, bevor er verschwindet. Dagegen spricht, daß jemand, der so einen Alarm bei sich zu Hause eingerichtet hat, sicher auch über alles weitere nachgedacht hat. Sobald er sein Bild auf dem Bildschirm gesehen hat, riskieren wir, daß er wie vom Erdboden verschluckt sein wird. Die zweite Alternative verlangt von uns, die wenige Zeit zu nutzen, die wir noch haben, bevor er unseren Atem in seinem Nacken spürt, ihn zu schnappen, solange er sich noch sicher fühlt … nun, äh, relativ sicher.«
»Ich bin dafür, ihn zu schnappen«, sagte Lebie und entfernte tatsächlich ein einzelnes Haar von seiner Schulter.
»Ihn schnappen?« brummte Wadkins. »Wir befinden uns in einer Millionenstadt und haben nicht die geringste Ahnung, wo er steckt. Wir wissen ja nicht einmal, ob er noch in Sydney ist!«
»Sagen Sie das nicht«, sagte Harry. »Die letzten anderthalb Stunden war er jedenfalls in Sydney.«
»Was? Willst du damit sagen, daß er observiert wird?«
»Yong?« Harry überließ das Wort dem noch immer lächelnden Chinesen.
»Das Handy!« begann er. Als habe man ihn gebeten, seine Noten vor der ganzen Klasse laut vorzulesen.
»Alle Handytelefonate laufen über Zwischenstationen, die die Telefonsignale entgegennehmen und weiterleiten. Die Telefongesellschaften können somit feststellen, von welchen Abonnenten Signale bei den unterschiedlichsten Stationen eingehen. Jede Zwischenstation deckt ungefähr einen Radius von einer Meile ab. In gut ausgebauten Arealen, also in dicht besiedelten Gebieten, wird ein Telefon in der Regel von mehreren Zwischenstationen gleichzeitig abgedeckt. Das ist vergleichbar mit den Radiosendern. Das heißt, daß die Telefongesellschaften, wenn man telefoniert, angeben können, wo im Umkreis von einer Meile man sich befindet. Wenn das Gespräch bei zwei Basisstationen gleichzeitig eingeht, kann der Bereich auf die Überlappungszone dieser Stationen eingeschränkt werden. Werden die Signale von drei Basisstationen aufgefangen, ist der Bereich noch kleiner und so weiter und weiter. Die Handys können also nicht bis zu einer bestimmten Wohnung zurückverfolgt werden, sie können aber einen guten Anhaltspunkt geben«, erklärte Yong.
»Wir stehen im Moment in Kontakt mit drei Mitarbeitern der Telefongesellschaft, die nichts anderes tun, als die Signale von Toowoombas Handy zu verfolgen. Wir können gerne eine offene Leitung hierher schalten. Vorläufig empfangen wir nur simultane Signale von zwei Stationen, und der Bereich deckt die ganze City, den Hafen und halb Woolloomoooloo ab. Die gute Nachricht aber ist, daß er sich bewegt«, fuhr Yong fort.
»Und wir warten jetzt auf ein bißchen Glück«, sagte Harry.
»Wir hoffen, daß wir aus einem der kleinen Bereiche Signale empfangen, die von drei oder mehr Stationen abgedeckt werden. Gelingt uns das, können wir sofort mit allen Zivilfahrzeugen ausrücken, und dann dürfen wir uns eine gewisse Hoffnung machen, ihn zu finden.«
Wadkins sah nicht überzeugt aus.
»So, er hat also im Laufe der letzten anderthalb Stunden telefoniert, und beide Male wurden die Signale von Basisstationen in Sydney aufgefangen?« fragte er. »Und wir sind jetzt abhängig davon, daß er weiter sein blödes Telefon benutzt, um ihn zu finden? Und was, wenn er nicht telefoniert?«
»Wir können ihn doch anrufen?« schlug Lebie vor.
»Genau!« sagte Wadkins. Er war aufgebracht und hatte rote Flecken im Gesicht. »Eine Superidee! Wir rufen ihn jede Viertelstunde an und geben uns als Rotkäppchen und die liebe Großmutter aus! Und nur, um ihm klarzumachen, daß es vielleicht nicht schlau ist, sein Telefon zu benutzen?«
»Das ist nicht nötig«, sagte Yong. »Er braucht nicht zu telefonieren.«
»Wie …«
»Es reicht, daß sein Telefon eingeschaltet ist«, sagte Harry.
»Toowoomba ist sich ganz offensichtlich nicht darüber im klaren, aber solange ein Handy nicht abgeschaltet ist, sendet es automatisch jede halbe Stunde kleine Signale aus. Einfach um zu zeigen, daß es noch empfangsbereit ist. Diese Signale werden von den Basisstationen genauso empfangen wie richtige Gespräche.«
»Dann …«
»Dann schalten wir also diese offene Leitung hierher, kochen Kaffee, setzen uns hin und hoffen.«
Eine metallische Stimme erklang durch das an einen Lautsprecher angeschlossene Telefon:
»Wir empfangen sein Signal an Basisstation 3 und 4.«
Yong zeigte auf die Karte von Sydney, die an der Tafel aufgehängt worden war. Dort waren numerische Kreise eingezeichnet, die die Deckungsbereiche der einzelnen Basisstationen angaben.
»Pyrmont, Glene und ein Stück von Baimain.«
»Scheiße!« sagte Wadkins. »Ein zu großes Gebiet. Wieviel Uhr ist es? Hat er versucht, bei sich zu Hause anzurufen?«
»Es ist sechs Uhr«, sagte Lebie. »Er hat in der letzten Stunde zweimal versucht, in seiner Wohnung anzurufen.«
»Er wird bald ahnen, daß da etwas faul ist«, sagte McCormack und stand wieder auf.
»Noch nicht«, sagte Harry leise. Er hatte während der letzten zwei Stunden still und ruhig auf einem Stuhl ganz hinten an der Wand gesessen.
»Etwas Neues vom Wetterbericht?« fragte Wadkins.
»Nur, daß es noch schlimmer werden soll«, sagte Lebie. »In der Nacht soll der Sturm noch schlimmer werden, Orkanböen.«
Die Minuten rannen ihnen durch die Finger. Yong holte neuen Kaffee.
»Hallo!« Die Stimme aus dem Telefon meldete sich.
Wadkins sprang auf. »Ja?«
»Der Abonnent hat soeben ein Gespräch begonnen. Wir haben sein Signal in den Stationen 3, 4 und 7 aufgefangen.«
»Warten Sie!« Wadkins warf einen Blick auf die Karte. »Das bedeutet ein Stück von Pyrmont und Darling Harbour, nicht wahr?«
»Richtig.«
»Scheiße! Wenn doch noch ein bißchen an den Stationen 9 oder 10 aufgefangen worden wäre, dann hätten wir ihn!«
»Wenn er sich nicht bewegen würde, ja«, sagte McCormack. »Wen hat er angerufen?«
»Die Störungsstelle der Telefongesellschaft«, sagte die metallische Stimme. »Er wollte wissen, was für ein Problem es mit seiner Nummer gibt.«
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Wadkins hatte einen krebsroten Kopf. »Er entwischt uns! Wir müssen Alarm schlagen! Mit Mann und Maus ausrücken!«
»Halt's Maul!«. Es wurde plötzlich still. »Entschuldigen Sie die Wortwahl, Sir«, sagte Harry. »Aber ich schlage vor, daß wir auf das nächste Signal warten, bevor wir etwas überstürzen.«
Wadkins starrte Harry mit hervorstehenden Augen an.
»Holy hat recht«, sagte McCormack. »Setzen Sie sich, Wadkins. In weniger als einer Stunde wird die Telefonsperre aufgehoben. Das heißt, wir werden ein oder maximal zwei Signale von Toowoomba empfangen, bis er herausbekommen wird, daß nur sein Telefon blockiert ist. Pyrmont und Darling Harbour sind nicht gerade große Gebiete, aber wir reden hier immerhin von den Teilen der City, in denen abends und nachts die meisten Menschen sind. Einen Haufen Wagen dorthin zu schicken, würde nur zu einem gewaltigen Chaos führen, in dem Toowoomba verschwinden könnte. Wir warten.«
Zehn nach halb sieben ertönte eine neue Mitteilung durch den Lautsprecher.
»Das Signal wird noch immer von den Stationen 3, 4 und 7 aufgefangen.«
Wadkins stöhnte.
»Danke«, sagte Harry und schaltete den Lautsprecher ab. »Das gleiche Gebiet wie beim letzten Mal, das kann bedeuten, daß er sich nicht mehr bewegt. Also, wo kann er sein?«
Sie stellten sich vor die Karte.
»Vielleicht trainiert er«, sagte Lebie.
»Eine gute Idee!« meinte McCormack. »Gibt es da in der Gegend einen Boxclub? Weiß jemand, wo er normalerweise trainiert?«
»Ich überprüfe das, Sir«, sagte Yong und verschwand durch die Tür.
»Andere Vorschläge?«
»In der Gegend gibt es ja massenhaft Touristenattraktionen, die den ganzen Abend geöffnet sind«, schlug Lebie vor. »Vielleicht ist er in den chinesischen Gärten.«
»Bei dem Wetter wird er sich wohl eher drinnen aufhalten«, sagte McCormack.
Yong kam zurück und schüttelte den Kopf.
»Ich habe seinen Trainer angerufen. Er wollte zuerst nichts sagen, also hab ich gesagt, ich sei Polizist. Sein Trainingslokal liegt draußen in Bondi Junction.«
»Na wunderbar!« fluchte Wadkins. »Was meinst du, wie lange es dauert, bis sein Trainer Toowoombas Handynummer wählt, um zu fragen, warum zum Teufel er von der Polizei gesucht wird?«
»Es wird brenzlig«, sagte Harry. »Ich rufe Toowoomba an.«
»Um zu sehen, wo er ist?« sagte Wadkins.
»Um zu sehen, was passiert«, erwiderte Harry und nahm den Telefonhörer. »Lebie, check noch einmal ab, ob das Tonbandgerät auch läuft, und alle halten jetzt die Klappe!«
Alle erstarrten. Lebie warf einen Blick auf das alte Aufzeichnungsgerät, nickte mit dem Kopf und machte ein Zeichen mit dem Daumen. Harry schluckte. Seine Finger fühlten sich auf der Tastatur ganz taub an. Es klingelte dreimal, bevor Toowoomba antwortete.
»Hallo?«
Stimmen … Harry hielt den Atem an. Im Hintergrund waren Menschen zu hören.
»Wer ist am Apparat?« fragte Toowoomba leise.
Im Hintergrund war ein Geräusch zu hören, gefolgt von fröhlichem Kinderlachen. Dann hörte er Toowoombas tiefes, ruhiges Lachen.
»Aber nein, bist du das, Harry? Das ist ja witzig, daß du jetzt anrufst, ich habe nämlich gerade an dich gedacht. Mit meinem Telefon zu Hause scheint etwas nicht in Ordnung zu sein, und ich frage mich, ob du nicht etwas damit zu tun hast. Ich hoffe doch, ich irre mich da, Harry?«
Da war noch ein Geräusch. Harry konzentrierte sich, aber es gelang ihm nicht, es zu identifizieren.
»Ich werde unruhig, wenn du mir nicht antwortest, Harry. Sehr unruhig. Ich weiß nicht, was du willst, aber vielleicht sollte ich dieses Handy ausschalten. Ist es das, was du willst, Harry? Versuchst du mich zu finden?«
Dieses Geräusch …
»Verdammt!« rief Harry. »Er hat aufgelegt.«
Er ließ sich auf den Stuhl fallen.
»Toowoomba hat begriffen, daß ich dran war. Wie konnte ihm das gelingen?«
»Spul das Band zurück«, sagte McCormack. »Und hol Marguez.«
Yong verließ den Raum, während sie das Band noch einmal abspielten.
Harry konnte es nicht beeinflussen, er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, als er erneut Toowoombas Stimme über den Lautsprecher hörte.
»Dies ist auf jeden Fall ein Ort, an dem sich sehr viele Menschen aufhalten«, sagte Wadkins. »Was ist das für ein Klatschen? Hört mal, da sind Kinder! Ist das ein Jahrmarkt?«
»Spul das Band zurück und laß es uns noch einmal hören«, bat McCormack.
»Wer ist am Apparat?« wiederholte Toowoomba, gefolgt von einem lauten Geräusch und Kindergeschrei.
»Was ist …?« begann Wadkins.
»Das ist ein kräftiges Wasserplätschern«, sagte eine Stimme in der Tür. Sie drehten sich um. Harry sah einen kleinen, braunen Kopf mit schwarzen Locken, einem schmalen Bart und winzigen, dicken Brillengläsern, der auf einem gewaltigen, wie von einer Fahrradpumpe aufgeblasenen Körper saß. Er schien jeden Moment zu platzen.
»Jesus Marguez – die besten Ohren in der Branche«, sagte McCormack, »und dabei ist er noch nicht einmal blind.«
»Nur fast«, murmelte Marguez und schob seine Brille zurecht. »Was habt ihr da?«
Lebie spielte das Band noch einmal ab. Marguez lauschte mit geschlossenen Augen.
»Ein geschlossener Raum, gemauerte Wände und Glas. Keinerlei Dämpfung, keine Teppiche oder Gardinen. Menschen, junge Menschen beiderlei Geschlechts. Vermutlich ein paar Familien mit kleinen Kindern.«
»Wie können Sie das alles aus diesem bißchen Lärm entnehmen?« fragte Wadkins mißtrauisch.
Marguez seufzte. Offensichtlich begegnete er dieser Skepsis nicht zum ersten Mal.
»Wissen Sie, was für ein phantastisches Instrument das Ohr ist?« sagte er. »Es kann mehr als eine Million Druckunterschiede wahrnehmen. Eine Million. Und ein einzelnes Geräusch kann aus zig verschiedenen Frequenzen und Teilelementen zusammengesetzt sein. Das ergibt zigmillionen Möglichkeiten. Ein normales Lexikon beinhaltet in der Regel nur etwa 100.000 Schlagwörter. Zigmillionen Möglichkeiten, der Rest ist Training.«
»Dieses Geräusch, das die ganze Zeit über im Hintergrund zu hören ist, was ist das?« fragte Harry.
»Das zwischen 100 und 120 Hertz? Das ist nicht so einfach zu sagen. Wir können die anderen Geräusche unten im Studio herausfiltern und diesen Ton isolieren, aber das braucht Zeit.«
»Und die haben wir nicht«, sagte McCormack.
»Aber wie konnte er Harry erkennen, ohne daß er auch nur einen Ton gesagt hat?« fragte Lebie. »Intuition?«
Marguez nahm seine Brille ab und putzte sie abwesend.
»Das, was wir so schön als Intuition bezeichnen, mein Freund, ist immer von unseren Sinneseindrücken beeinflußt. Aber wenn diese Eindrücke so schwach und delikat sind, daß wir sie nur als Gefühle wahrnehmen, wie eine Feder unter der Nase, wenn wir schlafen, und es uns nicht gelingt, die Assoziationen, die uns unser Gehirn liefert, zu benennen, dann reden wir von Intuition. Vielleicht war es ganz einfach die Art … äh, wie Harry geatmet hat?«
»Ich habe den Atem angehalten«, sagte Harry.
»Haben Sie ihn früher schon einmal von hier angerufen? Vielleicht die Akustik? Die Hintergrundgeräusche? Die Menschen haben ein erstaunlich gutes Gedächtnis für Geräusche, viel besser als man gemeinhin glaubt.«
»Ich habe ihn einmal von hier aus angerufen.« Harry starrte den alten Ventilator an. »Natürlich«, sagte er. »Daß ich nicht daran gedacht habe.«
»Hm«, sagte Jesus Marguez. »Hört sich an, als ob der, den ihr sucht, eine ziemlich interessante Person ist. Wie hoch ist das Kopfgeld?«
»Ich war da«, sagte Harry mit weit aufgerissenen Augen, die noch immer den Ventilator fixierten. »Natürlich. Deshalb kenne ich auch dieses Geräusch im Hintergrund. Ich war da schon einmal. Dieses Blubbern …«
Er drehte sich um:
»Er ist im Aquarium!«
»Hm«, sagte Marguez und prüfte nach, ob seine Brillengläser auch wirklich sauber waren. »Das paßt. Ich war da ja selbst schon einmal. So ein Platschen kann zum Beispiel von dem Schwanz eines ziemlich großen Salzwasserkrokodils erzeugt werden.«
Als er wieder aufschaute, war er vollkommen allein im Raum.
Es war sieben Uhr.
Vielleicht hätten sie auf dem kurzen Weg vom Präsidium hinunter nach Darling Harbour das Leben von Passanten und Zivilisten aufs Spiel gesetzt, doch die Frage stellte sich nicht, denn der Sturm hatte die Straßen leergefegt. Lebie gab trotzdem sein Bestes, und es war vermutlich nur das Blaulicht auf dem Dach, das im letzten Augenblick einen einsamen Fußgänger dazu verleitete, zur Seite zu springen, und ein paar entgegenkommende Autos an den Straßenrand scheuchte. Wadkins saß auf dem Rücksitz und fluchte unentwegt, während McCormack auf dem Vordersitz im Aquarium anrief, um die Polizeiaktion anzukündigen.
Als sie auf den Platz vor dem Aquarium vorfuhren, standen die Flaggen am Darling Harbour steif im Wind, und die Brandung schlug über die Kaimauer. Einige Polizeiwagen waren bereits da, und uniformierte Polizisten versperrten die Ausgänge.
McCormack gab die letzten Befehle.
»Yong, du versorgst unsere Leute mit Fotos von Toowoomba. Wadkins, du kommst mit mir in den Überwachungsraum. Dort gibt es Kameras, die das ganze Aquarium überwachen. Lebie und Harry, ihr beginnt mit der Suche. Das Aquarium schließt in wenigen Minuten. Hier sind die Funkgeräte, steckt euch sofort den Knopf ins Ohr und macht das Mikro am Jackenkragen fest, und überprüft, ob die Verbindung steht! Wir geben euch Anweisungen vom Überwachungsraum aus, okay?«
Als Harry aus dem Auto stieg, wäre er fast von einer Böe zu Boden gerissen worden. Eilig versuchten sie, unter das schützende Vordach zu kommen.
»Zum Glück ist es nicht ganz so voll wie sonst immer«, stellte McCormack fest. Die paar schnellen Schritte hatten ihn bereits außer Atem gebracht. »Das muß am Wetter liegen. Wenn er hier ist, finden wir ihn!«
Sie wurden von der Oberaufsicht in Empfang genommen, die Wadkins und McCormack in den Überwachungsraum brachte. Harry und Lebie überprüften die Funkverbindung und wurden an der Kasse vorbeigewunken. Dann begannen sie, sich durch die Menschenmenge auf dem engen Flur zu schieben.
Harry prüfte nach, ob seine Pistole im Schulterhalfter saß. Das Aquarium wirkte mit all dem Licht und den vielen Menschen vollkommen verändert. Außerdem schien es ihm unendlich lang her zu sein, daß er mit Birgitta hier gewesen war, als wäre das in einer anderen Zeitrechnung gewesen.
Er versuchte, nicht daran zu denken.
»Wir sind da.« McCormacks Stimme klang sicher und beruhigend im Ohr. »Wir kontrollieren jetzt die Kamerabilder. Yong und ein paar Beamten überprüfen die Toiletten und das Cafe. Wir haben euch übrigens auf dem Monitor. Geht nur weiter.«
Die Gänge des Aquariums führten das Publikum in einer Runde wieder zum Eingang zurück. Harry und Lebie gingen in umgekehrter Richtung, so daß sie die Gesichter aller Entgegekommenden sehen konnten. Harrys Herz hämmerte in seiner Brust. Er spürte, daß er einen trockenen Mund und feuchte Hände bekam. Fremde Sprachen schwirrten um seinen Kopf, und Harry hatte das Gefühl, durch einen Mahlstrom von Menschen unterschiedlicher Nationalität, Hautfarbe und Kleiderordnung zu schwimmen. Sie gingen durch den Tunnel unter dem Wasser, in dem Birgitta und er die Nacht verbracht hatten – jetzt standen dort Kinder, die ihre Nasen an den Scheiben plattdrückten und zuschauten, wie das Leben unter Wasser seinen unerschütterlichen Gang ging.
»This place gives me the creeps«, flüsterte Lebie. Er hielt eine Hand unter der Jacke.
»Versprich mir, hier unten bloß nicht zu schießen«, sagte Harry. »Ich will nicht die halbe Jackson Bay und ein Dutzend weißer Haie im Schoß haben, okay?«
»Don't worry«, antwortete Lebie.
Sie kamen auf die andere Seite des Aquariums, wo es jetzt beinahe menschenleer war. Harry fluchte.
»Um sieben ist die Kasse geschlossen worden«, erklärte Lebie. »Jetzt müssen nur noch alle rausgehen.«
McCormack bemerkte:
»Es sieht leider so aus, als wäre unser Vogel ausgeflogen, Jungs. Kommt zurück zum Überwachungsraum.«
»Warte hier«, sagte Harry zu Lebie.
Draußen vor der Kasse stand ein bekanntes Gesicht in Uniform. Harry ging auf ihn zu.
»Hallo, Ben, erinnerst du dich an mich?« fragte Harry. »Ich war zusammen mit Birgitta hier.«
Ben drehte sich um und schaute den aufgeregten Blondschopf an. »Na klar«, antwortete er, »Harry, das war doch dein Name, oder? Ja, ja, du bist also noch einmal vorbeigekommen? Die meisten kommen wieder. Wie geht es Birgitta?«
Harry schluckte.
»Hör mal, Ben. Ich bin Polizist. Wie du sicher schon gehört hast, suchen wir einen sehr gefährlichen Mann. Wir können ihn nicht finden, ich habe aber so ein Gefühl, daß er noch immer hier ist. Niemand kennt das Aquarium besser als du, Ben – gibt es einen Ort, wo er sich versteckt haben könnte?«
Ben legte sein Gesicht in tiefe, nachdenkliche Falten.
»Tja«, sagte er. »Weißt du, wo Matilda, das Salzwasserkrokodil, ist?«
»Ja?«
»Zwischen dem kleinen Schlaumeier, den wir Fiddler Ray nennen, und der großen Meeresschildkröte, das heißt, die ist ja umgezogen, jetzt wird da ein Damm gebaut, damit wir noch ein paar kleine Süßwasserkroko …«
»Ich weiß, wo das ist. Es eilt, Ben!«
»Gut. Wenn man sportlich genug ist und nicht zu viel Angst hat, kann man in der Ecke über das Plexiglas springen.«
»Zu dem Krokodil hinein?«
»Das liegt die meiste Zeit doch nur müde auf dem Damm und döst vor sich hin. Von der Ecke sind es nur vier, fünf Schritte bis zu der Tür, durch die wir gehen, wenn wir Matildas Käfig saubermachen oder sie füttern. Aber du mußt aufpassen, denn so ein saltie ist unglaublich schnell, das stürzt sich mit seinen zwei Tonnen Gewicht schneller auf dich, als du reagieren kannst. Wir sollten einmal …«
»Danke, Ben.« Harry rannte so schnell, daß die Menschen zur Seite sprangen. Er schlug seinen Jackenkragen zur Seite und sprach ins Mikrophon: »McCormack, Holy hier. Ich werde hinter dem Krokodilkäfig suchen.«
Er packte Lebie unter dem Arm und zerrte ihn mit sich. »Unsere letzte Chance«, sagte er. Lebies Augen weiteten sich, als Harry vor dem Krokodilkäfig anhielt und Anlauf nahm. »Komm mit«, sagte Harry und schwang sich über das Plexiglas.
Als seine Füße auf dem Boden aufsetzten, begann es auf der anderen Seite des Damms zu kochen. Weißer Schaum spritzte auf, und als Harry zur Tür hinüberging, sah er einen grünen Formel 1-Wagen mit wie Schneebesen wirbelnden kleinen Echsenbeinen aus dem Wasser schießen. Harry rannte los, rutschte aber in dem losen Sand weg. Weit hinter sich hörte er Schreie, und aus dem Augenwinkel sah er die aufgeklappte Motorhaube des Rennwagens. Er nahm die Beine in die Hand, stürzte zur Tür hinüber und ergriff die Klinke. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Harry, daß die Tür bestimmt verschlossen war. Doch im nächsten Augenblick war er durch sie verschwunden. Eine Szene aus Jurassic Park kam ihm ins Gedächtnis, und er schloß die Tür. Nur zur Sicherheit.
Er zog seine Pistole. In dem feuchten Raum lag ein übler Gestank einer Mischung aus Waschmittel und halbverfaultem Fisch.
»Harry!« Es war McCormack, der über das Funkgerät mit ihm sprach. »Erstens gibt es einfachere Wege dorthin, wo du jetzt bist, als über den Teller dieses Biestes, und zweitens verhältst du dich jetzt ruhig, bis Lebie zu dir herüberkommt.«
»I …be nicht … gehö … Sie … sagt … ben, Sir!« sagte Harry und kratzte mit einem Fingernagel über das Mikrophon. »Gehe … lleine weit …!«
Er öffnete die Tür am anderen Ende des Raumes und kam in einen zylinderförmigen Turm mit einer Wendeltreppe. Harry nahm an, daß es nach unten zu den Tunneln unter dem Meer ging und entschloß sich, nach oben zu gehen. Auch auf dem nächsten Absatz gab es eine Tür. Sein Blick folgte der Treppe nach oben, aber es schien keine weitere Tür mehr zu geben.
Er drückte die Klinke nach unten und schob die Tür mit gezückter Pistole vorsichtig auf. In dem Raum war es stockfinster, und der Geruch nach fauligem Fisch nahm ihm beinahe den Atem.
Harry fand gleich neben der Tür einen Lichtschalter, den er mit der linken Hand betätigte, aber das Licht ging nicht an. Er ließ die Tür los und trat zwei vorsichtige Schritte vor. Es knackte unter seinen Füßen. Harry erriet, um was es sich da handelte und glitt lautlos zur Tür zurück. Jemand hatte die Glühbirne an der Decke zerschlagen. Er hielt den Atem an und lauschte. War sonst noch jemand im Raum? Eine Lüftung rauschte.
Harry schlüpfte wieder auf den Treppenabsatz hinaus.
»McCormack«, flüsterte er ins Mikrophon. »Ich glaube, er ist da drin. Hören Sie, tun Sie mir einen Gefallen und wählen Sie seine Handynummer!«
»Harry Holy, wo steckst du?«
»Jetzt, Sir! Bitte!«
»Harry, laß das Ganze nicht zu einer persönlichen Vendetta ausarten, das ist …«
»Es ist warm heute, Sir. Wollen Sie mir jetzt helfen oder nicht?«
Harry hörte McCormacks schweren Atem.
»In Ordnung, ich wähle jetzt die Nummer.«
Harry schob die Tür mit dem Fuß auf, stellte sich breitbeinig, die Pistole mit beiden Händen fest umklammert, auf und wartete auf das Klingeln. Die Zeit erschien ihm wie ein hängender Tropfen, der einfach nicht herabfallen wollte. Es vergingen vielleicht zwei Sekunden. Nicht ein Laut war zu hören.
Er ist nicht hier, dachte Harry.
Dann geschahen drei Dinge gleichzeitig.
Zum einen begann McCormack zu reden.
»Er hat sein Handy abge …«
Zum anderen wurde Harry klar, daß sich seine Silhouette wie die eines laufenden Keilers in der Türöffnung abzeichnete, und zum dritten explodierte seine Welt plötzlich in einem Regen aus Sternen und roten Flecken, die über seine Netzhaut tanzten.
Harry erinnerte sich an Bruchteile von Andrews Boxlektion, die er ihm auf ihrer gemeinsamen Fahrt nach Nimbin erteilt hatte. Zum Beispiel, daß ein Haken eines professionellen Boxers in der Regel mehr als genug ist, um einen untrainierten Mann bewußtlos zu schlagen. Indem er die Hüfte mitschwingt, kann er den ganzen Oberkörper hinter den Schlag bekommen, was diesem eine solche Kraft gibt, daß das Gehirn augenblicklich aussetzt. Ein präzise am Kinn plazierter Uppercut läßt dich vom Boden abheben und schickt dich spontan in die Welt der Träume. Garantiert. Auch die perfekte rechte Gerade eines Rechtshänders läßt dir kaum die Chance, hinterher noch auf den Beinen zu stehen. Und das Wichtigste von allem: Wenn du den Schlag nicht kommen siehst, kann der Körper auch nicht reagieren und ausweichen. Schon eine kleine Bewegung mit dem Kopf kann die Wirkung eines Schlages deutlich abschwächen. Es ist meistens so, daß die Boxer den letzten Schlag, durch den sie k.o. gehen, gar nicht gesehen haben.
Die einzige Erklärung dafür, daß Harry nicht bewußtlos war, war also, daß der Mann im Dunkeln links neben ihm gestanden hatte. Weil Harry sich in der Türöffnung befand, war es ihm unmöglich gewesen, seine Schläfe zu treffen, etwas, das laut Andrew sicher ausgereicht hätte. Auch konnte er ihm keinen effektiven Haken oder Uppercut verpassen, weil Harry ja seine Hände mit der Pistole vor sich gehalten hatte. Und auch keine rechte Gerade, denn dann hätte er sich unmittelbar vor die Pistole stellen müssen. Die einzige Möglichkeit bestand in einer linken Geraden, ein Schlag, den Andrew als »Fräuleinchenschlag« bezeichnet hatte und der allenfalls dazu geeignet sei, den Gegner zu irritieren oder ihn weichzuklopfen, der bei einem richtigen Faustkampf auf der Straße aber nichts zu suchen habe. Es ist möglich, daß Andrew recht hatte, aber dieser Schlag hatte Harry rücklings auf die Wendeltreppe taumeln lassen, wo er mit dem Kreuz auf die Kante des Geländers aufgeschlagen und beinahe nach unten gestürzt war.
Als er die Augen öffnete, stand er noch immer aufrecht. Eine Tür am anderen Ende des Raumes stand offen, und er war sich ziemlich sicher, daß Toowoomba durch diese entkommen war. Doch er hörte ein Kling-Klong-Geräusch und ging davon aus, daß es von der Pistole stammte, die über die Metalltreppe nach unten polterte. Er entschied sich zugunsten der Pistole. Mit einem selbstmörderischen Sprung über die Treppe nach unten schlug sich Harry die Unterarme und die Knie auf, es gelang ihm aber, die Pistole noch rechtzeitig zu packen, bevor sie über die Kante rutschte und in einem zwanzig Meter tiefen Schacht verschwinden konnte. Er hockte sich auf die Knie, hustete und konstatierte, daß er schon den zweiten Zahn verloren hatte, seit er in dieses verdammte Land gekommen war.
Er stand auf und wäre um ein Haar sofort wieder ohnmächtig geworden.
»Harry!« schrie jemand in sein Ohr.
Er hörte auch, daß ein Stück unter ihm die Tür aufgerissen wurde und Schritte, die die Treppe erzittern ließen. Harry visierte die Tür des Raumes vor ihm an, ließ das Geländer los, schwankte vor, traf mit viel Glück und taumelte weiter. Er machte ein paar wacklige Schritte, um nicht kopfüber nach vorne zu fallen, visierte die nächste Tür am anderen Ende an, traf erneut und stolperte mit dem Gefühl, sich die Schulter ausgekugelt zu haben, in die Dämmerung hinaus.
»Toowoomba!« schrie er in den Wind. Er schaute sich um. Direkt vor ihm lag die Stadt, hinter ihm die Pyrmont Bridge. Er stand auf dem Dach des Aquariums und mußte sich in den Windböen am oberen Geländer einer Feuertreppe festhalten. Das Meerwasser war vom Sturm weiß aufgepeitscht, und er schmeckte das Salz in der Luft. Direkt unter sich sah er eine dunkle Gestalt, die die Feuertreppe hinunterkletterte. Sie hielt einen Augenblick inne und sah sich um. Zu ihrer Linken stand ein Polizeiwagen mit laufendem Blaulicht, vor ihr, durch eine Absperrung gesichert, die zwei Tanks, die über dem Aquarium emporragten.
»Toowoomba!« brüllte Harry und versuchte die Pistole anzuheben. Seine Schulter aber verweigerte ihm den Dienst, und Harry schrie vor Schmerzen und Wut. Die Gestalt war am Ende der Feuerleiter angelangt, sie lief zur Absperrung und begann, über sie hinüberzuklettern. Harry begriff in diesem Moment, was sich dieser Mensch vorgenommen haben mußte – er wollte das Becken überqueren und dann das kurze Stück zum Kai hinüberschwimmen. Von dort würde es nur ein paar Sekunden dauern, bis er im Gewimmel der Großstadt verschwand. Harry stürzte sich im wahrsten Sinne des Wortes die Feuerleiter hinunter. Er stürmte zu der Absperrung hinüber, als wolle er sie geradewegs niederreißen, quälte sich mit einem Arm hinüber und schlug mit einem Klatschen auf dem Zement auf der anderen Seite auf.
»Harry, melde dich!«
Er riß sich den Stöpsel aus dem Ohr und hastete zu dem großen Tank hinüber. Die Tür stand offen. Er lief hinein und ließ sich auf die Knie fallen. Unter dem geschwungenen Dach des Tanks vor ihm lag, im Licht unzähliger Lampen, die an Stahlseilen darüber gespannt waren, ein Stück eingezäunte Sydney Bay. In der Mitte des Tanks verlief eine schmale Pontonbrücke, über die Toowoomba rannte. Er hatte schon ein gutes Stück des Weges zurückgelegt. Toowoomba trug einen schwarzen Rollkragenpullover und eine schwarze Hose, und er lief so elegant, wie das auf einer schmalen, instabilen Pontonbrücke möglich war.
»Toowoomba!« rief Harry zum dritten Mal. »Ich bin es, Harry. Ich schieße!«
Er ließ sich nach vorne fallen. Nicht, weil er sich nicht mehr aufrecht halten, sondern weil er seinen Arm nicht mehr heben konnte. Dann nahm er die schwarze Gestalt ins Visier und drückte ab.
Der erste Schuß klatschte direkt vor Toowoomba ins Wasser, der weiterrannte. Harry zielte ein bißchen weiter nach hinten. Es platschte direkt hinter Toowoomba. Der Abstand betrug jetzt beinahe hundert Meter. Ein absurder Gedanke schoß Harry durch den Kopf: Alles war wie in der Trainingshalle in Økern – die Lampen an der Decke, das Echo der Schüsse an den Wänden, der Pulsschlag im Finger am Abzug und die tiefe, meditative Konzentration.
Wie in der Trainingshalle in Økern, dachte Harry, und drückte zum dritten Mal ab.
Toowoomba stürzte nach vorne.
Harry erklärte später, er nehme an, der Schuß müsse Toowoombas linken Oberschenkel getroffen haben und somit sei er sicher nicht tödlich gewesen. Natürlich wußten aber alle inzwischen, daß das die reinste Spekulation war, denn es war unmöglich, zu sagen, wo man einen Mann auf hundert Meter Entfernung mit einer Dienstwaffe getroffen hatte. Harry hätte sagen können, was er wollte, ohne daß ihm jemand das Gegenteil hätte beweisen können. Denn es gab keine Leiche, die man hätte obduzieren können.
Toowoomba lag mit dem linken Arm und Bein im Wasser und schrie, während Harry über die Pontonbrücke rannte. Ihm war schwindelig und übel, und alles begann vor seinen Augen unscharf zu werden – das Wasser, das Licht an der Decke und die hin- und herschwappende Brücke vor ihm. Während Harry rannte, mußte er an Andrews Worte denken. Daß die Liebe ein größeres Wunder als der Tod sei. Und er mußte an die alte Erzählung denken.
Das Blut rauschte stoßweise in seinen Ohren, und Harry war der junge Krieger, Walla, und Toowoomba die Schlange Bubbur, die Wallas Geliebter, Moora, das Leben genommen hatte. Und jetzt mußte Bubbur getötet werden. Aus Liebe.
In der später folgenden Erklärung konnte McCormack nicht mehr sagen, was Harry Holy in das Mikrophon geschrien hatte, nachdem sie die Schüsse gehört hatten.
»Wir haben nur gehört, daß er rannte und etwas schrie, vermutlich in seiner Muttersprache.«
Auch Harry konnte nicht mehr sagen, was er gerufen hatte.
Harry rannte in einer Art Wettlauf mit dem Tod über die Pontonbrücke. Es zuckte in Toowoombas Körper. Ein Ruck, der die ganze Pontonbrücke erzittern ließ. Harry glaubte zuerst, daß etwas an die Brücke gestoßen sein mußte, doch dann erkannte er, daß er im Begriff war, um seine Beute betrogen zu werden.
Es war das Seeungeheuer.
Es reckte seinen weißen Totenschädel aus dem Wasser und riß seinen Schlund auf. Alles geschah ganz langsam, wie im Kino. Harry war sich sicher, daß es Toowoomba mit sich reißen würde, aber es bekam ihn nicht richtig zu fassen, und es gelang ihm nur, den schreienden Körper etwas weiter ins Wasser zu zerren, bevor es unverrichteter Dinge noch einmal abtauchen mußte.
Keine Arme, dachte Harry und erinnerte sich an einen Geburtstag vor langer, langer Zeit bei Großvater in Ändalsnes. Damals hatten sie versucht, nur mit dem Mund Äpfel aus einem Wasserfaß zu fischen, und Mutter hatte so lachen müssen, daß sie sich anschließend hinlegen mußte. Er war noch dreißig Meter entfernt. Er glaubte schon, es zu schaffen, doch da tauchte der große Hai wieder auf. Er war so nah, daß Harry sehen konnte, wie er seine kalten Augen in voller Ekstase nach hinten rollte, wobei er ihm triumphierend seine doppelte Zahnreihe präsentierte. Diesmal gelang es ihm, einen Fuß zu packen. Dann schlug er mit dem Kopf hin und her. Wasser spritzte hoch, und Toowoomba wurde wie eine gliedlose Puppe durch die Luft geschleudert. Sein Schreien verstummte schlagartig. Harry war jetzt an der Stelle angekommen.
»Du Scheiß-Monster! Er gehört mir!« schrie er mit tränenerstickter Stimme, hob die Pistole und feuerte ins Wasser, bis sein Magazin leer war. Das Wasser hatte einen klaren, durchsichtigen Rotton, wie rote Limonade, und unter sich sah Harry das Licht des unter dem Wasser liegenden Tunnels, in dem Erwachsene und Kinder zusammenströmten, um dem Ende beizuwohnen, einem echten Naturdrama mit all seinem Grauen, einem Festessen, das in seiner Medienwirksamkeit dem Clownsmord in nichts nachstehen würde.
Gene Binoche sah nicht nur so aus, er hörte sich auch so an wie jemand, der sein ganzes Dasein dem Rock 'n Roll gewidmet und sein Leben immer bis zum Anschlag voll ausgekostet hatte, und er schien auch nicht eher aufhören zu wollen, ehe er am Ziel war. Und das sah er jetzt wohl vor sich.
»Ich denke mir, daß die da unten einen guten Tätowierer brauchen können«, sagte Gene und tunkte die Nadel ein. »Der Satan wird doch wohl die unterschiedlichsten Torturen mögen, oder, mate?«
Doch sein Kunde war ziemlich voll, und sein Kopf hing immer schiefer, so daß er wohl weder Genes philosophische Betrachtungen über das Leben und den Tod noch die Nadel, die sich in seine Schulter schnitt, mitbekam.
Gene hatte es zuerst abgelehnt, als dieser Kerl in seinen Laden gekommen war und lallend und mit einem merkwürdig singenden Akzent sein Anliegen vorgebracht hatte.
Gene hatte geantwortet, daß er keine Betrunkenen tätowiere, und ihn gebeten, am nächsten Tag wiederzukommen. Doch der Typ hatte einen 500-Dollar-Schein für eine Tätowierung, deren Wert er mit 150 Dollar einschätzte, auf den Tisch geknallt, und da es in den letzten Monaten, vorsichtig ausgedrückt, eher ruhig gewesen war, hatte er schließlich doch seinen Ladyshave und den Deodorantstift herausgeholt und mit der Behandlung begonnen. Aber den Schluck aus der Flasche, den ihm der Kerl daraufhin angeboten hatte, hatte er abgelehnt. Gene Binoche tätowierte schon seit zwanzig Jahren seine Mitmenschen, er war stolz auf seine Arbeit und überzeugt, daß seriöse Fachleuchte nicht bei der Arbeit tranken. Und auf keinen Fall Whiskey.
Als er fertig war, klebte er einen Rest Klopapier auf die tätowierte Rose. »Geh nicht in die Sonne und wasch die Stelle in der nächsten Woche nur mit Wasser. Die gute Nachricht ist, daß die Schmerzen im Laufe des Abends nachlassen werden und du das Papier morgen wegmachen kannst. Die schlechte, daß du wiederkommen wirst, um dir noch weitere Tätowierungen machen zu lassen«, grinste er.
»They always do.«
»Ich will nur diese haben«, sagte der Kerl und schwankte durch die Tür hinaus.
Die Tür ging auf, und der Lärm des Windes von draußen wurde ohrenbetäubend. Harry hockte sich an der Türöffnung auf die Knie.
»Bist du bereit?« hörte er eine Stimme in sein Ohr brüllen. »Zieh die Reißleine bei viertausend Fuß und denk daran, anschließend zu zählen. Wenn du nicht innerhalb von drei Sekunden den Ruck des Schirmes spürst, ist etwas nicht in Ordnung.«
Harry nickte.
»Ich gehe raus!« rief die Stimme.
Er sah, wie der Wind den schwarzen Overall des kleinen Mannes packte, als dieser in das Gestänge unter der Tragfläche kletterte. Die wenigen Haarsträhnen, die unter seinem Helm hervorlugten, flatterten im Wind. Harry warf noch einmal einen Blick auf den Höhenmesser auf seiner Brust. Er zeigte mehr als zehntausend Fuß an.
»Nochmals danke!« rief er dem Piloten zu. Der Pilot drehte sich um.
»Nichts zu danken, Kollege! Das macht mehr Spaß als Marihuana-Äcker zu fotografieren.«
Harry streckte seinen rechten Fuß aus dem Flugzeug. Es fühlte sich an wie früher, als er klein war und auf der Fahrt in den Urlaub nach Åndalsnes das Fenster herunterkurbelte und seine Hand hinausstreckte, um zu »fliegen«. Er erinnerte sich daran, wie der Wind seine Hand ergriff, wenn er die Handfläche dagegenstemmte.
Die Kraft des Windes war außerhalb des Flugzeugs gewaltig, und er mußte seinen Fuß richtig nach vorne und unten drücken, um Halt auf dem Gestänge zu bekommen. Er zählte innerlich, wie Joseph es ihm gesagt hatte – »rechter Fuß, linke Hand, rechte Hand, linker Fuß«. Dann stand er neben Joseph. Kleine Wolkenfetzen trieben ihnen entgegen, beschleunigten, trafen sie und waren noch in der gleichen Sekunde wieder verschwunden. Unter ihnen lag ein Flickenteppich in den unterschiedlichsten Nuancen von Grün, Gelb und Braun.
»Hotel check!« schrie Joseph ihm ins Ohr.
»Checking in!« rief Harry und schaute zu dem Piloten im Cockpit hinüber, der ihm den Daumen zeigte. »Checking out!« Er schaute Joseph an und sah einen Helm, eine Brille und ein breites weißes Lächeln in einem schwarzen Gesicht.
Harry lehnte sich vom Gestänge weg und hob den rechten Fuß.
»Horizont Up! Down! Go!«
Dann war er in der Luft. Harry hatte das Gefühl, nach hinten geblasen zu werden, während das Flugzeug seine ruhige Flucht nach vorne fortsetzte. In den Augenwinkeln sah er, wie das Flugzeug abdrehte, bis er begriff, daß er sich selbst drehte. Er schaute zum Horizont, an dem sich die Erdkugel abzeichnete und der Himmel immer blauer wurde, bis er in das Azurblau des Pazifiks überging, über den Kapitän Cook hierher gesegelt war.
Joseph schüttelte ihn, und er preßte seine Hüfte nach unten, um eine bessere Fallposition zu bekommen. Er überprüfte den Höhenmesser. Neuntausend Fuß. Mein Gott, wieviel Zeit sie hatten! Er bewegte seinen Oberkörper, wobei er die Arme ausstreckte, und machte eine halbe Drehung.
Vor ihm im Westen lagen die Blue Mountains, die blau waren, weil dort ganz spezielle Eukalyptusbäume eine Art blauen Dunst ausströmten, den man aus weiter Entfernung erkennen konnte. Joseph hatte ihm das erzählt. Er hatte ihm auch erzählt, daß hinter diesen Bergen das Land lag, das seine Vorfahren, das Nomadenvolk, als Heimat bezeichneten. Die unendlichen trockenen Ebenen – the outback –, die den größten Teil dieses riesigen Kontinents ausmachten. Es war unglaublich, daß in diesem unbarmherzigen Backofen jemand überleben konnte, doch Josephs Volk hatte viele tausend Jahre dort gelebt, bis die Weißen kamen.
Harry blickte nach unten. Wie friedlich und verlassen es dort unten aussah. Ein stiller, liebenswerter Planet mußte das sein. Der Höhenmesser zeigte siebentausend Fuß an. Joseph ließ ihn wie vereinbart los. Ein ernsthafter Verstoß gegen die Vorschriften, aber, was es an Regeln gab, hatten sie ohnehin schon dadurch überschritten, daß sie alleine hier oben waren. Harry sah, wie Joseph die Arme anlegte, um horizontal Geschwindigkeit zu bekommen. Verblüffend schnell verschwand er nach links unten.
Dann war Harry alleine. Wie man immer alleine ist. Es fühlt sich nur so viel besser an, wenn man sechstausend Fuß hoch im freien Fall über der Erde ist.
Kristin hatte ihre Wahl an einem grauen Montagmorgen in einem Hotelzimmer getroffen. Sie war vielleicht aufgewacht, erschöpft von dem neuen Tag, der noch nicht einmal richtig angebrochen war, hatte aus dem Fenster gesehen und sich entschlossen, daß es nun genug sei. Welche Gedanken sie sich gemacht hatte, wußte Harry nicht. Die menschliche Seele war ein tiefer, dunkler Wald, und alle Entscheidungen trifft man allein.
Fünftausend Fuß.
Vielleicht hatte sie die richtige Entscheidung gefällt? Das vollkommen leere Tablettenröhrchen deutete jedenfalls darauf hin, daß sie nicht gezweifelt hatte. Und eines Tages mußte es ein Ende geben, eines Tages war es höchste Zeit. Der Wunsch, diese Welt mit einem gewissen Stil zu verlassen, zeugte jedenfalls von einer gewissen Eitelkeit – einer Schwäche –, die nur wenige Menschen hatten.
Viertausendfünfhundert Fuß.
Andere Menschen hatten nur eine Schwäche für das Leben. Ganz einfach. Na ja, vielleicht nicht ganz so einfach, aber das alles lag jetzt so weit entfernt dort unten. Viertausend Fuß, um ganz genau zu sein. Er umklammerte den orangenen Griff auf der rechten Seite seiner Brust, zog entschlossen an der Reißleine und begann zu zählen: »Einundzwanzig, zweiundzwanzig …«