9

»Die Tatrix von Tharna«, sagte er.

Ich stand auf der Brücke und starrte den geheimnisvollen, verhüllten Verschwörer an, und ich war plötzlich traurig. Sogar hier in der edlen Stadt Tharna gab es Intrigen, politische Machtkämpfe und ehrgeizbesessene Menschen. Ich wurde als Attentäter oder Geächteter angesehen, als geeignetes Instrument für die ehrgeizigen Pläne einer unzufriedenen Gruppe in den Mauern Tharnas.

»Ich lehne ab.«

Der kleine, zitronengesichtige Mann fuhr zurück, als hatte ich ihm einen Schlag versetzt. »Ich vertrete mächtige Persönlichkeiten dieser Stadt«, sagte er.

»Ich möchte Lara, der Tatrix dieser Stadt, keinen Schaden zufügen«, sagte ich.

»Was bedeutet sie dir?« fragte der Mann.

»Nichts.«

»Und doch weigerst du dich?«

»Ja — ich lehne den Vorschlag ab.«

»Du hast Angst«, sagte er.

»Nein.«

»Du wirst deinen Tarn nie bekommen«, zischte der Mann. Er machte auf dem Absatz kehrt und hastete in den Eingang des nächsten Zylinders, wobei er sich verzweifelt am Geländer der Brücke festklammerte. Im Torbogen blieb er stehen und drehte sich um. »Du wirst die Mauern Tharnas nicht lebendig verlassen!« sagte er.

»Das mag schon sein«, rief ich. »Aber ich gehe auf deinen Vorschlag nicht ein!«

Die kleine graugekleidete Gestalt, die fast so durchscheinend wirkte wie der Nebel, schien gehen zu wollen. Dann zögerte sie. Einen Augenblick lang schien der Mann unentschlossen, endlich wandte er sich an seinen Begleiter. Eine Minute lang diskutierten die beiden und schienen schließlich zu einer Einigung zu kommen. Wahrend der zweite Mann zurückblieb, kam mein Verhandlungspartner noch einmal vorsichtig auf die Brücke.

»Ich habe voreilig gesprochen«, sagte er. »Keine Gefahr wird dich in Tharna befallen. Wir sind ein ehrliches und arbeitsames Volk.« »Das freut mich zu Hören.«

Zu meiner Überraschung drückte er mir einen kleinen, schweren Ledersack mit Münzen in die Hand. Er lächelte mich an, ein verzerrtes Grinsen, das ich durch die Falten seiner Tunika nur schwach wahrnahm. »Willkommen in Tharna!« sagte er und floh über die Brücke in den Zylinder, war im nächsten Augenblick mit seinem Begleiter verschwunden.

»Komm zurück!« rief ich und hielt den Münzenbeutel in die Hohe. »Komm zurück!«

Aber er war verschwunden.

Wenigstens brauchte ich in dieser Nacht, in dieser regnerischen Nacht nicht wieder auf freiem Felde zu schlafen, denn dank des verwirrenden Geschenks des Verschwörers hatte ich nun die Mittel, mir eine Unterkunft zu mieten. Ich verließ die Brücke und stieg die Wendeltreppe des Zylinders hinab und trat wieder auf die Straßen der Stadt.

Herbergen gibt es auf Gor nur wenige, was angesichts der Feindseligkeit der Städte nicht verwunderlich ist, doch in der Regel findet sich zumindest eine pro Stadt. Immerhin muß die Möglichkeit bestehen, Händler und Delegationen anderer Städte unterzubringen, autorisierte Besucher mit diesen und jenen Absichten, und offen gesagt, nimmt es der Hotelier mit der Registrierung seiner Gäste nicht immer sehr genau und stellt nicht viele Fragen, wenn er nur seine Handvoll kupferner Tarnmünzen erhält. In Tharna jedoch, das für seine Gastfreundschaft berühmt war, glaubte ich keine Mühe zu haben, eine Herberge zu finden. Ich war daher überrascht, als ich keine einzige Unterkunft ausfindig machen konnte.

Ich überlegte, daß ich notfalls immer in eine einfache Paga-Taverne gehen könnte, wo ich — wenn die Schenken in Tharna denen in Ko-ro-ba ähnelten — die Nacht unauffällig unter einem Tisch verbringen könnte, was mich nur einen Krug Paga kosten würde, diesen starken fermentierten Schnaps, der aus dem gelben Korn Sa-Tarna gewonnen wird, was wörtlich übersetzt Lebenstochter heißt. Dieser Ausdruck bezieht sich auf Sa-Tassna, das Wort für Fleisch oder Nahrung im allgemeinen, mit Lebensmutter zu übersetzen. Paga ist eine Abkürzung für Pagar-Sa-Tarna, was Vergnügen der Lebenstochter heißt.

Üblicherweise fand man in den Paga-Tavernen auch andere Zerstreuungen als den Alkohol, doch im griesgrämigen Tharna war der Klang von Zimbeln, Trommeln und Flöten sicherlich ebenso selten wie das Klimpern der Glöckchen an den Fußgelenken von Tanzmädchen. Ich hielt eine der anonym graugekleideten Gestalten an, die durch die nasse Dämmerung eilten.

»Mann aus Tharna«, sagte ich, »wo finde ich hier eine Herberge?« »Es gibt keine Herbergen in Tharna«, erwiderte der Mann und sah mich eindringlich an. »Du mußt ein Fremder sein«, fügte er hinzu. »Ein müder Reisender, der eine Unterkunft sucht.«

»Fliehe, Fremder«, sagte der andere.

»Ich bin in Tharna willkommen.«

»Fliehe, solange noch Zeit ist«, flüsterte er und sah sich um, als fürchte er unwillkommene Lauscher.

»Gibt es eine Paga-Taverne in der Nahe?« fragte ich. »Wo ich mich ausruhen kann?«

»Tharna kennt keine Paga-Tavernen«, erwiderte der Mann, leicht amüsiert, wie mir schien.

»Wo kann ich die Nacht zubringen?« fragte ich.

»außerhalb der Stadtmauern, auf freiem Felde«, sagte er, »oder im Palast der Tatrix.«

»Es will mir scheinen, als müßte der Palast der Tatrix das bequemere Lager bieten.«

Der Mann lachte bitter. »Wie viele Stunden«, fragte er, »bist du schon in den Mauern Tharnas, Krieger?«

»Ich bin um die sechste Stunde eingetroffen.«

»Dann ist es schon zu spät«, sagte der Mann mit Bedauern in der Stimme, »denn du bist schon mehr als zehn Stunden in der Stadt.« »Was heult das?« fragte ich.

»Willkommen in Tharna«, sagte der Mann und verschwand in der Dunkelheit.

Das Gespräch hatte mich seltsam beunruhigt, und ohne es selbst zu wollen, begann ich den Weg zur Stadtmauer einzuschlagen. Dort stand ich vor dem großen Tor Tharnas. Die beiden riesigen Balken, die es verschlossen, waren vorgelegt, Stamme, die sich nur mit einem Gespann von Tharlarions hatten beseitigen lassen oder mit hundert Sklaven. Die Tore, von Stahlreifen eingefaßt, mit Metallplatten besetzt, die im Nebel matt schimmerten, waren geschlossen.

»Willkommen in Tharna«, sagte ein Wächter, der sich im Schatten des Tores auf seinen Speer stutzte.

»Vielen Dank, Krieger«, sagte ich und wandte mich wieder der Stadt zu. Hinter mir hörte ich ihn lachen — das gleiche seltsam bittere Lachen, das ich heute schon einmal gehört hatte.

Auf meinen Wanderungen durch die Straßen der Stadt erreichte ich schließlich das niedrige Portal im Mauerwerk eines Zylinders. Auf jeder Seite der Tür, in kleinen Nischen, die den Nieselregen abhielten, flackerten die gelben Flammen kleiner Tharlarion-Öllampen. Im unsicheren Licht las ich die Worte KAL-DA-VERKAUF.

Kal-da ist ein heißes Getränk, das aus verwässertem Ka-la-na-Wein gemacht wird, vermischt mit Zitronensaft und scharfen Gewürzen. Ich mochte das scharfe und heiße Getränk nicht sehr, aber es war in einigen niedrigen Kasten sehr beliebt, besonders bei Menschen, die harte körperliche Arbeit zu verrichten hatten. Ich vermutete, daß seine Popularität mehr auf seine Warme und Preiswürdigkeit zurückzuführen war (es wird nur minderwertiger Ka-la-na-Wein verwendet), als auf den Geschmack. Doch ich überlegte mir, daß mir in dieser Nacht aller Nächte, in dieser kalten, bedrückenden, nassen Dunkelheit ein Krug Kal-da sehr willkommen sein würde. Und wo es Kal-da gab, würde sicher auch Brot und Fleisch gereicht. Ich dachte an das gelbe goreanische Brot, das in runden, flachen Laiben gebacken und frisch und heiß serviert wird; und das Wasser lief mir im Mund zusammen, als ich an ein Tabukschnitzel oder womöglich eine Scheibe gerosteten Tarsk dachte, jenes entsetzliche Wildschweinwesen aus den goreanischen Wäldern. Ich lächelte vor mich hin, tastete nach dem Beutel mit Münzen in meiner Tunika, bückte mich und stieß die Tür auf. Drei Stufen führten in einen warmen, kaum erleuchteten und niedrigen Raum mit zahlreichen Tischen, wie sie überall in Gor zu finden waren, an denen Gruppen von fünf bis sechs graugekleideten Männern saßen. Die Gespräche verstummten bei meinem Eintritt. Die anderen Gäste musterten mich. Es schienen keine Krieger anwesend zu sein.

Offensichtlich war keiner der Männer bewaffnet.

Ich mußte einen seltsamen Eindruck auf sie machen — ein rotgekleideter, bewaffneter Krieger, der plötzlich aus der Nacht hereintrat, ein Besucher aus einer anderen Stadt, der überraschend in Ihren Kreis eindrang.

»Was für Geschäfte hast du?« fragte der Besitzer des Lokals, ein kleiner, kahlköpfiger Mann in kurzärmeliger grauer Tunika mit einer glänzenden schwarzen Schürze. Er blieb hinter seinem Holztresen stehen und wischte langsam an einigen Kal-da-Flecken auf dem schmutzigen Holz herum.

»Ich bin auf der Durchreise«, sagte ich. »Und ich mochte einen Tarn kaufen, um damit weiterzufliegen. Heute abend brauche ich eine Mahlzeit und eine Unterkunft.«

»Dies ist kein Ort für einen Mann aus hoher Kaste.«

Ich sah mich um, musterte die Anwesenden, blickte in ihre niedergeschlagenen, ausgezehrten Gesichter. Im Halbdämmer war nicht zu erkennen, welchen Kasten sie angehörten, denn sie trugen ausnahmslos die grauen Tuniken Tharnas. Was mir besonders an ihnen auffiel, hatte nichts mit der Kastenzugehorigkeit zu tun — es war ihr mangelndes Selbstvertrauen. Ich wußte nicht, ob sie schwach waren oder nur eine schlechte Meinung von sich hatten. Sie schienen ohne Energie, ohne Stolz, ohne Selbstachtung zu sein.

»Du gehörst einer Hohen Kaste an, der Kriegerkaste«, sagte der Wirt. »Es ist nicht recht, daß du bei uns bleibst.«

Die Aussicht, wieder in die kalte, regnerische Nacht hinaus zu müssen, meine trostlose kalte Wanderung durch die einsamen Straßen fortzusetzen, hatte wenig Erfreuliches. Ich nahm eine Münze aus dem Lederbeutel und warf sie dem Wirt zu. Geschickt schnappte er sie aus der Luft wie ein skeptischer Kormoran. Er untersuchte die Münze, biß auf das Metall, und seine Kinnmuskeln spannten sich im Lampenlicht. Ein gieriger Schimmer trat in seine Augen. Ich wußte, daß er keine Lust haben würde, mir das Geldstück wiederzugeben.

»Na, welcher Kaste gehört es an?« fragte ich.

Der Wirt lächelte. »Geld kennt keine Kasten.«

»Also; bring mir zu essen und zu trinken«, sagte ich.

Ich trat an einen dunklen, verlassenen Tisch im Hintergrund, von wo ich die Tür im Auge behalten konnte. Ich lehnte Schild und Speer an die Wand, stellte meinen Helm neben dem Tisch ab, schnallte meinen Schwertgürtel ab, legte die Waffe auf die Tischplatte vor mir und wartete ab.

Ich hatte es mir kaum bequem gemacht, als der Wirt, einen Großen und schweren Krug mit dampfendem Kal-da vor mich hinstellte. Ich verbrannte mir an den Griffen des Krugs fast die Hände. Ich schüttete einen langen, brennenden Schluck herunter, und wenn ich den Geschmack normalerweise auch nicht mochte, durchrieselte mich das Getränk heute wie brodelndes Feuer, ein zischendes, herrliches Aufputschgetränk, das schlecht schmeckte und mich doch so verhexte, daß ich auflachte.

Und ich lachte sehr laut.

Die tharnaischen Männer, die an ihren Tischen saßen, starrten zu mir herüber, als hatte ich den Verstand verloren. Ungläubigkeit und Ratlosigkeit standen auf ihren Gesichtern.

Der Mann dort drüben hatte gelacht. Ich fragte mich, ob in Tharna die Menschen oft lachten.

Es war eine elende Stadt, aber im Lichte des Kal-da sah sie schon wieder ganz vielversprechend aus.

»Redet, lacht!« sagte ich zu den Männern aus Tharna, die seit meinem Eintreten kein Wort gewechselt hatten. Ich starrte sie an. Ich trank noch einmal aus meinem Krug und schüttelte den Kopf, um die wirbelnden Flammenzungen vor meinen Augen zu vertreiben. Ich schnappte mir meinen Speer von der Wand und hieb damit auf den Tisch.

»Wenn ihr nicht reden könnt, wenn ihr nicht lachen könnt, dann müßt ihr singen!«

Die Männer waren überzeugt, daß sie einen Verrückten vor sich hatten. Wahrscheinlich lag es am Kal-da, aber vielleicht reizte mich auch die Ungeduld mit den Männern dieser Stadt, vielleicht war es ein Aufbäumen gegen das düstere Tharna und ihre feierlichen, lustlosen, unterwürfigen Einwohner. Die tharnaischen Männer schwiegen weiter.

»Sprechen wir nicht alle die Sprache?« fragte ich und meinte die schone goreanische Muttersprache, die in den meisten Städten dieser Welt gesprochen wird. »Gehört diese Sprache nicht euch?« fragte ich. »Doch, ja«, murmelte einer der Männer.

»Warum sprichst du sie dann nicht?« fragte ich herausfordernd. Der Mann schwieg.

Der Wirt brachte mir heißes Brot, Honig, Salz und — zu meinem Entzücken — ein großes Stück gebratenes Tarskfleisch. Ich stopfte meinen Mund voll und wusch den Bissen mit Kal-da hinunter.

»Wirt!« schrie ich und klopfte mit dem Speer auf den Tisch.

»Ja, Krieger!«

»Wo sind die Tanzsklavinnen?«

Der Wirt schien wie vor den Kopf geschlagen.

»Ich möchte eine Frau tanzen sehen!«

Die Männer steckten die Kopfe zusammen. Einer flüsterte: »Es gibt keine Sklavinnen in Tharna.«

»Wie traurig!« rief ich. »Keine einzige Kragenträgerin in Tharna!« Zwei oder drei Männer lachten. Endlich drang ich zu ihnen durch. »Diese Wesen, die hinter ihren Silbermasken durch die Straßen segeln — sind das wirklich Frauen?« fragte ich.

»Aber sicher«, sagte einer der Männer und mußte ein Lachen unterdrücken.

»Das kann doch nicht wahr sein!« rief ich. »Soll ich eine hereinholen, damit sie für uns tanzt?«

Die Männer lachten.

Ich tat, als wollte ich aufstehen, und entsetzt drückte mich der Wirt wieder in meinen Stuhl und holte neuen Kal-da. Offenbar wollte er mir so viel Kal-da auftischen, daß ich nichts Schlimmes anstellen konnte. Einige Männer kamen nun an meinen Tisch.

»Woher kommst du?« kam die Frage.

»Ich habe mein ganzes Leben in Tharna zugebracht.«

Dröhnendes Gelächter quittierte diese Antwort.

Kurz darauf dirigierte ich einen rauhen Männerchor; ich ließ meinen Speerschaft auf die Tischplatte poltern und stimmte Lieder an — wilde Trinklieder, Kriegslieder, Lieder von Belagerung und Tod. Ich brachte den Männern Gesänge bei, die ich in der Karawane des Händlers Mintar gelernt hatte — damals, als ich Talena lieben lernte —, Lieder von der Liebe, von der Einsamkeit, von der Schönheit einer Heimatstadt, von den Schönheiten Gors.

Der Kal-da floß in dieser Nacht in Strömen, und dreimal mußte in den Tharlarionlampen das Öl nachgefüllt werden. Angelockt durch den ungewohnten Lärm waren Männer von der Straße hereingekommen; auch einige Krieger, die unglaublicherweise ihre Helme abnahmen, sie mit Kal-da füllten und in unserer Runde mitmachten.

Die Tharlarionlampen hatten schließlich ein letztes Mal geflackert und waren ausgegangen, und der erste Schimmer der Dämmerung lag fahl im Raum. Viele Männer waren gegangen, andere schliefen auf den Tischen oder lagen auf dem Fußboden. Sogar der Wirt schlief; er hatte den Kopf auf den Tresen gelegt. Ich sah mich langsam um und wischte mir den Schlaf aus den Augen.

»Wach auf!« sagte eine Stimme.

»Das ist er«, sagte eine zweite Stimme, die ich wiedererkannte. Ich rappelte mich hoch und sah den kleinen zitronengesichtigen Mann vor mir stehen.

»Wir haben nach dir gesucht«, sagte die andere Stimme, die zu einem stämmigen Gardisten der Stadt gehörte. Hinter ihm standen drei weitere bewaffnete Krieger.

»Er ist der Dieb«,. sagte der fahlgesichtige Mann und griff nach dem Münzenbeutel, der halb geöffnet auf dem fleckigen Tisch lag. Er hielt ihn dem Gardisten hin.

»Ost«, las der Mann. Das war der Name eines winzigen orangefarbenen Reptils, das zu den bösartigsten Tieren Gors gehörte.

»Ich bin kein Dieb«, sagte ich. »Er hat mir die Münzen gegeben.« »Er lügt«, sagte Ost.

»Nein, ich lüge nicht!«

»Du bist verhaftet«, sagte der Wächter.

»In wessen Namen?« fragte ich.

»Im Namen Laras, der Tatrix von Tharna.«

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