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Das Sardargebirge, das ich noch nie gesehen hatte, lag über Tausend Pasang von Ko-ro-ba entfernt. Während Menschen im Schatten der Berge — wie die gewöhnlichen Sterblichen genannt werden — diese Berge selten betreten und dann auch nicht zurückkehren, dringen doch viele bis an den Rand des unheimlichen Sperrbezirks vor, um im Schatten dieser Klippen zu stehen, hinter denen die Geheimnisse der Priesterkönige verborgen liegen. Tatsächlich wird von jedem Goreaner erwartet, daß er mindestens einmal in seinem Leben eine solche Pilgerfahrt unternimmt.

Viermal im Jahr, zu den Zeiten der Sonnenwenden und der Tag und Nachtgleiche, werden in der Ebene vor den Bergen Jahrmärkte abgehalten, verwaltet von Komitees der Wissenden, Jahrmärkte, bei denen sich die Männer vieler Städte ohne Blutvergießen begegnen, eine Zeit des Waffenstillstands, der gemeinsamen Spiele, des Handels und Wandels.

Torm, mein Freund aus der Kaste der Schriftgelehrten, hatte solche Märkte oft besucht, und mit den Gelehrten anderer Städte Schriftrollen auszutauschen, Männer, die er ohne diese Markte nie getroffen hätte, Männer feindlicher Städte, denen neues Gedankengut näher am Herzen lag als ihr Haß auf den Feind, Männer wie Torm, die das Lernen derart liebten, daß sie die gefahrvolle Reise zum Sardargebirge gern auf sich nahmen, wenn sie dafür über einen Text diskutieren oder eine wertvolle Schriftprobe erwerben konnten. In ähnlicher Weise nutzten Männer aus den Kasten der Physiker und Hausbauer und anderer Berufe die Märkte für einen Gedankenaustausch.

Den Märkten ist es zuzuschreiben, daß die ansonsten isolierten goreanischen Städte intellektuell vereinigt sind. In ähnlicher Weise tragen sie dazu bei, daß die goreanischen Dialekte stabilisiert sind, die sich sonst innerhalb weniger Generationen auseinanderentwickeln würden, so daß sich bald niemand mehr verständigen konnte. Denn diese eine Gemeinsamkeit haben die Goreaner — ihre Muttersprache in all ihren hundert Varianten, die sie einfach ›die Sprache‹ nennen, und wer sie nicht spricht, unabhängig von Herkunft oder Stand, gilt als unakzeptabel. Im Gegensatz zu den Menschen der Erde mißt der Goreaner dem Kriterium der Rasse wenig Bedeutung bei, legt aber großen Wert auf Sprache und Stadtzugehörigkeit. Wie wir, findet er Gründe, seine Mitmenschen zu hassen, doch diese Gründe unterscheiden sich von den unseren.

Ich hätte in diesem Stadium meiner Wanderung viel für einen Tarn gegeben, obwohl ich wußte, daß diese Vögel niemals in die Berge fliegen. Aus einem mir unbekannten Grunde weigern sich die furchtlosen Tarns und auch die gemächlicheren Tharlarions, die Zug- und Reitechsen der Goreaner, das Gebirge zu betreten. Der Tharlarion läßt sich plötzlich nicht mehr bändigen, und obwohl der Tarn sich bemüht, verliert der Vogel sofort die Orientierung, vermag sich nicht mehr in der Luft zu halten und fallt kreischend über die Ebenen vor dem Gebirge zurück.

Auf Gor, dessen menschliche Bevölkerung relativ dünn gesät war, wimmelte es von tierischem Leben, und in den folgenden Wochen hatte ich keine Mühe, mich durch die Jagd zu ernähren. Ich ergänzte meine Mahlzeiten durch frische Früchte von Büschen und Bäumen, und durch Fische, die ich in Gors kalten, schnellen Flüssen fing. Einmal brachte ich einen Tabuk, eine der gelben einhörnigen Antilopen Gors, die ich in einem Ka-la-na-Dickicht erlegt hatte, zur Hütte eines Bauern und seiner Frau. Ohne Fragen zu stellen, was beim Fehlen meiner Stadtwappen auch nicht ratsam gewesen wäre, aßen sie mit mir von meinem Fleisch und gaben mir dafür Schnur und Feuersteine und eine Weinhaut.

Der goreanische Bauer fürchtet den Geächteten nicht, denn er hat selten etwas, das des Stehlens wert wäre, es sei denn, er sei der Vater einer Tochter. Tatsächlich leben die Landbevölkerung und die Geächteten Gors nach einem ungeschriebenen Gesetz, wobei sich der Bauer um den Geächteten kümmert und dieser als Gegengabe seine Beute mit dem Bauern teilt. Der Bauer sieht das nicht als unehrenhaft an; für ihn ist das ein Leben, das er gewohnt ist. Anders ist die Lage, wenn ausdrücklich bekannt ist, daß der Geächtete aus einer anderen Stadt als der eigenen stammt. In diesem Falle wird er gewöhnlich als Feind angesehen, der so schnell wie möglich den Patrouillen gemeldet werden muß.

Klugerweise mied ich auf meiner langen Wanderung die Städte, obwohl ich an mehreren vorbeikam. Eine Stadt ohne Erlaubnis oder ohne ausreichenden Grund zu betreten, kommt einem Kapitalverbrechen gleich, auf das gewöhnlich die Aufspießung steht. Die Mauerzinnen goreanischer Städte sind zumeist mit den Überresten unwillkommener Gäste geschmückt. Der Goreaner ist jedem Fremden gegenüber mißtrauisch, insbesondere in der Nähe seiner Heimatstadt.

Angeblich gab es eine Stadt, wo man einem Fremden anders begegnete — die Stadt Tharna, die nach allgemeiner Auffassung bereit war, sich auf das›Abenteuer der Gastfreundschaft‹ einzulassen, wie es genannt wurde. Vieles sollte anders sein in dieser Stadt — darunter auch die angebliche Tatsache, daß sie von einer Königin, einer Tatrix, beherrscht wurde und daß die Stellung der Frau in dieser Stadt entsprechend mit Privilegien ausgestattet war.

Ich freute mich, daß es wenigstens eine goreanische Stadt gab, in der die freien Frauen nicht das Gewand der Verhüllung zu tragen brauchten und ihr Leben weitgehend auf ihr Haus beschränken mußten. Auch durften sie dort wohl zu anderen Menschen als nur ihren Blutsverwandten und Freien Gefährten sprechen.

Ich glaubte, daß ein Teil der goreanischen Barbarei vielleicht auf diese sinnlose Unterdrückung des schönen Geschlechts zurückzuführen war, dessen Sanftheit und Intelligenz einen großen Beitrag zur Milderung der harten Gebräuche leisten könnte. Tatsächlich hatten die Frauen in einigen Städten — wie schon in Ko-ro-ba — eine gewisse Rolle innerhalb des Kastensystems übernehmen können und durften ein relativ unbeschränktes Leben führen.

In Ko-ro-ba konnte eine Frau ihr Haus verlassen, ohne zunächst die Erlaubnis eines männlichen Verwandten oder des Freien Gefährten einzuholen, eine Freiheit, die für goreanische Verhältnisse ungewöhnlich war. Die Frauen von Ko-ro-ba waren sogar ohne Begleitung ins Theater gegangen und hatten Epen gelesen. Überhaupt war die weibliche Freiheit in Ko-ro-ba — außer vielleicht in Tharna — am weitesten fortgeschritten gewesen, doch jetzt gab es Ko-ro-ba nicht mehr.

Ich fragte mich, ob ich in der interessanten Stadt Tharna vielleicht einen Tarn erwerben konnte. Das würde meine Reise zum Sardargebirge um mehrere Wochen verkürzen. Ich hatte zwar kein Geld zum Erwerb eines Tarns, aber ich dachte mir, daß mein Sold als Schwertkämpfer ausreichen müßte, um ein Reittier damit zu bezahlen. Überhaupt war ich nach der goreanischen Auffassung als Geächteter ohne eigene Heimatstadt berechtigt, mir zu nehmen, was ich wollte — obwohl ich diese Möglichkeit nicht ernsthaft in Betracht zog.

Als ich noch darüber nachdachte, entdeckte ich in einiger Entfernung auf einer grünen Wiese die dunkle Gestalt einer Frau. Sie schritt in meine Richtung, ohne mich wahrzunehmen, langsam, bedrückt, ahnungslos, ziellos.

Es ist ungewöhnlich, außerhalb der Mauern einer Stadt auf eine Frau ohne Begleitung zu stoßen. Ich war verblüfft, sie hier allein in dieser Wildnis zu treffen, fern von Straßen und Städten.

Ich beschloß, ihre Annäherung abzuwarten.

Ich war verwirrt.

Auf Gor reiste eine Frau gewöhnlich mit einem ausreichend bewaffneten Trupp von Wächtern. In dieser barbarischen Welt galten Frauen leider nur zu oft als Eroberungsobjekte und weniger als Personen, als Menschen mit Rechten und eigenen Sorgen. Man sah sie als Vergnügungssklavinnen, ausgeschmückte Gefangene, Objekte für die Gärten ihrer Eroberer. Es gibt ein Sprichwort auf Gor, wonach die Gesetze einer Stadt über ihre Mauern nicht hinausreichen.

Sie hatte mich noch nicht gesehen. Ich lehnte mich auf meinen Speer und wartete.

Der Brauch der Eroberung ist ein wesentlicher Bestandteil des goreanischen Lebens. Es wird als positiv angesehen, wenn man aus einer fremden, vorzugsweise feindlichen Stadt Frauen entführt. Vielleicht ist diese Sitte, die auf den ersten Blick so verwerflich erscheint, für die Rasse ganz positiv zu sehen, verhindert sie doch den allmählichen Niedergang abgeschlossener, sich selbst erhaltender Stadtgemeinschaften. Wenige scheinen sich dieser Maxime zu widersetzen, nicht einmal die Frauen, die doch die Opfer sind. Im Gegenteil — so unglaublich es scheinen mag — es gibt Frauen, deren Stolz verletzt ist, wenn sie des Risikos nicht wert erachtet werden, eines Risikos, das in der Regel in der Verstümmelung oder im aufspießen besteht. Eine grausame Kurtisane aus der großen Stadt Ar, heute nur noch eine zahnlose, alte Hexe, brüstete sich damit, daß um ihrer Schönheit willen über vierhundert Männer gestorben waren.

Warum war das Mädchen allein?

Waren ihre Beschützer getötet worden? War sie vielleicht eine entflohene Sklavin, die sich vor einem verhaßten Herrn in Sicherheit brachte? War sie — wie ich — eine ehemalige Einwohnerin Ko-ro-bas? Die Menschen dieser Stadt waren verstreut worden, sagte ich mir, und keine zwei Steine und keine zwei Einwohner Ko-ro-bas durften jemals wieder zusammenkommen ... Ich knirschte mit den Zähnen. Der Gedanke ließ mich nicht los.

Wenn sie tatsächlich aus Ko-ro-ba stammte, durfte ich schon um ihrer eigenen Sicherheit willen nicht bei ihr bleiben oder ihr helfen. Es würde den Flammentod bedeuten — wahrscheinlich für uns beide. Ich hatte schon einmal einen Mann den Flammentod sterben sehen, den Höchsten Wissenden Ars, der in plötzlich aufzuckendem blauem Feuer vergangen war — eine Stichflamme, die vom Ärger der Priesterkönige zeugt. So gering ihre Chancen auch waren, den wilden Tieren oder Sklavenhäschern zu entgehen, war sie doch besser dran, als wenn sie sich mit mir einlassen und die Wut der Priesterkönige heraufbeschworen würde.

Wenn sie allerdings eine freie Frau war, zeugte ihre Anwesenheit von sträflichem Leichtsinn.

Sie mußte das wissen, doch es schien ihr gleichgültig zu sein. Der goreanische Brauch der Eroberung wird vielleicht verständlicher, wenn man weiß, daß es oft zu den ersten Missionen junger Tarnkämpfer gehört, sich eine Sklavin für seine Privatgemächer zu erobern. Wenn er die Gefangene nach Hause bringt, nackt vor ihm im Sattel liegend, übergibt er sie seinen Schwestern, die das Mädchen baden, parfümieren und nach der Sklavenmode einkleiden.

Am gleichen Abend findet eine große Feier statt, bei der er die Gefangene vorführt, die nun in die durchsichtige, rote Tanzseide Gors gekleidet ist. An ihren Fußgelenken sind kleine Glöckchen befestigt, und ihre Hände sind mit Sklavenschellen gefesselt. Stolz führt er sie seinen Eltern, Freunden und Kriegskameraden vor.

Zum festlichen Klang der Flöten und Trommeln kniet das Mädchen nieder. Der junge Mann tritt neben sie und legt ihr ein Sklavenband um den Hals, auf dem sein Name und seine Stadt eingraviert ist.

Das Klicken dieses Sklavenkragens ist ein Geräusch, das das Mädchen niemals vergessen wird.

Der junge Mann wird beglückwünscht. Er kehrt an seinen Platz zurück, läßt sich inmitten seiner Familie nieder, setzt sich nach goreanischer Art mit gekreuzten Beinen hinter den langen, niedrigen Tisch, auf dem sich die Speisen häufen.

Alle Blicke sind nun auf das Mädchen gerichtet.

Die störenden Sklavenfesseln werden entfernt. Sie richtet sich auf. Ihre Füße huschen nackt über den dicken, verzierten Teppich, mit dem der Raum ausgelegt ist. Die Glöckchen an ihren Beinen machen leise Geräusche; obwohl sie nur in ein durchsichtiges Seidengewand gekleidet ist, hält sie den Rücken gerade, und ihr Kopf ist stolz erhoben. Sie ist entschlossen, sich nicht zähmen zu lassen, sich nicht zu unterwerfen. Mit geballten Fäusten steht sie in der Mitte des Raumes, ein schöner Anblick im Licht der tiefhängenden Lampen.

Sie wendet sich an den jungen Mann, dessen Kragen sie trägt. »Du wirst mich niemals zähmen!« schreit sie.

Ihr Ausbruch ruft Gelächter hervor, skeptische Bemerkungen, gutmütige Spottrufe.

»Ich zähme dich, wie es mir gefällt«, erwidert der junge Mann und gibt den Musikern ein Zeichen.

Wieder beginnt die Musik. Vielleicht zögert das Mädchen nun. Schließlich beginnt sie im Takte der barbarischen, berauschenden Musik von Flöte und Trommel für ihren Herrn zu tanzen, wobei die Glocken an ihren Beinen jede Bewegung unterstreichen, die Bewegungen eines Mädchens, das aus ihrem Heim gestohlen wurde und das nun dem kühnen Fremden dienen muß, dessen Kragen sie am Halse spürt. Am Ende ihres Tanzes erhält sie eine Schale mit Wein, doch sie darf nicht daraus trinken. Sie nähert sich dem jungen Mann, kniet vor ihm nieder, ihre Knie in der vorgeschriebenen Stellung der Vergnügungssklavin, und mit geneigtem Kopf bietet sie ihm den Wein dar.

Er trinkt. Wieder brechen die Zuschauer in Beifallsrufe aus, und das Fest beginnt, denn jetzt erst darf der junge Mann zu essen beginnen. Von diesem Augenblick an werden die Schwestern ihren Bruder nie wieder bedienen, denn das ist nun die Aufgabe des Mädchens. Sie ist seine Sklavin.

Während sie ihm während des langen Festes immer wieder Speisen und Getränke reicht, schaut sie ihn heimlich von der Seite an und bemerkt, daß er sogar noch besser aussieht, als sie vermutet hatte. Seinen Mut und seine Kraft hat er bereits unter Beweis gestellt. Er ißt und trinkt ausgiebig während dieses triumphalen Festes, und sie mustert ihn immer wieder mit einer seltsamen Mischung aus Furcht und Freude. »Nur solch ein Mann«, sagt sie sich, »konnte mich zähmen.«

Vielleicht sollte hinzugefügt werden, daß der goreanische Sklavenherr zwar streng, aber selten grausam ist. Das Mädchen weiß, daß sie ein gutes Leben haben wird, wenn sie ihrem Herrn gehorcht. Sie wird nicht grausam oder sadistisch behandelt, denn das psychologische Klima, das solche Stimmungen hervorbringt, ist auf Gor weitgehend unbekannt. Das bedeutet nicht, daß sie keine Schläge zu erwarten hat, wenn sie einmal ungehorsam ist oder Ihrem Herrn mißfällt. Andererseits gibt es Falle, da das Verhältnis zwischen Herr und Sklavin auf ganz besondere Weise enger wurde.

Ich fragte mich, ob das Mädchen hübsch war.

Ich lächelte vor mich hin.

Seltsamerweise hat der Goreaner, der die Frau in mancher Beziehung so gering zu achten scheint, in anderer Beziehung sehr viel für sie übrig. Er ist äußerst anfällig für die weibliche Schönheit, die sein Herz erfreut, und seine Lieder und seine Kunstwerke haben oft unmittelbar damit zu tun. Die goreanischen Frauen, ob Sklavin, ob freie Frau, wissen, daß schon ihre Anwesenheit die Männerwelt erfreut, und ich kann mir nicht vorstellen, daß ihnen dieser Umstand nicht gefällt.

Ich kam zu dem Schluß, daß das Mädchen schön sein mußte. Vielleicht lag es an ihrer Haltung, die etwas Vornehmes, Anmutiges hatte, etwas, das sich durch ihre Niedergeschlagenheit, ihren langsamen Schritt, ihre offensichtliche Erschöpfung nicht verbergen ließ, auch nicht durch die grobgewebten, schweren Umhänge, die sie trug. Ein solches Mädchen, dessen war ich sicher, hatte bestimmt einen Herrn oder — wie ich in ihrem Interesse hoffte — einen Beschützer und Gefährten.

Auf Gor gibt es keine Ehe, sondern nur die sogenannte Freie Gefährtenschaft, die der irdischen Lebensgemeinschaft am nächsten kommt. Überraschenderweise wird eine Frau, die gegen Tarns oder Gold von ihren Eltern gekauft wird, als Freie Gefährtin angesehen, auch wenn sie bei dem Geschäft nicht einmal gefragt wird. Besser ist es schon, daß eine freie Frau auch aus eigenem Antrieb einwilligen kann, die Gefährtin eines Mannes zu werden. Und es ist nicht ungewöhnlich, daß Herren eines ihrer Sklavenmädchen befreien, um sie zur Freien Gefährtin mit allen Rechten und Privilegien zu machen. Nach allgemeinem Brauch darf man so viele Sklavinnen haben, wie man mochte, doch jeweils nur eine Freie Gefährtin. Solche Verbindungen werden also nicht leichtherzig geschlossen und werden gewöhnlich auch nur durch den Tod getrennt. Gelegentlich lernt der Goreaner — vielleicht noch öfter als wir auf der Erde — die wahre Bedeutung der Liebe kennen.

Das Mädchen war mir jetzt schon ziemlich nahe, doch sie hatte mich noch nicht gesehen. Sie hielt den Kopf gesenkt. Sie trug die Gewänder der Verhüllung, allerdings nur aus grobem Sackleinen gearbeitet, zerrissen und schmutzverkrustet. Sie machte einen sehr niedergeschlagenen, elenden Eindruck.

»Tal«, sagte ich leise, um sie nicht zu sehr zu erschrecken. Vorsichtig hob ich meinen Arm zum Gruß.

Obwohl sie mich noch nicht bemerkt hatte, schien sie kaum überrascht zu sein. Nun war der Augenblick gekommen, den sie offenbar seit vielen Tagen erwartete. Sie hob den Kopf und sah mich an, in ihren schönen grauen Augen stand das Leid. Sie schien sich nicht für mich oder ihr Schicksal zu interessieren.

Wir sahen uns einen Augenblick wortlos an.

»Tal, Krieger«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme.

Dann tat sie etwas, das für eine koreanische Frau unglaublich war. Wortlos loste sie den Schleier von ihrem Gesicht und ließ ihn auf ihre Schultern fallen. So stand sie vor mir, mit nacktem Gesicht, und sah mich an, offen, nicht herausfordernd, doch ohne Angst. Sie hatte schönes braunes Haar, ihre herrlichen grauen Augen wirkten nun noch klarer, und ihr Gesicht, wie ich jetzt Sehen konnte, war schön, sogar schöner, als ich erwartet hatte.

»Gefalle ich dir?« fragte sie.

»Ja«, sagte ich. »Du gefällst mir sehr.«

Ich wußte, daß ich womöglich der erste Mann war, der ihr Gesicht sah — abgesehen von den Mitgliedern ihrer Familie.

»Bin ich schön?« fragte sie.

»Ja«, sagte ich. »Du bist schön.«

Langsam streifte sie mit beiden Händen den Stoff nach unten, so daß ihr weißer Hals Freitag. Er war nackt, wies keinen schmalen goreanischen Reifen auf. Sie war frei.

»Soll ich mich hinknien, damit du mir deinen Kragen umlegen kannst?« fragte sie.

»Nein.«

»Möchtest du mich ganz sehen?«

»Nein.«

»Ich bin noch nie Sklavin gewesen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich tun muß — außer dir zu gehorchen.«

»Du bist frei gewesen«, sagte ich, »und du wirst es weiter sein.« Zum erstenmal wirkte sie verblüfft. »Gehörst du denn zu Ihnen?« »Zu wem?« fragte ich, plötzlich aufmerksam geworden, denn wenn diesem Mädchen Sklavenhäscher auf der Spur waren, konnte das Schwierigkeiten bedeuten. Es mochte sogar zu Blutvergießen kommen. »Zu den vier Männern, die mir gefolgt sind, Männer, aus Tharna.« »Tharna?« fragte ich ehrlich überrascht. »Ich dachte, die Männer Tharnas ehrten die Frauen?«

Sie lachte bitter auf. »Nicht in Tharna«, sagte sie.

»Sie konnten dich nicht als Sklavin nach Tharna bringen«, sagte ich. »Würde die Tatrix dich nicht befreien?«

»Sie würden mich nicht nach Tharna bringen«, erwiderte sie. »Sie würden mich gebrauchen und mich verkaufen, vielleicht an irgendeinen vorbeiziehenden Händler oder auf dem Sklavenmarkt in Ar.«

»Wie heißt du?« wollte ich wissen.

»Vera«, erwiderte sie.

»Aus welcher Stadt?«

Ehe sie antworten konnte, weiteten sich plötzlich ihre Augen, und ich wandte mich um. Durch das Gras schritten vier Krieger auf mich zu, behelmt und mit Speeren und Schilden bewaffnet. Die Zeichen auf ihren Schilden und die blauen Helme verrieten mir, daß sie aus Tharna kamen.

»Lauf!« schrie das Mädchen und wollte fliehen.

Ich hielt sie am Arm fest.

Sie erstarrte. »Ich verstehe!« zischte sie. »Du willst mich festhalten und dein Recht der Eroberung geltend machen, damit du einen Anteil am Verkaufserlös hast!« Sie spuckte mir ins Gesicht.

Ihr Temperament freute mich.

»Blieb stehen«, sagte ich. »Du würdest nicht weit kommen.«

»Ich fliehe schon sechs Tage lang«, sagte das Mädchen weinend. »Ich lebe von Beeren und Insekten, schlafe in Gräben und Verstecke mich überall.«

Sie hatte gar nicht mehr laufen können, selbst wenn sie gewollt hätte. Ihre Seine begannen zu zittern. Ich legte den Arm um ihre Schulter und stützte sie.

Die Krieger näherten sich in berufsmäßiger Formation. Einer, nicht der Offizier, kam direkt auf mich zu, ein zweiter folgte ihm in einigen Schritten Abstand links. Der erste sollte mich angreifen, während der zweite, wenn nötig, mit dem Speer von der Seite kam. Der Offizier war der dritte, und der vierte Krieger blieb einige Meter zurück. Er mußte das gesamte Feld im Auge behalten — ich war ja vielleicht nicht allein — und den Rückzug seiner Kameraden mit seinem Speer decken, falls es dazu kommen sollte. Ich bewunderte das einfache Manöver, das ohne besonderes Kommando durchgeführt wurde, fast wie ein Reflex, und ich spürte, warum Tharna im Kreise der verfeindeten goreanischen Städte überlebt hatte, obwohl es von einer Frau regiert wurde.

»Wir wollen die Frau«, sagte der Offizier.

Sanft löste ich mich von dem Mädchen und schob es hinter mich. Die Bedeutung dieser Bewegung war klar.

Der Offizier zog im Y-formigen Schlitz seines Helmes die Augen zusammen.

»Ich bin Thorn«, sagte er, »Offizier aus Tharna.«

»Warum wollt ihr die Frau?« fragte ich spöttisch. »Beten die Männer von Tharna ihre Frauen nicht an?«

»Wir sind hier nicht auf dem Boden Tharnas«, sagte der Offizier. »Warum sollte ich sie dir geben?« fragte ich.

»Weil ich ein Offizier aus Tharna bin«, sagte er.

»Aber wir sind hier nicht auf tharnaischem Boden«, erinnerte ich ihn. Hinter mir flüsterte das Mädchen: »Krieger, laß dich meinetwegen nicht umbringen! Es ist sowieso gleich.« Laut fuhr sie fort: »Töte ihn nicht, Thorn aus Tharna. Ich gehe mit dir.«

Sie ging um mich herum, mit stolz erhobenem Kopf, in ihr Schicksal ergeben, bereit, diesen Männern zu folgen.

Ich lachte.

»Sie gehört mir!« sagte ich. »Und ihr bekommt sie nicht!«

Das Mädchen stieß einen überraschten Schrei aus und sah mich fragend an.

»Es sei denn, ihr zahlt ihren Preis«, fugte ich hinzu.

Niedergeschlagen schloß Vera die Augen.

»Und der wäre?« wollte Thorn wissen.

»Stahl«, sagte ich.

Dankbar schaute mich das Mädchen an.

»Tötet ihn«, sagte Thorn zu seinen Männern.

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