Erster Teil Die Flügelträger

1. Der Sonnenkater

Die ganze Geschichte passierte eigentlich nur, weil ich krank geworden war.

Obwohl es bereits nach zwei Uhr mittags war, lag ich immer noch im Bett und blätterte im Peter Pan, den ich schon mehr als zehnmal gelesen hatte. Den Wickel, den mir meine Mutter heute Morgen um den Hals gebunden hatte, hatte ich längst abgenommen und in die Ecke geschleudert. Mir war völlig schleierhaft, wie ein in Wodka getränkter Verband gegen Husten helfen sollte. Natürlich hatte ich meine Mutter erst mal machen lassen, aber sobald sie aus dem Haus war, hatte ich meine Behandlung selber in die Hand genommen.

Ich hatte mich mit einem Buch ins Bett gepackt und darauf gewartet, dass der Krankheit diese langweilige Beschäftigung zum Hals raushing. Normalerweise funktioniert das. Okay, nicht auf Anhieb, aber nach zwei, drei Tagen schon.

Draußen herrschte ein Hundewetter. Mal schaute die Sonne kurz heraus, dann regnete es sich wieder ein, mit richtig ekelhaftem Nieselregen. In mein Zimmer fiel die Sonne allerdings sowieso nie, dafür stand unser Haus zu blöd: Auf allen Seiten versperrten Hochhäuser die Sicht. »In einer Wohnung wie dieser kann man höchstens Pilze züchten«, hatte Papa immer gesagt, als er noch bei uns wohnte.

Ich legte das Buch neben dem Bett auf den Fußboden und streckte mich auf dem Rücken aus. Wenn ich in diesem Moment die Augen geschlossen hätte, wäre all das vielleicht nie geschehen. Stattdessen schaute ich jedoch an die Decke und lauschte auf das Ticken der Uhr im Flur.

Da flog plötzlich ein Sonnenfleck durchs Fenster ins Zimmer. Ein kleiner Fleck nur, höchstens so groß wie meine Hand, dafür aber unglaublich hell. Als ob draußen eine heiße Sommersonne schiene und im Haus gegenüber jemand mit einem Spiegel auf dem Balkon herumspielte.

Der Sonnenfleck huschte über die Zimmerdecke, rutschte an der Wand runter, ließ die Glasschale auf der Kommode aufblitzen und kam mit einem leichten Zittern über dem Kopfende von meinem Bett zum Stehen.

»Bleib doch!«, sagte ich, denn mir war klar, dass der Sonnenfleck gleich weiterziehen und für immer aus meinem Zimmer verschwinden würde. »Geh nicht weg…«

Und genau damit fing alles an.

Der Sonnenfleck löste sich von der Wand und schaukelte durch die Luft. Im ersten Moment begriff ich nicht mal, dass so was gar nicht sein konnte. Erst als sich dieser schwebende Lichtfleck aufblähte und in eine pelzige, orangefarbene Kugel verwandelte, machte es bei mir klick: Direkt vor meinen Augen geschah ein Wunder.

Aus der leuchtenden Fellkugel streckten sich vier Pfoten heraus, ihnen folgten ein Schwanz und ein Kopf. Grüne Katzenaugen blinzelten mich kurz an und behielten mich danach fest im Blick. Der orangefarbene Ball glich jetzt überhaupt sehr einem kleinen Kater. Bloß dass dieser Kater in der Luft hing, leuchtete und leicht wie eine Feder zu sein schien: Einmal gepustet – und schon würde er davonfliegen.

»Hallo«, sagte der Kater. Immerhin miaute er nicht. »Vielen Dank für die Einladung.«

Rasch schloss ich die Augen. Doch als ich dann wieder hinsah, war der Kater immer noch da. Sogar näher als vorher.

»Ich glaube nicht an Märchen«, versicherte ich mir selbst und setzte mich langsam auf. »Dafür bin ich schon zu groß.«

»Im Vergleich zu dem kleinen Mädchen, das gerade den Wahren Spiegel gehalten hat, darfst du in der Tat als groß gelten«, erklärte der Kater, während er auf die Bettdecke segelte. Ängstlich starrte ich auf die Decke. Ob die gleich losschmurgelte? Aber nein, sie fing kein Feuer. In meinem Bauch brannte es ein bisschen, doch nicht wirklich schlimm. Der Kater legte den Kopf auf die Seite und fuhr fort: »Aber als Erwachsener dürftest du dennoch nicht durchgehen. Wie alt bist du? Zehn?«

»Ich werde bald vierzehn«, antwortete ich. Die sachliche Frage des Katers beruhigte mich irgendwie. »Wer bist du überhaupt?«

»Ein Sonnenball«, antwortete der Kater, während er sich neugierig musterte. »Zumindest äußerlich. Ich sehe doch so aus, oder?«

»Wie?«

»Wie ein Ball.«

»Eher wie ein Kater.«

»Das ist in meinem Fall dasselbe«, maulte der Kater und reckte sich.

Mir fiel nichts Besseres ein, als zu wiederholen: »Wer bist du denn nun?«

»Also hör mal, darüber haben wir uns doch gerade eben geeinigt!«, blaffte der Kater. »Ein Sonnenball, genauer ein Sonnenkater, denn diesem Tier ähnle ich weit mehr als einem Ball! Ist das so schwer zu begreifen?«

Ich geriet gewaltig ins Schleudern. Klar, ein kleines Tier, das Steine frisst, muss ein kleiner Steinbeißer sein. Das weiß jedes Kind. Folglich muss dieser Sonnenball hier ein Sonnenkater sein – weil er einem Ball halt überhaupt nicht ähnelt.

»Kann denn jeder Sonnenball lebendig werden, wenn man ihn ruft?«, fragte ich vorsichtig, denn ich befürchtete, der Kater könnte gleich wieder einschnappen.

»Wo denkst du hin!« Er tat entrüstet und schüttelte den Kopf. »Jeder? Pah! Nur das Wahre Licht, zurückgeworfen vom Wahren Spiegel, kann uns beleben.«

»Und was ist…?«, setzte ich an.

Der Kater wartete das Ende meiner Frage gar nicht erst ab. »Das Wahre Licht ist das Sonnenlicht«, erklärte er, während er über meine Bettdecke stolzierte. »Und Sonnenlicht ist etwas sehr Kostbares. Denn die meisten Sonnenstrahlen kommen gar nicht hier an. Lediglich einer unter Abertausenden von Sonnenstrahlen schafft es, zur Erde vorzudringen. Bei Sonnenaufgang oder bei Sonnenuntergang…« Der Kater sah zum Fenster hinaus und verzog angewidert das Gesicht. »… und manchmal sogar bei solchem Sauwetter.«

Er schwieg eine Weile, dann öffnete er den Mund wieder und fuhr sich entschuldigend mit der Pfote über den Kopf. »Und was der Wahre Spiegel ist… also, das weiß ich nicht. Vor fünf Minuten hat es mich schließlich noch nicht gegeben und mit dem Spiegel habe ich erst kurz davor Bekanntschaft geschlossen. Der Wahre Spiegel… also, das ist ein Spiegel, der das Wesen der Dinge enthüllt. Dergleichen ist höchst selten. In einem Wahren Spiegel sieht sich ein Mensch so, wie er wirklich ist, während die Dinge darin so aussehen, wie sie sein sollten. Aus diesem Grund zerstört man die Wahren Spiegel nur allzu oft«, beendete der Kater seine Ausführungen mit einer unvermuteten Wendung. »Und damit habe ich alles gesagt, was ich weiß.«

Behände sprang er von der Decke hinunter und landete weich auf dem Boden. Anschließend rannte er zum Fenster und machte einen langen Hals. »Jetzt ist die Sonne ganz weg«, meinte er traurig. »Ich habe es ja geahnt.«

Das orangefarbene Fell des Katers leuchtete mit einem weichen, dunkelroten Ton. Und obwohl es gar nicht viel Licht spendete, ließ sich plötzlich alles besser als sonst erkennen. Unter der Heizung erspähte ich eine Münze, die wer weiß wann dahin gekullert war, auf dem Teppich zeichnete sich klar und deutlich ein Fleck ab, der von dem Tee stammte, den ich vor ewigen Zeiten verschüttet hatte. Damit kapierte ich aber auch endgültig: All das geschah wirklich. Ich hockte tatsächlich in meinem Bett und unterhielt mich mit einem Sonnenkater, der aus dem Wahren Licht entstanden war, das ein Wahrer Spiegel zurückgeworfen hatte.

»Bist du ein Zauberer?«, erkundigte ich mich leise, denn ich schämte mich wegen dieser Frage.

»Ich glaube nicht an Märchen, dafür bin ich schon zu groß«, äffte mich der Kater nach, dem meine Verlegenheit nicht entgangen war. »Ja! Ich bin ein Zauberer. Solltest du jedoch darauf bestehen, bete ich dir aber auch gerne etwas über Photonen, Protonen und Magnetfelder herunter. Schreib dir allerdings eins hinter die Ohren: Daran glaube ich nicht.«

Sein spöttischer Ton ärgerte mich ein bisschen.

»Was kannst du denn überhaupt?«, fragte ich. »Vielleicht miauen?«

»Natürlich!«, sagte er empört. Er sprang er in die Luft, blieb dort hängen und gab ein kurzes Miauen von sich. »Na, überzeugt? Und soll ich dir auch noch beweisen, dass ich Mäuse fangen kann?«

»Nicht nötig«, antwortete ich. »Aber wenn du ein Zauberer bist, dann vollbring doch mal ein Wunder!«

»Ich selbst bin das Wunder.« Theatralisch drehte der Kater mir den Rücken zu.

Ich schob die Decke beiseite, setzte mich auf die Bettkante und ließ die Füße baumeln. Ich wollte den Kater streicheln und spielte sogar mit dem Gedanken, mich bei ihm zu entschuldigen, damit er nicht mehr sauer auf mich war und nicht weglief. Doch da musste ich ziemlich heftig husten.

»Bist du krank?«, fragte der Kater, ohne sich umzudrehen.

»Mhm.«

»Leg dich hin.«

Der Kater kam zu mir geflogen und stoppte direkt neben meinem Hals, und zwar so überraschend, dass ich einen Schreck bekam.

»Leg dich hin, hab ich gesagt!«, wiederholte der Kater mit strenger Stimme. »Keine Angst, ich beiße nicht, erkältete kleine Bengel schmecken mir nämlich nicht.«

Wie er sich an mir festhielt, blieb mir ein Rätsel. Die Krallen, falls er überhaupt welche hatte, fuhr er jedenfalls nicht aus. Ob er in der Luft über mir schwebte? Kaum hatte ich mich gehorsam hingelegt, kauerte er sich neben mich und bettete den Kopf auf mein Kinn.

»Wozu soll das gut sein?«, fragte ich zaghaft.

»Ich kuriere dich. Ist es warm?«

»Ja.«

»Dann lieg still. Wenn es heiß wird, sag Bescheid.«

Es wurde jedoch nicht heiß, sondern nur warm. Das sagte ich dem Kater auch. Der blieb eine Minute liegen, dann sprang er runter auf den Boden. »Das genügt«, verkündete er.

»Willst du mir etwa weismachen, ich sei wieder gesund?«

Er nickte. Ein nickender Kater sieht absolut komisch aus, doch da sein Fell feuerrot leuchtete, verkniff ich mir mein Lachen lieber.

»Ich merke aber gar nichts! Bloß mein Hals kratzt nicht mehr…«

»Und was gedachtest du zu merken?«, schnauzte der Kater. »Schließlich hattest du nur eine schnöde Erkältung! Ein kräftiger Junge, aber beim ersten Husten, schwupps, verschwindet er im Bett!«

Ich wollte ihm schon antworten, dass mich meine Mutter ins Bett gesteckt hatte, überlegte es mir dann aber anders. Schließlich war meine Mutter längst zur Arbeit gegangen. Was sie wohl zu einem sprechenden und leuchtenden Kater sagen würde? Ob sie Angst vor ihm hätte?

»Also, was kannst du?«, fragte ich.

»Das weiß ich nicht«, sagte er. »Schließlich bin ich ja noch klein.«

»Wirst du noch größer?«

»Wohl kaum«, antwortete der Kater und wurde prompt traurig. »Das Wahre Licht ist eine Seltenheit. Um groß zu werden, bräuchte ich jedoch genau dieses Licht. Oh! Weißt du, was ich kann? Ich kann verloren gegangene Sachen wiederfinden! Knöpfe und Münzen zum Beispiel! In mir selbst steckt nämlich Wahres Licht – und vor dem kann sich nichts und niemand verstecken!«

»Klasse«, brachte ich ohne allzu große Begeisterung hervor. Dann konnte ich mich nicht mehr beherrschen, streckte die Hand aus – und streichelte den Kater. Heiß war er nicht, aber ein bisschen wärmer als ein richtiger Kater. Früher hatte ich mal einen Kater gehabt, doch eines Tages hatte meine Mutter verlangt, dass ich ihn weggebe. Aus heiterem Himmel hatte sie nämlich eine Katzenallergie gekriegt.

Der kleine Kater hier tat so, als bemerke er gar nicht, wie ich ihn streichelte. Trotzdem hatte ich in den Eindruck, dass es ihm gefiel.

»Außerdem kann ich noch…«, stotterte der Kater, »… ich kann… also, ich kann Türen finden.«

Ich brach in schallendes Gelächter aus. »Eine Tür finde ich gerade noch allein! Wenn allerdings meine Haare leuchten würden, könnte ich es auch in der Dunkelheit schaffen.«

»Dummkopf!« Der Kater warf mir einen überlegenen Blick zu. »Ich meine selbstverständlich keine normalen Türen. Ich meine die Verborgenen!«

In dem Moment hatte ich natürlich nicht den geringsten Schimmer, von was für Türen er sprach. Trotzdem zitterte ich ein bisschen, als ginge eine Welle eisiger Luft durchs Zimmer.

»Und was soll das sein, eine Verborgene Tür?«, fragte ich, wobei ich unwillkürlich flüsterte.

»Eine Verborgene Tür führt von einer Welt in eine andere«, antwortete der Kater ebenfalls mit gesenkter Stimme. »Die Menschen sehen sie normalerweise nicht.«

Eine Tür, die von einer Welt in eine andere führt? Wer’s glaubt, wird selig!

»Und wo verstecken sich diese Türen?«, fragte ich.

»Die können überall sein«, erklärte der Kater. »Würde mich nicht wundern, wenn es in deinem Zimmer auch welche gäbe. Aber das haben wir gleich.«

Zielstrebig stolzierte er zur Wand rüber.

Und noch während er sich ihr näherte, geschah etwas höchst Merkwürdiges. Plötzlich sah ich nämlich ganz klar die drei Schichten Tapeten, die in meinem Zimmer übereinandergeklebt waren. Konnte ich mich an die mittlere Schicht noch erinnern – die hatten wir ausgesucht, als wir aus der alten Wohnung hierhergezogen waren –, musste die untere von den Vormietern stammen. Darunter klebten noch Zeitungen, die ich nicht mal mehr dem Namen nach kannte. Als Letztes kam die Ziegelmauer.

Der Kater lief an der Wand lang und mit einem Mal bemerkte ich zwischen den Ziegelsteinen eine grobe Holztür!

»Da ist eine!«, schrie ich, aber der Kater blieb nicht stehen. »Kannst du sie aufmachen?«

»Das könnte dir so passen!«, schnaubte er. »Hinter einer solchen Tür wartet kein Vergnügen.«

Die nächste Tür fand der Kater in einer Ecke. Sie war aus Metall, grau, mit einem kleinen Rädchen statt einer Klinke, genau wie bei einem Tresor. Diesmal zögerte er kurz. »Dahinter gibt es vermutlich allerlei Photonen, Protonen und Magnetfelder«, sagte er abfällig. »Lass uns weitersuchen!«

»Okay«, antwortete ich. Abenteuerlust hatte mich gepackt. Als ich dem Sonnenkater folgte, bekamen meine Beine seine Wärme ab! Klasse! Vor allem, wenn du barfuß rumläufst und auf keinen Fall gleich wieder krank werden willst, nachdem du gerade erst gesund geworden bist.

»Ha!«, quiekte der Kater triumphierend. »Die ist besser, oder?«

Die Tür machte wirklich was her. Sie war aus Ebenholz und mit Schnitzereien verziert und hatte eine gewaltige Klinke aus Bronze, die ein bisschen aus der Tapete herausragte. Was das Wahre Licht alles an den Tag bringt!

»Wollen wir mal einen Blick durch die Tür werfen?«, fragte der Kater.

Damit überraschte er mich nun tatsächlich.

»Geht das denn?«

»Selbstverständlich. Alles, was du im Wahren Licht erblickst, steht dir offen.«

Zweifelnd zuckte ich die Schultern. Ich blickte an mir herunter: Bloß in Unterhose und Unterhemd stand ich da, nicht mal Hausschuhe hatte ich an. Was, wenn hinter dieser Tür ein Palast lag, in dem gerade ein Ball stattfand? Was sollte ich dann sagen? Etwa: Darf ich um den nächsten Tanz bitten, meine Dame?

»Ich zieh mir wohl besser erst was an«, brachte ich unsicher hervor. Dem Kater entging meine Zaghaftigkeit nicht.

»Dummkopf!«, kanzelte er mich ab. »Glaubst du vielleicht, es ist ein Kinderspiel, eine Verborgene Tür zu beleuchten? Schließlich bin ich noch klein! Da reichen meine Kräfte nicht sehr lang!«

Das sah ich ein. Und wahrscheinlich hätte auch sonst niemand an meiner Stelle Protest eingelegt. »Wie geht sie auf?«

»Schau auf die Klinke!« Der Kater brachte nur noch ein Flüstern zustande. Anscheinend strengte die Beleuchtung der Tür ihn tatsächlich an. »Schau sie fest an, bis du sie ganz klar erkennst. Dann packst du sie und öffnest die Tür.«

Ich starrte auf die Klinke. Zuerst wirkte sie etwas verschwommen, wie durch Milchglas. Nach einer Weile sah ich sie jedoch völlig scharf. Die Bronze war roh und unbehandelt und nur am Rand glatt, als wäre sie durch unzählige Berührungen abgeschliffen worden. Benutzte etwa jemand regelmäßig diese Tür? Ich streckte die Hand aus und fasste das kalte Metall an.

»Mach schon, beeil dich«, drängelte der Kater mit jämmerlich schwacher Stimme. Entschlossen zog ich die Tür zu mir.

Sie war schwer, sehr schwer sogar. Als wären die Angeln im Laufe der Jahre eingerostet oder versteinert. Da ich aber unverdrossen weiterzog, bewegte sich die Tür langsam in meine Richtung – und zwar durch die Ziegelsteine, die alten Zeitungen und die drei Schichten Tapete hindurch. Mich wunderte schon gar nichts mehr.

Kalter Wind schlug uns entgegen. Die Blätter an den Bäumen raschelten leise. Außerdem war es stockdunkel. Aber wenigstens gab es hier keinen Palast.

»Hier ist Nacht«, bemerkte der Kater enttäuscht. »Und nicht ein einziger Stern ist zu sehen. Schade. Bei Sternenlicht handelt es sich nämlich stets um Wahres Licht…« Schon im nächsten Moment schöpfte er jedoch neuen Mut. Er sprang über meinen Fuß drüber und zur Tür hinaus.

»Pass auf!«, schrie ich.

Der leuchtende Fleck blitzte bereits zehn Meter entfernt von mir auf.

»Papperlapapp! Was soll einem Sonnenkater schon passieren? Und sei’s in der Nacht! Komm her, hier gibt’s Gras!«

Daraufhin trat ich ebenfalls durch die Tür. Unter meinen Füßen spürte ich warmes Gras. Herbst herrschte hier mit Sicherheit nicht. Sommer oder Frühling musste es sein…

»Kater!«, rief ich, während ich mich in der Dunkelheit vortastete. Jetzt bloß nicht stolpern! »Kater!«

»Die Tür!« Der leuchtende Fleck schoss auf mich zu. »Du dummer Junge!«

Ich drehte mich um und sah, wie die helle Türfüllung nach und nach von der Dunkelheit verschluckt wurde. Als ich zurückhechtete, stieß meine Hand nur noch gegen Stein. Beinahe hätte ich mir sogar die Stirn an dem Felsen aufgeschlagen.

Furchtbare Angst packte mich.

»Du bist der allerdümmste Junge auf der ganzen Welt!«, giftete der Kater. »Was hast du da nur angerichtet? Jetzt ist die Tür zu!«

»Das sehe ich auch, dass sie zu ist!«, knurrte ich. »Also beleuchte sie! Dann machen wir sie wieder auf.«

»Ein Versuch kann ja nicht schaden…«, meinte der Kater.

Er trat dicht an den Stein heran, und ich sah, wie sich schwach die Umrisse der Holztür abzeichneten. Jetzt fiel mir auch auf, wie riesig der Stein war, in dem die Tür lag. Es war gar kein Felsblock, sondern ein Teil eines Bergs. Doch so fest ich die Tür auch ansah, klar erkennen konnte ich sie nicht! Und meine Finger stießen auch bloß auf Stein, nicht aber auf die Bronzeklinke.

»Es klappt nicht«, sagte ich schuldbewusst.

»Das ist mir nicht entgangen«, höhnte der Kater. »Es ist schwer, eine Verborgene Tür durch Stein hindurch zu erkennen. Dabei handelt es sich eben nicht bloß um alte Zeitungen. Vielleicht sollten wir eine andere suchen… Es existiert da ein Gesetz: Drei Türen müssen von einer Welt in eine andere führen.«

»Kannst du nicht doch diese hier aufmachen?«, fragte ich, denn meine Angst wuchs immer weiter. Außerdem kam es mir dumm vor, jetzt überall nach einem Ausgang zu suchen, wo wir doch genau vor einem standen. Aber der Kater sagte kein Wort.

»Nun antworte schon!«, jammerte ich. »Warum sagst du denn nichts?«

»Ich kann es nicht«, flüsterte der Kater kaum hörbar. »Schließlich bin ich ja noch klein. Und es hat mich schon ungeheure Kraft gekostet, die Tür in deinem Zimmer zu öffnen.«

»Das hast du wirklich prima hingekriegt, Sonnenkater«, sagte ich, wobei ich mit den Tränen kämpfte. Irgendwann ließ ich mich einfach vor dem Felsen ins Gras plumpsen. Ein spitzer Stein bohrte sich schmerzhaft in mein Bein, aber darauf achtete ich nicht weiter. Die Tür konnte ich kaum noch erkennen. »Ob es was bringen würde, den Stein wegzuhauen?«

»Das weiß ich nicht«, gestand der Kater traurig und schmiegte sich gegen mein Bein. Sofort löste sich meine Wut in Luft auf. »Du bist aber auch nicht ganz unschuldig, du dummer Junge. Du hättest die Tür im Auge behalten müssen.«

»Das hättest du mir doch sagen müssen! Und warum nennst du mich eigentlich die ganze Zeit einen dummen Jungen?«

»Wenn du darauf bestehst, nenne ich dich von jetzt an einen klugen Jungen«, erwiderte der Kater.

»Ich habe auch einen Namen!«

»Damit vorgestellt hast du dich aber nicht!«

Eine Minute lang sagten wir beide kein Wort. »Und wie heißt du?«, fragte der Kater schließlich mit leiser Stimme.

»Danka.«

»Es gibt schlimmere Namen«, meinte der Kater. »Also, pass auf! Du brauchst keine Angst zu haben! Wir warten einfach bis morgen früh. Ich brauche lediglich einen Funken Wahren Lichts, um diese dämliche Verborgene Tür zu beleuchten.«

»Wirklich?«

»Ganz bestimmt!«, versicherte der Kater. »Du könntest mit leerem Magen ja wohl auch keinen Marathon laufen, oder?«

»Nicht mal mit vollem«, gab ich zu. »Was hat es eigentlich mit diesem Spiegel auf sich? Woher kommt er?«

»Das weiß ich doch nicht. Er ist sehr alt. Das kleine Mädchen, das ihn gehalten hat, hatte ihn einfach an sich genommen und dann Sonnenstrahlen damit eingefangen! Puh, dieses Mädchen hat nicht die blasseste Ahnung, was für ein erstaunliches Ding es bei sich zu Hause aufbewahrt!«

Da saß ich nun neben dem Sonnenkater und ließ mir durch den Kopf gehen, was ich eben gehört hatte. Bestimmt staubten in etlichen Haushalten Wahre Spiegel vor sich hin, mit denen man eigentlich Wunder hätte vollbringen können. Wir beachten diese Dinger gar nicht, obwohl wir sie nur ins Morgenlicht stellen müssten, um…

»Sag mal, Kater, wie kriegt man raus, ob man einen Wahren Spiegel vor sich hat?«

»Du brauchst bloß in ihn hineinzuschauen und dir dabei zu wünschen, dich so zu sehen, wie du tatsächlich bist. Die meisten Menschen haben jedoch Angst vor diesen Spiegeln und schauen sich lieber ihr Abbild an statt ihr eigentliches Wesen.«

»Und worin besteht der Unterschied zwischen beidem?«

»Du dummer, dummer Danka«, sagte der Kater. »Du bist wirklich noch sehr klein…«

Beleidigt verzichtete ich auf jede weitere Frage.

»Ist dir nicht kalt?«, fragte der Kater und legte sich auf meine Füße.

»Nein.«

»Nimm’s mir nicht übel, wenn ich dich aufziehe. Im Grunde bin ich an allem schuld. Ich wollte ein bisschen vor dir angeben…«

»Schon gut. Warten wir auf den Sonnenaufgang, dann gehen wir wieder nach Hause. Es ist nur schade, dass wir gar nichts von dieser Welt gesehen haben.«

»Was sollte es hier schon zu sehen geben?«, fragte der Kater schläfrig. »Zwischen den Felsen erstreckt sich ein kleines Tal. Hundert mal zweihundert Meter, nicht mehr. Ferner gibt es einen kleinen Bach, ein paar Bäume und ein paar einzelne Felsblöcke.«

»Woher weißt du das denn?«

»Das sehe ich doch.«

»Bei der Dunkelheit?!«

»In mir brennt immerhin Wahres Licht«, erinnerte mich der Kater mit einem Seufzer. »Lass uns schlafen, Danka!«

»Ich will aber nicht schlafen.«

»Dann halte den Mund, damit ich schlafen kann.«

Habt ihr schon mal in völliger Dunkelheit dagesessen? Mit einem schlafenden Kater auf den Knien? Und es war wirklich stockfinster, denn nachdem der Kater eingeschlafen war, leuchtete sein Fell nicht heller als die Birne eines Nachtlichts in einem Kinderzimmer. Was hättet ihr in dieser Situation gemacht?

Eben. Ich schlief auch ein.



2. Warten auf den Sonnenaufgang

Ich wachte auf, weil mir eiskalt war. Der Kater schlief noch. Er strahlte zwar unablässig seine Wärme aus, doch die reichte nur für meinen Bauch und den oberen Teil der Beine. Über meine Schultern strich dagegen eisiger Wind.

Als ich die Arme um meine Schultern schlang, hob der Kater sofort seinen Kopf und leuchtete mit ganzer Kraft auf. »Frierst du?«

»Wie kommst du denn darauf?« Meine Zähne klapperten wie verrückt, außerdem hatte ich wahnsinnigen Hunger. »Mit Sicherheit fang ich mir gleich die nächste Erkältung ein!«

»Dann kuriere ich dich eben wieder«, sagte der Kater absolut gelassen. »Hab noch etwas Geduld, gleich bricht der Tag an. Vor Sonnenaufgang ist es immer besonders dunkel und kalt.«

»Aber dann wird es hell, ja?«

Vorsichtig setzte ich den Kater auf die Erde und fing an herumzuhüpfen, um warm zu werden. Aber es half kaum.

»Vielleicht haben wir zu wenig Schlaf abgekriegt?«, meinte ich, nachdem ich mich wieder ins Gras gesetzt hatte.

»Siebeneinhalb Stunden. Reicht dir das etwa nicht?«, schnaubte der Kater. »Machst du dir eigentlich einen Begriff, was für ein famoses Zeitgefühl Sonnenkater haben?«

Plötzlich kam mir ein furchtbarer Verdacht, den ich jedoch erst mal für mich behielt. »Und vor Sonnenaufgang kannst du die Tür ganz bestimmt nicht aufmachen?«, fragte ich stattdessen.

»Unter keinen Umständen.«

»Und wenn… also… äh… wenn die Nacht hier sehr lange dauert?«

»Wie meinst du das?«

»Ein paar Monate zum Beispiel. Wie am Nordpol oder am Südpol!«

Der Kater schwieg eine Weile. Irgendwann fing er an, durchs Gras zu tigern. »Ich hatte gehofft, du würdest nicht auf diesen Gedanken kommen«, meinte er niedergeschlagen.

Ich schlang die Arme erneut um meine Schultern und starrte ihn an. »Heißt das, wir müssen in diesen Bergen verrecken?«, schnauzte ich. »Hier finden wir ja nicht mal was zu essen!«

»Das ist mir durchaus bewusst«, knurrte der Kater. »Immerhin haben wir Wasser, du kannst also gern ein Schlückchen trinken.«

»Meine Mutter sucht mich garantiert schon«, fiel mir plötzlich ein. »Was soll sie denn denken? Ich bin aus dem Bett verschwunden und hab nicht mal Hausschuhe an!«

»Wir wollen noch ein wenig warten«, schlug der Kater vor. So warteten wir denn, schweigend, denn keiner von uns wollte sich unterhalten. Allerdings verkündete der Kater mit seinem famosen Zeitgefühl jede Viertelstunde, die vergangen war. Irgendwann teilte er mir mit einem Seufzer mit, es sei eine Stunde um.

»Und wo bleibt dein Sonnenaufgang?«, stieß ich hervor.

»Er lässt auf sich warten«, räumte der Kater ein. »Ich spüre ihn nicht einmal. Die Sonne ist noch weit, weit weg. Warten wir noch ein wen…«

»Mir reicht’s«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich hab’s satt, hier rumzusitzen.«

»Eine Möglichkeit gäbe es in der Tat«, sagte der Kater und seufzte. »Immerhin beherrsche ich die Kunst des Fliegens. Ich könnte mich in die Lüfte erheben und fliegen, bis ich irgendwo auf Sonnenschein stoße.«

»Und dann?«

»Dann schöpfe ich neue Kraft und kehre zu dir zurück. Sonnenkater verfügen über einen famosen Orientierungssinn, deshalb werde ich dich unbedingt wiederfinden. Danach öffnen wir völlig mühelos die Tür und alles ist wieder in Ordnung.«

»Warum bist du damit nicht gleich herausgerückt?«, maulte ich.

»Weil ich eben kein Sonnenstrahl mehr bin!«, erklärte der Kater ungeduldig. »Obwohl ich sehr schnell fliegen werde, kann so ein Ausflug ein paar Tage in Anspruch nehmen.«

Jetzt bekam ich richtig Angst. »Ist dir klar, was du da sagst?«, zischte ich. »Weißt du, was meine Mutter mit mir macht?«

»Einen anderen Ausweg sehe ich nicht. Entweder wir warten – oder ich fliege.«

Ich wandte den Blick von dem Sonnenkater ab. Mit einem Mal begriff ich, warum mir dieser Vorschlag nicht gefiel: Weil ich ja schon jetzt eine Heidenangst hatte.

Vermutlich fürchtete ich mich plötzlich in der Dunkelheit und ohne den Sonnenkater würde diese undurchdringlich sein. Außerdem: Was, wenn er nicht zurückkam?

»Okay«, presste ich heraus. »Flieg schon. Am besten gleich, sonst überlege ich es mir noch anders.«

»Kopf hoch, Danka.« Er wusste genau, wie ich mich gerade fühlte. »Ich beeile mich. Wenn du Durst hast, der Bach liegt direkt vor dir, etwa dreißig Meter einfach geradeaus. Warte hier auf mich.«

Bevor ich antworten konnte, ich hätte es mir anders überlegt und würde doch lieber nicht allein in dieser Düsternis zurückbleiben, sprang der Kater hoch und stieg in die Luft auf. Das orangefarbene Lichtknäuel gewann rasch an Höhe, verwandelte sich in einen winzigen Punkt am schwarzen Himmel – und flog davon. Er war wirklich verdammt schnell. Schon nach ein paar Sekunden hatte ich ihn aus den Augen verloren. Aber ob seine Kräfte ausreichten, um dieses Tempo die ganze Zeit über beizubehalten?

Die nächsten zehn Minuten heulte ich, das Gesicht in das dichte, weiche Gras gepresst. Komischerweise wurde mir dabei sogar ein bisschen wärmer. Irgendwann stand ich auf und fing an, den Bach zu suchen, von dem der Kater gesprochen hatte.

Es ist ziemlich merkwürdig, wie ein Blinder durch die Finsternis zu tapsen. Du verlierst dabei jedes Gefühl für Entfernung und Zeit. Einzig und allein die Steine, auf die du hin und wieder trittst, beweisen dir, dass du dich überhaupt fortbewegst.

Die Arme hatte ich ausgestreckt, denn ich fürchtete, jeden Moment auszurutschen. Schon bald hörte ich jedoch Wasser plätschern, kurz darauf spürte ich unter meinen Füßen feuchten Sand.

Ich hockte mich hin und trank gierig das kalte, saubere Wasser. Danach trat ich ein paar Schritte zurück, nur so viel, dass ich den Bach immer noch hören konnte, und streckte mich auf dem Rücken im Gras aus, das so hoch war, dass es quasi ein Dach über mir bildete.

Es gab absolut nichts, was ich hätte tun können. Bisher war mir überhaupt nicht klar gewesen, wie sehr solches Nichtstun schlaucht. Ich lag bloß da, lauschte auf das plätschernde Wasser und den heulenden Wind irgendwo hoch über mir. Und vermutlich lag ich ziemlich lange so da. Irgendwann schlief ich wieder ein.

Bis mich Schritte weckten. Ich wollte schon etwas rufen, um den Kater auf mich aufmerksam zu machen, begriff aber im letzten Moment, dass es nicht seine Schritte waren. Dazu waren sie viel zu schwer. Das waren die Schritte eines Menschen.

Sofort bekam ich wieder Angst.

Die Schritte näherten sich von zwei Seiten. Ein paar Meter von mir entfernt trafen sie sich.

»Hier ist niemand«, nörgelte jemand.

»Hier auch nicht.«

Obwohl ich die beiden verstand, hatte ich den seltsamen Eindruck, sie unterhielten sich in einer Fremdsprache. Außerdem brachten diese brummeligen, tiefen Stimmen mich halb um den Verstand. Wie erstarrt blieb ich liegen, höllisch darauf bedacht, mich ja nicht zu rühren.

»Absolut niemand. Komisch, dabei hat die Patrouille doch ein Licht gesehen.«

»Die Patrouille hat ein Wahres Licht gesehen.«

»Das kann nicht sein.«

»Aber die Patrouille hat es doch gesehen.«

»Hier ist kein Licht. Hier ist niemand.«

»Der, von dem das Licht ausging, ist längst weggeflogen.«

»Oder in den Bergen verschwunden. So hoch sind die hier ja nicht.«

»Mit Sicherheit fangen wir uns jetzt einen Rüffel ein, weil wir nicht schnell genug waren.«

»Schöne Aussicht! Lass uns einfach behaupten, es wäre der Flügelträger gewesen, der gestern geflohen ist.«

»Dann wird man uns fragen, wo sein Herz ist.«

»Dann erklären wir eben, er habe sich gewehrt. Und deshalb seien wir gezwungen gewesen, das Tal mit Schwarzem Feuer zu versengen.«

»Wir können doch das Schwarze Feuer nicht einfach so vergeuden.«

»Das ist immer noch besser, als wenn sie uns drankriegen, weil wir zu langsam gewesen sind.«

»Stimmt. Hast du Schwarzes Feuer?«

»Ja, im Turm.«

»Ich habe keins mehr. Also gut, wir fliegen zu dir, holen das Feuer und zünden das Tal an.«

»Dann los.«

Als die Stimmen schwiegen, spürte ich wieder die Finsternis, die absolut undurchdringliche Düsternis. Zwei riesige Flügelpaare schlugen. Wind, in dem ein ätzender Menschengeruch lag, peitschte mir ins Gesicht. Die Wesen der Finsternis stiegen in den Himmel auf.

Die nächsten Minuten lag ich stocksteif da und versuchte mir einzureden, ich hätte einen Albtraum gehabt. Doch der scharfe Geruch hing noch immer in der Luft, und an der Stelle, wo die beiden gestanden hatten, ertastete ich herausgerissene Grasbüschel.

Auf keinen Fall wollte ich die Rückkehr derjenigen abwarten, die hier das Gras samt Wurzeln herausgerissen hatten. Noch weniger Wert legte ich darauf, dieses Schwarze Feuer kennenzulernen – was auch immer sich dahinter verbergen mochte.

Als ich aufstand, schien sich alles um mich herum zu einem Käfig aus Dunkelheit und Angst zusammenzuziehen. Ach, Kater, Kater! Hast du wirklich nicht gewusst, wohin uns diese Verborgene Tür führt?

»Ich habe keine Angst«, verkündete ich laut. Die Dunkelheit antwortete mir nicht. »Ich bin schon groß. Ich klettere jetzt auf die Felsen, so hoch sind die hier ja nicht.«

Die Dunkelheit schwieg.

Mit vorgestreckten Armen stapfte ich am Bach entlang. Die Finsternis folgte mir. Es ging recht steil aufwärts. Aber weil das Wasser kein Geräusch machte wie bei einem Wasserfall, konnte die Felswand wohl kaum senkrecht sein. Mein sechster Sinn sagte mir, ich solle neben dem Wasser hochkraxeln, damit sein leises Rauschen meine Bewegungen übertönte.

Als ich über den Stein tastete, fand ich einen lächerlich schmalen Vorsprung, auf den ich trotzdem raufkletterte. Dann kam der zweite. Ich hielt mich an einem Strauch fest, der zum Glück nicht pikte, und bewältigte den nächsten Meter. Alles in allem ließ sich die Sache ganz gut an, vor allem weil ich gar keine Vorstellung hatte, wie hoch ich eigentlich war.

»Ich falle nicht«, flüsterte ich wem auch immer zu. »Hört ihr mich? Ich falle nicht. Wo hätte es denn so was schon gegeben – dass man in eine Zauberwelt gerät und dort dann gleich von einem Berg abstürzt!«

Unter meinem Fuß gab ein Stein nach. Mir stockte der Atem. Von da an bewegte ich mich lieber schweigend weiter. Als ich mir nach zehn Minuten mit der Hand über den Mund fuhr, schmeckte ich Blut. Ich hatte mir die Finger am Fels aufgeschürft. Meine nackten Füße vermutlich auch, aber ich spürte keinen Schmerz. Und da ich nicht wie eine Kakerlake an einer Mauer hängen konnte, musste ich die Felswand ja sowieso weiter erklimmen.

Nach fünf Minuten war ich am Ende meiner Kräfte und wusste, dass ich früher oder später abstürzen würde. Genau in dem Moment gelangte ich zu einem kleinen Vorsprung. Ich presste mich fest gegen den Stein, setzte mich hin und ließ die Beine in der Finsternis baumeln. Wie hoch ich wohl geklettert war? Fünf Meter? Oder zehn? Na ja, garantiert nicht weit genug, um mich vor dem mysteriösen Feuer dieser fliegenden Kreaturen in Sicherheit zu bringen.

Ich zog mein Unterhemd aus und presste es mir nacheinander auf Hände und Füße und wartete jeweils ein paar Minuten, bis kein Blut mehr floss. Durch den Anstieg war ich ins Schwitzen geraten, die Kälte spürte ich jetzt nicht mehr. Ich ließ das zerrissene und feuchte Unterhemd auf dem Felsabsatz liegen und setzte den ersten Gipfelsturm meines Lebens fort. An dem rauschenden Wasser links von mir orientierte ich mich. Einmal verirrte ich mich an eine Stelle, wo mir bereits Spritzer auf den Kopf prasselten. Als ich spürte, wie glitschig die Felsen hier waren, versuchte ich vorsichtig, wieder nach rechts zu kommen. Sobald ich einen sicheren Vorsprung fand, machte ich jedes Mal eine kurze Pause, danach kletterte ich weiter. Die Finsternis kroch mir nach, verbarg die Höhe vor mir und verschlang die Zeit. Vielleicht dauerte der Anstieg eine halbe Stunde, vielleicht zog er sich auch ein paar Stunden hin, keine Ahnung. Das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass ich noch nie so müde gewesen war.

Plötzlich hörte ich Flügelschläge. Die beiden Wesen der Finsternis schwebten fast auf meiner Höhe. An die Felswand gepresst, vernahm ich ein pfeifendes Flüstern: »Gieß es aus!«

Sehen konnte ich nichts, nur ein Knistern hörte ich, das klang, als würden im ganzen Tal trockene Äste knacken. Irgendwann zischte das Wasser im Bach. Heiße, glühende Luft schlug in die Höhe.

Die Felsen unter mir fingen in null Komma nichts an zu glühen. In der sengenden Hitze bekam ich kaum noch Luft. Aus dem Tal zog Wind herauf und zerzauste meine Haare. Irgendwann merkte ich sogar, wie der Schorf an meinen Füßen abbröckelte.

Alles hörte genauso abrupt auf, wie es angefangen hatte. Die Flügelgeräusche verschwanden, die Temperatur fiel wieder. Ich klebte an der Felswand und brach quasi nachträglich in Schweiß aus.

Das Schwarze Feuer erlosch. Als unter mir das Tal in purpurroten, fast schwarzen Flammen gestanden hatte, hatte ich immerhin gesehen, wie hoch ich inzwischen geklettert war. Mindestens fünfzig Meter! Zurück konnte ich jetzt nicht mehr. Also dann: Weiter nach oben!

»Ich habe keine Angst«, wiederholte ich, als wäre das ein Zauberspruch.

Die Dunkelheit und die Stille folgten mir weiter den Berg hoch. Es wurde immer kälter, meine Finger starben fast ab, meine Füße spürte ich kaum noch. Als ich den nächsten Vorsprung erreichte, blieb ich lange liegen, um meine restlichen Kräfte zu mobilisieren. Dann erkundete ich mit der Hand den Felsen. Und endlich berührten meine Finger wieder weiches Gras.

Hatte ich es also doch geschafft! Ich rappelte mich hoch, krabbelte aus der steinernen Falle und gelangte zu einem Plateau, über das ein kalter Wind pfiff. Das Gras war nass vom Tau. Womöglich gab es in der Ferne ja noch andere Berge, aber mir kam es so vor, als ob um mich herum eine riesige freie Fläche lag. Hier hätte ich, ohne zu murren, auf den Sonnenkater gewartet – wenn ich was zum Anziehen und zum Essen gehabt hätte.

Normalerweise wäre ich jetzt völlig am Ende gewesen. Weil ich fror und weil ich mutterseelenallein allein war. Aber die geglückte Flucht vor den Wesen der Finsternis hatte etwas in mir verändert.

Zu Hause, da heulte ich schon, wenn ich mich im Hof prügelte oder meine Mutter mit mir schimpfte. Aber hier war es selbst zum Weinen viel zu schrecklich. Andererseits hätte ich mich auch nicht ins Gras legen, gottergeben vor mich hinfrieren und auf die Rückkehr des Katers warten können, denn ich platzte vor Stolz.

Deshalb stellte ich mich kerzengerade hin, legte die Hände an den Mund und rief: »He! He!«

Wahrscheinlich wollte ich einfach das Echo hören. Und mich überzeugen, dass es in dieser Dunkelheit noch andere Geräusche gab als das Klopfen meines Herzens.

Doch noch bevor das ferne Echo meinen schwachen Schrei wieder zu mir zurückbrachte, zitterte ein paar Schritt von mir entfernt das Gras. »Eine Bewegung und ich bring dich um«, sagte jemand, den ich in der Finsternis nicht erkennen konnte.

Angst bekam ich nur deshalb keine, weil die Stimme völlig anders klang als das zischende Pfeifen dieser geflügelten Wesen. Eigentlich hörte sie sich sogar wie die eines ganz normalen Menschen an.

»Ich rühr mich bestimmt nicht vom Fleck«, antwortete ich leise.

»Was hast du hier verloren?«, drang es an mein Ohr, offenbar aus größerer Nähe als gerade eben. Mein unsichtbarer Gesprächspartner pirschte sich also an mich heran.

Was ich hier verloren hatte? Tolle Frage! Ich warte auf einen Sonnenkater, erfriere allmählich und brülle mit letzter Kraft herum…

»Ich warte auf den Sonnenaufgang«, antwortete ich, wobei ich immer noch stocksteif dastand.

Jemand griff nach meiner Hand. Ich unterdrückte mit letzter Kraft einen Schrei.

Der andere sagte: »Der Sonnenaufgang wird kommen.« Es klang formelhaft. Dann fuhr die Stimme fort: »Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte dich umgebracht.«

»Ach ja?«, fragte ich automatisch. Jetzt hörte ich das leise Klirren von Metall.

»Hast du die Freiflieger gesehen?«

»Sie haben das Tal mit Schwarzem Feuer in Brand gesetzt«, sagte ich in der Hoffnung, die richtige Antwort zu geben.

»Das habe ich mitbekommen. Die waren hinter mir her.«

»Und dabei hätten sie mich beinah umgebracht.«

Diese Worte gaben vermutlich den Ausschlag.

»In dieser Gegend hätte ich doch nie jemanden vermutet«, rechtfertigte sich der Unbekannte verlegen. »Tut mir leid. Zum Glück ist dir ja nichts passiert. Gehen wir!«

Er zog mich sanft mit sich. Ich streckte die freie Hand vor, um nirgendwo dagegenzulaufen.

»Wo ist denn deine Brille?«, fragte er sofort.

»Ich habe noch nie eine gehabt.«

»Wirklich nicht? Pass auf, hier sind Bäume.«

Doch da war ich schon mit einem Aufschrei in einen zurückschnellenden Zweig gelaufen. Obwohl der andere mich nicht rechtzeitig gewarnt hatte, war ich nicht sauer auf ihn.

»Wir sind gleich da. Bück dich!«

Gehorsam bückte ich mich und spürte, wie fester Stoff mein Gesicht streifte. Ich zwängte mich dem Unbekannten hinterher durch einen schmalen Spalt, hinein in etwas Warmes, offenbar ein kleines Zelt.

»Mach den Eingang wieder zu! Ach, stimmt ja, du siehst ja nichts. Setz dich.«

Hinter mir raschelte der Stoff. Dann klatschte der Jemand in die Hände, und Licht blendete mich, das noch dazu von allen Seiten zugleich kam!

Mit geschlossenen Augen kämpfte ich in den nächsten Minuten gegen den unangenehmen Eindruck an, gemustert zu werden. Schließlich riskierte ich es, ein Auge zu öffnen. Blinzelnd sah ich mich um.

Ich saß wirklich in einem kleinen, runden Zelt. Seine Innenseite war schneeweiß und leuchtete schwach.

Vor mir hockte ein Junge in meinem Alter. Er war mager und hatte blonde Haare. Außerdem war er extrem blass, was mich allerdings überhaupt nicht wunderte. Er trug nur kurze, weiche Shorts aus grellblauem Wollstoff. An einem breiten Ledergürtel hing eine Scheide mit einem langen, dünnen Schwert.

Nach und nach legte sich meine Angst. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, einen erwachsenen Kerl mit fieser Visage vor mir zu haben, nicht aber einen Jungen in meinem Alter.

»Ich kenne dich gar nicht«, meinte der Junge misstrauisch.

»Ich dich auch nicht«, sagte ich. Im Zelt war es warm und hell. Die Wesen der Finsternis kamen mir jetzt wie ein wilder Traum vor. Angst hatte ich absolut keine mehr.

Der Junge setzte das Verhör fort. »Woher kommst du?« Seine Hand lag auf dem Schwert, als wolle er es gleich ziehen und sich in den Kampf stürzen.

»Von weit her«, erklärte ich ehrlich – ohne damit die geringste Information preiszugeben.

Trotzdem akzeptierte der Junge die Antwort. Er ließ aber noch nicht locker. »Wo sind deine Eltern? Wo sind deine Freunde?«

»Dort, wo es Licht gibt.« Aus purer Gemeinheit beschloss ich, meine Antworten so mysteriös wie möglich zu halten.

»Tut mir leid«, murmelte der Junge betroffen. »Meine sind… ach egal. Bist du ganz allein?«

Die Wahrheit ist im Grunde ungeheuer bequem, man braucht gar nicht zu lügen. Am Ende hört eh jeder, was er hören will.

»Ich war mit einem Freund unterwegs, aber der ist los, um Licht zu suchen.«

Ich hoffte, nach dieser Auskunft würden mir sämtliche Fragen nach meinem Freund erspart bleiben. Die Rechnung ging auf. Der Junge schniefte bloß und streckte mir die Hand entgegen.

»Len.«

»Danka.« Ich gab ihm die Hand.

»Ich war auch mit einem Freund unterwegs«, sagte er. »Aber er hat es nicht geschafft, aus dem Turm zu entkommen. Er war mein Senior.«

»Also mein Freund, das war mein Junior«, sagte ich aufs Geratewohl.

»Tatsächlich?« Ihm war seine Verblüffung deutlich anzumerken. »Was hast du jetzt vor?«

»Von hier verschwinden.«

»Willst du mit in unsere Stadt?«

Warum eigentlich nicht? Die Wärme in diesem Zelt lullte mich langsam ein. Ich musste aufpassen, bei unserer Unterhaltung nicht den Faden zu verlieren. Was sollte ich hier nackt in den Bergen sitzen und auf den Sonnenkater warten, der vielleicht gar nicht wiederkam? Da war es doch besser, mich auf den Weg in die Zivilisation zu machen…

»Werde ich da keine Schwierigkeiten bekommen?«, erkundigte ich mich zaghaft.

»Du kannst Fragen stellen!«, sagte Len. »Wenn ich für dich bürge, gibt’s keine Probleme! Und das sage ich nicht bloß so dahin!«

»Ich glaub dir ja«, versicherte ich matt. »Kann ich vielleicht vorher noch etwas schlafen, Len?«

»Ich bin aber auch ein Idiot!« Len sprang hoch und kramte in einer kleinen Tasche herum. »Du hast bestimmt Hunger, oder? Viel hab ich leider nicht…«

Kurz darauf machte ich mich über etwas Zähes her, vielleicht geräuchertes, vielleicht aber auch nur vertrocknetes Fleisch. Als ich es vertilgt hatte, hielt mir Len noch eine Handvoll Datteln oder etwas, das fast genauso aussah, und eine Flasche hin.

»Und du?«, protestierte ich schwach, während ich mich bereits auf die Datteln stürzte.

»Wenn wir zusammen zurückgehen, bist du doch der Senior«, erklärte Len. »Davon abgesehen habe ich heute schon was gegessen.«

Vielleicht war das nicht besonders fair – aber ich widersprach ihm nicht. Ich trank die Flasche mit dicker, süßer Milch leer (sie schmeckte wie leicht verdünnte, gesüßte Kondensmilch) und linste dann zu Len rüber. Er hatte inzwischen eine kurze Decke auf dem Boden ausgerollt.

»Schlaf jetzt, dann sehen wir weiter«, schlug Len vor, der mich fast auf die Decke schubste. »Na komm, leg dich hin.«

Er verhielt sich wirklich merkwürdig. Einerseits so, als sähe er in mir tatsächlich den Anführer, den er bedienen musste wie… wie ein Soldat seinen Oberst. Andererseits verhätschelte er mich, als wäre ich ein Baby.

Gründlich darüber nachdenken konnte ich aber nicht mehr. Kaum hatte ich mich ausgestreckt, ratzte ich schon weg. Das hatte ich nun davon! Was musste ich auch stundenlang mit leerem Magen in der Kälte hocken und mir dann, kaum dass ich im Warmen saß, den Bauch vollschlagen?!

Ich wurde wach, weil Len auf mir lag und mir mit der Hand den Mund zuhielt. Im Halbschlaf glaubte ich, er wollte mich ersticken. Deshalb setzte ich zum Gegenangriff an und rammte ihm den Ellbogen in den Magen. Er stöhnte leise.

»Pst!«, flüsterte er mir dann ins Ohr. »Draußen ist eine Patrouille. Kein Wort jetzt!«

Ich erstarrte. Knapp über uns, das hörte ich jetzt auch, schlugen langsam und hallend riesige Flügel.

Aneinandergepresst lagen Len und ich da, während etwas durch die Luft glitt, das mir allein durch sein Geräusch Angst einjagte.

Endlich verschwand das Flügelschlagen in der Ferne. Wir setzten uns auf.

»Er ist abgezogen«, sagte Len leise. »Zum nächsten Turm.«

»Ist auch besser so«, antwortete ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, was hier eigentlich vor sich ging.

»Aber er hat uns gesehen!«, jammerte Len plötzlich. So, wie er schluchzte, würde er bestimmt gleich losheulen.

Dieses Märchenland hatte echt wackere Krieger!

»Len!« Ich legte ihm den Arm um die Schulter. »Beruhige dich! Wir müssen uns dünne machen!«

»Was? Was heißt das?«

»Fliehen, abhauen, die Beine in die Hand nehmen…«, sagte ich.

»Klar, sicher.« Hastig packte Len die Sachen. Er stopfte die Decke in die Tasche, öffnete das Zelt (woraufhin das Licht sofort erlosch) und warf die Tasche nach draußen. Aus der Dunkelheit drang Kälte herein.

»Geh raus!«, befahl er in strengem Ton, als hätte ich etwas angestellt.

Schulterzuckend tastete ich nach dem Ausgang.

»Warte…« Er drückte mir ein kaltes, elastisches Band in die Hand. »Setz die Brille auf!«

»Und du?«

»Ich hab doch die Flügel!«, sagte Len verwundert.

Sobald ich aus dem Zelt gekrabbelt war, hielt ich mir die Binde vor die Augen. Ich fuhr zusammen. Plötzlich konnte ich in der Finsternis etwas erkennen. Eine hügelige Ebene mit Bergen am Rand. Um uns herum wuchsen vereinzelte Bäume. Als ich nach oben sah, prallte mein Blick förmlich an einem tief hängenden, grauen Himmel ab. Er wirkte wie aus Blei gegossen. Ich verknotete die Binde am Hinterkopf und drehte den Kopf ein wenig, um zu sehen, ob diese seltsame Brille fest saß. Alles klar, die würde nicht rutschen. Das Ding hatte nichts mit diesen Nachtsichtgeräten zu tun, die ich aus dem Kino kannte und die einen Gegenstand umso klarer erkennbar machen, je wärmer er ist. Diese Brille hier verwandelte die Nacht in schwaches Dämmerlicht, mehr nicht.

Hinter mir raschelte etwas. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie das kleine, runde Zelt in sich zusammenfiel. Allerdings sackte es nicht einfach weg, sondern schrumpfte ganz zielsicher, bis es den Jungen, der mittendrin stand, einhüllte und sich in eine Art Overall mit angeknüpftem Umhang verwandelt hatte. An Lens Armen hing in breiten Falten schwarzer Stoff. Sollten das etwa die Flügel sein?

Len kam auf mich zu. Seine Augen schützte ein kleines, durchsichtiges Visier, durch das er bestimmt ebenfalls in der Dunkelheit sehen konnte. Er griff nach der Tasche.

»Das schaffen wir sowieso nicht«, sagte er. »Du hast ja keine Flügel. Und zu Fuß kommen wir hier nicht weg.«

Die Worte machten mich wütend. Wenn ich mir vorhin den Kopf darüber zerbrochen hätte, ob meine Flucht glücken wird, würde ich vermutlich immer noch da unten im Tal auf das Schwarze Feuer warten!

»Wo liegt deine Stadt?«

Nach kurzem Zögern wies Len in die Richtung. »Dort! Wir müssen über einen Fluss fliegen… und dann noch ein Stückchen zu Fuß gehen.«

»Ist es weit bis zum Fluss?«

»Zu Fuß eine halbe Stunde.« Len sah mich mit neuer Hoffnung an. »Hast du eine Idee?«

»Ich weiß noch nicht genau«, sagte ich vage. »Auf alle Fälle hindert dich niemand daran, wegzufliegen.«

Len wirbelte herum. »Danka! Es war nicht meine Schuld, dass ich meinen Senior verloren habe, das schwöre ich!«

»Ich glaube dir ja«, versicherte ich, ohne überhaupt zu wissen, wovon er redete.

»Warum schlägst du mir dann vor, dich im Stich zu lassen?«

Ich griff nach seiner Hand. Unter dem schwarzen Stoff fühlten sich die Finger hart und angespannt an.

»He, Len! Das habe ich doch gar nicht gemeint. Aber wenn sich einer von uns retten kann, dann…«

»Und umgekehrt? Würdest du mich im Stich lassen?«

Ich starrte ins Nichts. Was würde ich machen, wenn die Typen mit dem Schwarzen Feuer wieder am Himmel auftauchen würden und ich fliegen könnte, aber ein Junge, den ich kaum kenne, nicht? Was würde ich dann tun? Ich wusste es nicht.

Zum Glück machte sich Len auf mein Schweigen seinen eigenen Reim.

»Siehst du, Danka. Und ich lasse dich auch nicht im Stich. Ehrenwort.«

»Gehen wir runter zu dem Fluss, den du erwähnt hast«, schlug ich vor. »Und zwar schnell.«

So brachen wir auf. Mit der Brille bereitete mir das gar keine Schwierigkeiten. Nach zwanzig Minuten kamen wir an einen steilen Abhang. Unter uns lag der Fluss.

Ein ganz normaler Bergfluss, sehr schnell, ziemlich schmal, mit Steinen, die hier und da aus dem Wasser ragten.

Mir kam meine Idee sofort idiotisch vor, aber das durfte Len nicht mitbekommen. »Wir klettern runter zum Fluss«, sagte ich. »Dort verwandelst du deinen Overall in ein Boot…«

»Wozu denn das?«

»Das Ding ist doch wasserdicht, oder?«

»Natürlich!«

»Prima. Wir setzen uns einfach rein, lassen es zu Wasser und fahren bis zur Stadt.«

»Wie bitte?«, fragte Len empört. »Ist dir klar, wie die Flügel danach aussehen?«

»Und ist dir klar, wie wir aussehen, wenn diese fliegenden Monster uns erwischen?«

Len schluckte. »Dann bring ich uns erst mal runter. Halt dich fest, Senior!«

Unsicher trat ich hinter ihn und wollte schon die Huckepackposition einnehmen. Len zeigte mir einen Vogel. »Fliegt man in deiner Stadt etwa mit den Lasten auf dem Rücken?«

»Wir fliegen überhaupt nicht mit Lasten«, gestand ich.

»Mach einfach, was ich dir sage!«

Len verlangte, dass ich mich vor ihn hinstellte und die Arme um seinen Hals, die Beine um seine Taille schlang. In amerikanischen Actionfilmen tragen die tapferen Polizisten auf diese Weise die Kinder fort, die sie gerade aus den Klauen der Terroristen gerettet haben. Aber Len war kein Polizist mit der Figur eines Bodybuilders. Er schwankte und ging tief in die Knie. Trotzdem trat er an den Rand der Schlucht. Kaum hatte ich einen kurzen Blick in den Abgrund geworfen, da hätte ich am liebsten auf das Experiment verzichtet.

»Len«, setzte ich an. Aber er hörte nicht auf mich. Er machte einfach einen Schritt in die Tiefe.

Mit geschlossenen Augen klammerte ich mich an Len, wie eine hungrige Zecke an einen fetten Hund. Len schaffte es kaum, mit den Flügeln zu schlagen. Wir fielen eher, als dass wir flogen. Len strengte sich gewaltig an und irgendwann schlugen die Flügel tatsächlich etwas kräftiger. Auf diese Weise fingen wir den Fall ab, wurden aber ordentlich durchgerüttelt.

»Lass los!«, schrie Len. Ohne abzubremsen, knallte er auf einen Stein.

Wir waren am Ufer gelandet, direkt auf den feuchten Steinen. Zweihundert Meter waren wir mindestens geflogen!

»Erstklassiger Flug«, lobte ich, worauf Len strahlte. »Was ist, versuchen wir’s?«

»Ja.«

Aus der Nähe wirkte der Fluss zwar noch viel reißender, dafür aber auch tiefer und breiter, sodass wir wirklich eine Chance hatten. Wir breiteten das Zelt aus, legten es ins flache Wasser, kletterten hinein und schlossen den Eingang. Jetzt brauchten wir nur noch mit ein paar Kleinigkeiten fertig zu werden: mit dem Zeltstoff, in dem wir uns verheddert hatten, mit den Untiefen hier am Ufer und mit dem Wasser, das durch die Tür eindrang.

Als unser provisorisches Boot irgendwann mehr oder weniger gleichmäßig in der Strömung trieb, fiel mir etwas ein, das ich Len schon längst hätte fragen sollen: »Es kommt doch kein Wasserfall, oder?«

»Nein, nur ein paar Stromschnellen«, beruhigte mich Len.

Daraufhin setzten wir die Fahrt erst mal schweigend fort. Wir kullerten über den feuchten Zeltboden, knallten gegeneinander und schauten immer mal wieder zu dem kleinen Fenster hinaus, das wohl das Visier war, wenn das Zelt ein Overall war. Es mag sich komisch anhören, aber nach fünf Minuten jagte es uns keine Angst mehr ein, wenn unser Boot gegen einen Stein stieß. Wir brachen dann nur noch in schallendes Gelächter aus. Keine Ahnung, warum Len lachte, aber ich selbst konnte das, was wir erlebten, einfach nicht ernst nehmen. Es kam mir wie ein riesiger Freizeitpark vor. Schade war bloß, dass der Kater nicht schon zurück war. Denn dass er mich irgendwann finden würde, daran zweifelte ich keine Minute. Immerhin war er ein Zauberer, wenn auch noch ein kleiner.

Nachdem wir zwei Stunden gefahren waren, verkündete Len, als er durch das Fenster sah: »Da vorne! Der Stadtrand!«



3. Ein neuer Partner

Die Stadt, in der Len wohnte, überraschte mich. Aus unerfindlichen Gründen war ich mir nämlich sicher gewesen, sie würde versteckt unter der Erde liegen und aus feuchten, engen Höhlen mit getarnten Eingängen bestehen, vor denen finstere Kerle mit riesigen Schwertern in der Hand Wache schieben. Stattdessen erreichten wir nach einem Fußmarsch von knapp einer Stunde eine ganz normale Stadt, die auf einem Hügel lag und sich in keiner Weise tarnte. Okay, es war mitten in der Nacht – mitten in jener grausam langen Nacht, wie sie hier üblich war. Vielleicht besaßen ihre Feinde ja nicht diese Brillen, mit denen man in der Dunkelheit sehen konnte. Aber was war tagsüber? Oder flogen sie dann nicht? Waren sie nachtaktiv? Aber dann hätten sie uns in der Dunkelheit entdecken müssen…

All das ergab keinen Sinn. Bis zum Stadtrand trafen wir niemanden. Dann näherten sich uns jedoch zwei kräftige Jungen. Der eine trug eine Armbrust über der Schulter, der andere hatte ein langes Schwert an seinem Gürtel hängen. Gekleidet waren sie ziemlich normal: Hosen und Jacken, nicht dieser komische Flügeloverall von Len, der sich in ein Zelt verwandeln konnte. Neugierig musterten mich die beiden, schnaubten und starrten dann Len an. Der blickte sofort weg, wurde nervös und wich mir nicht von der Seite.

»Hallo«, meinte der mit der Armbrust so nachdenklich, als überlege er noch, ob er mich überhaupt ansprechen solle.

»Guten Tag, Shoky«, sagte Len schnell. »Wie sieht’s in der Stadt aus?«

»Ruhig. Wo ist dein Senior?«

»Die Freiflieger haben uns erwischt«, antwortete Len. »Wir haben uns tapfer geschlagen, aber sie haben uns überwältigt. Als sie uns in ihren Turm geschleppt haben, hat Kurt mich losgeschickt, um Hilfe zu holen. Er selbst wollte die Freiflieger ablenken…«

»Und warum nicht anders herum, Len? Warum hast du sie nicht abgelenkt, damit Kurt Hilfe holen konnte?«

»Er fliegt doch schon nicht mehr so gut!«, verteidigte sich Len. »Ihr wisst selbst, wie schwer er ist! Kurt wusste, dass er es nicht schaffen würde, deshalb hat er mir befohlen…«

»Ich habe Kurt gewarnt, dass er mit dieser Rotznase noch sein blaues Wunder erleben würde«, mischte sich der Junge mit dem Schwert ein. »In welchem Turm hast du ihn sitzen lassen?«

»Ich habe ihn nicht sitzen lassen!«

»Wo ist Kurt?«

»Im Runden Turm am Ostkamm. Da, wo…«

»Den kenn ich. Inzwischen dürfte es zu spät sein, um Kurt zu befreien. Er ist schon zu lange in deren Gewalt. Und wen schleppst du da an?«

Jetzt platzte mir der Kragen. Die oberen Klassen bei uns in der Schule sind voll mit Idioten wie diesen beiden. Wenn du denen nicht sofort Kontra gibst, machen sie mit dir, was sie wollen.

»Riskier nicht so eine große Lippe, du Blödmann!«, rief ich. »Und hör auf, auf Len rumzuhacken! Außerdem könnte dein Hirn absaufen, wenn du es mit zu viel Infos fütterst!«

Die beiden erstarrten. Schließlich baute sich Shoky vor mir auf. »Wer ist dein Senior, Kleiner?«, zischte er. »Und wie viel bist du ihm wert? Wie viel knöpft er mir als Strafe ab, wenn ich dich kaltmache?«

»Er kommt aus einer anderen Stadt«, erklärte Len schnell. »Seine Leute sind alle tot. Ich habe ihm versprochen, ihn zu beschützen!«

»Wenn du es versprochen hast, dann werden wir ihn natürlich nicht umbringen«, sagte Shoky grinsend. »Wozu er uns nützen soll, ist mir allerdings schleierhaft. Einer, der es fertigbringt, nicht nur seinen Senior zu verlieren, sondern auch noch seine Waffe und seine Flügel. Oder sehe ich das falsch?«

»Er war selbst der Senior in seinem Team«, informierte Len ihn leise. Das erstaunte die beiden anderen nun wirklich.

Derjenige, dessen Namen ich noch nicht kannte, wandte sich an mich: »Stimmt das, was Len sagt? Antworte!«

Anscheinend traute mir niemand eine Lüge zu. Umso besser.

»Len sagt die Wahrheit. Ich war der Senior in unserem Team und bin als Einziger übrig geblieben.« Da die beiden nichts darauf erwiderten, beschloss ich, den Erfolg auszubauen. »Was die Waffe und die Flügel angeht… Wenn ihr an meiner Stelle gewesen wäret, hättet ihr euch vor Angst in die Hose gemacht, darauf könnt ihr aber wetten.«

Sie brachten keinen Ton hervor. Und sie machten keine Anstalten, meine Lüge aufzudecken. »Aus welcher Stadt bist du denn, Senior, der hier um Schutz gebeten hat?«, fragte Shoky, und zwar ohne jedes Misstrauen, aus purer Neugier.

»Aus Moskau«, sagte ich. Das war zwar gelogen, doch es brachte mir Erfolg auf der ganzen Linie. Aber ich glaube, jede andere Stadt hätte das auch getan.

»Davon habe ich schon mal gehört«, behauptete Shoky. »Kommst du heute Abend in den Club?«

Ich nickte, denn eine andere Antwort erwartete er offenbar nicht. Dann folgte ich Len endlich, der mir schon seit geraumer Zeit mit den Augen signalisierte, wir sollten besser abziehen. Wir waren jedoch noch keine fünf Meter weg, da rief Shoky mir nach: »He, Senior aus der anderen Stadt!«

Ich drehte mich um und sah ihn an.

»Willst du etwa mit Len ein Team bilden?«

Da ich nicht verstand, wovon er eigentlich redete, wusste ich nicht, was ich antworten sollte.

»Ich persönlich würde dir nämlich davon abraten«, fuhr Shoky fort. »Er ist ein Feigling. Der lässt dich genauso im Stich, wie er Kurt im Stich gelassen hat. Also, bis nachher.«

Len und ich gingen weiter. Len schwieg, und ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte. Außerdem gab es so viel zu sehen, dass ich das Gespräch auf der Stelle vergaß und alles um mich herum aufsaugte.

Als ich sagte, die Stadt sei ganz normal, meinte ich natürlich nicht, sie sei mit einer Stadt auf der Erde zu vergleichen. Sie passte einfach haargenau in diese Märchenwelt. Es gab Kopf Steinpflaster, Steinhäuser mit den unterschiedlichsten Türmen, die an Minischlösser erinnerten, und sogar ein paar richtige Schlösser in der Ferne. Nur Menschen sah ich nirgends.

»Hier ist ja niemand«, sagte ich.

»Es ist schon spät. Während wir mit den beiden gesprochen haben, haben die Glocken acht Uhr geschlagen«, erklärte Len mir. »Die Leute sind jetzt entweder im Club, in Versammlungen oder zu Hause. Normalerweise gehen wir abends nicht spazieren.«

Es dauerte ein Weilchen, bis mir aufging, was Len eben gesagt hatte.

»Es ist acht? Abends?«

»Ja. Wir sind uns heute Morgen begegnet, dann hast du geschlafen, anschließend sind wir hierhergekommen… Stimmt was nicht?«

Len wurde total nervös, aber ich achtete nicht weiter auf ihn. Ich akzeptierte jetzt endlich, was ich schon lange ahnte. Hier gab es keinen Tag. Oder vielleicht doch, aber dann unterschied er sich durch nichts von der Nacht.

Und das bedeutete, dass mich der Kater nicht nach Hause zurückbringen konnte. Ob seine Kräfte überhaupt reichten, diese Welt zu durchqueren, wenn hier überall Finsternis herrschte?

»Ich brauche Wahres Licht«, murmelte ich.

»Wir sind ja fast da«, versicherte mir Len. »Zu Hause schalten wir dann das Licht an, du nimmst die Brille ab…«

Er wusste nicht, was Wahres Licht war. Das konnte man nämlich nicht anschalten.

»Len«, stammelte ich. »Len… Wenn du wüsstest, wie tief ich in der Tinte sitze.«

»Da wären wir«, erklärte Len, dessen Stimme sich plötzlich verändert hatte. Er ging auf ein einstöckiges Haus mit einem hohen, runden Turm zu und öffnete die Eingangstür aus Holz. Sie glich jener Verborgenen Tür, durch die der Sonnenkater und ich in diese Welt gelangt waren. Das machte mich nur noch trauriger.

»Gib mir deine Hand«, forderte Len mich auf. Seine Stimme zitterte leicht, das entging mir nicht. »Es ist besser, wenn die Tür sich an dich erinnert… selbst wenn du es dir noch anders überlegst.«

Ohne zu verstehen, worauf er hinauswollte, gab ich ihm meine Hand. Len drückte sie auf die Bronzeklinke und legte seine Hand darüber. »Das ist ein Freund«, flüsterte er leise. »Er darf immer hereinkommen.«

»Wow, das ist ja ein toller Mechanismus«, sagte ich begeistert, nachdem wir ins Haus gegangen waren und die Tür hinter uns geschlossen hatten.

»Solche Schlösser haben nicht alle, sondern nur wir, die Flügelträger«, meinte Len. Er klatschte in die Hände und im Zimmer leuchteten weiße Glaskugeln grell auf. Betrieben wurden sie offenbar nicht elektrisch – es führten jedenfalls keine Stromkabel zu den Dingern –, sie gaben aber trotzdem genug Licht. Ich nahm die Brille ab und Len schlüpfte aus dem Overall.

Nachdenklich sah er mich an. »Weißt du was, Danka? Ich gebe dir Kurts Sachen, du bist schließlich der Senior in unserm Team. Er braucht sie jetzt sowieso nicht mehr. Allerdings war er größer als du… Vielleicht ziehst du also doch lieber was von mir an?«

»Okay«, sagte ich, während ich mich umsah.

Das Zimmer, das direkt hinter der Eingangstür lag, war riesig, vielleicht nahm es sogar das ganze Erdgeschoss ein. Außerdem sah es reichlich merkwürdig aus. In der Mitte stand ein runder Tisch, um ihn herum ein paar gepolsterte Stühle. Das war noch völlig normal. Aber der Rest! Als hätte man die Möbel von wer weiß woher zusammengetragen und hier aufgestellt. Es gab Bücherschränke und ein weiches Sofa mit einem Couchtisch, auf dem Boden lag ein Teppich mit Unmengen von Kissen drauf. Ein roh gezimmerter Tisch war mit kleinen Glaskolben und Reagenzgläsern vollgestellt, ein Hängeschrank darüber beherbergte allerlei Chemikalien. Einen Teil der Wand nahmen verschiedene Waffen ein wie Messer, Schwerter, Armbrüste, aber auch solche, von denen ich mir nicht mal vorstellen konnte, wie sie gebraucht wurden. Selbst ein Musikinstrument fehlte nicht, eine Art kleines Klavier, nein, jetzt fiel mir die Bezeichnung wieder ein: ein Cembalo. In einem riesigen Aquarium schwammen bunte Fische. An einer Wand hingen Bilder, davor stand eine mit Stoff abgedeckte Staffelei…

Die Bilder konnte ich mir nicht mehr ansehen, denn Len brachte mir ein paar Sachen zum Anziehen, das reinste Trauerzeug allerdings: ein grauer Anzug, in dem normalerweise bloß Wunderkinder ihren Auftritt als Geiger absolvieren, ein weißes Hemd und eine hellblaue Krawatte.

»Ein tolles Zimmer«, sagte ich anerkennend.

Mit einem stolzen Lächeln hielt Len mir die Sachen hin.

»Hast du nichts anderes?«, fragte ich.

»Du willst doch in den Club. Da trägt man das…«

»Schon gut. Bei uns geht’s etwas lockerer zu«, sagte ich. Aber Len war mit seinen Gedanken längst woanders. Er suchte nach Worten, öffnete den Mund, sagte dann aber anscheinend doch nicht das, was ihm auf der Zunge lag. »Das Bad ist oben, im ersten Stock, genau wie die Schlafzimmer. Such dir einfach ein Zimmer aus, Kurts oder meins, das ist egal.«

»Haben denn deine Eltern nichts dagegen?«, fragte ich vorsichtshalber.

»Meine Eltern?« Len gingen fast die Augen über. »Ich bin doch ein Flügelträger und… und mein Vater ist sowieso vor langer Zeit verschwunden, aber auch meine Mutter besucht mich nur selten.«

»Dann gehe ich mal hoch.« Da ich ahnte, dass ich mich verplappert hatte, wollte ich mich lieber verdrücken. Deshalb stürzte ich zur Treppe, die nach oben führte.

»Danka!«, rief Len mir nach. Er stieß meinen Namen förmlich aus, als fürchte er, der Mut würde ihn gleich wieder verlassen.

»Was denn?«

»Ich bestehe nicht darauf, dass wir ein Team bilden, wirklich nicht. Wenn du dir einen anderen Partner suchen willst, helfe ich dir dabei. Aber Shoky hat nur Lügen über mich erzählt, das musst du mir glauben. Ich bin kein Feigling. Und ich habe Kurt nicht im Stich gelassen.«

Was sollte ich darauf antworten? Von ihrer Gesellschaft wusste ich noch weniger als von den Rangbezeichnungen in der kuwaitischen Armee. Aber Len stand da und sah mich an, als hinge sein Schicksal von meinen Worten ab. Ich konnte ihm einfach nicht sagen, dass ich kein Senior, ja, dass ich noch nicht mal ein Flügelträger war.

»He, Junior, machst du uns was zu essen?«, fragte ich. Daraufhin strahlte Len über beide Backen und nickte.

Das Bad fand ich ohne Schwierigkeiten. Ich klatschte in die Hände, das Licht ging an und ich stieß einen Pfiff aus.

Donnerwetter! Vor mir lag ein richtiges kleines Schwimmbecken. Zwei dicke Rohre sorgten für kaltes und warmes Wasser.

Ich drehte die Hähne weit auf, zog mich aus, was angesichts meiner spärlichen Kleidung nicht allzu lange dauerte, und stieg ins heiße Wasser. Klasse! Wie gut das tat! Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht, nur in Unterhosen durch die Berge zu kraxeln, um mich vor irgendwelchen Monstern zu verstecken? Und wie kriegte ich jetzt aus Len alles raus, was ich wissen musste, ohne dass er Verdacht schöpfte?

Am liebsten wäre ich gar nicht mehr aus der Wanne gestiegen. Erst als ich kurz davor war, einzuschlafen, schnappte ich mir das nächstbeste Handtuch, trocknete mich ab und zog mich für den Club an. Der Anzug passte ganz gut, nur das Jackett schlabberte etwas in den Schultern, und den Krawattenknoten bekam ich auch nicht hin. Ich ging nach unten, wo Len gerade einen ganzen Berg von Wurstbroten schmierte. Auf dem Tisch thronte außerdem eine riesige Flasche mit einem orangefarbenen Saft.

Das sah ja schon mal gut aus. Aber das Essen musste noch warten.

»Danka, du kommst zu spät in den Club!«, rief Len. »Es ist ja schon fünf vor neun.«

Er trug ebenfalls einen Anzug, einen weißen, aber keine Krawatte. »Ich gehe auch in den Club«, erklärte er mir, als er meinen Blick auffing. »Es gehört sich nicht, nach einem Patrouillenflug nicht in den Club zu gehen. Was ist? Hast du Probleme mit dem Knoten?«

Er nahm mir diesen absolut lächerlichen Teil meiner Garderobe aus der Hand, ließ sich auf einen Stuhl plumpsen, breitete die Krawatte über seinem Schenkel aus und fing an, sie zu binden. »Kurt bekam den Knoten auch nie hin. Das heißt, er konnte es schon, machte es aber nicht gern. Deshalb hat er immer mich dazu gezwungen.«

Dieses »gezwungen« gab mir zu denken. »Wart ihr eigentlich Freunde?«

»Wir beide? Hm, ja, schon. Schließlich waren wir Partner…«

Ich bohrte nicht weiter nach. Len hatte die Krawattenschlinge vorbereitet und half mir jetzt, sie über den Kopf zu ziehen.

Kritisch betrachtete er mich. »Ja, das geht«, meinte er. »Es sieht natürlich komisch aus, aber das liegt daran, dass du für einen Senior noch reichlich jung bist…« Len stockte und sah mir streng in die Augen. »Bist du wirklich ein Senior, Danka?«, fragte er.

Für einen Rückzieher war es jetzt zu spät. »Natürlich. Weshalb fragst du?«

»Lügner werden bei uns nämlich umgebracht.« Er lächelte zaghaft. »Deshalb… ich hatte Angst um dich.«

Entzückend! Mit einem Mal begriff ich, dass hier trotz der grellen Lampen und des heißen Wassers noch finsterstes Mittelalter herrschte.

»Bei uns drückt man schon mal ein Auge zu«, brachte ich mit einem Lächeln hervor. »Klar, wenn du beim Lügen erwischt wirst, musst du zusehen, wie du deinen Kopf wieder aus der Schlinge ziehst, aber…«

»Gehängt werden bei uns nur Verräter«, sagte Len. »Lügner werden mit dem Schwert getötet.« Er blickte zur Seite, zögerte, fügte dann aber doch hinzu: »Und Feiglinge auch.«

»Behauptet denn jemand, du wärst ein Feigling?«

»Du hast mich doch zum Partner gewählt«, antwortete Len. »Also hast du dich dafür verbürgt, dass ich kein Feigling bin.«

Ah ja. »Und das konnte ich tun, weil du für mich gebürgt und mir Schutz versprochen hast«, meinte ich, nachdem ich kurz nachgedacht hatte. »Stimmt’s?«

»Mhm.«

»Na, großartig. Wenn sich da die Katze nicht in den Schwanz beißt!«

Len stand da wie ein Häufchen Elend.

»Sag mal, kommen wir nicht zu spät?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

»Ach du wild gewordener Flügel!«, schimpfte Len in einer mir völlig unverständlichen Weise. »Jetzt aber los.«

Wir stürmten aus dem Haus. Len beschrieb mir rasch, wie ich vom Club aus wieder nach Hause kam. Da ich nicht genau verstand, was diese Erklärung sollte, fragte ich nach: »Du bist doch auch im Club. Wieso gehen wir dann nicht zusammen nach Hause?«

»Ich gehe doch in den Juniorclub«, sagte Len verblüfft. »Dieses Moskau muss eine seltsame Stadt sein, bei euch ist alles ganz anders.«

»Das stimmt«, bestätigte ich, obwohl ich in meinem Leben noch nie in Moskau gewesen war.

»Soll ich vielleicht am Eingang auf dich warten?«, schlug Len vor. »Ich könnte ja früher aus dem Juniorclub losgehen…«

»Nicht nötig, ich finde den Weg schon«, sagte ich tapfer. Je mehr ich von dieser Gesellschaft mitbekam, desto weniger gefiel sie mir. Es herrschte eine Ordnung wie in der Armee, wenn nicht sogar wie im Gefängnis. Dazu noch die ewige Düsternis und die leeren Straßen! Puh!

»Da ist euer Club!« Len wies mit dem Finger auf ein riesiges Gebäude auf der anderen Straßenseite. Zu dem Haus gehörte ein hoher Turm, sodass es wie eine orientalische Moschee aussah. »Unserer liegt zwei Blocks weiter, in der Straße, die links abgeht. Wie sieht’s aus, kommst du allein zurecht?«

»Klar.«

»Und ich soll nachher bestimmt nicht auf dich warten?«

»Hör auf damit, Len!«, fuhr ich ihn an. Sofort gab er klein bei, schüttelte mir verunsichert die Hand und rannte die Straße hinunter. Er hatte es ziemlich eilig, vermutlich kam er bereits gewaltig zu spät.

Bevor ich das Gebäude betrat, nahm ich die Brille ab und blieb kurz davor stehen, um in der Dunkelheit die Straße hinunterzuspähen. Aus keinem einzigen Fenster fiel auch nur der schwächste Lichtschein, die Umrisse der Häuser erahnte ich nur, sehen konnte ich sie nicht. Ich suchte ich den Himmel rundum nach einem leuchtenden Punkt ab: nach dem Sonnenkater. Aber da war nicht der kleinste Lichtpunkt. Schließlich holte ich tief Luft und stieß die Tür zum Club auf.

Drinnen sah es genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ein Saal mit Tischen, Stühlen und einer Theke wie in einer Bar. Es waren rund dreißig Leute anwesend, alle noch jung, so etwa zwischen fünfzehn und zwanzig. Bei meinem Auftauchen verstummten die Gespräche, alle Blicke richteten sich schlagartig auf mich.

Nach kurzem Zögern steuerte ich die Bar an. Ob man hier zahlen musste? Hinterm Tresen stand ein vielleicht siebzehnjähriger Junge, der sich inmitten all der Flaschen und Kannen langweilte. Er war sehr blass und mager, doch das hielt ich inzwischen für ein allgemeines Charakteristikum in dieser Gegend.

»Einen Wein?«, fragte er lächelnd.

Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass ich mich jetzt betrinke! Ich schüttelte den Kopf. »Einen Saft.«

»Mehr nicht? Und was für einen?«

»Egal.«

Achselzuckend goss er eine grellgelbe Flüssigkeit in ein hohes Glas. »Moment mal!«, rief er plötzlich. »Du bist doch der neue Senior, den unser Junior Len mitgebracht hat!«

»Ja«, sagte ich zögernd. Ob das eine Falle war?

»Hervorragend!« Der Barkeeper band sich die Schürze ab, auf die orangefarbene Blumen gedruckt waren. »Dann übernimmst du meinen Posten. Das ist bei uns nämlich so üblich. Vergiss nicht, den Boden zu wischen, nachdem alle gegangen sind, und…«

Ich ließ den Blick durch den Saal schweifen. Offenbar genossen alle Anwesenden das Intermezzo.

»Hab schon bessere Witze gehört«, meinte ich mit dem freundlichsten Lächeln und trat vom Tresen weg. Schweigend band sich der Barkeeper die Schürze wieder um – also hatte ich genau richtig reagiert.

»Danka!«

Als ich mich nach der Stimme umdrehte, entdeckte ich Shoky, der zusammen mit zwei anderen Jungen an einem Tisch beim Kamin saß. Alle drei wirkten wie um die zwanzig, was hier wohl das Höchstalter war. Sie sahen ziemlich mager aus. Einer rauchte eine lange Zigarette. Der Tabak roch seltsam, eher süßlich und überhaupt nicht wie sonst der eklige Qualm.

Wie hatten die wohl meinen Namen rausgekriegt?

»Setz dich zu uns!«, rief Shoky.

Mir fiel kein Grund ein, warum ich die Einladung hätte ablehnen sollen. Deshalb ging ich zu ihrem Tisch hinüber und setzte mich auf einen freien Stuhl, genau gegenüber von Shoky.

»Wie gefällt dir unser Club?«

Ich zuckte bloß die Achseln.

»Und die Stadt?«

Jetzt lächelte ich.

»Also, ein Plappermaul bist du wirklich nicht«, sagte Shoky. »Aber keine Sorge, Danka, ich pass schon auf, dass dich niemand beleidigt. Du bist nämlich noch sehr jung… äußerlich zumindest… darin besteht das Problem.«

»Ich weiß«, erwiderte ich, da es mir schwerfiel, weiter den großen Schweiger zu mimen. »Aber das wird sich ändern.«

»Das wird es, leider«, seufzte Shoky. »Du solltest dir aber nichts auf deine Figur einbilden, Danka. Nimm zum Beispiel mich, ich habe mich absolut damit abgefunden, dass ich höchstens noch ein halbes Jahr fliegen werde. Gnat und Alkk…« Er blickte zu den beiden anderen hinüber. »… sind sich ebenfalls darüber im Klaren. Obwohl sie alles tun, um ihr Gewicht zu halten. Aber dein Auftauchen hat natürlich viele neidisch gemacht. Du bist schon Senior in deinem Team, wirst aber noch viele Jahre fliegen. Ihre Zeit dagegen läuft ab.«

Endlich machte es bei mir klick. Die Flügel nutzten Erwachsenen nichts. Deshalb trugen in dieser Stadt nur Kinder und Jugendliche diese Dinger, um damit zu fliegen und gegen die Monster der Finsternis zu kämpfen.

Nun begriff ich auch die Gefühle der Senioren gegenüber ihren Junioren: Ihre eigene Zeit lief aus, aber sie wollten die Flügel unbedingt behalten. Kopfzerbrechen bereitete mir allerdings noch die Frage, was eigentlich die Erwachsenen taten.

»Danka…«

Ich sah Shoky an.

»Hast du Len zu deinem Partner gewählt?«

»Ja.«

»Überstürze nichts, Danka. Ich brauche dir nicht zu erklären, was von deinem Partner abhängt. Und Len ist ein Feigling. Sicher, er hat dir geholfen, als du deine Flügel verloren hattest, als du ohne Waffe dastandest und nicht wusstest, wohin. Aber glaub mir, er profitiert davon.«

Ich nippte an dem Saft in meinem Glas. Er war extrem sauer. War das etwa pure Zitrone? Sogar die Kiefer zogen sich mir zusammen.

»Außerdem ist Len ein miserabler Kämpfer. Zwar fliegt er tadellos und kann jedem Freiflieger entwischen. Aber schließlich tragen wir die Flügel nicht, um unseren Feinden zu entwischen.«

Heldenhaft setzte ich meine Marter fort, indem ich abermals an dem Saft nippte.

»Nicht zuletzt«, schwadronierte Shoky mit strenger Stimme weiter, »seid ihr gleich alt, du und Len. Zumindest fast. Wenn du nicht vorher stirbst, wird er in zwei, drei Jahren selbst Senior werden. Und falls er sich vorher nichts zuschulden kommen lässt, natürlich. Such dir lieber einen anderen Partner. Warum willst du dir das Leben unnötig schwer machen? Ich finde einen anständigen Junior für dich, dem gerade die ersten Flügel angepasst wurden. Und ich sorge dafür, dass euch keine schwierigen Aufgaben zugeteilt werden, solange dein Partner noch unsicher ist. Einverstanden?«

Schweigend kämpfte ich weiter mit dem Saft.

»Obendrein wird Len mit Sicherheit nicht lange gehorsam und höflich sein, Danka. Noch ist er froh, dass er den Freifliegern und unserer Strafe entkommen ist. In ein paar Tagen wird er sich jedoch fragen, warum er sich eigentlich einem Altersgenossen unterordnen sollte. Dann musst du entweder hart durchgreifen, wie es Kurt gemacht hat, oder dich mit einem aufsässigen Partner abfinden. Ich glaube, auf beides kannst du gut und gern verzichten.«

Shoky tischte mir keine Lügen auf, das spürte ich. Was er sagte, glaubte er wirklich. Und anscheinend mochte er mich. Deshalb sollte ich mir seine Worte in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Meine Chancen, nach Hause zurückzukehren, schrumpften immer mehr. Und wenn ich die Absicht hatte, in dieser Stadt zu leben – sei es auch nur für eine Weile –, dann sollte ich mich nicht taub stellen, wenn mir jemand einen guten Rat gab.

Len hatte mich gerettet. Aber ich ihn auch. Und im ersten Moment hatte er mich sogar umbringen wollen.

Wenn ich mir jetzt einen anderen Partner wählen würde, dann…

»Es tut mir leid, Shoky«, sagte ich und sah ihm fest in die Augen.

»Das habe ich mir schon gedacht«, erwiderte er. »Aber ich musste dich warnen. Ich mag dich, Danka. Wenn du noch Junior wärst, würde ich dich zu meinem Partner machen.«

Da mir genau in diesem Moment jemand auf den Rücken schlug – und zwar nicht gerade freundlich, sondern eher provozierend –, konnte ich auf dieses überraschende Kompliment nicht mehr antworten.

Hinter mir stand der Junge, der bei Shoky gewesen war, als Len und ich ihm am Stadtrand begegnet waren. Der finstere Blick, den er für mich übrig hatte, kam ganz bestimmt nicht von dem sauren Saft.

»Du bist ein sehr junger Senior, Danka«, erklärte er mit einem angedeuteten Lächeln.

Um uns herum wurde es sofort still. Ich sah den Jungen an, musterte seinen Anzug, der spannte und ihm allmählich zu klein wurde. Dabei versuchte er verzweifelt, weniger kräftig auszusehen, als er war.

»Und du bist ein sehr erwachsener Senior«, erwiderte ich.

Er schnitt eine Grimasse. Ich hatte seinen wunden Punkt getroffen.

»Bist du sicher, dass du gut auf dich aufpassen kannst, Senior Danka?«

»Ja.«

Ein leichtes Zittern packte mich. Nur gut, dass es innerlich war und damit für die anderen nicht zu sehen.

»Willst du dich mit mir anlegen?«

»Auf der Stelle?«, fragte ich leise.

»Warum nicht?«

Als ich zum Aikido gegangen war, wurde uns dieser Angriff gleich zu Beginn beigebracht, noch vor dem eigentlichen Unterricht. Für den Fall, dass irgendein seltsamer Onkel die Absicht hatte, in einem dunklen Tordurchgang unsere Bekanntschaft zu schließen. Ohne aufzustehen, trat ich zu.

Der andere klappte in der Mitte zusammen und hielt sich die Eier. Jetzt sprang ich vom Stuhl hoch, riss dabei mein Glas mit dem sauren Saft vom Tisch und baute mich vor dem anderen auf. Langsam richtete sich mein Gegner wieder auf.

»Ich bringe dich um…«, zischte er.

Wie kann jemand nur so dämlich sein, mit voller Kraft zuzuschlagen, wenn sein Gegner Aikido beherrscht? Ich wich zur Seite aus, packte den Arm meines Angreifers und korrigierte seinen Flug ein wenig. Anmutig segelte er am Tisch vorbei und knallte mit dem Kopf gegen das Eisengitter des Kamins.

Nach einer solchen Darbietung stehen nur die Helden aus asiatischen Karatefilmen wieder auf. Mein Kontrahent kannte diese Filme anscheinend nicht, denn er machte keine Anstalten, wieder auf die Beine zu kommen. Das Feuer, das im Kamin loderte, ließ allerdings seine Haare leise knistern.

»Jemand sollte ihn von da wegziehen, bevor er in Flammen aufgeht«, sagte ich, während ich mich wieder setzte.

Nach wie vor erfüllte Grabesstille den Raum. Shoky griff nach seinem Glas, in dem noch etwas Wein war, nahm einen Schluck und reichte es an mich weiter. Ohne lange darüber nachzudenken, trank ich davon. Der Wein schmeckte sauer und süß zugleich, genau wie Sekt.

»Er gehört jetzt dir«, erklärte Shoky völlig gelassen. »Erlaubst du, dass wir ihn da wegziehen?«

Ich nickte. Ganz langsam legte sich meine Angst wieder.

»Gnat«, wandte sich Shoky an den Jungen, der neben ihm saß, »rette diesen Idioten! Er muss morgen Patrouille fliegen.«

Gnat zog den Idioten ohne jede Hast vom Kamin weg und deponierte ihn in einer Ecke.

»Ich glaube, einen Teil des Problems, über das wir vorhin sprachen, hast du geklärt«, bemerkte Shoky mit einem anerkennenden Unterton. »Es ist wirklich bedauerlich, dass du kein Junior mehr bist.«

»Lässt sich nicht ändern«, erwiderte ich. »Ich muss jetzt gehen. Mein Junior wartet auf mich.«

Schweigend nickte mir Shoky zu. Ohne mich von jemandem zu verabschieden, verließ ich den Seniorclub.



4. Gerüchte

Mein neues Zuhause erreichte ich, ohne mich zu verlaufen. Mein Junior war noch nicht zurück, doch die Tür öffnete sich problemlos, sobald ich die Hand auf die Klinke legte.

Als ich den Tisch mit den vor sich hintrocknenden Wurstbroten sah, war es vorbei mit meiner ehrlichen Absicht, auf Len zu warten und mit ihm gemeinsam zu essen. Ich vertilgte nicht weniger als die Hälfte der Dinger, trank fast den ganzen Saft aus der Flasche und lümmelte mich in den Sessel. Ob hier zum Abendessen nie gekocht wurde? Oder warteten die jungen Verteidiger der Stadt auf den Besuch ihrer Mutter, die ihnen Borschtsch kochen und Buletten braten, ihre piekfeinen Hemden waschen und die Anzüge bügeln würde, um anschließend wieder wer weiß wohin zu verschwinden?

Als mir die Absurdität des Gedankens aufging, schnaubte ich. Na schön, warum nicht mit dieser Logik fortfahren? Was war das denn nun für eine Märchenwelt, in die ich da geraten war?

Hier herrschte ewige Nacht. Und es waren dunkle Kräfte am Werk, die ihren Namen selbstverständlich nicht umsonst trugen! Die dunklen Kräfte waren die Freiflieger, diese Geschöpfe der Finsternis…

Kaum erinnerte ich mich jedoch wieder an das Flügelschlagen in der Düsterkeit, die dunkler war als jede Nacht, da verging mir das Lachen. Unwillkürlich fuhr ich zusammen und dachte gleich etwas ernster über alles nach.

Es gab hier Städte, in denen Menschen lebten. Diese Menschen hatten Flügel, mit denen sie gegen die Freiflieger kämpfen konnten. Die Flügel waren aber nur für Jugendliche geeignet. Deshalb waren es die Jugendlichen, die kämpfen mussten. Klang das logisch? Absolut.

Aber was machten dann die Erwachsenen? Offenbar gingen sie weniger heldenhaften Beschäftigungen nach: Sie bauten Häuser, hüteten Vieh, bestellten Felder… Das heißt: Was wollten sie hier säen, wo es doch kein Licht gab? Andererseits: Das Gras und die Bäume schafften es ja auch, irgendwie zu wachsen. Vielleicht hatte sich also auch der Weizen angepasst? Ich guckte mir eines der Wurstbrote von allen Seiten an. Das Brot sah völlig normal aus.

Okay, also weiter. Wer profitierte von dieser Situation? Wer hatte das Sagen? Die Freiflieger? Irgendwie schien man hier in dieser Stadt keine sonderliche Angst vor ihnen zu haben. Verließen die Flügelträger allerdings die Stadt, riskierten sie, getötet zu werden, das immerhin wusste ich schon. Der Krieg zwischen ihnen steckte aber irgendwie in der Sackgasse, das sprang sofort ins Auge. Man bräuchte also nur mit den Freifliegern zu reden und eine friedliche Lösung zu finden. Für diese Vermittlungsaufgabe war ich absolut geeignet, denn ich kam aus einer anderen Welt und betrachtete alles mit einem frischen Blick.

Mir blieb keine Gelegenheit, mich an meinen fundierten und optimistischen Schlussfolgerungen zu freuen, denn die Tür flog auf und Len stürmte ins Haus.

»Ist dir jemand auf den Fersen?« Automatisch setzte ich mich ordentlich hin.

»Mir? Nein, ich habe mich nur beeilt.« Len kam an den Tisch und setzte sich neben mich. »Ich bin in euerm Club vorbeigegangen, aber du warst schon weg. Ich habe mir Sorgen gemacht, du könntest dich verlaufen haben… Gab es im Club irgendwelche Probleme, Danka?«

»Warum fragst du?«

»Weil mich alle so… so merkwürdig angestarrt haben.« Len erschauderte. »Gab es Streit?«

»Ja.«

»Mit wem?«

»Leider hat er sich mir nicht vorgestellt. Und nach unserer Auseinandersetzung war ihm offenbar die Lust vergangen, sich mit mir zu unterhalten.«

»Klasse!« Len strahlte über beide Backen. »Ich wusste ja, dass wir beide als Team unschlagbar sind!«

Als ihm klar wurde, dass er sich verplappert hatte, sagte er kein Wort mehr.

»Und du, Len? Wirst du auch für uns einstehen?«, fragte ich ihn ganz offen. »Weißt du, ich fliege… nicht gerade toll. Auf festem Boden fühle ich mich wohler. Wenn wir also Schwierigkeiten mit den Freifliegern kriegen…«

»Danka!«

»Len, die anderen haben mir…«

Er senkte den Blick.

»Die anderen haben mir gesagt, ich würde einen Riesenfehler machen, wenn ich dich zum Partner nehme.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Dass du mein Partner bist.«

Len biss sich auf die Lippe. Er machte den obersten Knopf an seinem Hemd auf. Anscheinend wusste er nicht, wohin mit seinen Händen. »Gib mir eine Chance, Senior«, bat er. »Ich werde mir auch Mühe geben, dich nicht zu verraten.«

Diese Erklärung förderte meinen Optimismus nicht gerade. Gleichzeitig schämte ich mich jedoch auch dafür, wie sehr ich Len in die Ecke gedrängt hatte. Ich beugte mich vor und berührte seine Schulter. »Schon gut, Junior, versuchen wir’s miteinander«, sagte ich. »Aber jetzt gehe ich schlafen. Ist das Zimmer deines alten Partners rechts oder links im Flur?«

»Links.«

»Gut, dann nehm ich das. Bis morgen!«

Len sah mir nach, wie ich die Treppe hinaufstieg, sagte jedoch kein Wort. Ich betrat das Zimmer, das jetzt mir gehörte, und schaute mich verlegen um. Noch vor ein paar Tagen hatte hier jemand anderes gelebt, der dann den Freifliegern in die Hände gefallen war. Pech gehabt. Jetzt war das Zimmer frei, sollte es sich nehmen, wer wollte.

Der Raum war groß, es gab aber kaum Möbel. Wie im Erdgeschoss hingen dunkle Gardinen vorm Fenster. Mitten im Zimmer stand ein breites Bett mit einer dicken Zudecke. Sofort beschloss ich, es morgen zu verrücken, denn ich schlafe nun mal gern an der Wand. Dann gab es noch einen Schrank, in den ich jedoch nicht reinschaute, und Waffen, die an der Wand aufgehängt waren. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, griff nach einem kurzen, nur fünfzig Zentimeter langen Schwert und betrachtete es von allen Seiten.

Ein gutes Stück – nahm ich zumindest an. Woher sollte ich etwas von Stichwaffen verstehen? Schließlich hängte ich die Klinge an ihren Platz zurück, kroch unter die Decke und klatschte in die Hände, eine Geste, die mir schon in Fleisch und Blut übergegangen war. Das Licht erlosch.

»Gute Nacht«, sagte ich zu mir selbst und schloss die Augen. Ich war hundemüde. An diesem Tag war einfach zu viel passiert. Schon im nächsten Moment schlief ich ein.

Ich hatte einen Traum. Einen Albtraum, in dem sich alles verhedderte, was geschehen war, nachdem ich durch die Verborgene Tür gegangen war. Ich träumte, ich würde durch die Düsternis stolpern, ganz allein und nackt. Unter meinen Füßen spürte ich kaltes Felsgestein. Irgendwann sah ich nach unten und erblickte einen tiefen Abgrund, an dessen Boden ein Schwarzes Feuer brannte. Ich aber marschierte durch die Luft, ohne runterzufallen. Im Traum wunderte ich mich überhaupt nicht darüber, sondern lief einfach weiter. Plötzlich hörte ich Flügel schlagen und vor mir tauchte ein Wesen der Finsternis auf. Als ich stehen blieb, kam das Monster langsam auf mich zu. Da erkannte ich sein Gesicht.

»Len?«, flüsterte ich.

Len nickte. Er breitete seine Flügelarme aus, als ob er mir sagen wollte: Tut mir leid, dass es so gekommen ist.

»Aber du hast doch gesagt, du würdest mich nicht verraten«, sagte ich und spürte in meiner Hand ein Schwert. Genau das, das in meinem Zimmer an der Wand hing. Len langte mit der Hand in die Dunkelheit, die ihn wie ein Gewand einhüllte, und zog aus ihr ein Schwert hervor. Ganz langsam und mit einem quietschenden Geräusch tauchte die Waffe aus der Finsternis auf. Die Klinge wuchs immer weiter, das ekelhafte Geräusch verstummte nicht…

Ich wachte auf.

Und hörte, wie Krallen an der Holztür kratzten. Sofort war ich in kalten Schweiß gebadet. Ich klatschte in die Hände, um das Licht anzuschalten, sprang aus dem Bett und riss das Schwert von der Wand. Die Kälte des Metalls in meinen Händen verband Traum und Wirklichkeit. Ich baute mich an der Tür auf, hob das Schwert und drückte mit der linken Hand die Klinke runter.

Die Tür öffnete sich gehorsam. Im Flur war niemand. Unter der Tür des anderen Zimmers schimmerte Licht durch, also schlief Len noch nicht. Wie angewurzelt stand ich da und starrte in die Leere. Als etwas meine nackten Füße berührte, verlor ich die Kontrolle über mich und schrie los.

»Danka…«

Vor mir saß der Sonnenkater. Aber wie er aussah! Ich erkannte ihn kaum wieder, so hatte er sich verändert. Das Fell leuchtete kein bisschen mehr, sondern war einfach rot. Die Augen blickten stumpf und er war mager wie der allererbärmlichste Straßenkater. Ich bückte mich und nahm ihn auf den Arm.

»Du dummer Junge«, flüsterte der Kater. »Immerhin bist du so klug gewesen, für dich eine anständige Unterkunft zu finden…«

»Was ist mit dir?«, presste ich mit Mühe heraus. »Was ist denn los?«

»Hier gibt es keinen Tag, Danka«, fuhr der Kater fort, ohne auf mich einzugehen. »Hier gibt es nirgendwo Wahres Licht. Ich kann dich nicht nach Hause zurückbringen.«

»Das weiß ich doch. Aber… was ist denn mit dir?«

»Ich sterbe«, verkündete der Kater mit überraschendem und unangemessenem Stolz. »Hier gibt es kein Wahres Licht. Ist dir klar, was das heißt? Ich werde verhungern.«

Ich drückte ihn gegen meine Brust, setzte mich auf den Fußboden und fing an zu weinen. Was konnte ich tun? Wo fand ich Wahres Licht? Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich Len, der auf meinen Schrei hin in den Flur gestürmt war und uns verblüfft anstarrte. Ich hörte, wie erschöpft der Kater hechelte, wie meine Tränen auf den Boden tropften, wie Len auf dem kalten Boden von einem Fuß auf den anderen trat.

Wo fand ich Wahres Licht, um meinen Freund zu retten? Plötzlich drehte sich der Kater mühevoll um. »Danka, ich werde doch nicht sterben«, teilte er mit einer Stimme mit, die zumindest etwas kräftiger klang.

Len wich entsetzt zurück. Ich achtete nicht auf ihn. Ich presste den Kater nur fester an mich. »Wirklich nicht?«, fragte ich. »Schwindelst du mich auch nicht an?«

»Wirklich nicht. Ich bin noch dümmer als du, Danka, denn eine Sache hatte ich völlig vergessen. Die Liebe ist ebenfalls eine Form des Wahren Lichts. Solange du mich liebst, werde ich nicht sterben. Das ist die Wahrheit.«

Ich lachte unter Tränen und blickte zu Len hoch. Der beäugte ängstlich den Kater.

»Du brauchst keine Angst zu haben, das ist bloß ein Sonnenkater. Er ist mein Freund«, erklärte ich.

Len nickte unsicher.

»Kater, das ist Len. Er ist jetzt mein Junior, mein Partner.« Der Kater befreite sich sanft aus meinen Händen und sprang zu Boden. Voller Freude bemerkte ich, dass sein Fell bereits wieder schwach leuchtete.

»Das weiß ich doch! Vergiss nicht, dass ich ein Zauberer bin. Hallo, Len!«

»Hallo«, hauchte Len.

»Hast du jetzt genug gegessen?«, wollte ich vom Kater wissen.

»Dummkopf!«, kanzelte er mich in gewohntem Ton ab. »An der Liebe kannst du dich nie überfressen. Und deine Liebe hat mir immerhin das Leben gerettet.«

Allem Anschein nach war ihm die Schwäche, unter der er gelitten hatte, peinlich. Ich wurde selbst ganz verlegen.

»Da kann ich… also, ich habe…«, durchbrach Len die Stille. »Wartet, ich bin gleich wieder da!«

Verständnislos sahen der Kater und ich uns an.

»Was hat er denn? Hat er etwa ein Pfund Wahres Licht im Schrank versteckt?«, fragte der Kater verwundert.

Ich zuckte bloß die Achseln. Len kam jedoch schon zurück, mit etwas, das er vor die Brust gepresst hielt. Als mir klar wurde, weshalb er davongestürzt war, hätte ich beinahe laut losgelacht.

Vorsichtig stellte Len eine tiefe Schüssel vor den Kater hin, in die er etwas aus einer Tonkanne goss.

»Hier, bitte. Das ist Sahne. Gute Sahne.«

Der Kater taxierte Len mit einem verächtlichen Blick, bevor er sich mir zuwandte. »Sind hier alle so… fürsorglich? Nein, was für ein braver Junge!«

»Pass auf«, zischte ich, »beleidige ihn nicht! Woher soll er wissen, dass du keine Sahne trinkst? Tu so, als ob es dir schmeckt!«

Der Kater linste zu Len hinüber, der vor Freude strahlte, und stolzierte seufzend an die Schale heran. »Muss ich das wirklich ausschlecken?«, fragte er, wobei er aus den Augenwinkeln zu mir hochblickte.

Ich nickte aufmunternd.

»Und die ist auch nicht sauer?«

»Die ist ganz frisch!«, verkündete Len.

Daraufhin machte sich der Kater mit dem Gehabe eines Märtyrers daran, die Schüssel auszulecken. Anfangs langsam, dann immer schneller und schneller. Seine Zunge huschte nur so über die rasant abnehmende Sahne dahin. Auf mich machte das durchaus nicht den Eindruck, als würde er sich aus diplomatischen Erwägungen dazu zwingen müssen.

»Wo kommt er her?«, fragte Len begeistert.

Das war nun der Moment: Entweder tischte ich ihm eine unglaubliche Lüge auf oder ich gestand die Wahrheit.

»Ich werde dir jetzt alles von Anfang an erzählen, Len. Unterbrich mich bitte nicht, sondern hör dir erst alles an.«

Dann erzählte ich. Von meinem Fenster, durch das nur selten Sonne scheint, vom Wahren Licht, das von einem Wahren Spiegel zurückgeworfen wird…

Einfach alles erzählte ich ihm.

»Ich habe noch nie die Sonne gesehen«, sagte Len. »Bei uns in der Stadt lebt ein Alter, der sich noch an sie erinnert. Aber er ist schon sehr alt, und es gibt nur wenige, die ihm glauben…«

Er streckte die Hand aus und streichelte den Kater. Der Kater ließ sich das sogar gefallen. Er legte sich auf meinen Schoß und putzte sich, genau wie ein ganz normaler Kater.

»Wenn der Sonnenkater diese Verborgene Tür aufkriegt, gehst du dann wieder nach Hause, Danka?«, fragte Len plötzlich.

»Klar!«

»Kann ich vielleicht mitkommen?«

Was sollte ich darauf antworten? Okay, in Büchern kann man seine Freunde nach Hause mitbringen und sagen: »Mama, er wird jetzt bei uns wohnen…« Aber im richtigen Leben würde das einen Haufen Probleme geben!

»Ich bin doch dein Partner, Danka…« Len schniefte und fügte kleinlaut hinzu: »Ich fliege gut. Und ich bin ein guter Kämpfer.«

Prompt stellte ich mir Len vor, wie er auf einem feindlichen Militärstützpunkt hockte, über und über behängt mit Handgranaten, während um ihn herum lauter Flaks auf ihn gerichtet waren – damit er ja nicht im Flug entkam. Ich zuckte zusammen. Wie sollte ich ihm meine Welt erklären?

Der Kater kam mir zu Hilfe. »Ich glaube nicht, dass du in Dankas Welt fliegen könntest. Deine Flügel sind aus dieser Welt. Darüber hinaus ist mir völlig unklar, wie ich diese Tür öffnen könnte.«

»Aber du hast doch die ganze Sahne aufgeschleckt! Oder brauchst du noch mehr?«

»Die Sahne stärkt meine Zauberkräfte nun wirklich nicht«, schnaubte der Kater. »Obwohl sie immerhin ganz schmackhaft ist. Aber für meine Zauberei brauche ich Wahres Licht. Wenn es hier doch nur tagen würde, wenn die Sonne wenigstens ganz kurz durchbräche…«

»Der Sonnenaufgang wird kommen«, seufzte Len. »Wenn wir uns hier begrüßen, sagen wir oft: Ich warte auf den Sonnenaufgang. Und der andere sagt dann: Und der Sonnenaufgang wird kommen. Aber im Grunde glaubt niemand daran.«

»Erzähl mir etwas von deiner Welt, Len«, bat ich. »Sonst verstehen wir überhaupt nichts.«

»Zunächst werde ich etwas erzählen«, sagte der Kater mürrisch. »Es ist mir nämlich geglückt, diese Welt hier in ihrer Gänze kennenzulernen. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist überall dunkel. Wenn ich noch weiter ins Detail gehen soll: Ich habe etliche Städte gesehen, in denen Menschen leben, und noch weitaus mehr Türme…« Der Kater erschauderte. »… in denen seltsame Gestalten der Finsternis leben. Ich habe gesehen, wie ihr gegeneinander kämpft, wie diese Finsterlinge euch gefangen nehmen und wie ihr die dunklen Gestalten tötet. Kein sehr erbaulicher Anblick. Ferner sah ich, wie aus einer großen Stadt am Meer Karawanen aufbrachen und Schiffe in See stachen, um im Nichts zu verschwinden.«

»Das sind die Händler«, sagte Len und winkte ab. »Zu uns kommt auch bald eine Karawane. Wir können nicht selbst für unser Essen sorgen, denn bei uns wächst zu wenig. Die Händler mischen sich nicht in unseren Krieg ein, da sie aus einer anderen Welt kommen. Sie machen ihre Geschäfte sowohl mit uns wie auch mit den Freifliegern.«

»Und was gebt ihr ihnen dafür?«, fragte ich wissen. »Gold?«

»Wozu sollte das denn gut sein?«, sagte Len verwundert. »Um Türklinken herzustellen? Da ist Bronze schöner. Nein, wir verkaufen uns.«

»Was?« Ich verstand nicht, was er meinte.

»Die Erwachsenen losen das unter sich aus oder sprechen sich einfach ab«, erklärte Len müde. »Dann treten sie in den Dienst der Händler oder der Kunden der Händler.«

»Um was zu tun?«

»Sie kämpfen. Wir sind gute Soldaten, Danka, und fürchten den Tod nicht.«

»Na klar, wer fürchtet den schon?«, bemerkte der Kater bissig, worauf Len verstummte. »Abgesehen davon«, fuhr der Kater fort, »habe ich einen ungeheuer hohen Turm gesehen. Ich vermochte ihn nicht einmal zu überfliegen, sondern musste ihn umkreisen. Er ist durch und durch düster.«

»Das ist der Turm der Finsternis«, erklärte Len. »Viele Städte haben schon versucht, ihn zu zerstören, aber bisher ist es niemandem gelungen. Dort lebt der Herr der Finsternis, er ist der Gebieter der Freiflieger.«

»Das habe ich mir durchaus selbst zusammengereimt«, grummelte der Kater. »Wie kommt es nur, dass ihr dieses Leben führt, Junge?«

»Das weiß ich nicht. Es gibt verschiedene Gerüchte: dass die Freiflieger uns angegriffen und die Finsternis mitgebracht haben, aber auch, dass wir selbst an allem schuld seien… Ich weiß es einfach nicht.«

»Dann werden wir diesen Alten fragen, der sich noch an die Sonne erinnert«, entschied der Kater. »Er muss die Wahrheit kennen. Aber diese Wesen der Finsternis, sind das Einheimische oder stammen sie aus einer anderen Welt?«

»Die gehören nicht zu uns«, antwortete Len. »Sie sind zusammen mit der Finsternis gekommen. Wenn wir von den Händlern nicht das Geheimnis der Flügel gekauft hätten, dann hätten die Freiflieger uns längst besiegt.«

»Aber für Erwachsene gibt es keine Flügel?«

»Nein.«

»Und wer regiert euch?«, fragte der Kater.

»Niemand.«

»Das kann nicht sein.«

»Doch. Wir Flügelträger haben unsere eigenen Gesetze, und alle achten darauf, dass sie eingehalten werden. Für die Frauen und Mädchen gelten andere Gesetze. Und für die Männer auch. Und in die Angelegenheiten der anderen mischen wir uns nie ein.«

»Ihr Flügelträger verteidigt also alle gegen die Freiflieger«, sagte der Kater. »Aber was ist, wenn einer von den älteren Flügelträgern ein Mädchen entführt, das ihm gefällt? Was können die Frauen dann machen?«

»Dann verweigern sie uns die Flügel. Nur die Frauen können sie herstellen. Ein Flügelpaar hält ein, zwei Monate, länger nicht. Und von den erwachsenen Männern hängt ab, ob uns die Händler mit Lebensmitteln beliefern oder nicht.«

»Was für ein paradiesisches Leben, voller Liebe und Freundschaft«, höhnte der Kater, und in seiner Wut fing er an, sich zu putzen. »Die Anarchie… ist ja bekanntlich die Mutter der Ordnung.«

Er brummelte noch etwas, erinnerte sich an verschiedene Revolutionäre, doch seine Worte galten ganz klar nicht mehr uns. Mir persönlich war schleierhaft, was am Leben der Flügelträger schlecht sein sollte.

Len starrte mich an. »Sag mal, Danka, habt ihr etwa keine Flügel?«, fragte er.

»Früher hatten wir keine«, sagte ich ausweichend. »Aber jetzt haben wir Flugzeuge und Hubschrauber.«

»Dann kannst du also gar nicht fliegen?«

»Nein.«

»Aber wir müssen morgen Patrouille fliegen! Wenn die anderen rauskriegen, dass du gar kein Senior bist… und du bist kein Senior… dann werden wir bestraft.«

»Lügner werden mit dem Schwert getötet«, wiederholte ich seine Worte. »Aber du hast damit doch nichts zu tun, Len! Ich habe dich ja auch angeschwindelt.«

»Natürlich bin ich auch schuld! Ich wollte ja unbedingt, dass du ein Senior bist…« Len ließ sich auf mein Bett plumpsen und fing an, an seinen Nägeln zu knabbern.

»Hör auf, an den Nägeln zu kauen!«, befahl der Kater, ohne sich auch nur zu ihm umzudrehen. »Davon abgesehen spielen eure Fehler jetzt, da ihr Partner auf Leben und Tod seid, nicht mehr die geringste Rolle. Du, Len, bist der Junior in eurem Team. Danka ist dein Senior. Muss ich dich daran erinnern, wie sich Partner zu verhalten haben?«

»Nein«, sagte Len murrend.

Mir war klar, dass der Kater sich Sorgen um mich machte. Außerdem verfolgten mich die Bilder aus meinem Traum, in dem Len mit dem Schwert vor mir gestanden hatte. Als ich dann aber zu Len hinübersah, zu diesem verstrubbelten, mageren Jungen, der so bleich war, dass er schon bläulich wirkte, schämte ich mich. Gleichzeitig packte mich Mitleid.

Wenn ein Junge wie er in unserer Klasse aufgetaucht wäre, hätten ihn alle fertiggemacht. Denn wehren konnte er sich garantiert nicht. Vermutlich wäre ich nicht besser gewesen als die anderen. Doch jemandem einen Kaugummi zu klauen, ihm eine zu knallen oder seinen Kopf in den Schnee zu tauchen, ist eine Sache. Eine ganz andere ist es, wenn es um Leben und Tod geht. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Trotzdem wollte ich diese Dinge lieber nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Len hatte mir das Leben gerettet. Er hatte für mich gebürgt. Was spielte es da für eine Rolle, weshalb er das getan hatte? Die Motive stehen auf einem Blatt, die Taten auf einem anderen.

»Ich könnte abhauen, Len«, schlug ich vor. »Dann erklärst du den anderen Senioren, du hättest mich entlarvt und ich wäre daraufhin geflohen. Dann würde dich doch niemand bestrafen, oder?«

Len sprang vom Bett auf und kam zu mir. Er nahm meine Hand und drückte sie. »Ich werde dich nicht verraten, Senior«, versicherte er mit fester Stimme. »Das schwöre ich! Ich will dein Partner sein. Wir werden uns schon etwas einfallen lassen.«

Nun drückte auch ich seine Hand. Schweigend standen wir da und blickten einander in die Augen.

»Schön, dass ihr die Hoffnung nicht verloren habt, Jungs«, schnurrte der Kater irgendwann. »Das freut mich. Selbst wenn außer Frage steht, wer sich hier etwas ausdenken muss. Aber gut, das schaff ich schon.«

»Jetzt hör mal zu, du halbfertiger Zauberer!«, polterte ich los. »Wenn du nicht aufhörst, dich über uns lustig zu machen, werden wir beide dir ordentlich einheizen!«

»Nicht doch! Ich bitte vielmals um Verzeihung!«, rief der Kater und tat erschrocken. »Eure Freundschaft geht mir doch außerordentlich zu Herzen. Küsst ihr euch auch noch?«

Ich warf ein Kopfkissen nach dem Sonnenkater, traf ihn jedoch nicht. Aber Len, der sich bereits das andere Kissen geschnappt hatte, zielte besser. Zutiefst beleidigt kroch der Kater unter dem Kissen hervor und leckte sich die Pfoten. Wir lachten aus vollem Hals los, nicht weil wir unsern Spaß gehabt hatten, sondern einfach weil die Anspannung von uns gewichen war.

»Gut, schließen wir Frieden«, sagte der Kater, nachdem er das Putzen beendet hatte. »Wie lange dauert es, bis man mit den Flügeln umgehen kann, Len?«

»Ein Jahr«, erklärte Len.

»Lass mich die Frage anders formulieren. Wie lange bräuchtest du, um deinem nichtsnutzigen Senior beizubringen, sich in der Luft zu halten, ohne dass er den Eindruck erweckt, er sei ein flügellahmes Huhn?«

»Einen Morgen«, antwortete Len lächelnd. »Zu fliegen ist gar nicht so schwer. Zu fliegen und gleichzeitig zu kämpfen, das ist das Problem.«

»Hervorragend. Dann bringst du es ihm morgen früh bei. Anschließend brecht ihr beide zu eurer Patrouille auf, wobei ihr versuchen werdet, einen möglichst großen Bogen um die Freiflieger zu machen. Aber darin hast du ja Übung, oder?«

Schuldbewusst senkte Len den Kopf.

»Achte nicht auf den Kater«, flüsterte ich hinter ihm. »Er ist eine Giftschleuder, wie sie im Buche steht.«

»Geht jetzt besser schlafen«, sagte der Kater, der mich mit einem unzufriedenen Blick maß. »Morgen müsst ihr eure Kräfte und euern Verstand beieinander haben.«

»Und du?«

»Ich werde mich nach unten begeben, meinen Gedanken nachhängen und ein paar Bücher durchblättern«, antwortete er. »Einer muss ja die Kopfarbeit übernehmen, nicht wahr?«

»Gute Nacht, Len«, sagte ich. Er und der Sonnenkater verließen mein Zimmer, ich sammelte die Kissen ein und verschwand wieder im Bett. Meine Laune war, warum auch immer, hervorragend. Als zehn Minuten später der Kater ins Zimmer schlich, sich leise auf das freie Kopfkissen legte und seine frisch mit Sahne beschmierten Pfoten ableckte, hegte ich keinen Zweifel mehr daran, dass alles gut werden würde.

»Gute Nacht«, flüsterte ich.

»Menschen wünscht man eine gute Nacht. Aber Sonnenkatern wünscht man einen strahlenden Sonnenaufgang.«



5. Feigheit

Als ich zum ersten Mal Lens Overall anzog, wurde. mir klar, was es mit Flügeln auf sich hatte.

Der feste Stoff klebte an mir wie ein Gummihandschuh an den Fingern. Plötzlich spürte ich einen Schmerz in den Schultern und schrie auf. Es war, als säße auf jeder Schulter ein Kater und trete mit ausgefahrenen Krallen auf mir herum.

»Keine Angst«, beruhigte mich Len. »Die Flügel brauchen Kraft.«

»Etwa meine?«

»Wessen denn sonst? Was hast du denn gedacht, wie du fliegen würdest? Indem du mit den Armen wackelst wie ein Vogel?«

Eine Minute lang wand und krümmte ich mich, gab unter Lens vorwurfsvollem Blick aber schließlich Ruhe. Außerdem ließ auch der Schmerz allmählich nach.

»Geht das die ganze Zeit so?«

»Du gewöhnst dich daran«, tröstete mich Len. »In einem Monat merkst du das gar nicht mehr. Also beweg mal die Arme…«

Ich hob und senkte die Arme. Der Stoff, der an den Ärmeln herabhing, klatschte leise, spannte sich jedoch nicht.

»Stell dir Flügel vor«, wiederholte Len immer wieder und begutachtete meine unbeholfenen Versuche, mich in die Luft zu erheben. Wir übten im unteren Zimmer, der Kater lag auf dem Treppengeländer und schaute uns zu. »Stell dir Flügel vor! Stell dir vor, du fliegst! Du schaffst das.«

»Ich schaff das nicht, Len.«

»Quatsch, das schaffen alle. Du bist nicht schwer, die Flügel tragen dich.«

Nach einer Stunde hatte Len eingesehen, dass wir auf diese Weise nicht weiterkamen. Daraufhin verlangte er, ich solle mich auf den zwei Meter hohen Schrank stellen und von dort herunterspringen. Das half.

Auf einmal kam es mir vor, als würden meine Arme enorm wachsen und breit werden und auf etwas einschlagen – und zwar nicht auf Luft, sondern auf Wasser. Mein Fall wurde plötzlich abgebremst, und der Boden rückte wieder tiefer nach unten, weil ich hoch zur Decke getragen wurde. Durch das Zimmer strich Wind, der die Bilder an der Wand schwanken ließ und allerlei Kleinkram wegfegte.

»Schon besser«, urteilte Len, der unter mir stand und mich kritisch im Auge behielt. »Die Flügel sind sowieso schlauer als du.«

»Ich fliege!«, schrie ich, als ich begriff, dass ich nicht mehr fiel.

»Du fliegst nicht, sondern du flatterst«, sagte der Kater spöttisch.

»Hör nicht auf ihn!«, rief Len. »Die Flügel wissen, wie sie fliegen müssen, du musst nur steuern. Sie brauchen deinen Verstand und ein bisschen von deiner Kraft. Lande jetzt, Senior!«

Ich legte die Flügel an und landete sanft auf dem Boden. Trotz des heftigen Schmerzes in meinen Schultern war ich absolut begeistert.

»Und wie macht man aus den Flügeln ein Zelt?«

»Einen Unterstand«, korrigierte mich Len. »Also, dazu musst du die Augen schließen, die Arme ausbreiten und die Finger spreizen. Stell dir vor, der Overall würde sich aufblähen.«

Das gelang mir auf Anhieb. Ich schlug die Augen auf, um mich zu überzeugen, dass ich in einem kleinen, kuppelförmigen Zelt stand, der von weißem Licht erfüllt war. Meine Schultern bedeckten feine rote Pusteln, doch der Schmerz ließ sofort nach.

»Darf ich rein?« Len steckte den Kopf durch die Öffnung, zwischen seinen Beinen zwängte sich der Kater durch.

»Klar.«

»Ich musste fragen«, erklärte mir Len. »Bei einem Unterstand ist das noch wichtiger als bei einem Haus. Hier kommt man nicht einfach so rein.«

Wir setzten uns und schauten uns an. Len und ich grinsten, der Kater machte eine nachdenkliche Miene.

»Haben wir noch genug Zeit, um zu diesem Alten zu gehen, bevor ihr auf Patrouille fliegt?«, wollte er wissen.

»Zu dem, der sich noch an die Sonne erinnert? Kaum. Wir müssen jetzt tüchtig essen, dann noch etwas üben und schließlich noch mal tüchtig essen.«

»Sag mal, warum hab ich eigentlich ständig Hunger?«, fragte ich, als mir klar wurde, dass mir Lens Worte überhaupt nicht komisch vorkamen. »Als ob ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hätte.«

»Du hast deine Kräfte an die Flügel abgegeben. Und zwar nicht nur für die Übungen eben, sondern auch schon auf Vorrat. Wir müssen viel essen, Danka.«

»Aber das sieht man dir überhaupt nicht an!«

»Das verliert man beim Fliegen wieder, Senior. Wenn wir doch bloß draußen trainieren könnten! Aber das geht ja nicht. Also los, flieg noch mal.«

Wir übten weiter und unterbrachen das Training nur ab und zu, um etwas zu essen. Ich fuhr mir Wurstbrote, Spiegeleier und Schokowaffeln ein, trank Milch und Tee. Wo das alles blieb, war mir schleierhaft. Nach einer Stunde hatte ich nämlich wieder einen Wahnsinnshunger.

»Wie lange fliegen wir auf Patrouille?«, fragte ich Len, während ich durch die Luft eierte. Inzwischen konnte ich schon ein wenig lenken. Dabei kam es vor allem darauf an, auf die Flügel zu vertrauen, den Rest machten sie dann von allein.

»Fünf, sechs Stunden.«

»Das halte ich nicht durch!« Sofort bekam ich Angst.

»Wir nehmen Essen mit. Außerdem verbrauchst du beim Üben hier im Zimmer ständig Kraft, während wir uns draußen zwischendurch von der Luft tragen lassen und dabei neue Kraft schöpfen. Los, üb einfach noch ein bisschen!«

Wir starteten die Patrouille vom Turm unseres Hauses aus. Ich hatte Angst, dass mir andere Senioren dabei zuschauten, denn natürlich behielt man den Himmel über der Stadt immer im Auge. Wir hofften jedoch darauf, dass mein Flug aus der Entfernung nicht allzu stümperhaft wirkte.

Von dem zehn Meter hohen Turm zu springen war kein Kinderspiel. Immer wieder ging ich an den Rand der Plattform, zu der Stelle, wo eine Lücke im Geländer war. Der Steinboden, der im Laufe der Jahre glatt geschliffen worden war, stellte sich als gefährlich rutschig heraus. In den Straßen liefen ein paar Fußgänger, aber niemand achtete auf uns. Nur zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen an der Hand einer älteren Dame, verdrehten hartnäckig den Kopf nach dem Turm und lauerten auf meinen Start. Wahrscheinlich würde ich sie enttäuschen.

»Es wird Zeit, Senior«, drängelte Len. »Mach schon! Wir müssten längst in der Luft sein.«

Ich tastete mich bis ganz an den Rand vor, blieb stehen und versuchte, das Gleichgewicht zu halten.

»Spring!«, zischte Len.

Ich breitete die Arme aus und schloss die Augen. In dem Moment trafen die Flügel die Entscheidung für mich. Sie schlugen auf die Luft ein, die hart wie Beton war – und der Turm verschwand unter meinen Füßen. Ohne die Augen wieder aufzumachen, hörte ich, wie Lens Flügel über mir schlugen und der peitschende Wind mir um die Ohren pfiff.

»Wir haben Flügel!«, schrie Len. Seine Stimme erkannte ich kaum wieder, so glücklich klang sie! »Lass sie machen, was sie wollen, dann fliegst du ganz von selbst! Wir haben Flügel!«

Ich öffnete die Augen. Die Stadt lag tief unter mir, die Menschen in den Straßen konnte ich schon nicht mehr erkennen. Wir stiegen immer höher, bis hinauf zu den paar Schäfchenwolken. Über ihnen hing ein dunkler Schleier.

»Len!«, brüllte ich. Mein Junior schoss durch die Luft, als ob ihn das überhaupt nicht anstrengte. Als er mich hörte, breitete er die Flügel aus und segelte neben mir.

»Können wir über die Wolken steigen, Len?«

Er verstand, worauf ich hinauswollte. »Nein, Danka, die Finsternis tötet uns. Nur die Freiflieger halten sie aus.«

»Aber wenn wir über die Wolken gelangen würden? Ist da die Sonne?«

»Das weiß ich nicht. Wir müssen jetzt Patrouille fliegen, Senior. Mir nach!«

Wir ließen die Stadt hinter uns und erreichten die Gegend, wo wir patrouillieren sollten. Len eilte ständig voraus, kam dann wieder zurück und weihte mich in diverse Geheimnisse ein, die für mich völlig wirr klangen. Ich hörte jedoch gar nicht hin, sondern genoss den Flug.

Vielleicht ist es noch spannender, ohne jedes Hilfsmittel zu fliegen, so wie Peter Pan. Aber das gibt es eben nur im Märchen. Mir machte es jedenfalls auch mit den Flügeln Spaß. Vor allem, weil ich überhaupt keine Höhenangst hatte und es sich anfühlte, als hätte ich schon immer fliegen können.

Unsere Aufgabe war leicht: Wir mussten die Hügel im Norden der Stadt abfliegen und nach Freifliegern Ausschau halten. Falls wir auf einen einzelnen Feind stießen, sollten wir ihn angreifen. Doch entweder hatten wir Glück oder Len hatte unsere Route so geschickt ausgewählt, jedenfalls begegnete uns kein einziger Freiflieger. Im Grunde bedauerte ich das sogar, denn ich hätte mir zu gern mal einen durchs Visier näher angesehen.

Ab und zu hielten wir in der Luft an – landen durften wir während eines Patrouillenfluges nicht – und aßen etwas. Bei solchen Gelegenheiten quetschte ich Len aus.

»Was macht ihr eigentlich in euerm Club, Junior?«

»Ganz bestimmt keinen Wein trinken«, stichelte Len. »Und prügeln tun wir uns auch nicht… Ansonsten machen wir alles Mögliche. Wir spielen Freiflieger…«

»Wie geht das?«

»Das ist ganz einfach. Wir sitzen alle an einem Tisch, so etwa zehn Leute, und teilen Karten aus. Jeder schaut sich seine Karten an. Es gibt zwei schwarze Karten, das sind die Freiflieger. Niemand weiß, wer eine schwarze Karte hat, nur diejenigen selbst. Dann schließen wir alle die Augen, damit imitieren wir die Nacht. Die beiden Freiflieger machen die Augen aber wieder auf und wissen jetzt, dass sie zusammengehören. Nur mit Blicken bestimmen sie ein Opfer. Anschließend öffnen alle die Augen und versuchen herauszukriegen, wer von uns die Freiflieger sind, die wir umbringen müssen.«

»Umbringen?«

»Natürlich nicht in Wirklichkeit. Alle rätseln, wer am verdächtigsten wirkt und ein geheimer Freiflieger ist. Dann wird abgestimmt und jemand umgebracht. Zum Spaß. Danach kommt wieder die Nacht, alle machen die Augen zu, aber derjenige, den wir umgebracht haben, ist jetzt Spielleiter. Er hat die Augen offen und ruft nacheinander alle Namen auf. Sobald der Name des Opfers fällt, das die Freiflieger vorhin ausgesucht haben, heben die beiden den Finger. Wenn sie sich vorher richtig verstanden haben und den Finger gleichzeitig heben, heißt es, der Junge ist tot. Dann öffnen alle die Augen, und der Spielleiter sagt, in der Nacht haben die Freiflieger den und den Flügelträger ermordet. Oder aber dass die Freiflieger sich nicht über ihr Opfer einigen konnten und sich auf unterschiedliche Jungen gestürzt haben, die sich gewehrt haben. Wir versuchen wieder herauszukriegen, wer von uns ein Freiflieger ist, stimmen ab, bringen noch jemanden um…« Len schielte zu mir herüber und fügte vorsichtshalber hinzu: »Natürlich auch diesmal nicht in Wirklichkeit. Dann kommt wieder die Nacht, und die oder der Freiflieger – falls einer schon tot ist – zeigen wieder auf jemanden. Das Spiel dauert so lange, bis wir alle Freiflieger erwischt oder sie alle Flügelträger vernichtet haben. Am aufregendsten ist es natürlich, wenn du selbst Freiflieger bist. Gestern war ich das zweimal und habe mich absolut überzeugend als guter Flügelträger ausgegeben…«

Das klang wirklich nach einem lustigen Spiel. Wenn ich wieder zu Hause wäre, würde ich es meinen Freunden beibringen. Statt der Freiflieger könnten wir ja Mafiosi nehmen und statt der Flügelträger ehrliche Bürger.

Am Ende unserer Patrouille befanden wir uns etwa vierzig Kilometer vor der Stadt. Zurück bräuchten wir eine halbe Stunde Flug, mehr nicht, vor allem weil wir den direkten Weg nehmen wollten, über die nicht sehr hohen Berge, über denen andere Flügelträger Patrouille flogen. Diese Abkürzung zu nehmen war nicht verboten.

»Wenn wir wieder zurück sind, besuchen wir einen von den Erwachsenen«, teilte Len mir mit. Er flog vor mir und ich konnte ihn gut hören. »Die sollen uns was Anständiges kochen. Es ist nämlich unser Recht, uns nach einem Patrouillenflug bei jemandem einzuladen. Danach…«

Plötzlich bremste er scharf ab und schlug wild mit den Flügeln. Beinahe wäre ich gegen ihn geknallt.

»Da vorn!«, schrie er.

Etwa einen Kilometer vor uns tobte über den Bergen ein Kampf. Zwei Figuren schlugen auf eine dritte ein, bei der es sich, der Größe nach zu urteilen, um einen Freiflieger handelte. Dann war da noch einer, der selbst durchs Visier nur wie ein dunkler Fleck aussah und sich mit heftigen Flügelbewegungen von dem Kampfgeschehen entfernte.

»Die Patrouille hat einen Freiflieger geschnappt«, sagte Len aufgeregt. »Klasse, wie sie den fertigmachen!«

Der Freiflieger, den die beiden Flügelträger in der Mangel hatten, stürzte schließlich auf einen Berg. Ein Flügel bewegte sich noch hilflos auf und ab, der andere war anscheinend kaputt.

»Der ist hinüber«, erklärte Len zufrieden. »Fliegen wir weiter!«

»Und der da?« Ich wies mit der Hand auf den zweiten Freiflieger, der sich immer weiter entfernte, verlor dabei das Gleichgewicht und geriet ins Strudeln. Als ich die Lage wieder unter Kontrolle hatte, hakte ich nach: »Meinst du nicht, dass wir uns den schnappen können, Len?«

»Ist das dein Ernst, Danka?« Mein Junior starrte mich an. »Willst du wirklich einen Kampf?«

Da explodierte ich. Mir war noch allzu gut in Erinnerung, wie ich vor den zwei Freifliegern in die Berge fliehen musste! Mit denen hatte ich noch eine Rechnung zu begleichen!

»Sei nicht so ein Feigling!«, schrie ich Len an und schoss los. Len folgte mir.

Wir näherten uns dem fliehenden Freiflieger und nahmen ihn in die Zange, Len und ich von der einen Seite, die beiden anderen Flügelträger von der anderen. Der Freiflieger bemerkte uns und wollte höher gehen, aber Len holte ihn ein und stieg über die schwarze Figur. Das Schwert hielt er mit beiden Händen gepackt. Der Freiflieger riskierte es nicht, meinen Junior von unten anzugreifen. Len hatte mir bereits erklärt, dass die Position über dem Feind die bessere ist.

Nachdem ich das Schwert aus der Scheide gezogen hatte, flog ich dichter an den Freiflieger heran. Die Flügel trugen mich von selbst in den Kampf. Plötzlich war ich mir ganz sicher, dass ich alles richtig machen würde. Ich würde zu dem Wesen der Finsternis fliegen und es töten. Ja, ich würde es töten, denn diese Wesen ermordeten Menschen. Außerdem hatten sie die Finsternis in diese Welt gebracht. Und schließlich war ich jetzt der Senior in unserem Team. Das Einzige, was mich noch interessierte, war, wie die Freiflieger eigentlich aussahen. Wie ein Vogel, ein Saurier oder so ähnlich wie ein Mensch, wenn auch einer mit einem fiesen Monstergesicht?

Wie dumm ich doch war…

Im Sturzflug ging ich unter den Freiflieger und schoss dann senkrecht nach oben, bis ich auf einer Höhe mit ihm war. Ich glaube, Len war sehr zufrieden mit mir, denn sein Senior hatte eine schöne Attacke geflogen.

Ich wollte angreifen – und erstarrte: Vor mir schwebte ein Mensch wie du und ich in der Luft, von den ausgebreiteten Flügeln mal abgesehen. Der Junge war schon älter und erinnerte mich irgendwie an Shoky, nur dass sein Gesicht nicht von einem durchsichtigen Visier geschützt war wie bei den Flügelträgern. Offen blickte er mir in die Augen – selbst in dieser ewigen Nacht konnte er etwas erkennen!

»Töte mich nicht«, krächzte er. »Töte mich nicht…«

Ich rührte mich nicht. Zum Glück hielten mich die Flügel in der Luft. Mein Schwert hatte ich immer noch auf den Freiflieger gerichtet. Er selbst trug kein Schwert, vermutlich hatte er es beim Kampf verloren.

»Lass mich fliegen«, keuchte der Freiflieger, dessen Stimme im Pfeifen des Windes fast unterging. Wir waren tausend Meter über den Bergen. Ich stellte mir vor, dass ich auf die schwarzen Flügel einschlug und er abstürzte…

»Lass mich fliegen«, wiederholte der Freiflieger. Die beiden anderen Flügelträger, die seinen Partner getötet hatten, kamen immer näher.

»Schlag zu!«, brüllte Len von oben. »Schlag zu, Danka!«

»Los, hau ab!«, zischte ich und senkte das Schwert. Die Verblüffung im Gesicht des Freifliegers entging mir nicht. Es war das Gesicht eines ganz normalen Menschen, allerdings leicht verzerrt, als ob ihn etwas quälte.

»Flieg mit mir!«, flüsterte er. »Komm mit, du bist einer von uns!«

»Nein«, brüllte ich. »Verpiss dich!«

»Du wirst schon noch kommen!«, stieß der Freiflieger hervor und schoss nach unten. Im Sturzflug gewann er an Tempo, irgendwann breitete er die schwarzen Flügel aus und glitt über die Berge davon.

»Das darf nicht wahr sein!«, schrie Len, als er mit mir auf einer Höhe war. »Was hast du dir bloß dabei gedacht, Senior?«

»Aber er ist doch ein Mensch!«

»Er kommt aus der Finsternis! Er ist ein Diener der Finsternis!«

»Er ist genau wie du und ich! Er ist ein Mensch!«

»Das kostet uns beide den Kopf«, sagte Len mit schwacher Stimme. »Danka…«

Über sein Gesicht liefen Tränen. Sofort dachte ich wieder logisch. Konnte ein Diener der Finsternis etwa nicht wie ein Mensch aussehen? Eben!

»Ich hab’s genau gesehen!«, schrie jetzt einer der beiden Flügelträger aus dem anderen Team. »Du hast ihn entkommen lassen! Du bist ein Verräter!«

Es war der Junge, der genauso alt war wie Len und ich. Sein Senior, der schon schwerer und langsamer war, blieb hinter ihm zurück.

»Ich kann das erklären!«, schrie ich. Aber niemand hörte mir zu. Jetzt erreichte uns auch der Senior. Es war der Junge, mit dem ich mich gestern Abend geprügelt hatte. Das erstaunte mich nicht im Geringsten. Schließlich kommt ein Unglück selten allein.

»Spielst du mit dem Gedanken, abzuhauen?«, fragte er. In der Hand hielt er eine Armbrust.

»Bestimmt nicht!«, antwortete ich, wobei ich versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. »Ich kann das alles erklären.«

»Da bin ich aber gespannt! Cheky, flieg in die Stadt! Es sollen alle zum Platz kommen und sich am Galgen versammeln!«

Cheky glaubte anscheinend felsenfest daran, dass sein Senior mich und Len in die Tasche stecken konnte, und flog los in die Stadt.

»Und jetzt setzt euch in Bewegung!«, kommandierte mein Feind. »Beide! Und du, Len, wirst dich gesondert zu verantworten haben.«

Wir kehrten zur Stadt zurück. Unterwegs flog Len zu mir heran. »Ich werde versuchen, ihm die Armbrust zu entreißen«, flüsterte er. »Ich bin schnell, ich schaff das. Dann fliehen wir.«

»Wohin denn?«, entgegnete ich nur. »Keine Angst, uns passiert schon nichts.«

»Bist du sicher?«, fragte Len mit leiser Hoffnung.

»Nur Mut, Junior!«

Ich hatte vor, ihnen die Wahrheit zu sagen. Dass ich aus einer anderen Welt kam, wie ich Len getroffen hatte und wie ich den Freiflieger angegriffen hatte und völlig verstört gewesen war, als ich gesehen hatte, dass er ein Mensch war wie wir selbst.

Erst als wir über der Stadt bereits zum Landeanflug ansetzten, begriff ich: All das durfte ich auf gar keinen Fall sagen. Unter keinen Umständen. Mir würden sie vielleicht noch verzeihen. Aber Len, der mein Geheimnis vor ihnen verborgen hatte, würden sie töten.

In diesem Moment wollte ich nur noch abhauen. Inzwischen hatte uns jedoch ein Dutzend Flügelträger eingekreist, sodass es idiotisch gewesen wäre, zu fliehen – noch dazu bei meiner geringen Flugerfahrung. Wir landeten mitten auf dem überfüllten Platz, auf dem einzigen freien Fleckchen. Daraufhin gingen auch die anderen Flügelträger runter – allerdings mitten in der Menge.

»Mir war von Anfang an klar, was das für ein mieser Typ ist!«, rief unser Aufpasser. »Und ich hatte recht! Heute hat dieser… Senior… einen Freiflieger entkommen lassen! Womit müssen wir da erst morgen bei ihm rechnen?«

Die Menschen auf dem Platz sagten kein Wort. Es waren Senioren und Junioren gekommen, Mädchen und Erwachsene. Okay, Erwachsene gab es nicht so viele. Alle schauten mich an, als ob…

Mir wurde angst und bange. Wie willst du Menschen etwas erklären, die dich hassen und schon vorab ihr Urteil gefällt haben?

»Womit müssen wir morgen bei ihm rechnen?«, wiederholte Cheky. »Mit gar nichts, denn wir rechnen heute mit ihm ab!«

Er lachte aus vollem Hals über seinen Witz. Durch die Menge steuerte Shoky auf mich zu. Die Leute traten sogar zur Seite, offenbar galt er was in dieser Stadt.

»Weshalb hast du das gemacht, Danka?«, fragte er scharf.

Da ich schwieg, hetzte der Senior, dem ich gestern eins verpasst hatte, weiter. »Der Fall ist doch klar: Entweder ist er ein Feigling oder ein Verräter! Ich glaube, er ist ein Verräter.«

»Halt den Mund!«, fuhr Shoky ihn an. »Danka! Was ist passiert?«

Als ich ihm in die Augen sah, wurde mir klar: Shoky gab mir eine Chance. Zumindest versuchte er es.

»Meine Augen«, stammelte ich zu meiner eigenen Überraschung. »Meine Augen! Ich habe manchmal… Probleme mit den Augen… dann sehe ich plötzlich schlecht. Ich bin zu dem Freiflieger geflogen und mit einem Mal habe ich die Orientierung verloren! Danach war er schon auf und davon.«

Mir war plötzlich eingefallen, was wir vor Klassenarbeiten zusammenfantasierten: Mir tut der Kopf weh, ich hab Magenkrämpfe, hab mir den Finger ausgerenkt… In der Schule klappte das immer.

»Blödsinn!«, schnaubte der Senior und richtete seine Armbrust auf mich.

Aber Shoky wies ihn mit einer energischen Geste in seine Schranken. Dann wandte er sich an Len: »Hast du davon gewusst?«

Len schüttelte den Kopf. Und ihm fiel prompt noch mehr ein. Alle Achtung! »Nein, ich hab das nicht gewusst. Aber irgendwas war mit Dankas Augen. Er hat immer wieder angehalten und sie gerieben…«

»Glaubt seinem Junior nicht, der ist selbst ein Feigling!«

»Halt die Schnauze, Iwon!«, blaffte Shoky in scharfem Ton. »Unmöglich ist das nicht. Das Wort von Danka und seinem Junior steht gegen das von dir und das von deinem Junior. So kommen wir nicht weiter.«

Seltsamerweise steckte Iwon den Anschiss, ohne mit der Wimper zu zucken, weg. »Ein Flügelträger muss bereit sein zum Flug und zum Kampf«, sagte er, und es klang, als zitiere er die Worte aus einem Buch. »Und wenn ihm die Hand versagt, hackt ihm die Hand ab, und wenn er ein Signal überhört, schneidet ihm die Ohren ab… Erinnerst du dich noch an die Regeln für den Patrouillenflug, Shoky?«

Dieser nickte. Ich verstand zwar nichts von alldem, beschloss aber, die Klärung des Problems gar nicht erst abzuwarten. Ich wollte einfach wegfliegen – und sehen, wie weit ich kam.

Bevor ich meinen Fluchtversuch starten konnte, packte mich jemand bei den Armen. Ein anderer Junge warf sich auf den Boden und umklammerte meine Beine. Ich versuchte gar nicht erst, mich zu wehren. Im Handumdrehen hatten sie mir meinen Flügeloverall ausgezogen, und ich stand nur noch in Unterhosen in der Menge, wieder genau so, wie ich in die Stadt gelangt war. Ohne Kleidung fühlte ich mich gleich noch viel schutzloser. Zum Glück hatte mir wenigstens jemand eine Brille aufgesetzt.

»Du weißt, was das heißt, Danka?«, fragte Shoky. »Das Gesetz verlangt es so.«

Ich hatte zwar kein Wort verstanden, nickte aber trotzdem. »Was passiert mit Len?«, wollte ich wissen.

»Wenn du den nächsten Patrouillenflug nicht mit ihm antrittst, muss er sich einen neuen Senior suchen«, antwortete Shoky mitfühlend.

Wenn ich nicht mit ihm auf Patrouillenflug ging? Also gab es noch Hoffnung? »Len ist kein Feigling, Shoky. Hilf ihm, wenn es geht«, bat ich.

Shoky nickte. »Was wollt ihr hier überhaupt?«, wandte er sich an die Schaulustigen. »Das ist eine Angelegenheit der Flügelträger! Und schafft die Kinder weg, sie haben hier nichts verloren!«

Die Frauen und die kleineren Jungen stahlen sich schnell aus der Menge.

»Wir waren auch einmal Flügelträger«, empörte sich jedoch einer der Männer. »Es ist unser gutes Recht, zu bleiben. Außerdem muss jemand bei dem Jungen sein… Jemand muss sich um ihn kümmern… nachher…«

»Gut«, sagte Shoky widerwillig. »Bist du jetzt zufrieden, Iwon?«

»Vollauf!«, antwortete dieser.

»Hasst du Danka so sehr?«

»Ich hasse die Freiflieger! Und er hat einen von ihnen entkommen lassen!«

Shoky baute sich vor mir auf und langte nach seinem Dolch. Ich wollte mich befreien, aber die beiden anderen Jungen hielten mich so fest, dass ich mich nicht rühren konnte. Was hatte Shoky bloß vor?

»Lasst ihn los!«, schrie Len. »Es war doch alles ganz anders! Danka, sag ihnen…«

»Schweig!«, brüllte ich. »Schweig! Das ist ein Befehl, Junior!«

Len verstummte und presste sich die Hände vor den Mund. Er starrte mich absolut entsetzt an. Wenn Iwons Kumpane mich in dieser Sekunde losgelassen hätten, wäre ich glatt zu Boden gesackt – so weiche Knie hatte ich.

»Warum hast du den Freiflieger entkommen lassen?«, fragte Shoky, wobei er sich ganz dicht an mich heranschob. Meine Lüge hatte er mir also nicht abgekauft.

»Ich konnte ihn nicht schlagen. Er sah dir ähnlich«, gestand ich im Flüsterton. Ich bemerkte, wie mein einziger Freund unter den Senioren erbleichte.

»Dann war es mein Bruder«, sagte er leise. »Aber das ändert auch nichts.«

Iwon trat hinter meinem Rücken hervor, stellte sich neben Shoky und riss mir mit einer raschen Bewegung die Brille von der Nase. Finsternis umhüllte mich. Mist! Jetzt war ich der einzige Blinde unter lauter Sehenden! Um mich herum gab es nur geräuschvolles Atmen und Angst. Angst und noch mehr Angst…

»Lass mich das machen!«, verlangte der unsichtbare Iwon.

»Nein«, wies Shoky ihn ab. »Haltet seinen Kopf fest!«

In dem Moment begriff ich, was sie vorhatten. Ganz genau wusste ich es. Ich zappelte wild los, versuchte mich zu befreien oder wenigstens den Kopf wegzudrehen, aber mehrere Hände hielten ihn wie in einem Schraubstock fest.

»Nein!« Außer zu schreien konnte ich nichts tun. »Nur das nicht! Dann bringt mich lieber um!«

Daraufhin hielt mir auch noch jemand den Mund zu. Ich rammte meine Zähne in die Hand, konnte aber nicht mal den Flügeloverall durchbeißen. In meinem linken Auge explodierte ein brennender, irrer Schmerz, der von dem Stoß mit dem Dolch stammte. Blutrotes Licht loderte auf…

Als sie meinen Kopf das zweite Mal in die Zange nahmen, brach der Schmerz im rechten Auge aus. An das, was folgte, konnte ich mich später nicht mehr erinnern. Denn ich wurde ohnmächtig.



6. Der Wahre Blick

Ich lag zugedeckt da und nichts tat mir weh. Es war ja auch überhaupt nichts Schlimmes passiert. Ich war einfach neben dem Sonnenkater eingeschlafen, Len und ich hatten das Fliegen noch nicht trainiert, wir waren noch nicht Patrouille geflogen, hatten noch nicht…

Halt! Das alles war schon passiert!

Als mir der ganze Horror wieder einfiel, schrie ich auf. Eine Hand berührte mein Gesicht.

»Ganz ruhig, mein Junge, ganz ruhig. Hör auf zu schreien. Und versuch, nicht zu weinen.«

»Wo bin ich?«

»Bei mir.« Die Stimme kannte ich nicht. Sofort fügte ihr Besitzer hinzu: »Bei Gert, dem alten Gert. Hast du noch nicht von mir gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das macht nichts, mein Junge. Möchtest du etwas essen? Schließlich hast du erst vor Kurzem einen Patrouillenflug absolviert…«

Aber ich wollte nichts essen.

»Und trinken?«

Gert flößte mir etwas ein, ohne dass ich zu sagen gewusst hätte, was ich da trank. Anschließend streichelte er mir noch einmal über die Wange.

»Wo ist Len?«

»Er ist zu sich… zu euch nach Hause gegangen. Für dich ist es besser, wenn du erst einmal bei mir bleibst, mein Junge. Einen Tag vielleicht, oder zwei…«

»Ist es eigentlich um uns herum dunkel?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Gert nach kurzem Zögern. »Deine Augen sind fest verschlossen.«

»Und wenn ich sie aufmache?«

»Das solltest du besser nicht tun, mein Junge. Ich habe dir eine Salbe aufgetragen, aber wenn du die Augen aufschlägst, kommt der Schmerz zurück.«

»Bleibt das jetzt immer so?«

Gert schwieg.

»Was passiert jetzt mit mir?«

»Wenn ein Flügelträger nicht mehr fliegen kann, erhält er kein Essen.«

Ich lachte hysterisch los. Fliegen? Wenn’s weiter nichts ist! Obwohl sie mir die Augen ausgestochen hatten, galt ich also noch als Flügelträger. Schließlich hatte ja nicht ich versagt, sondern nur meine Augen. Okay, ich würde verhungern – falls nicht Len oder ein paar mitleidige Erwachsene mir hin und wieder etwas zu essen gaben…

»Weine nicht«, wiederholte Gert, während er die Tränen von meinen Wangen wischte. »Du verschmierst die Salbe und davon habe ich nicht so viel. Ohne sie kommt der Schmerz zurück.«

Mir doch egal! Ich hob die Hand, brachte es aber nicht über mich, meine fest zusammengepressten Lider zu berühren. In diesem Moment ging die Tür auf und ich hörte Schritte.

Das war es also, was mir noch blieb: Geräusche. Bis in alle Ewigkeit hinein würde ich nur noch das Trippeln von Schritten und rücksichtsvolle Stimmen hören.

»Wie geht’s dir, Senior?«, fragte Len leise.

Seiner Stimme nach zu urteilen, stand er neben dem Bett, in dem ich lag. Ich tastete nach seiner Hand und drückte sie fest.

»Weshalb?«, flüsterte ich. »Weshalb hat Shoky das getan? Warum hat ausgerechnet er… mich blind gemacht?«

Diese Frage ließ mir keine Ruhe.

»Wenn er Iwon den Dolch gegeben hätte, hätte der versucht, dich umzubringen«, antwortete Len mit leiser Stimme. Er warf sich auf mich und fing an zu weinen: »Das ist alles wegen mir! Das ist alles nur wegen mir! Danka… Ich hätte alles erklären müssen!«

»Dich hätten sie auf der Stelle umgebracht!«

»Ich hätte alles von Anfang an erzählen müssen! Ich bin ein Feigling! Das ist alles nur meine Schuld! Weil ich so ein Feigling bin, Senior!«

»Du solltest diese Worte nicht leichtfertig gebrauchen, mein Junge«, mahnte der alte Gert. »Du bist kein Feigling. Du bist nur nicht für diesen Krieg geschaffen. Wir haben einst einen Fehler gemacht, für den aber jetzt ihr bezahlen müsst.«

»Bist du derjenige, der sich noch an die Sonne erinnert?«, fragte ich, während ich Len in den Arm nahm. Mein Freund schluchzte schon nicht mehr ganz so jämmerlich. Komischerweise hatten seine Tränen mich beruhigt. Aber ich war immer noch der Senior! Deshalb musste ich stärker sein. Und das würde ich auch.

»Ganz richtig, mein Junge. Ich bin einer der Letzten, die sich noch an das Wahre Licht erinnern.«

»Zu dir wollten wir sowieso«, meinte ich. »Len, wo ist der Kater?«

»Ich bin hier«, meldete sich der Kater. Orientierte ich mich an seiner Stimme, schwebte er in der Luft über mir. »Bislang habe ich geschwiegen, weil ich mir erst ein Bild von der Situation machen wollte.«

Seine Stimme klang ernst, aber relativ ruhig. Das ließ mich wieder hoffen.

»Kater! Du hast mich doch damals gesund gemacht! Weißt du noch?«

Der Kater schwieg.

»Träume ich das?«, fragte stattdessen Gert. »Bist du ein sprechender Kater?«

»Weder dass ich spreche noch dass ich leuchte, ist ein Traum«, kanzelte ihn der Kater ab. »Danka, ich kann dir nicht helfen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.«

Ich seufzte und malte mir aus, wie schön es gewesen wäre, einfach mit Len nach Hause zu gehen und dort eine Kissenschlacht mit dem Kater anzufangen. Ich konnte nichts dagegen tun: Ich fing wieder an zu weinen.

»Meine Kräfte reichen dafür nicht«, entschuldigte sich der Kater. »Wenn ich nur das geringste bisschen Licht hätte, Wahres Licht meine ich, würde ich dich sofort kurieren. Tut mir leid.«

»Aber wenn wir Licht finden, kannst du mir helfen?«

Mein Bett erbebte, als der Kater neben mir landete. Er hatte also gar nicht in der Luft geschwebt – woher hätte er auch die Kraft für einen Flug nehmen sollen? –, sondern Gert hatte ihn auf dem Arm gehalten. Solchen Irrtümern würde ich in Zukunft ständig aufsitzen…

»Sag doch was!«, verlangte ich.

»Eines Tages… vielleicht… werde ich dich kurieren können«, sagte der Kater.

Na, das war ja ein toller Trost! Nun stapfte Gert mit schweren Schritten durchs Zimmer und wühlte anscheinend in einem Schrank, denn ich hatte gehört, wie eine Tür gequietscht hatte und irgendwas verschoben worden war.

»Verzeihst du mir, Danka?«, fragte Len.

»Hör auf damit, Junior«, bat ich. »Wir sind doch Partner.«

»Also, Kinder, wenn ich es richtig verstanden habe, braucht ihr Wahres Licht, oder?«

Ich spürte, wie der Kater aufmerkte und sich in die Richtung wandte, aus der Gerts Stimme kam.

»Ja, um Danka zu retten. Mir selbst würde ein wenig Wahres Licht auch nicht schaden.«

»Len, du bist doch einer von uns«, fuhr Gert fort. »Ich war der Junior deines Urgroßvaters. Damals hat all das angefangen, mein Freund… Du musst doch schon von den Sonnensteinen gehört haben!«

»Das ist doch ein Märchen«, brachte Len mit zitternder Stimme hervor.

»Was heißt hier Märchen?! Zu jener Zeit hatte sich der Nebel noch nicht über uns zusammengezogen. Von Zeit zu Zeit drang die Sonne durch, und die Sonnensteine, die in unseren Bergen abgebaut wurden, speicherten ihr Licht.«

»Aber inzwischen leuchten sie längst nicht mehr«, brachte Len matt hervor. Mir war klar, dass er Angst hatte, sich zu sehr an diese Hoffnung zu klammern.

»Sicher – aber nur, wenn du den Stein in der Dunkelheit aufbewahrst. Legst du ihn dagegen in eine Kiste, die mit Spiegeln ausgekleidet ist, die das Licht zurückwerfen… Was muss ich tun?«

»Stell das Kästchen aufs Bett und öffne es«, befahl der Kater.

Schon im nächsten Moment spürte ich Licht auf meinem Gesicht. Warmes, zärtliches Sonnenlicht! Der Kater schnurrte.

»Weshalb leckt er denn an dem Stein?«, fragte Gert erstaunt.

»Das Wahre Licht ist seine Nahrung«, erklärte Len. »Er braucht neue Kraft. Stimmt doch, oder?«

»Stört mich jetzt nicht«, brummte der Kater. »Wird er lange leuchten?«

»Fünf Minuten vielleicht, schließlich ist es ja bloß ein kleiner Stein«, sagte Gert. »Reicht das?«

»Lassen wir uns überraschen«, meinte der Kater mit einer Stimme, die schon viel kräftiger klang.

Ich selbst lag da und wartete. Gert sagte leise etwas, das sich entweder an mich oder an Len richtete. »Wenn wir schon nicht gewinnen konnten, dann wollten wir wenigstens vor dem Tod noch einmal das Wahre Licht sehen. Jedenfalls war das unsere Überlegung. Keine Sorge, ich habe nicht die Absicht zu sterben. Ich bin auch nicht abergläubisch.«

Irgendwann legte mir der Kater die Pfoten aufs Gesicht und beugte sich über meine Augen. »Salbe! Wie antiquiert!«, schnauzte der Kater verächtlich. »Kräuter und Chemikalien! Halt still, Danka, das tut jetzt weh.«

Seine kleine, raue Zunge schleckte mir über die Lider. Die Prozedur dauerte lange, tat aber überhaupt nicht weh, sondern kratzte nur ein bisschen. Len und Gert schwiegen, als wären sie hypnotisiert worden.

»In Ordnung«, stellte der Kater schließlich fest. »Das dürfte genügen. Natürlich vermag ich die genaue Wirkungsweise nicht zu erklären, ich bin ja kein Arzt. Aber jedenfalls wirst du wieder sehen können.«

»Aber ich sehe überhaupt nichts!«, schrie ich so laut, dass der Kater vor Schreck hochsprang.

»Dann mach die Augen auf«, fauchte er. »Du dummer Junge!«

Da öffnete ich die Augen.

Als ich den Kater sah, konnte er mir nichts vormachen: Seine Miene war freundlich – freundlich und schuldbewusst! Sein Fell leuchtete genauso hell wie früher. An seiner Schnauze klebte Salbe.

Ich blickte zu Gert hinüber. Er war wirklich alt, bestimmt schon sechzig oder siebzig. So alte Menschen hatte ich in dieser Welt noch nie gesehen. Er hatte graue Haare, ein Gesicht voller Falten und trug ein verwaschenes Hemd, dazu aber eine Krawatte, genau wie die Senioren der Flügelträger. Gert schaute mich verlegen an.

Auch Len beobachtete mich, weinte aber leise. Er konnte damit einfach nicht aufhören. Ich wusste aber schon, dass er gleich lächeln und mir versichern würde: Jetzt ist wieder alles in Ordnung, Senior!

»Jetzt ist wieder alles in Ordnung, Senior!«

»Das sehe ich auch«, feixte ich. »Jetzt ist wieder alles wie früher, oder?«

»Bestimmt.« Len zuckte unsicher mit den Schultern. Abermals wusste ich schon im Voraus, was er gleich sagen würde. »Nur… deine Augen leuchten so komisch.«

»Das stimmt doch nicht, oder, Kater?«

»Wie dumm ihr alle seid«, brummte der Kater, ohne mit dem Putzen aufzuhören. »Ihr bräuchtet euch bloß mal ein klassisches Gemälde anzusehen, dann würdet ihr feststellen, dass die Augen der Menschen durchaus leuchten können. Oder schaut euch diejenigen an, die euch lieben. Schaut euch ein Kind oder einen Greis an. Das ist das Licht, das in euch selbst leuchtet. Bei den einen funkelt es immer, bei anderen ist es für alle Zeiten erloschen. Ach, ihr Dummköpfe…«

Ich blickte Len an. »Deine Augen leuchten auch«, behauptete ich – wobei ich nur ganz leicht schwindelte.

»Dann reflektieren sie bloß dein Licht«, konterte Len prompt. Er stand auf und wischte sich die restlichen Tränen ab. Offenbar hatte er die ganze Zeit über geweint, nachdem ich blind geworden war. Selbst als er mit mir gesprochen hatte, hatte er geweint, bloß eben lautlos.

»Ich verstehe kein Wort von alldem«, sagte Gert kopfschüttelnd. »Dem Jungen sind die Augen ausgestochen worden. Für ihn gab es keine Hilfe mehr. Den Stein habe ich nur hervorgeholt, um nichts unversucht zu lassen… Sind Sie ein Zauberer?«

»Mit Staunen stelle ich fest, dass Sie glauben, einfache Katzen duzen zu können!«, empörte sich der Kater. »Während Sie Zauberern gegenüber eine gewisse Höflichkeit walten lassen! Doch das können Sie sich jetzt auch sparen! Darauf kann ich verzichten!«

»Hör mal, ich habe dir das Teuerste gegeben, was ich besaß«, bemerkte Gert ernst.

»Verzeihen Sie«, sagte der Kater sofort. »Das ist mir durchaus bewusst. Aber schließlich bin ich noch klein, da lassen meine Manieren mitunter zu wünschen übrig.«

Gert streckte die Hand aus und nahm den Kater auf den Schoß. Verlegen, wie dieser war, leistete er keinen Widerstand.

»Aber schnurren werde ich nicht, bilden Sie sich das ja nicht ein«, brummte der Kater. »Oder sind wir jetzt doch per du?«

»Gern.«

Nun wandte sich der Kater an mich: »Spazier ein wenig durchs Zimmer, Danka, und sieh dich um. Überzeuge dich, dass alles in Ordnung ist, solange ich noch genug Kraft habe, eventuelle Fehler zu korrigieren.«

Ich stand auf und zog mich an – Len brachte mir Sachen, genau das, was er auch trug: Shorts und ein T-Shirt –, dann wanderte ich durchs Zimmer. Kein Grund zur Klage. Ich sah genauso gut wie früher, sogar…

Sogar besser. Als mein Blick auf den Kleiderschrank in einer Ecke des Zimmers fiel, wusste ich genau, was in ihm war. Obwohl die Tür geschlossen war!

»Gert, in deinem Schrank hängen zwei Anzüge, viele Frauenkleider, rund zehn Hemden von dir, Flügel für einen Senior und ein paar Krawatten. Stimmt’s?«

»Mach die Tür wieder zu, du nichtsnutziger Bengel«, verlangte Gert, ohne sich umzudrehen. Len, der sah, dass ich sie gar nicht aufgemacht hatte, klimperte mit den Augen.

»Ich kann durch Türen hindurchsehen«, sagte ich.

Der Kater machte einen Buckel und sträubte das Fell. »Genau das habe ich befürchtet«, erklärte er besorgt. »Offenbar war meine Behandlung zu viel des Guten… Stört es dich sehr, Danka?«

»Überhaupt nicht«, versicherte ich ihm. »Im Gegenteil! Du kriegst übrigens Besuch, Gert, von einer älteren Dame in einem blauen Kleid.«

»Das ist meine holde Gattin«, stöhnte Gert mit einer Stimme, als wäre er zum Tode verurteilt. »Machen wir uns auf was gefasst!« Ihn schien diese Neuigkeit viel stärker zu beeindrucken als meine fantastischen Fähigkeiten. »Ich habe ihr hoch und heilig versprochen, den Boden zu wischen… O Licht, steh mir bei! Das habe ich völlig vergessen!«

Ich stellte mir vor, wie dieser alte Herr die Ärmel hochkrempelte und mit dem Wischlappen über den Boden kroch, und musste unwillkürlich kichern. Len fing ebenfalls an zu lachen, aber ich glaube mehr aus Solidarität. Nur der Kater machte eine bekümmerte Miene. »Kannst du auch durch diese Wände sehen, Danka? Die sind immerhin aus Stein!«

»Durch Steinwände kann ich nicht sehen«, informierte ich ihn. »Aber durch Fensterläden aus Holz und durch Vorhänge ganz problemlos!«

»Und wie fühlst du dich?«

»Wie neugeboren!«, rief ich und hüpfte zum Beweis herum. Genau in dem Moment betrat die ältere Dame das Haus.

Zunächst schüttelte sie bloß den Kopf. Dann runzelte sie die Stirn, sah mich an und versuchte, sich einen Reim auf mein Verhalten zu machen.

»Ich habe es noch nicht geschafft, aufzuräumen, Keja, die Ereignisse haben sich überschlagen«, ratterte Gert los. Das war schon komisch – ein erwachsener, ja, sogar schon ein alter Mann, der sich wie ein kleiner Junge rechtfertigte!

»Ich habe gehört, dass du dich um den Jungen kümmerst, der geblendet worden ist, Gert«, brachte die Dame zögernd hervor. »Aber das… das gibt’s doch nicht… kannst du etwa sehen?«

»Ja«, gab ich zu.

»Gert!« Keja strahlte und fuchtelte wild mit den Händen. »Hat Shoky also doch einen Ausweg gefunden?«

Keiner sagte ein Wort.

»Ich wusste doch, dass unser Enkel zu so etwas nicht imstande ist«, meinte Keja erleichtert. »Und ich törichte alte Frau habe an ihm gezweifelt!«

»Dieser Sicht der Dinge sollten wir uns anschließen«, sagt der Kater nachdenklich. »Schlecht ist die Version ja wahrlich nicht.«

»Du kannst sprechen?«, fragte die Dame erstaunt.

»Mit einer so herzensguten Frau würde selbst ein kleines graues Mäuslein sprechen«, antwortete der Kater galant.

Dieses Katzenkompliment schien Keja ihre Fassung wiederzugeben. Sie schüttelte den Kopf, trat an den Kater heran und beäugte erst ihn, dann Len misstrauisch.

»Er ist kein Bauchredner«, erklärte der Kater.

»Bestimmt nicht«, beteuerte Len.

»Nun gut.« Die Dame hatte jetzt wieder voll die Kontrolle über sich. »Du bist der Junior im Team, stimmt’s? Folglich kannst du Kartoffeln schälen. Komm mit!«

Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte Len am Ärmel hinter sich hergezogen.

»So nennt sie das immer: Kartoffeln schälen«, teilte Gert uns mit, während er es sich in einem weichen Sessel am Kamin gemütlich machte. »Vermutlich muss er Kuchenteig kneten… Wenn mit dir alles in Ordnung ist, Danka, könntest du mir dann meine Pfeife und den Tabaksbeutel geben? Liegt alles auf dem Tisch.«

»Das sehe ich doch«, erklärte ich glücklich.

Während Gert seine Pfeife stopfte, behielt er den Kater und mich im Auge. Der Sonnenkater lag vor ihm auf dem Boden. Ohne lang zu überlegen, hockte ich mich neben ihn.

»Was wollt ihr wissen?«, fragte Gert.

»Wie es dazu kam, dass ihr die Sonne verloren habt«, sagte der Kater entschieden. »Erzählst du uns das?«

»Das ist mit einem Wort gesagt«, antwortete Gert und seine Miene verfinsterte sich. »Wir haben sie verkauft.«

»Wie bitte?«, schrie ich auf.

»Wir haben sie verkauft«, wiederholte Gert. »Jeder ein Stückchen und alle zusammen. Als die Händler das erste Mal zu uns gekommen sind, brachten sie eine Unmenge erstaunlicher Dinge mit…« Gert seufzte. »Wir hatten jedoch nur wenig, was sie gebrauchen können. Weizen, Obst und Schwerter – all das hat sie nicht interessiert. Wir haben ein einfaches Leben geführt, aber wir wollten so gern ein schönes Leben haben. Ich war damals in deinem Alter, Danka. Noch heute erinnere ich mich, wie sehnsüchtig meine Mutter den Schmuck und die Stoffe betrachtete, die nie zuvor jemand von uns gesehen hatte. Mein Vater hatte sich in ein Schwert verliebt, das durch Stein und Eisen wie durch Butter ging. Er war Soldat.«

Gert zündete die Pfeife an und stieß eine Rauchwolke aus.

»Eines Tages kam meine Mutter von den Händlern mit allem zurück, was ihr Herz begehrte«, fuhr er dann fort. »Sie hatte jenen Teil der Sonne verkauft, der für sie schien. Danach lief sie immer im Halbdunkel, herum, denn das Dämmerlicht hüllte sie ein. Aber das störte sie überhaupt nicht. Selbst mich schreckte das damals nicht. Am Himmel war ja lediglich eine kleine graue Wolke aufgezogen – aber sie sollte meine Mutter für immer von der Sonne trennen. Dann bildeten sich immer mehr Wolken. Dafür brannten in unseren Häusern helle Lampen, im Bad gab es warmes Wasser, wir besaßen gute Waffen, unser Essen war abwechslungsreich und schmackhaft wie nie zuvor. Jemand verlangte von den Händlern, dass sie ihn sein Leben lang mit Essen versorgten, und das machten sie dann auch anstandslos. Alles war so einfach: Wir brauchten bloß ein wenig Licht zu verkaufen, danach konnten wir ein sattes und geruhsames Leben führen. Wie graue Schatten streiften die Menschen durch die Straßen, die letzten Lichtflecke huschten an ihnen vorbei und versuchten, der Finsternis zu entkommen. Denn nicht alle hatten sich durch gutes Essen und schöne Kleidung verführen lassen. Doch irgendwann fand sich selbst für die Störrischsten unter uns eine Ware. Dann verkauften auch sie ihr Licht. Für gute Bücher, von deren Lektüre sie immer geträumt hatten, für schöne Worte, die sie nun sagen konnten, für neue Lieder, die zu hören Freude bereitete.

Viele verkauften auch das Licht ihrer kleinen Kinder. Die konnten ja nicht dagegen protestieren. Den Himmel überzog inzwischen ein grauer Nebel, der sich immer seltener auflöste. An den dunkelsten Stellen entstanden die Türme, in denen die Freiflieger wohnen. Sie griffen uns an und entführten Menschen, die dann ebenfalls zu Freifliegern wurden. Daraufhin erbaten wir von den Händlern das Geheimnis der Flügel, doch wir hatten kein Licht mehr, mit dem wir sie hätten bezahlen können. Dabei mussten wir uns doch wehren! Sie boten an, unsere stärksten Männer als Bezahlung zu akzeptieren. Uns blieb keine andere Wahl. Die Flügel, die unsere Frauen dann herstellten, trugen jedoch nur Kinder, für Erwachsene waren sie zu schwach. Das war das Ende der Geschichte. Als irgendwann alle ihr Licht verkauft hatten, hing nur noch dichte Düsternis über uns. Die Jugendlichen wurden in Junioren und Senioren aufgeteilt und schützen seitdem die Stadt vor den Freifliegern. Die Erwachsenen heuern bei den Händlern an, um ihre Familien zu ernähren. Nur wenige…« Gert lächelte traurig. »… werden in unseren Städten alt. Aber das ist das Leben, an das wir uns gewöhnt haben.«

»Ihr habt also das Licht verkauft und eure Sonne hat aufgehört zu scheinen«, sagte der Kater voller Hohn. »Die Sonne scheint für alle Menschen – aber natürlich nicht, wenn sie die Finsternis wählen…« Fauchend machte er sich daran, sich zu putzen. Das machte er offenbar immer, wenn er wütend war.

»Gibt es für sie denn gar keine Hoffnung mehr, Sonnenkater?«, fragte ich im Flüsterton. »Kommt das Licht nie mehr zurück? Wenn sie sich bessern, versprechen…«

»Das haben wir bereits versucht«, sagte Gert und seufzte. »Wir haben die Sonne um Verzeihung gebeten, wir haben die Freiflieger getötet, wir haben Lagerfeuer entzündet, um die Düsterkeit zu vertreiben… Die Händler haben wir gebeten, uns unser Licht zurückzuverkaufen. Sie haben jedoch geantwortet, das Licht sei bereits weiterverkauft und der Käufer habe nicht die Absicht, es zurückzuverkaufen.«

»Und dieser Käufer, das ist der Herr der Finsternis?«, schlussfolgerte der Kater.

»Das nehmen wir zumindest an«, sagte Gert.

Nun fing der Kater an, nervös im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich habe seinen Turm gesehen«, erklärte er schließlich. »Dort herrscht völlige Finsternis. Es sei denn… Die Keller…«

»Was werden wir jetzt tun?«, unterbrach ich ihn.

»Diese Entscheidung musst du selbst treffen«, meinte der Kater, während er zu mir herüberschielte. »Ich verfüge jetzt über ein klein wenig Kraft. Damit könnte ich die Tür für dich wohl öffnen.«

»Wirklich?« Ich sprang auf. »Kehren wir nach Hause zurück?«

»Ich bringe dich nach Hause«, versprach der Kater.

»Und du?«

»Sonnenkater überlassen eine Welt ohne Sonne nicht ihrem Schicksal.«

»Und ich überlasse meine Freunde nicht ihrem Schicksal!«, fuhr ich ihn wütend an. »Aber nachher, wenn wir gewonnen haben, kannst du mich dann nach Hause bringen?«

»Selbstverständlich.«

Gert beobachtete uns nachdenklich und vergaß darüber ganz seine Pfeife, die langsam ausging. »Wenn ich euch richtig verstanden habe«, sagte er, »gibt es dort, wo ihr herkommt, Wahres Licht?«

»Mehr als genug!«, antwortete der Kater stolz. »Dort hat man es noch nicht verkauft! Hoffe ich zumindest.«

»Und ihr wollt uns helfen?«

»Wir werden es versuchen«, sagte der Kater und tat bescheiden. »Ich bringe das eine oder andere fertig – und auch unser Danka ist nicht der dümmste Junge der Welt.«

In diesem Moment kam Len aus der Küche zurück. Er war über und über mit Mehl bestäubt, versuchte, finster dreinzublicken, wirkte aber eigentlich ganz zufrieden.

»Ich habe mir ein Extrastück Kuchen verdient«, verkündete er stolz, während er sich an den Tisch setzte. »Oder gibt es da Einwände?«

Wir waren alle einverstanden. Vor allem weil der Kuchen, den er zusammen mit Keja gebacken hatte, riesig und extrem lecker und mit Erdbeermarmelade gefüllt war. Die Stücke zählten wir nicht. Als jedoch nur noch eines übrig war, wickelte Keja es vorsichtig in Papier ein und legte es beiseite.

»Das ist… für unseren Enkel«, erklärte Gert mit einem verlegenen Blick auf mich. »Danka, du wirst dich doch nicht rächen, oder? Das tust du doch nicht?«

Ich schwieg. Sie warteten beide auf meine Antwort, Gert und Keja, denn Len hatte ihr inzwischen erzählt, was sich eigentlich abgespielt hatte.

»Damit warte ich, bis wir erwachsen sind«, versprach ich. »Dann werde ich ihm allerdings die Fresse polieren… bei der erstbesten Gelegenheit.«

Der Kater blickte mich streng an.

»Natürlich nur, wenn er sich nicht vorher bei mir entschuldigt«, fügte ich widerwillig hinzu.

Gert streckte die Hand aus und verwuschelte mir das Haar. »Du bist ein guter Junge, Danka«, sagte er zärtlich. »Was auch immer passiert, dir kann die Finsternis nichts anhaben.«

Das Kompliment machte mich verlegen, sodass ich Len zum Aufbruch drängte. Vor der Tür hielt Gert mich zurück und gab mir ein schmales, schwarzes Band.

»Die Flügelträger sollten deine Augen nicht sehen«, erklärte er. »Sonst kommen sie vielleicht auf die Idee, die Strafe noch einmal an dir zu vollziehen. Wir machen kleine Löcher rein und…«

»Das wird nicht nötig sein«, unterbrach ich ihn, während ich das Band am Hinterkopf verknotete. »Das ist ja bloß Stoff. Vielen Dank, Gert. Vielen Dank, Keja, der Kuchen war echt lecker!«

Dann gingen wir zu uns nach Hause. Den Kater trug ich auf dem Arm, und Len führte mich am Oberarm, als wäre ich immer noch blind. Da viele Menschen unterwegs waren, konnte es noch nicht sehr spät sein. Ich betrachtete die Gesichter derjenigen, die uns entgegenkamen. Von den Senioren lächelte uns manchmal einer an. Na ja, oft kam das nicht vor. Aber ein paarmal eben doch.



7. Die Karawane

Shoky besuchte uns erst drei Tage später, bevor Len und ich den zweiten Patrouillenflug antraten. Diese Tage als aufregend zu bezeichnen wäre eine ziemliche Untertreibung. Ich las Unmengen Bücher, darunter auch einige superspannende, jeden Tag trainierten wir das Fliegen, ich brachte Len ein paar Aikido-Tricks bei und sah mir die Bilder an, die Lens Ex-Senior Kurt gemalt hatte.

All das war mit meinem neuen Blick absolut spannend. Ich konnte zum Beispiel zehnmal schneller lesen und wusste oft schon nach den ersten paar Seiten, wie ein Buch endete. Solche Bücher las ich gar nicht erst weiter. Und während ich Len Aikido beibrachte, erkannte ich alle seine Fehler so klar, dass es total einfach war, ihn zu verbessern.

Die Krönung waren aber die Bilder. Ich sah nämlich die Wahren Bilder, und das war, als seien sie offene Fenster in der Wand und nicht bloß bemalte Leinwand. Kurt konnte toll malen, war aber meiner Meinung nach kein sehr guter Mensch. Es gab da zum Beispiel ein ganz rätselhaftes Bild, das Vor dem Kampf hieß. Über einem schwarzen, reglosen Meer und unter einer grauen Wolkendecke flogen Freiflieger und Flügelträger jeweils in einer Reihe. Am Horizont verschmolzen sie zu einer einzigen Kette, die ins Unendliche hineinflog. Obwohl das Bild Vor dem Kampf hieß, war mir klar, dass keine Schlacht stattfinden würde.

Auf einem anderen Bild stürzte ein getöteter Freiflieger über den Bergen ab. Über ihm schwebte ein Flügelträger, der, wenn ich Len glauben durfte, an Kurt erinnerte. Dieses Bild hieß Der Sieger. Der Freiflieger wirkte selbst im Tod stolz und schön. Dagegen war der Flügelträger recht ungelenk gemalt, als habe sich der Künstler geschämt, ihn überhaupt darzustellen.

Es gab noch ein anderes Bild, das mir richtig gut gefiel, das Len aber gar nicht mochte. Das Bild zeigte nämlich Len selbst, der im Schneidersitz in einem Sessel saß und mit gesenktem Kopf zur Seite schielte. Dort waren mit hellen, schönen Farben ein Mann und eine Frau gemalt, die mit einem Glas Wein anstießen. Als Len das Bild betrachtete, erklärte er mit wütender Miene, Kurt habe ständig die Freundinnen gewechselt, aber ihm, Len, habe das überhaupt nichts ausgemacht, weshalb es dumm sei, das Bild Eifersucht zu nennen.

Die ganze Zeit über wollte ich Len fragen, wie Kurt eigentlich gefangen genommen worden war, denn inzwischen hatte ich ja einiges über ihn gehört und machte mir so meine Gedanken. Doch vorläufig vertagte ich dieses Gespräch noch.

Unser zweiter Patrouillenflug war für den Abend angesetzt. Seit dem frühen Morgen futterten wir auf Vorrat und flatterten hin und wieder durchs Zimmer, um die Flügel zu lockern.

Als ich Shoky durch die geschlossene Tür erspähte, suchte ich hektisch nach meiner schwarzen Binde. Am Ende setzte ich mich aber bloß in einen Sessel und schloss die Augen. Len machte Shoky die Tür auf und stellte sich schweigend neben mich.

»Hallo«, begrüßte mich Shoky verlegen.

»Hallo. Wer ist da?«, fragte ich scheu, als wäre ich wirklich seit ein paar Tagen blind. Ich konnte mir diese kleine Rache nicht verkneifen. Währenddessen musterte ich Shoky durch meine fest zusammengepressten Lider. Er biss sich auf die Lippe und sah woanders hin.

»Ich bin’s: Shoky.«

»Weshalb bist du gekommen?«

»Also… eigentlich müsstet ihr ja heute Patrouille fliegen… beim Pfad der Karawane…«

»Das wissen wir, Senior Shoky«, sagte ich ungerührt. »Das geht in Ordnung.«

»Aber… wollt ihr denn wirklich losfliegen?« Die Verwunderung in seiner Stimme zu unterdrücken, das schaffte er. Es war sein Gesicht, das seine Verblüffung verriet.

»Selbstverständlich. Mir bleibt ja wohl keine andere Wahl, oder?«

Vermutlich hatte Shoky uns irgendeinen Vorschlag machen wollen, worauf er jetzt allerdings verzichtete. So erfuhr ich nie, wie er mir hätte helfen wollen.

»Was ist mit deinen Augen, Danka?«, fragte Shoky nach einer Weile. »Hat es sehr wehgetan?«

»Du kannst dir nicht ausmalen, wie sehr«, antwortete ich. »Möchtest du es vielleicht mal ausprobieren? Dann nimm deinen Dolch, der hat schon Erfahrung damit.«

Shoky sprang auf und stürzte zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Du selbst hast diese Strafe dem Tod vorgezogen!«, fauchte er. »Also spare dir deine gemeinen Vorwürfe, Danka! Schließlich habe ich dir geholfen! Wegen mir bist du überhaupt noch am Leben!«

Die Tür knallte zu. Ich schlug die Augen auf und schaute Len verlegen an.

»Das hast du ganz richtig gemacht, Danka«, sagte Len. »Er hat’s nicht anders verdient, dieser Hüter der Ordnung!«

Ich widersprach ihm nicht. Aber ich machte mir auch nichts vor: Fair war das nicht gewesen. Shoky hatte wirklich keine andere Möglichkeit gehabt.

»Lass uns zum Turm hochgehen, Len.«

Er folgte mir die Treppe hinauf und steckte mir oben das schwarze Stoffband zu. Mit einem schiefen Lächeln legte ich es an. Als ob das für mich einen Unterschied machte! Ich würde bis zum Horizont alles klar erkennen. Selbst der graue Nebel störte mich immer weniger.

Denn in meinen Augen funkelte das Wahre Licht.

»Fliegen wir!«, sagte ich und stieg in den tief hängenden Himmel auf. Der Wind peitschte uns wie mit scharfen, durchsichtigen Gerten, ich passte genau zwei Böen ab und schlüpfte zwischen sie, damit meine Flügel es leichter hatten.

Len versuchte, es mir nachzumachen. Seine Flügel hackten wie Stöcke auf die Luft ein, denn die Strömung so ausnutzen wie ich, das konnte er nicht. Mein Wahrer Blick war schon klasse!

»Ich habe Flügel!«, schrie ich über der schweigenden Stadt. »Ich habe Flügel!«

Nur mit Mühe schloss Len zu mir auf. Jetzt wurde mir bewusst, wie viel Kraft meinen Junior jeder Flügelschlag kostete, und auch den Schweiß auf seiner Stirn sah ich.

»Du kommst wohl nicht so schnell nach?«, fragte ich. »Wollen wir ein Wettfliegen veranstalten? Ich gebe dir einen Vorsprung!«

Len legte die Flügel an und drehte nach Norden ab, zu dem Gebirgspass, aus dem die Karawane der Händler kommen würde. Lachend folgte ich ihm.

Am Pass holte ich Len ein, tauchte unter ihn und schnappte nach seinen Händen. Ich wollte, dass er lernte, wie man sich von der Strömung tragen ließ. Stattdessen sackte Len jedoch nach unten ab und schaute mich erschrocken an.

»Jetzt kann ich wirklich fliegen, Len!«, rief ich, als wollte ich mich rechtfertigen. »Jetzt brauchen wir vor niemandem mehr Angst zu haben!«

»Ich habe Angst vor dir«, gestand Len leise.

Schweigend umarmte ich ihn, lenkte uns nach unten und bremste unmittelbar über dem Boden ab. Ich stellte meinen Junior auf seine Füße und er legte seine Flügel an. Er stand da wie ein Soldat nach dem Befehl »Stillgestanden!« und starrte mich an, ohne nur einmal zu blinzeln.

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Aber wenn du… wenn du plötzlich wie ein Vogel fliegen kannst… dann machst du automatisch ein paar Dummheiten.«

»Ich weiß«, sagte Len ernst. »Gute Flügelträger wechseln manchmal von sich aus zu den Freifliegern über. Sie wollen das Fliegen nicht aufgeben, wenn sie erwachsen werden.«

»Ist Kurt freiwillig gegangen?«, fragte ich.

»Ihm blieb nur noch ein halbes Jahr, vielleicht ein ganzes«, antwortete Len mit einem Nicken. »Er hat mir befohlen, ihm zu folgen, und wir sind auf einem Turm der Freiflieger gelandet. Dann hat Kurt mich gepackt und mir gesagt, wir würden jetzt Freiflieger werden. Das würde gar nichts weiter ändern, nur hätten wir dann halt für immer Flügel und würden die Finsternis nicht mehr fürchten. Er hat immer geglaubt, er wüsste besser als ich, was für mich richtig ist…«

»Len…«

»Aber ich will gar nicht aufhören, Angst vor der Finsternis zu haben! Ich hasse sie!«

Len fing an zu weinen. Ich begriff immer noch nicht, worum es eigentlich ging.

»Und jetzt fängst du auch noch damit an!«, stieß er hervor. »Du willst entscheiden, was für mich am besten ist! Du bist genau wie alle anderen!«

»Entschuldigung…« Mehr brachte ich nicht heraus. »Len, du bist der beste Flieger hier. Gerade deshalb war ich ja ganz aus dem Häuschen, dass ich dich in der Luft einfangen konnte.«

Lens Tränen trockneten sofort und er lächelte mich zaghaft an.

»Sei nicht mehr sauer, Partner«, bat ich.

Ich wusste nicht, warum ich es tat, aber plötzlich schaute ich ihn mit dem Wahren Blick an. Lens Gesicht zitterte, zerfloss und veränderte sich. Nun stand er so vor mir, wie er wirklich war. In dem Moment schämte ich mich ein bisschen für meine Fähigkeit. Eines wusste ich jedoch ganz genau: Niemals würde ich jemandem erzählen, was ich gesehen hatte. Um keinen Preis der Welt.

Dann sprach ich die Worte aus, die jetzt genau die richtigen waren: »Du kannst mir ruhig eine verpassen, Len, weil ich dich erschreckt habe. Aber lass uns trotzdem um die Wette fliegen.«

»Du gewinnst doch sowieso«, meinte Len traurig.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte ich aufmunternd.

»Abgemacht«, antwortete Len, plötzlich hellauf begeistert. »Ja, jetzt zeig mal, was du kannst! Eben bin ich nämlich nicht mit voller Kraft geflogen!«

Wir standen in der Mitte der engen Schlucht, durch die auch die Händler mussten. Gerade als wir aufsteigen wollten, packte Len mich am Arm. »Pst!«

Als ich genauer hinhörte, machte ich ein leises Klackern und Scheppern aus. Die Geräusche kamen näher.

»Die Karawane!«, meinte Len. »Wir haben Glück! Von oben hätten wir sie nicht so einfach ausgemacht, denn die Händler tarnen sich normalerweise.«

»Um vor den Freifliegern sicher zu sein?«

»Um vor egal wem sicher zu sein.«

Als Erster tauchte ein großer Mann hinter einer Biegung auf. Seine braun gefleckte Kluft hatte genau die Farbe der Felsen. Um keine böse Überraschung zu erleben, behielt ich ihn im Auge.

»Das sind die Wachen der Karawane«, beruhigte mich Len. »Hallo!«

Die Hand am Schwert, kam der Begleitsoldat auf uns zu. Drei weitere Männer erschienen auf der Bildfläche, ihnen folgten einige riesige Tiere, die an Büffel erinnerten und schwer bepackt waren.

»Hallo ihr zwei Junioren«, meinte einer der Männer mit einem Hauch von Freundlichkeit in der Stimme. »Warum seid ihr allein?«

»Ich bin der Senior in unserem Team«, klärte ich ihn auf. »Wann werdet ihr die Stadt erreichen?«

Erstaunt sah der Mann mich an. »Woher sollen wir das wissen?«, meinte er kopfschüttelnd. »Wir sind schließlich bloß der Begleitschutz… zu dem auch du eines Tages gehören wirst, falls du nicht vorher stirbst. Erkundige dich bei den Händlern danach.«

Sofort verlor der Soldat jedes Interesse an uns und marschierte weiter. Seine drei Gefährten umrundeten uns, ohne ein Wort zu sagen, und folgten ihm.

»Sie halten sich für etwas Besseres als die normalen Städter«, zischte Len. »Dabei sind sie nur Sklaven der Karawane! Schau, dort sind die Händler!«

Die Karawane war sehr groß, bestimmt an die hundert Lasttiere, ein Dutzend Soldaten, aber nur drei Händler. Zu meiner Verwunderung erkannte ich auf Anhieb, dass es sich dabei um eine Familie handelte, einen Mann und eine Frau, beide in den Dreißigern, und ein rotblondes, braun gebranntes Mädchen, das ein oder zwei Jahre älter war als ich.

Oh, Wahnsinn! Ich blickte zu Len hinüber, aber der stutzte überhaupt nicht angesichts der Sonnenbräune des Mädchens. Gut, dann würde ich es eben allein rauskriegen, wo sie so braun geworden war. Eine Brille trugen die drei übrigens auch nicht! Wie konnten sie da sehen?

»Hallo!«, rief Len, der sich alle Mühe gab, stolz und wichtig auszusehen. »Gab es unterwegs irgendwelche Zwischenfälle? Haben die Freiflieger euch Ärger gemacht?«

»Wir liegen mit niemandem im Krieg, mein Junge. Selbst mit den Freifliegern nicht.« Der Händler löste sich von den gemütlich trottenden Lasttieren, kam zu uns rüber und schlenderte mit uns weiter. »Was ist mit eurer Stadt? Nimmt sie am Krieg teil?«

Len nickte. Das Gespräch mit dem Händler machte ihm Spaß. Ich lief einfach neben den beiden her und musterte die kleine Kaufmannsfamilie genau.

Sie alle hatten dunkle Haut, eindeutig von der Sonne. Bei dem Mädchen pellte sich sogar die Nasenspitze, sie musste sich einen Sonnenbrand eingefangen haben! Alle trugen ordentliche Sachen, Hosen, die irgendwie an Jeans erinnerten, und knallige Pullover. Das Mädchen und seine Mutter hatten Strickmützen auf, was auch logisch war, denn in den Bergen war es kalt – und an Kälte waren sie nicht gewöhnt, daran bestand gar kein Zweifel. Nur der Mann war bewaffnet, mit einem kurzen Schwert. Anscheinend vertrauten die Händler voll und ganz auf die Soldaten, oder sie mussten noch Waffen dabeihaben, die effektiver als Hieb- und Stichwaffen waren.

Mir gefielen diese Leute nicht! Schon auf den ersten Blick nicht! Vor allem das Mädchen nicht, das grinsend zu Len hinüberschaute und immer wieder mit seiner Mutter sprach, worauf beide jedes Mal gegen einen Lachkrampf ankämpften. Im Vergleich zu den Soldaten in den braunen Tarnanzügen und zu Len und mir mit unseren schwarzen Flügeloveralls sahen die drei wie blöde, reiche Touristen aus, die sich in ein Kriegsgebiet verirrt hatten.

»Möchtest du ein Bonbon?«, fragte der Händler Len. Der nickte heftig. Daraufhin kramte der Händler ein in Papier eingewickeltes Bonbon aus seiner Tasche, das er Len zuwarf, obwohl zwischen ihnen nicht mehr als ein Meter lag. Len sprang vor und fing das Bonbon auf.

»Willst du es, Senior?«, fragte er, indem er sich zu mir umdrehte.

Das Mädchen kicherte schon wieder. Ich ging zu Len, nahm das Bonbon, ließ es fallen und zertrat es.

»Wie bedauerlich«, sagte ich zu dem Händler. »Da ist es mir wohl aus der Hand gefallen.«

Der Händler und ich standen wie angewurzelt da und starrten uns an. Die Karawane zog unverdrossen weiter. Len war ebenfalls wie versteinert und schaute erschrocken zu uns herüber.

»Wir machen nur selten Geschenke«, sagte der Händler schließlich. »Die sollte man nicht ablehnen.«

»Bisher habe ich noch keine Geschenke gesehen«, erwiderte ich. »Nur Almosen. Gute Reise, wir treffen uns dann in der Stadt wieder.«

Daraufhin breitete ich meine Flügel aus und erhob mich in die Luft. Ich hätte mir die Händler vorher noch mit dem Wahren Blick ansehen sollen! Aber das würde ich irgendwann nachholen.

Len holte mich auf dem Weg zur Stadt ein.

»Warum hast du das gemacht, Danka?«, wollte er wissen, sobald er mich erreicht hatte. »Ihre Bonbons sind immer lecker!«

»Du Kind!«, knurrte ich mit einer Wut, die mich selbst überraschte. »Len, begreif doch, man darf sich nicht so von oben herab behandeln lassen!«

»Bind das Tuch um, uns kommt jemand entgegen!«, rief Len mir zu. Ich kochte immer noch vor Wut und hätte ihm beinahe eine gescheuert, band das Tuch dann aber doch um und ließ Len vorausfliegen.

Als ich sah, wer auf uns zusteuerte, vergaß ich Len und die Händler sofort. Da kam Iwon. Ich erkannte ihn an seinem Flug. Der Flügelschlag eines jeden Menschen war für mich inzwischen genauso unverwechselbar wie seine Handschrift.

»Arbeitest du jetzt als Blindenführer?«, spottete Iwon, kaum dass er über uns war. »Das ist eine hervorragende Lösung, Len! Du bist wirklich der ideale Partner für einen Feigling. Und was ist mit dir, Senior aus einer anderen Stadt? Kneift das Tuch nicht?«

Meine Antwort war, dass ich nach oben schoss und ihm meine Schwertspitze an den Hals knallte.

»Du bist doch blind!«, kreischte Iwon, der nicht einmal versuchte, sich wegzuducken. »Du bist blind!«

»Mein Gehör reicht mir«, erklärte ich. »Wie gefällt dir meine Klinge? Ist sie nicht schön scharf?«

»Flügelträger ermorden einander nicht!«, wimmerte Iwon mit weichlicher Stimme. »Halt ihn auf, Len!«

Doch Len schwebte bloß neben uns und genoss die Szene.

»Ihr habt den schönen Brauch, Feiglinge zu bestrafen, Iwon«, fuhr ich fort. »Jetzt werde ich einen neuen Brauch einführen. Nämlich den, Schweinehunde zu bestrafen.«

Ich schlug mit voller Kraft auf ihn ein und hackte ihm den rechten Flügel ab. Hals über Kopf fiel Iwon in die Tiefe. Kurz sah ich ihm nach, dann legte ich die Flügel an und stürzte ihm hinterher.

Ich fing Iwon kurz vor dem Boden ab, packte ihn bei den Haaren und bremste seinen Fall mit einem einzigen Ruck. Danach hielt ich ein paar mit der Wurzel ausgerissene Büschel in der Hand. Iwon quiekte wie ein Ferkel.

»Vergiss das nie«, ermahnte ich ihn, als ich neben ihm landete. »Man sollte sich nicht wie ein Schweinehund verhalten. Niemals. Wiederhol das jeden Morgen. Vielleicht erlebst du dann noch den Tag, an dem du zu schwer für deine Flügel sein wirst.«

Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug ich ihm auch noch seinen linken Flügel ab. Iwon stand bloß da, glotzte mich panisch an und machte keine Anstalten, nach seiner Armbrust zu langen. Schließlich erhob ich mich wieder in die Luft. Und zwar so schnell, dass der Pfeil, den er mir am Ende doch noch nachschoss, mich nicht mehr erreichte.

»Was hast du mit ihm gemacht?«, fragte Len, der am Himmel auf mich gewartet hatte. »Hast du ihn umgebracht?«

»Nein, ich habe ihm die Flügel abgeschnitten. Soll er doch zu Fuß in die Stadt zurückwatscheln!«

»Dann werden sich alle über ihn lustig machen«, meinte Len ernst.

»Das will ich doch hoffen. Glaubst du, er schafft es bis in die Stadt?«

»Warum denn nicht? Entweder kriecht dieser Mistkerl selbst bis dorthin oder die Karawane liest ihn unterwegs auf. Schließlich befindet er sich auf deren Route.«

»Fliegen wir nach Hause«, schlug ich vor, nachdem ich die letzten Zweifel an meinem Verhalten vertrieben hatte.

Wir landeten auf dem Platz, genau da, wo Shoky mir vor drei Tagen die Augen ausgestochen hatte. Als wir nach Hause gingen, blickten die Leute mir nach. Manche schauten verängstigt, andere erstaunt. Dann begegnete uns Shoky. Schnell legte mir Len mit mitleidiger Miene seine Hand auf die Schulter. Ich blieb stehen und blickte durch das schwarze Tuch hindurch.

»Freut mich, dass euer Patrouillenflug geklappt hat«, meinte Shoky, während er auf uns zukam. »Du kannst vorzüglich fliegen, das habe ich jetzt gesehen. Ich will mich entschuldigen.«

Die Wut, die ich auf ihn hatte, löste sich bei diesen Worten in Luft auf.

»Shoky, Gesetze sind wichtig. Aber man darf sich nicht zum Sklaven der Gesetze machen«, sagte ich. »Sonst machst du dich auch in allen anderen Bereichen zum Sklaven. Über den Bergen haben wir Iwon getroffen. Er hatte Probleme mit seinen Flügeln, sodass er zu Fuß und bestimmt ziemlich spät nach Hause kommt. Mach dir also keine Sorgen.«

»Ich verstehe das alles nicht«, gab Shoky zu. »Wie machst du das, Danka?«

»Die Karawane erreicht die Stadt morgen früh«, informierte ich ihn und tat so, als hätte ich seine Frage nicht gehört. »Ihr könnt also schon mal überlegen, wer diesmal bei ihnen anheuert. Und geht davon aus, dass Len und ich bereits als Begleitsoldaten für die Strecke von hier bis zur Stadt der Händler angeheuert haben.«

»Ihr verlasst uns?«, rief Shoky aus, als traue er seinen Ohren nicht.

»Gehen wir, Junior«, befahl ich Len. Wir gingen weiter.

Nach zehn Metern hielt Len es nicht mehr aus. »Ist das dein Ernst, Danka?«, fragte er.

»Absolut.«

»Aber du hast mich nicht mal gefragt! Vielleicht will ich ja gar nicht weggehen!«

Mir fiel wieder der Len ein, den ich mit dem Wahren Blick gesehen hatte. »Willst du etwa nicht mitkommen?«

Len sagte kein Wort.

»Wir gehen in die Stadt der Händler. Wir knacken alle ihre Geheimnisse. Wir bekommen heraus, wo sie so verdammt braun geworden sind«, sagte ich und malte ihm das Unternehmen in den schillerndsten Farben aus und meine Worte rissen mich selbst mit. »Und wag es jetzt ja nicht, zu lügen – von wegen, du würdest nicht davon träumen, aus dieser Stadt rauszukommen!«

Len antwortete erst, als wir das Haus erreichten: »Stimmt, ich träume davon. Ich mag meine Stadt nicht! Aber ich wünschte, du hättest nicht diesen Wahren Blick bekommen, mit dem du in mir lesen kannst wie in einem offenen Buch! Ich will nicht, dass du alles für mich entscheidest, Danka!«

Als wir das Haus betraten, schwiegen wir beide, jeder mit sich selbst beschäftigt. Len holte das altbackene Brot heraus, schnitt sich etwas ab und fing an, wortlos darauf herumzukauen. Mir stand der Sinn nicht nach Selbstkasteiung, deshalb langte ich nach einem Stück Dörrfleisch und ließ es mir schmecken.

Wir aßen immer noch, als der Kater zu uns stieß. Vermutlich hatte er oben friedlich geschlafen, dann unsere Anwesenheit gespürt und war nach unten gekommen.

»Oh, oh«, bemerkte der Sonnenkater nur, während er auf den Tisch sprang und sich zwischen uns legte.

Eine gute Minute schwieg er und schaute abwechselnd Len und mich an. Es machte mich verlegen, als mir klar wurde, dass auch er in uns las wie in einem offenen Buch. Und ihm entging nichts!

»Ich muss mit dir reden, Len«, eröffnete der Kater ihm streng.

»Warum?«, fragte Len. »Ich habe nichts getan! Ich habe mich nicht mal mit Danka gestritten.«

»Ich muss mit dir reden, weil es zurzeit rein gar keinen Sinn hätte, mit Danka zu sprechen«, fuhr der Kater in unverändert strengem Ton fort. Das Herz krampfte sich mir zusammen. Was sollte das heißen – es hätte keinen Sinn? »Danka macht eine schwere Zeit durch, eine sehr schwere. Er hat ein wenig vom Wahren Licht in sich aufgenommen und ist nun fähig, mit dem Wahren Blick zu sehen. Natürlich hat er prompt beschlossen, in die Rolle des guten Helden zu schlüpfen, der die Wahrheit kennt und besser als alle anderen weiß, was für einen gut ist. Ganz nebenbei möchte er eurer Welt auch noch das Licht zurückgeben.«

»Das stimmt nicht!«, protestierte ich. Doch sobald mir der Kater in die Augen schaute, verstummte ich.

»Du kannst gern hinausgehen«, sagte der Kater. »Schließlich unterhalte ich mich nicht mit dir, sondern mit deinem einzigen Wahren Freund. In seiner Begeisterung bringt Danka einiges durcheinander, Len. Er glaubt, wenn in seinen Augen Licht ist, kann er nichts Schlimmes mehr anstellen. So ist es aber keineswegs. Licht und Finsternis sind bloß Kräfte. Selbst wenn du voller Licht erstrahlst, wird es dich doch nicht davor schützen, Fehler zu machen oder einen niederträchtigen Charakter zu entwickeln.«

»Was muss ich tun?«, fragte Len leise. »Wie kann ich ihm helfen?«

»Verzeihe Danka, wenn er dich beleidigt. Versuche zu verstehen, dass er eigentlich nur dein Bestes will. Er sieht jetzt nämlich alle Menschen so, wie sie im Grunde ihres Herzens sind, aber manchmal muss man sie halt so sehen, wie sie gern sein wollen.«

»In Ordnung«, sagte Len.

»Und noch etwas. Streite dich nicht mit Danka, weil er vergessen hat, dein Einverständnis zu erbitten, denn er weiß ja, dass du einverstanden bist. Aber streite dich mit ihm, wenn er wirklich einen Fehler macht.«

Ohne ein Wort hervorzubringen, nickte Len.

»Und jetzt«, sagte der Kater, während er sich erhob, »gehe ich kurz raus und komme noch einmal herein. Und wenn ich wieder hereinkomme, möchte ich ein anderes Bild vorfinden.«

Als der Kater zurückkam, stand eine volle Schüssel mit Sahne für ihn auf dem Tisch. Len und ich saßen zusammen in einem Sessel.

»Oh, oh«, sagte der Kater auch diesmal. Allerdings in einem ganz anderen Ton! Er leckte probeweise von der Sahne und nickte anerkennend. »Wie habt ihr das gemacht?«

»Die Sahne in die Schüssel geschüttet?«, sagte Len und tat erstaunt. »Och, das war ein Kinderspiel, einfach aus der Kanne in die Schale rein.«

»Hör schon auf, mich zu verschaukeln!«, rief der Kater. »Du weißt genau, was ich meine!«

Len und ich sahen uns grinsend an.

»Es war wirklich nicht schwer«, antwortete ich für Len. »Wir haben uns nur angesehen, dann hat Len die Sahne geholt und ich die Schüssel. Dann haben wir uns hingesetzt und auf dich gewartet.«

»Das habt ihr gut gemacht«, befand der Kater. »Entscheidend ist, dass ihr auf dumme Entschuldigungen verzichtet und auch darauf, euch ewige Freundschaft zu schwören. Insofern können wir jetzt unseren Kriegsrat eröffnen. Dich, Danka, möchte ich dringend ermahnen, vorsichtig mit dem Wahren Blick zu sein.«

»Wir haben die Händler getroffen«, fing Len an. »Sie erreichen morgen früh die Stadt. Danka hat es schon geschafft, sich mit ihnen zu überwerfen.«

»Daran sind sie selbst schuld«, erklärte ich. »Es sind drei, die Soldaten nicht mitgezählt. Ein Mann mit seiner Frau und ihre komische Tochter. Der Mann hat Len ein Bonbon gegeben, indem er es ihm hingeworfen hat wie einem Hund! Da habe ich das Bonbon zertreten. Das Mädchen ist braun gebrannt, sie muss vor Kurzem in der Sonne gewesen sein!«

»Bist du sicher, dass dieser Händler Len beleidigen wollte?«

»Nein, aber…«

»Und ist dir bekannt, dass die Händler auf ihren Schiffen in verschiedene Welten segeln und ihre Kinder deshalb nicht weiß wie Kochfisch aussehen müssen?«

Ich schwieg. Irgendwann senkte ich den Blick. »Vermutlich bin ich ein ganz schöner Idiot«, räumte ich ein. »Ich habe geglaubt, wir bräuchten bloß in die Stadt der Händler zu gelangen und herauszukriegen…«

»… wo sie die liebe, gute Sonne verstecken«, beendete der Kater den Satz mit zuckersüßer Stimme. »Deine Märchen hast du jedenfalls gelesen. Aber in die Stadt der Händler müssen wir tatsächlich.«

»Ja?«, sagte ich und freute mich schon. »Weshalb?«

»Um herauszufinden, wer ihnen das Licht abgekauft hat. Um herauszufinden, weshalb sie nicht mit den Freifliegern im Krieg liegen. Was sie ihnen verkaufen oder von ihnen kaufen. Warum sie angeblich niemanden fürchten. Und weshalb sie trotzdem Soldaten als Begleitschutz brauchen. Die Städte liegen den Händlern quasi zu Füßen, mit den Freifliegern haben sie auch keine Scherereien. Dessen ungeachtet bestehen die Händler auf Soldaten, die die Karawane begleiten.«

»Genau«, sagte ich. »Du hast die Probleme viel klarer benannt als ich, Kater!«

»Das liegt daran, dass ich mich weder ausschließlich auf das Äußere noch ausschließlich auf das Wahre Wesen verlasse«, erklärte der Kater. »Du dagegen hast deine Schlussfolgerungen anfangs nur daraus gezogen, wie die Händler aussahen, und später ausschließlich aus dem Wesen von Len. Das ist ein Doppelfehler.«

»Danka!«, rief Len plötzlich. »Kannst du wirklich in mir lesen wie in einem offenen Buch?«

Nervös wartete er auf eine Antwort. Da log ich. Wer hört denn schon gern, dass er kein Geheimnis mehr haben kann – selbst wenn es ein Freund ist, der alles von dir weiß. »Was gibt es denn da groß zu entdecken? Dich braucht man nur kurz anzusehen, dann weiß man Bescheid. Da werde ich meine Kräfte doch nicht verschwenden!«

Daraufhin beruhigte sich Len ein bisschen. »Danka hat recht. Wir müssen in die Stadt der Händler gehen«, meinte er schließlich mit einem Seufzer. »Ich wollte da schon lange mal hin… Nur müssen wir zuerst Shoky fragen, damit unser Haus in der Zwischenzeit an niemand anderen vergeben wird, immerhin habe ich mich daran gewöhnt.«

Mit Shoky reden? Bei der Vorstellung, wie nach unserer heutigen Begegnung so ein Gespräch aussehen würde, schnaubte ich bloß.

»Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Len tapfer. »Zwar weiß ich, dass er mich nicht gerade ins Herz geschlossen hat, aber es ist ja eine ehrliche Bitte… Die wird Shoky mir nicht abschlagen. Ich gehe am besten gleich zu ihm.«

»Nur zu«, spornte der Kater ihn an. »Derweil werde ich mir überlegen, was wir mitnehmen müssen. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich einen Blick in deine Schränke werfe?«

»Kein Problem«, meinte Len munter, während er aufstand. »Ach ja, noch etwas… erwartet mich nicht allzu schnell zurück. Ich werde noch bei meiner Mutter vorbeigehen, um mich von ihr zu verabschieden.«

»Was sind wir nur für Dummköpfe«, grummelte der Kater, nachdem Len gegangen war. »Da haben wir völlig vergessen, dass er immer noch ein Junge ist, der eine Mutter hat… Was hast du denn, Danka? Warum weinst du?«

»Du unglückseliger Zauberer!«, heulte ich, während ich mein Gesicht in den Händen vergrub. »Ich habe auch eine Mutter! Und von ihr konnte ich mich nicht verabschieden.«



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