»In die Stadt der Händler brauchen wir nicht zurückzufliegen«, rief mir der Kater zu. Ich nickte. Wenn ich was nicht wollte, dann war es, die Händler zu sehen. Oder ihre Stadt.
Wir flogen dicht nebeneinander. An meiner Flügelspitze nahm ich den Flügelschlag Lens wahr. Der Kater schwirrte etwas voraus, ein orangefarbener Fellball, der in einem warmen Licht leuchtete. Irgendwie hatte es sich so ergeben, dass er die Führung übernommen hatte und die Richtung vorgab. Mir sollte es recht sein. Schließlich wusste ich sowieso nicht, wohin wir jetzt fliegen und was wir tun sollten.
Die Händlerstadt erstreckte sich unter uns, ein dämmriger Flecken, der jedoch vor dem Hintergrund der Finsternis förmlich zu strahlen schien. Dann folgten die Berge, wir erspähten sogar eine Karawane, die über den Pfad dahinzog.
Schweigend und ziellos flogen wir immer weiter, die Flügel saugten alle Kraft aus uns heraus und verwandelten die Verletzung und die Scham in eine milde Traurigkeit.
Es war alles in Ordnung. Garet konnte mir gestohlen bleiben! Die anderen Händler auch. Wenn wir erst mal gewonnen hätten, würde ich ihnen allen befehlen abzuziehen. Kein Einziger von ihnen sollte in der Welt der Flügelträger zurückbleiben.
Irgendwann drosselte der Kater das Tempo und wartete, bis wir zu ihm aufgeschlossen hatten. »Fühlst du dich jetzt besser, Danka?«, fragte er.
Ich antwortete mit keinem Wort.
»Dann wollen wir landen, ihr müsst euch ausruhen«, befahl der Kater und stürzte wie ein Stein nach unten. Len legte bereitwillig die Flügel an, um seinem Beispiel zu folgen. Ich wollte den Flug jedoch noch nicht aufgeben und mich einfach fallen lassen und folgte deshalb in Spiralen dem orangefarbenen Fleck.
Der Sonnenkater und Len warteten auf dem kleinen Vorsprung einer senkrechten Felswand auf mich. Ohne Flügel wäre es unmöglich gewesen, jemals zu dieser Stelle zu gelangen. Vielleicht hatte hier sogar vor uns noch nie ein Mensch gestanden…
»Sollen wir etwa hier eine Pause einlegen?«, fragte ich. Wenn man fliegt, hat man komischerweise nie Angst vor der Höhe. Aber sobald man an einem senkrechten Abgrund landet und im scharfen Wind steht, wird einem schwindlig.
»Ja.« Der Kater schlug mit einem Mal einen überraschend feierlichen Ton an. »Allerdings geht es nicht darum, dass ihr euch ausruht. Wir wollen feiern.«
Ich starrte Len an. Anscheinend wusste er, worauf der Kater abzielte. Im Gegensatz zu mir. »Und aus welchem Anlass?«, fragte ich.
Der Kater sprang auf meinen Arm. Plötzlich rieb er sein Gesicht an meinem Kinn. »Alles Gute, Danka. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«
Len streckte die Hand aus und klopfte mir unbeholfen auf die Schulter. »Herzlichen Glückwunsch, Danka!«
»Na, ihr seid mir ja welche«, stammelte ich. »Was heißt hier Geburtstag? Bis dahin sind es doch noch…«
Ich verstummte. Wie viel Zeit war inzwischen eigentlich schon vergangen?
»Sonnenkater haben ein famoses Zeitgefühl«, erinnerte mich der Kater leise. »Du hast heute Geburtstag, Danka. Heute wirst du vierzehn Jahre alt. Aber bei allem, was wir erlebt haben, hast du das natürlich vergessen…«
Ich setzte mich auf den Stein und ließ die Beine baumeln. Mit einem Mal war mir die Höhe total egal. Die Höhe, pah! Was mich fertigmachte, war, dass ich nicht mal ansatzweise bemerkt hatte, wie ein ganzer Monat vergangen war!
Andererseits: Wann hatte ich schon mal so ein Abenteuer erlebt – dass ich meinen Geburtstag an einem Ort wie diesem hier feierte? So weit das Auge reichte, erstreckten sich Berge. Auf ihren Gipfeln saßen Schneemützen. Durch die Schluchten sprudelten Flüsse. Die Hänge entlang waberten Nebelbänder. Und Wind wehte, ein kalter und reiner Wind. All das betrachtete ich durch das Visier, das die ewige Nacht in dichte Dämmerung verwandelte, in einen sehr trüben Tag.
In der Stadt der Händler oder in Lens Stadt hätte ich meinen Geburtstag nicht feiern wollen. Auf der Jacht, unter einer fremden Sonne, erst recht nicht.
Hier zu sitzen fühlte sich gut an. Jetzt war ich also tatsächlich vierzehn. Fast erwachsen. Und ich saß mit meinen Freunden zusammen auf einem winzigen Felsvorsprung, mit einem Wahren Schwert am Gürtel.
»Vielen Dank, Freunde«, sagte ich bloß.
Len kramte gerade in seiner Tasche und zog ein paar Beutel mit Essen heraus. Anschließend beförderte er etwas verlegen eine Flasche zutage. »Wir trinken jetzt Sekt«, erklärte er. »Der Kater sagt, das macht ihr so.«
Ich schielte zum Kater hinüber. Dieses wandelnde Lexikon…
»Außerdem habe ich noch ein Geschenk für dich.« Lens Stimme klang leicht verändert. »Es ist… etwas seltsam. Aber du wirst es schon begreifen.«
Len stellte sich gerade hin und knöpfte den Flügeloverall auf. Genau an der Stelle über dem Herz war eine kleine, weiße Scheibe an den Stoff genäht. Ganz vorsichtig, nur mit der Spitze seines Dolchs, machte Len sich daran, sie herauszutrennen.
»Was ist das? Ich habe so was nicht.« Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich ziemlich mulmig.
»Das ist der Schlüssel für die Flügel.« Len hielt mir die Scheibe hin.
Das Ding war leicht und fühlte sich kühl an, die herunterhängenden Enden der Fäden schienen direkt aus ihm herauszuwachsen.
»Wozu ist der gut?«, fragte ich, denn ich begriff immer noch nicht, worum es ging.
»Wenn du den Schlüssel zerbrichst, sterben meine Flügel«, erklärte mir Len ganz ruhig. »Der Schlüssel überwacht meine Flügel.«
»Wozu?«, wiederholte ich. Len zuckte mit den Schultern.
»Das ist in ihrer Welt üblich, Danka«, klärte mich der Kater auf. »Und lass es dir nicht einfallen, das Geschenk abzulehnen. Das ist ein Vertrauensbeweis.«
»Möchtest du, dass ich den Schlüssel an mich nehme?«, fragte ich Len ganz direkt.
Len nickte und goss Sekt in die Gläser. So geschickt, wie er die Flasche entkorkt hatte, fielen mir zwangsläufig seine Worte über die Junioren ein, die in ihrem Club angeblich keinen Wein tranken!
»Ich würde dir auch gern meinen Schlüssel geben, Len…«, setzte ich an.
»Du hast doch gar keinen«, unterbrach mich Len energisch. »Du bist doch der Senior. Außerdem würde ich den sowieso nicht nehmen.«
Ah ja! Ich schielte zum Kater hinüber, der völlig unzivilisiert die Essenspakete beschnüffelte, streckte die Hand mit dem Schlüssel aus und tippte Len auf die Schulter. »Eine Frage noch…«
Mein Junior verteilte gerade die Reste des Sekts auf die drei Gläser. Hieß das etwa, er schenkte dem Kater auch was ein?
»Hättest du mir den Schlüssel nicht schon längst geben müssen? Schon in dem Moment, als du mein Junior geworden bist?«
Ohne mich anzusehen, nickte Len.
»Warum schenkst du ihn mir dann jetzt? Ist irgendwas passiert?«
»Das ist aber schon die zweite Frage…«
»Len!«
»Mit mir stimmt was nicht, Danka!« Endlich sah er mir in die Augen. »Seitdem ich im Turm war. Ich… also… ich träume komische Sachen. Dass ich mit dir kämpfe oder…« Len stockte kurz. »… dass ich ein Freiflieger bin. Deshalb ist es bestimmt besser, wenn du den Schlüssel hast.«
»Quatsch!«, rief ich und versuchte, möglichst überzeugend zu wirken. »Ich träume auch ständig irgendwelchen Unsinn. Dass ich in den Kosmos fliege und dort gegen sonst wen kämpfe… Oder… aber das erzähle ich dir lieber nicht in Anwesenheit des Katers, er ist ja schließlich noch klein.«
»Ich weiß schon, woran du denkst, Danka«, sagte Len mit einem Lächeln. »Aber du behältst den Schlüssel trotzdem, ja? Es ist mein Geschenk.«
Es wäre dumm gewesen, noch länger darüber zu streiten. Ich drehte die Scheibe in meinen Fingern und steckte sie vorsichtig in die Innentasche des Flügeloveralls. Es gab da eine Tasche, die von feinen Metallplättchen geschützt wurde, sodass der Schlüssel nicht zerbrechen konnte. Außerdem passte er gut dahinein – zu gut, als dass es ein Zufall sein konnte.
»Ich habe ebenfalls ein Geschenk für dich«, erklärte der Kater plötzlich. »Das ist allerdings noch seltsamer. Deshalb trinkt zunächst einmal eure Limonade.«
Gehorsam griffen Len und ich nach unseren Gläsern. Erstaunlicherweise setzte sich auch der Kater vor sein Glas und schnupperte misstrauisch am Sekt. Unwillkürlich musste ich lächeln. Wenn meine Mutter mich jetzt sehen könnte! Wie ich Alkohol trank, mich am Abhang einer Schlucht lümmelte, zusammen mit einem sprechenden Kater…
Der Sekt schmeckte überhaupt nicht süß wie der, den ich von zu Hause kannte. Trotzdem schmeckte er. Der Kater leckte mit angewidertem Gesicht ein viertel Glas aus, bevor er sich schließlich über die Wurst hermachte. Len und ich stürzten uns ebenfalls auf die Fressalien. In meinem Kopf rauschte es.
»Mein Geschenk besteht aus Worten, Danka«, verkündete der Kater, nachdem er sich satt gegessen hatte. »Du bist jetzt alt genug, damit ich dich in Verschiedenes einweihen kann.«
»Nur zu«, forderte ich ihn auf, während ich versuchte, Käse mit dem Schwert zu schneiden. Ich wollte das unbedingt mit dem Schwert machen, obwohl es ständig abrutschte und nur idiotisch kleine Streifen abhobelte.
»Wir fliegen jetzt in irgendeine Stadt der Flügelträger und überreden sie, in den Krieg gegen die Freiflieger zu ziehen.«
»Sollen wir selbst etwa nicht kämpfen?«, fragte Len perplex.
»Doch, aber nicht nur wir. Danka wird dir bestätigen, was ich jetzt darlege, denn in seiner Welt kommt es ebenfalls zu richtigen Kriegen.«
»Stimmt«, bestätigte ich. Es gefiel mir, dass den Kater meine Meinung interessierte.
»Krieg bedeutet, dass das ganze Volk, dass alle Menschen in den Kampf gegen den Feind ziehen«, fuhr der Kater fort. »Wenn alle Kräfte aufgeboten werden, wenn die Menschen nur noch eine Alternative akzeptieren: entweder den Sieg zu erringen oder zu sterben.«
»Bei uns will aber niemand sterben.« Lens Gesicht verfinsterte sich.
»Aber ihr wollt doch, dass die Sonne scheint?«, fuhr ihn der Kater an. »Deine Generation hat sie zwar nicht verkauft – aber sie ist es, die den Preis dafür zahlt! Entweder ihr dient noch tausend Jahre lang den Freifliegern und Händlern oder ihr geht das Risiko ein! Denn den anderen kommt das, was ihr bislang unter Krieg versteht, hervorragend zupass! Die Freiflieger brauchen junge dumme Bengel als Nachwuchs. Und die Händler brauchen frische Ware – eure erwachsenen Männer und die Waffen der Freiflieger. Vorwürfe kann man beiden eigentlich nicht machen, das ist einfach ihre Moral. Aber wenn du ein Mensch bist, Flügelträger, dann stelle dich gefälligst auf die Seite des Lichts!«
Len schwieg.
»Du kannst mein Glas austrinken«, sagte der Sonnenkater unvermittelt. »Und nimm’s mir nicht übel, dass ich so deutliche Worte sage. Ich schlage eben keine Halbheiten vor… Len, mein Junge, wenn du die Sonne und die Sterne sehen möchtest, wenn du die Angst um dich und deine Freunde für immer hinter dir lassen willst…« Der Kater legte eine Pause ein. »… dann fang einen richtigen Krieg an!«
Len verteilte den Sekt des Katers auf sein und mein Glas. »Ich sage ja gar nichts«, meinte er verlegen. »Ich will nur keinen Krieg. Ich weiß nicht, wie man dort, in Dankas Welt, kämpft…«
»Bei uns wird so gekämpft, dass sich die Freiflieger vor Angst in die Hose scheißen würden«, platzte ich dazwischen. Schon seit Längerem wollte ich auch einen Beitrag zum Gespräch leisten, hatte es aber bisher nicht geschafft. »Man kämpft, bis das ganze Land brennt! Mit Bomben, im Vergleich zu denen das Schwarze Feuer Kinderkram ist!«
»Und gegen wen?«
Das brachte mich aus dem Konzept.
»Also… wir kämpfen untereinander. Schließlich gibt es bei uns keine Freiflieger.«
»Dann ist es vielleicht gar nicht schlecht, wenn es bei uns welche gibt?« Len kippte seinen Sekt auf ex hinunter. Ich wollte zwar nichts mehr trinken, konnte das Glas jedoch auch nicht stehen lassen…
»Dafür haben sie das Licht«, erklärte der Kater mit leiser Stimme.
»Eben!«, bekräftigte ich stolz.
»Stimmt… Licht ist gut«, meinte Len. »Aber mir ist schwindlig, Danka. Lass uns nachher weiter darüber reden, ja?«
»Von mir aus«, sagte ich unwillig. Doch mir blieb ja immer noch der Kater, mit dem ich mich unterhalten konnte. »Gibt es noch Sekt, Len?«
Len schüttelte den Kopf und streckte sich auf dem Rücken aus. Der Kater sprang mir wieder auf den Schoß.
»Du solltest keinen Sekt mehr trinken, Danka. Du bist ohnehin schon angetrunken.«
»Ich?« Das fand ich komisch. »Von einem Glas Blubberwasser…«
»Von anderthalb Gläsern Sekt. Noch dazu auf leeren Magen.«
»Und wenn schon…« Natürlich irrte sich der Kater gewaltig, das wusste ich genau – aber wie sollte ich ihm das erklären?
»Jetzt hör mir mal zu, Danka«, fuhr der Sonnenkater fort. »Ich möchte dir nämlich wirklich etwas schenken. Einen Rat. Hörst du mir zu?«
»Hmm«, brummte ich, während ich mich neben Len ausstreckte. Windböen strichen über mein Gesicht. Meine Wangen brannten. Die tief hängenden grauen Wolken zogen sich über uns zusammen.
»Wir müssen versuchen, die Flügelträger in einen richtigen Krieg zu führen, Danka. Hast du das verstanden?«
»Na klar.«
»Gut. Dann lass mich dir folgenden Rat geben: Erzähle den Flügelträgern nicht vom Kampf für das Licht, denn sie wissen gar nicht, was Licht ist. Erzähle ihnen nicht vom Kampf gegen die Finsternis. Überzeuge sie davon, dass die Freiflieger einen Angriff auf ihre Städte planen und dass es nichts bringt, die Sache auszusitzen.«
»Und was soll das alles bringen?« Ich schloss die Augen, denn ich wollte schlafen. Warum war ich plötzlich bloß so müde?
»Das wirst du später noch begreifen. Vertraue jetzt einfach auf meinen Rat. Abgemacht?«
»Abgemacht…«, hauchte ich, während die Stimme des Katers sich in der Ferne auflöste. »Du bist wie die Händler… wie Garet… Immer vertröstet ihr mich auf später. Nur handeln soll ich gleich.«
Und noch ehe ich sagen konnte, wie sehr es mir stank, wenn man über meinen Kopf hinweg für mich entschied, war ich bereits eingeschlafen.
Len und ich hätten uns eine gewaltige Erkältung einfangen können, während wir da ein, zwei Stunden im kalten Bergwind auf den Felsen schliefen. Zum Glück taugen die Flügel jedoch nicht nur zum Fliegen. Sie saugen gewaltige Kräfte aus dir heraus, schützen dich dafür aber auch hervorragend gegen die Kälte.
Nachdem wir die leere Sektflasche im Abgrund versenkt hatten, erhoben wir uns wieder in die Luft. Das Wetter wurde immer mieser. Unter der grauen Wolkendecke ballten sich nun auch noch stinknormale Regenwolken. Schneeregen prasselte auf die Flügel. Mir war erst wohler, als wir diesen Lattenzaun von einer Hügelkette hinter uns gelassen hatten und tiefer fliegen konnten.
Die nächste Stadt lag nur eine Flugstunde von uns entfernt. Doch ohne uns darüber abgesprochen zu haben, wollten wir alle in Lens Stadt zurückfliegen. Dort würden wir es leichter haben… nahmen wir zumindest an. Deshalb dauerte unser Flug fast den ganzen Tag.
»Hast du Heimweh?«, fragte ich Len, als wir am Stadtrand runtergingen. Eine Landung im Stadtzentrum hätten die Wachposten falsch verstehen können, und ich brannte nicht gerade darauf, mit den Pfeilen ihrer Armbrüste Bekanntschaft zu schließen.
Mein Junior zuckte ausweichend mit den Schultern, eine Geste, die sehr komisch wirkt, wenn du mit ausgebreiteten Flügeln durch die Luft schwebst.
»Ich schon«, gab ich zu. »Auch wenn man mich hier… nicht sehr mag.«
Wir landeten und legten die Flügel an.
»Wollen wir es für heute gut sein lassen und morgen anfangen?«, schlug Len vor.
»Lass uns die Sache lieber gleich in Angriff nehmen«, widersprach ich. »Solange wir noch so wütend sind.«
»Ganz recht«, sagte der Kater. »Schnelligkeit und Entschlossenheit sind die Methoden des Lichts.«
Kurz vorm Stadtrand, als uns bereits die ersten Flügelträger entgegenkamen, schrie Len plötzlich auf: »Du trägst ja deine Binde gar nicht, Danka!«
»Ich habe auch nicht vor, das zu tun«, erwiderte ich finster. »Jetzt brauchen wir uns nicht mehr zu verstellen.«
»Recht so«, pflichtete mir der Kater bei. »Ich werde mich auch nicht mehr maskieren…« Und sofort leuchtete er heller denn je.
Wir marschierten an den Flügelträgern vorbei, die wie versteinert dastanden – zwei Senioren mit Mädchen in ihrem Alter und ein Junior, der uns mit entgeistertem Blick nachtrottete. Lächelnd winkte ich allen zu. Natürlich winkte niemand zurück.
»Kommt zum Platz!«, forderte Len den Junior auf. Wahrscheinlich kannten sich die beiden. »Jetzt gleich.«
»Denn dort…«, meinte der Kater zufrieden, der über dem Kopfsteinpflaster schwebte, etwa in Höhe meiner Taille, »… bekommt ihr etwas geboten!«
Der Gedanke an dieses Spektakel begeisterte mich nicht gerade, trotzdem sagte ich nichts dagegen.
Als wir zwanzig Minuten später den Platz erreichten, auf dem ich damals geblendet worden war, hatte sich bereits eine gewaltige Menge versammelt. Offenbar hatten die Flügelträger, denen wir begegnet waren, die Neuigkeit von der bevorstehenden Sensation sofort in Umlauf gebracht.
Shoky kam als einer der Letzten zum Platz gerannt. Schweigend hatte ich die ganze Zeit über auf ihn gewartet. Erst jetzt, da die Spannung der Menge ihren Höhepunkt erreicht hatte, ergriff ich das Wort: »Ich bin gekommen, um euch das Licht zu bringen.«
Meiner Meinung nach klang das ziemlich toll. Die Flügelträger schwiegen jedoch, nur die Erwachsenen, die in einer eigenen Gruppe zusammenstanden, murmelten etwas. Ich holte tief Luft. »Ich bin aus einer anderen Welt«, fuhr ich fort. »Dort scheint die Sonne. Dort gibt es keine Freiflieger. Ich bin gekommen, um euch zu helfen…«
Schweigen. Allerdings drängelte sich Shoky jetzt nach vorn und durchbohrte mich mit Blicken.
Am liebsten wäre ich abgehauen, doch nun gab es kein Zurück mehr. Ich sah zum Kater hinüber, der in meiner Nähe schwebte. »Das ist ein Sonnenkater«, stellte ich ihn vor. »Er ist mein Freund. Er ist aus Licht gemacht und soll euch helfen. Ihr habt mich geblendet, aber das Licht hat mir ein neues Sehvermögen gegeben. Ich nehme euch das nicht übel. Ich bin gekommen, um euch zu helfen.«
»Wobei willst du uns helfen, Danka?« Endlich durchbrach Shoky das Schweigen. Seine Stimme klang weder erstaunt noch verzweifelt, sondern einfach bloß traurig.
»Dabei, das Licht zurückzubekommen!«
Shoky zuckte mit den Schultern. Er sah die anderen Flügelträger an. »Wie hast du denn vor, uns das Licht zurückzugeben, Danka?«, fragte er laut. »Unsere Sonne ist gestorben. Aber wir haben es überlebt. Wie willst du uns das Licht zurückgeben?«
Wenn ich das nur wüsste…
»Wir müssen die Freiflieger vernichten«, erklärte ich und versuchte, möglichst sicher zu klingen. »Alles kann ich euch nicht sagen, aber das müssen wir als Erstes tun. Wenn alle Flügelträger aus allen Städten…«
»Weißt du, was das Schwarze Feuer ist, Danka?«
Ich fasste unwillkürlich nach Lens Hand. Wie sollte ich das nicht wissen…
»Ja, Shoky…«, sagte ich.
»Wir haben ein Gleichgewicht hergestellt, Danka. Wir greifen ihre Türme nicht an… zumindest nicht so, wie du es vorschlägst, also alle zusammen und mit ganzer Kraft. Dafür stecken die Freiflieger unsere Städte nicht in Brand. Das ist unser Gleichgewicht, Danka. Wenn wir tun, was du vorschlägst, werden unsere Städte wie Zunder brennen. Zusammen mit all denjenigen, die nicht kämpfen, den Kindern, Frauen und Erwachsenen.«
»Aber dafür…«
»Was dafür? Was könnte das sein, wofür wir unsere Verwandten abfackeln lassen?«
Hilflos sah ich zum Kater hinüber. Er fing meinen Blick auf – und plötzlich fiel mir sein Rat wieder ein. Daran klammerte ich mich jetzt.
»Eure Städte werden so oder so brennen, Shoky!«, sagte ich. »Wir sind in einem Turm der Freiflieger gewesen und haben sie belauscht. Sie wollen die Flügelträger überfallen. Sie wollen eure Städte niederbrennen!«
Jetzt schwieg die Menge um uns herum nicht mehr. Aufgebracht riefen alle durcheinander. Der Lärm tat mir sogar in den Ohren weh. Doch als Shoky den Arm hob, verstummten nach und nach alle wieder.
»Das ist eine Provokation«, urteilte er mit fester Stimme.
Sein Ton trieb mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Ich hätte nicht gewusst, was ich darauf sagen sollte, doch an meiner Stelle ergriff nun der Kater das Wort. »Ich bin auch bei diesem Turm gewesen! Und ich spreche im Namen des Lichts!«
Shoky, der schon etwas vorbringen wollte, schwieg dann doch.
»Glaubt jemand von euch etwa, das Licht könnte lügen?«
Stille. Aber der Kater erwartete eine Antwort.
»Nein, das Licht lügt nicht«, stieß Shoky widerwillig hervor.
»Richtig!«, sagte der Kater. »Und deshalb hört mich an: Ich bin in diesem Turm der Freiflieger gewesen und habe ihre Gespräche gehört. In ein paar Tagen werden eure Städte im Schwarzen Feuer lodern. Eure einzige Chance besteht darin, als Erste anzugreifen.«
Der Kater sprach so überzeugend, dass ich unwillkürlich dachte: Wann und wo hat er das denn gehört? Schließlich hatten die Freiflieger doch gar nicht die Absicht, anzugreifen…
»Das ist eine Provokation«, wiederholte Shoky. »Eine Provokation der Freiflieger. Sie wollen uns Angst einjagen. Mir ist klar, dass du nicht lügst, aber auch das Licht kann sich irren.«
Wieso lief bloß alles so schief? Die Flügelträger wunderten sich überhaupt nicht über unsere Rückkehr, meine geheilten Augen oder den Sonnenkater…
»Wieso glaubt ihr uns nicht?«, schrie ich. »Wir sind aus einer anderen Welt! Uns hat das Licht geschickt!«
Als ich den Blick des Katers auffing, las ich Missbilligung darin. Shoky ließ sich nicht mal zu einer Antwort herab. An seiner Stelle antwortete ein Erwachsener, ein älterer Mann von etwa vierzig Jahren, der sich durch die Menge gequetscht hatte.
»Bildest du dir eigentlich ein, du wärst der Erste, der zu uns gekommen ist, um uns zu helfen, mein Junge?«
Es hatte keinen Sinn, darauf zu antworten.
»Ich bin in deinem Alter gewesen, als ein Krieger aus dem Königreich Tamal in unsere Stadt kam. Auch er hat behauptet, das Licht habe ihn geschickt. Er hat uns aufgefordert, in den Kampf zu ziehen, und geschworen, er würde ganz allein den Turm des Herrn der Finsternis zerstören. Er wurde nie wieder gesehen.«
»Wenn ihr ihm geholfen hättet…«, setzte ich an.
»Wir haben ihm geholfen. Mit ihm ist die Hälfte der Flügelträger unserer Stadt losgezogen. Keiner von ihnen ist je zurückgekehrt.«
Der Mann trat an mich heran, legte mir die Hand auf die Schulter und meinte fast zärtlich: »Du willst uns helfen und dafür danke ich dir. Du hast uns am Anfang getäuscht, aber du hast bewiesen, dass du deine Flügel zu Recht trägst. Ich freue mich, dass du wieder sehen kannst… noch dazu besser als vorher, denn schließlich stehst du hier ohne Brille. Ich spreche jetzt im Namen der erwachsenen Männer, aber ich glaube, die Flügelträger und die Frauen der Stadt stimmen mir zu. Bleibt in der Stadt, wir freuen uns, euch bei uns zu haben, oder geht euren Weg – auf dem euch Glück beschieden sein möge. Aber einen Krieg werden wir nicht anfangen.«
»Vielen Dank, Senior meines Seniors«, erklärte Shoky in feierlichem Ton. Daraufhin strömten die Erwachsenen wie auf einen geheimen Befehl hin auseinander. Nach ihnen verließen auch die Mädchen den Platz. Nur die Flügelträger blieben noch übrig.
»Shoky…« Mir entging der jämmerliche und bittende Unterton in meiner Stimme nicht. Aber Shoky ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Wir brauchen darüber nicht weiter zu diskutieren, Danka. Unsere Entscheidung steht fest. Euer Haus ist in Ordnung, ihr könnt wieder dort wohnen. Essen wird euch gebracht, das ordne ich an. Ruht euch jetzt aus.«
Kurz darauf standen wir allein auf dem Platz.
Ein leichter, aber kalter Wind wehte, hoch oben zogen sich die Wolken zusammen. Kein einziges Licht war in den verhangenen Fenstern zu sehen, kein einziges Geräusch in den Straßen, die vom Platz wegführten, zu hören.
Finsternis und Freudlosigkeit. Schwärze und Stille. Nacht und Nichts.
Nur die Säule in der Mitte des Platzes. Erst jetzt ging mir auf, dass es sich um einen Galgen handelte, dessen Strick allerdings bis zum nächsten Gebrauch abgenommen worden war.
Ich wechselte vom Wahren Blick zum normalen über. Daraufhin zog sich die Welt zusammen, verwandelte sich in einen winzigen Käfig, den der Sonnenkater beleuchtete. Wie schwach er nur noch schimmerte…
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Dass wir nicht die Ersten sind?« Der Kater schaute nicht mal zu mir herüber.
»Ja!«
»Weil ich das nicht wusste.«
»Du lügst!«
»Gibt es in deiner Welt vielleicht ein Königreich Tamal, Danka? Das waren Gesandte des Lichts, die aus einer anderen Welt stammten. Für die bin ich doch nicht verantwortlich!«
»Das heißt, auch wir können verlieren?«
»Ohne Weiteres!« Der Kater setzte sanft auf dem Kopfsteinpflaster auf, landete dabei jedoch mit einer Pfote in einer Pfütze und verzog angewidert das Gesicht. »Gehen wir nach Hause, Kinder. Was wir zu besprechen haben, ist nicht für die Straße bestimmt – selbst wenn diese verlassen zu sein scheint.«
Shoky hatte nicht gelogen, man hatte uns wirklich etwas zu essen gebracht. Sogar an Sahne für den Kater hatten sie gedacht. Schweigend aßen wir, fast, als hätten wir uns gestritten.
»Warum macht ihr so trübsinnige Gesichter?«, fragte der Kater, nachdem er seine Sahne aufgeschleckt hatte.
Len bearbeitete seine Bulette wortlos mit der Gabel, als wollte er wieder Hackfleisch aus ihr machen.
»Haben wir deiner Ansicht nach etwa Grund zur Freude?«, entgegnete ich. »Schließlich ist niemand auf unserer Seite!«
»Das wird sich schon noch ändern.« Der Kater schien regelrecht auf diese Worte gewartet zu haben. »Wenn erst mal das Schwarze Feuer in der Stadt wütet, werden sich die Flügelträger eines Besseren besinnen.«
»Welches Schwarze Feuer?«, fragte ich begriffsstutzig. »Die Freiflieger haben doch gar nicht die Absicht, anzugreifen!«
Sie schwiegen alle beide, Len und der Kater. Und zwar so einvernehmlich, als wüssten sie etwas, das ich noch nicht mal ahnte.
»Len…« Ich sah meinen Junior an.
Er blickte mir in die Augen. »Danka, ich glaube, der Kater möchte, dass wir die Stadt anzünden. Bist du damit einverstanden?«
Wen beleidigte Len mit dieser Frage eigentlich mehr – den Kater oder mich?
Ich sprang auf und scheuerte Len eine. Mein Junior kippte samt Stuhl nach hinten, blieb kurz liegen, hockte sich dann hin und presste die Hände vors Gesicht. Seine Nase blutete.
»Du tickst ja nicht mehr richtig!«, brüllte ich. Und ohne zu wissen, was ich da eigentlich sagte, fügte ich hinzu: »Du bist zur Finsternis übergewechselt! Aus dir spricht die Finsternis!«
Len schniefte, machte jedoch keinen Versuch, aufzustehen. »Stimmt, die Finsternis hat mich schon fast zu sich gezogen…«, flüsterte er. »Deshalb erkenne ich sie auch besser als du.«
Meine ganze Wut verwandelte sich daraufhin in Scham und Mitleid. Ich setzte mich neben Len auf den Boden und bog seinen Kopf nach hinten. »Halt den Kopf im Nacken, damit es schnell aufhört zu bluten.«
Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht? Len war einen halben Kopf kleiner und rund zehn Kilo leichter als ich. Ein echt fairer Kampf! Der Turm der Freiflieger fiel mir ein und Lens Schrei, kurz bevor sie ihm das Schwarze Feuer eingeflößt hatten. Ein Kloß schnürte mir die Kehle zu.
»Tut mir leid, Len… Und du, Kater, nimm es Len auch nicht übel!«
»Was denn?«
Selbst wenn du etwas um keinen Preis glauben willst – irgendwann ist es albern, der Wahrheit nicht ins Auge zu sehen.
»Hat Len etwa recht?«
»Aber sicher. Ihr müsst die Stadt anzünden.«
Alles, was sich in den letzten Tagen in mir angestaut hatte, die ganze Wut, der Kummer und die Bosheit, all das brach sich jetzt Bahn.
Ich erinnere mich nicht mal mehr an jedes Wort, das ich dem Kater an den Kopf geknallt habe. Auf alle Fälle habe ich ihn beschuldigt, mich in diese Welt geschleift und mich allein in dem Tal sitzen gelassen zu haben, darüber hinaus habe ich ihm angekreidet, dass man mich blind gemacht hat, und auch das, was mit Len passiert ist, dann noch meine Erlebnisse im Labyrinth des Schwerts und mit den Händlern und…
Irgendwann verstummte ich, denn mir fiel nichts mehr ein, was ich ihm noch krummnahm.
Der Sonnenkater hatte schweigend zugehört. Nur einmal putzte er sich mit der Pfote das Gesicht, nämlich als ich ihn an das Labyrinth erinnerte.
»Bist du jetzt fertig, Danka?«, fragte er schließlich kaum hörbar.
»Ja!«, knurrte ich, während ich mit einer Hand Lens Kopf erneut zurückbog und ihn mit der anderen umarmte. »Du bist gar nicht auf der Seite des Guten, Kater! Dein Licht ist keinen Deut besser als die Finsternis!«
»Meinst du etwa, mir gefällt das, Danka?«, fragte der Kater seufzend. »Aber nur im Märchen vollbringt ein guter Mensch wirklich nichts Schlechtes. Im Leben verhält es sich anders. Wenn das Licht hier gegen die Finsternis kämpft, muss es rücksichtslos sein. Einen anderen Weg gibt es nicht, siehst du das denn nicht ein?«
»Das soll eine Lösung sein?! Eine Stadt anzünden? Und die Menschen, die dort wohnen?«
»Natürlich nicht die ganze Stadt… Obendrein käme vermutlich niemand zu Schaden… Es dürfte genügen, ein paar Flaschen mit Schwarzem Feuer überm Stadtzentrum abzuwerfen, wo ja kaum jemand wohnt. Dann brennen die Clubs, die Werkstätten und Lager… Und selbst wenn ein paar Wohnhäuser in Flammen aufgehen sollten – das ist doch schließlich keine Atombombe! Allen wird genug Zeit zur Flucht bleiben! Danach greifen die Flügelträger die Freiflieger garantiert an!«
»Und dann schlachten sich alle gegenseitig ab! Schließlich verstehen die Freiflieger etwas vom Kampf!«
»Nein, Danka. Es geht nur darum, die Freiflieger abzulenken, damit sie alle Kräfte auf einen Schauplatz konzentrieren. In der Zwischenzeit werden wir ihren Hauptturm angreifen.«
Sobald der Kater mir den Plan mit seinen eigenen Worten schilderte, hörte er sich komischerweise gar nicht mehr gemein und grausam an. Mehr wie eine Kriegslist. Okay, in der Stadt würden ein paar Häuser abbrennen – aber dafür würden wir die Freiflieger besiegen.
Mannomann, wie hatte ich bloß so auf der Leitung stehen können?
»Aber was können wir im Hauptturm ausrichten? Müssen wir etwa bloß diesen Herrn der Finsternis umbringen – und schon hauen alle ab und die Sonne kommt zurück?«
»Ich weiß es nicht, Danka«, erklärte der Kater müde. »Wie ich schon gesagt habe, ist mir selbst nicht alles klar. Aber ich spüre, dass wir den Hauptturm angreifen müssen.«
»Und wo nehmen wir das Schwarze Feuer her?«
»Gibt es etwa nicht genügend Türme in der Umgebung? Ihr beide, Len und du, werdet doch wohl mit ein oder zwei Freifliegern fertig werden! Wir zerstören einfach einen Turm und holen uns das Schwarze Feuer. Da schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe…«
»Aber die Freiflieger im Turm müssen wir doch töten!«
»Ja und?«
Das war’s. Das war mein letzter Einwand gewesen, mehr konnte ich nicht vorbringen. Weitere Argumente fielen mir nicht ein. Nun bohrte sich ein dumpfer, düsterer Schmerz in mein Herz.
»Junior…« Hilflos sah ich zu Len rüber. »Das ist deine Stadt… Entscheide du.«
Len betastete seine Nase. Da sie nicht mehr blutete, holte er ein Taschentuch heraus und putzte sie sich vorsichtig.
»Mir ist von Anfang an klar gewesen, dass wir keine andere Möglichkeit haben«, meinte er.
Und noch einmal: Das war’s. Wenn sogar Len mit dem Plan einverstanden war…
»Wir könnten das Schwarze Feuer doch auch über eine andere Stadt gießen, oder?«, schlug ich vor. »Hier leben deine Freunde…« Beinahe hätte ich noch hinzugefügt: und deine Mutter, aber zum Glück stoppte ich mich noch rechtzeitig.
Außerdem: Auf eine andere Stadt, das ginge sowieso nicht. Das wäre hundsgemein.
»Wer soll denn das Feuer ausgießen?«, fragte ich den Kater mit einer Selbstverständlichkeit, als ob die Flaschen mit dem Zeug schon einsatzbereit im Schrank standen.
»Du«, antwortete der Kater wie aus Pistole geschossen. Als er mein Gesicht sah, fügte er rasch hinzu: »Ich kann es nicht, rein körperlich. Meine Pfoten würden mir den Dienst verweigern – schließlich ist es ja etwas Böses. Und das ist gegen meine Natur. Und Len sollte es nicht machen, denn darauf wartet die Finsternis doch nur. Da bleibst nur du, Danka, versteh das doch.«
Ach ja, ich musste ja immer alles verstehen…
»Bist du wütend auf mich, Danka?« Der Kater verlangte, dass ich ihn ansah.
»Das habe ich mir inzwischen abgewöhnt.«
Wir besprachen noch verschiedene Punkte, doch im Grunde kam es auf die nicht mehr an, das war bloß Kleinkram. Die Entscheidung stand ja schon fest. Wenn mir doch bloß noch eine andere Lösung einfiele…
Ich ging in mein Zimmer und schaute mit dem Wahren Blick in den Spiegel. Ich sah, dass mein erwachsenes Ich lächelte. Nur ganz leicht und ein bisschen traurig. Aber es lächelte.
Der Kater hatte schon gewusst, wen er unter seine Fittiche nehmen musste.
Ich knüpfte das Schwert des Tuak vom Gürtel und auch die leere Scheide des Wahren Schwerts und hängte beides an die Wand. Das Wahre Schwert hatte sich noch nicht wieder materialisiert, sondern wartete weiterhin auf seine große Stunde. Wenn es endlich auftaucht, dachte ich, werde ich der Versuchung, es sofort zu ziehen, bestimmt kaum widerstehen können.
Aber gut, darüber konnte ich mir den Kopf zerbrechen, wenn es so weit war.
Ich setzte mich aufs Bett und schaute mit einem Blick voller Hass auf das Fenster mit der Gardine davor. Am liebsten hätte ich die Vorhänge zurückgezogen und… nein, nicht die Sonne, es war ja sowieso Nacht… aber die Sterne, die wenigstens hätte ich gern gesehen. Viele und hell leuchtende Sterne, so wie in den Bergen. Und den Mond. Ob es hier nur einen Mond gab oder mehrere? Irgendwann hatte ich mal geträumt, ich würde nachts in einem See baden. Als ich da nach oben schaute, sah ich über mir einen ganzen Haufen Monde, jeder in einer anderen Farbe. Eigentlich schade, dass es so was nur im Traum gab.
Aber hier… Selbst wenn es hier eine ganze Handvoll Monde gäbe, würde doch eine Kleinigkeit fehlen: die Sonne.
Ich hörte, wie die Tür quietschte, und wandte mich vom Fenster ab. Len steckte seinen Kopf ins Zimmer.
»Schläfst du schon?«, fragte er, warum auch immer. Ach ja, ich hatte das Licht nicht angemacht, und Len trug keine Brille.
»Komm rein.« Ich klatschte in die Hände, doch aus irgendeinem Grund gingen die Lampen nicht an.
»Meine funktioniert auch nicht.« Trotzdem durchquerte Len mit sicheren Schritten das Zimmer und setzte sich auf den Bettrand. »Ich hätte sie längst austauschen sollen, noch bevor wir losgezogen sind. Morgen werde ich im Lager vorbeischauen und…«
»Hmm«, brummte ich nur.
Len wusste nicht, was er sagen sollte, und ich war mit einem Mal auch verlegen. Es war irgendwie, als säße er mit verbundenen Augen da und spräche mit mir.
»Die Dinger müssen wirklich ersetzt werden«, sagte ich und verzichtete auf meinen Wahren Blick. »Sonst sitzen wir ja in der Dunkelheit… Hast du vielleicht Kerzen?«
»Unten. Soll ich sie holen?«
»Ach, egal, wir müssen eh bald schlafen. Len?«
»Was?«
»Das vorhin tut mir leid…«
»Schon gut, ich verstehe es ja… Ich möchte dir gern was sagen, Danka, aber nimm’s mir bitte nicht übel.«
Mir schwante nichts Gutes. »Ja?«
»Ich werde das Schwarze Feuer ausgießen.«
»Warum denn das?«
»Es ist meine Stadt. Wenn du sie anzündest, wirst du unser Feind. Dann bist du nur noch ein Fremder, der mit seiner eigenen Wahrheit hierhergekommen ist. Versteh das bitte nicht falsch!«
»Und wenn du die Stadt anzündest?«
»Dann werde ich zum Verräter. Aber in meinen Augen verrate ich nicht die Stadt und nicht die Menschen, denn ich liebe sie ja. Ich verrate unser bisheriges Leben. Wenn wir scheitern, bleibe ich ein Verräter. Aber wenn unser Vorhaben glückt und unser Leben sich ändert, dann gelte ich nur als Rebell.«
»Als Freiheitskämpfer«, bestätigte ich. »Aber wie willst du dich gegen die Finsternis wehren, Len?«
»Das schaffe ich schon«, knurrte Len. »Bist du einverstanden, Danka?«
»Lass uns erst mal das Schwarze Feuer holen. Danach sehen wir weiter.«
»In Ordnung«, sagte Len ohne Widerrede.
»Hast du Angst?«, fragte ich.
Er zappelte etwas herum und sagte dann: »Es ist so dunkel… Früher hatte ich nie Angst vor der Dunkelheit, Ehrenwort. Aber jetzt ist es so… als würde sie nur darauf warten, mich anzuspringen.«
»Weißt du was«, schlug ich vor, »schlaf doch einfach hier.«
»Darf ich wirklich?«
»Klar.«
Nur zu gern streckte sich Len im Bett aus. »Mit dir zusammen habe ich keine Angst mehr«, meinte er und klang schon viel fröhlicher. »Ich wollte schon den Kater zu mir rufen, aber der sitzt unten und liest.«
»Der Herr Professor«, spottete ich. »Len, wir müssen morgen Patrouille fliegen, da dürfen wir nicht verschlafen.«
»Ich wache immer früh auf«, versicherte Len schläfrig. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Ich schloss ebenfalls die Augen und legte mich hin. Mein Junior atmete gleichmäßig neben mir, ansonsten herrschte Totenstille. Gute Nacht… Was für ein alter Wunsch! Vielleicht haben sich sogar schon die Urmenschen eine gute Nacht gewünscht, bevor sie sich hingelegt haben. Und bestimmt haben sie genau wie wir daran geglaubt, dass dieser Wunsch sie vor jedem Unglück bewahrt.
Ob der Gutenachtwunsch wohl irgendjemandem hilft, wenn ich die Flasche mit dem Schwarzen Feuer über der Stadt ausgieße?
Denn egal, was Len gesagt hatte: Er durfte die Stadt auf keinen Fall anzünden.
Der Kater steckte den Kopf aus dem Ausschnitt des Flügeloveralls. »Wie lange wollen wir das Ganze denn noch hinauszögern?«, fragte er mürrisch.
Ich antwortete nicht. Schon seit einer halben Stunde schwebten wir über dem Turm der Freiflieger, ohne einen von ihnen zu entdecken. Ein paar Mal war Len im Sturzflug nach unten gegangen, hatte eine Runde um den Turm gedreht und war danach wieder zu uns hochgestiegen. Hätte es im Turm viele Freiflieger gegeben, wären sie ihm mit Sicherheit hinterhergejagt.
»Danka! Wie lange noch?«, wiederholte der Kater.
Ich sah Len an, legte die Flügel kurz an und ging tiefer. Langsam wuchs der Turm uns entgegen – als ob nicht wir sanken, sondern die Felsen sich aufblähten.
Normalerweise errichteten die Freiflieger ihre Türme in der Nähe von Seen, Flüssen oder Sümpfen. Dabei waren sie auf das Wasser überhaupt nicht angewiesen. Vielleicht verlangte es ihre Tradition oder es entsprach ihren Vorstellungen von Schönheit.
Dieser Turm dagegen stand mitten im Gebirge, Wasser gab es ringsum keines. Er hieß der Runde Turm, obwohl niemand sagen konnte, was an ihm runder war als an den anderen Türmen. Hierher war Kurt, der Ex-Senior von Len, geflogen, als er beschlossen hatte, ein Freiflieger zu werden. Vermutlich hatte Len deshalb vorgeschlagen, ihn anzugreifen.
Wir landeten auf der Plattform oben an der Spitze des Turms. Drei schmale Steinsäulen trugen ein Holzdach, eine Konstruktion, die an einen Schellenbaum erinnerte. Die Bretter waren bereits durchgefault, die Plattform zugemüllt und in Vertiefungen im Boden stand Wasser. Die Luke, durch die man nach unten gelangte, war halb offen.
»Was für Schmutzfinken!«, zischte der Kater verächtlich, während er aus meinem Ausschnitt kletterte und mit einem Satz auf dem Boden landete. »Schämen sollten sie sich! Wartet hier, Jungs, ich gehe vor.«
»Warum das?«, wollte ich wissen, hauptsächlich um nicht als feige dazustehen – denn eigentlich war mir angst und bange.
»Ich gebe kein so gutes Ziel ab«, erklärte der Kater. »Wartet hier!«
Er sprang durch die Luke, glitt nicht nach unten, sondern sprang tatsächlich. Sein Fell leuchtete grell, doch wie hätte er es hier verstecken sollen? Immerhin konnte er den Freifliegern mit dem Licht Angst einjagen.
Ohne mich mit Len abzusprechen, zogen wir beide unser Schwert. Die Scheide des Wahren Schwerts war noch immer leer, was mich ein wenig beruhigte.
»Kommt runter«, fiepte der Kater von unten.
Der Raum, in den wir gelangten, war ebenfalls leer und zugemüllt, Umrisse ausgetrockneter Pfützen zeichneten sich ab, überall lag was rum, Anziehsachen, aber auch Schwerter ohne Scheiden. Lens Gesicht verkrampfte sich plötzlich. »Das ist Kurts Schwert…«, stotterte er und zeigte mit der Hand auf eine Klinge.
Ein Schwert wie jedes andere auch, länger als meins und mit einem blutroten Stein am Griff. Als ich es vorsichtig mit dem Fuß anhob, klirrte der Stahl.
»Pst!«, zischte der Kater, der die dunkle Wendeltreppe hinunterspähte.
Wir erstarrten, doch offenbar wollte der Kater nur in die Dunkelheit hineinlauschen.
»Das ist ein gutes Schwert«, flüsterte Len mir ins Ohr. »Besser als deins. Willst du es nehmen?«
»Mein Schwert ist auch gut«, erwiderte ich genauso leise. »Das dort ist mir zu schwer.«
»Gehen wir!« Der Kater rannte die Stufen hinunter. Wir folgten ihm, indem wir uns an dem Licht orientierten, das er ausstrahlte. Im Turm half uns die Brille kaum und den Wahren Blick wollte ich nicht benutzen.
»Komisch… Warum brennen hier denn keine Fackeln?«, hauchte Len.
»Vielleicht ist der Turm ja verlassen?«
»Die haben doch nie genug Türme«, wandte Len ein. »Die leben nämlich nicht gern beengt…«
Die Treppe führte uns in ein rundes Zimmer irgendwo in der Mitte des Turms. Der Kater sprang die letzte Stufe hinunter – und blieb wie angewurzelt stehen. Da ich ahnte, dass etwas nicht stimmte, stürzte ich zu ihm.
An der Wand stand ein Bett, ein ganz normales Bett mit einem weißen Laken. Auf ihm lag ein Freiflieger und starrte an die Decke. Ein Arm baumelte herab, die Membran der Flügel zitterte im schwachen Luftzug.
Der ist tot, dachte ich ganz ruhig. Aber Len, der sein Schwert mit beiden Händen gepackt hielt, schlich sich vorsichtig ans Bett. Ich rief mir in Erinnerung, dass tote Freiflieger versteinern.
Mit einem knirschenden Geräusch drehte der Freiflieger langsam den Kopf. Len hielt mitten in der Bewegung inne. Ein kalter, gläserner Blick tastete uns ab.
»Gebt mir Wasser«, verlangte der Freiflieger mit heiserer, aber überraschend voller Stimme.
Meine Benommenheit verflog. Ich näherte mich dem Bett, wobei ich die Hand am Schwert behielt. Der Kater folgte mir, leise fauchend.
»Keine Bewegung!«, warnte ich den Freiflieger.
Der setzte bloß ein starres Lächeln auf. »Das geht sowieso nicht. Ich bin krank. Ich sterbe. Gebt mir Wasser.«
»Warum sollten wir?«, meinte Len giftig.
Ich knüpfte schweigend meine Flasche vom Gürtel und hielt sie dem Freiflieger an die Lippen. Er nahm ein paar gierige Schlucke, bevor er das Gesicht wieder abwandte.
»Das reicht. Es gibt nicht mehr viel in mir, das Wasser bräuchte. Aber ich hatte solchen Durst.«
»Trotzdem stirbst du gleich«, sagte Len.
»Ja«, meinte der Freiflieger. »In fünf Minuten… höchstens.«
»Mir war nicht klar, dass ihr auch krank werdet«, sagte ich.
»Wir leiden am Alter. Später als ihr… aber trotzdem.« Der Freiflieger sah mich lange an. »Verstehe«, bemerkte er schließlich. »Du bist nicht von hier. Du bist gekommen, um uns zu besiegen…«
»Ja! Und er wird auch siegen!«, mischte sich der Kater ein. Er war total angespannt, machte einen Buckel und sah den sterbenden Freiflieger mit einem Trotz an, den ich nie für möglich gehalten hätte. Wie in Zeitlupe drehte dieser den Kopf. Ich meinte, ein seltsames Knirschen zu hören. Eine Staubwolke setzte sich auf dem Laken ab, an der Stelle, wo der Kopf des Freifliegers gelegen hatte.
»Oh… ein Abgesandter des Lichts… und was für ein komischer…«
Er streckte die Hand nach dem Kater aus und das Knirschen wurde lauter. Sandkörner rieselten zu Boden.
Der Kater brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. »Was soll das?«, fragte er erstaunt. »Fürchtest du dich denn nicht vor mir?«
»Nicht mehr… spielt jetzt keine Rolle mehr. Kater… ich hatte auch mal… einen guten… Das ist… recht lange her… Woher kommst du, Junge?«
Das Gesicht des Freifliegers nahm eine erdige, graue Farbe an, bei jedem Wort stieg aus seinem Mund eine Staubwolke auf. Als ich antworten wollte, brachte ich keinen Ton heraus. Die Angst verstopfte mir die Kehle.
Der Freiflieger brabbelte mittlerweile nur noch unzusammenhängendes Zeug daher. Irgendwann schlug seine Hand auf dem Boden auf und ein Finger brach ab. An der steinernen Hand glänzte die Bruchstelle feucht wie Lehm.
»Weshalb seid ihr hergekommen? Der arme Turm… Wir Freiflieger sterben selten an Altersschwäche. Ihr versteht was vom Töten… Weshalb seid ihr gekommen?«
»Wir brauchen das Schwarze Feuer.« Endlich brachte ich ein Wort heraus.
»Ah…« Wie grauer Putz blätterte die Haut des Freifliegers in seinem Gesicht ab. »Ja, versuch du es… ich konnte es nicht…«
»Bring ihn um, Danka!«, schrie der Kater.
»Halt den Mund, du Biest!«, fuhr ich ihn an. »Was meinst du damit, Freiflieger?«
Aber er war schon bei einem anderen Thema. »Das Schwarze Feuer… unterm Schrank… unten… die Luke. Dort gibt es noch einen Vorrat… Nimm…«
Jetzt bewegten sich nur noch seine Lippen. Alles andere war bereits versteinert, das Gesicht und die Hände, sogar über den Augen lag ein trüber, grauer Schleier. Trotzdem flüsterte er noch weiter: »Du komischer Kater… ich wollte es auch… aber ich konnte es nicht… was spielt das noch für eine Rolle, wofür wir kämpfen… ich wollte…«
Dann verstummte er.
Wenn der Freiflieger uns nichts von dem Geheimfach erzählt hätte, hätten wir es nie entdeckt. In ihm befanden sich vier Flaschen mit Schwarzem Feuer, außerdem noch eine andere verdächtig aussehende Flüssigkeit, ebenfalls in Flaschen, die wir jedoch nicht anrührten, sowie ein merkwürdiger feiner Degen, den ich herausnahm und auf den versteinerten Freiflieger legte. Ein Lederbeutel in der Ecke des Verstecks enthielt allerlei Krimskrams: eine unbekannte Münze, einen Kerzenstummel, ein durchsichtiges Kristall, einen roten Gummiball, einen großen Schlüssel aus Bronze, ein Taschenmesser, einen Bleistift… Diese Sachen hatten dem Freiflieger wahrscheinlich etwas bedeutet, als er noch ein Mensch gewesen war. Ich legte sie ebenfalls neben ihn hin.
In einem der leeren Zimmer fand ich auf dem Tisch eine Bleistiftzeichnung, mit schnellen Strichen hingeworfen, aber gut gelungen. Len erzählte ich nichts davon. Die musste Kurt gezeichnet haben, nachdem er zum Freiflieger geworden war, daran bestand für mich kein Zweifel. Auf der Rückseite stand der Titel: Meine Stadt. Eine Stadt war jedoch gar nicht zu sehen, sondern nur Gesichter. Ich erkannte Shoky, der ein sehr ernstes Gesicht hatte, auf dem sich aber ein Lächeln andeutete, Iwon, der jetzt ein aufgeschwemmter, fetter Kerl war und die Arme vor der Brust wie zum Gebet verschränkt hatte, und Gert, einen zahnlosen Mann mit funkelnden Augen, der geifernd sprach. Auch Len war abgebildet.
Ich zündete die Zeichnung an und legte sie auf den ganzen Kram in der Ecke. Anschließend öffnete ich das Fenster und der Wind fachte das Feuer an. Kurt hatte auch als Freiflieger noch gut gezeichnet, wahrscheinlich hatte er die Menschen nicht mal verfälscht. Er hatte sie einfach unter einem anderen Blickwinkel gesehen. Da hatte der alte Freiflieger ja recht. Entscheidend ist, aus welcher Blickrichtung du die Dinge betrachtest, dann stellst du dich automatisch auf die für dich richtige Seite.
Als wir zu der Plattform oben an der Spitze zurückgelangten, stieg aus den unteren Stockwerken des Turms bereits Rauch auf. Len verstaute die Flaschen mit dem Schwarzen Feuer sorgfältig in einer Tasche. Eine nahm ich ihm jedoch ab.
»Was soll das?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.
»Er hat das verdient«, antwortete ich, ohne zu präzisieren, wer.
Len widersprach mir nicht, knöpfte die Tasche zu und erhob sich in die Luft.
Der Kater schaute mich finster an. »Warum hast du mich vorhin so angefahren?«
»Weil du genau gewusst hast, wovon der Freiflieger redet«, antwortete ich knapp.
Der Kater seufzte und es klang fast wie bei einem Menschen. Dann flog er Len nach.
Ich blieb noch kurz an der offenen Luke stehen. »Ich werde nicht zögern«, sagte ich schließlich, bevor ich die Flasche durch die Öffnung warf. »Ich bin stärker.«
Der Turm stand sofort in Flammen. Kaum hatte ich die Flügel ausgebreitet, trug mich die heiße Luft schon nach oben.
Zu Hause legte ich mich in die Badewanne. Ich füllte sie bis zum Rand, gab Schaumbad hinzu und ließ mich zwanzig Minuten aufweichen. Der Rauchgeruch war mir in die Haare gekrochen und meine Schultern taten mir vom vielen Fliegen weh.
Das heiße Wasser vertrieb meine Müdigkeit zwar nicht, verwandelte sie jedoch in eine angenehme Schlaffheit. Schließlich drehte ich das kalte Wasser auf und duschte mich so lange ab, bis ich bibbernd aus der Wanne sprang. Jetzt ging’s mir wieder gut. Ich rubbelte mich mit einem dünnen, viel zu weichen Handtuch ab, zog mir Shorts und ein T-Shirt an und ging nach unten. Len saß am Tisch, ebenfalls frisch gebadet und zufrieden, während der Kater es sich im Sessel bequem gemacht hatte und sich putzte.
Anscheinend hatten wir uns alle ziemlich dreckig gefühlt.
»Willst du Suppe, Danka?«, rief mir Len entgegen, kaum dass er mich auf der Treppe erblickte. Er spielte jetzt wieder den Junior, genau wie damals, als wir uns kennengelernt hatten.
»Ja«, antwortete ich lächelnd. »Und vermutlich werde ich sogar um einen Nachschlag bitten.«
»Wollen wir nicht erst alles durchsprechen?«, schlug der Kater mit finsterer Miene vor, aber Len und ich schüttelten den Kopf.
»Habt ihr euch etwa gegen mich verschworen?«, schnaubte der Kater und machte sich über sein gebratenes Fleisch her. Suppe mochte er nicht.
Wir aßen ziemlich schnell. Lens Tasche stand in einer Ecke des Zimmers, hin und wieder blickten wir alle automatisch zu ihr rüber.
»Könnten wir jetzt zur Sache kommen?«, meinte der Kater noch einmal.
»Okay«, sagte ich und schob den Teller weg.
Gegen die Entschlossenheit des Katers wären wir sowieso nicht angekommen.
»Wir sind kurz davor, uns zu streiten, oder, Danka?«, fragte er und packte damit den Stier bei den Hörnern.
»Hmm«, gab ich zu, wobei ich sogar eine gewisse Genugtuung empfand.
»Das ist nicht gut!«, verkündete der Kater hitzig. »Wo wir doch schon so viel erreicht haben! Du hast das Wahre Schwert, wir haben das Schwarze Feuer, wir können endlich die entscheidende Schlacht zwischen Gut und Böse in Gang setzen. Wir haben alle Aussichten auf Erfolg! Aber nur, wenn wir zusammenhalten…«
»Kater!«, fiel ich ihm ins Wort. »Dann erklär mir doch mal, warum sich dieser Freiflieger, als er noch ein Mensch war, nicht dazu durchgerungen hat, die Stadt anzuzünden und die entscheidende Schlacht einzuleiten?«
»Wie kommst du denn auf diesen Unsinn?«, fragte der Kater. »Selbst wenn er aus einer anderen Welt gekommen ist und anfangs aufseiten des Lichts gekämpft hat…«
»Lüg mich nicht an!«, rief ich.
»Anscheinend hat es ihm an Entschlossenheit gemangelt«, räumte der Kater nach kurzem Zögern ein. »Er war allzu romantisch veranlagt und zu naiv obendrein. Er hat geglaubt, man könne für das Gute nur kämpfen, wenn man ehrlich bleibt. Als ihm aufging, was von ihm verlangt wurde, hat er sich der Verzweiflung überlassen. Schließlich ist er… zu den Freifliegern übergewechselt.«
»Und wenn er recht hatte? Die Freiflieger haben die Stadt nicht angezündet – aber du schlägst uns genau das vor.«
Der Kater sagte kein Wort. Klar, ich hatte nicht die Absicht, zu den Freifliegern überzutreten. Aber noch war es nicht zu spät, die dritte Tür zurück in meine Welt zu suchen. Noch hatte ich nichts angerichtet, das mir den Weg zurück für immer versperrt hätte…
Jemand klopfte leise an die Tür. Len, offenbar froh darüber, stürzte hin, um zu öffnen. Der Sonnenkater gab sich alle Mühe, meinem Blick auszuweichen.
Es war Gert, der uns besuchte. Schweigend, als spüre er die Anspannung, die in der Luft hing, verwuschelte er Len das Haar und kam zu uns an den Tisch.
Mir wurde gleich leichter zumute. Jetzt wusste ich nämlich, was ich tun musste.
»Willkommen zu Hause, Jungs«, begrüßte uns Gert, während er sich setzte. Zu den »Jungs« zählte er anscheinend auch den Kater.
»Guten Abend, Gert.« Es fiel mir immer noch schwer, einen Erwachsenen – noch dazu einen älteren Mann – einfach zu duzen.
»Ich habe schon gehört, was auf dem Platz vorgefallen ist«, sagte Gert und kam ohne Umschweife zur Sache. »Danka, Len, stimmt das? Mit dem Schwarzen Feuer?«
Ich sah zum Kater hinüber.
Der schaute weiter angestrengt woandershin. »Das Reden überlasse ich dir«, brummte er finster. »Also, nur zu…«
Daraufhin fing ich an, alles zu erzählen. Von unserem Aufbruch mit der Karawane bis hin zu dem sterbenden Freiflieger im Runden Turm. Nur Lens Entführung handelte ich in knappen Worten ab und im Zusammenhang mit Garet unterschlug ich einiges…
Len brachte Tee, einfach weil sich das gehörte. Aber als ich mit meinem Bericht zum Ende kam, war der Tee kalt geworden. Schweigend wartete ich darauf, was Gert sagen würde.
Er wandte sich an Len und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du musst jetzt tapfer sein, mein Junge«, sagte er zu meiner Überraschung.
Ich wartete weiter. Gert musterte mich und wollte wissen: »Du machst das doch selbst, oder? Len darf auf keinen Fall die Stadt anzünden…«
»Wovon redest du überhaupt?« Gerts ruhige Worte hauten mich total um. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst?«
Genau in dem Moment begriff ich aber auch: Doch, das war sein Ernst. Gert teilte die Auffassung unseres Katers. Damit war mir endgültig der Boden unter den Füßen weggezogen. Jetzt blieb nur noch der freie Fall, tiefer und immer tiefer.
»Lasst uns überlegen, wie wir es anstellen.« Gert sprach leise, aber entschlossen. »Wir müssen es so machen, dass euch einerseits niemand verdächtigt… der Angriff aber andererseits auch echt wirkt.«
»Und wir wollen nur Häuser in Brand setzen, in denen niemand wohnt.« Der Kater blickte Gert fragend an. »Clubs, Lager, Werkstätten…«
»Das wäre verdächtig«, sagte Gert. »Besser, ihr werft die Flaschen aus großer Höhe ab, wobei ihr euch über den Wolken haltet. Überlasst alles Weitere dem Wind und dem Schicksal. Ihr könnt auch an jeder Flasche ein langes Band befestigen, das würde den Fall abbremsen und die Streuung vergrößern. Außerdem könnte Danka dann landen, noch bevor die Flaschen aufschlagen. Dann geht er sofort nach Hause. Ich werde ebenfalls hier sein. Um ihm ein Alibi zu geben…«
Gert legte das alles so nüchtern dar, als würde er jede Woche seine Stadt anzünden.
»Was sagst du zu dem Plan, Danka?«, fragte der Kater.
Ich zuckte bloß die Achseln. Was hätte ich mich streiten sollen? Es waren ja eh alle dafür. Sogar Gert.
»Vielleicht werde ich auf meine alten Tage noch einmal die Sonne sehen…« Gert deutete ein Lächeln an und streichelte den Kater. »Was meinst du?«, fragte er ihn.
»Ich glaube schon.«
Darum ging es ihm also, um die Sonne, an die niemand mehr glaubte. Gert wollte allen beweisen, dass er keinen Unsinn dahergeschwafelt hatte. Dafür würde er sogar seine Stadt anzünden…
Ich schielte zu Len rüber. Würde er noch einmal versuchen, mich davon abzubringen, das Schwarze Feuer abzuwerfen? Nein, er schwieg. Auch gut.
Dann würden am Ende alle die Schuld auf mich schieben.
Was ja auch stimmte, schließlich hatte ich den Kater mitgebracht.
Wir beschlossen, die Sache in einer Stunde in Angriff zu nehmen, da würde es schon spät und die Straßen leer sein. Klar, dabei beobachten konnte man mich auch dann noch, aber dieses Risiko mussten wir eingehen.
Die Zeit zog sich in die Länge wie am Silvesterabend. Wir tranken Tee und Gert fragte mich noch einmal über den Turm der Freiflieger aus und über das Wahre Schwert. Ich zeigte ihm die leere und leichte Scheide. Irgendwann brummte Len, er würde mal kurz nachsehen, ob noch viele Leute unterwegs waren. Er ging hinaus, wir unterhielten uns weiter. Wir Idioten!
Mir fiel als Erstem auf, dass mein Junior verdammt lange wegblieb. Ich schaute in die Ecke hinüber. Lens Tasche lag noch dort, wirkte allerdings ziemlich schlaff. Ich ging hinüber und öffnete sie.
In der Tasche lag ein eingerollter alter Flügeloverall.
Mehr nicht.
Finsternis hing über der Stadt. Von den Bergen wehte ein kalter, böiger Wind herüber, selbst durch den Flügeloverall drang die eisige Kälte in meinen Körper. Der Himmel war leer, weder mit der Brille noch mit dem Wahren Blick konnte ich Len entdecken.
Wir standen auf der Abflugplattform des Turms und spähten in alle Richtungen, als erwarteten wir, Len würde gleich zurückkehren und uns das Schwarze Feuer wieder aushändigen.
»Er darf die Stadt unter keinen Umständen anzünden«, meinte Gert traurig. »Nicht er…«
»Richtig«, pflichtete der Kater ihm bei.
»Warum hast du Len dann überhaupt gehen lassen?«, fragte ich. Nicht aus Bosheit, sondern weil ich mir wirklich sicher war, dass der Sonnenkater gesehen hatte, wie Len das Schwarze Feuer aus der Tasche holte.
»Spar dir deine Anklagen, Danka!«, erwiderte der Kater. »Ich hatte keine Ahnung, was er im Schilde führte! Nicht mal im Traum habe ich daran gedacht, Len in diesen Einsatz zu schicken! Wo waren denn deine Augen, Senior?«
»Meine Augen! Die liegen auf dem Platz im Dreck! Und für die neuen bin ich nicht verantwortlich, die sind schließlich aus Licht!«
»Pst!«, ermahnte Gert uns. »Da kommt Len!«
Len sank im Sturzflug tiefer und tiefer, ein winziger Fleck nur, der sich kaum vom Himmel abhob. Hundert Meter über dem Boden breitete er die Flügel aus, erst nur ein wenig, dann voll. So bremste er ab, als hinge er an zwei kleinen Fallschirmen. Als ich mir vorstellte, wie der Wind auf Lens Arme einpeitschte, taten mir selbst die Schultern weh.
Erst unmittelbar über unseren Köpfen schlug Len mit den Flügeln und landete so sanft auf dem Turm wie sonst auch.
Unser Anblick erstaunte ihn in keiner Weise. Er legte die Flügel an und kam zu mir.
»Weshalb hast du das gemacht?«, fragte ich leise.
Len zuckte nur die Schultern. »Wolltest du das denn nicht?«
Wie kam er denn darauf? Ich hatte die Stadt nicht selbst anzünden wollen – das war ja wohl was anderes. Aber einer musste es tun. Da hatte Len eben für mich entschieden.
Und er konnte für mich entscheiden, weil ich mich in der Tat nicht um diese Aufgabe gerissen hatte.
»Wo sind die Flaschen?«, fragte der Kater in scharfem Ton.
Len wies mit einer unbestimmten Geste zum Himmel. »Da oben. Sie fallen noch. Der Wind ist stark. Keine Ahnung, wo sie runterkommen.«
Unwillkürlich trat ich einen Schritt von Len weg. Denn ich hatte mich erinnert, wer in so kurzen, abgehackten Sätzen sprach.
Lächelnd ließ Len den Blick zwischen dem Kater und mir hin- und hergleiten.
»Runter vom Turm«, sagte er. »Die Flaschen schlagen gleich auf. Nicht, dass wir sie abkriegen!«
Ich schüttelte nur den Kopf. Lens Gesicht sah ganz normal aus und bis auf seine Art zu sprechen schien er auch sonst der Alte zu sein. Trotzdem sah ich ihn mir lieber nicht mit dem Wahren Blick an.
»Wir müssen ins Haus«, wiederholte Len.
»Nein.« Ich brachte das Wort mit einer Erleichterung heraus, die mich überraschte, denn ich wusste nur zu gut, dass diese Entscheidung nicht klug war. Genauso gut wusste ich aber auch: Ich würde es mir nicht anders überlegen. »Ich bleibe hier.«
»Ich bleibe auch hier, Danka.« Gert legte mir die Hand auf die Schulter und warf mir dabei einen ernsten Blick zu.
Der Kater fing an, herumzuzappeln, sagte jedoch kein Wort, sondern lief bloß zwischen uns herum und schmiegte sich an unsere Beine.
»Gut«, meinte Len schließlich, »bleiben wir hier.«
Rund eine halbe Minute warteten wir und sahen einander an, trauten uns aber nicht, nach oben zu schauen. Der Wind zerzauste Lens Haare, sodass sie ihm in die Augen fielen, aber er schien das gar nicht zu merken. Jedes Detail dieses Moments prägte sich mir ein…
Als Erstes fing ein Gebäude Feuer, das ich kannte: der Seniorclub. Dunkle Flammen ergossen sich in null Komma nichts über das ganze Dach, das Knistern brennenden Holzes wirkte in der Stille so laut wie das Rattern eines Maschinengewehrs.
Aber vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm, beruhigte ich mich selbst. Schließlich ist es keine Atombombe. Noch nicht mal Napalm.
Die Flammen schienen auf diesen Gedanken bloß gewartet zu haben. Das Schwarze Feuer schlingerte entlang der Mauern abwärts und strömte über das Kopfsteinpflaster, um sich über das Nachbarhaus herzumachen. Hier loderte es zum zweiten Mal auf, jetzt schon viel näher, nämlich nur noch hundert Meter von uns entfernt. Eine Hitzewelle schlug mir ins Gesicht und das flache, quadratische Gebäude am Ende der Straße krachte in sich zusammen. Auf einen Schlag, als wäre drinnen eine gigantische Bombe explodiert.
»Das ist das Waffenlager!« Gerts Stimme klang verzweifelt. »Wie hast du es nur geschafft, so genau zu zielen, Len?«
Ich drehte mich um, obwohl ich den Blick kaum vom Feuer reißen konnte, und bemerkte das verlegene Lächeln im Gesicht meines Juniors. So lächelte nur jemand, der ein unverdientes, aber dickes Lob eingeheimst hatte.
»Ich hab nicht gezielt… Der Wind und das Schicksal… so funktioniert es doch, oder, Gert?«
Gert schwieg. Das hat er nun davon, dachte ich.
»Der Wind und das Schicksal«, flüsterte der Kater. »Bewusst hast du natürlich nicht gezielt…«
Da krachte es zum dritten Mal, auch diesmal ziemlich nah, ebenfalls irgendwo am Stadtrand. Gerts Gesicht erbleichte, alle Entschlossenheit und Kraft wich daraus. Mit einem Mal sah er wie derjenige aus, der er absolut nicht sein wollte: ein tatteriger alter Mann.
»Die Wohnviertel…« Das Lächeln verschwand von Lens Gesicht.
Gert flüsterte etwas und stürzte die Treppe hinunter. Ich wollte ihm schon nachrennen, aber im letzten Moment fiel mir ein, dass wir ja schneller zum Ziel gelangen konnten. Ich spreizte die Flügel und sprang vom Turm.
»Tu das nicht!«, schrie der Kater. Ich hörte nicht auf ihn. Mit den Flügeln schlagend, stieg ich höher und höher, bis mich ein Strom heißer Luft erfasste, der von dem brennenden Waffenlager herüberwehte und weitereilte, um das nächste Feuer zu entfachen. Erst jetzt, eine Minute nachdem die erste Flasche aufgeschlagen war, durchriss ein Schrei die Stille.
Die verratene Stadt erwachte.
Ich war bereits bis fast an die brennenden Häuser herangeflogen, als von einem der Türme unter mir ein Flügelträger startete, ein Junge in meinem Alter, also ein Junior. Er schoss auf mich zu, erkannte mich aber offenbar nicht. »Nach oben!«, brüllte er. »Shoky hat befohlen, die Freiflieger zu schnappen, die das getan haben!«
Na gut, dann halt nach oben. Ich stieg höher, entfernte mich aber nach und nach von den Flügelträgern, die einer nach dem andern hoch zum Himmel schossen. Natürlich dachte ich nicht daran, irgendwelche Freiflieger zu suchen. Eine Minute später machte ich eine Kehre und ging wieder tiefer.
Es brannten fünf oder sechs Häuser, inzwischen wütete schon nicht mehr das Schwarze Feuer, sondern ein ganz normales. Das grelle Licht blendete mich unangenehm, bis ich endlich auf die Idee kam, das Visier hochzuschieben. Überall wuselten Leute herum, vor allem Männer und Frauen. Flügelträger entdeckte ich kaum, die machten alle Jagd auf die nicht vorhandenen Angreifer.
Die Leute versuchten, die Brände zu löschen, wenn auch verdammt umständlich. Außerdem bewegten sie sich irgendwie völlig idiotisch. Als mir endlich aufging, woran das lag, mischte ich mich unter sie, packte immer wieder jemanden am Arm und befahl ihm, die Brille abzunehmen.
Die Flügelträger kannten keine Straßenlaternen. Der Gedanke, es könnte draußen hell sein vom Feuer, war ihnen einfach nicht in den Sinn gekommen!
Vor einem der Nachbarhäuser bildeten sich eine Kette, über die Wassereimer weitergereicht wurden. Aber das brachte nicht viel. Das Feuer kroch dem Wasser einfach davon, um sich über ein anderes Haus herzumachen. Nach und nach stellten die Leute den Versuch ein und starrten schweigend auf die dem Untergang geweihten Häuser.
»Man muss das Feuer mit Sand löschen!«, rief ich, ohne mich an jemand Speziellen zu wenden.
»In der Nähe gibt es aber keinen Sand, Danka.« Gert legte mir seine Hand auf die Schulter. Er atmete schwer, anscheinend war er den ganzen Weg hierhergerannt. »Niemand hatte mit diesem Angriff gerechnet…«
Die Häuser brannten. Wie in Zeitlupe brachen die Fensterläden ab, lautlos und irgendwie widerwillig zersprangen die Scheiben. Das Heulen des Feuers veränderte sich, die Flammen eroberten die Gebäude und fielen in ungezügelter Zerstörungswut über die Zimmer her.
»Konnten alle aus den Häusern fliehen?«, fragte Gert.
Ich wusste es nicht. Vermutlich schon. Sonst würden die Leute doch wohl nicht so ruhig herumstehen.
In diesem Moment flogen die Fensterläden im ersten Stock eines der brennenden Häuser auf, zusammen mit den Fensterflügeln. Das Zimmer dahinter brannte lichterloh. Die Silhouette des kleinen Jungen am Fenster wirkte fast wie ein Scherenschnitt. Er kletterte aufs Fensterbrett und blieb dort wie angewurzelt stehen. Unter ihm klaffte ein Abgrund von rund vier Metern, lag das Kopfsteinpflaster, auf dem das Schwarze Feuer tobte.
Die Menge verstummte. Mit einem Mal machte es bei mir klick: Die Umstehenden wussten ganz genau, dass nicht alle Leute aus dem Haus herausgekommen waren.
Neben mir seufzte Gert schwer. Er ließ meine Schulter wieder los.
Der Junge rührte sich immer noch nicht. Jeder Flügelträger, selbst der unerfahrenste Junior, wäre gesprungen. Das war doch immerhin eine Chance, wenn auch nur eine winzige!
Aber der Junge war höchstens sieben. Er hatte seine Höhenangst noch nicht verloren.
Gert sah mich hilflos an – genauer gesagt, gar nicht mich, sondern meine Flügel, die an meinen Schultern herabhingen. Begriff er denn nicht? Ich konnte nicht zu dem Jungen hinfliegen und ihn im Superman-Stil vom Fensterbrett angeln! Die Flammen würden mich erfassen, würden den dünnen Stoff der Flügel verschlingen und mich durchs Fenster saugen wie eine Turbine!
Doch, er begriff. Und stürzte daraufhin selbst zum Haus, sprang einfach durch die Pfützen aus brennenden Steinen und lief Zickzack! Seine hagere Figur wirkte bei dieser Akrobatik so komisch, dass ich beinahe gelacht hätte.
Was war bloß in mich gefahren?
»Spring!« Ich ahnte Gerts Schrei eher, als dass ich ihn hörte. Er stand unter dem offenen Fenster, die Hände ausgestreckt. Die Flammen krochen schon an seinen Beinen hoch. Die Hosen fingen an zu rauchen. »Spring!«
Der Junge wollte schon einen Schritt nach vorn machen, zögerte dann aber doch. Gert wartete ungerührt ab, als ob er den Schmerz gar nicht spürte.
Alles hat seinen Preis. Gert musste für sein Ja zur Zerstörung der Stadt bezahlen. Und mir war klar, wie die Rechnung aussah, die er am Ende präsentiert bekam.
Len und ich dürften den gleichen Preis zu zahlen haben.
Schließlich sprang der Junge. Genau in dem Moment, als das Gebäude vom Schwarzen Feuer verschlungen wurde und einstürzte. Es krachte genau auf die Stelle, wo Gert in den Flammen stand.
Die Menge wich zurück. Von den Trümmern sprühten Funken in alle Richtungen. Beißender Rauch hüllte alles ein, Hitzewellen wogten durch die Luft. Ich war als Einziger am Grab von Gert übrig geblieben. Nein, nicht als Einziger…
Len stand neben mir, ich hatte bloß nicht bemerkt, wie er gekommen war. Über das Gesicht meines Juniors rollten Tränen.
»Sag doch was…«, bat ich.
Ganz langsam drehte Len mir den Kopf zu. »Das ist meine Schuld, oder, Danka? Gert ist gestorben, weil ich…«
»Nein!«, widersprach ich. Ich packte ihn am Ärmel und zog ihn vom Feuer weg. »Das ist Schicksal. Dich trifft keine Schuld, Junior.«
Eine Hand schlug mir mit aller Wucht gegen die Brust. Keine Ahnung, ob mich dieser Jemand nur aufhalten oder ob er mich umwerfen wollte. Ich hob den Kopf. Shoky.
»Wie ihr es prophezeit habt!«, presste er mit tonloser Stimme heraus. Sein Gesicht war schwarz vom Ruß. Ohne Frage war er über den brennenden Häuser gekreist.
»Ja«, erwiderte ich. »Aber du wolltest uns ja nicht glauben…«
»Das tue ich auch jetzt nicht.« Shoky hob langsam die Hände und fuhr sich übers Gesicht, um den Ruß wegzuwischen. Doch die Spuren, die seine Finger im Gesicht hinterließen, wirkten nur noch schwärzer. »Das ist eine Provokation.«
Es klang, als wollte er sich mit seinen Worten selbst überzeugen.
»Der Krieg hat angefangen«, hielt ich ihm entgegen.
»Nein«, sagte Shoky. »Darauf fallen wir nicht rein. Wir werden nicht angreifen!«
Etwas in mir drinnen zerbrach. Sollte alles umsonst gewesen sein? Selbst Gerts Tod? War das der Preis, den Len und ich zahlen mussten?
»Du bist immer bereit, allen zu verzeihen, Shoky«, mischte sich da mein Junior ein. »Gert ist in den Flammen umgekommen – ist dir das denn völlig egal?«
»Gert?« Shokys Gesicht zuckte krampfhaft. Dass jemand aus seiner Familie dem Feuer zum Opfer gefallen war, würde ihn vielleicht von seiner Haltung abbringen.
»Die Freiflieger haben die Stadt angezündet«, fuhr Len fort. »Willst du ihnen das durchgehen lassen?«
Wie brachte er das fertig? Wie konnte er die Freiflieger für das verantwortlich machen, was er selbst vor einer halben Stunde angerichtet hatte? Wie konnte Len Gerts Tod als Trumpf ausspielen, wo seine Tränen noch nicht mal getrocknet waren?
»Halt den Mund!«, schrie Shoky. »Dieser Text stammt doch von Danka! Wir ziehen nicht in den Krieg! Diesen Überfall habt ihr „provoziert!«
Ich sah mich um. Ein Ring von Flügelträgern, Erwachsenen und Mädchen hatte sich um uns gebildet. Alle hatten sie überstürzt irgendwas angezogen, waren verwirrt und begriffen nicht, worum es eigentlich ging.
»Und wer ist für deinen Text verantwortlich, Shoky?«, flüsterte ich.
»Ich selbst.«
»Dann übernimm auch die Verantwortung!« Ich spürte, wie die bis eben leere Scheide plötzlich schwer am Gürtel hing. »Wenn du die Flügelträger nicht in den Krieg führst, werden wir uns einen anderen Anführer suchen.«
Jetzt kam es darauf an, dass die Flügelträger sich gegen Shoky stellten, nicht etwa gegen mich.
»Willst du ein Duell?«, fragte Shoky.
»Ich will den Krieg gegen die Freiflieger.«
»Den wird es nicht geben.«
»Dann will ich ein Duell!«
Mit einer geschmeidigen und eleganten Bewegung zog Shoky sein Schwert. Die Menge vergrößerte sofort den Kreis um uns. »Wir tragen es auf dem Boden aus«, erklärte Shoky. »Ohne Flügel.«
In der Luft hätte er kaum Chancen gegen mich gehabt. Umgekehrt galt das auf dem Boden für mich. Shoky war älter als ich, erfahrener und kräftiger.
»Soll mir recht sein.« Ich tastete nach dem Wahren Schwert. War Shoky mein Wahrer Feind? Er hatte mir die Augen ausgestochen, sperrte sich gegen unseren Plan…
Andererseits versuchte er bloß, seine Stadt zu retten.
Deshalb zog ich das Schwert des Tuak und sah Shoky mit dem Wahren Blick an.
Shoky wollte sterben.
Das überraschte mich dermaßen, dass ich erstarrte und das Schwert losließ. Auf Shokys Gesicht lag eine Müdigkeit, als wäre er nicht zwanzig, sondern vierzig. Er glaubte weder an das Licht noch an die Finsternis. Selbst an das kleine Haus unter einer fremden Sonne glaubte er nicht mehr, im Unterschied zu allen anderen Senioren.
Der Angriff auf die Stadt hatte Shoky den Rest gegeben. Er wollte keine Entscheidungen mehr treffen, er wollte nur noch sterben.
Sein erster Ausfall war ein Schlag mit nur halber Kraft, den ich problemlos parierte.
Wir umkreisten einander, die Schwerter gezückt, die Wand aus Menschen zögerte kurz, bevor sie sich ausdehnte, um uns Platz zu machen. Niemand dachte mehr an die vor sich hinbrennenden Gebäude, die nun schlagartig zur Dekoration für das Duell mutiert waren.
»Shoky«, flüsterte ich, »wir können gewinnen. Zusammen können wir gewinnen…«
Der Schlag war eher schön anzusehen als wirkungsvoll, ein schwungvoller Hieb Richtung Hals. Ich brauchte mich bloß zu ducken und das Schwert über meinem Kopf wegzischen zu lassen.
»Ich werde dich nicht angreifen, Shoky. Lass uns über alles red…«
Die Schwerter heulten erbärmlich auf, als sie gegeneinander schepperten. Jetzt machte Shoky Ernst, und nur der Wahre Blick half mir, seine Schläge im Voraus zu erkennen und abzuwehren.
»Shoky, wenn du mich umbringst…«
Schlag, Sprung und Abwehr.
»… oder ich dich, dann wäre Gert ganz umsonst gestorben…«
Waren mir die Worte also doch über die Lippen gekommen.
»Mein Großvater hat seit geraumer Zeit an Altersschwachsinn gelitten.« Shokys Bewegungen wurden nun wieder etwas langsamer. »Wir haben keine Chance, Danka.«
Dann kam der nächste Angriff, so schnell und genau, dass ich nicht mehr reagieren konnte. Klirrend landete die Klinge auf meiner Parierstange, das Schwert fiel mir aus der umgeknickten Hand. Shoky setzte nach und ließ mir keine Gelegenheit, mein Schwert aufzuheben. Okay, ich hatte noch das Wahre Schwert… und die Flügel, um mich dünne zu machen und damit den Respekt der Flügelträger für immer zu verlieren.
Abwartend beobachtete ich Shoky, in dessen Augen Todessehnsucht stand.
»Du willst nicht allein sterben«, sagte ich leise, damit nur er mich hörte. »Du willst alle anderen mit dir ziehen und die Flügelträger den Freifliegern zum Fraß vorwerfen.«
Die Klinge zitterte an meinem Hals.
»Ich werde doch nur der Erste sein, Shoky«, fuhr ich flüsternd fort. »Danach kommen die anderen dran. Du hast deinen Kampfwillen eingebüßt… und deshalb wird es Tausende von Toten geben.«
»Wir haben keine Chance, Danka.«
»Solange der Kater und ich leben, haben wir eine Chance.«
»Aber was für eine?«
»Keine große. Nur ein wenig Hoffnung…«
Shoky lächelte schief. Er senkte das Schwert und ließ seinen Blick über die verstummten Zuschauer schweifen.
»Ihr könnt davon ausgehen, dass der Senior Danka und ich mit diesem Duell unsere Nerven beruhigt haben! Alkk!«
Ein hellhaariger, linkischer Junge drängelte sich durch die Menge und schaute Shoky fragend an.
»Wer ist bei dem Angriff gestorben?«, erkundigte sich Shoky.
»Der kleine Junge und der Alte, in dem Haus dort…« Alkk wies vage in die Richtung. »Außerdem die beiden Mädchen, die im Club saubergemacht haben.«
»Aber niemand von denen, die kämpfen können«, schlussfolgerte Shoky bitter.
»Kira hat sich den Arm verbrannt.«
»Das wird heilen. Können mich alle hören?«
Niemand sagte ein Wort, aber Shoky hatte auch nicht mit einer Antwort gerechnet.
»Dann hört mir zu! Ich wende mich nicht an die Flügelträger, denn die folgen mir ohnehin. Ich wende mich an die Mädchen, Erwachsenen und Alten. Wir Flügelträger brechen auf, das Licht zu suchen. Denjenigen, die nicht mehr kämpfen können, rate ich, sich in eine der Nachbarstädte zu begeben. Oder zu den Händlern.«
Mir fiel ein, welche Bedeutung die Wendung »das Licht suchen« für Flügelträger hatte, oder auch der Ausdruck, jemand sei »zum Licht aufgebrochen«. In dem Moment wurde mir klar, wie genau Shoky seine Einstellung zu dem bevorstehenden Kampf in Worte gebracht hatte: Wir zogen in den Tod.
Ob er deshalb nachgegeben hatte?
Aus der Menge trat nun ein Mann hervor, der etwa fünf Jahre älter war als Shoky. Er hatte dunkles Haar und dunkle Haut. Ich erinnerte mich an ihn, er hatte Shoky darauf hingewiesen, dass sich jemand um mich kümmern müsse, nachdem man mir die Augen ausgestochen hatte.
»Seit wann gelten erwachsene Männer als kampfunfähig, Senior der Flügelträger?«
»Wann habt ihr denn zuletzt gegen die Freiflieger gekämpft?«, fragte er mit erstaunt hochgezogener Augenbraue.
»Es ist noch nicht lange her, Shoky. Und wer beschützt denn die Karawane der Händler?«
Shoky blieb hartnäckig. »Erwachsene ziehen nicht in den Kampf. Ihr habt eure Pflicht erfüllt. Jetzt…«
»… jetzt dürfen wir also nur noch für ein Plätzchen unter einer fremden Sonne kämpfen? Ja?«
Shoky antwortete nicht.
»Fang lieber keinen Streit mit mir an, Junior«, meinte der Mann in einem Ton, der fast zärtlich klang, und klopfte Shoky auf die Schulter.
Komisch, dachte ich, Len wird also immer mein Junior bleiben. Er würde es jedenfalls bleiben – wenn wir nicht aufbrechen würden, das Licht zu suchen.
»Du solltest unserem Plan endlich zustimmen!«, sagte der Kater zu Shoky.
Wir saßen zu dritt zusammen, Len war in sein Zimmer hochgegangen und hatte die Tür hinter sich zugemacht. Ich hatte ihn nicht zurückgehalten. Zu deutlich war mir noch in Erinnerung, wie er gelächelt hatte, als er die brennende Stadt sah.
Shoky war immer noch nicht damit herausgerückt, was er eigentlich von unserem Plan hielt. »Du willst also, dass wir den Köder spielen?«, fragte er den Kater.
»Nicht ihr, sondern die Erwachsenen.« Der Kater lächelte nachsichtig. »Sie haben ja die Entscheidung getroffen, ebenfalls in den Kampf zu ziehen. Das kommt uns sehr zupass.«
Shoky erwiderte kein Wort.
»Die Freiflieger werden bemerken, dass wir anrücken, und uns am Fuß des Hauptturms erwarten.« Der Kater strich sich mit der Pfote übers Gesicht und fügte nachdenklich hinzu: »Ja, sie werden uns bemerken und sie werden uns erwarten… Die Erwachsenen werden den Bodenkampf so lange führen, bis die Freiflieger endlich ihre gesamten Kräfte aufbieten. Erst dann greifen die Flügelträger ins Gefecht ein. Sollte unser Feind zu diesem Zeitpunkt noch Reserven haben – beispielsweise zur Verteidigung des Turms oder der näheren Umgebung –, wird er diese daraufhin auch in den Kampf führen. In dem Moment dringen Danka, Len und ich in den Turm ein.«
»Und dann?«
»Das kann ich nicht sagen«, meinte der Kater in aller Entschiedenheit. »Aber wenn wir in den Turm eindringen, werden wir auch siegen.«
»Werden sich die Wolken verziehen?«, fragte Shoky.
»Auch das kann ich nicht sagen«, antwortete der Kater absolut ruhig.
Shoky studierte die Karte, über die sich eine achtlos eingezeichnete Linie zog. Das war der Weg zum Hauptturm der Freiflieger.
»Eine Frage noch, Kater. Unser Weg führt uns am Pass der Siebzehn vorbei. Dort steht ein Turm der Freiflieger…«
»Um den machen wir einen Bogen«, entschied der Kater.
»Ich führe meine Leute mit aller Wahrscheinlichkeit in den sicheren Tod«, sagte Shoky. »Ich muss ihnen unterwegs wenigstens einen kleinen Sieg spendieren.«
»In Ordnung«, meinte der Kater. »Dann zerstören wir ihn.«
Shoky stand vom Tisch auf und sah mich an. »Ich hoffe nur, ich mache keinen Fehler, wenn ich dir vertraue, Danka«, sagte er.
»Wenn es schiefgeht, dann werde ich sterben«, antwortete ich bloß.
»Das wäre nur gerecht«, meinte Shoky. »In einer Stunde brechen wir auf. Packt eure Sachen.«
Die Tür schlug hinter Shoky zu, wir blieben allein zurück.
»Was erwartet uns im Hauptturm, Kater?«, wollte ich wissen.
»Der Sieg«, antwortete er, während er sich putzte.
Mit einem Mal ekelte mich das alles an. Ich erhob mich, tigerte durchs Zimmer, blickte noch einmal auf Kurts Bild, auf das, wo die Freiflieger und die Flügelträger aufeinander zuflogen und am Horizont verschmolzen.
»Sag mal, Kater, sind wir eigentlich immer noch Freunde?«, fragte ich leise. Die Freiflieger und die Flügelträger formierten sich auf dem Bild zu einer endlosen Kette. Der Kater schwieg, und ich spürte, dass er mich ansah.
»Danka, mein Junge«, sagte der Kater mit einer völlig anderen, zärtlichen und traurigen Stimme. »Sei… wenn möglich… nicht böse auf mich… oder auf das Licht… Es stimmt schon, ich verhalte mich nicht gerade wie ein Freund. Verzeih mir.«
»Was hast du denn auf einmal?«, fragte ich und drehte mich zu ihm um.
Der Sonnenkater weinte.
»Was ist denn?«, fragte ich hilflos.
»Glaubst du etwa, es sei leicht, ein Werkzeug des Lichts zu sein?« Der Sonnenkater hob den Kopf. »Stimmt, ich bin im Grunde nicht dein Freund. Befreundet kann man nur sein, wenn man einander ebenbürtig ist. Aber ich führe dich auf den Weg, den du gehen musst, zwinge dich, schneller klug und erwachsen zu werden, als es eigentlich möglich ist.«
Im ersten Moment nahm ich ihm seine Worte übel, dann machten sie mich jedoch nur traurig.
»Ich verstehe dich ja, Kater… Ich glaube dir und ich mag dich.«
Der Sonnenkater schüttelte den Kopf. »Das brauchst du nicht, Danka. Das ist nicht das, worauf es für mich ankommt. Denn auch, dass du mich magst, macht uns nicht ebenbürtig…«
»Kater…« Ich streckte meine Hand aus und berührte sein warmes Fell. »Warum musste ich denn so schnell erwachsen werden?«
»Ein Junge hätte es nicht geschafft, das Wahre Schwert zu holen… oder den Weg bis zum Ende zu gehen.«
»Warum hast du dann nicht gleich einen Erwachsenen aus meiner Welt herausgeschleust?«
Der Kater schnaubte. »Ein Erwachsener wäre doch nie und nimmer mit mir mitgekommen! Erwachsene taugen bloß für Welten mit Photonen, Protonen und Laserpistolen. Verzeih mir. Und du brauchst mich wirklich nicht gernzuhaben.«
»Gut«, erklärte ich betont ernsthaft. »Dann werde ich dich eben nicht mehr gernhaben. Aber wenn wir gesiegt haben, dann können wir doch wieder Freunde sein, oder?«
»Wenn ich diesen Moment erlebe.«
Ich senkte den Kopf und presste den Kater an mich. Ich wollte seine Wärme, sein Licht und seine Ruhe spüren – und sei es nur für die Stunde oder die halbe oder wie viel Zeit uns blieb.
»Gegen wen muss ich mit dem Wahren Schwert kämpfen?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Das widerspräche dem Vorgehen des Lichts, Danka. Ich führe dich und zwinge dich, eine Entscheidung zu treffen. Dennoch bleibt es deine eigene Entscheidung. Bitte versteh das.«
»Und wenn ich es nicht verstehe?«
»Dann wird ein anderer Junge in diese Welt kommen.« Eine Weile blieb ich noch sitzen, den Kater an mich gedrückt. Irgendwann stand Len mit geröteten Augen vor mir. »Ich habe unsere Sachen gepackt, Senior.«
»Gut«, sagte ich. »Und noch was: Du brauchst…«
»Ich weiß«, unterbrach mich Len, »ich werde dich nicht mehr gern haben.«
Der Pass der Siebzehn hieß schon lange so, schon seit der Zeit, als es noch eine Sonne am Himmel gab. Irgendwie hatte ich geglaubt, bei den Siebzehn handle es sich um Flügelträger, die am Pass gekämpft hatten, oder um Freiflieger, die von einem tapferen Helden getötet worden waren. Aber nichts dergleichen. Siebzehn Menschen waren über den Pass gezogen, voll beladen mit Waren zum Verkauf. Eine Lawine begrub sie unter sich, riss sie den Hang hinunter – und brachte sie damit direkt zum Ziel ihrer Reise! Alle siebzehn hatten überlebt! Zur Erinnerung an dieses Ereignis erhielt der Pass seinen Namen.
Ich hörte Shokys Erzählung und zuckte nur mit den Schultern. Die Leute waren an ihr Ziel gekommen, was wollten sie mehr? Vom Hauptturm der Freiflieger trennte uns noch ein halber Tag.
Zunächst aber stießen wir auf jenen Turm der Freiflieger, den Shoky unterwegs zerstören wollte. Ein kleiner, gedrungener Bau, der wie ein Fass aussah, stand dicht an einer Felswand, über die ein popeliger Wasserfall plätscherte. Die Sturmeinheit der Flügelträger – fünfzig Teams hatte Shoky für den Angriff ausgesucht – schlichen sich entlang des Hangs an den Turm heran. Weitere dreihundert Flügelträger-Teams und rund fünfhundert erwachsene Männer hielten sich auf Abstand. Insgesamt waren das nicht gerade viel. Selbst in der Vergangenheit galten tausend Soldaten noch nicht als Armee.
»Was meinst du, sind da drin viele?«, erkundigte ich mich bei Shoky, der sich mit dem Angriffssignal Zeit ließ.
Der Senior der Flügelträger schüttelte bloß den Kopf. »Das werden wir gleich erfahren«, meinte er schließlich. »Mehr als ein Dutzend dürften es nicht sein.«
Doch da irrte Shoky sich.
Als die Flügelträger losstürmten, hagelten uns aus den Schießscharten des Turms die Pfeile nur so um die Ohren. An der Turmspitze klappte eine Luke hoch, aus der schwarze Schatten heraussprangen und auf uns zugeflogen kamen. Zwei Dutzend Freiflieger und weitere Armbrustschützen feuerten fast ununterbrochen.
»Die Wesen der Finsternis!« Shoky sprang auf und schaute erst mich, dann seinen Junior an. »Pass auf ihn auf!«, befahl er diesem.
Shokys Junior war ein stämmiger, kräftiger Junge um die fünfzehn. Er nickte, ohne etwas zu sagen. Shoky stürmte zum Turm.
»Würdest du lieber kämpfen?«, fragte ich den Jungen. Er gab mir keine Antwort. Offenbar mochte er mich nicht und seine Aufgabe ging ihm gewaltig gegen den Strich. Was war das auch, einen fremden Senior zu beschützen, der den Helden mimt, dabei aber jünger als man selbst ist! Obwohl mir diese Einstellung nicht gefiel, hielt ich den Mund. Denn den Schutz brauchte ich wirklich!
Als ich nämlich beschlossen hatte, mich der kleinen Sturmeinheit anzuschließen, hatten das weder der Kater noch Shoky gutgeheißen. Beide fanden, ich solle mein eigentliches Ziel nicht aus den Augen verlieren und mein kostbares Leben nicht aufs Spiel setzen. Pah! Alles hatte damit geendet, dass der Kater und Shoky nachgaben, mir aber das Schwert des Tuak abnahmen – damit ich mich bloß nicht in die Schlacht stürzte. Ich hatte keinen Widerstand geleistet, denn ich wollte ja gar nicht mitkämpfen, sondern nur mal allein sein. Um in Ruhe über alles nachzudenken – was ich nicht konnte, solange der Kater und Len in meiner Nähe waren.
Die Flügelträger und die Freiflieger schlugen wie wild aufeinander ein. Um den Turm kreisten zwei Schwärme, anders konnte man das nicht nennen. Schon nach kürzester Zeit brachte ich es nicht mehr fertig, Freund und Feind zu unterscheiden, es gab nur noch funkelnde Schwerter, das Schlagen der Flügel, das zu einem einzigen Knattern verschmolz, sowie ab und zu einen Schrei, kurz bevor ein Opfer abstürzte.
Bei diesem Kampf waren wir in der Überzahl. Die Freiflieger würden alle sterben.
Fast taten sie mir ein bisschen leid.
Der alte Freiflieger fiel mir ein, der in seinem Turm gestorben war. Was spielt es schon für eine Rolle, wofür du kämpfst, hatte er gesagt. Und ich? Hätte ich nicht tatsächlich ebenso gut bei den Freifliegern landen können?
Quatsch! Wie kamen diese komischen Gedanken in meinen Kopf? Schließlich wollte ich den Menschen helfen… dem Licht dienen…
Mit einem Mal begriff ich auch, warum ich unbedingt zu diesem Turm gewollt hatte. Ich brauchte ein Zeichen, einen Beweis dafür, dass ich recht hatte. Ich wollte nicht für das Licht sterben, sondern verstehen, warum ich diese Seite gewählt hatte.
Die leere Scheide des Wahren Schwerts wurde schwer. Das wunderte mich nicht. Es musste ein Zeichen geben und es musste eine Wahl geben. Der Weg, auf den mich der Sonnenkater geführt hatte, machte viele Biegungen…
Aus dem Knäuel der Kämpfer löste sich ein Freiflieger. Er flog knapp überm Boden, breitete die schwarzen Flügel aus und landete drei Meter vor uns. Das Blut am Schwert der Finsternis schimmerte rosa.
Shokys Junior trat einen Schritt vor, um mich zu decken.
»Du nicht!«, rief der Freiflieger und fuchtelte mit dem Schwert. »Geh weg. Ich will den da.«
Mein Bodyguard wartete. Er schätzte die Kräfte realistisch ein und spielte auf Zeit, um sich nicht in eine hoffnungslose Attacke stürzen zu müssen.
»Du hast es so gewollt!« Der Freiflieger machte einen raschen Ausfall. Shokys Junior duckte sich und versuchte, einen Treffer zu landen. Der Freiflieger parierte den Schlag und ging selbst zum Angriff über. Die Klinge wirkte wie eine Verlängerung seines Arms, seine Bewegungen waren präzise und entschlossen. Mir half der Wahre Blick, seinen nächsten Hieb zu erahnen, aber mein Beschützer verfügte nicht über dieses Können.
Ich jedoch hatte kein Schwert. Das Wahre Schwert musste noch auf meinen Wahren Feind warten – selbst wenn dieser finstere Junge, der mich nicht leiden konnte, inzwischen von dem Freiflieger kurz und klein gehackt wurde. Das sagte mir der kalte, erwachsene Teil meines Ichs, der mir geholfen hatte, das Labyrinth des Schwerts zu durchlaufen. Ich wusste, dass Shokys Junior sterben würde… und dass sein Tod mir jene wertvollen Sekunden sichern würde, in denen Hilfe kam.
Der Freiflieger drängte Shokys Junior gegen einen Felsblock, von denen hier mehr als genug herumstanden. Der Junior brauchte bloß zwei, drei Sekunden, um hochfliegen oder wenigstens auf den Stein springen zu können…
Ich stürzte mich von hinten auf den Freiflieger, auch wenn ich ganz genau wusste, dass ich keine Chance hatte. Er würde meine Bewegung bemerken – und mich mit seinem Schwert mitten im Sprung aufspießen. Ich würde sterben und nicht mal meinen Beschützer retten!
In Sekunden, die sich hinzogen und zu einer Ewigkeit ausdehnten, sah ich mit dem Wahren Blick, wie der Freiflieger den Rücken durchdrückte und das Schwert in seiner Hand erstarrte. Er spürte, wie ich ansetzte, und wartete auf den Schlag im Rücken.
Ich riss meine Hände nach vorn und schubste den Freiflieger mit aller Kraft. Die schwarze Figur schwankte, blieb aber stehen, als wäre sie aus Stein. Ich rutschte aus und fiel hin.
Der Freiflieger drehte sich um, bückte sich, packte mich mit einer raschen Bewegung beim Kragen und riss mich hoch. Sein Gesicht war genau vor meinem, ein erwachsenes, kaltes Gesicht. Und ein erstauntes. Ich nahm seinen Geruch wahr, den scharfen, unangenehmen Geruch von jemandem, der schon kein Mensch mehr war.
»Warum hast du das gemacht?« Die Lippen des Freifliegers bewegten sich fast gar nicht. »Du hättest dich raushalten müssen.«
»Und einfach nur zusehen?«, krächzte ich. Der Kragen schnürte mir die Kehle ab und ich bekam keine Luft mehr.
»Ja. Was sind deine Motive?«
Plötzlich verzerrte Schmerz das Gesicht des Freifliegers. Es wurde ganz grau. Sein Griff lockerte sich. Als ich diesmal fiel, konnte ich mich immerhin noch im letzten Moment mit den Händen abfangen. Auf der Erde sitzend, sah ich die Spitze von einem Schwert, die aus der Brust des Freifliegers herausragte. Shokys Junior hatte unser »Gespräch« nicht zur Flucht genutzt.
»Was sind eure Motive?«, wiederholte der Freiflieger, während er die Schwertspitze mit den Fingern betastete. »Was?«
»Für dich ist es zu spät, das zu begreifen«, antwortete ich, wobei ich ihm in die Augen blickte, die langsam erloschen.
Der Freiflieger, nur noch ein Haufen Schotter, krachte in sich zusammen. Als die Steinhand auf mich zukullerte, sprang ich weg.
»Was ist passiert?« Shoky landete schwerfällig neben uns. Er sah mich kurz an, dann ging er zu seinem Junior, der sein Schwert abwischte.
»Alles in Ordnung, Mission erfüllt«, erklärte der Junge finster. Hach, dieser Held! Mission erfüllt!
Shoky klopfte ihm auf die Schulter und schaute nach oben. Der Kampf am Turm war bereits entschieden. Die Flügelträger hatten die Plattform erobert und stemmten gerade die geschlossene Luke auf. Ihre Schwerter funkelten böse.
»Na, dann wollen wir mal Kleinholz aus dem Turm machen.« Shoky sah länger zu dem Turm hinüber und sagte unvermittelt: »Mein Bruder ist damals hierhergekommen, als er zum Freiflieger werden wollte.«
Ich nahm diese Worte hin, ohne mich darüber zu wundern. »Warten wir mit der Zerstörung noch, Shoky«, sagte ich. »Erst wollen wir uns das Fundament dieses Turms mal näher anschauen.«
Wir stiegen die Wendeltreppe hinunter, Shoky, sein Junior und ich. In einigen Räumen waren noch Flügelträger. Sie wühlten in den Schränken, schauten sich die fremden Waffen an und die Bücher, die mit seltsamen, schnörkeligen Zeichen geschrieben waren. Klar, so oft nehmen die Flügelträger keinen Turm ein! Trotzdem ärgerte mich dieser Beutezug.
Die Treppe führte uns in den Keller. Der war leer und dunkel. Das Visier half mir in dieser absoluten Finsternis nichts. Schimpfend trieb Shoky eine Fackel der Freiflieger auf, deren purpurrotes Licht immerhin besser war als nichts.
»Was suchst du hier unten?«, fragte Shokys Junior plötzlich. Es war das erste Mal, dass er mich ansprach.
»Hier muss irgendwo ein Sonnenstein sein«, antwortete ich hektisch.
»Bei den Freifliegern?« Der Ton des Juniors sagte mehr als tausend Worte.
Ich schaute mich noch einmal im Keller um, einem großen, runden Raum mit einem Steinfußboden.
»Wenn es hier einen Sonnenstein gibt, dann haben die Freiflieger ihn eingemauert«, bemerkte Shoky skeptisch.
Ich widersprach ihm nicht, sondern fing an, nach einer Luke zu suchen. Irgendwann spürte ich einen kalten Luftzug an der Hand, der aus einer Ritze im Boden drang, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen war.
Darunter gab es noch einen Raum, der etwas kleiner war und eine niedrige Decke hatte. In ihm standen Sessel, die zwar ganz gemütlich aussahen, aber aus steinhartem Holz waren. In der Mitte des Raums stand ein großes, niedriges Etwas, das mit einem Tuch aus schwarzem Stoff verhüllt war. Ich trat an das Ding heran und hob das Tuch vorsichtig hoch.
Das Tuch war ein Spiegel! Obwohl der Stoff weich und geschmeidig war, handelte es sich bei seiner Rückseite um einen richtigen Spiegel. Als ich das Tuch zur Hälfte weggezogen hatte, spürte ich eine Welle eisiger Kälte an meinen Beinen.
Shoky schrie auf und schirmte das Gesicht mit der Hand ab, sein Junior wich einen Schritt zurück. Den Spiegelstoff fest gepackt, bewegte ich mich im Rückwärtsgang zu den beiden hin.
So legte ich einen schwarzen Felsblock frei, von dem kaltes schwarzes Licht ausging.
»Das… das ist kein Sonnenstein«, erklärte Shoky. »Was ist das, Danka?«
Woher sollte ich das denn wissen? Ich schaute mich noch einmal um. Die Sessel standen im Kreis, der Felsblock lag in ihrer Mitte. Was hatten die Freiflieger in diesem Raum getan? Gebetet und dem schwarzen Stein einen heiligen Eid geleistet? Sich in den Eisstrahlen gewärmt? Sich von ihm »ernährt«, wie es der Sonnenkater ja auch mit Licht machte? Oder sich einfach entspannt? War das vielleicht ein Stein der Finsternis? Gab es so etwas überhaupt? Und wenn ja, was hatte es damit auf sich?
Ich versuchte, die Kälte zu ignorieren, die mir bis auf die Knochen drang, und näherte mich dem Stein wieder. Ich hockte mich neben ihn. »Kannst du vielleicht sehen und denken?«, fragte ich leise. »Denn wenn ich es hier mit Zauberei zu tun habe, ist schließlich nichts unmöglich, oder?«
Meine Hände und mein Gesicht wurden ganz taub, aber auch darum kümmerte ich mich nicht. Ich musste verstehen, was es mit dem Stein auf sich hatte, musste es einfach herauskriegen…
Den Flügelträgern jagte er eine Heidenangst ein, aber mir nicht. Ehrenwort. Ich hatte es verlernt, vor etwas Angst zu haben. »Was ist, Stein, leuchtest du vielleicht einfach andersrum? Schluckst du Licht, anstatt es auszusenden?«
Du leuchtest andersrum…
Ich streckte die Hand aus und berührte die schwarze Oberfläche. Sofort versengte ein höllischer Schmerz meine Finger, als steche jemand spitze Nadeln in meinen Körper und sauge mir alles Blut raus.
Es tat weh. Es war dunkel. Und leer.
Schlagartig begriff ich alles: Was es mit einem Sonnenstein auf sich hatte und warum Licht und Finsternis gegeneinander kämpften und wer mein Wahrer Feind war. Aber schon im nächsten Moment war mir dieses Wissen wieder entglitten. Der Stein unter meiner Hand vibrierte, als wollte er bersten.
Da fiel plötzlich Licht – warmes, gutes, fröhliches Wahres Licht – in den Keller. Ich verstand nicht auf Anhieb, dass jetzt nicht mehr Kälte meine Hand verbrannte, sondern Hitze, denn beides fühlte sich zum Verwechseln ähnlich an! Genau wie eben spürte ich spitze Nadeln, die mich jedoch diesmal mit Wärme vollpumpten.
»Licht…« Shokys Stimme zitterte. »Das war ein Fluch der Freiflieger. Hast du ihn aufgehoben, Danka?«
Shoky hielt sich immer noch die Hand vor die Augen, aber jetzt, um sich vor dem blendenden Licht zu schützen. Ob ich wollte oder nicht, ich musste lächeln.
»Ja, Shoky«, antwortete ich freundlich und ein wenig besserwisserisch, wie ich es manchmal auch tat, wenn ich mit Len sprach. Dann beugte ich mich zu dem Sonnenstein hinunter. »Dir ist es egal«, flüsterte ich, damit die Flügelträger mich nicht hörten, »welches Licht du aussendest, nicht wahr? Du hast es gut. Denn für dich ist alles einfach.«
Der Sonnenstein antwortete nicht. Möglicherweise konnte er mich ja tatsächlich hören, aber sprechen – das konnte er mit Sicherheit nicht. Ich wärmte mir die Hände über ihm, bevor ich aufstand. Shoky und sein Junior starrten wie hypnotisiert auf das Licht. Sie kriegten nicht mal mit, wie sich Risse in den Kellerwänden auftaten, wie ganze Steine knirschend zu Sand zerfielen.
»Gehen wir, Flügelträger«, forderte ich sie auf. »Der Turm der Freiflieger ist an dieses Licht nicht gewöhnt. In fünf Minuten stürzt er ein. Weg hier!«
Der Hauptturm der Freiflieger war schon aus weiter Ferne zu erkennen. Eine schwarze Nadel, die sich in den Himmel bohrte und die bald schrumpfte, bald wuchs, je nachdem ob unser Pfad uns bergauf oder bergab führte. Verzweifelt hofften wir, noch nicht entdeckt worden zu sein.
Len, der Kater und ich liefen am Ende der Kolonne. Als die kleine Armee aus Flügelträgern und Erwachsenen das nächste Mal Rast machte, aßen wir endlich etwas, bevor der an der Spitze marschierende Shoky zu uns kam.
»Ich glaube, die haben uns gesichtet«, teilte er umstandslos mit.
Der Kater sah Shoky mit einem ironischen Blick an. »Wie kommst du denn darauf?«, höhnte er.
»Das spüre ich.« Shoky nahm dem Kater seinen Ton nicht übel.
»Die haben uns schon seit Langem entdeckt«, erklärte der Kater. »Glaubst du etwa, es war ein Zufall, dass in dem Turm, wo Danka den Sonnenstein gefunden hat, so viele Freiflieger waren? Das war ihre letzte Warnung.«
»Ach ja?« Shokys Miene verfinsterte sich.
»Wir müssen uns jetzt teilen«, fuhr der Kater fort. »Wir haben unser Ziel, ihr eures.«
Ich entfernte mich ein Stück von ihnen und hockte mich auf den Boden. Der Kater erklärte Shoky immer wieder Punkte, über die wir uns längst geeinigt hatten. Len blieb noch eine Weile bei ihnen stehen, kam dann aber zu mir und setzte sich neben mich.
»Habt ihr hier Regen?«, fragte ich, während ich zu der dichten, grauen Wolkendecke hinaufschaute.
»Nur sehr selten«, antwortete Len.
»Wenn wir gewinnen, wird es auch wieder öfter Regen geben.« Plötzlich wollte ich ihm unbedingt etwas anderes versprechen als den unvermeidlichen Kampf im Turm.
»Schön«, meinte Len. Nachdenklich fügte er hinzu: »Es ist wahrscheinlich ziemlich dämlich, die ganze Zeit wie wild zu kämpfen und kurz vor Schluss zu sterben.«
»Wovon redest du denn da?« Meine Alarmglocken schrillten.
»Ich werde das Ende nicht miterleben, Danka«, sagte Len. »Das weiß ich.«
»Hör auf damit…«
»In mir drin wird es immer kälter«, sprach Len weiter, als hätte er mich nicht gehört. »Inzwischen jagt mir das nicht mal mehr Angst ein. Du weißt, was das heißt?«
Ich nickte. Warum sollte ich mich dumm stellen?
»Denk an den Schlüssel.« Als Len mir unvermittelt auf die Schulter klopfte, zuckte ich zusammen. Dabei war das eine völlig übliche Geste – nur eben nicht für Len. »Wenn die Flügel sterben, stirbt auch der, der sie trägt.«
Ich wollte ihm sagen, dass ich den Schlüssel nicht zerbrechen würde, niemals, unter gar keinen Umständen. Aber ich fürchtete, Len könnte die Lüge spüren. Deshalb schwieg ich.
»Denk an den Schlüssel«, wiederholte Len.
Schließlich kam der Kater zu uns, wir saßen beieinander und beobachteten, wie die Flügelträger und die Erwachsenen über den Pfad zogen.
Wir mussten über Berge kraxeln, über die kein Pfad mehr führte. Obwohl wir nur langsam vorwärtskamen, hetzte der Kater uns nicht. Wenn er nicht in Lens Armbeuge saß, krabbelte er ihm in den Ausschnitt und schlief dort, wobei er nur hin und wieder mal auftauchte, um uns den Weg zu weisen. Selbst als wir unser Nachtlager aufschlugen, wich der Kater meinem Junior nicht von der Seite. Schließlich wurde es mir zu bunt, und ich fragte ihn, was das sollte.
»Das ist meine Tarnung«, erklärte der Kater bereitwillig. »Mein Licht können die Freiflieger ohne Weiteres spüren, aber wenn ich in Lens Nähe bin, löscht er es.«
»Und ich tu das nicht?«
»Mit dir ist doch alles in Ordnung«, mischte sich Len plötzlich ein. Er streckte sich auf dem nackten Fels aus und wollte schlafen. »Um zu sehen, dass in deinen Augen ein Licht schimmert, muss man dir direkt gegenüberstehen… Aber dein Kater leuchtet meilenweit, wenn ich sein Licht nicht neutralisiere…«
»Alles machst du dir zunutze, Kater«, sagte ich leise. »Selbst ein Unglück. Selbst den Kummer.«
Der Kater ging scheinbar gar nicht auf meine Worte ein. »Viele Jahre haben wir ehrlich und anständig gegen die Kräfte der Finsternis gekämpft. Haben niemanden getötet oder in den Tod geschickt und sind kein unnötiges Risiko eingegangen… Währenddessen ist die Finsternis bloß erstarkt. Jetzt reicht es. Wir kämpfen ehrlich, doch wenn wir von einer Situation profitieren können, warum nicht?«
»Vor allem, wenn man die entsprechende Situation so leicht herbeiführen kann. Willst du nicht lieber im Unterstand schlafen, Len?«
»An den habe ich gar nicht gedacht«, antwortete Len leicht verblüfft. Er breitete die Arme aus, sein Flügeloverall blähte sich und verwandelte sich in ein Zelt.
Damit waren der Kater und mein Junior verschwunden. Nun baute auch ich mein Zelt auf.
In dieser Nacht hatte ich einen Traum, einen seltsamen Traum, in dem ich mit einem Freund sprach. Dabei hatte ich doch bisher nie einen Freund gehabt! Dieser erwachsene Freund hatte die Flügel eines Freifliegers. In der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Aber das war auch nicht wichtig. Ich brauchte einen Rat, allein darauf kam es mir an, auf den Rat. Was sollte ich machen, wenn das Licht sich als schrecklicher herausstellte als die Finsternis? Mit wem sollte ich dann in den Kampf ziehen? Wie schaffte ich es, weder mich selber noch meine Freunde zu verraten? Ich erzählte ihm alles, was passiert war, als ob wirklich ein Gesprächspartner vor mir stünde, obwohl ich doch genau wusste, dass ich schlief und verzweifelt an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit entlangbalancierte. Ich brauchte einen Rat – von meinem Freund im Traum, von meinem zweiten Ich, vom Licht, von der Finsternis…
»Versuchst du immer noch, Licht und Finsternis gegeneinander abzuwägen?«, fragte derjenige, von dem ich träumte.
»Ja.«
»Das bringt nichts. Vergleiche nicht eine Wahrheit mit einer anderen. Vergleiche die Menschen.«
»Warum?«
»Weil nicht der Glaube uns macht, sondern wir den Glauben. Kämpfe für diejenigen, die du liebst. Wenn du dabei auf der Seite des Lichts stehst, können diejenigen, die du liebst, stolz auf dich sein.«
»Ja«, sagte ich, während ich aufwachte. »Jetzt habe ich es verstanden.«
Wind wehte und schüttelte den Unterstand durch. Ich lauschte seinem jämmerlichen Pfeifen, bis ich hörte, wie sich Lens Zelt zurückverwandelte. Daraufhin stand auch ich auf, streckte die Arme aus und der feste Stoff schrumpfte knatternd zusammen.
Der Kater saß in Lens Armbeuge, sein Fell hatte sich vor Aufregung gesträubt.
»Es wird Zeit.« Der Kater nickte mir mit einem misstrauischen Blick zu. »Bist du bereit?«
»Ja. Du kannst stolz auf mich sein.«
Der Kater verstand nicht, was ich meinte.
»Wir brauchen uns nicht länger zu verstecken«, sagte er. »Die Flügelträger und die Freiflieger kämpfen inzwischen auf Leben und Tod. Fliegen wir zum Turm!«
»Und dort?«, fragte ich. Mir war wieder eingefallen, dass alle Flügelträger gestorben waren, die den Turm am Pass der Siebzehn angegriffen hatten. »Sollen wir uns etwa durch eine der Mauern graben? Oder landen wir oben auf der Plattform, wo uns alle sehen können?«
»Wir werden schon reinkommen«, antwortete der Kater. »Dort gibt es viele Türen… für solche wie uns.«
Wir stiegen in den kalten Himmel auf, und der Turm wuchs uns sofort entgegen, kroch hinter den Bergen hervor, diese schwarze Nadel, die in die Wolken stach. Er war ganz nah und die zehn Flugminuten verschmolzen zu einem einzigen kurzen Moment. Wie sehr ich mich in diesen Tagen an die Flügel gewöhnt hatte…
Einen Eingang fanden wir tatsächlich auf Anhieb. Der Kater sprang von Lens Arm runter und flog zielsicher auf eine der Schießscharten zu, die in den Turm in einer Höhe von zehn Metern eingelassen waren. Die Öffnung war durch ein feines Gitter gesichert, durch das nicht mal der Kater kriechen konnte. Er hing vor dem Spalt in der Luft und schaute uns erwartungsvoll an.
Aus irgendeinem Grund wollte er, dass ich die folgenden Worte aussprach.
»Versuch’s mal, Len«, bat ich meinen Junior.
Als das Gitter bei der Berührung seiner Hände in der Wand verschwand, zwängte ich mich als Erster durch die Schießscharte. Ich konnte es nicht mehr erwarten, die Gesichter meiner Feinde zu sehen. Und ich wollte endlich das Gewicht des Wahren Schwerts in meiner Hand spüren.
Aber niemand lauerte uns auf.
Im Turm war es dunkel und still. Wir befanden uns in einem kleinen Raum, der eine halbrunde Wand hatte. Durch eine offene Luke in der Decke führte eine Leiter, ein dünnes und unsolides Metallding, das überhaupt nicht hierherpasste. An der Wand brannte eine Fackel mit schwarzer Flamme. Durch das Visier konnten wir sogar in ihrem Licht, diesem rotlila Schummerlicht einer Dunkelkammer, etwas erkennen.
»Sie sind oben«, sagte Len tonlos.
»Sicher?«, fragte ich.
»Ich spüre sie«, erklärte Len ruhig. »Sie… sie rufen mich.«
Der Sonnenkater schielte alarmiert zu Len rüber, marschierte dann schweigend zur Leiter hin und flog parallel zu ihr durch die Luke ins nächste Stockwerk.
»Len!« Ich versuchte den kalten Klumpen, der in meiner Brust wuchs, zu ignorieren. »Du solltest da besser nicht raufgehen. Ich schaff das schon allein. Ich habe ja das Wahre Schwert.«
»Noch bin ich ja kein Freiflieger.« Lens Lippen verzogen sich zu einem seltsamen Lächeln, wie ich es noch nie an ihm gesehen hatte. »Ich kann durchhalten… solange wir zusammen sind.«
Ich stellte mich dicht vor ihn hin, fasste ihn beim Ellbogen und sah ihm in die Augen. Sie waren wie immer. Nur ganz tief unten, im schwarzen Abgrund der Pupille, zitterte der dunkelrote Widerschein der Fackel.
»Len, wir lieben dich. Wir glauben an dich…«
Das hätte ich mir auch sparen können. Das hier war weder der Ort noch der Zeitpunkt für solche Worte. Sie hingen in der Dunkelheit, leer und leblos, womit sie vorzüglich zu diesem Turm der Freiflieger passten – aber nicht zu Len und mir. Freiflieger können ebenfalls lieben und glauben, nur sehen ihre Liebe und ihr Glaube anders aus.
»Gehen wir, Danka«, meinte Len. »Der Kater wird schon wütend, das spüre ich.«
Er nahm inzwischen also schon Wut, Bosheit und Schmerz wahr!
»Gut, Len.« Ich nickte.
Die Eisensprossen der Leiter waren kalt. Ich kletterte voran, Len folgte mir. Weit oben, über unseren Köpfen, schwirrte als winziger orangefarbener Punkt der Sonnenkater.
Nach einer Weile gelangten wir in einen großen, runden Raum. Auch er war leer. Allerdings gab es hier mehr Fackeln, ihr purpurrotes Licht brannte in den Augen. Mitten im Raum schlängelte sich eine Wendeltreppe weiter nach oben.
»Müssen wir etwa ganz bis zur Spitze rauf?«, fragte ich.
»Nein.« Len schüttelte den Kopf. »Höchstens noch hundert Meter, mehr nicht.«
Als ich mir einen Anstieg von hundert Metern vorstellte, fingen meine Beine an, zu zittern. Und dann würden wir uns da oben auch noch mit den Freifliegern schlagen müssen…
»Hast du etwa Angst?«, fragte der Kater und sah mich scharf an.
Statt zu antworten, stapfte ich zur Treppe. Der Boden in dem Raum war mit schwarzen und weißen Fliesen ausgelegt, da und dort waren Luken eingelassen, aus denen Eisenleitern herausragten. Das hier musste eine Art Zentrale der Wachposten sein, zu der alle Wege aus den unteren Stockwerken des Turms führten. Nur gab es keine Wachen mehr, denn alle waren in den Kampf gezogen…
»Danka!«, schrie Len verzweifelt.
Ich wirbelte herum – und sah, wie aus der Luke, an der ich gerade vorbeigekommen war, ein schwarzer Schatten herausschoss. Der Freiflieger landete schwer und seine Krallen kratzten den Boden auf. Er starrte Len an. Über sein Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns. Dann betrachtete er den Kater und verzog das Gesicht, als tue ihm etwas weh.
Meine Freunde interessierten ihn nicht weiter. Bedenkenlos kehrte der Freiflieger ihnen den Rücken zu und steuerte auf mich zu. Angesichts seiner sicheren und festen Schritte schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Das ist mein Wahrer Feind! Ich griff mit der Hand an den Gürtel und wunderte mich nicht im Geringsten, dort den Griff des Wahren Schwerts zu spüren.
»Du bist gekommen«, sagte der Freiflieger. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich glaubte, aus seiner Stimme Freude herauszuhören. »Du bist einer von uns. Ich wusste es.«
Nun erkannte ich auch das Gesicht, das dem von Shoky so ähnelte.
»Ich bin keiner von euch!«, widersprach ich.
»Doch, doch«, sagte der Freiflieger in beruhigendem, sanftem Ton.
Ich grübelte immer noch darüber nach, ob ich das Wahre Schwert ziehen sollte, und vergaß dabei ganz, dass ich ja auch noch ein normales besaß.
In dem Moment sprang der Sonnenkater den Freiflieger an. Er landete auf dem Kopf des Freifliegers und rammte ihm laut fauchend die Krallen ins Gesicht.
Der Freiflieger schrie auf. Er riss die Hände hoch und wollte den Kater von seinem Gesicht wegzerren, konnte ihn aber nicht mal berühren. Das Fell des Katers loderte in einem blendenden weißen Licht, und vom Gesicht des Freifliegers stieg Rauch auf, als hätte das Licht ihn tatsächlich verbrannt.
Meine Betäubung ließ nach. Ich zückte das Schwert des Tuak und stürzte mich auf den Freiflieger. Der wälzte sich jedoch bereits auf dem Boden, presste die Hände vors Gesicht und winselte leise. Der Kater sprang von ihm runter und schwebte in der Luft. Rauchende schwarze Tropfen fielen von seinen Krallen auf den Boden.
Ich habe nur zwanzig Krallen, hatte der Kater mal gesagt. Zwanzig scharfe Krallen, wie sich jetzt gezeigt hatte!
Ich setzte dem Freiflieger meine Schwertspitze an die Kehle. Der hörte sofort auf zu heulen und rührte sich nicht mehr.
»Ich bin keiner von euch«, wiederholte ich, als ob es allein darum ginge.
»Das bist du doch«, entgegnete der Freiflieger überraschend ruhig. »Hast nur noch nicht die richtige Seite gewählt…«
»Und ob ich das habe!«
»Das kommt dir bloß so vor.«
Len, der sein Schwert ebenfalls gezogen hatte, kam zu uns. Irritiert sah er mich an: Worauf wartest du denn noch?
»Warum hast du mich nicht angegriffen, Freiflieger?«, flüsterte ich.
»Du hast mich entkommen lassen. Damals in den Bergen. War seitdem meine Pflicht, dich auf unsere Seite zu ziehen.«
»Soll ich ihn töten?«, fragte Len.
Ich schüttelte den Kopf.
»Das hättest du nie geschafft, Freiflieger. Ich habe meine Seite vor langer Zeit gewählt.«
»Dann bring mich um«, meinte der Freiflieger in einer Mischung aus Rat und Befehl.
»Das werde ich nicht tun«, sagte ich, wobei ich mich selbst über meine Worte wunderte. »Hau ab. Geh, wohin du willst. Die Finsternis wird untergehen und ihr alle mit ihr. Versteck dich besser im tiefsten Keller, denn hier wird es bald Wahres Licht geben.«
»Du dummer Junge. In unseren Kellern gibt es zu viel Licht. Dort kann ich mich nicht verstecken.«
»Was für ein Licht?«, mischte sich der Kater sofort ein. Der Freiflieger schielte zu ihm hin. Das Blut aus den unzähligen tiefen Kratzern war ihm in die Augen gelaufen. »Es gibt nur ein Licht und nur eine Finsternis. Wir bauen unsere Türme auf einem Fundament aus Sonnensteinen.«
»Um die Steine auf diese Weise vor den Flügelträgern zu verstecken?« Ich war mir sicher, recht zu haben.
»Nicht nur. Die Finsternis schöpft nämlich auch Kraft aus dem Licht.« Der Freiflieger setzte ein schiefes Lächeln auf, legte den Kopf in den Nacken und musterte Len. »Genauso wie das Licht aus der Finsternis«, schloss er dann.
Len stach zu. Ruckartig und ohne auszuholen, denn er hielt sein Schwert bereits zu nahe an der Brust des Freifliegers. Trotzdem reichte seine Kraft.
»Weshalb hast du das gemacht?«, fragte ich, während ich beobachtete, wie um die Klinge herum schwarzer Sand aus dem Freiflieger herausrieselte.
»Er ist unser Feind«, erklärte Len bloß.
Die nächsten Sekunden standen wir schweigend neben dem schwarzen Sandberg, der noch die Form des Körpers zeigte.
»Ich gehe jetzt runter«, erklärte der Kater schließlich.
»Ja, gehen wir«, stimmte ich ihm zu.
»Hier liegt ein Missverständnis vor. Ihr beide geht nach oben. Aber ich muss nachsehen, ob es da unten Sonnensteine gibt.«
»Wozu?«
»Sie bedeuten Kraft.«
Erst da begriff ich, dass er tatsächlich nicht mit uns hinaufgehen würde, um den Herrn der Finsternis zu suchen.
»Können wir denn ohne diese Kraft nicht gewinnen?«, wollte ich wissen.
»Diese Kraft brauchen wir für etwas anderes.« Der Kater war ganz offenbar nicht in der Stimmung für Erklärungen. »Geht jetzt! Und hab keine Angst, Danka. Ich bin sicher, dass du deinen Wahren Feind erkennen wirst… und dass das Wahre Schwert dir beisteht.«
Eine Glaswand schien uns voneinander zu trennen. Ich protestierte nicht, nickte nur und meinte: »Die auf dem Weg nach oben grüßen dich, Kater.«
Entweder verstand er die Anspielung wirklich nicht, oder er tat so, als ob. Jedenfalls stapfte er schnurstracks zu der Luke, aus der der Freiflieger gekommen war, und sprang in den dunklen Abgrund. Sofort wurde es im Raum schummriger.
»Vielleicht sollten wir lieber warten, bis er wieder da ist?«, meinte Len mit einer Stimme, die ganz fremd klang.
Ich sah ihn mir lange und aufmerksam an. Schließlich schob ich das Visier hoch. Zum Teufel mit diesem purpurroten Halbdunkel! Ich rang mich dazu durch, etwas zu tun, was ich mir geschworen hatte, nie wieder zu tun: Ich betrachtete Len mit dem Wahren Blick.
Len verschmolz fast mit der Finsternis. Von dem, was meinen Junior einmal ausgemacht hatte, war nichts mehr übrig. In seinem Körper, der immer noch der Körper eines Menschen war, herrschten ausschließlich Dunkel, Finsternis und Nacht.
»Len, dort in den Bergen kämpfen die Flügelträger in diesem Moment gegen die Freiflieger«, sagte ich. »Sie lenken die Freiflieger von diesem Turm hier ab. Wenn wir jetzt zögern, werden alle unsere Freunde umgebracht.«
Bildete ich mir das nur ein oder löste sich die Finsternis in Len wirklich ein wenig auf?
»Daran habe ich nicht gedacht…«
»Halte durch, Len. Wir sind fast am Ziel.«
Eine ganze Weile standen wir einander gegenüber. Ich hatte keine Angst mehr vor Len. Und er selbst schämte sich nicht mehr für das, was die Freiflieger mit ihm getan hatten.
»Möchtest du vielleicht hier warten?«, fragte ich.
»Das würde alles nur noch schlimmer machen.« Len wich meinem Blick aus.
»Dann lass uns raufgehen.«
Wir stiegen die Wendeltreppe weiter hinauf, dorthin, wo mein Wahrer Feind auf mich wartete. Noch immer hatte ich nicht die geringste Ahnung, wer es war: Der Herr der Finsternis oder… jemand ganz anderes.
Und das Wahre Schwert hing schwer in der Scheide und machte keine Anstalten, sich wieder zu dematerialisieren. Die Leiter führte uns aufwärts durch die steinerne Röhre des Turms, dem Kampf entgegen, der vielleicht unser letzter sein würde.
Es war ein sehr langer Weg.
Nachdem wir gut fünfzig Meter hochgeklettert waren, mussten wir wohl oder übel anhalten. Die Erschöpfung verlangte ihren Tribut. Natürlich hätten wir uns Kraft von den Flügeln holen können, aber dann hätten wir keine Reserve mehr für den Kampf gehabt.
Wir standen beide auf einer Stufe, Len lehnte mit dem Rücken an der Wand, ich am Geländer. Der runde Schacht war breit genug, um hinunterzufallen, aber zu schmal, um die Flügel zu spreizen. Da unsere Knie aneinanderstießen, spürte ich, wie Lens Beine zitterten.
Meine natürlich auch.
»Ich habe Angst, Danka«, gab Len plötzlich zu.
»Vor dem Herrn der Finsternis?«
»Äh… ja klar… vor dem auch.«
Entlang der Wendeltreppe gab es kaum Fackeln und Len konnte mich vermutlich selbst mit dem Visier nur schlecht erkennen. Dafür sah ich, wie sein Gesicht kreidebleich wurde.
»Wenn etwas passiert, Danka, denk an den Schlüssel. Er zerstört nicht nur die Flügel, sondern auch denjenigen, der sie trägt.«
»Hör auf!«, schrie ich, wobei ich für einen Moment vergaß, dass wir uns in Acht nehmen mussten. »Red nicht so einen Scheiß!«
»Ja, vielleicht rede ich Scheiß, aber du sollst trotzdem an den Schlüssel denken«, verlangte Len hartnäckig. »Und außerdem… Ich wollte dir noch sagen, dass du der beste Freund bist, den man haben kann. Danke, für alles.«
Was ich darauf antworten sollte, wusste ich nicht.
»Und noch was, selbst wenn das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist«, fuhr Len fort, »nur falls… ich es nachher vergesse. Freunde hat man nie für lange. Freunde sterben entweder oder verraten dich. Aber als du aufgetaucht bist, da habe ich geglaubt, diesmal ist alles anders. Nur hatte ich dann leider ziemlich Pech.«
Ich schluckte einen kratzenden Klumpen hinunter, der mir im Hals steckte, und wollte sagen, dass längst noch nichts verloren war, dass wir siegen würden und Len wieder der Alte werden konnte. Aber plötzlich streckte er den Rücken durch, stieß sich von der Wand ab und presste heraus: »Hauptsache, du stirbst nicht, ja?«
Stumm nahm ich seine Hand und wir blieben eine Weile so stehen. Wenn Worte leer klingen, dann sprich einfach nicht. Irgendwann setzten wir unseren Weg nach oben fort.
Dann endete die Treppe.
Der Raum war kleiner als der unten, denn hier war der Turm schmaler. In den runden Mauern gab es anstelle von Fenstern Spiegel, die vom Boden bis zur Decke reichten. Sie zeigten die schwarzen Fackeln, Len und mich, die anderen Spiegel… Der Raum wirkte endlos und schien in alle Himmelsrichtungen auseinanderzudriften.
»Hier sind wir richtig«, sagte Len.
Obwohl im Raum niemand war, spürte ich, dass Len recht hatte. Vielleicht weil von den Spiegelwänden eine Kälte ausging, die sogar durch den Flügeloverall drang.
Die Wendeltreppe führte zwar noch weiter hinauf, ging durch die Decke ganz bis zur Spitze des Turms. Aber auch ich wusste, dass wir nicht mehr weiter hoch mussten. Wir waren am Ziel.
Zwischen den Spiegeln waren Graffiti in unverständlichen Buchstaben oder Runen in die Wände geritzt. Als ich sie mit dem Wahren Blick betrachtete, zuckten sie und krümmten sich. Die Flammen der Fackeln flackerten, als wehe durch den Raum ein Wind, den wir nicht spüren konnten.
»Wir sind hier!«, schrie ich. »He, wir sind da!«
Schlagartig packte mich Angst: Was, wenn niemand auftauchte? Wenn es keinen Kampf geben würde? Wenn alles bliebe wie bisher?
»He!«, schrie ich noch einmal.
»Ich bin auch hier«, sagte jemand mit hölzerner Stimme hinter mir. Ich wirbelte herum und sah gerade noch, wie die schwarze Figur eines Freifliegers aus einem der Spiegel trat.
Stimme und Gesicht dieses Freifliegers kannte ich nur zu gut.
»Hau ab, Iwon«, meinte ich ohne jede Furcht. »Wir sind nicht deinetwegen hier. Spendier dir noch ein paar Minuten Leben… falls ihr eure Existenz Leben nennt. Wir brauchen den Herrn der Finsternis, den Herrn der Freiflieger.«
»Ich bin der Herr«, antwortete Iwon ungerührt, während er näher kam.
»Du lügst!«, widersprach ich intuitiv.
Iwon zuckte mit den Schultern. »Herr der Finsternis – das ist die Bezeichnung der Flügelträger«, sagte er. »Wir nennen ihn den Gegenwärtigen. Und der Gegenwärtige ist derjenige, der am besten mit einem akuten Problem zurechtkommt. Das Problem bist du. Der Gegenwärtige bin ich.«
»Und mich lässt du dabei ganz außer Acht?«, fragte Len heiser.
»Ja, sozusagen. Was willst du von uns, Danka?«
»Ich will nichts von euch. Ich will etwas für die Flügelträger. Ich will das Licht.«
»Das Licht?« Iwon zuckte abermals mit den Schultern. »Weshalb bist du sicher, dass das Licht besser ist als die Finsternis? Momentan betrachtest du alles aus der Sicht des Lichts… und von dieser Seite aus ist es schwierig, etwas über die Finsternis zu erfahren. Versuche erst mal, uns zu verstehen, dann entscheide.«
»Wer die Finsternis versteht, für den gibt es kein Zurück zum Licht.«
»Vielleicht liegt das ja daran, dass die Finsternis besser zu den Menschen passt?«
Was sollte ich darauf antworten?
»In dir steckt etwas sehr Starkes, Danka«, fuhr Iwon fort. »Das Licht hat dich zuerst gefunden und auf seine Seite gezogen. Das war Pech. Aber wieso soll das Licht besser sein als die Finsternis? Verrate mir das!«
Diese Frechheit brachte mich zum Lachen. Len brach ebenfalls in Gelächter aus, wenn auch in ein verhaltenes.
Iwon verzog die Lippen ungeschickt zu einem Lächeln. »Gut, wir sind die Finsternis«, sagte er. »Aber wir gießen kein Schwarzes Feuer über Städten aus.«
Len fuhr zusammen, als hätte er eine gewischt bekommen. Mir wurde schlecht.
»Wir haben das Schwarze Feuer nicht über die Menschen gegossen… und sie angelogen…«
»Ihr entführt sie und macht sie zu Freifliegern!«
»Nur selten. In der Regel kommen sie freiwillig zu uns. Nicht wahr, Len? Dich hatte Kurt doch auch schon beinahe überredet. Erst im letzten Moment hast du gekniffen. Du bist ein Feigling, und das ist sehr schlecht, wenn du für das Licht bist. Du bist ein dummer Angsthase. Bei uns hättest du es viel leichter… Warum hast du dich in unser Leben eingemischt, Danka? Willst du den Helden spielen? Das wird dir nicht glücken. Das Wahre Schwert allein bringt dir überhaupt nichts. Du musst auch deinen Wahren Feind kennen…«
Iwons Worte trafen mich wie schwere, eiskalte Hagelkörner. Ich versuchte, mich vor ihnen zu ducken, ihnen zu entkommen, denn darauf etwas antworten – das konnte ich nicht.
»Willst du wieder nach Hause, Danka?«
Wie bitte? Ich ließ sogar den Schwertgriff los.
»Eine Tür war im Tal… aber die ist mit Schwarzem Feuer begossen worden. Verborgene Türen mögen das nicht und verbrennen sofort. Die zweite Tür hast du selbst zerstört, Danka. Zusammen mit unserem Turm. Ich nehme dir das nicht übel, denn du hast ja geglaubt, das Richtige zu tun. Aus Sicht der Finsternis hast du dir insofern nichts zuschulden kommen lassen. Unser Pech, wenn du stärker bist als wir… Aber die dritte Tür existiert noch. Schau doch mal auf die Wand hinter mir.«
Stimmt, da gab es eine Verborgene Tür. Eine Holztür, bemalt mit weißer Ölfarbe und mit einem Glasknauf.
»Geh zurück in deine Welt, Danka. Überlass den Streit zwischen dem Licht und der Finsternis denjenigen, die schon keine Menschen mehr sind, und denjenigen, die noch nie Menschen waren. Überlass ihn demjenigen, der zwei Jungen in den Tod schickt, während er selbst gerade zu Mittag isst.«
Er wusste alles über mich und den Sonnenkater. Und darüber, was im Turm vor sich ging.
»Entscheide dich, Danka. Ja, wir sind Feinde und werden es auch bleiben. Aber wir müssen uns nicht gegenseitig umbringen. Geh in deine Welt. Von mir aus mit Len, wenn du das willst.«
»Daraus wird nichts, Iwon«, schaltete sich Len ein. »Ich werde nicht von hier weggehen, ist das klar? Das ist mein Land. Und wenn ich nicht fortgehe, wird Danka auch bleiben!«
Jetzt wandte sich Iwon an Len: »Tut mir leid, Len. Sie haben dich gut bearbeitet. Wie könnte ich dich da noch umstimmen…? Kurt!«
Len trat dicht neben mich. Aus einem Spiegel – nicht aus jenem, aus dem Iwon gekommen war, sondern aus einem anderen – stieg ein zweiter Freiflieger heraus.
Ihn kannte ich nicht – im Unterschied zu Len.
Als er noch ein Mensch gewesen war, musste er neunzehn oder zwanzig Jahre alt gewesen sein. Das ist das Höchstalter für einen Flügelträger. Aber das galt nicht für die Freiflieger – sie hinderte das Alter nicht am Fliegen.
»Hallo, Junior!«
Seine Stimme klang warm und wie die eines Menschen. Allerdings hatte ich den Eindruck, es koste Kurt gewaltige Mühe, mit dieser Stimme zu sprechen.
»Ich bin nicht dein Junior.« Lens Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Doch. Hast du vergessen, wie ich zu dir gekommen bin und dir vorgeschlagen habe, mein Partner zu werden? Wie du dich gefreut hast, als du die ersten Flügel bekamst? Und wie ich dir dann das Fliegen beigebracht habe?«
Len zitterte wie im Fieber. Ich stellte mich neben ihn, aber das schien er gar nicht mitzukriegen.
»Du hättest damals keine Angst haben sollen, ein Freiflieger zu werden, Junior. Es ist gar nicht so schlimm, wie du denkst. Und es tut auch nur am Anfang weh. Aber das macht nichts, Len. Du bist eben auf deinem eigenen Weg zu uns gekommen. Für uns ist das kein Problem. Bloß das Licht kennt nur einen einzigen Weg, der gerade wie ein Strahl sein muss. In der Finsternis dagegen existieren Abermillionen von Wegen. So oder so wärst du irgendwann bei uns gelandet. Jetzt sind wir wieder zusammen.«
Ich sagte kein Wort, denn ich wusste, dass ich mich da nicht einmischen durfte.
»Ich habe dir deinen Schlüssel zurückgegeben, Junior, denn du hast Angst bekommen und wolltest umkehren. Du hättest ihn nicht wieder weggeben sollen. Danka wird ihn dir nicht zurückgeben. Stimmt’s, Danka?«
Len drehte sich um und sah mich an. Mir konnte nur eine Lüge helfen, das wusste ich. Genauso, wie ich wusste, dass ich auf gar keinen Fall lügen durfte.
»Ich werde ihn nicht hergeben. Es ist ein Geschenk. Solange ich lebe und solange du lebst, werde ich ihn nicht hergeben.«
»Da siehst du’s«, sagte Kurt. »Aber keine Bange. Wir retten dich, selbst wenn die Flügel deinen Körper umbringen. Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin jetzt wieder dein Senior.«
Er trat dicht an Len heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. Und Len bewegte sich nicht, er rückte nicht von ihm ab!
»Das könnte dir so passen«, zischte ich.
Len drehte sich zu mir um. »Danka…«, flehte er mich an.
Dann verstummte er.
Kurt redete weiter beschwörend auf ihn ein. »Du kannst Danka nicht so sehen wie wir. Sonst hättest du ihn schon früher durchschaut. Er ist erwachsen, hinterhältig und gnadenlos. Du hättest nie eingewilligt, sein Junior zu werden, wenn du ihn je so gesehen hättest. Wenn Danka selbst ein Freiflieger werden würde, wenn wir ihn nicht umbringen müssten… Ja, das würde natürlich alles ändern. Vielleicht würden wir dann sogar Freunde werden – wie das die Menschen nennen.«
»Wir werden nicht zu Freifliegern! Und wir sterben nicht!« Ich knallte die Hand wieder auf den Griff des Wahren Schwerts.
»Wenn du kein Freiflieger wirst, stirbst du.« Iwon fuchtelte mit den Armen und kalter Wind umwehte mich.
»Wir sind zu dritt!«, drohte Kurt mir.
»… und du ganz allein«, schloss Len leise.
Sollte es das gewesen sein?
Ich wich zurück, Richtung Mauer, Richtung der Spiegel, dorthin, wo die Kälte herkam.
Nein, noch war nicht alles verloren. Auf Len bräuchte ich natürlich mit dem Wahren Schwert nicht loszugehen. Schließlich hatte ich ja seinen Schlüssel.
Damit war die Frage: Wer von den beiden? Iwon oder Kurt? Derjenige, der damals als Strafe meine Menschenaugen verlangte, oder derjenige, der es jetzt auf meinen Freund abgesehen hatte?
Oder brauchte ich hier weder den Schlüssel noch das Schwert? Irrte ich mich?
Die Häuser, die im Schwarzen Feuer loderten.
Shoky, der weinte.
Der alte Gert, der das Licht nun doch nie wieder sehen würde.
Und war dieses Licht wirklich so sehenswert?
»Danka!« In Lens Stimme lag ein bittender und flehender Ton. »Lass uns mit ihnen mitgehen! Wir brauchen keine Angst zu haben! Sogar ich fürchte mich nicht…«
»Du bist ja auch nie ein Feigling gewesen«, antwortete ich meinem Junior. »Du konntest nur deine Angst nicht so gut verstecken wie andere. Und Angst haben wir alle. Sogar Kurt und Iwon. Jeder von ihnen fürchtet sich, dass ich das Wahre Schwert gegen ihn ziehe.«
Die Klinge klirrte, als ich sie aus der ledernen Scheide zog. Es war ein ganz normales Schwert. Es leuchtete nicht mit einem Zauberfeuer und sprang mir nicht aus der Hand, um meinen Feind zu ermorden.
Es war ganz einfach ein Wahres Schwert. Die Gesichter von Kurt und Iwon wurden kreidebleich.
Mit meiner freien Hand holte ich aus der Innentasche meines Flügeloveralls den Schlüssel. Als ich Lens Blick auffing, schüttelte ich den Kopf.
»Ich will ihn doch nicht zerbrechen, Len. Ich will ihn nur in der Hand halten – bis alles vorbei ist. Es ist ein Geschenk von dir – und ich habe noch nicht oft ein Geschenk von einem Freund bekommen. Denn bisher hatte ich keine Freunde.«
»Wofür brauchst du das Licht überhaupt, Danka?«, schrie Iwon. Er hatte vor Angst die Kontrolle über sich verloren.
»Ich weiß es nicht«, gab ich ehrlich zu. »Ich mag die Dunkelheit einfach nicht. Vielleicht kennt das Licht tatsächlich nur einen einzigen Weg – aber wenigstens sind alle anderen Wege in ihm sichtbar. Du brauchst keine Angst zu haben, Iwon. Und auch du, Kurt, weichst ohne Grund vor mir zurück. Das Wahre Schwert ist nicht für euch bestimmt. Ich habe meinen Wahren Feind gefunden.«
Sie blickten synchron zu Len rüber. Der starrte mich unverwandt an. Mein Junior stand ganz dicht neben mir, mit der Schwertspitze hätte ich ihn berühren können, ohne einen Schritt zu machen.
Doch ich drehte Len den Rücken zu und schaute in den Spiegel. Betrachtete mich selbst, mein erwachsenes und begriffsstutziges Ich. Das nicht verstand, warum ich den Schlüssel immer noch nicht zerbrochen und Iwon nicht mit dem Wahren Schwert umgebracht hatte.
»Also darauf würde es hinauslaufen, wenn ich mich erwachsen verhalte?«, sagte ich zu meinem Spiegelbild. »Du solltest nie etwas tun, das du für falsch hältst, und dich damit rausreden, dass Erwachsene es so machen.«
Daraufhin hämmerte ich mit dem Schwert auf den Spiegel ein, der in tausend feine Scherben zersplitterte. Jede einzelne von ihnen zeigte mein zitterndes, sterbendes Gesicht.
Es tat weh. Sehr weh.
Als ob sich Tausende von Nadeln überall in meinen Körper bohrten.
Die purpurroten Flammen der Fackeln brannten kurz matter. Ich hörte ein leises Geräusch, mit dem ein weiterer Spiegel zerbrach. Komischerweise spiegelte ich mich in dem schon gar nicht mehr. Weder so, wie ich jetzt war, noch als Erwachsener. Dann barsten nach und nach alle Spiegel, als wären sie miteinander verbunden. Silberne Funken wirbelten durch die Luft.
Scherben übersäten den Boden und im Raum war es jetzt viel dunkler. Dafür hatte sich jedoch auch die Kälte verzogen, die von den Wänden ausgegangen war.
»Wie bist du darauf gekommen?«, fragte Iwon erstaunt. »Egal! Dein Schwert ist weg. Dein Spiel ist aus.«
Stimmt, das Wahre Schwert war verschwunden. Es hatte sich so schnell und selbstverständlich dematerialisiert, dass ich gar nicht auf Anhieb begriff, dass meine Hand leer war. Den Schmerz spürte ich noch, der sickerte langsam von der Haut tief in meinen Körper ein. Unbeholfen tastete ich nach dem Gürtel und zog das zweite Schwert, die Arbeit des Gnoms Tuak.
»Das nützt dir nichts«, sagte Kurt. »Wir sind zu dritt. Wir sind stärker. Wirf das Schwert weg.«
Sie mussten jetzt nicht mehr wie Menschen reden.
Das Schwert mit beiden Händen vor mir hochhaltend, wartete ich ab. Kurt rückte von rechts an mich heran, Iwon von links. Nach einer Weile zog auch Len zögernd sein Schwert und folgte Iwon.
Ich strengte den Wahren Blick so sehr an, wie es ging, stieg aber trotzdem nicht hinter ihre Absichten. Vielleicht weil die Klingen der Freiflieger mit einem schwarzen Licht loderten, das mir in den Augen brannte.
»Wir sind in der Überzahl.« Iwon grinste, aber irgendwie krampfig, sozusagen aus alter Gewohnheit. »Du hast verloren.«
»Wir sind gleich stark – und verloren habt ihr«, meinte Len da plötzlich.
Sofort schlug er auf Iwon ein, der sich gerade zu ihm umdrehte.
Lens Schwert war eine ganz normale Klinge, und er rammte sie seinem Gegner nicht sehr tief in den Körper, höchstens zehn Zentimeter. Doch die kleine Wunde genügte völlig. Iwon schrie noch, mit einer wimmernden Stimme, als sein Körper bereits anfing, zu versteinern.
Jetzt stand uns nur noch Kurt gegenüber. Er sprang auf Len zu und seine Klinge aus blendender Finsternis bohrte sich in die Brust meines Juniors.
»Du warst schon immer viel zu romantisch!«, rief er, während er zustieß.
Ich stand nur da wie erstarrt und beobachtete, wie Len auf den scherbenbedeckten Boden sackte und aus seiner Brust ein Rauchfaden aufstieg, der sich nur mit dem Wahren Blick erkennen ließ. Die Schwerter der Freiflieger nehmen ihren Opfern immer etwas. Aber anscheinend hatte Kurt diesmal nur Finsternis erhalten.
Ihn anzugreifen war dumm, aber ich konnte nicht einfach dastehen und tatenlos zuschauen, wie Len starb. Deshalb stürzte ich mich auf Kurt und schlug zu.
Er riss sein Schwert hoch und kappte die Klinge des Tuak direkt am Griff. Der Waffenhändler hatte das schlechte Metall nicht grundlos bemängelt. Schon im nächsten Moment ging Kurt wieder auf mich los, allerdings nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Fuß, und trat mich so, dass ich im hohen Bogen bis an die Wand geschleudert wurde und dort hinknallte.
Komisch, aber ich hatte überhaupt keine Angst. Kurt stapfte auf mich zu, und seine Krallen kratzten über den Fußboden. Eine Spiegelscherbe, auf die ich gefallen war, steckte schmerzhaft in meiner Hand. Mein Rücken tat vom Aufprall weh. Mein zweites Wesen, der Erwachsene in mir, existierte nicht mehr. Trotzdem hatte ich keine Angst.
Kurts Hand packte mich beim Ausschnitt meines Flügeloveralls und riss mich hoch. »Das war’s dann wohl, Danka.«
»Du hast einmal gut gezeichnet, Kurt!«, brachte ich heraus, während ich gierig nach Luft rang.
»Ich zeichne immer noch gut. Sehr gut.«
»Schade, dass ich keine Bilder mehr von dir zu sehen kriege.«
Die Scherbe steckte nach wie vor in meiner Hand, diese spitze Glasnadel. Die ich jetzt Kurt mit aller Kraft in den Bauch jagte.
Kurts Hand löste sich von meinem Ausschnitt. Er ließ mich fallen, aber auch das Schwert. Wie in Zeitlupe und mit klappernden Zähnen zog er die Scherbe aus seinem Körper.
Mir blieben nur wenige Sekunden. Ich bückte mich und griff nach Kurts Schwert. Prompt ließ Schmerz mich aufschreien. Die Waffe hatte mir die Hand verbrannt.
Die Schwerter der Freiflieger waren nichts für mich. Vermutlich weil in mir zu viel Licht wohnte…
Mit der Schuhspitze kickte ich die Klinge weg. Sie schlitterte über den Boden, um dann scheppernd die ausgetretenen Stufen der Wendeltreppe hinunterzufallen. Irgendwann verstummte das Geschepper, und zwar ganz abrupt. Wahrscheinlich war das Schwert in den Schacht gefallen…
»Du zögerst es nur hinaus«, sagte Kurt, während er sich nach Lens Schwert bückte. Doch er zuckte zurück. Anscheinend konnte er die Waffen der Gegenseite ebenfalls nicht benutzen. »Aber ich bin stärker.«
Klar war er stärker. Schließlich war ich erst vierzehn! Und er schon zwanzig. Außerdem brannte in ihm die Finsternis und er befand sich auf ureigenem Terrain.
»Ohne Len…« Kurt schielte zu seinem ehemaligen Junior. »…wärst du schon in den Bergen gestorben. Mein Fehler. Ich hätte ihn nicht gehen lassen sollen. Den Mistkerl!«
Absolut gelassen und gleichgültig trat er Len in die Seite.
Len war tot, ihm konnte das egal sein…
Mir aber nicht.
In meinen Stoß legte ich die ganze Kraft, über die meine Flügel noch verfügten. Und alle Genauigkeit, die mir der Wahre Blick erlaubte. Ich schleuderte Kurt in Richtung der Verborgenen Tür.
Keine Ahnung, was ich mir davon versprach. Dass Kurt am Stein zerschellte oder dass…
Kurt flog drei Meter, bevor er mit dem Rücken gegen die Tür knallte. Sie schwang auf, so leicht, als ob sie hundertmal pro Tag aufginge, öffnete sich sperrangelweit, direkt ins grelle Sonnenlicht hinein, in die Menge, die durch eine belebte Straße in einer unbekannten Stadt eilte.
Der Freiflieger gab keinen Ton von sich. Er führte seinen Kampf wortlos, streckte die Arme aus, und aus seinen Fingern fuhren spitze, lange Krallen heraus, mit denen er sich am Türrahmen festhakte. Kurt starrte mich an, als er auf der Grenze zwischen den Welten balancierte. Hinter ihm gingen Menschen vorbei, völlig unbeirrt. Sie blickten nicht mal zu ihm hin.
Es war dann das Sonnenlicht, das Kurt fertigmachte. Er versuchte immer noch, durch die Tür zurück in seine Welt zu gelangen, doch seine Arme versteinerten bereits, und die schwarze Membran der Flügel segelte wie federleichte Ascheflocken durch die Luft, auf die Menschen, auf die beleuchtete Schwelle, auf die Verborgene Tür.
Mit einem leichten Klatschen stürzte Kurts Körper in sich zusammen, zerfiel zu Staub. Erst jetzt reagierten die Menschen auf ihn und wichen ihm aus. Genau in dem Moment hielt auch die Mauer um die Verborgene Tür herum nicht mehr stand. Das Sonnenlicht hatte sie geschmolzen wie ein Dampfstrahl ein Stück Eis. Die Steinmauer krachte nach außen weg und Finsternis trat an ihre Stelle.
Die Verborgene Tür war verschwunden.
Ich rannte zu dem Loch, durch das kalter Wind hereinwehte. Die Steine fielen immer noch nach unten, denn bis zum Fuß des Turms waren es mindestens zweihundert Meter. Das, was noch von Kurt übrig war, landete in meiner Welt.
Tief in meinem Herzen wusste ich, dass ich ihn auch selbst hätte umbringen können. Dass ich Lens Schwert hätte nehmen und in dem Moment zuschlagen können, als Kurt versucht hatte, sich in den Turm zu retten. Aber ich war froh, dass mir das erspart geblieben war, denn ich wollte nicht töten.
Und gemalt hatte er ja wirklich gut.
Ich ging von der Mauer weg, zurück zu Len, hockte mich neben ihn und machte mich ungeschickt daran, seinen Puls zu ertasten. Dabei genügte ein Blick auf seine Wunde, um zu wissen: Das hatte absolut keinen Sinn.
Hartnäckig hoffte ich trotzdem auf ein Lebenszeichen – auch wenn sein Herz längst nicht mehr schlug.
Ich saß immer noch neben der eingekrachten Mauer, die leere Scheide des Wahren Schwerts im Schoß, und betrachtete den reglosen Len, als der Sonnenkater auf mich zugerannt kam.
»Ich habe gewusst, dass du deinen Wahren Feind erkennen würdest«, sagte er bloß.
»Du weißt immer alles im Voraus«, antwortete ich.
»Nein, Danka! Ich habe nicht damit gerechnet, dass… dass Len…«
Er hockte sich vor Len hin und berührte sein Gesicht mit der Pfote. Anschließend rieb er seinen Kopf an Lens Wange. Irgendwo in der Leere, die sich in mir breitgemacht hatte, flammte ein kleiner, warmer Stern auf.
»Du bist ja gewachsen, Kater! Du bist jetzt fast ein richtiger Zauberer! Also mach ihn wieder lebendig!«
»Was mich daran hindert, ist dieses #›fast#‹«, brummte der Kater und kam zu mir.
Eine ganze Weile sahen wir uns an, bevor ich schließlich sagte: »Du willst mir also weismachen, dass wieder alles okay ist? Die letzte Verborgene Tür zur Erde ist zerstört, die Sonne scheint hier immer noch nicht, mein Freund ist tot – aber du findest, dass alles in Butter ist!«
Von den Bergen wehte kalter Wind herüber, der sich über die günstige Gelegenheit zu freuen schien, mal durch einen Turm zu fegen, der ihm vorher verschlossen war. Der Wind brachte Brandgeruch mit – den Geruch verbrannter Menschen.
Shokys Worte fielen mir wieder ein. Das ist unser Leben. Wir haben uns an dieses Gleichgewicht gewöhnt, das du zerstören willst.
»Zwischen Licht und Finsternis darf es kein Gleichgewicht geben«, sagte der Kater heiser.
Aha! War der Kater jetzt also imstande, meine Gedanken zu lesen!
»Ja, und was heißt das? Wie geht es jetzt weiter?«, fragte ich und legte die Scheide des Wahren Schwerts auf den Boden. Ich würde sie nicht mehr brauchen. Nie wieder. Dann stand ich auf, ging rüber zu Len, setzte mich neben ihn und bog ihm die starren, kalten Finger der Faust langsam auf. Damit er nicht auch noch im Tod weiterkämpfen musste.
»Was machst du da?«, wollte der Kater wissen.
»Ich verabschiede mich von ihm«, antwortete ich und schloss die Augen. Hätte noch gefehlt, dass ich jetzt anfange zu heulen.
»Danka, wir haben gesiegt! Nimm dir das nicht so zu Herzen. Sicher, Len kommt nicht zurück, aber…«
»Gesiegt, ja? Und wo bitte schön ist die Sonne?«
»Die Sonne bin ich.«
»Was?« Ich kriegte einen Lachkrampf, machte die Augen aber immer noch nicht auf. »Du? Wohl als Sonne im Westentaschenformat!«
»Nein, ich werde recht groß sein«, erklärte der Kater ohne einen Hauch von Ironie. »Hier im Keller lagern hundert Tonnen Sonnensteine, Danka. Ich werde ihr Licht trinken, groß wie dieser Turm werden, und ich werde sehr hell leuchten.«
»Aha«, sagte ich spöttisch. »Und wie lange wird dir dieses Licht reichen?«
»Nicht sehr lange. Ein paar Tage nur. Aber du erinnerst dich vielleicht noch, dass die Liebe ebenfalls Wahres Licht ist, oder? In dieser Welt leben Millionen von Flügelträgern, denen nichts geblieben ist außer ihrem Glauben, eines Tages kehre die Sonne in ihre Welt zurück. Sie werden mich lieben, und diese Liebe… dieses Licht wird mir reichen, um für sie zu scheinen.«
»Und wenn sie dich irgendwann nicht mehr lieben? Wenn sie vergessen, was die Finsternis ist… und was das Licht.«
»Dann werde ich sterben«, antwortete der Kater bloß. »Aber ganz ehrlich, das habe ich nicht vor.«
»Das hatte Len auch nicht.«
Darauf wusste er nichts zu sagen.
»Und jetzt? Hängst du dich jetzt am Himmel an den Platz ihrer alten Sonne?«, fragte ich.
»Nein, Danka, wo denkst du hin? Dafür bin ich zu klein. Aber ich werde um ihre Welt herumfliegen. Das entspricht nicht ganz ihrer Sonne… ist aber immerhin etwas.«
»Du bist schon großartig«, meinte ich. »Das hast du gut geplant. Geh jetzt und iss dich satt.«
Über uns schlugen leise Flügel. Ich hob nicht mal den Kopf, um mich zu vergewissern, ob es ein Flügelträger war – oder nicht doch ein Freiflieger.
»Was ist dein größter Wunsch, Danka?«, wollte der Kater plötzlich wissen.
»Ich will nach Hause.«
»Ich werde dir dabei helfen.«
»Wirklich?« Ich sah den Kater an. »Und wie?«
»Wenn ich erst mal die Sonne bin, Danka, wird mir nicht mehr daran gelegen sein, dir zu helfen. Das wird mir zu klein, zu belanglos erscheinen. Verzeih mir.«
»Ist schon okay.« Ob ich wollte oder nicht, ich musste grinsen. Mir fiel wieder ein, wie ich den Kater in den Armen gehalten hatte und er vor Hunger beinahe gestorben wäre. Wie klein er damals gewesen war und wie unglücklich. Und wie ich geweint hatte, weil ich nicht wusste, wie ich ihn retten konnte.
»Mir wird nur ein winziger Augenblick zur Verfügung stehen«, fuhr der Kater mit ernster Miene fort. Wenn er meine Gedanken gelesen hatte, verriet er das durch nichts. »Ein Moment, in dem ich bereits ein Wahrer Zauberer bin, mich aber auch noch an unsere Freundschaft erinnere. In diesem Moment kann ich dir jeden Wunsch erfüllen.«
»Soll ich ihn dir verraten?«, fragte ich ganz leise.
»Das brauchst du nicht, Danka. Denn ich erfülle deinen Wahren Wunsch. Nicht das, worum du bittest, sondern das, was du wirklich willst.«
Ich schaute zu Len hinüber. Die Finsternis war ganz aus seinem Gesicht verschwunden. Er sah wieder genauso aus wie früher, ein ganz normaler Junge mit blasser Haut. Len hätte mir meinen Wunsch verziehen. Und ich? Würde ich mir auch verzeihen?
»Und was will ich, Kater?«
»Viel«, sagte der Kater nach kurzem Zögern. »Dass Len nicht tot ist, dass du das Wahre Schwert wieder in Händen hältst, dass ich nicht fortgehe, dass die Sonne scheint. Aber mehr als alles andere willst du offenbar zurück nach Hause.«
»Dann geh«, forderte ich ihn auf.
Als hätte der Kater nur auf diese Worte gewartet, rannte er die Wendeltreppe hinunter. Einen Moment lang hörte ich noch das Trappeln seiner Pfoten, dann war alles still.
Ich ging neben Len in die Hocke und streichelte über seine kalte Hand. Vor Freunden hatte ich jetzt keine Angst mehr, selbst vor toten nicht. Ein Freund verrät dich oder stirbt – so oder so verlierst du ihn. Len zum Beispiel war gestorben. Der Kater lebte noch, aber…
Ich trat an die aufgerissene Mauer und blickte in die Tiefe. Ich könnte Len in meine Arme nehmen, im Gleitflug mit ihm nach unten segeln und dort warten, bis der Turm einstürzt und aus seinen Ruinen der ehemalige Kater hinauf in den Himmel fliegt. Noch im selben Moment würde ich mich zu Hause wiederfinden… während die Flügelträger hier die Sonne genießen, Len mit allen Ehren beerdigen und über mich eine schöne Legende spinnen würden. Dass ich im Kampf gestorben war. Oder das genaue Gegenteil: dass ich das Licht verraten hätte, zum Freiflieger geworden wäre, von Len umgebracht worden wäre, ihn aber auch noch hätte töten können.
Nein, ich würde nicht aus dem Turm fliehen. Und Len sollte auch hierbleiben. Wenn der Turm einkrachen würde, würde er sich in ein Denkmal für Len verwandeln.
Ich stand lange an dem Loch, schaute hinunter und über die Berge, in denen immer wieder das Schwarze Feuer aufzüngelte. Die Flügelträger und die Erwachsenen waren immer noch im Kampf mit den Freifliegern, aber sie würden es schon schaffen. Gleich würde an ihrem Himmel die Sonne scheinen und die Freiflieger würden panisch in alle Richtungen fliehen. Oder sie würden in der Luft versteinern und als schwarzer Staub auf die Berge niederrieseln.
Als der Turm erzitterte und schwankte, wusste ich, dass die Verwandlung des Sonnenkaters in die Sonne begonnen hatte. Außerdem wurde mir schlagartig klar, dass ich nicht mir nichts, dir nichts in meinem Zimmer landen würde. Zunächst mal würde eine neue Verborgene Tür entstehen.
Das beruhigte mich total. Mit einem Wahren Zauberer, der deine geheimsten Wünsche kennt, legst du dich besser nicht an. Austricksen kannst du ihn natürlich auch nicht. Aber du kannst sein Geschenk ablehnen. Falls du den Mut dazu findest.
Und zumindest davor fürchtete ich mich nicht.
Die Steine bröckelten aus den Mauern heraus. Die Fackeln, die mit schwarzen Flammen gebrannt hatten, verloschen eine nach der anderen, als tobe irgendwo ein Hurrikan, den ich weder sehen noch spüren konnte. Der Turm bebte, auf dem Marmorboden entstanden Zickzackrisse. Mit einem langen Heulen krachte die Wendeltreppe ein. Ich hörte, wie unten die ersten Teile aufschlugen, während die oberen Stufen immer noch durch den Turm in die Tiefe sausten.
Ich hockte mich neben den toten Len und legte meine Hand auf seine Schulter.
»Keine Angst, ich lasse dich nicht im Stich«, flüsterte ich. »Du hast mich ja auch nicht verraten.«
In der Tiefe des Turms donnerte es grollend. Die Finsternis um uns herum erzitterte: Um den Turm herum brach sich das Licht seine Bahn. Die Wolkendecke am Himmel ging in Flammen auf und die Welt verwandelte sich von einer Sekunde auf die nächste aus einer tiefschwarzen in eine feuerrote. Der Turm neigte sich langsam und unaufhaltsam zur Seite.
»Du hast mich doch nicht vergessen, Kater?«, schrie ich in die sich auflösende Finsternis. »Und selbst wenn! Deine blöde Verborgene Tür werde ich trotzdem nicht aufmachen!«
In diesem Moment riss ein weißer Strahl den Fußboden auf. Über den Steinen bildete sich Schaum und sie zerfielen. Als der Strahl mich traf, tat das jedoch überhaupt nicht weh. Ich spürte bloß die Wärme, die in meinen Körper strömte. Das war es also, das Wahre Licht…
Als ob sich hundert Sonnenkater an mich schmiegten, um mich mit ihren Körpern zu wärmen.
Ich dachte gar nicht darüber nach, was ich tat. Ich wusste einfach, was nötig war. Ganz langsam, um ja keinen Tropfen des Lichts zu verschütten, streckte ich mich neben Len aus. Eine Hand legte ich ihm aufs Gesicht, die andere auf die Brust, genau auf die Stelle, an der das Schwert der Finsternis in ihn eingedrungen war. Ich spürte, wie das Licht durch mich hindurchrauschte und in Len floss. Der Turm neigte sich immer tiefer und tiefer. Doch die Wunde unter meinen Fingern brauchte ewig, um sich zu schließen.
»Warum hältst du mich denn im Arm?«, fragte Len mit schwacher Stimme. In dem ganzen Gepolter hörte ich ihn kaum. Trotzdem wartete ich noch ein paar Sekunden ab, bis er sich bewegte und die letzten Tropfen Licht in ihn eingedrungen waren.
Erst dann sprang ich auf. »Weg hier, Len!«, brüllte ich, obwohl ich davon überzeugt war, dass es für uns zu spät war.
Ich schubste ihn zu dem Loch in der Mauer. Viel Kraft brauchte ich dafür nicht, denn inzwischen hatte sich der Turm stark geneigt und war kurz vorm Einstürzen. Als ich sah, dass Len zögerte, weil er nicht begriff, was hier vor sich ging, gab ich ihm einen Tritt in den Hintern. Er taumelte und fiel in die Tiefe. Dann sprang ich selbst. Im Fallen breitete ich die Flügel aus.
Der Turm hatte anscheinend nur auf diesen Moment gewartet. Die oberen Stockwerke brachen ab und segelten sanft nach unten, wobei sie sich noch in der Luft in einzelne Steinblöcke auflösten. Dann knickte der Turm in der Mitte ein, genau an der Stelle, wo die Mauer fehlte. Ich sah, wie Len, der etwas unter mir flog, die Flügel spreizte. Vor dem leuchtenden Untergrund hob sich seine Silhouette klar wie eine Zeichnung ab. Als der Steinregen auf uns einprasselte, wusste ich, dass wir ihm nicht entkommen konnten.
In diesem Moment spaltete sich unter uns der Boden und eine Sonne stieg auf.
Sie erinnerte überhaupt nicht mehr an den Kater. Es war eine ganz normale Sonne! Okay, sie war ziemlich klein, hatte vielleicht nur einen Durchmesser von rund zwei Kilometern und wirkte etwas puschelig. Wir fielen direkt in sie hinein.
Die schwarzen Steine, aus denen der Turm erbaut war, loderten auf und zerfielen zu Staub. Wir dagegen schwebten einfach durch die Sonne hindurch wie zwei Staubkörner durch einen gigantischen Sonnenstrahl.
Ich spürte nichts als Wärme. Na ja, ich hatte auch noch den Eindruck, eine raue Zunge würde mir über die Wange lecken. Aber vielleicht täuschte ich mich da auch.
Drei Kilometer vom Turm entfernt landeten wir. Da existierte der Turm allerdings schon gar nicht mehr. Nur eine riesige Staubwolke hing noch in der Luft. Am Himmel strahlte die Sonne, die auf ihrem Weg zum Zenit war. Momentan wirkte sie etwas zu groß, aber natürlich würde der Kater in eine solche Höhe aufsteigen, dass sie wie eine echte Sonne aussah. Dann würde er um diese Welt kreisen. So lange, wie ihn alle liebten.
Ich stand da, betrachtete die Sonne und weinte. Len kam mit angelegten Flügeln zu mir.
»Man darf doch nicht in die Sonne schauen, Danka«, brachte er zaghaft hervor.
»Doch«, flüsterte ich, nachdem ich den Kloß in meinem Hals runtergeschluckt hatte. »Doch, Len, in die schon. Das ist unser Kater.«
Wir blieben so lange stehen, bis die Sonne wie eine echte aussah. Das heißt natürlich: wie eine Sonne von der Art, wie ich sie kannte.
»Was ist denn mit mir los gewesen, Danka?«, fragte Len.
»Die Trümmer haben uns unter sich begraben«, log ich. »Der Kater hat uns dann gerettet. Danach ist er zu einer Sonne für deine Welt geworden.«
»Ach ja, wir waren verschüttet«, meinte Len, wenn auch nicht gerade überzeugt. Er betastete seinen an der Brust aufgerissenen Flügeloverall, stellte jedoch keine weiteren Fragen.
»Jetzt werdet ihr erleben, wie die Sonne auf- und untergeht«, sagte ich zu Len. »Und nachts könnt ihr Sterne sehen, das sind die Sonnen der anderen Welten. Dann gibt es noch den Regenbogen und… und…«
Ich musste schon wieder weinen. Len nahm mich in den Arm.
»Sag mal, Danka«, meinte er, »habe ich mir das nur eingebildet oder ist die letzte Verborgene Tür in deine Welt…«
»Sie war im Turm.«
»Und was willst du jetzt machen?«
Ich sagte kein Wort.
»Und der Kater? Konnte er dich nicht nach Hause bringen, bevor er sich in die Sonne verwandelt hat?«
Auch diesmal gab ich keine Antwort.
»Ich… ich danke dir.«
»Jetzt hör schon auf mit dem Scheiß«, blaffte ich ihn an, wobei ich spürte, wie die Leere in meiner Brust schmolz, und zwar völlig, bis auf den letzten Rest. An ihre Stelle trat Licht. Oder Wärme. »Du an meiner Stelle hättest dasselbe getan.«
»Und wer war dein Wahrer Feind, Danka?«
»Frag mich das nicht, ja?«
»Okay. Wollen wir gehen?«
»Warum gehen? Wir fliegen.«
Ich breitete die Flügel aus. Die armen Dinger hatten ordentlich was abgekriegt! Vom heißen Boden stieg Wind auf, den ich abpasste, ohne vorher mit dem Wahren Blick hinzusehen. Len folgte mir. Wir stiegen immer höher, ohne ein Wort zu sagen, immer weiter nach oben, als wollten wir den Kater einfangen, um uns von ihm zu verabschieden oder ihm einfach für alles zu danken. Doch als die Landschaft tief unter uns wie ein bunter, wenn auch etwas düsterer Teppich dalag – nämlich ganz in Schwarz, Grau und Braun, mit nur wenigen dunkelgrünen Grasflecken – und als uns die Luft ausging, da wussten wir, dass die Sonne zu hoch für uns stand.
»Jetzt wird alles anders!«, rief ich Len zu, während ich gierig einatmete. »Weißt du, wie schön bald die Wälder, Felder und Flüsse aussehen werden, wenn du über sie drüberfliegst?«
»Weißt du es denn?«
»Ich kann es mir vorstellen!«
Len lachte. Ein kühler Wind strich über uns, flüsterte mit leiser Stimme und erlaubte uns, zu segeln. Und nirgends gab es noch Finsternis. An keiner Stelle. Ich wusste, dass sogar dort, wo das Licht des Sonnenkaters noch nicht schien, die Finsternis der ganz normalen Nacht gewichen war. Die Flügelträger würden die Sterne sehen, die Freiflieger mussten sich in den tiefsten Höhlen verstecken.
»Wir haben eine Sonne!«, schrie Len.
»Wir haben Licht!«, stimmte ich ein.
»Wir haben Flügel!«
»Wir haben uns!«
Wir lachten wieder los und steuerten im Gleitflug auf die Berge zu, dorthin, wo die Flügelträger gegen die Freiflieger gekämpft hatten. Wir brauchten uns nicht abzusprechen, wohin wir fliegen wollten.
Die anderen erwarteten uns offenbar schon.
Eine kleine Gruppe von Flügelträgern stand auf einem Hochplateau, von wo aus sie die Reste des Turms sehen konnten. Die Ruinen interessierten sie aber gar nicht, ja, nicht mal die Sonne fesselte sie – sie hatten nur Augen für uns. Als ich Shoky ausmachte, freute ich mich. Dann sah ich allerdings, wie viele tote Flügelträger ringsum auf den Felsen lagen – und meine ganze Freude verpuffte.
»Ihr habt uns die Sonne zurückgebracht«, sagte Shoky, nachdem wir gelandet waren. In seiner Stimme hörte ich keine Freude, sondern nur Verwunderung.
»Wir alle haben sie zurückgebracht«, widersprach ich, doch Shoky schüttelte nur den Kopf.
»Und was jetzt?«, fragte er. Er stellte die Frage in einem Ton, der nicht etwa spöttisch war, sondern so, als ob er von mir einen Befehl erwartete.
»Was ihr wollt!«, mischte sich Len ein. »Wer möchte, kann für die Händler arbeiten. Oder ihr könnt einfach leben.«
Shoky nickte ergeben.
»Sind viele umgekommen?«, fragte ich überflüssigerweise.
»Vor allem von den Erwachsenen«, antwortete Shoky. »Die Freiflieger haben sie erwischt, bevor wir zuschlagen konnten.«
»Hat jemand was zu essen?«, erkundigte sich Len.
Von allen Seiten streckten sich uns Hände entgegen, mit den Resten des jeweiligen Flugproviants. Die Flügelträger wussten, in welchem Maße die Flügel unsere Kraft aufsaugten, und niemand hielt die Frage für frech. Während wir aßen, erzählte Shoky uns, wie der Kampf verlaufen war, wie die Freiflieger die Erwachsenen in eine Schlucht abgedrängt hatten, aber gleichzeitig ihre Verteidigungsposten nicht verlassen hätten. Erst als sie nicht mehr mit einem Angriff rechneten und ihre Aufmerksamkeit nachließ, hätten die Flügelträger sie aus dem Hinterhalt angreifen können.
»Fast keiner von ihnen ist entkommen«, schloss Shoky mit bitterem Hass. »Als dann die Sonne aufging, sind die Letzten von ihnen in der Luft versteinert.«
Bestimmt gab es noch viel, was er uns erzählen konnte. Über jede Minute der Schlacht und davon, wie seine Freunde gestorben waren. Nur wollte ich das alles im Moment nicht hören. Und Len anscheinend auch nicht.
»Wir fliegen jetzt«, erklärte ich Shoky.
Shoky verstummte mitten im Wort.
»So schnell schon?«, fragte er traurig. »Müsst ihr noch irgendwas erledigen?«
»Nein«, schaltete Len sich ein. »Wir sind hundemüde. Wir fliegen nach Hause und schlafen uns aus.«
»Sicher«, meinte Shoky. »Kann ich vielleicht mit euch mitfliegen?«, fragte er so plötzlich, als sei ihm dieser Gedanke gerade gekommen. »Ich muss in der Stadt Bescheid geben, wie die Lage ist.«
Ich zuckte die Schultern. Warum nicht?
Shoky rief einen der Senioren zu sich, an den ich mich vage von meinem ersten und einzigen Besuch im Club erinnerte.
»Gnat, du und Alkk, ihr übernehmt das Kommando über die Flügelträger. Ich fliege in die Stadt. Ihr durchkämmt die Umgebung und die Ruinen des Turms. Wo ist eigentlich Alkk?«
Gnat runzelte die Stirn. »Sein Junior wurde verletzt«, erklärte er. »Sie sind da drüben, am Abhang.«
Ohne ein Wort zu sagen, ging Shoky hinüber zum Hang. Len und ich folgten ihm.
Alkk kannte ich, er hatte bei meinem Besuch im Seniorclub mit Shoky zusammengesessen. Wahrscheinlich waren die beiden Freunde.
Als wir auftauchten, hob Alkk den Kopf und lächelte hilflos und unnatürlich. Er hockte da, den Kopf seines Juniors im Schoß. Der war noch ganz jung, elf vielleicht. Der Flügeloverall des Juniors war an der Brust zerfetzt, rosafarbener Schaum blubberte an der Stelle heraus.
»Und das«, sagte Alkk zusammenhanglos, »ist passiert, da war die Sonne schon aufgegangen. Kannst du uns nicht helfen, Senior Danka?«
Ich schüttelte bloß den Kopf. Ich hatte keinen einzigen Tropfen Wahres Licht mehr, alles hatte ich an Len abgegeben, ohne das geringste bisschen zurückzubehalten.
»Und was sollen wir jetzt machen?« In Alkks Frage lag eine Hoffnung, als ob ich ein berühmter Arzt oder ein mächtiger Zauberer wäre. Letzteres dachten sie vermutlich wirklich von mir.
»An ihn glauben und ihn lieben«, wiederholte ich die Worte des Sonnenkaters. »Wir haben nichts anderes als unseren Glauben und unsere Liebe und wir hatten nie etwas anderes.«
Bisher war ich noch nie mit einem richtigen Senior geflogen. Deshalb behielt ich Shoky neugierig im Auge, als wir jetzt zu dritt in die Stadt zurückflogen.
Okay, er flog ziemlich schnell und passte die Strömungen manchmal dermaßen gut ab, als verfüge er über den Wahren Blick. Wahrscheinlich half ihm seine jahrelange Erfahrung. Allerdings ließ sein Flug jene Leichtigkeit und Schönheit vermissen, die du bei jedem Junior beobachten kannst. Sein Gesicht war konzentriert, als müsse er eine schwere Arbeit erledigen.
Shoky eine Pause anzubieten verbot sich von selbst. Andererseits konnte ich kaum mit ansehen, wie er flog. Doch mir kam der Zufall zu Hilfe.
An einer schmutzigbraunen Hügelkette, wo Pfützen im Sonnenlicht verdampften und die seltenen Grasflecken grün leuchteten, erspähten wir plötzlich eine Karawane.
Ich wunderte mich darüber sehr, denn die Sonne stand erst seit einer guten Stunde am Himmel, da würde sich ja wohl kaum jemand in der Welt der Flügelträger schon mit der täglichen Arbeit befassen. Trotzdem setzten die Händler ihren Weg fort.
»Siehst du sie?«, rief ich Shoky zu. Der nickte und schien sich über die Möglichkeit einer Pause zu freuen.
»Landen wir!«, rief ich und ging bereits tiefer.
Die Karawane kam langsam zum Stehen. Die Begleitsoldaten postierten sich um die Büffel herum und legten ihre Armbrüste an.
Die sollten es bloß wagen!
Ich ging zwanzig Meter vor der erstarrten Karawane runter, kurz darauf landeten Len und Shoky, die schwarzen Flügel ausgebreitet, neben mir. Zu dritt marschierten wir auf die kleine Gruppe an der Spitze der Kolonne zu. Sie bestand aus mehreren Soldaten und zwei Händlern, nein, Händlerinnen.
»Hallo, Danka«, begrüßte mich Garet mit einem Winken. Reata, die hinter ihr stand, zwinkerte mir zu.
In mir drin wurde alles leer und mein Herz hämmerte wie wild. Garet kam mir ein paar Schritt entgegen und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Freut mich, dass du gewonnen hast«, sagte sie. »Glücklicherweise kämpft die Dämmerung nicht gegen das Licht. Denn diese neue Welt hier braucht viel… sehr viel aus anderen Welten. Und nur wir können den Samen für die Felder liefern, die Tiere für die Weiden, das Glas für die Fenster…« Garet lächelte. »Sonnenbrillen und Sonnencremes.«
»Und bezahlt wird dann mit Licht?«
»Nein, natürlich nicht. Es gibt Waren, die bringen weitaus mehr ein als Licht, Danka. Gute Krieger zum Beispiel kosten erheblich mehr.«
Ich schwieg. Ich hatte nicht die Absicht, mich mit den Händlern rumzustreiten. Das Einzige, was ich ihnen am liebsten gesagt hätte, war: Verpisst euch ein für alle Mal!
Aber ausgerechnet Garet konnte ich diese Worte nicht ins Gesicht sagen.
»Die Dämmerung kämpft nicht gegen das Licht«, wiederholte Garet. »Beide sind stark genug, um sich den Frieden leisten zu können. Darauf lief alles hinaus, seit dem Zeitpunkt, an dem du den Kater getroffen hast. Es verlief alles nach seinem Plan.«
»Nicht alles«, sagte ich leise, damit Len es nicht hörte. »Dort im Turm habe ich zum Beispiel gemacht, was ich für richtig hielt…«
»Das ist wahr«, bestätigte Garet zu meiner Überraschung bereitwillig. »Deshalb gefällst du mir ja auch, Danka.«
Trotz dieser freundlichen Worte wich ich zurück, als würden sie mir Angst einjagen. Es war in der Tat so: Die Dämmerung kämpfte nicht gegen das Licht, das Licht nicht gegen die Dämmerung. Aber Frieden gab es zwischen den beiden auch nicht. Konnte es nicht geben.
»Lebt wohl«, wünschte ich Garet oder der ganzen Karawane, das wusste ich nicht genau. Vielleicht auch meiner eigenen Kindheit.
»Leb wohl«, erwiderte Garet. »Wir werden uns unter diesem Himmel nicht Wiedersehen.«
Meine Flügel schmerzten, als ich in den Himmel hinaufstieg – den blauen Himmel mit der puscheligen orangefarbenen Sonne. Die Flügel schrien nach einer Pause, aber ich musste jetzt einfach in Bewegung bleiben.
Zum Glück stellten weder Len noch Shoky eine Frage. Wir flogen weiter, weg über die nackten Berge, über kleine Flüsse und die Türme der Freiflieger, die sich in Trümmerhaufen verwandelt hatten, über die Städte der Flügelträger, durch deren Straßen eine bunte Menschenmenge zog, weil alle Leute aus ihren Häusern strömten.
Über Lens Stadt war der Himmel allerdings leer, in den Straßen entdeckte ich nur ganz kleine Kinder. Hier waren fast alle in den Krieg gezogen.
»Ich fliege zum Platz«, informierte Shoky mich, als wir tiefer gingen. »Wir müssen allen Bescheid sagen…«
»Ich fliege da nicht hin, tut mir leid.« Ich sah Shoky herausfordernd an – er akzeptierte meine Entscheidung jedoch. Fast körperlich spürte ich den Schmerz in Shokys Flügeln, als er da so in der Luft schwebte.
»Das war mein letzter Ausflug, Danka«, sagte Shoky seltsam feierlich. »Ich bin zu schwer, ich werde nicht mehr fliegen können. Aber ich bin froh, dass wir diesen Kampf gemeinsam durchgestanden haben… Schade, dass ich es nicht war, der dich gefunden hat.«
Was sollte ich ihm darauf antworten?
Shoky streckte mir die Hand hin, was sehr schwer ist, wenn du auf der Stelle flatterst, und berührte meine Schulter.
»Die Frau des Händlers hat gesagt, ihr würdet euch unter diesem Himmel nicht Wiedersehen. Auch wir werden uns nie Wiedersehen. Das fühle ich. Vielen Dank, dass wir den Himmel sehen können. Leb wohl.«
Er legte die Flügel an und schoss im Sturzflug nach unten. Erst knapp über den Boden bremste er ab.
»Was ist mit ihm?«, krächzte Len.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Fliegen wir nach Hause, Len.«
Wir landeten auf unserem Turm und gingen über die Wendeltreppe runter ins Haus. Als Erstes zog ich den Flügeloverall aus, warf ihn aufs Bett, ließ mir Badewasser ein, blieb zwanzig Minuten in der Wanne und wusch mir den süßen Brandgeruch und den staubfeinen Sand ab. Danach duschte ich mich eine gute Minute mit eisigem Wasser und schrubbte mich mit dem Handtuch trocken, bis es schmerzte.
Jetzt war mein Kopf wieder klar, sogar meine Laune hatte sich gebessert. Die Müdigkeit war jedoch nicht verflogen, sie hatte sich bloß tief in mein Inneres verkrochen. Ich zog mir Shorts an und ging rüber in mein Zimmer.
In meinem Bett schlief Len. Den Flügeloverall hatte er noch immer an, und die schwarze Membran der Flügel zitterte leicht, als reagiere sie auf seine Träume. Vermutlich hatte Len auf mich gewartet, um mit mir zu reden, doch dann hatte ihn die Müdigkeit überwältigt.
Ich legte mich neben ihn, verschränkte die Arme unterm Kopf und starrte stumpf an die Decke. Ich glaubte, nicht einschlafen zu können, denn der Turm des Herrn der Finsternis, der Wahre Feind, der tote Len und der Sonnenkater beschäftigten mich noch viel zu sehr. Aber Len atmete im Schlaf absolut gleichmäßig, außerdem fiel ein schmaler Lichtstrahl durch die nur halb vorgezogene Gardine herein und streichelte mit seiner Wärme meine Hand.
Da schlief ich dann doch ein.
Ich wachte so ruckartig auf, als hätte mich jemand angestoßen. Mein ganzer Körper tat weh, wahrscheinlich hatte ich dermaßen tief geschlafen, dass ich mich nicht ein einziges Mal gerührt hatte. Len hatte sich auf die Seite gedreht, sein Gesicht bohrte sich in meine Schulter.
Vorsichtig, um meinen Junior nicht zu wecken, stand ich auf, ging rüber zum Fenster und zog die Gardinen ganz zurück. Wie schön, dass Lens Haus fast am Stadtrand lag. Die Sonne ging gerade am Horizont unter, nur der obere Rand lugte noch funkelnd über den Bergen hervor. Kein einziges Haus nahm mir die Sicht auf die Sonne, und weiches Abendlicht strömte ins Zimmer.
»Gibt es nachts Sterne?«, fragte Len verschlafen, während er sich im Bett aufsetzte.
Ich hatte nicht bedacht, dass man die Flügelträger wohl leichter mit Licht weckt als mit einem Knuff in die Seite oder einem Eimer kaltem Wasser.
»Mit absoluter Sicherheit«, verkündete ich.
Len kam zu mir ans Fenster, eine Weile standen wir Hand in Hand nebeneinander und beobachteten den Kater, der hinter den Horizont kroch.
»Wie fängt man einen Sonnenfleck, Danka?«, fragte Len halblaut.
»In der Regel mit einem Spiegel.«
»Bin gleich wieder da…« Len flitzte aus dem Zimmer, kam aber wirklich sofort zurück. In seinen Händen hielt er ein kleines Kästchen.
»Hier drin hat Gert den Sonnenstein aufbewahrt«, erklärte Len verlegen. »Ich habe es aufgehoben… zur Erinnerung.«
Er öffnete das Kästchen, und ich sah, dass es mit Spiegeln ausgekleidet war.
»Stell es ins Sonnenlicht, solange die Sonne noch nicht untergegangen ist.« Plötzlich war mein Mund ganz trocken. Len zuckte mit den Schultern und hielt das offene Kästchen in Richtung Fenster.
Über den dunklen Stoff der zurückgezogenen Gardinen schwebte ein kleiner Sonnenfleck. Len und ich sahen uns an, schließlich nickte ich vorsichtig.
»Bleib doch! Geh nicht weg«, bat Len im Flüsterton.
Eine Sekunde lang glaubte ich, es würde nichts passieren. Doch dann vibrierte der Lichtfleck, pumpte sich zu einem Ball auf und leuchtete viel heller.
»Ihr dummen Jungen!«, rief der Kater, als er zu Boden glitt.
»Weshalb das denn?«, fragte Len empört.
»Auf die Idee hättet ihr schon längst kommen können!«, belehrte ihn der Kater im Ton eines Oberlehrers, während er in seine Armbeuge sprang. »Meint ihr vielleicht, es ist ein Vergnügen, am Himmel entlangzukriechen und für allerlei Schwachköpfe zu leuchten?!«
Ich setzte mich aufs Fensterbrett und versuchte, mir ein Grinsen zu verkneifen. Len kam mit dem Kater auf dem Arm zu mir.
»Was ist, willst du mich nicht begrüßen?«, schnauzte der Kater mich an.
»Wir haben uns doch heute schon gesehen«, erwiderte ich.
Der Kater fabrizierte einen theatralischen Augenaufschlag, hob die Pfote und leckte sie wütend ab.
»Okay, okay. Also hallo und guten Abend!«, sagte ich und nahm den Kater vorsichtig auf den Arm. Schon im nächsten Moment begann er, mir die Hand zu lecken.
»Möchtest du Sahne?«, erkundigte sich Len, der mir heimlich zuzwinkerte.
»Die ist doch sicherlich sauer geworden, während wir in der Schlacht waren.« Der Kater schüttelte sich.
»Ich habe Kondensmilch.«
»Ach ja?«
Len stürzte ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer. Nun waren der Kater und ich allein.
»Danka«, flüsterte er, ohne mich anzusehen, »dort, im Turm, da musste ich dich allein lassen… Ich bin unendlich froh, dass du ihn wiederbeleben konntest…«
»Darüber sprechen wir nicht mehr. Nie wieder. Abgemacht?«, bat ich sehr ernst.
Der Kater nickte.
»Und wer ist jetzt da oben?« Mein Blick wanderte zum Himmel, der langsam dunkel wurde.
»Ich.«
»Wie geht das?«
»Ein Teil von mir, mein großes und neues Ich, ist da oben bei der Sonne geblieben. Aber mein kleines und altes Ich habe ich zu euch geschickt, als ihr dann endlich auf den schlauen Gedanken mit dem Wahren Spiegel gekommen seid.« Der Kater grinste. »Ach, dieses neue Ich tut meinem alten Ich so unendlich leid. Dieses arme, große Ich. Das kriegt ja nicht mal Sahne…«
»Einmal Sahne, bitte schön«, erklärte Len, der gerade wieder reinkam.
Der Kater sprang von meinem Arm und umrundete misstrauisch die Schüssel mit der dickflüssigen Kondensmilch.
»Was soll das sein?«, fragte er. »Wie soll ich das lecken können?«
»Wenn du willst, verdünne ich es mit Wasser…«
»Untersteh dich!«, rief der Kater entrüstet und nahm einen ordentlichen Schluck von der Kondensmilch.
Während Len und der Kater sich noch zankten, ging ich leise nach unten. Ich nahm ein paar neue Flügeloveralls aus dem Schrank, einen für mich und einen für Len, und packte Proviant in eine Tasche. Einen Moment lang blieb ich vor einem von Kurts Bildern stehen, vor dem, wo die Flügelträger und die Freiflieger aufeinander zusteuern. Schon toll, wenn du so zeichnen kannst! Schade ist dann nur, wenn dein Leben und deine Bilder so weit auseinanderklaffen.
Ich ging wieder rauf in mein Zimmer, warf Len schweigend den neuen Overall zu und zog meinen an. Der Kater, der seine Schüssel ausschleckte, schielte zu mir hoch. »Wollt ihr einen Spazierflug machen?«
»Tu nicht so scheinheilig«, blaffte ich ihn an.
»Sonnenkater scheinen immer – aber du musst sie deswegen nicht gleich für heilig halten«, meinte der Kater süffisant. »Wohin wollt ihr denn?«
»Die Frage ist doch wohl, wohin du willst!« Jetzt riss mir der Geduldsfaden. »Oder willst du mir etwa weismachen, das Licht hätte dich einfach so zu uns geschickt? Das würde ich dir nie im Leben glauben! Wir müssen doch wieder irgendwo gegen die Finsternis kämpfen!«
Der Kater stieß ein Schnauben aus, plumpste auf den Boden und wälzte sich auf dem Rücken, wobei er die ganze Zeit kicherte.
»Was hast du denn?«, fragte Len irritiert, während er den Flügeloverall anzog.
»Ich… lach mich… kaputt!«, meinte der Kater, halb flüsternd, halb gickelnd. »Unser ewiger Held! Der Junge mit dem Schwert! Nimm dich in Acht, Finsternis, zum Kampf gegen dich tritt an…«
Mit einem Mal verstummte der Sonnenkater und sprang zur Seite, um sich vor dem Kissen in Sicherheit zu bringen, das auf ihn zuschoss. Als er sah, dass ich bereits nach dem zweiten angelte, schnitt er eine Grimasse und sagte schnell: »Du dummer Junge, niemand hat die Absicht, dich in eine neue Schlacht zu schicken! Und mir reichen die ewigen Kämpfe auch!«
»Und warum hat das Licht dann erlaubt, dass du zu uns kommst?«, fragte ich misstrauisch, wobei ich das Kissen immer noch in der Hand hielt.
»Damit ich in deine Welt zurückkehre und von unserem Erfolg berichte! Es steht euch selbstverständlich frei, mich zu begleiten…«
Meine Finger öffneten sich ganz von selbst. Das Kissen klatschte auf den Boden.
»Mit so etwas macht man keinen Spaß«, sagte ich, wobei ich hörte, wie verräterisch zittrig meine Stimme klang.
»Ich scherze auch nicht.«
»Aber du hast doch gesagt, es würden nur drei Verborgene Türen von einer Welt in eine andere führen.«
»Richtig. Nur drei. Aber dafür gibt es Millionen von Türen, die in ganz andere Welten führen, in denen wir dann die Türen suchen können, die uns zu deiner Erde bringen.«
Das war so logisch, so nachvollziehbar, dass ich mich einfach nur fragte: Warum war ich nicht selbst darauf gekommen?
»Bist du jetzt sauer, weil du nicht selbst darauf gekommen bist?«, sagte der Kater sanft. »Das ist nicht nötig. Wie hättest du denn an die Existenz einer weiteren Welt glauben können?«
»Aber wir waren doch schon in einer anderen Welt… in diesem… Tamal… zusammen mit Garet«, brachte ich mit letzter Kraft heraus.
»Du hattest dir aber alle Mühe gegeben, diesen Ausflug zu vergessen.« Der Kater grinste frech. »Wir können zurückkehren, Danka, und darauf kommt es an.«
Ich nickte langsam. Dann schaute ich Len an. Der saß auf dem Bett, das Schwert in der Scheide aus schwarzem Leder quer über den Schenkeln, und zeichnete mit der Schuhspitze die kompliziertesten Muster in den Boden.
»Len…«
Er blickte hoch.
»Kommst du mit uns mit?«
»Wer will mich denn da haben, in eurer Welt?« Len lächelte schief. »Wer braucht mich da schon?«
»Ich«, sagte ich streng. »Oder genügt das nicht?«
»Doch«, antwortete Len ernst, »das genügt. Dauert es eigentlich lange, bis wir in Dankas Welt kommen, Kater?«
»Wir werden irgendwann ankommen«, verkündete der Sonnenkater vage, aber optimistisch. Er schwieg kurz, dann merkte er, dass uns die Antwort nicht zufriedenstellte, und fügte hinzu: »Vielleicht brauchen wir dafür etwa zehn Stunden, vielleicht aber auch zehn Jahre.«
»Dann muss ich dich auf jeden Fall begleiten, Senior«, sagte Len schnell. »Was da unterwegs alles passieren kann!«
Schon komisch: Manchmal braucht man für eine Freundschaft mehr Rechtfertigungen als für den Verrat.
»Danke, Junior«, antwortete ich bloß.
Der Sonnenkater schnurrte leise. »Ich bin sehr froh, dass sich alles so schön gefügt hat«, sagte er schließlich.
»Werden wir jetzt die Verborgene Tür suchen?«, fragte ich.
»Wieso suchen?« Der Kater erhob sich in die Luft und schwebte zur Wand. In seinem schwachen, orangefarbenen Licht traten die Umrisse einer Gittertür zutage.
»Dahinter sind bestimmt Photonen, Protonen und Magnetfelder…«, sagte ich.
»Vermutlich eher Elektropeitschen und Silberkugeln.« Abrupt schoss der Kater von der Tür weg. »Aber hier müssen noch andere sein, hinter denen es lustiger zugeht…«
Die nächste Tür lag hinter der Waffensammlung, die an der Wand hing. Eine harmlose Tür, in der Tat irgendwie lustig, eine Art Schaufenster aus buntem Glas, durch das Licht fiel.
»Die sieht ganz passabel aus«, entschied der Kater. »Öffne sie, Danka. Ich gehe als Erster, du und Len, ihr folgt mir.«
Ich stellte mich vor die Tür und stieß sie gehorsam auf, denn eine Klinke gab es nicht. Doch bevor ich durchging, drehte ich mich noch einmal um und schaute zum Fenster hinaus, wo es bereits Nacht wurde.
Was in dieser Welt wohl als Nächstes verkauft wird? Vielleicht die Finsternis?
Und welches Gut war in der Welt verkauft worden, in die wir gleich gelangen würden?
Schulter an Schulter traten Len und ich durch die Verborgene Tür.