Der erste Versuch

1


Immer sind es erregende Sekunden, wenn das Bewußtsein auf einem fremden Planeten erwacht. Wie auf ein Zeichen beginnt sich das Bild aufzubauen, Partie um Partie taucht aus dem Nichts, Detail reiht sich an Detail – manchmal in weichen Wellen, manchmal hart und schlagartig. Über allem liegt die prickelnde Erwartung unvorstellbarer Ereignisse. Was würde es diesmal sein, dem sie sich ausliefern mußten: vielleicht etwas übermenschlich Gewaltiges, vielleicht etwas tödlich Grausames?

Als erstes spürte Al den Geruch von Thymian. Er lag in einer Wiege von würzigem Duft, eingebettet in leises Rauschen und gestaltlose Dämmerung. Sachte drang das Gefühl der Schwere in ihn ein; und er spürte, wie ihn etwas hob und trug, und wieder niedergleiten ließ. Wohlige Wärme breitete sich über ihn. Aus dem Rauschen lösten sich leise knatternde Geräusche. Die Dämmerung wurde orangerot. Wie vom Wind gehoben, lösten sich die letzten Schleier. Das Wünschen und Fragen erwachte.

Al richtete sich auf. Mit einem Gefühl der Zufriedenheit, in das sich ein Anflug Enttäuschtsein mischte, stellte er fest, daß er sich wohl fühlte. Es gab keine sengende Hitze, keine elektrischen Entladungen, keine ihn beschnuppernden Saurier. Es gab keine offensichtliche Gefahr. Die Spannung wich von ihm. Er sah sich aufmerksam um.

Er saß neben der Baracke auf einer Schaumgummimatte. Das Knattern drang aus der Tür des Maschinenraums. Ein Robotwägelchen rollte über die eingeebnete Fläche, einen Schweißbrenner in den Greifzangen. Der Schatten der Relaisantenne lag als Maschenwerk darüber und kroch in seltsamen Verzerrungen an der automatischen Apparatur herauf und auf der anderen Seite wieder hinunter.

Al hatte noch mit einer gewissen Trägheit zu kämpfen. Jedesmal schmerzten die Muskeln ein wenig, wenn er sich regte. Auf seinem Gehirn lastete ein dumpfer Druck. Aber von Atemzug zu Atemzug fühlte Al sich beweglicher, freier, tatendurstiger. Er stand auf, ging in die Kniebeuge und reckte sich hoch. Er knöpfte den Kragen seines gelben Buschhemds auf und sog die Luft in vollen Zügen ein. Der Platz ist gut, dachte er. Don hat richtig gewählt.

Die Baracke lag etwa hundert Meter über dem Tal. Gleich daneben hatten die Automaten einen Sendemast aufgestellt. Fünfzig Meter seitlich davon, auf gleicher Höhe, stand der Hangar für den Hubschrauber. Das Auffälligste von allem war der Krater, aus dem die Rohstoffe stammten. Wie eine offene Wunde saß er im Boden, die Ränder aufgewölbt und blutrot gefärbt von oberflächennahen Verwitterungsschichten, das Innere grauschwarz. Hinter der Baracke stieg das Gebirge auf, unten dehnte sich eine Landschaft mit tausend flachen Hügeln und tausend kleinen Seen. Über allem lag der orangerote Schimmer einer fremden Sonne.

Die Schiebetür des Wohnraums der Baracke glitt auf, ein Wagen fuhr heraus, den Körper Katjas auf seinem Rücksitz. Mit Dutzenden feinfühliger Greifzangen bettete der Robotwagen das Mädchen auf die Matte, auf der Al vor kurzer Zeit erwacht war. Auch Katja war im Begriff, das Bewußtsein zu erlangen. Immer wieder lief ein leichtes Zucken durch ihre Glieder.

»Wo ist Don?« fragte Al.

Der Robotwagen blieb stehen. »Er schläft noch«, klang es aus seinem Lautsprecher.

Al scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort. »Mach weiter!« befahl er.

Don schlief also noch, und Katja erwachte. Don und Katja waren von der Kommission für Genetik als Paar zugelassen und würden einmal ein Kind haben. Dadurch waren die beiden miteinander in Verbindung gekommen. Don hatte Katja in den Kreis seiner Freunde eingeführt. Sie war ein guter Kamerad und hatte bei allen Spielen munter mitgetan. Dabei störte Al nur eines: daß Don sie als eine Art Besitz behandelte und sich das Recht herausnahm, ihr Vorschriften zu machen. Mit leichter Schadenfreude malte er sich aus, wie Don reagieren würde, wenn er als letzter erwachte.

»Hallo, Don!«

Die Stimme klang so leise, daß Al sie kaum vernahm.

»Kat!« rief er. »Ich bin’s: Al!« Durch einen schnellen Blick überzeugte er sich davon, daß sein khakibraunes Tropenjackett gut saß, und strich die dunkelblonden Haare zurück.

Katja lag auf der Matte und versuchte sich aufzusetzen. Al kniete neben ihr nieder, schob die Hand unter ihren Rücken und stützte sie. Sie blinzelte zwischen den Lidern hindurch.

»Scheußlich, dieses Licht«, flüsterte sie.

»Wie geht’s?« fragte Al.

»Ich hab’s überstanden. Ich glaube… mir geht’s ganz gut.«

»An das Licht gewöhnst du dich«, erklärte Al. »Bald merkst du nicht mehr, daß es orange ist. Es wird weiß. Alles bekommt normale Farben. Dann schaut es hier nicht viel anders aus als auf der Erde.«

»Aber der Himmel«, sagte Katja. »Der Himmel–«

»Auch der Himmel wird blau – warte nur ab. Es geht ganz von selbst. Es ist, als ob sich ein Nullpunkt auf einer Skala verschöbe.«

Seltsam, dachte Al, die schmutziggraue Färbung des Himmels hat mich überhaupt nicht gestört. Wahrscheinlich empfinden Frauen anders.

Er beobachtete Katja. Ihre blonden Haare bewegten sich im Wind. Das Mädchen war noch etwas blaß; ihre Blässe unterstrich die leicht vorstehenden Backenknochen, die ihr ein exotisches Aussehen gaben. Die dunkelblauen Augen waren halb unter den Lidern verborgen. Katja trug rote Jeans und eine schwarze Lederjacke über einem schwarzen Pullover. Sie erholte sich schnell. Ihre Bewegungen wurden zielbewußter, ihr Blick klarer.

»Fein, Al«, sagte sie, »fein, daß ich dabeisein darf! Es ist das erstemal. Sei nicht böse, wenn ich mich ungeschickt anstelle.«

Sie lächelte ein wenig verlegen und kam Al noch netter vor als früher. »Aber was ist mit Don?«

Wieder versuchte sie aufzustehen, doch Al hielt sie zurück.

»Schone dich noch!« bat er. »Ich sehe nach.« Er ging zur Baracke und trat durch die Tür. Der Helligkeit der Außenwelt gegenüber erschien es ihm hier düster. Er tastete nach einem Schalter und schob den Hebel hinunter. In grellem Weißblau flutete das Licht auf. Unglaublich primitiv hier, dachte Al, und dieser Eindruck verstärkte sich, als er sich umsah. Alles war auf Platzersparnis ausgerichtet. Rechts bot ein Fenster Aussicht ins Tal, darunter standen ein Tisch und drei Hocker. In die Stirnwand eingeschnitten war die Tür zum Maschinenraum, der übrige Flächeninhalt war durch Fächer unterteilt; sie enthielten die wichtigsten Werkzeuge. Alles nicht unmittelbar Erforderliche mußte durch die Automaten eigens angefertigt werden. An die Wand links waren drei Liegestätten übereinander montiert. Auf der mittleren lag Don. Sein großer, schwerer Körper war tief in die Luftmatratze gesunken. Die Decke reichte dem Schläfer bis zum Mund. Von Dons etwas grobem Gesicht lag nur die Nasenpartie frei; die Stirn war von kurzen schwarzbraunen Haarfransen versteckt. Er atmete schon.

Al öffnete die Tür zum Maschinenraum und rief nach einem der Automaten.

»Wann wird Don fertig sein?«

»In vier Minuten.« Die Antwort kam präzise und ohne Zögern.

»Dann bring ihn ins Freie!«

Der Automat gehorchte. Al öffnete für ihn die Tür und folgte.

»Er ist gleich soweit«, sagte er zu Kat.

Sie hatte sich inzwischen erholt. Während die beiden neben der Matte, auf der Don nun um das Bewußtsein rang, warteten, stellte Katja viele Fragen. Jetzt kam ihr alles interessant vor. Das Neue, das auf sie wartete, war noch weit und ungreifbar; sie befand sich auf einer Insel menschlichen Ursprungs und menschlicher Prägung, aber um sie herum lauerte das Fremde, das Geheimnis. Wie Al vorausgesagt hatte, war zwar der graue Farbton des Himmels verschwunden – er prangte nun in tiefem Blau –, aber Katja erschien dieses Blau ungewohnt, genau wie das Grün der Pflanzen und das Braun der Felswände über ihnen. Sie sah es nun nicht mehr – aber der Himmel war anders, und die Pflanzen waren anders, und die Felsen waren anders als auf der Erde. Sie fühlte es. Und die Tiere? Sie spähte umher, aber sie bemerkte keine Tiere. Morgen, dachte sie, morgen! Sanfter lauer Wind strömte vom Tiefland her den Hang hinan und brachte Wellen von Thymianduft mit. Es roch so wie Thymian – wahrscheinlich war es etwas ganz anderes –, und der Geruch wurde zum Odem des Rätselvollen.

»He!« rief Don, aber seine Stimme war noch schwach. Mühsam stützte er sich auf die Ellbogen. »Ihr seid schon okay? In mir dreht sich noch alles. Schandbar. Wie sieht es aus?«

»Hübsch«, sagte Katja. »Wie fühlst du dich?«

»Wird schon besser. Ist ja unwichtig. Habt ihr etwas von den andern gesehen?«

Katja streichelte seine Stirn. »Nichts, Don. Du hast nichts versäumt. Wir sind auch erst seit ein paar Minuten wach.«

»Dann ist es ja gut.« Don seufzte und ließ sich auf die Matte zurückfallen. Er verschränkte die Hände unter dem Hinterkopf und schloß die Augen. »Sagt doch: Wie sieht es hier aus?«

»Ziemlich harmlos«, sagte Al. »Grüne Hügel, Berge, Seen. Die Luft gut, die Temperatur angenehm. Nichts Besonderes. Hoffentlich wird es nicht langweilig!«

»Kaum anzunehmen«, meinte Don. Er sprach mit geschlossenen Augen. »Dafür werden schon die anderen sorgen. Und dann ist da ja auch noch die alte Stadt!«

»Wo ist sie eigentlich?« fragte Katja.

Don richtete sich auf. Er trug knöchellange Kordhosen und eine enge Samtjacke mit goldenen Knöpfen. Er sah schon bedeutend frischer aus. »Heute werden wir die Vorräte prüfen. Und morgen geht es los.« Er spähte hinunter auf das Hügelland, und weiter, darüber hinweg, bis zum Horizont. Es war Abend. Die Sonne hing als rote Scheibe im Dunst. Und während sie langsam tiefer sank, begann ein ferner Strich zu glitzern. Rote Funken glommen in der Ferne auf und verschwanden wieder.

Don hob die Hand und deutete hinunter: »Dort ist die Stadt.«

2


Am nächsten Morgen hatten sie alle Nachwirkungen der Übertragung überwunden. Sie liefen vor die Baracke und standen im aufdämmernden Tag. Wieder hüllte sie betäubender Thymianduft ein. Sie schauten über das Hügelland und empfanden die gewaltige Lockung, die von den unberührten Weiten ausging.

»Warum wartet ihr noch?« rief Don. »Kommt, wir fliegen los. Wir dürfen keine Zeit verlieren!«

»Besuchen wir gleich die Stadt?« fragte Kat.

»Das wäre natürlich das schönste«, sagte Al, »aber wir sollten doch lieber nach den altbewährten Regeln vorgehen. Zuerst kommen die Untersuchungen. Die Zusammensetzung der Luft. Die Chemie des Bodens. Das Spektrum der elektrischen Wellen. Die Zoologie und die Botanik…«

»Ach was, die Luft läßt sich atmen – dazu brauche ich keine chemische Analyse. Von Tieren ist nichts zu bemerken. Willst du vielleicht Blumen pflücken?«

»Sei nicht langweilig, Al«, bat Kat. »Du hast noch Zeit genug für die Pflanzen. Komm doch mit uns – zur Stadt!«

»Du weißt, worum es geht, Al!« rief Don. »Wir müssen den anderen zuvorkommen! Wir müssen die ersten sein!«

Sie gingen zum Hubschrauber hinüber und kletterten hinauf. Don setzte sich auf den Pilotensitz und ließ den Motor anlaufen. Katja und Al nahmen hinter ihm Platz. Das Surren der Propellerflügel wurde zu einem dröhnenden Rauschen, und der Flugkörper löste sich vom Boden. Sie stiegen auf fünfhundert Meter Höhe.

Die durchsichtige Kanzel gestattete den freien Durchblick in alle Richtungen. Das Land unter ihnen war spielzeughaft und lieblich wie eine Bilderbuchszenerie. Man hätte an den Naturpark von Finnland denken können, wenn es nicht von dem riesigen Gebirge überschattet gewesen wäre, das sich ringsherum aufwölbte. Von ihrem überhöhten Standpunkt konnten sie deutlich die Gipfel und Grate der Berge erkennen, die im Sonnenlicht als dunkler Zackenstreifen über dem Tiefland ein zweites Mal erschienen.

»Wie stehen denn überhaupt die Aussichten, hier etwas zu entdecken?« erkundigte sich Kat.

»Richtig«, meinte Al, »du hast uns bis jetzt noch nichts Näheres verraten. Tu doch nicht so geheimnisvoll!«

Don drehte jetzt die Nase des Hubschraubers auf das Ziel, in Richtung auf die Stadt. Er drückte den Gashebel kräftig durch, und die Hügel begannen unter ihnen einherzuwandern.

»Also paßt auf«, sagte Don. »Jak und ich – wir haben den Planeten gemeinsam gefunden. Wir hatten vor, uns mit dem Synchronstrahlspiegel im Bereich der Magellanschen Wolken umzusehen. Ich weiß nicht, wie es kam – vielleicht hatte Jak die Entfernung falsch eingestellt –, jedenfalls blickten wir in ein leeres Loch und wollten schon umschalten, da stießen wir auf eine kleine isolierte Sonne. An ihr hing ein Riesenplanet vom Neptuntyp, und daraufhin schauten wir uns weiter innen im System um. Nun – das ist der Erfolg!« Don wies hinunter auf die Hügelketten, die sich wie Laufbänder gegeneinander verschoben.

»Habt ihr auch die Stadt gleich gefunden?« fragte Kat.

»Es gibt mehrere. Sie waren nicht schwer zu finden. Der Planet ist zu neunzig Prozent mit Gebirge überzogen. Die übrigen zehn Prozent Grünfläche leuchten deutlich aus dem Braun und Grau heraus. Alle Städte liegen unten, im hügeligen Tiefland. Aber die dort« – er wies mit dem Kinn nach vorn –, »die dort ist die größte.«

Vor ihnen wuchs jetzt ein Hügel über dem Horizont empor: ein Hügel, der sich von den anderen erheblich unterschied. Er schnitt einen vielfach gestuften, von Kerben unterbrochenen und von turmartigen Auswüchsen erweiterten Rand aus dem Himmelsblau, während die Silhouetten der anderen Berge und Kuppen sanft geschwungen und glatt erschienen.

»Könnte nicht doch etwas Intelligentes lebendig sein?« fragte Katja.

»Unsinn«, antwortete Don. »Die Zeit der organischen Evolution ist so gering gegenüber der Entwicklungszeit eines Planeten, daß kaum Aussicht darauf besteht. Bisher hat noch niemand intelligente Wesen getroffen. Nur die Spuren finden sich häufig. Die Stadt ist sicher tot. Sie ist zum Teil verfallen.«

Al hatte das Fernglas erhoben und auf den von Gebäuden bedeckten Hügel gerichtet. Er mußte Don recht geben. Das, was aus der Ferne so imposant und märchenhaft aussah, was gestern im streifenden Licht der glühenden Sonne als eine Neuschöpfung der Goldenen Stadt erschienen war und die Erinnerung an Sagen und Träume geweckt hatte, entpuppte sich als ein wüster, vielfach zerstörter Burgkomplex.

Kat wandte sich wieder an Don:

»Aber was geschieht denn mit den intelligenten Geschöpfen, wenn sie ihre höchste Entwicklungsstufe erreicht haben?«

»Sie bringen sich gegenseitig um«, erklärte Don. »Dadurch unterscheidet sich unsere Kultur von allen anderen. Zwar hat es auch bei uns schon angefangen – mit Bakterien und Atomenergie; aber wir haben den Krieg rechtzeitig unterbunden.«

Jetzt waren manche Bauten schon mit freiem Auge zu erkennen: Türme mit Quadratmustern von Fensteröffnungen; geschwungene Brücken über Straßenschluchten; Gerüstkonstruktionen und Masten; aber viel davon eingestürzt, verbogen, verrottet…

Al senkte das Glas.

»Warum bist du nicht gemeinsam mit Jak hierhergekommen?«

Don lachte.

»Glaubst du, es geht mir um das alte Gerumpel? Um das Studium der technischen Errungenschaften? Um Fragen der Weltraumarchäologie? Ist doch alles Stumpfsinn. Ich will etwas erleben, verstehst du?! Es soll unterhaltend und spannend werden; das meinte auch Jak.«

»Und darum habt ihr…«

»Darum hat jeder von uns selbst eine Gruppe gebildet. Ja. Wer zuerst weiß, wie die Wesen ausgesehen haben, hat gewonnen. Jede Gruppe arbeitet unabhängig, keine darf die andere stören. Aber wie ich Jak kenne… Wenn er fürchtet, daß wir ihm den Erfolg vor der Nase wegschnappen, wird er alles tun, um das zu verhindern. Darum müssen wir aufpassen. Nehmt euch zusammen – was wir vorhaben, ist nicht einfach!«

Die Fläche unter ihnen war noch immer ein Teppich aus Blau und Grün. Als vielfach zerlappte Blattformen lagen die Seen in den Wiesen. Vereinzelt ragten daraus bizarre Felsklippen hervor. Darum herum verstreut standen nur einzelne Büsche.

»Was sind das für Punkte?« rief Katja. »Al, gib mir das Glas!«

Er reichte es ihr. Bisher hatte er nur die Stadt beobachtet, jetzt wandte er seine Aufmerksamkeit dem Landstrich unter ihnen zu. Es handelte sich um frische Wiesen auf einer leicht welligen Oberfläche. Das Grün war nicht völlig gleichmäßig. Al nahm Partien wahr, an denen es ein wenig blasser erschien und ein gewisses Regelmaß aufwies; meist waren es gerade hellere Streifen, gelegentlich krümmten und verzweigten sie sich aber auch. Er erinnerte sich an einen archäologischen Trick, nämlich die Schattenstruktur der Landschaftsoberfläche zu Hilfe zu nehmen, um das Relief von künstlichen Veränderungen zu erkennen, aber die Sonne stand schon zu hoch, als daß er etwas Eindeutiges hätte entnehmen können.

Die Punkte, die Katja aufgefallen waren, lagen wie hingetupfte Farbkleckse verteilt, manche tiefschwarz, manche von Grün überhaucht.

»Es sind Löcher im Boden«, rief das Mädchen.

Al nahm das Glas wieder an sich und überzeugte sich davon.

»Es sieht aus wie Einschläge von Geschossen, wie Granattrichter. Sollten es Spuren eines Krieges sein?«

»Wahrscheinlich«, sagte Don. »Irgendwie müssen sie sich ja umgebracht haben.«

Al wiegte den Kopf. Vermutungen genügten ihm nicht, er hätte sich mit diesen Fragen lieber eingehend beschäftigt. Aber er zerstreute seine Bedenken. Schließlich kommt es nicht darauf an, dachte er.

Sie flogen nun in unmittelbarer Nähe der Stadt. Die helleren grünen Streifen verdichteten sich zu einem Netzwerk. Die Vermutung Als, daß es sich um Wege und Straßen handelte, verstärkte sich. Aber wieso sind sie von Pflanzen überzogen, fragte sich Al, während doch die Einschlagtrichter noch unbewachsen sind?

Vom Pilotensitz her kam ein Fluchen. Erstaunt blickten Kat und Al auf Don.

»Irgendwas scheint mit der Steuerung nicht in Ordnung zu sein!« schimpfte Don. »Die Maschine weicht immer zur Seite ab.«

»Gerade jetzt, wo wir über die Stadt kommen!« Kat blickte durch den Glasboden der Kanzel senkrecht nach unten – dort standen die ersten Gebäude als regelmäßiges weißes Punktmuster in den Grünflächen.

Al beobachtete Don. Es war tatsächlich seltsam. Die Maschine drehte immer wieder zur Seite ab, wie ein Auto auf einer stark überhöhten Straße. Wenn Don zu stark gegensteuerte, schwenkte der Hubschrauber nach der andern Seite um.

»Es liegt nicht an der Steuerung«, sagte Al.

Don schnaubte ärgerlich.

»Zum Teufel, woran denn?«

»Flieg einmal ein Stück tangential – auf einem Kreis um die Stadt herum… Hier hindert dich nichts – merkst du es?«

»Tatsächlich, du hast recht!«

Katja folgte den Versuchen verständnislos. »Was ist geschehen?«

»Irgend etwas bringt uns vom Kurs auf die Stadt ab«, sagte Al. »Stell doch die automatische Steuerung ein, Don!«

Don drückte den rotleuchtenden Knopf hinein, die Farbe wechselte zu Grün. Dann drehte er den Kurszeiger ein Stück herum. Sie warteten gespannt… die Richtung war stabil.

»So geht es«, sagte Don.

»So geht es auch nicht«, sagte Al.

Don blickte den Kameraden beunruhigt an.

»Schau hinunter!« forderte Al.

»Na und?«

»Wir bewegen uns nicht.«

»Verflucht – es stimmt!«

Es war von oben nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber wenn man einige Zeit hinunterblickte, merkte man, daß sich die Position nicht änderte. Die Landschaft stand unbeweglich, sie lagen wie eingefroren darüber.

Don drückte den Gashebel hinunter.

»Vielleicht eine Gegenströmung?«

Tatsächlich glitt die Maschine ein wenig vor.

Don ließ den Motor aufheulen, die Flügelschraube brauste, und wieder schob sich das Flugzeug ein paar Meter weiter. Dann hielt es einige Sekunden still und begann plötzlich wild zu schwanken – wie ein Holzbohrer, der auf Metall gestoßen ist.

Es schlingerte so stark, daß die drei Mühe hatten, sich aufrecht zu halten.

Don verringerte den Druck auf den Gashebel, das Schaukeln hörte auf, und die Maschine trieb zurück, einige Dutzend Meter vom Zentrum der Stadt fort, mit dem Heck voran.

Wütend fluchte Don vor sich hin. Er ließ den Einschaltknopf für die Steuerautomatik zurückspringen – sofort fuhr das Flugzeug um hundertachtzig Grad herum. Al und Kat wurden an die Seitenwand gepreßt, Don klammerte sich am Steuerknüppel fest. Er gab Gas und flog ein Stück zurück, dann schlug er einen Bogen und raste wieder auf die Stadt zu.

»Halt, nicht!« rief Al, aber schon bäumte sich die Maschine auf… rutschte seitlich ab… trudelte ein Stück. Wieder gab Don Vollgas und schlug einen Halbkreis.

»Ich komme durch, und wenn alles in Scherben geht!«

Wieder zerrte die Zentrifugalkraft wild an ihnen.

»Bitte nicht, Don!« rief Katja.

Don hörte nicht, und wieder war es, als würde das Flugzeug in ein federndes Polster geschleudert. Es knirschte häßlich im Rahmenwerk, dann wirbelten sie abwärts… der Fall ging in Seitwärtsgleiten über… Don gewann wieder Gewalt über den Flug.

Kat hatte den Kopf auf Als Schulter gelegt, ihre Augenlider flatterten. Don sprach kein Wort. Er steuerte zum Lager zurück.

3


Noch waren keine vierundzwanzig Stunden vergangen, und schon hatten sie eine Schlappe einstecken müssen. Don hatte sich verärgert auf sein Lager geworfen, und Katja saß lustlos bei ihm.

Al trug den Untersuchungskoffer den Hang hinunter. Unten, am Rand der Ebene, stellte er ihn ab. Al begann mit den physikalischen und chemischen Routineuntersuchungen an Boden- und Gesteinsproben und wandte sich dann den Gewächsen zu. Er sammelte Proben der Blütenpflanzen, Gräser und Moose und legte die Arten, die stark von jenen der Erde abwichen, zum Präparieren beiseite. Seine Ausbeute blieb aber recht kärglich.

Nach einer Weile kamen Don und Kat hinzu. Don war noch immer mißmutig. Träge schlenderte er umher, hin und wieder riß er eine Blume aus und zerrupfte sie.

»Al!« sagte er nach einer Weile. Al saß über ein Mikroskop gebeugt und brummte etwas Unverständliches als Antwort.

»Hast du was gefunden?«

»Bisher nichts Besonderes.«

»Weißt du, was mir auffällt?«

Al klopfte mit einem Geologenhammer auf einem Felsbrocken herum und sammelte die Splitter.

»Was fällt dir auf, Don?«

»Es ist mir hier ein wenig zu tot. Es gibt keine Vögel und keine Vierfüßler. Keine Ameise, keine Fliege. Nicht einmal einen Floh. Hast du ein Tier gesehen?«

»Schau einmal ins Mikroskop. Was sagst du dazu?«

Don blickte ins Okular. »Was ist das?«

»Ein Wassertropfen. Ich habe Erde mit Wasser aufgerührt. Das ist ein Tropfen davon.«

»Na und? Ich sehe nichts.«

»Das ist es ja eben.« Al zog das Objektträgerscheibchen unter den Klemmen hervor. »Nichts. Nicht einmal Mikroorganismen. Es muß doch auch hier eine Evolution von den niedrigsten Lebensformen zu den höheren und höchsten gegeben haben. Woher stammen die Erbauer der Stadt?«

Don wußte keine Antwort.

»Ich will dir noch etwas zeigen. Vielleicht revidierst du dann deine Meinung, daß die Routineanalysen etwas Unnützes sind. Kennst du diese Formel?« Er hielt Don einen Zettel hin.

»Das Ergebnis einer chemischen Bestimmung. Weißt du, was das ist?«

Noch während Don den Kopf schüttelte, fuhr Al fort: »Das Zeug hat keinen Eigennamen, aber es ist äußerst wirksam. Paß auf: Ich führe dir ein kleines Experiment vor.«

Er schob einen Polypeptid-Objektträger in die Vakuumkammer des Mikroskops, stellte auf ionenoptische Vergrößerung und bat Don, das Bild anzusehen.

»Langgestreckte Rechtecke. Was ist damit?«

»Bakterien aus unserem biologischen Versuchsmaterial.«

Al tauchte ein Glasstäbchen in ein Reagenzglas und holte einen Tropfen glasklarer Flüssigkeit hervor. Er zog den Objektträger heraus, strich den Tropfen daran ab und schob ihn wieder in den Strahlengang. Durch einen Blick ins Okular überzeugte er sich davon, daß das, was er erwartet hatte, eingetreten war. Dann winkte er Don.

»Was siehst du?«

»Die Rechtecke lösen sich in Fetzen auf. So sprich doch endlich, Al! Was hat das zu bedeuten?«

Al bückte sich und riß ein paar Blätter aus der Grasmatte, auf der sie standen.

»Nach der Formel ist es eine Art Antibiotikum. Es wirkt ungewöhnlich stark und schnell.«

»Wo kommt das Zeug vor?«

»Überall. Es liegt als dünner Überzug auf den Pflanzen, auf dem Gestein. Es ist im Wasser gelöst und fliegt als Staub durch die Luft.«

Don zog ratlos die Schultern hoch.

»Ja, aber, wie erklärst du dir…«

»Ich kann überhaupt nichts erklären. Ich stelle nur fest. Und nun kommt noch eine Überraschung.« Er wies auf einige Splitter, die er von dem größeren Steinbrocken abgeschlagen hatte.

»Es ist eine Probe von dort drüben«, sagte Al und wies auf eine der steilen Felsklippen draußen im Hügelland. »Ich habe sie schon flüchtig untersucht, aber, um sicherzugehen, mache ich jetzt eine vollständige Spektralanalyse.«

Don und Katja folgten seinen flinken und geschickten Bewegungen. Mit einem Stück rauher Platinfolie – sie sah wie eine Nagelfeile aus – rieb er Pulver von dem Probestück ab. Ein wenig davon kam in eine Röntgendrehkristallapparatur, die Folie selbst steckte er in einen Spektrografen. Nun warteten sie auf die Daten, Don mit nervöser Ungeduld, Katja mit verständnislosem Staunen, Al mit gespielter Ruhe. Dann klickten die Transporträder des Lochstreifens, und zwei zehn Zentimeter lange Papierschlangen wanden sich ans Tageslicht. Al griff zu und lächelte dann.

»Laß uns nicht herumstehen wie Idioten«, schrie Don. »Was hast du gefunden?«

Al lächelte noch immer.

»Plastik. Die Felsen bestehen aus Plastik.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Al:

»Es hat keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken. Hier gibt es nun einmal einiges, was rätselhaft ist. Keimfreier Boden und künstliche Felsen – das läßt sich in kein vernünftiges Bild einordnen. Aber was ist schließlich Schlimmes daran? Das Bedenklichste sind die Vorfälle über der Stadt. Doch selbst sie geben keinen Grund zur Aufregung. Du hättest ja schließlich nicht wie wild gegen den Widerstand anrennen müssen!«

»Ach, Al, laß das doch!« bat Katja, und Don blickte böse.

»Warum soll ich nicht davon sprechen?« Sogar dem beherrschten Al war jetzt eine Verärgerung anzumerken. »Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist nun einmal nicht ganz so leicht, wie wir es uns dachten. Wenn wir nicht klein beigeben wollen, müssen wir aufhören, uns kindisch zu benehmen. Oder wollt ihr aufgeben?«

Katja blickte auf Don, und dieser verneinte heftig.

»Ich natürlich auch nicht«, sagte Kat.

»Na schön. Dann wollen wir ein bißchen systematischer vorgehen. Wir haben einige Tatsachen festgestellt, die wir noch nicht verstehen. Künftig werden wir keine Möglichkeit versäumen, weitere Informationen zu gewinnen. Ich bin überzeugt, daß sich alles vernünftig erklären läßt.«

Don hatte sich ins Gras gesetzt und spielte mit ein paar Halmen.

»Kann uns dieses Antibiotikum nicht schaden?« fragte er mißtrauisch, als ein wenig Staub auf seinen Fingern zurückblieb.

»Beruhige dich«, sagte Al. »Es schadet nicht, das weißt du selbst.«

Don berührte Kats Hals mit einem Grashalm und lachte, als sie zusammenfuhr.

»Du hast recht, Al«, sagte er. Er hatte seine gute Laune wiedergewonnen. »Du hast recht. Was wollen wir nun unternehmen?«

»Am besten, wir führen die Untersuchung zu Ende. Dabei können wir überlegen, wie wir in die Stadt kommen können.«

»Meinst du, daß wir die Sperre überwinden können?«

»Was war es eigentlich«, fragte Al. »Eine Strömung? Ein starker Wind? Oder eine Kraft?«

»Ja, irgend etwas Derartiges. Jedenfalls nichts Hartes. Vielleicht ein weicher unsichtbarer Gegenstand?«

»Ich glaube an keine unsichtbaren Gegenstände. Dann schon eher eine Kraft – eine Art Antigravitation. Aber das ist gar nicht so wichtig. Wichtiger für uns wäre zu wissen, was für einen Zweck sie hat.«

»Na, das ist doch klar – die Stadt ist abgesperrt. Niemand darf hinein. Vielleicht noch eine Einrichtung von früher.«

»Möglich. Hast du aber auch an eine andere Möglichkeit gedacht? Ich glaube es zwar nicht, aber könnte nicht Jak…?«

»Jak? Hm – zuzutrauen wäre es ihm. Aber wie sollte er es gemacht haben?«

Plötzlich war etwas Ungewöhnliches da, zuerst noch nicht erkennbar… helles, hohes Klingen erschütterte die Luft. Ein weißglühender Ball schoß wie ein Blitz von oben herab, dann heulte es auf und schloß mit einem dumpfen Schlag. Alles war wie vorher, bis auf eines: In der ihnen zugewandten Flanke der nächsten Erhebung, einer unauffälligen Bodenwelle, gähnte ein neuer schwarzer Trichter.

Die drei Menschen waren bleich geworden, sie spürten ihre Herzen klopfen. Sie standen geduckt da, als hätte sie jemand angegriffen. Nur langsam fanden sie sich wieder. Da rief Al laut in die Stille hinein:

»Ich hab’s!«

»Was hast du?« fragte Don heiser.

»Morgen kommen wir in die Stadt!«

»Wieso? Wie meinst du das?«

»Was wir eben gesehen haben, war ein Meteor. Die Trichter sind Meteorkrater. Hast du welche in der Nähe der Stadt gesehen?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Aber ich: Es gibt keine. Und jetzt weiß ich, was das abstoßende Kraftfeld zu bedeuten hat: Es ist ein Abwehrschirm gegen Meteore, die es hier offenbar häufig gibt.«

»Klingt logisch. Aber was hat das alles mit unserem Besuch der Stadt zu tun?«

»Ist doch klar!« sagte Al. »Sie brauchen die Stadt ja nur gegen oben zu schützen. Ich bin sicher: Unter dem Schirm liegt ein freier Rand. Es gab doch früher Wege, die aus der Stadt herausführten. Wir müssen uns am Boden nähern, dann kommen wir hinein!«

Don schlug Al auf die Schulter.

»Mensch, dann ist dieses ulkige Kraftfeld ja gar nicht gegen uns gerichtet! Dann steht uns ja nichts mehr im Weg!«

Al nickte zuversichtlich.

»Scheint so«, sagte er trocken.

4


Am nächsten Tag waren sie wieder mit dem Hubschrauber unterwegs. Don näherte sich der Stadt im Tiefflug und landete, als er die ersten Anzeichen eines Widerstandes bemerkte.

»Du hast recht gehabt«, sagte Don zu Al, »weiter innen sind keine Krater mehr. Hoffentlich hast du auch mit deiner Ansicht recht, daß wir am Boden unangefochten hineinkommen!«

Sie stiegen aus und gingen langsam in Richtung auf die Stadt. Ihre Schritte waren unsicher. Unwillkürlich streckten sie die Hände vor wie Blinde. Irgendwo über ihnen, vielleicht auch vor ihnen, war etwas Unsichtbares und doch Wirksames, das erste Hindernis auf ihrem Weg in die Fremde, das erste Zeichen einer unbekannten Macht, der Beweis einer hohen technischen Überlegenheit. Oben in den Lüften lag es, den Sinnesorganen entzogen und doch real, zu wer weiß welchen Wandlungen und Reaktionen fähig. Bisher hatte sich nichts ereignet, was gegen sie gerichtet gewesen wäre, der Meteorfall war ein bekanntes und nicht weiter ungewöhnliches Naturereignis, aber hier, im Begriff, sich ihrem Ziel zu nähern, wurden sie sich zum erstenmal darüber klar, daß sie sich im Bereich einer undurchschaubaren Welt befanden, in der Sphäre eines zwar erloschenen, aber in seinen Werken noch nicht toten Geistes. Was sie jetzt taten, war anders und mehr, als sie bisher getan hatten, und es war in einer Weise bedeutsam, wie sie es in der Vorschau nicht hatten ahnen können.

Klein und zögernd, ohne die Hilfsmittel der Technik, auf sich allein angewiesen, gingen sie über den grasbewachsenen Boden, der keinem menschlichen Territorium zugehörte. Das Flugzeug blieb hinter ihnen zurück, und es stand schon weiter von ihnen entfernt, als sie gedacht hatten. Al hatte recht gehabt! Hier unten war die Sperre aufgehoben. Mit jedem zurückgelegten Meter gewannen sie Sicherheit, ihre Zuversicht stieg, und schließlich ließen sie die tastenden Hände sinken, sie sahen sich an und um ihre Mundwinkel lag ein Zug von Stolz und Beschämung zugleich.

Von hier unten sah das Gelände doch anders aus als aus der Vogelperspektive. Die Ähnlichkeit mit irdischen Stadtteilen war stark abgeklungen, nur die lockere Aufteilung der Gebäude erinnerte noch an ein Gartenviertel.

Bald hielten sie vor den ersten Bauwerken und konnten ihre Form und die Art ihrer Anordnung gut überblicken. Der weitaus größte Teil von ihnen hatte abgerundet glatte Vorderfronten aus spiegelndem, irisierendem Material, die, vom Stadtzentrum aus gesehen, in radiale Richtung wiesen. Die Frontwand war der höchste Teil der Gebäude, nach hinten zu erniedrigten sie sich, und im gleichen Maß nahm ihre Breite ab. Die der Stadtmitte zugewandten Enden liefen spitz zu. Über diese Spitzen spannten sich metallisch schimmernde Rundbögen, die von Netzen ausgefüllt waren.

»Sauber gebaut«, sagte Don. »Kein einziges Fenster drin. Sehen aus wie Bunker. Was meinst du?«

»Vielleicht sind es Vorratsräume. Das läßt sich nicht so einfach sagen«, meinte Al.

Katja sah sich mit großen Augen um.

»Schick«, sagte sie. »Wie moderne Garagen.«

»Hier ist alles noch gut erhalten«, sagte Al. »Die Peripherie scheint der neueste Teil der Stadt zu sein. Was man dort im Inneren sehen kann, schaut nicht mehr so neu aus.«

Sie wanderten zwischen zwei der langgestreckten Bauten hindurch. Das Gras wuchs üppig wie im freien Land, nur an den Häusern liefen schmale grasfreie Streifen entlang. Katja lief ein paar Schritte seitwärts, um eines dieser Bänder zu erreichen.

»Schlechte Wege gibt es hier«, sagte sie.

»Das fällt mir auch auf«, bestätigte Don. »Straßen kannten diese Leute hier wohl überhaupt nicht. Ich weiß nicht, wie…«

Ein pfeifendes Geräusch und ein Aufschrei Kats ließen ihn verstummen. Er fuhr herum, sah Al ein paar Schritte laufen und dann stehenbleiben. Kat war verschwunden.

»Wo ist Kat?« schrie er.

Al rang vergeblich nach Worten, er konnte nur auf die leere Wand des Gebäudes zeigen. Don rannte auf ihn zu und boxte ihn grob in die Seite.

»Was ist geschehen, Al, so antworte doch!«

»Eben war sie noch da, und plötzlich schrie sie. Ich sah eine dunkle Öffnung zuklappen. Das ist alles.«

»Wo war die Öffnung?«

Beide liefen auf das Gebäude zu und untersuchten die Wand. Al wußte noch ungefähr, wo sich das Loch aufgetan hatte, er tastete die Wand ab, fand aber nichts Auffälliges.

Da ertönte wieder das Zischen, das er schon vorher gehört hatte, jetzt in nächster Nähe, etwas vor ihm schob sich auseinander, und er glitt einwärts. Vergeblich suchte er sich an der Mauerkante zu halten, er drohte das Gleichgewicht zu verlieren, aber etwas drückte ihn sanft in sitzende Stellung… warmes gelbes Licht glühte auf. In einer weichgeschwungenen Spirale fuhr er eine geneigte Fläche empor, und das gelbe Leuchten lief vor ihm her. Wie in einem Kaleidoskop tauchten Bilder auf, Farbmuster, Kakteen, Tastaturen, Drahtplastiken… dann hielt der Fahrstuhl – vor ihm lag die weite Ebene mit den Hügeln, Seen und Felsgruppen, dahinter die braunschwarz gesprenkelte Mauer des Gebirges, und über diesem eine glitzernde Krone aus Eisspitzen, Gletschern und Firnen. Neben ihm saß Kat. Sie hielt das Gesicht in beiden Händen verborgen.

Al vergaß den herrlichen Ausblick, er sah nur mehr Kat. Er wollte aufstehen, doch etwas hielt ihn sanft, aber unnachgiebig fest. Er beugte sich so gut es ging zu Kat hinüber, legte seine Hände auf die ihren und flüsterte ihr leise beruhigende Worte ins Ohr. Er spürte, wie ihr Zittern aufhörte und sie sich an ihn lehnte.

Plötzlich dröhnte Dons Stimme:

»Das geht zu weit, Al! Bist du verrückt geworden? Kat, was fällt dir ein? Vergeßt nicht, was wir vereinbart haben – sonst mache ich Schluß!«

»Schon gut, Don. Sie war doch total erschreckt.«

»Dazu besteht kein Anlaß. Sie weiß doch, was wir tun. Sie braucht deinen Trost nicht!«

»Ist ja klar, Don. Es war doch nicht bös gemeint.«

Al hatte sich wieder zurückgelehnt. Sie saßen nebeneinander in federnden, kantenlosen Sesseln mit erhitzten Gesichtern und starrten vor sich hin. Vor ihnen, greifbar nahe, lagen das Paradies der Hügel und Seen, die Majestät der Berge. Die Formen waren von unglaublicher Tiefenwirkung, scheinbar durch nichts von den Beschauern getrennt. Die Sonne ließ an den Graten glitzernde Ketten aufstrahlen, das Land prangte in einer Harmonie aus Farbe und Licht. Die Wölbung des blauen Himmels schien zum Greifen wirklich, und – auf diesem Himmel waren die Sterne sichtbar. Mit dem Optischen war das Dargebotene aber noch nicht erschöpft: Windbewegtes Gras rauschte leise, Wärme lag wohlig auf den Gliedern. Ein leichter Thymianduft zog auf und zauberte einen Hauch von Weite, Zeitlosigkeit und Freiheit in den Raum…

Die drei Menschen starrten vor sich hin und sahen nichts, hörten nicht, fühlten nichts. Sie waren von diesen Dingen durch mehr getrennt als durch eine Wand aus seltsamem Glas, durch mehr als Millionen Lichtjahre, durch mehr als Jahrzehntausende Fortschritt.

Al fing sich als erster. Er erlangte das Gleichgewicht, aber nicht die Ruhe derjenigen, die einst, vor undenklich langer Zeit, hier gesessen haben mochten. Er blickte auf und sagte: »Das Land am Rande des Gebirges. Die irisierende Wand ist ein Fenster.«

»Sie ist mehr als ein Fenster«, sagte Katja. »Man sieht die Landschaft nicht nur – man hört und riecht sie auch.«

Don versuchte aufzustehen, aber er brachte es ebensowenig fertig wie vorher Al.

»Es ist kein Fenster – eher eine Kinoleinwand, ein Bildschirm. Sagt mir lieber, wie man hier hinauskommt!«

Bei seinen Bemühungen hatte er eine Hand seitlich ausgestreckt – und aus dem Boden neben ihm wuchs eine Schalttafel. Er drückte einen Knopf nieder… Katja kreischte auf… die Lehnen ihrer Sitzgelegenheiten kippten langsam hintüber und zogen ihre Oberkörper und Köpfe mit sich. Sie lagen und blickten auf die Decke, ohne sich erheben zu können. Don tastete wieder nach den Schaltern… feuchte, warme Nebeltröpfchen sprühten auf sie nieder, sie prickelten und stachen angenehm auf Gesicht und Händen, ein scharfer, stimulierender Geruch vertrieb den Thymianduft. Wieder fingerte Don an den Schaltknöpfen… das Licht erlosch…

»Aufhören«, rief Al, doch zu spät… etwas Nachgiebiges, aber doch Kräftiges berührte ihn, etwas griff in seine Muskeln, knetete, walkte und rieb, auf seiner Stirn kreiste etwas mit gerade noch erträglichem Druck… aber er konnte sich nicht bewegen… er versuchte um sich zu schlagen und zu strampeln, aber die unsichtbaren Hände ließen ihn nicht los, drückten, dehnten, massierten…

Endlich war der Spuk vorbei. Violette Dämmerung glomm auf… er war müde, unsagbar müde… er gab sich der Müdigkeit und den wiegenden Massen unter ihm hin…

»Al…!«

Noch einmal:

»Al!«

Mühsam riß er sich aus unbeschreiblichen Träumen.

»Mensch, wach auf! Wir müssen hinaus!«

Al wandte den Kopf: Da lag Don. Er drehte sich nach der anderen Seite: Da lag Kat.

»Ja. Wir müssen wohl hinaus.«

Schade, dachte er, am liebsten bliebe ich hier. Nichts tun, nichts wollen… träumen…

»Wir müssen hinaus.«

Vielleicht läßt man uns gar nicht mehr los. Was hat man draußen zu suchen, wenn man innen geborgen ist? Aber wir haben eine Aufgabe…

»Don, es muß einen Knopf dafür geben. Aber stell bitte nicht noch einmal Massage ein.«

Sicher gab es auch Drucktasten für Nahrungszufuhr, für Musik, für Ferngespräche.

»Findest du nicht einen einzelnen Knopf am unteren Rand der Skala?«

Das Schönste war zweifellos der tiefe von unbestimmten Träumen erfüllte, die Müdigkeit konservierende Schlaf. Al hielt die Augen halb geschlossen, aber er beobachtete, daß Don wieder an die Schalttafel griff…

Das gelbe Licht war wieder da… es lief vor ihm her… er glitt sachte abwärts… ein helles Rechteck schob sich auseinander… kaltes Licht blendete…

Al stand wieder vor dem Gebäude. Katja lehnte an der Wand daneben. Ein Zischen hinter ihm… Don taumelte zu ihnen hinaus.

5


Die Häuser brüteten still im Sonnenlicht, weiße tropfenförmige Gebilde auf grünen Matten, die Halme wiegten sich im Wind, Blütenblätter lösten sich von Sträuchern und schwebten federleicht hernieder. Darüber lag der tiefe blaue Himmel.

»Was nun?« fragte Al.

»Was nun, was nun!« Don äffte ihn nach. »Wir gehen weiter. Was denn sonst?«

»Und wohin gehen wir?«

»Ins Zentrum natürlich. Wir sind nicht zum Vergnügen da!«

Al sagte ruhig:

»Wir sind unvermutet in das Gebäude und unvermutet wieder herausgekommen. Ich nehme an, die Bewohner dieser Stadt haben sich in diesen Gebäuden aufgehalten, in dem großen Raum hinter der Stirnwand, die von außen undurchsichtig scheint, sie sind in den Liegestühlen gesessen, haben geschlafen, gegessen und getrunken, sich massieren lassen, und dazwischen haben sie das Bild auf dem Leuchtschirm angeschaut. Wahrscheinlich hatten sie den Blick aufs Hügelland und auf die Berge am liebsten, wahrscheinlich aber wollten sie zwischendurch noch etwas anderes sehen. Ich nehme an, daß man auf der Tastatur auch Schauspiele einstellen kann, Theaterstücke oder Filme. In Theater und Film kommen Menschen vor, oder was auch immer gewesen sein mag. Wir sollten uns eingehend mit der Apparatur beschäftigen. Vielleicht sind wir der Lösung unserer Aufgabe schon nahe.«

Don hatte sich in Richtung Zentrum in Bewegung gesetzt. Halb über die Schulter rief er zurück:

»Willst du noch einmal besprüht werden? Willst du dich noch einmal massieren lassen? Willst du noch einmal schlafen?« Wütend streifte er eine Handvoll Blüten vom Ast eines niedrigen Busches. »Willst du, daß uns Jak zuvorkommt?«

Katja stand unschlüssig da und sah Al ratlos an. Er gab den Blick zurück.

»Komm!« sagte er resigniert.

Sie wanderten zwischen den Bauwerken hindurch, wobei sie sich nun wohlweislich in deren Mitte hielten. Alle hatten dieselbe Form eines liegenden, sich nach hinten zuspitzenden Tropfens, alle bestanden aus demselben weißen oder elfenbeinfarbenen Material. Noch immer waren ihnen die bauchigen, wie Perlmutt glänzenden Frontwände zugewandt, in denen sich eine verwischte Sonne spiegelte. Nur gelegentlich tauchten graue, blockförmige Bauten dazwischen auf. Al hätte sie gern näher untersucht.

Als er merkte, daß Katja rasch müde wurde, bat er Don, eine Pause einzuschieben.

»Von mir aus«, knurrte Don, der sich selbst gern ausgeruht hätte. Al hatte in der Nähe ein eigenartiges, in der Form von den anderen abweichendes graues Gebäude bemerkt, und er trat vorsichtig hinzu. Er konnte keine Türöffnung sehen, aber er wußte nun schon, daß das nicht unbedingt ein Zeichen dafür war, daß es keine Tür gab. Langsam ging er um das Gebäude herum. Als sich dann mit einem Mal neben ihm eine Pforte öffnete, eine Kraft nach ihm griff, er auf einen Sitz gedrückt und weiterbefördert wurde, war er nicht weiter erstaunt.

Wieder begleitete ihn das gelbe Licht, aber der Weg war diesmal nur einige Meter lang. Al kam direkt in eine Kammer, die wie eine verkleinerte Ausgabe des Raums von vorhin anmutete. Vor einem kreisrunden, mannshohen Schirm kam er zum Halten, und sofort wurde die Fläche licht, ein Bild erschien: die bekannten weißen Gebäude dieses Stadtviertels. Al erfaßte sofort, daß es die Sicht von jenem quaderförmigen Bauwerk aus war, in dem er sich befand. Er blickte zur Seite und entdeckte, was er gesucht hatte: eine Tafel mit einigen Hebeln und Knöpfen. Er zögerte kurz, dann drückte er den Knopf links oben… ein kaum wahrnehmbares Anrucken…das Bild vor Al bewegte sich. Das, was ihm sein Bewegungssinn verriet, und das, was er sah, vereinigte sich zu einem vernünftigen Gesamteindruck: Er fuhr. Er wußte nicht, wie und wohin, aber er fuhr. Kurz sah er Katja und Don vor sich auftauchen, die erschreckten Gesichter schwebten groß auf ihn zu, er hörte die beiden rufen, sie duckten sich; dann glitt er über sie hinweg, immer weiter zwischen den Gebäuden hindurch. Mit größter Behutsamkeit versuchte er, die Knöpfe und Hebel zu betätigen und die dadurch ausgelösten Folgeerscheinungen zu registrieren. So lernte er, wie er den Bildausschnitt vergrößern und verkleinern, die Fahrt oder – was wahrscheinlicher war – den Flug beschleunigen, verlangsamen und schließlich auch zum Stoppen bringen konnte. Ganz unten befand sich ein einzelner Knopf, der dazu diente, die Insassen auf die schon bekannte Weise aus dem Gefährt hinauszuschaffen. Er sah es sich von außen an: Es war ein grauer, vorne abgerundeter Zylinder ohne irgendwelche hervorstechenden Einzelheiten.

Al blickte umher, um sich zu orientieren, aber er fand keinen Anhaltspunkt. Indem er zur Tür trat, ließ er sich wieder auf den Führersitz bringen und studierte nun die Tafel noch einmal. Neben den Knöpfen und Hebeln fiel ihm eine Zeichnung auf, über die ein ringförmiges Netzmuster lief. Darauf waren drei Punkte besonders markiert. Zwei davon, ein blauer und ein grüner, schienen fest in der Zeichnung zu sitzen. Ein weiterer war durch ein rotes Plättchen gebildet, das sich über die Linien verschieben ließ.

Eine Vermutung kam in ihm auf. Er setzte sein Fahrzeug wieder in Bewegung – richtig – der blaue Punkt begann zu wandern. Nun schob er das rote Plättchen über den blauen Fleck hinweg bis über die grüne Markierung. Er wartete gespannt. Schon glaubte er, er habe sich getäuscht, aber da bog der Flugwagen um eine Ecke, und der blaue Punkt vollführte dasselbe Manöver auf dem Plan. Denn es war ein Plan – ein Plan der Stadt mit eingezeichnetem Streckennetz. Wie das Fahrzeug mit den Strecken zusammenhing, mußte Al erst feststellen – jedenfalls war es daran gebunden. Und nun, da er das rote Plättchen, mit dem man offenbar das Ziel einstellen konnte, an den Ausgangspunkt gerückt hatte, ging die Fahrt dorthin zurück. Es erfüllte ihn mit spielerischer Freude, an sich selbst zu beobachten, wie er Herrschaft über den technischen Organismus gewann, wie gewandt sich dieser jeder Regung seiner Hand fügte. Er ließ die Fahrt schneller und schneller werden, bremste jäh und doch ohne Rucken und Schleudern, bog elegant um die Ecken, kurvte zwischen Häuserblocks und pfeilte auf den längeren Geraden blitzschnell dahin.

Es waren keine zehn Minuten vergangen, seit er die Gefährten verlassen hatte, und nun tauchten sie schon wieder auf. Kurz vor ihnen stoppte er und gab das Zeichen zum Aussteigen. Der Sitz bewegte sich unter ihm, und wie von einer Welle getragen langte er an der Tür an.

»Kommt herein«, rief er, »ihr braucht nicht mehr zu gehen!«

»Wir sind ordentlich erschrocken, als du dahergebraust kamst und dann verschwunden bist. Wo warst du?«

Al war in blendender Laune.

»Auf einer kleinen Probefahrt!« rief er. »Steigt nur ein. Bequemer geht’s nicht mehr!«

Don trat als erster an die Tür und verschwand im Inneren. Katja folgte, und als letzter kam Al. Er erklärte Don die Tastatur, und dieser setzte das Vehikel in Bewegung – Richtung innere Stadt.

6


Auch Don lernte es rasch, die Steuerung zu bedienen.

»Ich bin froh, daß euch nichts passiert ist–«, sagte Al, »vorhin, als ich über euch hinwegfuhr. Wie sieht das eigentlich von außen aus, wenn sich das Ding bewegt?«

Don konzentrierte sich auf den Weg, obwohl das Fahrzeug seine Richtung von selbst beibehielt. Als er antwortete, sprach er zur Sichtplatte hin.

»Es fährt nicht – es fliegt, oder besser, es schwebt. Ungefähr drei Meter über dem Boden. Wie ein Zeppelin, nur viel schneller. Frage nicht, wie es das fertigbringt.«

»Fein, daß du es gefunden hast, Al«, meinte Kat. Sie saß vor ihm und hinter Don. Soweit es ihr Sitz zuließ, rutschte sie nach links und rechts, je nachdem, wo es gerade etwas zu sehen gab. »Gehen ist langweilig, aber das macht Spaß!«

»Ich glaube, in der Erde ist eine Leitschiene versenkt; vielleicht ist das Ding durch Radar mit ihr verbunden. Vielleicht bekommt es von dort auch die Energie. Jedenfalls ist es nicht möglich, vom vorgezeichneten Straßennetz abzuweichen.«

Seine Bemerkung hatte zur Folge, daß Don noch einmal alle Hebel und Tasten durchprobierte, aber er fand die Mitteilung Als bestätigt. Nachdem Don mehrmals beschleunigt, gebremst und wieder beschleunigt hatte, gab er seine Versuche auf.

»Na schön, lassen wir den Kasten eben laufen. Weit haben wir es sowieso nicht mehr – dann scheint Schluß zu sein.«

»Diese Art der wegelosen Fortbewegung ist eigentlich ideal«, bemerkte Al. »Hier hat unsere Entwicklung eine andere Richtung eingeschlagen. Die ganze Erde ist durch Wege und Straßen zerschnitten. Ich habe es schon oft bedauert, daß dadurch kein Stück Landschaft unberührt erhalten geblieben ist.«

Dazu sagte niemand etwas.

Nach einigen hundert Metern stoppte das Fahrzeug, und sie ließen sich hinaustransportieren.

»Schade«, rief Kat, »müssen wir wieder gehen?«

»Wenn du willst, kannst du hier zurückbleiben«, antwortete Don. Er spähte umher, um sich über ihren weiteren Weg klarzuwerden. Der kontraststarken Räumlichkeit und Farbenfreude des Leuchtschirmbildes gegenüber mutete die Wirklichkeit blaß und nüchtern an. Der Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß sie offenbar an der Grenze der modernen Außenanlagen standen.

»Jetzt weiß ich, warum das Schienennetz nur einen Ring bildet und hier aufhört.«

Don zeichnete den Ring in die Luft. »Wir kommen hier in ältere Stadtteile – der Zeppelin wurde erst nachher erfunden.«

Al nickte.

»Die Stadt scheint sich radial nach außen entwickelt zu haben. Wahrscheinlich bauten sie einen Ring nach dem anderen dazu.«

»Aber warum haben sie nicht die Innenteile modernisiert?«

»Wozu?« fragte Kat. »Sie haben ihre modernen Häuser so gebaut, daß sie stets nach außen schauten. Da konnte es ihnen doch gleich sein, wie es innen aussah.«

»Na eben«, meinte Al. »Und über die Zeit der Übervölkerung waren sie sicher längst hinaus.«

»Warum gehen wir eigentlich weiter in die Stadt?« fragte Katja. »Nach dem, was ihr sagt, war doch zuletzt sowieso niemand im Zentrum. Was haben wir also dort zu tun?«

Don trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Das Innere der Stadt zog seine Abenteuerlust mächtig an, aber andererseits war ihm auch sehr daran gelegen, das gesteckte Ziel zuerst zu erreichen – und um diesen Preis wäre er zu vielem bereit gewesen, sogar zu einer minutiösen Untersuchung. Da hätte er aber Al noch nachträglich zustimmen müssen, der schon vorher dafür eingetreten war, die Gebäude genau zu prüfen, und dazu konnte er sich nicht so leicht entschließen.

»Wir haben in den Häusern nichts von den Bewohnern gesehen«, sagte er unsicher.

»Wo sind sie hingekommen?« fragte Kat; man sah ihr an, daß ihr das Problem zu schaffen machte. »Mit einer Theorie hast du jedenfalls nicht recht gehabt!«

»Mit welcher Theorie?« erkundigte sich Don gereizt.

»Na, daß sich die Bewohner selbst umgebracht haben. Die Häuser der letzten Generation sind doch unbeschädigt!«

»Was sagt das schon? Denk nur an Giftgas oder Bakterien!«

»Da hätten wir doch Spuren von ihnen finden müssen!«

»Vielleicht haben sie sich in die Keller zurückgezogen?«

»Das könnte sein. Wir haben nicht nachgesehen«, mischte sich Al ins Gespräch.

Don fauchte gereizt.

»Dazu hatten wir keine Gelegenheit. Oder bist du vielleicht deinem Sessel entkommen?«

»Meint ihr wirklich, daß wir die Bewohner dieses Planeten als Mumien in den Kellern antreffen werden?« Katja schwankte zwischen Schaudern und Neugier.

»Ich glaube, es handelt sich um ein ganz anderes Problem«, sagte Al. »Wir sollten uns mehr damit beschäftigen!«

»Willst du schon wieder deine Theorien verkaufen?« fragte Don. Er versuchte, den spottenden Ton der Überlegenheit zu treffen, aber insgeheim gestand er sich ein, daß er damit nur einen Mangel verbergen wollte.

»Die Frage ist die«, fuhr Al fort, ohne auf Dons Ironie einzugehen, »wohin führt die Entwicklung intelligenter Wesen, wenn sie die Phase der Selbstvernichtung überstanden haben? Das glaubst du doch selbst nicht, Don, daß wir die einzigen sind, denen das gelungen ist.«

»Wohin soll sie schon führen?« Don stellte die Frage von oben herab. In näselndem Tonfall deklamierte er: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«

»Nimmst du an, daß eine Rasse, die eine bestimmte technische Vollkommenheit erreicht hat, nichts mehr zu fürchten hat?«

»Vielleicht sind sie von selbst ausgestorben?« Don zeigte jetzt den Unwillen, den ihm diese Diskussion bereitete, immer deutlicher.

Al ließ nicht locker.

»Du meinst also: Wenn sie erst einmal so weit sind, daß es keine Gefahren mehr für sie gibt, daß sie alle ihre Wünsche befriedigen können, daß sie keine Probleme mehr haben – dann ist es sozusagen sinnlos für sie weiterzuleben. Sie legen sich hin, um zu sterben. Ist das nicht zu einfach?«

»Überlaß es mir, was ich meine«, schrie Don, und jetzt war er wirklich erzürnt. »Ich schlage vor, wir sehen zu, daß wir auf diesen Turm hinaufkommen.« Er wies auf einen hochgestellten Block mit einer Kuppel aus dem gleichen irisierenden Material, das ihnen schon an den Vorderfronten der Villenbauten aufgefallen war. Er überragte die meisten anderen Gebäude beträchtlich. »Von dort haben wir gute Aussicht über den größten Teil der Stadt. Vielleicht finden wir irgend etwas, was uns weiterhilft, und dann–«, er verbarg nicht, wie schwer ihm dieses Zugeständnis fiel, »dann können wir ja noch immer eines der Häuser untersuchen.«

»Eine gute Idee«, sagte Al und zwinkerte Kat zu, denn er meinte, daß sie sich auch über Dons Erregbarkeit lustig machte; sie aber sah ihn groß an und ging still hinter Don her.

Sie verließen nun die Zone der Ordnung und der Sauberkeit. Die Häuser rechts und links rückten aneinander und bildeten nun erst Zwischenräume, die man als Straßen bezeichnen konnte. Die Bauten bestanden aus verschiedenfarbigem und wahrscheinlich auch verschiedenartigem Material. Manche waren groß, manche klein – jedes schien so geformt zu sein, wie es dem Erbauer gerade eingefallen war. Und sie waren nicht mehr intakt. Farbe blätterte von Wänden ab, schwammige Verwitterungsprodukte füllten Nischen und Ecken, in langgestreckten Öffnungen, die wahrscheinlich Fenster waren, ringelten sich Fetzen eines durchsichtigen Stoffes.

Es gab aber auch Zerstörungen, die nicht auf das Alter, sondern auf Einflüsse von außen zurückzuführen waren: Risse in den Mauern, eingestürzte Dächer, verkohlte Ruinen. An einigen Stellen waren auch die Spuren von Ausbesserungsarbeiten festzustellen: Manche Sprünge waren mit einer mörtelähnlichen Masse ausgefüllt; über einigen Ruinen waren Notdächer errichtet.

Und dann stießen sie auf eine Trichteröffnung.

Hier gab es keine Pflanzen mehr, kein Gras und kein Buschwerk, der Weg war mit Schutt und aufwirbelnden Staubmassen überzogen. Er hörte plötzlich auf; unvermittelt brach der Boden ab; die tiefste sichtbare Stelle lag etwa fünf Meter tief – eine Mulde unter gelbem Staub. Staub klebte auch an der Trichterwand. Don kniete am Rand nieder, bückte sich und fächerte ein wenig von dem leichten, gelben Material mit dem Taschentuch beiseite. Rote, braune und schwarze, klumpig geronnene Schlacke kam zutage.

»Ein Meteorkrater!« rief Kat. »Ich habe geglaubt, die Stadt ist vor Meteoren geschützt!«

»Jetzt schon«, erklärte Al, »aber früher war sie es nicht.«

»Hm«, brummte Don und schlug sein Taschentuch aus. »Hm – den Schirm haben sie wohl erst erfunden, als sie den äußeren Gürtel zu bauen anfingen.«

Al stimmte zu.

»Wahrscheinlich hatten sie erst zu diesem Zeitpunkt gelernt, die Materie so zu beherrschen, wie sie es zuletzt konnten. Obwohl ich nicht viel von Technik verstehe, glaube ich doch, daß uns manches vollkommen unbekannt ist. Beispielsweise der Schirm. Oder der Mechanismus, der uns von den Türen ins Innere und wieder hinaus befördert hat.«

Katja blickte unbehaglich zum Himmel hinauf. Von dem Schutzschild war absolut nichts zu bemerken – und an der Existenz dessen, was man nicht sieht, beginnt man leicht zu zweifeln. Don grübelte noch immer.

»Könnte es sich nicht um das Bombardement einer feindlichen Machtgruppe gehandelt haben? Vielleicht geht es von einer Automatik aus, die heute noch in Betrieb ist, weil sie niemand abgestellt hat?«

Al schüttelte den Kopf.

»Daran glaube ich nicht. Eine solche Macht besäße wirksamere Mittel – nicht nur solche verhältnismäßig harmlosen Geschosse.«

»Na, dann vorwärts«, kommandierte Don. »Hier irgendwo muß der Aussichtsturm ja stecken!«

Vom Inneren des Häuserwirrwarrs aus war das nicht zu erkennen. Sie mußten nach Stellen suchen, von denen sie von Zeit zu Zeit zwischen den flachen Dächern hindurch einen Blick auf das hochaufragende Bauwerk werfen konnten, um die ungefähre Richtung festzustellen.

Sie bogen noch um einige Ecken und kamen dann wirklich vor dem Turm an. Obwohl auch er Spuren des Verfalls trug, schien er noch einigermaßen stabil zu sein. Im Gegensatz zu den modernen Häusern waren die Türöffnungen ohne weiteres zu erkennen.

»Sei vorsichtig«, riet Kat, als Don an die Schwelle trat. »Wenn der Beförderungsautomat defekt ist, kannst du ganz schön steckenbleiben oder zerdrückt werden!«

Don winkte lässig ab.

»Keine Sorge, Kind!«

Es schien sich tatsächlich nichts Besonderes zu ereignen. Er tauchte in den dunklen Raum, tastete nach einem Schalter und fand keinen. Allmählich gewöhnte er sich an die ungünstigen Lichtverhältnisse und begann die Umrisse der Einrichtungen zu erkennen. Links führte eine geneigte Bahn hinauf, rechts hing ein kastenartiges Gebilde in senkrechten Schienen. Don vermutete darin einen Aufzug und wandte sich einer Plastiktafel mit Druckknöpfen zu, die rechts davon in Hüfthöhe montiert war.

Auch Katja und Al hatten nun den Raum betreten. Sie warteten, bis sich ihre Augen der natürlichen Beleuchtung durch die Fenster angepaßt hatten. Jetzt zuckten sie zusammen, denn der Aufzugkasten begann aufzusteigen, wobei er eine Staubwolke verbreitete.

Sie hörten Don husten, sie beobachteten auch den Staubnebel, wie der Schatten der Aufzugkabine im freien Gestänge auffuhr.

»So komm doch herunter«, schrie Al, »glaubst du, wir wollen zu Fuß steigen?«

Oben rasselte es wieder, dann prasselte ein wenig Schutt um sie herum auf den Boden… dumpfes Getöse, ein Splittern, ein Krachen – ein dunkler Körper schlug vor ihnen auf, der Boden bebte, und das Gestänge zitterte mit sägendem Geräusch.

Al schüttelte den Staub aus den Augen und versuchte, den Nebel zu durchdringen, um sich davon zu überzeugen, daß es auch die anderen überstanden hatten.

»Das hätte ins Auge gehen können«, stöhnte er. Neben ihm tauchte Don aus dem Staub heraus. »Lebst du noch?«

»Die Hand geprellt«, preßte Don zwischen den Zähnen hervor. »Wie konnte ich so blöd sein!«

Al rang nach Atem.

»Das frage ich mich auch.«

»Na, du bist natürlich der Neunmalkluge«, zischte Don und spuckte Sandkörnchen aus.

»Deine Begriffsstutzigkeit geht mir auf die Nerven!« rief Al. »Wenn du die Sache nicht ernst nehmen willst, dann kannst du dir statt meiner jemand andern suchen!«

Aus einer Ecke kam das Wimmern von Kat.

»Kat«, rief Don, »wo bist du?«

Auch Al vergaß den Streit.

»Bist du verletzt?«

»Ja«, flüsterte Kat.

Die beiden Männer trugen das Mädchen ins Freie und legten es auf den Boden.

»Was fehlt dir, Kat?« fragte Al.

Katja weinte leise vor sich hin.

Don bewegte ihre Arme und Beine, hob ihren Kopf und versuchte, den Körper umzudrehen – da sprang Katja auf.

»Du machst mich schmutzig«, schrie sie wütend. »Laß mich los!«

»Kinder, Kinder«, mahnte Al. »Wenn nichts passiert ist, dann seid doch zufrieden! Hört auf zu streiten!«

Don war beleidigt.

»Ich gehe zu Fuß hinauf. Macht, was ihr wollt!« Er wandte sich zur Tür und trat ein.

Al schaute zweifelnd auf Katja – sie sah zwar zerrupft, aber dabei zufriedenstellend lebendig aus, und er beeilte sich, Don zu folgen. Seufzend kam Kat hinterdrein.

Der Turm war mindestens dreißig Stockwerke hoch. Vom ungewohnten Steigen außer Atem, langten sie endlich oben an. Don schien mit seiner Vermutung gar nicht so sehr danebengegriffen zu haben. Der Raum war mit einer Kuppel überdacht, einer Kuppel aus jenem Material, dessen wundersame Eigenschaften sie schon kannten – von außen glänzend, ungleichmäßig reflektierend und in allen Farben spielend, von innen durchsichtig, die Plastizität des eingefangenen Bildes unglaublich verstärkend. Vielleicht war es ihnen früher nicht aufgefallen, oder die Erscheinung wirkte hier besonders intensiv: Die Sterne hingen als verteilte Kaskaden im Raum.

Sie standen auf einer erhöhten Plattform, Schweiß lag auf ihren Stirnen, Staub klebte an den Kleidern, der überstandene Schreck war auf ihre Gesichter geschrieben – aber hier waren sie zum ersten Mal auf ihrer Fahrt dem Zauber von etwas Gewaltigem, von Menschen Nieerlebtem unterworfen, dem sich auch der Abgebrühteste unter ihnen nicht entziehen konnte.

Nach einer Weile trat Don zu einem Kästchen, das auf einem Sockel im Mittelpunkt des Raumes stand.

»Probier es du«, sagte er zu Al.

Al drehte behutsam an einem der Räder, und sie sahen sofort, was dadurch verändert wurde. Der Ausschnitt auf dem Kuppelschirm wechselte, eine Winkelsekunde Drehung des Rades warf sie Millionen Lichtjahre weit in den Raum hinaus – es war, als stünden sie zwischen den Sternen. Die ruhigen Lichter hingen zu bunten Nebeln gedrängt in der Leere, in Spiralen, Scheiben, Kugeln; Kometen schwebten dazwischen, Gaswolken rotierten. Es waren unbekannte Sterngruppen, nie beobachtete Verteilungen, aber es war doch dasselbe Weltall, das sie von der Erde aus gesehen hatten, dieselben Sterne, dieselben dunklen oder leuchtenden Materiewolken, und irgendwo, in einem versteckten Winkel, den zu suchen sie jetzt keine Muße hatten, der aber diesem wunderbaren künstlichen Auge sicher zugänglich war, stand auch die Sonne, ihre Planetenfamilie, die Eiswelt Neptuns, Saturn mit seinem Ring, die Steinwüste Mars, der Wolkenkessel Venus, Merkur, der glühende Ball, und dazwischen wanderte die Erde, die Heimat, darauf lebte der Mensch, darauf wandelte sich seine Kultur, darauf lebten und dachten, wünschten und starben jene, von denen sie selbst nur Teil waren. Keiner von ihnen hatte geglaubt, daß sie noch so staunen konnten, und jeder empfand in diesen Sekunden etwas Unaussprechliches, das die Werteskala dessen, was er erwünscht, erstrebt und schon erreicht hatte, ins Absurde und auf andere ungeahnte Art Sinnvolle umschmolz.

Al drehte das Einstellrad wieder zurück, und das Panorama des Planeten, die burgartig überbaute zentrale Kuppe, die ringunterteilten Entwicklungsstadien der Stadt, das Becken aus Hügeln und Seen und der Gefäßrand der Gebirge ringsumher, umschloß sie wieder.

Al rührte an einen anderen Hebel, und mit schwindelerregender Plötzlichkeit kippte die Landschaft um und schoß auf sie zu. Langsam wanderte ein stark vergrößerter Ausschnitt am unteren, ein wenig nach außen und abwärts gerichteten Kuppelrand entlang; Häuser, Türme und Brücken traten als leuchtendes Bühnenbild hervor und fielen an der Grenze des Vergrößerungsfeldes zu einem punktförmigen Nichts zusammen, glitten ins Unwichtige, Verschwommene, Wesenlose hinein, während sich neue Bauwerke zu scharfgezeichneten Kulissen aufblähten.

»Halt!« brüllte Don.

Sein Schrei riß ihn selbst wie auch die anderen aus der Verwunschenheit der Stunde, und sie nahmen wieder wahr, nachdem sie vorher geschaut hatten, sie hörten, nachdem sie vorher gelauscht hatten, und sie dachten, während sie vorher gefühlt hatten. Sie nahmen wahr: eine für diesen Ort unerwartete, unpassende, dafür aber typisch menschliche Bewegung – das Auf und Ab des Körpers beim Gehen, das Einknicken der Knie, das Vorsetzen der Füße, das Schlenkern der Hände… In kleinen gelben Wattebäuschen stiegen Staubwolken dahinter auf. Jedes Detail war ganz deutlich.

»Jak!« Wieder brüllte Don. »Der da vorn ist Jak, seitlich hinter ihm kommt René… und da gehen ja auch Tonio und Heiko! Wo sind sie, kannst du dich orientieren?«

Al verkleinerte den Ausschnitt, und sie gewannen ein ungefähres Bild davon, wie weit die zweite Gruppe von ihnen entfernt war und aus welcher Richtung sie dem Zentrum näher rückte. Jetzt verschwand sie hinter einem langgestreckten, niederen Bau.

»Menschenskind, Al!« rief Don. »Die haben sich auch nicht außen aufgehalten. Jak hat den richtigen Riecher. Sie gehen zum Zentrum. Wie weit sind sie noch davon entfernt – einen Kilometer? Zwei Kilometer? Al – worauf wartest du, so geh schon, Katja, beeil dich – sie kommen uns zuvor!«

Al fixierte einen Punkt des Schirms. Langsam regulierte er den Vergrößerungsmaßstab… jetzt hatte er eingefangen, was ihm aufgefallen war…

»Was hast du denn, Al! So komm doch!« Don kehrte noch einmal zurück, um Al mit sich fortzuziehen.

»Einen Moment«, rief dieser. »Schau doch!«

Alle betrachteten die Stelle, die Al nun groß herausgebracht hatte, eine Szene aus dem äußeren, modernen Teil der Stadt. Inmitten einer Gruppe der bekannten tropfenförmigen Gebäude, umgeben von friedlichen Grünflächen, lag ein seltsam kontrastierender Fleck. Zwei Häuser waren auf die Seite gedrückt und eingebogen, ein total zerquetschter Beförderungszylinder lag daneben – das Zentrum der Zerstörung schien eine flache Mulde zu sein, in der sich längst wieder Gras angesiedelt hatte.

»Was hast du denn? Ein Meteorkrater – wie viele andere!« sagte Don.

»Hier gibt es keine Meteorkrater.« Al schloß die Augen in angestrengtem Nachdenken. »Es ist viel einfacher: ein Unglücksfall, eine Explosion.« Er schwieg wieder ein paar Sekunden. Dann sagte er: »Der äußere Ring ist doch nicht das letzte Stadium der Stadt. Du hast recht gehabt, Don: Wir müssen ins Zentrum.«

7


Wieder waren sie auf dem Marsch gegen die Stadtmitte, aber sie kamen nicht weit. Die Häuser drängten sich immer enger, die Gäßchen, die sie freiließen, wurden immer verwinkelter. Die Freunde konnten die Richtung nicht beibehalten, sie wurden zu Umwegen gezwungen, betraten immer neue Plätze und Winkel, ohne ihrem Ziel wirklich näher zu kommen.

»Wie lange wollt ihr noch weitergehen?« fragte Katja matt. »Es wird schon finster!«

»Jetzt umdrehen!« Don war entsetzt. »Jetzt willst du umdrehen – wo wir kurz vor dem Ziel stehen! Und so was habe ich mitgenommen!«

»Ich hab’ doch nur gefragt«, verteidigte sich Kat. »Du brauchst mich nicht so anzufahren. Ich wollte dich nur warnen. Ihr habt nicht einmal Lampen!«

»Es wird eine sternklare Nacht«, sagte Don. Er wischte alle Bedenken mit einer Armbewegung fort. »Sagt mir lieber, wie wir weiterkommen. So eine Sauerei. Sagt mir, wie wir hier weiterkommen!«

»Mir ist so, als müsse sich weiter rechts eine größere Straße befinden«, sagte Al. »Da besteht am sichersten Aussicht, daß wir das Innere erreichen.«

»Was redest du da? Da müßten wir doch erst ein Stück zurück! Wir vergeuden unsere Zeit!«

Erst als sie noch einmal im Kreis herumgeirrt waren, gab er Als Ratschlag nach. Sie liefen etwa eine Viertelstunde durch enge Gassen, über holprigen, staubbeladenen Boden, an rissigen Wänden und leeren Fensterlöchern vorbei, dann erreichten sie ein schmales hohes Haus, das sich an eine riesige Mauer lehnte. Sie war aus rauhen, roh vermörtelten Steinen aufgebaut. Oben endete sie mit einem gezackten Rand, der den Himmel zu berühren schien. Während rechts wie bisher Häuser ihren Weg säumten, begleitete sie nun links die Mauer.

»Eine Stadtmauer«, sagte Katja.

»Jetzt sind wir im Mittelalter angelangt«, sagte Al.

Don war noch immer gereizt.

»Irgendwie muß man doch hinüberkommen!«

»Wir können eine Leiter holen«, schlug Katja vor.

»In solchen Mauern gibt es meist einige Tore«, sagte Al. »Irgendwie mußten ihre Bewohner ja heraus- und hineinkommen.«

Katja schlug sich auf die Stirn. »Vielleicht konnten sie fliegen!«

»Wohl kaum«, sagte Al, »denk doch an die Schwebeboote! Wozu hätten sie diese gebraucht? Und auch die ganze übrige Einrichtung spricht dagegen.«

Die Straße im Schatten der Mauer führte ein wenig bergauf, und da der obere Rand genau horizontal lief, schien die Höhe nicht mehr so unüberwindlich.

»Wie mögen die Wesen, die diese Stadt bewohnt haben, ausgesehen haben?« fragte Kat.

»Ich glaube nicht, daß sie sich viel von uns unterschieden haben«, antwortete Al.

»Wie kommst du darauf? Können es nicht geradesogut riesige Frösche, Ameisen oder Pinguine gewesen sein?«

Al lachte amüsiert.

»Aus den Einrichtungsgegenständen kann man eine Menge Schlüsse ziehen. Wir haben bisher nur wenig kennengelernt, aber schon das wenige verrät viel. Denk daran, daß sich die Gestalt der Sitze unseren Körperformen gut angepaßt hat, daß die Schaltbretter durchaus für die Bedienung von Händen eingerichtet waren, daß die Projektionsflächen Bilder wiedergaben, die unseren Augen tadellos entsprachen. Die Größen der Fenster und der Türen unterscheiden sich nicht von jenen der Erde. Zwar gibt es hier keine Stufen, aber die geneigten Bahnen lassen sich ohne weiteres begehen, wenn wir das auch nicht gewöhnt sind.«

»Allerhand, was du da alles herausliest«, sagte Kat bewundernd.

Don beteiligte sich nicht an diesem Gespräch. Sein Blick hing an der Mauer, als wolle er sie durchbohren.

»Zu alldem kommt aber noch etwas anderes«, fuhr Al fort. »Dieser Planet gleicht fast hundertprozentig unserer Erde. Die Gravitation ist dieselbe, die Längen von Tag und Nacht stimmen mit den unseren überein, das Klima ist gesund und frühlingshaft, so wie wir es in den Kurparks von Äthiopien oder von Nepal finden. Diese Reihe könnte ich noch beliebig lange fortsetzen. Und diese Ähnlichkeit macht es sehr wahrscheinlich, daß diese Welt Wesen hervorgebracht hat, die uns im großen und ganzen gleich sind.«

»Und du meinst«, sagte Kat, »daß es auch hier…«

Don unterbrach sie abrupt.

»Schluß mit dem Geschwätz! Ich will einen Blick hinter die Mauer werfen. Helft mir lieber!«

An der Steinwand wölbte sich ein Schuttberg empor, und dieser schien gute Bedingungen für Vegetation zu bilden, denn er war mit Büschen überzogen, und von ihm aus rankten sich einige Kletterpflanzen über die Steine bis über den Rand hinauf.

Don kletterte über die Steintrümmer hoch, rüttelte einmal an dem Rankengewächs und fing an, hinaufzusteigen. Die Pflanze mußte schon sehr alt sein, der Stamm war armdick, manche Teile waren verdorrt, aber andere wirkten noch frisch, und vor allem bildeten die vielen Gabelungen eine Kletterwand, wie man sie sich besser nicht vorstellen konnte.

Als Don oben war, stieß er einen Schrei der Enttäuschung aus.

»Kommt nach!« rief er. »Es nützt zwar nichts, aber es lohnt sich!«

Al bat Katja, zuerst aufzusteigen, und kletterte selbst als letzter hoch. Bald standen sie alle auf dem breiten Gesims und schauten hinein ins Innere der Stadt. Es war der Anblick, den sie schon einmal genossen hatten – gestern vom Flugzeug aus –, aber jetzt befanden sie sich viel dichter davor: vor der riesigen burgartigen Anlage mit den breitflächigen rostbraunen und tintigvioletten Dächern, den spitzen Türmen mit Strichmustern aus Schießscharten, den feucht und silbrig glänzenden Mauerflächen, den kopfsteingemusterten Hofarealen. Das Ganze krönte eine Ruine mit einem eingestürzten Turm und einer wie ein Flügel daran hängenden, mehrfach durchlöcherten Wand.

Der Eindruck des Spielzeugartigen war verschwunden und jener von romantischer Erhabenheit an seine Stelle getreten.

Auf der anderen Seite der Mauer gähnte ein tiefer Graben, und darin lag der grüngraue Spiegel von Wasser. Am anderen Ufer zog sich noch eine Mauer dahin, nicht so hoch wie jene, auf der sie standen, aber doch hoch genug, um einen Schwimmer daran zu hindern, sich an der Kante emporzuziehen.

»Wieder nichts«, sagte Don. »Vielleicht können wir hier oben ein Stück entlanggehen.«

Sie wanderten über die Mauer, folgten zwei leichten Knicken und standen dann vor einer Plattform. Sie war mit einer Brüstung eingefaßt, eine Stiege führte von der Straße zu ihr herauf.

»Da hätten wir es wesentlich bequemer gehabt«, murmelte Al.

Don stelzte über das steinerne Geländer, und die beiden anderen folgten seinem Beispiel.

Es schien sich um eine Aussichtsrampe zu handeln, denn von hier hatte man einen besonders guten Überblick über die Anlage. Hier oben pfiff der Wind, die Luft war voll von unbestimmten Geräuschen, es sauste, hallte und heulte, sie glaubten, Hämmern und Klirren herauszuhören, dumpfe Rufe, undeutlich und grollend, windvertragene Stöße von Poltern und Geschrei.

Und dann unterdrückte Don einen Aufschrei, er packte zu, fand die Schultern Als und Katjas, seine Finger gruben sich schmerzhaft ein…

Unten tat sich etwas, was ihnen wie ein Traum vorkam: Zwei Reihen schwarzvermummter Gestalten zogen aus einem runden Tor in einen Hof und postierten sich an der rechten und linken Seite in einem tief in Schatten getauchten Hof, die kapuzenbewehrten Gesichter einander zugewandt. Sie trugen lodernde Fackeln, die die Szene gespenstisch beleuchteten. Dann spie das Tor einen seltsamen Reiter aus: Seinen Körper bedeckte eine graue Rüstung, seinen Kopf ein grauer Helm; das Tier, auf dem er saß, glich einem großen grauen Wiesel. Von der anderen Seite näherte sich ein zweiter Reiter, ein Gegenstück zum ersten, in Weiß. Beide trugen Gegenstände, die Peitschen sehr ähnlich sahen, nur waren sie bedeutend massiver. Sie hielten ihre Tiere einen Augenblick still und hoben ihre Waffen zum Gruß. Hierauf stürmten sie peitschenschwingend aufeinander zu, bei jedem Treffer sprühten Funken, erst nach Sekunden langte der kurze Knall bei den Zuschauern auf der Mauer an.

»Elektrische Peitschen«, flüsterte Don.

Mit größter Spannung verfolgte sie das Geschehen. Die Situationen wechselten blitzschnell, die Reittiere bewegten sich schlangengleich, die Peitschen fuhren durch die Luft, die Schläge klatschten. Jeder der beiden Kämpfer wankte einige Male im Sattel, beiden merkte man die Ermattung an, aber sie warfen ihre Tiere erneut herum, wieder setzte ein wilder Schlagwechsel ein, in der zunehmenden Dunkelheit leuchteten die Funken wie Sternschnuppen – dann war das Duell beendet. Der graue Ritter lag am Boden. Der weiße hob zum Gruß die Peitsche und ritt in das Tor. Die Reihen der Vermummten folgten ihm langsam und plump. Die Fackeln loderten ein letztes Mal. Dann versank der Platz im Dunkel. Der Spuk war vorbei.

Die drei Freunde sahen einander an, Don triumphierend, Katja voll Aufregung, Al in gespannter Nachdenklichkeit.

»Da unten sind sie!« sagte Don. »Sie sind noch am Leben. Sie spielen Ritter. Sie sind in Primitivität verfallen! Wir werden es nicht schwer haben mit ihnen! Wenn wir erst unten wären! Was hast du denn schon wieder, Al?«

Al hatte einen lockeren Stein aus der Mauer gebrochen. Er holte aus und schleuderte ihn mit aller Kraft auf die Wasserfläche. Aufmerksam beobachtete er seinen Fall. Dann wandte er sich enttäuscht ab. »Zu finster, schade!«

»Hast du wieder etwas entdeckt, Al?« fragte Kat.

»Ja«, antwortete er, »aber ich kann es nicht beweisen. Noch nicht. Kommt, gehen wir!«

Von ihrem Standpunkt aus war zu erkennen, daß sich die Mauer nun durch einige meterhohe Stufen erhöhte, die nicht zu überwinden waren. Aber weiter rechts, jenseits eines weiteren Knicks, sahen sie etwas, was ihre Herzen höher schlagen ließ; eine Brücke, die den Burggraben in hohem Bogen überspannte. Eilig stiegen sie die Treppe hinab.

8


Die Sonne war noch nicht untergegangen, ihr Schimmer breitete sich wie rotgoldener Samt auf den höchsten Teilen der westwärts gerichteten Gebäudefronten. Darunter lag der nachtblaue Schatten wie eine unbewegte dunkle Flüssigkeit. Es sah aus, als füllte diese Flüssigkeit die Straßen, als leckte sie in den Wänden, um die Stadt schließlich unter einer Decke aus Düsternis zu begraben. Wie ein flammender Baldachin hing der Himmel darüber. Das Blau spielte ins Violett, und von Westen her wuchs eine Korona aus gelb eingefaßten orangen Strahlenbündeln empor: An einigen Stellen glänzten schon Sterne.

Unbeirrt eilte Don voran, und seine Begleiter stapften hinterdrein. Wieder lehnten Häuser an der Mauer, von ihren flachen Dächern hätte man darübersehen können, aber das war jetzt nicht mehr nötig. Das neue Zwischenziel schien greifbar vor ihnen zu liegen: über die Brücke ins Zentrum zu kommen.

Bald sahen sie die Mauer nicht mehr, aber sie hielten sich stets links und konnten auf diese Weise den Zugang zur Brücke nicht verfehlen.

Nach wenigen Minuten kamen sie durch ein schmales Gäßchen – so schmal, daß sie hintereinander gehen mußten –, und dann öffnete sich ein weiter Platz. Wie ein stiller See lag er da, mit seinem holprigen Pflaster; die Steinkappen sahen seltsam durchsichtig aus und verstärkten den Eindruck des Bodenlosen, aber das kam bloß vom milchigen Glanz des Sternenlichtes, der sich im Staubüberzug fing.

In der Mitte des Ovals erhob sich inselartig ein Podest mit einem überdachten Säulenkranz.

»Ein Brunnen«, vermutete Kat.

»Vielleicht ein Pranger«, riet Al.

Nach links verengte sich der Platz, und dort gähnte das schwarze Halbrund eines Tores. Es bestand kein Zweifel – dahinter mußte die Brücke liegen.

Sie waren stehengeblieben und setzten sich nun hastig wieder in Bewegung. Die Atmosphäre hatte etwas Lauerndes an sich; unwillkürlich gingen sie an den Häusern entlang.

»Pst!« zischte Don. Er lauschte eine Weile. »Habt ihr nichts gehört?«

Katja setzte zu einer Antwort an, aber in dem Moment hörten sie es alle – ein leises ruckweises Schleifen… Dann wieder Stille. »Es kam von vorn«, sagte Al und beschrieb mit seinem Arm einen unbestimmten Viertelkreis.

»Es war sehr weit von hier«, sagte Don und schritt langsam weiter. Ein leiser Ruf Als ließ ihn wieder anhalten.

»Hier ist jemand gewesen!«

Al deutete auf einen Streifen, der quer durch den Staub auf das Tor zulief. Don hockte sich davor nieder und versuchte, Einzelheiten festzustellen.

Katja war einige Schritte zurückgewichen. In sich zusammengesunken lehnte sie an einem Mauervorsprung.

»Die Ritter…«, stammelte sie, »die Ritter mit ihren furchtbaren Peitschen!«

»Was können sie uns schon tun?« beruhigte sie Al. »Du brauchst keine Furcht zu haben. Du brauchst doch bloß zu denken…«

Don richtete sich jäh auf.

»Viel schlimmer«, sagte er leise vor Zorn. »Jak und seine Gruppe«, und zu Al gewandt: »Schau dir diese Spur an!«

Al betrachtete die Stelle, fand Abdrücke von Kreppsohlen und bestätigte Dons Beobachtung.

»Sie waren vor uns da!« flüsterte Don. »Sie sind uns zuvorgekommen!«

Al trat zu ihm. Jetzt tat ihm der Freund fast leid.

»Verlier doch nicht gleich den Mut. Gut, sie waren vor uns da. Aber damit haben sie doch ihre Aufgabe noch nicht gelöst. Es steht noch völlig unentschieden!«

»Glaubst du das wirklich? Sagst du das nicht nur, um mich zu trösten?« Es war zu hören, daß Don neuen Mut schöpfte. »Meinst du, daß es noch Schwierigkeiten gibt, wenn wir erst im Zentrum sind?«

»Dann fangen sie wahrscheinlich erst an«, sagte Al. Er schätzte das keineswegs als etwas Positives ein, aber Don nahm es dafür.

»Vorwärts, sie können noch nicht weit sein!«

Katja, die vor Jak, René, Tonio und Heiko bedeutend weniger Angst hatte als vor den geheimnisvollen Stadtbewohnern, atmete wieder auf und schloß sich den Gefährten an, die nun der Spur folgten. Aber zur Sicherheit blieb sie doch ein wenig zurück.

Bald traten sie ins Tor. Es sah genauso aus, wie man sich ein mittelalterliches Stadttor vorstellt. Neben dem großen Durchgang für Wagen, Zug- und Reittiere lief ein kleiner für Personen durch das alte Gemäuer, durch dicke Pfeiler davon getrennt. Die Spuren führten geradewegs in der Mitte durch.

Nach dem Torweg kam ein kleinerer ebener freier Raum mit zwei Reihen steinerner Bänke, vom Wasser durch eine Brüstung getrennt, auf der mehrere Figuren standen und auf sie herabzublicken schienen.

Don trat an eine heran.

»Lauter Kapuzenmänner«, sagte er und kam zu Al und Katja zurück.

»Achtung! Zerstört die Spuren nicht!« warnte Al.

»Was willst du mit den Spuren?« fragte Don in seinem gewohnten überheblichen Ton. »Sie führen auf die Brücke. Dazu brauche ich erst gar nicht nachzusehen!«

Al ließ sich nicht so leicht von einem einmal gefaßten Entschluß abbringen. Ruhig beschäftigte er sich weiter mit den Fußstapfen und entfachte dadurch Dons Ungeduld immer mehr. Die Lichtverhältnisse waren hier besser als zwischen den Häusern und begünstigten sein Vorhaben.

»Du weißt wieder einmal alles besser«, sagte Al zum Boden hinab und ungewiß, ob ihn Don überhaupt hörte, »aber du weißt nicht alles. Hier ist ein Gewirr von Fährten, die nach allen Seiten auseinanderführen. Was hat das zu bedeuten?«

Don stand schon auf der Brücke.

»Sie werden sich hier aufgehalten haben – genauso wie wir.«

»Aber wir haben einen Grund dafür«, fuhr Al fort, »sie aber nicht – oder einen ganz anderen. Es wäre interessant, herauszukriegen, was sie hier gemacht haben.«

»Interessant«, sagte Don. »Interessant!«

Katja war an das steinerne Geländer getreten, an den westlichen Teil, der nur als Schattenriß zu erkennen war, sie stand unter einer Steinfigur, und ihr war, als könnte diese jeden Augenblick von ihrem Sockel heruntertreten und irgendein grausames Amt vollziehen – als Richter, als Henker oder als Folterknecht. Gewaltsam trennte sie ihren Blick von der stummen Gestalt und wandte ihn dem letzten Glühen der unter dem Horizont versunkenen Sonne zu, das noch hinter den Häusersilhouetten hervorquoll. Die Sicht dahin war frei, der Kanal lief hier geradeaus nach Westen, und in seinem Wasser erstand das Bild der Stadt zum zweitenmal als mattflimmernde Spiegelwelt – die in der Ferne zusammenlaufenden Wälle der Ufermauern, der schwarze Stufenbau der Häuser rechts und links, das Orangegelb des Himmels mit seinen blutigroten und schmutzigbraunen Säumen.

Katja fühlte sich plötzlich merkwürdig einsam, schutzlos und bedroht. Sie sah ihre Kameraden auf der Erde herumkriechen und gestikulieren, aber sie verstand nicht, was sie beabsichtigten. Sie sah die Brücke über das Wasser in die Nacht hineinlaufen, sah auf der anderen Seite die terrassenförmig übereinandergesetzten Dachgeschosse der Wehrbauten, ihren höchsten, türmartigen Aufsatz genau über dem Tor, die hundert schwarzen Fensterlöcher, die seltsamen Geräte, die oben auf den flachen Dächern standen – vielleicht alte, furchtbare Waffen, die nur darauf warteten, wieder Tod und Vernichtung zu speien. Aus allen Ecken starrten Augen auf sie nieder, in allen Fenstern verzerrten sich Gesichter zu lautlosem Gelächter, ballten sich drohende Fäuste.

Wozu bist du eigentlich hierhergekommen? fragte eine Stimme in ihr, was willst du hier?

Auch in Don wallten Gefühle durcheinander, Hoffnungen, Ängste, Ärger, Ungeduld, Ehrgeiz, Mutwille, Vernunft. So kurz vor seinem Ziel sah er sich durch die Pedanterie des Kameraden aufgehalten, gebunden, verraten. Er wäre am liebsten allein losgezogen, hinein in die Fülle des Erlebens und Erreichens, in das betäubende Abenteuer, in den gewaltsamen Tod…

So wie Don und Katja hatte auch Al etwas mit sich selbst auszumachen, seine Phantasie arbeitete wie die eines Schachspielers, der aus der Stellung der feindlichen Figuren die Absichten des Gegners herauszulesen trachtet. Er entwarf Dutzende Kombinationen von den Schritten, die ihre Gegenspieler hier getan haben mochten, von ihren Bewegungen und Zielen; aber keines seiner Gedankenbilder hatte Sinn.

»Die Spur auf der Brücke läuft doppelt«, sagte er kopfschüttelnd. »Sie sind wieder zurückgekommen.« Noch erfaßte er die Konsequenzen dieser Erkenntnis nicht, aber er ahnte ihre Bedeutung. »Sie sind wieder zurückgekommen.«

Plötzlich schrie Katja:

»Hört doch auf zu diskutieren! Gehen wir doch endlich! Warum halten wir uns hier auf!« Es klang überspannt und schrill. Sie lief auf die Brücke hinaus. »So laßt uns doch endlich zu einem Ende kommen!«

Don rannte sofort hinter ihr her, und Al verjagte seine Besorgnis und setzte ihnen in langen Sprüngen nach.

Katja war nur noch als dahinhuschender Schatten zu erkennen, die Dunkelheit übertuschte alle Einzelheiten, und darum begriff Al auch nicht unverzüglich, was plötzlich geschah. Erst ein splitterndes Krachen vor ihm und ein Donnerschlag hinter ihm zwangen ihn, das zu glauben, was er im Aufblitzen eines Feuerscheines gesehen hatte: Ein dunkles, unregelmäßig begrenztes Loch gähnte in der Brücke, unmittelbar vor der dahinlaufenden Katja… eine Steinfontäne stieg auf, und der zusammenknickende Körper des Mädchens glitt, noch vom Schwung des Laufens getragen, auf die Öffnung zu und verschwand. Noch dreimal donnerte es, aber nur noch ein Projektil streifte die Brücke und brachte sie zum Zittern und Schwingen, das Al fast vom Boden hob. Diesmal hatte er erkannt, woher die Schüsse kamen: von den Zinnen des Turms hinter ihnen. Er rang mühsam nach dem Gleichgewicht… und hetzte vor – aus dem Bereich des tödlichen Hagels hinaus.

Don stand wie erstarrt auf der Brücke, nur sieben Meter von der Einschlagstelle entfernt, und Al zerrte ihn mit sich fort, als er bei ihm ankam. Nur ein schmaler Streifen der Brücke war noch ganz, wenn auch von Sprüngen durchzogen; sie spürten es, als sie den Engpaß so vorsichtig, aber auch so schnell, als es ging, überwanden.

Al blieb stehen und versuchte, unten am Wasser etwas zu erkennen. »Kat…«, keuchte er, »wir müssen…«

Don stieß ihn rücksichtslos vorwärts. Auch sein Atem flog.

»Laß sie… recht geschieht ihr!«

Geduckt rannten sie weiter, eng an der Brüstung entlang, um wenigstens gegen die Seite geschützt zu sein… Noch waren sie dem Schußfeld nicht entronnen. Etwas zischte um sie herum, etwas streifte Als Kopf, etwas prallte an Don ab… ein langgestrecktes Gebilde kollerte auf den Steinboden… ein Pfeil. Noch einmal prasselte ein Hagel von Geschossen über sie. Und nun klang ein schauriges Gelächter durch die Nacht.

Don hielt mit einem Ruck. Er kannte diese Stimme.

»Jak«, flüsterte er.

»Wer sonst?« fragte Al.

»Mensch, Al!« Der Stimmfall Dons wechselte über eine ganze Skala von Empfindungen. »Das ist Jak mit seinen Leuten!« Er jubelte fast. »Al, Junge, verstehst du, was das heißt?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Jak ist hinter uns! Wir sind die ersten! Wir kommen zuerst ins Zentrum! Wir gewinnen!«

9


Sie hatten auf der Brücke genau achtzehn Meter zurückgelegt, und für diese achtzehn Meter hatten sie hundert Sekunden gebraucht. Mit diesen achtzehn Metern schienen sie ihrem Ziel näher gekommen zu sein als auf dem langen Weg vom Gebirgshang über die Wiesen und durch die Stadt bis zum Tor. Und in diesem kurzen Intervall von hundert Sekunden steckte mehr als sie in den ganzen zwei Tagen ihres Aufenthaltes erlebt hatten. Dreimal hatte allein das Pendel ihrer Stimmung nach extremen Seiten ausgeschlagen – zuerst nach jener hoffnungsvollen Verbissenheit, da sie ihr Ziel schon aus den Augen verloren zu haben schienen, dann nach jenem Schrecken, der sie alle Hoffnungen begraben ließ, und nun nach der Seite bedenkenloser Siegesgewißheit.

Sie stürmten weiter, noch einmal prasselte ein Schauer von Pfeilen hernieder, aber er blieb so wirkungslos wie die ersten, noch einmal erklang das dröhnende Lachen Jaks, aber sie hörten es nur mehr nebenbei, denn vor ihnen, ein schwarzer, sternenloser Block vor dem ebenso schwarzen sternübersäten Nachthimmel, hob sich das Zentrum der Stadt, eine Burg mit unzähligen Nebengebäuden, eine Festung, raffiniert geschützt von Wasser und Stein und nun doch ihrem Zugriff ergeben. Kein Licht schien darin, kein Geräusch erscholl, nicht einmal ein Hauch wehte – wie gigantische schlafende Tiere lagen die Gebäude innerhalb ihres Wasserrings.

Sie liefen, und es ging alles viel schneller als es sich beschreiben läßt. Al erwischte Don eben noch an der Schulter, er mußte sich selbst mit aller Gewalt nach hinten werfen – denn hier hörte die Brücke auf. Sie hing frei in der Luft, wie von einem ungeheuren Messer abgeschnitten, glatt getrennt von jenem anderen Teil, von dem nichts mehr zu sehen war, abrasiert, ohne Rücksicht auf die mechanische Stabilität oder das statische Gleichgewicht.

Die beiden Männer trauten ihren Augen nicht, vielleicht täuschte sie die Finsternis, vielleicht narrte sie ihre eigene Überreiztheit, sie tasteten mit den Händen vor… sie fühlten die scharfe Kante, den glatten Rand, die senkrecht abfallende Fläche… Sie spähten nach vorn, aber es gab nichts vor ihnen als Leere, und irgendwo dahinter, weit weg von ihnen, viel weiter, als sie gedacht hatten, erhob sich etwas: massig und schwer, Kanten blinkten ungewiß im Sternenschein; matter Glanz huschte über Metall. Sie ließen sich auf alle viere nieder, krochen nach vorn – doch sie starrten in einen Schlund; es kam ihnen vor, als dauerte es Sekunden, bis ihr Blick Grund erreichte, vages Wallen und Weben, Kreiseln und Treiben.

»Jetzt ist es aus«, flüsterte Don. »Wir sitzen in der Falle.«

»Jetzt wissen wir, warum sie umgekehrt sind«, sagte Al.

»Sie haben uns hereingelegt, diese Schufte!«

»Ich wüßte gern, wie man hineinkommt in diese verfluchte Stadt…«

Don stieß die Luft zischend aus.

»Das ist mir jetzt vollkommen gleichgültig. Wir haben verspielt. Jak kann mit uns machen, was er will. Ich glaube, wir geben es auf.«

Langsam gingen sie über die Brücke zurück, sie tasteten über die brüchige Engstelle des ersten Treffers und stolperten über den Schutt, den der zweite Einschlag hinterlassen hatte – ein Streifschuß, der einen Teil des Geländers weggerissen hatte.

Don formte die Hände zu einem Schalltrichter und rief:

»Jak, du hast gewonnen. Wir geben auf!« Und noch einmal: »Jak, hörst du? Wir geben auf!«

Da ertönte die Stimme Jaks: »Hallo, Don! Gut, daß du es eingesehen hast! Komm näher, aber schön langsam!«

Schritt für Schritt näherten sie sich dem Tor. Auf einmal blitzte es wieder und schlug neben ihnen auf, und noch einmal… es knirschte und rollte, Al spürte einen Schlag an der Hand – mit der Linken tastete er den rechten Arm hinunter… er erschrak: In seiner Hand klaffte ein breiter Schnitt.

Don war empfindlicher getroffen worden, ein Splitter hatte seine Brust, ein anderer seine Hüfte getroffen.

»Jak, du Schwein«, brüllte er, »du Schwein, du Schwein…«

Noch immer brüllend vor Wut und Schmerz stürmte er über den freien Platz vor der Brücke… nach links, wo er es in einem Fenster aufblitzen gesehen hatte, den Schüssen entgegen… er sprang hoch, streckte sich… seine Hände erfaßten den unteren Rand des Fensters… Don krampfte sich hoch… einen Moment lang starrte sein Gesicht in die Öffnung… dann blitzte es vor ihm auf… sein Körper stürzte herab… über die schiefe Mauer… schlug auf den Boden…

Auch Al war durch den Geschoßhagel gestürmt, doch er hatte die Richtung auf das Tor genommen und es auch erreicht. Hier war er vor den Angriffen sicher. Sein Herz schlug höher, eine absurde Freude erfüllte ihn – er empfand eine atavistische Lust am sinnlosen Kampf. Al lag jetzt an die Wand gedrückt in der Torpassage und überlegte, ob er sich über den frei daliegenden Platz wagen durfte.

Hinter einem der Pfeiler erklang ein Schleifen… Al erstarrte… ein Flüstern – eher ein Hauch…

»Al, bist du’s?«

Al sprang mit einem Satz auf… um den Pfeiler herum… mit der unverletzten Linken bekam er einen Schatten zu fassen… er hob den Fuß, um dem Gegner in den Leib zu treten…

»Halt, Al – halt!«

Er war auf eine Finte gefaßt, aber er zögerte doch einen Augenblick…

»Ich bin’s: René… Hör zu, Al… ich will dir helfen!«

Al faßte ihn an der Gurgel und ließ ihm nur wenig Luft.

»Alles, was recht ist – Jak geht zu weit. Ich trenne mich von ihm. Ich helfe dir.«

»Wie willst du mir helfen?« fragte Al.

»Es gibt hier eine Seitenpforte… komm, ich zeig’ sie dir!«

Noch immer auf Verrat gefaßt, schlich Al hinter dem anderen her. Es ging eine steile Strecke schräg hinunter, durch einen Kellerraum, in den von außen vager Lichtschein sickerte, und schließlich über eine weitere Schräge wieder hinauf. René hielt nun und zog eine Schiebetür beiseite; quietschend bewegte sie sich über Rollen.

»Still!« flüsterte Al.

Sie lauschten… nichts rührte sich… Sie zwängten sich durch den Spalt… sahen sich um… sie waren auf dem großen Platz vor dem Tor… sie blickten hinauf zu den Zinnen, wo die Geschütze standen… nichts rührte sich…

Im Schütze der Wand liefen sie los… ein paar Meter… hielten wieder… spähten umher…

Oben neben dem Turmbau, über dem Gesims, blitzte es auf. Direkt vor ihnen sauste etwas Helles, Rundes nieder und zersplitterte. Sie hatten keine Zeit mehr, etwas zu denken – da waren sie schon in tausend formlose Fetzen gerissen.

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