Der zweite Versuch

1


»Da wären wir also«, sagte Don.

»Nichts hat sich verändert«, bemerkte Katja.

»Was soll sich auch verändert haben?« fragte Al.

Am Morgen waren sie von ihrem Lagerplatz aufgebrochen, und nun, zu Mittag, hatten sie die Mauer erreicht. René war mit ihnen gekommen. Sie standen wieder an jener Stelle, von der die Treppe zum Aussichtsplatz hinaufführte.

»Meinst du, daß es hier gelingt?« fragte er.

»Hier so gut wie anderswo«, antwortete Al. »Ich glaube nicht, daß es überhaupt ein Hindernis gibt.«

Katja staunte.

»Denk doch an die Brücke!«

»Ich habe viel darüber nachgedacht«, sagte Al. »Die Brücke hört auf. Das stimmt. Aber einfach deshalb, weil innen eine solche alte Brücke nichts zu suchen hat.«

»Versteh’ ich nicht«, brummte Don.

»Wir wollen einen Versuch machen«, schlug Al vor. »Kommt mit mir!«

Er stieg die Treppen hinauf, ein Bündel, das er vom Lager mitgebracht hatte, unter den Arm geklemmt. Vor der letzten Stufe wartete er auf die Kameraden und betrachtete dabei eingehend die steinerne Brüstung. Schließlich nickte er befriedigt. Er deutete auf eine Stelle an der rechten Seite: Hier war ein winziger grauer glänzender Knopf eingelassen. Suchend trat Al an die linke Seite: Hier befand sich in gleicher Höhe ein ebensolcher Knopf.

»Nun paßt auf!« bat er.

Er lehnte sich an das Geländer und blickte hinunter. Diesmal war die Beleuchtung etwas anders als seinerzeit am Abend; die Strahlen der Sonne fielen fast senkrecht von oben ein – das Licht lag blendend auf den Dächern, aber die Tiefen der Gassen und Höfe sahen um so düsterer aus – die geringe Neigung des Einstrahlwinkels genügte, um das Licht schon in den oberen Partien aufzufangen, an den überragenden Dachrändern, an den ausladenden Gesimsen, an den Zahnreihen der Zinnen, an den vogelnestartigen Erkern und Balkönchen, an all den Anbauten und Verzierungen, die ohne ersichtlichen Grund jede freie Stelle überdeckten. Sie brachen die klaren Linien der Umrisse und verniedlichten das imposante Bild der Gebäudeblocks.

Der Hof, in dem sich das seltsame Duell abgespielt hatte, lag wie ein schwarzer Abgrund vor ihnen. Wie damals überkam sie eine seltsame Stimmung, die Luft war voll von unbestimmten Geräuschen, es sauste, hallte und pfiff, hämmerte und klirrte, dumpfe Rufe erschollen, der Wind brachte Fetzen von Poltern und Geschrei mit sich…

Und dann tauchten die schwarzen Schemen wieder auf, mit ihren Fackeln, die nun wie müde Irrlichter funkelten, und dann die beiden Reiter…

Alles wickelte sich ab, wie sie es schon einmal erlebt hatten, das Peitschenduell, der Sieg des weißen Ritters, sein stummer Gruß, der Abzug der Vermummten…

Dann lag alles still und verlassen wie zuvor, kein lebendes Wesen ließ sich blicken, kein Hauch bewegte die Luft…

René, der das Ereignis zum erstenmal gesehen hatte, brauchte einige Zeit, um sich von seinem Staunen zu erholen. Katja flüsterte: »Das begreife ich nicht«, und Don rief: »… genauso wie beim erstenmal! Keine Bewegung war anders! Al, ist es ein Schauspiel?«

»So etwas Ähnliches«, sagte Al. »Eine Art Film. Die vollkommene Illusion mit technischen Mitteln. Das Publikum betritt die Bühne, eine Selenzelle registriert es«, er deutete auf die beiden Knöpfe im Geländer, »und gibt die Meldung weiter – das Theater beginnt.«

»Wie bist du darauf gekommen?« fragte Don.

»Durch eine Erinnerung. In einer alten Fernsehaufzeichnung sah ich einmal etwas Ähnliches. Bewegliche Figuren waren mit einer Uhr gekoppelt. Schlag Mittag bewegten sie sich über eine Schiene nach außen und führten ein Tänzchen auf – mit eigenartig leblosen, marionettenhaften Bewegungen. Danach verschwanden sie wieder. Hier ist die Illusion natürlich viel perfekter. Und doch… dieser Einsatz genau in dem Moment, als wir die Rampe betraten! Da fiel mir das Figurenspiel ein – und ich hatte die Lösung.«

»Und warum hast du nichts davon gesagt?« fragte Don mißtrauisch.

»Ich hätte es nicht beweisen können.«

Sie blickten wieder hinein in den Kessel, dorthin, wo sich der Hügel mit der Ruine erhob.

»Was ist wahr daran?« fragte René.

»Nichts«, sagte Al. »Ich glaube: nichts.« Die Kameraden schauten ihn kopfschüttelnd an. Er griff in die Tasche und holte einige Kiesel heraus. »Paßt gut auf!«

In großem Bogen warf er einen Stein hinunter. Ruhig durchflog dieser seine Parabelbahn… verschwand unter dem Wasserspiegel. René kam irgend etwas unrichtig vor, aber er wußte nicht, was. Der Stein flog… und war verschwunden – da fehlte etwas, richtig: Er war nicht aufgeschlagen. Kein Spritzer war aufgeschäumt, keine Wellen hatten ihre Kreise durchwandert.

»Es gibt kein Wasser«, sagte René. »Das Wasser gehört zum Spiel.«

»… und die Häuser, die Straßen, der Hügel…«, sagte Al.

»Eine Kulisse«, sagte René.

Don drängte sich zwischen Katja und Al. In seinen Augen lag etwas Gehetztes.

»Aber was steckt dahinter?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Al. Er öffnete die Plastiktasche, die er mitgebracht hatte, und nahm daraus eine zu einer engen Rolle zusammengedrehte Leiter. Die Sprossen bestanden aus Leichtstahl, die Seile aus Duraluminiumdraht. Er holte noch ein kurzes Litzenstück hervor, an dessen Enden Ringe befestigt waren. Dieses schlang er dreimal um den oberen balkenartigen Horizontalteil der Brüstung und klemmte die Ringe in Karabinerhaken am Ende der Leiter. Dadurch war ihr eines Ende oben befestigt, das andere ließ er hinunterfallen. Das Leiternbündel entrollte sich im Sturz, unbehindert tauchte es ins Wasser, die Leiter schwang noch einmal hin und her und hing dann ruhig.

»Ich gehe zuerst«, sagte Don und sah sich fragend um. Da keiner widersprach, stieg er über die Brüstung und kletterte hinunter. Sprosse um Sprosse kam er tiefer, berührte den Wasserspiegel, aber er spiegelte sich nicht darin, er tauchte hinein, aber er spürte keine Feuchtigkeit, er tauchte unter, doch er konnte atmen. Er hatte die Absicht gehabt, zu rufen, aber er blickte umher und war sprachlos…

Die beiden Kameraden kletterten hinterher, erst Al und dann René. Katja beobachtete alle drei, wie das dunkle, schillernde Etwas dort unten sie verschlang. Es ging mit beängstigender Lautlosigkeit vor sich, keine Bewegung lief über die Fläche, die Leiter zitterte ein wenig und hielt dann still. Als der letzte fort war, kam sie sich unbeschreiblich einsam vor. Sie setzte an, über die Brüstung zu steigen, aber sie stockte; sie bemühte sich, aber sie brachte es nicht zuwege. Sie starrte hinüber zur Burg, aber sie erblickte die Mauern und Türme nicht, sie sah durch sie hindurch; mit allem, was in ihr empfinden konnte, bemühte sie sich, den Schleier zu durchdringen, hinter den Vorhang zu sehen, doch nichts gab sich ihr preis als Schreckbilder ihrer Phantasie, deren Unstimmigkeit sie sich bewußt war und die sie doch peinigten.

Dann rief eine Stimme von unten einige Worte, die sie nicht genau verstand, ihren Namen und irgend etwas Beruhigendes. Plötzlich war sie wieder fähig zu handeln. Sie stieg die Sprossen abwärts und erlebte es, wie es die anderen kurz vorher erlebt hatten. Sie hing im Wasser, oder richtiger, in dem, was von außen wie Wasser aussah, ihre Augen senkten sich hinunter zur Oberfläche… und dann flimmerte etwas und verzerrte sich, etwas schlug um, etwas Schwankendes lief zu einer festen Form zusammen…

Von Wasser war nichts mehr zu bemerken. Sie stand mit den anderen auf einer stumpf blinkenden Metallfläche, die direkt an der Mauer lag, und dort, wo früher ein Stück Mittelalter wach gewesen war, standen luftige Gebäude mit gläsernen Dächern, auf bleistiftdünne Säulen gestützt, erstreckten sich Mauern aus Drahtgeflecht, schlangen sich Rohre, wie hingegossen in langen parallelen Strängen, ragten Antennen und Parabolspiegel auf Gestängekonstruktionen hoch empor, lagen und standen Dinge aus Metall und Kunststoff und Glas, für die es keine Namen gibt.

Das war das wahre Zentrum der Stadt. Ein ungeheurer, blinkender Leib aus Maschinen.

2


Al lehnte mit dem Rücken an der Mauer, als wolle er die letzte Verbindung mit der normalen Welt so lange wie möglich aufrechterhalten. Don bemühte sich, in den Gebilden vor ihm etwas Bekanntes oder zumindest etwas Erklärliches zu finden, das ihm geholfen hätte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Katja suchte nach einer Gelegenheit zum Niedersetzen, doch sie suchte vergeblich – die Konstrukteure dieses Freigeländes hatten menschlichen Bedürfnissen nicht Rechnung getragen. René scharrte mit dem Fuß über den Boden, hockte sich nieder, klopfte mit den Knöcheln auf die feste, graue Masse, stand auf und wartete geduldig.

»Sieht nun erheblich anders aus«, bemerkte Don. »Von der Altstadt – oder von ihrem Spiegelbild – ist nichts mehr zu sehen.« Er blickte auf die Leiter, die einzige Verbindung mit außen. Sie hing gestreckt und glatt an der Wand, keine Verzerrung, keine Schliere verriet, daß sie eine Zone durchlief, die auf unerklärliche Weise optisch aktiviert war.

»Mir gefällt es hier nicht«, murrte Kat, »es ist so…« Sie suchte nach einem passenden Wort, aber sie fand keines.

»Ungemütlich«, sagte Al mit leichtem Spott. Katja überlegte angestrengt.

»Andersartig«, sagte sie. »Fremd.«

»Wir müssen weiter«, drängte Don.

»Wo willst du hin?« fragte René.

»Jetzt hört mir zu!« Al sprach lauter und bestimmter, als es seine Art war. »Wir haben uns entschlossen, es noch einmal zu versuchen. Schön – jetzt sind wir da, wo wir vor drei Tagen aufgehört haben. Aber wir dürfen nicht glauben, daß es einfach so weitergeht wie vorher. Daß wir einfach draufloszurennen brauchen wie in einem Naturschutzpark und daß sich das, was wir finden wollen, von selbst am Weg einfinden wird. Das hier kann gefährlich werden, das ist doch nicht zu übersehen? Hier gibt…«

»Du meinst also doch, daß sie noch leben?« unterbrach Katja und zog sich unauffällig zur Leiter zurück.

»Ich glaube, daß sie ihren Weg zu Ende gegangen sind. Das Unheimliche daran ist aber das: Wir wissen nicht, wie sie sich weiterentwickelt haben – nachdem das Stadium des süßen Nichtstuns in ihren Gartenhäusern vorbei war. Wir wissen ja auch von uns selbst nicht, wie wir uns weiterentwickeln werden. Und darum werden wir hier auf Dinge stoßen, wie wir sie noch nie gefunden haben, auf Maschinen, deren Verhalten wir nicht voraussehen können…«

»Wie soll sich eine Maschine schon verhalten?« fragte Don. »Man drückt auf einen Knopf – und sie tut das, worauf sie eingestellt ist.«

»Es kann auch komplizierter sein«, meinte René. »Man braucht gar nicht zu drücken – sie tut von selbst, was nötig ist.«

»… was ihr Programm vorschreibt«, verbesserte Al. »Aber was geschieht, wenn sie das Programm selbst aufstellt?«

Die Frage hing lange in der Luft. Katja konnte sich nicht ausmalen, was dann geschehen würde, es interessierte sie auch nicht. Sie fragte sich, ob sie es nicht zu Hause schöner hätte, sie dachte an die Erlebnisfilme, die nie so anstrengend waren wie dieser Ausflug, wo nie so lange geredet wurde. Wo Helden mit Einmannraketen Kämpfe ausfochten und sie dann in die Arme des Siegers sank, wo sie mit den Idolen der klassischen Zeit tanzte, mit Fred Astaire und Frank Sinatra, wo sie Kleopatra war, regierte, verurteilte und verführte – wo Cäsar und Augustus ihr zu Füßen lagen. Sie dachte an die ferngelenkten Spielboxen, die an jedes Pult angeschlossen waren, an die rollenden, hüpfenden und schwebenden Kugeln, an das Geklingel der Treffer und an den scharfen Knall ihres Zerspringens bei Verlustpunkten. Sie dachte an die Farben- und Formentänze, an das Schweben in den plastischen Räumen, an die Gemische aus der Geschmacks- und Duftorgel… komischerweise gelang es ihr nicht, sich dafür zu begeistern. Ist ja eigentlich auch recht langweilig, dachte sie, vielleicht geschieht hier doch noch etwas. Schläfrig lehnte sie sich zurück und schloß die Augen.

Was geschieht, wenn sie das Programm selbst aufstellt?

Don besaß Phantasie. Vor seinem geistigen Auge begannen Maschinen zu quellen, zu sprießen, zu wuchern, Leitungen spalteten sich, Pfeiler bogen sich, Wände beulten sich aus, ein irres Chaos aus Speichen, Rädern, T-Trägern, Kolben, Röhren, Kugelketten, aus Draht, Transistoren, Thermoelementen, Magneten, Rubidiumkristallen, Relais, Potentiometern aus Glasfasern, Polyesterharzen, Viskosewolle, Kautschuk, Schlacke und Gelatine wurde lebendig. Wie die Triebe entarteter Pflanzen tasteten Metallkrallen umher, wie ein raffiniertes Folterwerkzeug schockte eine willensbefähigte Schaltung ihr Opfer, wie ein Polyp quoll eine blasig aufgetriebene Masse auseinander und schnellte klebrige Fangarme vor. Wahnsinnig gewordene Roboter stürzten sich auf hilflose, an ihre Stühle gefesselte Menschen, ganze Heere brachen wie ein einziger Keil aus Haß und Vernichtung durch die Flachbauten der friedegewohnten Siedlungen…

Diese Vorstellungen regten Don auf unheimliche Art auf, sie erzeugten Ekel und Furcht, doch sie sensibilisierten auch die Abwehrbereitschaft, die Kraft zur Auflehnung, zur Rache…

Das Bild verschwand, vor Don breitete sich wieder die saubere, von unverständlicher, aber unleugbarer Ordnung erfüllte Fläche einer fremdartigen Technik aus. Er verzog verächtlich die Lippen und wandte sich zu den Gefährten zurück.

Was geschieht, wenn sie das Programm selbst aufstellt?

René hatte eine besondere Beziehung zu Maschinen. Er begriff sie, wie andere ein Musikstück begreifen, er verstand viel von ihnen, vom Ineinandergreifen der Räder, vom Zusammenspiel der Schaltelemente, von den Kräften in Stoff, Luft und Vakuum, und wo sein Verstehen endete, begann die Überzeugung von der Sinnfälligkeit in den tausenderlei Bewegungen und Impulsen, in den Wirkungen und Rückwirkungen, im Kreisen, Strömen, Vibrieren, in Aktion und Resultat. Die Maschine, die sich selbst das Ziel setzt, wurde für ihn das Sinnbild des Funktionellen, das Symbol des Sinnfälligen, des von der Willkür Gereinigten – Part pour Part in höchster, nicht mehr zu übertreffender Potenz. Sollten diese Gebilde vor ihm…? Er stimmte Al nicht zu. Sie mochten Produkt bemerkenswerter Intelligenz sein – Maschinen, die für sich selbst da sind, waren sie nicht. Denn: Sie funktionierten nicht. Er bemerkte keine Bewegung in ihnen und spürte auch nicht jenes besondere Fluidum, das von stromdurchflossenen Leitern, von pulsierenden Elektronen, von schwingenden Feldern ausgeht…

Am Ende seines Überlegens stand Enttäuschung.

»Du machst mich noch ganz trübsinnig mit deinem Gerede«, sagte Don. »Was willst du eigentlich? Glaubst du, daß uns hier jemand überfällt.«

Al wollte Antwort geben. Er sah Don an, sah Katja an, sah René an; sie verstanden nicht, um was es ging. Er schwieg.

»Darauf kommt es doch an«, sagte Don. »Wir wollen real denken! Wir können es uns nicht leisten, daß wir noch einmal umkommen. Jak ist sicher schon hier. Er ist uns drei Tage voraus. Wenn er noch nicht am Ziel ist, dann haben wir Glück gehabt. Jak ist die größte Gefahr. Und jetzt, Al, jetzt sprich dich endlich aus. Was hat der ganze Zauber zu bedeuten?«

»Ich glaube, die Altstadt samt den Figuren und ihrem Treiben ist eine Attraktion. Wahrscheinlich gibt es an anderen Stellen der Mauer weitere Aussichtsrampen, von denen aus man ähnliche Abläufe beobachten kann. In Wirklichkeit liegen hier im Zentrum die Maschinen, die das alles hervorbringen, aber noch ganz andere Aufgaben hatten – nämlich die Energie für die Einwohner zu produzieren, für ihre Nahrung, ihre Bequemlichkeit und ihr Vergnügen zu sorgen, nicht viel anders, als sie das bei uns heute noch tun.«

»Ich muß noch einmal fragen«, sagte Don ungeduldig: »Wie kann uns die Maschinerie gefährlich werden?«

»Wie soll ich das wissen?« fragte Al leicht verärgert zurück. »Ich hab’ dir gesagt, was ich weiß – jetzt zieh selbst deine Schlüsse!«

René trat einen Schritt vor.

»Was soll es für Gefahren geben? Die Anlage ist für Intelligenzwesen gebaut – je vollkommener sie ist, um so mehr wird sie ihren Wünschen entgegenkommen.«

»Davon merke ich nichts«, sagte Kat und stand auf. »Hier gibt es nicht einmal Bänke. Wenn du recht hättest, dann müßte uns zumindest ein Taxi abholen. Diese Latscherei geht mir auf die Nerven.« Sie trat einige Schritte von der Mauer weg, über den horizontalen Ring, auf dem sie angekommen waren, in eine breite Straße hinein, die von Gitterkonstruktionen gesäumt war.

Sie überschritt eine Grenze…

»Oh, seht doch!« rief René.

Ein schiefergraues Gebilde glitt auf Kat zu, die vielfach durchbrochene Stirnseite stockte kurz vor ihr, dann wandte sich der Schemen und drehte dem Mädchen die Flanke zu. Der Rand schob sich auseinander, man sah hinein – in eine glasüberdachte Mulde, ähnlich dem Inneren eines Bootes, mit dick gepolsterten Bänken ringsherum. Ein Brett schob sich heraus, entfaltete sich und überbrückte den Raum zwischen Schwelle und Straßenboden.

»Fein«, rief Kat. »Gerade das habe ich mir gewünscht!« Mit einem Schritt war sie darin. »Kommt!«

»Halt, seid vorsichtig!« rief Al, doch Don lachte nur und stieg ebenfalls ein. Als ihnen René ohne Zögern folgte, stieg auch Al in das Boot. Don war nach vorn gegangen, von wo man durch das Glas über die Vorderfront in Fahrtrichtung blicken konnte. »Wo ist die Steuerung?« fragte er.

Es gab keine Steuerung. Es gab absolut nichts, was einer Steuerung auch nur im entferntesten ähnelte.

»Wie sollen wir von hier wegkommen?« fragte Don.

Die Rampe glitt einwärts, die Schiebetür schloß sich. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.

»Halt!« rief Don. »Wo geht es hin?« Er suchte nach einer Bremse. Es gab keine Bremse. Er suchte eine Türklinke, einen Knauf, ein Schloß. Es gab nur glatte Wand, Polster und Glas. »Ich fürchte, wir sind gefangen«, sagte Al.

3


Hinter dem starkgewölbten Glasdach glitten die Dinge vorbei, die sie schon aus der Ferne gesehen hatten, ohne ihnen Sinn abgewinnen zu können.

Don trat zornig gegen die Tür, sein einziger Erfolg waren jedoch schmerzende Füße.

»Wie kommen wir hinaus?« fragte René. »Es muß doch eine Möglichkeit geben, hinauszukommen.«

Al war in den Anblick Katjas versunken, die vergnügt auf den federnden Sitzen schaukelte. Eine Spur von Neid wurde in ihm lebendig – der Neid des Grüblers vor der seligmachenden Gedankenlosigkeit.

»Wie wir hier hinauskommen?« wiederholte er. »Ganz einfach: Wir brauchen nur das richtige zu sagen oder zu denken.«

Don drehte sich gereizt herum:

»Aber das können wir ja nicht!«

»Eben«, sagte Al.

René ging zu dem Bug vor und befahl laut: »Halt! Stehenbleiben! Stop!« Und nach einer Weile, als sich nichts am Tempo ihrer Schwebefahrt geändert hatte, entschuldigend: »Es hätte ja sein können.«

»Was nun?« fragte Don.

»Abwarten«, riet Al.

Ein Netzwerk von Metall glitt an ihnen vorbei, Gespinste aus weißen Fäden zeichneten Ornamente in schwarze Rahmen, Glas blinkte kalt in der Sonnenstrahlung, Lichtreflexe umrandeten die Schattenzeichen auf dem grauen Boden. Wenn das Boot um eine Ecke bog, drehte sich alles wie auf einer Schwenkbühne. Dann verringerte es die Geschwindigkeit, blieb stehen und bewegte sich im rechten Winkel gegen die Fahrtrichtung nach rechts, bis es an der Wand eines großen blockartigen Baus lag.

Die Tür klaffte auf, und in der Wand öffnete sich gleichfalls eine Tür mit derselben lichten Weite.

»Aussteigen!« rief René.

Katja saß nun unbewegt – wie erfroren.

»Nicht so eilig«, rief Don. »Wer sagt, daß ich aussteigen will?«

René stand ruhig von der Bank auf und trat durch die Öffnung. Es klickte… ein heller horizontaler Strich lief von oben nach unten, René war von der Dämmerung verschluckt. Don sagte »Na ja« und folgte seinem Beispiel. Wieder erschien der Strich, ertönte das klickende Geräusch. Al blickte in den anschließenden Raum hinein, der fahl erleuchtet war, ohne daß man hätte sagen können, woher das Licht kam.

»Hallo, René! Hallo, Don!«

Er lauschte, doch er bekam keine Antwort. Er rief noch einmal: »Hallo, Don!«

… nichts.

Er spürte die zarte Berührung von Fingern an seinem Hals… Er drehte sich um. Vor ihm stand Katja. Ihre Augen blickten ungewöhnlich dunkel. Jetzt griff sie fester zu, ihre Hände umklammerten seine Schultern, zogen ihn weg von der unheimlichen Pforte ins Ungewisse. Sie drängte sich an ihn, schutzsuchend, bereit, den Eindruck des Unheimlichen durch etwas Unmittelbareres zu übertönen, besessen vom Wunsch nach menschlicher Berührung, nach Betäubung, nach Vergessen – und wenn es nur Sekunden waren. Sie drängte sich an ihn, schloß die Augen, küßte und ließ sich küssen, sie sah und hörte, hoffte und fürchtete nichts mehr, weil sie nichts sehen oder hören, hoffen oder fürchten wollte. Sie gab sich allen angenehmen, einschläfernden und zugleich aufregenden Empfindungen erwartungsvoll hin, versuchte aus der Wirklichkeit, aus Schwingungen, Elektronen, Atomen, Metall und Kunststoff, Schaltungen, Bildern und Absichten zu flüchten – in einen Strudel schwindelerregender Gefühle –, und es gelang ihr mit all jener Vollkommenheit, die sie sich wünschte. Einen kleinen Rest der Wirklichkeit aber hielt sie in diesen Momenten bewußt in sich lebendig, und in irgendeinem dunklen Winkel ihres Empfindens kostete sie gerade das Seltsame, das Absurde, das Widerspruchsvolle der Situation bis zur Neige aus.

Als die berauschende Verwirrung in Al ein wenig zum Abklingen kam und er sich der Notwendigkeit der Gegenwart besann, bemerkte er fast erstaunt, daß sich nichts geändert hatte. Niemand schien sie zum Eintreten zwingen zu wollen, niemand schien etwas dagegen zu haben, daß sie sich aufhielten, so lange sie wollten. Allerdings stand die Tür nach wie vor einladend offen; das Boot lag an derselben Stelle und – genaugenommen war auch das eine Art Zwang: sogar unentrinnbarer als jede Gewaltmaßnahme.

»Es wird uns nichts anderes übrigbleiben«, sagte Al leise. Er hatte einen Arm um Katjas Schulter gelegt und trat mit ihr in die Pforte und durch sie hindurch…

Im selben Moment, als sie die Schwelle überschritten, fuhr der helle Strich wie ein weicher Blitz zwischen sie. Es war, als würde eine Wand heruntergezogen – sie waren getrennt.

Al stand in einer grauen Kabine – ein blendender Lichtschein zuckte auf, für einen Moment senkte sich Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch über ihn, dann bewegte sich der Boden und er sich mit ihm auf die leere Wand zu. Ganz dicht an seinem Körper glitt sie auseinander und schloß sich gleich wieder. Wieder stand er in einer Kabine, die rechte Seite war mit einem Raster verkleidet, hinter dem leises Rauschen hervordrang. Ein schwacher Knall, das Rauschen war wie abgerissen. Der Boden bewegte sich… die Wand machte ihm Platz, schloß sich wieder… etwas wehte wirbelnd vom Boden auf… stieg über ihn hinweg… ein leichter Geruch nach Chemikalien lag in der Luft… der Boden bewegte sich… die Wand glitt auseinander…

Nach den ersten atemberaubenden Sekunden, in denen er vor Beklemmung zu keinem vernünftigen Gedanken fähig war, wandelte sich sein Erleben plötzlich, es war nicht mehr etwas Wesenloses, vielmehr überfiel ihn ganz scharf ein nüchternes Wissen: Du wirst aufgeschnitten, zerlegt, auf irgendeine nicht mechanische Weise abgebaut… und diese kalte Sicherheit war niederschmetternder als das Widerstreben gegen etwas Unbestimmtes. Er fühlte die Haut an den Händen pelzig werden, seine Zunge lag wie ein Gummiball in der Mundhöhle… Mit einemmal fiel ihm Katja ein, und er vergaß alles um sich herum in seinem Schrei:

»Katja, hörst du mich?«

»Ja, Al, ich höre dich.«

»Du brauchst keine Angst zu haben.«

»Natürlich nicht, Al.«

»Jetzt ist nur noch eines wichtig: du, Katja!«

»Und du, Al!«

Der Boden glitt vor, die Wand riß auseinander, eine leere Kabine… die rechte Wand mit einem Kreismuster in Bienenwabenstruktur überzogen, jeder Kreis war ein Loch, und aus einem davon in der Mitte des Feldes wanderte ein Pfeil mit stumpfer Spitze auf Al zu. Er drückte sich an die Vorderwand… der Pfeil ging hinter ihm vorbei… hielt in horizontaler Lage an der linken Begrenzungsfläche des Raumes… entronnen! Noch nicht: Ein zweiter Pfeil kroch aus der Wand, in Kniehöhe, horizontal wie der erste… Al wich aus, der Pfeil ging vorbei. Sofort folgte ein dritter, brusthoch. Al duckte sich… schon war der enge Raum durch zwei Sprossen eingeengt, und nun war eine dritte da… Ein vierter Pfeil schob sich in die Kabine hinein, nicht langsam, nicht schnell, mit automatenhafter Gleichmäßigkeit. Er stach in den engen Raum hinein, wieder in Brusthöhe, genau auf Als eingeklemmten Körper zu. Er hatte Mühe, sich niederzuducken, die Stangen hinderten ihn… noch eine ging über seinen Kopf hinweg… und nun kam wieder ein Pfeil auf ihn zu. Al kauerte am Boden, eingeklemmt in einem räumlichen Gitter… er versuchte auszuweichen, riß und schüttelte an den Stäben… aber es nutzte nichts, diesmal gab es kein Entrinnen. Er warf sich herum, drehte dem anrückenden Spieß den Rücken zu… wartete… ein dumpfer Druck unterhalb des Schulterblatts… ein Losschnellen… ein Dorn, der sich in die Haut bohrte… ein greller Schmerz…

Wie auf ein Zeichen zogen sich alle Stangen zurück, nach ein paar Sekunden war der Raum leer… nur das Punktmuster an der rechten Seite erinnerte an die Tortur.

Der Boden bewegte sich… die Wand wich und schloß sich… eine Düse ragte von rechts in den Raum hinein… es begann zu zischen…

»Katja, antworte!«

»Ich antworte ja schon, Al.«

»Du darfst mich nicht warten lassen!«

»Nein, nein, Al.«

»Bist du glücklich?«

»Ja, sehr! Ich brauche nur an dich zu denken.«

Es war ein laufendes Band, das ihn beförderte. Auf jeder Station geschah ihm etwas anderes – ungewöhnliche, erschreckende Dinge, weniger schmerzhaft als peinigend durch den Zweifel über ihren Zweck.

Station…

Licht glomm auf, zuerst schwach, allmählich intensiver, bis es zu einer alles durchdringenden unerträglichen Grelle wurde. Al preßte die Fäuste vor die Augen, und noch immer badete er in dieser feurigen Flut…

Station…

Langsam wurde es wärmer, dann rascher, die Luft kochte, die Haut brannte, das Herz schlug, die Lunge rang nach Atem… Al wand sich, keuchte, trommelte gegen die Wände.

Station…

Erst summte ein Ton, leise, kaum hörbar, wurde voller, füllte den Raum, laut, gewaltig, dröhnte, donnerte, toste… Al hatte die Schultern hochgezogen und kniete auf dem Boden, die Hände am schmerzenden Schädel…

»Katja, ich könnte es nicht ertragen, wenn du nicht…«

»Bleib ruhig, Al. Bitte! Mir zuliebe.«

»Ich bin ja ruhig, Kat. Wo bist du jetzt?«

»Ich achte nicht mehr darauf. Warum auch?«

Warum auch.

Ein Objektiv blickte von oben in die Kabine – das Objektiv, das Auge der Maschine. Die Wand rechts fiel zurück, ein Abgrund riß auf… ein achtfüßiges Kriechtier zappelte am Boden… ein Schwingenflugzeug surrte auf ihn zu… Zähne bissen… Fratzen grinsten…

Warum darauf achten? Warum?

Al griff in ein Gesicht hinein, und er faßte durch dieses Gesicht hindurch…

Das Förderband lief wieder… stand… eine neue Kabine… leer – bis auf einen roten Knopf…

Über Als Haut lief ein Prickeln, wurde stärker, wurde schwächer, wieder stärker, viel stärker… verzweifelt blickte er sich um… eine Möglichkeit zum Entrinnen?… ein rettender Strohhalm?… Al fand den roten Knopf… er drückte nieder… schlagartig hörte der elektrische Schüttelfrost auf…

Der Boden trug ihn fort… das Prickeln lief wieder über ihn… Al suchte nach dem Knopf… fand ihn… aber er steckte nicht fest in einer Halterung, sondern war verschiebbar angebracht – in einem Gewirr von Linien, die in Form eines Labyrinths in die Wand eingeschnitten waren. Das Ende eines nach unten auslaufenden Einschnitts war rot eingekreist. Die Vibration wurde intensiver, ebbte ab, flutete weiter auf… Schon war Al dabei, den roten Knopf zu verschieben – nur zweimal verirrte er sich in einer Sackgasse und mußte umkehren… dann hatte er den Weg durch den Irrgarten gefunden, konnte den Knopf an der bezeichneten Stelle hinunterdrücken… die elektrischen Schläge ließen sofort nach…

Das Band brachte ihn weiter…

Andere Aufgaben… zitternde Glieder im Elektroschock… gespanntes Nachdenken, höchste Konzentration. Al nahm es als Herausforderung, als Bewährungsprobe. Er bemühte sich, und er war stolz, wenn es ihm gelang…

»Laß doch diese Dinge, Al!«

»Al, was hat es denn für einen Sinn!«

»Hast du mich so schnell vergessen?«

»Gib es auf, Al! Wenn du mich liebst, gibst du es auf!«

Al steckte Bauklötzchen zu einem Würfel zusammen, suchte ineinanderpassende Teile aus einer Menge Metallplatten heraus, reagierte auf das Aufglühen von Leuchtscheibchen, löste einfache und schwerere Rechenaufgaben…

Das Laufband bewegte sich, die Wand schob sich auf… helles Sonnenlicht blendete ihn… er wankte ins Freie…

Da saßen Don, René, Katja, sie sahen ein wenig erschöpft aus, schienen aber sonst wohlbehalten.

»Na, überstanden?« fragte Don.

»Das hat aber lange gedauert!« sagte René.

Al blickte auf Katja.

Sie saß mit angezogenen Knien an der Wand und sah unverwandt an ihm vorbei. Ihre Lippen waren verächtlich gekräuselt. Sie pfiff vor sich hin. Al brauchte einige Zeit, um sich zu sammeln.

»Wo sind wir?« fragte er dann.

René gab Auskunft.

»Am hinteren Ende des Hauses.«

»In welchem Teil des Geländes?«

Niemand wußte es.

Al trat an eine Gestrebekonstruktion, die wie ein Bohrturm aussah, und kletterte hinauf. Die körperliche Anstrengung vertrieb die Mattigkeit und die Reste des überstandenen Schreckens wie ein erfrischendes Bad. Rasch klomm er höher, über das Niveau der Dächer hinaus.

Eine warme Luftströmung trieb an ihm vorüber und kühlte ihn wohltuend ab. Seine Kameraden waren zu kleinen, unscheinbaren Pünktchen geworden. Er musterte seine Umgebung. Das Schwebeboot hatte sie in den nördlichen Teil des Stadtkerns gebracht. Zwischen den höheren Bauwerken gab es genug Lücken, durch die er die Stadtmauer erkennen konnte, die sich wie ein Schlüsselrand um die eingeschlossene Horizontalfläche bog. Die Gebäude mit ihren Metall- und Glasdächern lagen im Becken eingeschachtelt wie Zusammensetzteile in einem säuberlich aufgeräumten Elektrobaukasten. Die ebene Lage war nur an einer Stelle gestört – Al nahm an, es wäre dieselbe, an der im Bild der alten Stadt der Hügel mit der Ruine gelegen hatte: Hier ragten die Gebäude höher auf. Al konnte nicht erkennen, ob sie auf einem Hügel standen oder nur höher als die anderen gebaut waren.

Er stieg wieder hinunter und berichtete seinen Kameraden.

»Ich habe eine Idee«, meldete Don, als sie ihre nächsten Maßnahmen berieten. »Jak ist uns drei Tage voraus. Versuchen wir, ihn und seine Leute zu finden – dann werden wir schon sehen, womit er beschäftigt ist. So ersparen wir es uns, erst lange selbst zu suchen.«

»Eine gute Idee«, sagte Katja.

Don wandte sich an Al. »Hast du etwas von Jak gesehen?«

Al schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Macht nichts«, konstatierte Don. »Der Flächenraum ist nicht groß, wir werden Jak bald erwischen. Am interessantesten erscheint mir der Hügel. Am besten, wir gehen zunächst dorthin. Aber vorsichtig, denn Jak kann sich denken, daß wir inzwischen wieder da sind!«

»Werden wir uns frei bewegen können?« fragte René.

»Warum nicht?« fragte Don zurück. »Die Automaten haben uns geprüft – darüber sind wir uns doch klar. Und sie haben uns freigelassen. Sie halten uns für harmlos. Sie kümmern sich nicht mehr um uns.«

Al war wieder einmal anderer Meinung.

»Ich glaube nicht, daß sie sich nicht mehr um uns kümmern.« Er zeigte auf einen Pfeiler, der in der Mitte des nächsten größeren Platzes stand. Es gab viele davon – dünne stengelartige Gebilde, die in dunklen glänzenden Kugeln unbestimmter Farbe endeten. Manche von ihnen waren nur wenige Meter hoch, andere überragten die Dächer um viele Manneslängen.

»Lampen?« fragte René.

»Vielleicht auch das«, antwortete Al. »Ich habe meine: Augen.«

René nickte.

»Kugelobjektive.«

»Augen, die uns ununterbrochen anstarren«, sagte Katja, ohne daß man merkte, ob es eine Frage oder eine Feststellung sein sollte. »Viele tausend Augen, die uns ununterbrochen beobachten.«

»Das ist doch nur eine Vermutung«, sagte Don mit Unbehagen.

»Wir müssen solchen Vermutungen nachgehen«, sagte René. »Man kann sie doch nicht einfach abtun!«

»Na, so geht ihnen doch nach!« forderte ihn Don unfreundlich auf.

René entgegnete kühl: »Genau das habe ich vor.«

Er schlenderte zur Säule hinüber und zog seine Jacke aus. Er band die beiden Ärmel zusammen, so daß sie eine Schleife bildeten, und hängte dann das Kleidungsstück über den linken Arm.

»Nun werde ich dir gleich zeigen, daß nicht nur du klettern kannst«, sagte er laut zu Al, der mit Don und Katja langsam nachkam.

René umfaßte die Stange möglichst weit oben, zog die Beine nach, schloß sie fest um den glatten Kunststoffschaft, streckte sich wieder empor und kam auf diese Weise überraschend schnell hinauf. Nach wenigen Klimmzügen befand sich sein Kopf dicht neben der Kugel, und unwillkürlich fuhr er zurück. Obwohl sich nichts regte, war ihm, als wäre der Blick des runden Glaskörpers ausgesprochen böse. Geschickt nahm er seine Jacke vom Arm und stülpte sie mit einer raschen Bewegung über das gläserne Kugelauge. Er hatte ein leise beklemmendes Gefühl – rasch ließ er sich abwärts gleiten und trat zu den anderen, als wolle er sich unter ihnen verbergen.

Trotz der unbestreitbaren Harmlosigkeit ihres Tuns fühlten sie sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Unruhig blickten sie umher.

»Spielerei«, murmelte Don abfällig, aber in Wirklichkeit wollte er nur sich selbst Mut machen.

Dann flog etwas leise surrend über die Dächer heran und hielt schwebend vor der verhängten Kugel – ein metallener Vogel von der Größe eines Kondors. Eine Zange griff zu… das Ding hob sich… zog die Jacke von der Kugel fort, ohne den Übergang des Beschleunigens setzte es sich wieder in Bewegung, surrte auf René zu – erschrocken wich dieser einen Schritt zurück… die Jacke fiel zu Boden… schon glitt der Flugkörper über die Dächer davon.

»Du kannst sie wieder anziehen«, sagte Al. Benommen hob René die Jacke auf. Er machte einige vergebliche Versuche, bevor es ihm gelang, glatt in die Ärmel zu kommen.

»Jetzt wissen wir es also«, sagte Don. »Na, wennschon. Kommt, wir ziehen los!«

Sie stellten bald fest, daß es auch hier kein Straßennetz im üblichen Sinn gab. Das, was sie als Straßen benutzten, war wohl nichts anderes als die mehr oder weniger zufällige Folge von Zwischenräumen und freien Plätzen zwischen den Anlagen. Oft ließ sich auch gar nicht angeben, wo das Maschinengelände aufhörte und der brachliegende Raum begann. Oft standen turmartige Bauwerke auf den freien Stellen, oft rückten diese Dinge aber auch näher aneinander und bildeten eine Landschaft, die stark einem Wald ähnelte. Die Bewegung glich dann mehr einem Slalom als einem zielbewußten Vormarsch. Manchmal wanderten sie zwischen aufgespannten Netzen hindurch, manchmal stießen sie auf Areale, in denen die birnenförmigen Gegenstände, die ihnen schon früher aufgefallen waren, dichtgedrängt in Reih und Glied standen. Nur selten fanden sie geschlossene Gebäude.

Al gab sich alle Mühe, um die Orientierung nicht zu verlieren. Einige Male gelang ihm dies nur, indem er den Sonnenstand mit der Zeitansage seiner Uhr verglich. Hier wäre ein Kompaß das richtige gewesen. Es fiel ihm nur nebenbei ein, doch es führte ihn zu ganz unorthodoxen Gedankengängen – wie sehr hätten ihnen hier Werkzeuge geholfen, nicht nur einfache Gegenstände des täglichen Gebrauchs, nein, echte, dem Zweck angepaßte Werkzeuge, mit denen man, wenn es notwendig war, auch einmal entscheidend in die Umwelt eingreifen konnte! Noch nie war ihm das Unzulängliche der erlaubten Mittel so bewußt geworden, noch nie hatte er es so deutlich empfunden, daß er von der Umgebung abhängig war und nicht sie von ihm. Schon dadurch, daß sein Weg mehr vom Zufall abhing als von seinem Willen, kam das klar zum Ausdruck. Er mußte an die Fernlenkbox denken: wie die Kugel über die schiefe Ebene rollte, blind an Hindernisse stieß, an Löchern und Toren vorbeiirrte und schließlich im Reservebehälter landete, ganz gleich, was vorher mit ihr geschehen war.

Wieder einmal standen sie vor einem Hindernis, einem riesigen Bauwerk, das sich so weit nach rechts und links erstreckte, daß es viel Zeit gekostet hätte, darum herumzugehen.

»Sieht wie eine Fabrik aus«, bemerkte Don.

Wie die meisten Gebäude gab auch dieses sein Inneres willig preis. Nur an wenigen Stellen war es von Wänden umschlossen, und selbst diese bestanden aus jenem durchsichtigen Material, das sie kurzerhand als Glas bezeichneten. Auch das Dach war durchsichtig.

Interessiert näherte sich René einer offenen Stelle und betrat eine Art Weg, der durch das Innere zu führen schien.

»Wir können vielleicht hindurchgehen«, schlug er vor. Insgeheim hatte er den starken Wunsch, eine der Anlagen zu besichtigen.

»Warum nicht?« sagte Don und gab damit das Zeichen, die Fabrik zu betreten.

Es schien sich wirklich um einen Weg zu handeln, denn der ebene Streifen zog kontinuierlich zwischen den einzelnen aufgebauten Teilen hindurch, etwa einen Meter breit, stufenlos, oft geneigt, aber nie so stark, daß er das Gehen unterbunden hätte. Die Neigungen waren erforderlich, um beträchtliche Höhenunterschiede zu überwinden. Die Maschinen – falls es sich um Maschinen handelte – waren von immenser Größe und oft einige Stockwerke hoch.

»Wozu mögen sie gut sein?« fragte Don.

Sie gingen gerade an einem Geländer entlang. Tief unten lief eine ganze Bahn von schrägen Rinnen zu torartigen Öffnungen.

»Vielleicht eine Förderanlage?« vermutete René. Er konnte seine Begeisterung nicht verbergen. »Großartig. Man müßte das einmal in Betrieb sehen!«

»Wie kommst du auf Förderanlage?« fragte Don.

»Durch die Rinnen soll etwas abrutschen oder abrinnen«, erklärte René, »dort oben scheint eine Art Sortiervorrichtung zu sein, und unten geschieht irgend etwas mit den bearbeiteten Dingen.« Er gestikulierte heftig, voll Eifer darauf erpicht, sich den anderen, die von diesen technischen Dingen nichts wußten, verständlich zu machen. »Natürlich läuft das alles vollautomatisch.«

»Das wollen wir doch ausprobieren!« sagte Al, und ehe ihn jemand hindern konnte, warf er einen der Kiesel, die noch in seiner Tasche steckten, zu den Rinnen hinunter. Es hätte ihn auch niemand gehindert, denn Don hielt sowieso nicht viel von übertriebener Vorsicht, René wäre noch ganz andere Risiken eingegangen, um die Maschinerie in Gang zu setzen, und Katja hatte gar nicht zugehört.

Der Stein schlug blechern klirrend unten auf, sprang noch einmal hoch, fiel endgültig in eine Rinne, kollerte hinunter, rutschte in die Öffnung am unteren Ende der Bahn…

Auf einmal lag ein Ton in der Luft, ein hohes, helles Singen, stetig und gleichbleibend in Tonhöhe und Lautstärke… Die vier Kameraden standen still und staunten… Zwölf große gleißende Bälle stiegen wie Seifenblasen aus zwölf Trichtern, Kugeln aus dem seidigen Gespinst von elektrischen Entladungen, auf und ab wogend wie Fontänen im Wind. Kolben stampften; Flügelräder liefen an, dort, wo der Stein verschwunden war; etwas mahlte dumpf. Wie eine Woge lief es durch die Maschinenteile – Räder drehten sich, Gelenke knickten, Wellen rotierten, Relais klickten, Funken knisterten.

Katja war aus ihrer Träumerei erwacht und schrie plötzlich:

»Da ist er! Da!«

Der Stein war wieder zum Vorschein gekommen, er hüpfte über einen Schüttelweg, dann griff ein glockenartiges feinmaschiges Drahtgeflecht wie eine Hand über ihn, hob ihn empor und kippte ihn über einer Grube aus, in die sie von ihrem Standpunkt aus nicht sehen konnten. Sie stürmten über den Weg und hielten jäh: Von unten schlug ihnen trockene, atemstockende Luft entgegen. Kurz anhaltende, gedämpfte Zischlaute wurden hörbar, das milde Blau von Cerenkovstrahlung glomm irgendwo in unbestimmter Tiefe. Dann war es plötzlich still.

»Atomzerfall«, flüsterte René. »Donnerwetter! Atomarer Abbau!«

4


Schweigend setzten sie sich wieder in Marsch, einige Male teilte sich ihr Pfad. Sie schlugen stets die Richtung ein, die sie am schnellsten an die andere Seite bringen mochte.

Unversehens hob Don, der voranging, die Hand.

»Halt! Still!«

Er drängte die anderen zurück.

»Zu dumm. Wir hätten damit rechnen müssen: Jak mit seinen Anhängern. Wir dürfen uns nicht sehen lassen.«

Sie zogen sich hinter einen pyramidenartigen Aufbau zurück.

»Sie haben den Lärm gehört«, stellte Al fest. Don spähte um die Ecke. »Dort stehen sie, Jak und Heiko. Und da ist auch Tonio!«

»Kommen sie näher?« fragte Kat.

»Sie beraten«, flüsterte Don. Er drehte sich um. »Das ist eine gute Gelegenheit – wir dürfen uns nicht sehen lassen. Wir beobachten sie – und folgen ihnen dann.«

Wieder spähte Don hinter der Wand hervor. »Vorsichtig, sie kommen. Wir müssen uns verstecken!«

René wies hinauf.

»Am besten dort oben.«

Die Stufen, die in die Höhe führten, waren offenbar nicht zum Erklimmen bestimmt, aber mit gegenseitiger Hilfe waren sie zu überwinden. Sie gelangten auf eine horizontale, von viereckigen Löchern durchstoßene Fläche von etwa vier mal vier Metern, die entfernt an ein Kanalgitter erinnerte. Hier waren sie vor Blicken von unten geschützt.

»Niederlegen«, befahl Don leise.

Sie ließen sich auf der harten Unterlage nieder.

»Oh, wie unbequem«, stöhnte Katja.

René versuchte, in eines der Löcher hineinzuschauen, aber im Innern war es dunkel.

»Hoffentlich keine Gasableitung«, murmelte er.

»Das Ding ist doch sowieso nicht mehr in Betrieb!« zischte Don.

Unten hallten Schritte. Die zweite Gruppe mußte direkt unter ihnen sein. Jetzt klangen auch Stimmen auf.

»… bestimmt von hier. Hab’s ganz genau gehört!«

»Aber was soll es denn gewesen sein?«

»Vielleicht treibt sich hier Don herum.«

»Siehst du eine Spur von…«

Die Stimmen verklangen. Nur noch ein paar Wortfetzen waren zu verstehen.

»… alles genau durchsuchen…«

Wieder lugte Don hinunter. Warnend schwenkte er die Hand.

»Wir können nichts anderes tun als vorerst hierbleiben!«

»Sollen wir nicht…«, Al stockte, kaum daß er zu sprechen begonnen hatte.

»Was?« fragte Don uninteressiert.

»Uns mit den anderen verständigen?«

»Was sagst du da?«

»Du hast schon richtig gehört: uns mit den anderen verständigen!«

»Hast du deinen Verstand verloren? Bist du wahnsinnig?« Don war außer sich.

Katja hatte das Kinn auf die Hände gestützt und hörte ihm halb belustigt, halb gelangweilt zu. Al ließ ihn zunächst aussprechen. Don redete noch eine Weile weiter.

»Wenn wir zusammen vorgehen«, versuchte Al zu erklären, »können wir mehr erreichen…«

»Was sollen wir erreichen? Wie sollen wir die ersten werden? Zusammen vorgehen! Ausgemachter Unsinn!«

»Don, begreifst du denn nicht? Es geht hier um viel mehr, als erster zu sein. Hier liegt ein Rätsel, das wir lösen können. Hier können wir Probleme klären, die die ganze Menschheit betreffen. Hier haben wir…«

»Sei still, Al, bitte!« sagte Don sehr entschieden. Al forschte in den Mienen der beiden anderen. René roch bedenklich an den Öffnungen im Boden. Katja drehte sich betont lässig auf den Rücken, bettete den Nacken in den verschränkten Händen und blinzelte dem Licht, das von oben kam, entgegen. Es war nicht mehr die tiefe Bläue des Tages, es waren schon die Tinten des späten Nachmittags, die dort oben Flecken und Regenbogenränder malten.

»Es ist schon spät«, sagte sie.

»Spät?« wiederholte Al. »Vielleicht ist es das – zu spät.«

»Jetzt aber endgültig Schluß«, mahnte Don. »Machst du weiter mit – oder nicht? Dann brauchst du gar nicht hierzubleiben. Nun?«

»Schon gut«, sagte Al. Er zog ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.

»Na also«, sagte Don befriedigt. Er schob sich wieder zum Rand vor und sah hinunter. »Sie sind drüben. Sie besprechen sich.«

»Mir ist es hier zu hart. Ich will hinunter«, sagte Katja und richtete sich auf. Don schnellte zu ihr hin und riß sie nieder.

»Verflucht! Kusch dich! Oder es knallt!«

Katja schlug hart auf. Sie ächzte unterdrückt.

»Al, hilf mir doch!«

»Laß sie los, Don«, sagte Al drohend.

Don sah ihm wütend in die Augen. Al war nicht weniger wütend.

»Laß sie los!« forderte er noch einmal.

»Was geht es dich an?« stieß Don heraus.

»So tu doch was, Al!« flehte Katja. Sie wand sich unter den hart zupackenden Händen Dons. »Laß doch das alles, Al! Gib es auf! Wir können…«

Don legte seine Hand auf ihren Mund. Im Liegen ergriff Al seinen Arm und riß ihn herum. Don ließ Kat los und schlug auf Al ein, einmal, zweimal, ohne sich aufzurichten… Al fing die Faust ab und drehte sie um… plötzlich flogen sie auseinander. René hatte sich zwischen sie geworfen.

»Schluß. Seid still. So seid doch still!« Er lauschte angestrengt… Sie hörten Schritte… und Stimmen .

»… hier irgendwo…«

»… nicht getäuscht haben…«

Die Schritte polterten davon. Die Stimmen wurden unverständlich.

»Mit eurer verfluchten Streiterei«, schalt René. »Ihr verpatzt noch alles! Wofür bemühen wir uns?«

Don und Al hatten sich etwas beruhigt, nur ab und zu warfen sie sich böse Blicke zu. Eine Weile warteten sie und lauschten. Mehrmals wurden die Schritte lauter und dann wieder leiser.

Der Abend kam und dann die Nacht. Sie senkte sich rasch, wie immer bei strahlendem Wetter. Die Reflexe erstarben. Die Maschinen verloren ihren Glanz, ihre Kanten wurden weich, ihre Ecken stumpf.

»Wir klettern hinunter!« ordnete Don an. »Wir müssen uns an ihre Fersen hängen, sonst entwischen sie uns!«

Sie halfen einander und kamen bald wohlbehalten unten an. Aus einem fernen Winkel drangen Geräusche.

»Da hinten!« flüsterte René. »Kommt schnell!«

Auf Zehenspitzen schlichen sie über den Weg, der sich als hellgraues Band zwischen den schlafenden Maschinenungeheuern dahinschlängelte.

Katja brachte nur wenig Mühe auf, mit einemmal stolperte sie und hielt sich im letzten Moment an einem senkrecht stehenden, wendelartig gebogenen Metallgebilde. Der Stoß lief durch den elastischen Stoff, wurde reflektiert, ein Ton wie von einer reißenden Saite ertönte, klang ab, wiederholte sich mit jedem durchlaufenden Echo, zwar leiser, aber immer noch aufreizend in der Stille der Halle.

Stimmen, Geräusche, Aufschläge von Schuhen auf Metall…

Wild blickte Don umher.

»Hierher!«

Er sprang vom Weg hinunter, auf einen breiten Vorsprung, der von einer gebuckelten Metalloberfläche abstand, kroch über die gekrümmte Fläche hinweg, ein Schemen in der Düsternis…

Die Schritte kamen rasch näher.

Al sprang die Stufe hinunter – sie war nur einen Meter tief – und streckte Katja und René die Hand entgegen. Hinter Don turnten sie über das Rund der Metalloberfläche…

Oben hielten drei Schatten…

Don war weit vor ihnen, sie hetzten weiter, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er schwang sich über eine Barriere… Da geschah es – ein Rechen wischte die Bahn entlang. Don schrie gellend auf…

Jetzt tönte die Luft, sie sang, schneidend, ohne Unterbrechung, ohne Schwanken…

Blitzartig jagte ein greller blauer Schein über die Flächen, die Kanten entlang, er fing sich an den Ecken und Spitzen, hing in den Linienreihen der Drähte… zwölf weißblaue Kugelblitze pulsierten im gleichen, metronomhaften Takt…

Ein Erwachen, Sichrühren, Sichbewegen verbreitete sich wie von einem Windhauch getragen. Das Stampfen von Kolben, das Sausen von Flügelrädern, das Ächzen von Ketten, das Knistern eines Feuerwerks von aufhuschenden Funken übertönte die Schreie Dons.

Bleich überkreidet von der blauen Helligkeit, standen drei unbewegliche Gestalten oben am Weg vor einem Vorhang aus Lichtflecken und zurückweichenden Schatten.

»Atomzerfall«, ächzte René.

Jetzt lief er neben dem Förderband her, auf das Don getreten war, sah, wie er in einem schwarzen Loch verschwand, stemmte sich auf den Weg hinauf, stürmte weiter, sah, wie Don wieder zum Vorschein kam – eine Schaufel schob ihn über eine Reihe von Sieben, bis er durch die weiten Maschen des letzten kollerte… in eine der Rinnen hinein, die sie als erstes in diesem Raum gesehen hatten. Sich überschlagend, vergeblich nach Halt suchend glitt er die Neigung abwärts, tauchte in eine Öffnung, wurde weiter vorn ausgespien, ruckte über den Schüttelmechanismus, dann kam das glockenartige Gebilde, eine Art Fangnetz aus Draht, über ihn, warf ihn empor, kippte ihn über jener Grube aus, in der sie vor einigen Stunden das blaue Glimmen gesehen hatten…

René war schon stehengeblieben. Er preßte die Hände vors Gesicht.

So schnell, wie es begonnen hatte, hörte es auf. Es war still. Tödlich still.

Nach der Fülle von Licht brauchte die Dämmerung eine Weile, um ihr beruhigendes Grau auf die Dinge zu hauchen.

Auf dem Weg oben ertönten Schritte. Jak, Tonio und Heiko zogen ab, ohne sich um die andere Gruppe zu kümmern.

René suchte Al und Katja, die jeder allein für sich wie verloren am Rand des Laufbandes standen. Auch sie verließen den Raum schweigend. Sie wanderten unter dem Gefunkel der fremden Sternbilder zu ihrem Lagerplatz hinter der Mauer.

5


Die drei achteten nicht auf die Sterne. Sie waren müde und abgespannt, und wenn sie Don sein Mißgeschick auch gönnten, so fühlten sie sich doch seltsam unsicher ohne die Autorität des Freundes, der immer sofort gehandelt und die anderen mitgerissen hatte. Vor allem aber standen sie noch unter dem Eindruck der gewaltigen Kräfte, die verborgen in Batterien, Kondensatoren, Drähten, Röhren und Behältern schlummerten und nur eine Nebensächlichkeit brauchten, um mechanisch ihren Aufgaben nachzugehen, gleichgültig, ob diese noch Sinn hatten oder nicht.

Obwohl die Nacht hell war wie alle anderen Nächte, war es doch nicht einfach, den Weg zurückzufinden. Sie benötigten eine halbe Stunde, ehe sie an der Mauer ankamen. Zehn Minuten später lagen sie auf ihren Gummimatratzen im Zelt. Sie zogen ihre Schlafsäcke bis über die Ohren, um nichts zu sehen und nichts zu hören – Produkte einer jahrmillionenalten Entwicklung des Selbstbewußtseins, der Abkehr von der Natur und der Anpassung an eine künstliche Umwelt und doch noch tierhaft in ihrem Bestreben, sich zu verkriechen.

»Al!«

Katja flüsterte, um René nicht zu wecken, der sich im Schlaf unruhig hin und her wälzte.

»Was gibt’s, Kat?«

»Ich hab’ dich schon zweimal etwas gefragt.«

Al seufzte.

»Ich weiß.«

»Bedeute ich dir so wenig?«

»Aber Katja, versteh doch – das hier ist…«

»Al, wir brauchen uns nicht mehr abzumühen, nicht mehr zu ärgern und zu quälen…«

Al versuchte sie zu unterbrechen:

»Bitte Kat, hör mir doch…«

Katja redete unbeirrt weiter.

»Vielleicht kann ich mich noch umregistrieren lassen. Vielleicht werden wir als Paar zugelassen – und dann… Willst du es nicht?«

»Ja, Katja, doch…«

»Dann laß doch diesen albernen Planeten, diese langweiligen Maschinen, diese ganze miese Stadt…«

Sie hatte ihre Stimme erhoben, und Al zischte: »Pst«, René drehte sich schnaufend herum.

»Al, ich bin doch nur wegen dir so lange geblieben. Du weißt nicht, wie schrecklich hier alles für mich ist. Denk doch daran, wie wundervoll es sein könnte! Wir würden gemeinsam mit der Fernlenkbox spielen, uns durch die plastischen Räume treiben lassen, die Farbmelodien und die Stereos erleben! Geben wir es gemeinsam auf?«

»Warte doch, bis es vorbei ist! Kat, wenn du nur begreifen könntest!«

»Gibst du das für mich auf? Nicht später und nicht nachher – gleich?!«

Al schwieg.

»Gibst du es auf?« drängte Kat.

»Nein«, sagte Al, »aber…«

»Du brauchst nichts mehr zu sagen. Es genügt mir«, sagte Katja hart. Sie rollte sich in ihren Schlafsack im letzten Winkel des Zeltes und gab keinen Laut mehr von sich.

Am nächsten Morgen fuhren sie jäh aus dem Schlaf. Jemand hob die Zeltplane auf, helles Licht fiel herein, und eine Stimme rief:

»He, ihr Langschläfer! Aus den Federn! Heraus mit euch!«

Katja schlüpfte aus den Hüllen, hüpfte zwischen den noch eingehüllten Körpern Als und Renés hinaus und warf sich Don an die Brust.

»Hallo, Kat! Was sagst du nun? Al, René, ihr Schlafmützen!«

Al setzte sich schlaftrunken auf.

»Woher kommst du?«

»Heraus mit euch, ihr beiden!« schrie Don in blendender Laune. »Mir ist nichts passiert!«

Al streifte den Schlafsack ab und kroch umständlich aus dem Zelt. Er boxte Don freundschaftlich in die Seite. Im Moment hatte er allen Zwist vergessen.

»So erzähl schon!«

Auch René gesellte sich zu ihnen.

»Also«, begann Don, »als ich über die Förderfläche laufen wollte, kam ein riesiger Rechen angefahren und streifte mich in eine Art Gang hinein. Es war gar nicht viel anders als bei der Prüfung gestern vormittag – es gab einige Haltestellen, wo ich bestrahlt, angespritzt, angeblasen und noch einiges wurde – dann ging es weiter, auf einer rutschigen Fläche bergab. Ich war der reinste Spielball, wurde um und um gedreht, in eine Art Trichter geschaufelt, dann folgte die Reise über die holpernde Unterlage – mir hob es den Magen bis zum Hals, so wurde ich durcheinandergeschüttelt. Und zuletzt hob mich etwas hoch empor – und ließ mich fallen. Ich landete weich, in einem nachgiebigen Gewebe – sanft fuhr ich eine Spirale hinab, das Netz gab nach, ich saß im Freien. Das ist alles!«

»Und was hast du…«

René unterbrach sich, aber es wußten sowieso alle, was er fragen wollte und was Don unter lärmender Leutseligkeit zu tarnen suchte: Was hatte er bis jetzt getan? Es war eine arge Regelwidrigkeit, sich während einer Gemeinschaftstour zu verdrücken, noch dazu für eine ganze Nacht. Nicht umsonst war Don jetzt so gut erholt und wohlgelaunt. Aber sie erinnerten sich, daß sie sich auch schon manches Mal nicht ganz vorschriftsmäßig benommen hatten. Und es gab eine Entschuldigung: Dieses Erlebnis war zweifellos etwas aus dem Rahmen Fallendes. Die Entsetzensschreie Dons gellten ihnen noch im Ohr – und sie schwiegen.

»Ihr sagt ja nichts«, rief Don vorwurfsvoll. »Ist das nicht unglaublich! Wie erklärt ihr es euch?«

»Einiges ist gar nicht so geheimnisvoll«, sagte René. »Es scheint sich um eine Anlage zur Atomzertrümmerung zu handeln, um eine Art Materiewandler. Ganz einfach gesagt, funktioniert er nach folgendem Schema: Vorn steckt man Stoff hinein, und hinten kommt er wieder heraus – aber in der Form, die man sich gewünscht hat.«

»Sehr praktisch«, sagte Don.

»Die eigentliche Umwandlung geht erst im Atommeiler vor sich – das ist der Teil der Maschine mit der blauleuchtenden Öffnung. Das rührt von Cerenkovstrahlung her. Sie entsteht dann, wenn Elektronen oder andere geladene Teilchen sehr schnell durch Substanzen schießen – wie sie beispielsweise beim Kernzerfall entstehen können. Alles, was vorher passiert, dient nur zum Analysieren und Sortieren des Materials…«

»Sagte ich es nicht?« warf Don ein.

»Die Ergebnisse der Analyse werden dann verwendet, um die Einwirkungen – Alphateilchen, langsame Neutronen, Gammastrahlen und so weiter – richtig zu dosieren. Im Meiler laufen zuletzt jene Kernreaktionen ab, die zum richtigen Ergebnis führen.«

»Warum bin ich nicht längst zu Gold verwandelt?« fragte Don.

»Wahrscheinlich ist eine Sicherung eingebaut«, vermutete René.

»So dürfte es sein«, bestätigte Al. »Solche Supermaschinen sind ja auch bei uns auf der Erde so konstruiert, daß sie niemanden verletzen können.«

»Prächtig«, sagte Don, »dann brauchen wir uns ja vor ihnen nicht besonders in acht zu nehmen und können uns auf Jak konzentrieren. Ich habe etwas Besonderes vor. Paßt auf!«

Mit kurzen hastigen Worten setzte er den Kameraden seinen Plan auseinander.

Wenig später wanderten sie die Stadtmauer entlang, denselben Weg wie vor wenigen Tagen. Es war ein eigenartiges, zwiespältiges Gefühl, linker Hand die Burgbauten liegen zu sehen, farbig, plastisch, wie zum Greifen nahe, und zugleich zu wissen, daß alles nur Trug war. Aber selbst davon abgesehen – dieses unmittelbare Aufeinanderprallen des Mittelalters mit den Produkten einer utopisch anmutenden technoiden Zivilisation blieb eigenartig genug und verstärkte den Eindruck des Unwirklichen.

Unangefochten erreichten sie den Platz, von dem das Tor zur Zugbrücke führte, sie gingen unter seinem weiten Bogen hindurch und wandten sich zur Tür, die rechts von hinten in den Bau hineinleitete. René, der schon hiergewesen war, führte. Über eine Treppe kamen sie hinauf, an mehreren Türen vorbei. Eilends stiegen sie über die abgetretenen, aufgefächerten, im Kreis laufenden Stufen. Wieder sahen sie eine alte schnitzereiverzierte Tür. Sie stand offen, und René blieb stehen. Sie waren am Ziel. Der Raum war ein Waffensaal, in der Mitte standen Rüstungen, an den Wänden hingen Folterwerkzeuge und Waffen mannigfaltiger Art, bekannte und unbekannte.

Al kehrte zur Treppe zurück und stieg noch eine Etage höher. Durch eine Luke, durch die ihm ganze Strähnen von Staub und Sand entgegenrieselten, zwängte er sich auf das waagerechte Dach. Es war an beiden Seiten von einer brusthohen Wehr gesäumt, auf die in regelmäßigen Abständen Aufsätze in Form quaderförmiger Blöcke gebaut waren – offenbar zum Schutz gegen von der Seite einfallende Geschosse. Einige Kartätschen standen auf Rädern an der Balustrade. Den vielfachen frischen Streifenspuren im Staub war zu entnehmen, daß sie erst vor kurzem dort hingeschoben worden waren – Jak hatte sie benutzt, um Schüsse abzufeuern. Von hier oben war das Zielen ein Vergnügen. Nach allen Richtungen konnte man weit ins Land hineinschauen, über das rostrot und jadegrün gemusterte Meer der Dächer und Regenrinnen, über die mehrfach geknickte Linie der Stadtmauer, über den Wassergraben, über die Brücke – die Brücke, die ohne Unterbrechung übers Wasser lief und drüben von einem hohen Rundbogen überspannt war.

Al ging wieder hinunter in den Waffensaal. Einige weiße Schatten an der Wand verrieten, daß hier lange Zeit Waffen gehangen hatten – Jak und seine Leute hatten sie heruntergenommen, und auch Don wog schon einen Säbel in den Händen.

»Sucht euch etwas Passendes aus!« rief er.

»Gebt acht, daß ihr nichts Kaputtes erwischt«, warnte René.

Don kramte in einigen Schubläden nach Munition. Triumphierend holte er eine Schachtel mit Kugeln und ein Säckchen mit Pulver hervor.

»René, kannst du mir sagen, wie das funktioniert?«

René sah die Sachen aufmerksam an.

»Es scheinen Waffen verschiedener Jahrhunderte zu sein«, sagte er. »Ich glaube, das ist das Modernste.« Er wies auf ein Gerät, das an eine Pistole erinnerte, doch erheblich größer war. »Hier ist die Munition dafür.« Seine Kameraden umringten ihn und ließen sich keinen seiner Handgriffe entgehen. Er steckte eine daumengroße zylindrische Hülse in eine Öffnung, die er daraufhin durch eine Klappe verschloß. Dann trat er ans Fenster.

»Achtung! Ich probiere es einmal aus!«

Die Waffe besaß dort, wo an gebräuchlichen Pistolen der Abzug sitzt, einen Kolben. René steckte sie zum Fenster hinaus und zog den Zeigefinger an…

Es krachte heftig, und gleich noch einmal. René stand in eine Rauchwolke gehüllt, doch bevor der Rauch die Sicht verschleiert hatte, hatten sie es alle beobachtet: Unten im Hof war ein kreisrundes Loch entstanden, einige Kopfsteine waren nach allen Seiten geflogen, eine weiße Wolke Rauch wehte fort.

»Sprengmunition«, sagte René anerkennend.

»Fein«, sagte Don. »Nehmt jeder so ein Ding. Und genügend Munition. Vielleicht können wir noch etwas von den andern Sachen brauchen.«

Sie blieben noch einige Zeit bei ihren Versuchen. Schließlich hatte sich jeder mit dem ausgestattet, was ihm am besten gefiel. Don hatten es die handlichen Schußwaffen mit der Explosivmunition angetan, die sie kurz Pistolen nannten. Er trug einen Gürtel mit einer Pistole und ein morgensternähnliches Schlaginstrument. Al hatte eine, René zwei von den Pistolen eingesteckt. Katja waren diese Waffen zu schwer – schließlich befestigte sie einen zierlichen, goldbeschlagenen Dolch an einer Schlinge ihrer Jacke.

»Jetzt sind wir bereit«, rief Don. »Jetzt zahlen wir Jak zurück, was er uns vorgeschossen hat!«

6


Sie hatten keine Leiter mitgenommen und mußten daher zur Plattform zurückkehren. Das war ein kleiner Nachteil, dem aber Vorteile gegenüberstanden: Von dort aus kannten sie den Weg schon, und außerdem hielten sie auf diese Art die Möglichkeit frei, sich von innen jederzeit direkt zum provisorischen Lager zurückzuziehen. Munter kletterten sie die Leiter hinab, jetzt schon geübt und ohne sich um die seltsamen optischen Gaukelspiele zu kehren.

Mit ihren altertümlichen Waffen boten sie ein seltsames Bild zwischen den ultramodernen Bauten und Maschinen. Eigentlich ist es verrückt, dachte Al; sind wir schon so träge geworden, daß wir nichts mehr ernst nehmen können? Daß es nichts mehr für uns gibt als Vergnügen und Unterhaltung? Daß wir auf alles, was ein Stück weiterführen könnte, freiwillig verzichten, weil es uns ein wenig an Vergnügen und Unterhaltung kosten würde?

Stillschweigend vermieden sie es, die Fabrik für Materieumwandlung zu betreten. Sie gingen darum herum, obwohl sie einige Zeit verloren, sie wichen nach rechts aus und betraten eine Straße, die nur Don gesehen hatte, und auch er nur im Sternenschein.

»Hier irgendwo muß ich herausgekommen sein«, sagte er und deutete auf eine Reihe von Öffnungen, unter denen halbkreisförmige Mulden lagen – bereit, einen herabfallenden Gegenstand aufzufangen. Sie kamen nahe daran vorbei. René bückte sich neugierig, hob etwas auf und konnte einen Ausdruck der Verblüffung nicht verhalten. In seiner Hand lag ein billardkugelgroßes Ding mit glatter Oberfläche, aber nicht kugelrund, sondern zwei Seiten leicht abgeplattet.

»Der Kiesel!« rief Al. »Ja, mein Kiesel – den ich gestern in die Rinnen hinunterwarf!«

René drehte ihn in der Hand, versuchte ihn zu kneten, roch daran.

»Richtig, Al, der Kiesel. Aber aus Schwefel! Es ist nicht zu fassen!«

Der unscheinbare glatte Gegenstand ging von Hand zu Hand.

»Die konnten was«, sagte Don lobend. »Aber kommt jetzt! Halten wir uns nicht länger auf. Mittag ist schon vorbei.«

Je weiter sie vordrangen, um so dichter standen die Gebäude, um so enger rückten die Pfeiler, Masten und Türme zusammen, um so weniger Platz blieb für eine Fortbewegung am Boden. Das Gebäude ähnelte nun stark einem riesenhaften Umspannwerk aus der Zeit, als noch der elektrische Strom Hauptmittel der Energieverteilung war. Obwohl die Strebenreihen, Drahtgitter, Rahmenkonstruktionen, alle diese verschiedenen bizarren Gebilde aus Metall, Glas und Kunststoff sicher andere Zwecke hatten als Transformatoren, Isolatoren und Leitungen, und obwohl Don, Al, Kat und René den Maschinen die Fertigkeit und Bereitwilligkeit zugesprochen hatten, Menschen zu schonen, so bewegten sie sich doch ein wenig zaghaft zwischen ihnen hindurch – als ob es jeden Moment zu einer zerstörerischen Entladung kommen könnte – und blieben peinlich auf dem Weg.

Es war nicht mehr weit zum Hügel.

»Es ist tatsächlich ein Hügel«, sagte Don. »Die Wege führen in die Höhe.«

»Deshalb braucht es kein Hügel zu sein«, widersprach Al. »Es kann sich geradesogut um ein gigantisches Gebäude handeln. Die Wege könnten auf das Dach hinaufführen – aber wahrscheinlich sind das gar keine Wege.«

»Was soll es sonst sein?« knurrte Don.

»Freier Spielraum, um bauen, verbessern und reparieren zu können.«

René wiegte nachdenklich den Kopf.

»Wenn es ein Gebäude ist, dann kommt ihm eine Sonderstellung zu. Es ist nach außen abgeschirmt, das Dach ist undurchsichtig.«

Sie waren dort angelangt, wo sich die Flächenstreifen, die sie als Wege benutzten, zu heben begannen. Da es keine andere Gelegenheit weiterzukommen gab, stiegen sie die sacht geneigten Hänge hinan. Noch immer standen rechts und links Geräte, Maschinen, Automaten oder was es sein mochte, doch war nicht zu übersehen, daß jetzt andere Typen vorherrschten, es gab weniger kompakte Dinge – Gerüste aus dünnen Stangen, gespannte Netze, aufragende Pfeiler, hoch droben durch ein mit dem Himmel verschmelzendes graues Fadenmuster verbunden.

»Sieht mir verdächtig nach Antennen aus«, murmelte René.

Don griff die Bemerkung auf.

»Das würde mit unserer Vermutung übereinstimmen, daß hier eine Art Zentrale ist.«

»Dann kann sie aber nur unter uns liegen«, sagte Al.

»Da ist eine Tür«, rief Katja, die bisher stumm neben Don einhergelaufen war.

Unwillkürlich zögerten sie.

»Glaubst du, daß Jak drin ist?« wandte sich Al an Don.

»… anzunehmen«, antwortete Don.

»Ist es geraten, einfach ‘reinzumarschieren?« fragte René. »Könnte es nicht eine Falle sein?«

Don schnallte die Pistole von seinem Gürtel.

»Wir sind bewaffnet. Nehmt eure Schießeisen!«

Nun trat er ohne Zaudern durch die kreisrunde Öffnung in der abschüssigen Wand, die Kat als Tür bezeichnet hatte. Auch der Gang, der sie aufnahm, besaß kreisrundes Profil, der Durchmesser betrug ungefähr drei Meter. In seine Decke war ein Streifen eingelassen, von dem gedämpftes Licht ausging. Schon nach wenigen Metern kamen sie an eine Kreuzungsstelle in Form einer kleinen Halle.

»Auch hier haben sie ihre Augen«, murrte René und zeigte auf halbkugelförmig aus den Wänden hervorstehende dunkle Glaslinsen.

»Hier sind Schalträume«, rief Al gedämpft. Er hatte in den nach rechts führenden Gangschlauch gelugt. Der Hohlraum vergrößerte sich da zu einer großen Halle in Form einer riesenhaften ellipsoidförmig auseinandergezogenen Blase. Der Boden, oder richtiger gesagt, die tiefsten, annähernd waagerechten Teile der Begrenzungsfläche waren von blockartigen Schalttischreihen besetzt, in die Tausende von Knöpfen, Hebeln, Skalen und dergleichen eingelassen waren.

»Das zentrale Schaltwerk«, flüsterte René mit etwas in der Stimme, das Ehrfurcht nahe kam. »Das Herz der Stadt.«

Don stand schon zwischen den Tischen, er richtete seine Aufmerksamkeit nach vorn, um Jak und die beiden andern möglichst schnell zu entdecken. René starrte im Gehen auf die neben den Schaltern eingebrannten hieroglyphenhaften Schriftzeichen und wäre dabei auf dem ungewohnten gekrümmten Boden fast gefallen. Al teilte seine Achtsamkeit zwischen der Örtlichkeit und der Einrichtung. Kat versuchte sich von der ihr unheimlichen Situation abzulenken, indem sie sich pikante Duftkombinationen ausmalte.

So legten sie eine gehörige Strecke zurück, ohne etwas von Jak zu bemerken, sie durchquerten Hallen, die meisten waren bis auf Schalteinrichtungen leer, andere enthielten wandschirmartige Gegenstände, drahtbespannte Rahmen und ähnliches, meist an den Wänden befestigt oder in sie eingelassen. Sie liefen durch endlose Gänge, erreichten domartige Räume, von denen sie über gewendelte Rampen in höhere Stockwerke gelangten.

René fand schließlich eine Spur: In einer Halle war eine Wand abgehoben, dahinter kamen elektrische Schaltungen zum Vorschein, Schaltungen mit vielen unbekannten Elementen, aber doch noch als solche zu erkennen.

»Sie müssen in der Nähe sein«, flüsterte Don. Aufs höchste gespannt, schlich er durch die Halle… in das anschließende Gangstück hinein… hindurch… an die Mündung zur nächsten Halle… Da standen sie, der hochgewachsene Jak in einer beigen Kombination mit weißen Stiefeln und weißer Mütze, Tonio, mittelgroß, schlank und schwarzhaarig, ganz in Blau gekleidet, und Heiko mit seiner blonden Bürstenfrisur in grauer Keilhose und einem kurzen schwarzen Jäckchen. Sie bewegten sich ganz unbefangen und unterhielten sich laut, doch hallte es hier so stark, daß nichts zu verstehen war. Sie hielten sich nicht an den Schalttischen auf, sondern machten sich an der Wand zu schaffen.

»Das werden wir ihm versalzen«, flüsterte Don. »Al, René, ich zähle bis drei, dann schießen wir alle gemeinsam. Daraufhin lauft ihr sofort durch die Halle zum anderen Ausgang, aber so schnell, daß sie gar nicht zur Besinnung kommen – falls wir sie nicht ohnehin schon getroffen haben. Katja, hast du gehört?«

»Ja, natürlich!«

Leise rückten sie noch ein wenig vor, um freies Schußfeld zu bekommen.

»Also, Achtung: eins, zwei, drei!«

Die Schüsse krachten, Rauchwolken stiegen auf, Splitter surrten… Al und René stürmten los.

Als sich der Rauch verzogen hatte, sahen sie einen Körper am Boden liegen, zerstört, in mehrere Stücke gerissen, die Teile plattgequetscht und verbogen.

»Die andern stecken hinter den Schalttischen«, rief Don zu Al und René hinüber. »Ladet sofort wieder und schießt so, daß stets eine Pistole funktionsbereit bleibt. Wir zielen einfach auf die Wand.«

Er drückte wieder ab, auch von der anderen Seite fiel ein Schuß.

Don war außer sich vor Freude.

»Das hättest du dir nicht gedacht, Jak, alter Junge!« rief er. »Was sagst du nun!«

Er wartete einige Sekunden, dann sagte er zu Kat:

»Sie verraten ihre Plätze nicht.« Und den andern rief er zu: »Paßt auf, Al und ich gehen einfach hinunter. Kat und René decken uns. Verstanden?«

Da summte etwas hinter ihm, ein leichter Lufthauch quoll aus dem Tunnel hervor… eine runde Fläche erschien, oben matt blinkend, unten mit Öffnungen, Schirmen und ähnlichem versehen. Ein Zangenarm griff zu, zwei weiche, aber feste Bügel schlössen sich um seine Mitte… er zappelte einen Augenblick lang, dann lag er in weichen Polstern. Im nächsten Augenblick saß Katja neben ihm. Ein leichtes Gleiten, ein Sprung… Stoppen. Da schwebte René herein, wieder ein leichtes, kaum spürbares Anrucken… da kam auch Al hinzu…

Sie befanden sich im Innern eines Schwebebootes. Sie sahen gerade noch, wie sich Jak und Heiko hinter einem Tisch erhoben… da war schon das im Dahinschießen verwischte Grau des Ganges über ihnen – der Lichtstreifen schlängelte sich leicht… dann Tageslicht, Sonne, blauer Himmel… vorbeiflitzende Gegenstände, Metall, Kunststoff, Glas…

In eiligem Schwebeflug ging es dahin, ohne daß sie etwas dagegen machen konnten, ohne Halten, ohne Stocken, bis an die Stadtmauer, bis an jene Stelle, an der ihre Leiter hing. Hier öffnete sich die Schiebetür. Sie stiegen aus. Die Tür glitt zu, das Boot setzte sich in Bewegung und flitzte davon – ein blinkender Reflex in dem Maschinenwald der Stadt.

Sie hatten noch nicht begriffen. Sie standen da und sahen ihm nach.

7


Nach einer Weile schleuderte Don seine Schußwaffe an die Wand und begann leise, aber hemmungslos in seinen Ausdrücken vor sich hin zu fluchen. Als er endlich bemerkte, daß sich die andern an seinem Geschimpfe nicht beteiligten, belegte er auch sie mit Schimpfworten, ohne damit sichtbare Wirkungen zu erzielen. René stand auf der untersten Leitersprosse und schaukelte mit abwesender Miene, Katja hielt ihren Dolch in der Hand und kratzte an den Fingernägeln herum. Al beobachtete Don und grinste.

»Man könnte meinen, du kannst dir nichts Lustigeres vorstellen als eine Schlappe nach der anderen«, fuhr ihn Don an.

»Jetzt waren wir schon so knapp vor dem Ziel und wieder Essig! Diese verdammten Automaten! Warum mischen sie sich ein? Sie helfen Jak! Wie hat er das nur erreicht!«

»Ich glaube nicht, daß sie Partei ergreifen«, sagte Al. »Das liegt Maschinen nun einmal nicht.«

»Aber die drei haben doch an den Schaltungen herumgebastelt! Vielleicht hat Jak die Automaten anders programmiert – so daß sie auf seiner Seite sind.«

»Jak und Heiko waren genauso erstaunt wie wir«, sagte René von der Leiter herunter.

»Woran lag es also, daß sie auf uns losgegangen sind?«

Al hob verneinend die Hand.

»Sie haben uns nichts getan. Ihr Eingreifen richtete sich nicht gegen uns persönlich, sondern gegen den Angreifer. In dem Moment, als sie erkannt haben, daß wir etwas Zerstörerisches planen, haben sie uns daran gehindert.«

»Sie haben es sich gefallen lassen, daß Jak und seine Leute an den Schaltungen herumschraubten. Wie ist das zu erklären? Erinnerst du dich, wie schnell sie da waren, als René das Auge verhängte?«

»Warum soll gerade ich das erklären können? Wahrscheinlich sind gegen Veränderungen in der Zentrale keine Vorkehrungen getroffen – denn sonst wäre es ja den Stadtbewohnern nicht möglich gewesen, irgend etwas Neues einzurichten.«

Katja warf den Dolch beiseite.

»Ich geh’ ins Zelt«, sagte sie, »kommst du bald nach, Don?« Dann wandte sie sich an René: »Laß mich vorbei, bitte!«

René sprang von der Leiter, Katja kletterte langsam hinauf. Sie spürte genau, wie sich der Stoff ihrer Hose bei jeder Bewegung eng an die Haut preßte, und stellte sich den plastischen Eindruck, den sie von unten bot, mit Vergnügen vor. René stieß einen leisen Pfiff aus. Die drei Männer gafften, bis Katja hinter der Brüstung verschwand.

Don machte unschlüssig einige ziellose Schritte.

»Für heute hab’ ich genug«, sagte er, räusperte sich und kletterte dann eilig an der Leiter hoch.

»Horrido«, sagte René. Er drehte sich auf dem Absatz herum und schaute über die Stadt.

»Manchmal bin ich nicht sicher, ob das echt ist«, sagte er.

Al bemühte sich, nicht an Katja zu denken, und ging gern auf die Bemerkung des Gefährten ein. Er wußte sofort, was René meinte. Das Stadtgelände lag vor ihnen wie ein nicht verständliches abstraktes Bild, in einer Musterung, die ihren Sinn nicht verriet, stumm und statisch, eine Symphonie in Bleigrau, Elfenbein und Silber.

»Ich frage mich, ob die Illusion nicht noch viel weiter geht als wir denken«, sagte René, und plötzlich setzte er mit seltsamer Dringlichkeit hinzu: »Al, bist du sicher, daß es überhaupt etwas gibt… ich meine: um uns herum?«

»Aber ja«, sagte Al beruhigend. »Das, was du spürst, muß doch existieren, und das, was du siehst und hörst. Und alles andere? Vielleicht ist es ein wertig anders, als du es dir vorstellst, aber irgend etwas ist doch zweifellos da. Und das Schöne daran ist: Es existiert nicht nur, sondern es wirkt auf seine Umgebung, und die Umgebung wirkt darauf zurück, es beeinflußt die Zukunft und ist selbst eine Folge der Vergangenheit. Es enthält Kräfte; Möglichkeiten sind darin wach; Energien warten, bis sie ausgelöst werden; und oft, vielleicht öfter, als wir es wahrnehmen können, ist etwas darin lebendig – in irgendeiner Form, nicht unbedingt so, wie wir lebendig sind.« Al schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Und siehst du, René, das ist wahrscheinlich der Grund dafür, daß mich dieser Planet viel mehr fesselt als alle, die ich bisher gesehen habe. Hier bietet sich Gelegenheit – eine wunderbare Gelegenheit! –, ein wenig mehr von dem zu erfahren, was es außer uns in der Welt gibt. Wir können natürlich nie direkt prüfen, ob die Dinge in Wirklichkeit so sind, wie wir sie erleben – wir brauchen immer Wellen und Schwingungen und Impulse, um zu sehen, zu hören, zu fühlen – diese Mauer können wir nun einmal nicht durchbrechen. Aber es steht uns frei, in einer anderen Richtung zu forschen. Das Absolute werden wir nie verstehen – aber die Zusammenhänge. Für uns gibt es nichts Absolutes, und vielleicht ist das Absolute überhaupt nur ein Wunschtraum, eine Fiktion – aber für uns gibt es Zusammenhänge; sie sind für uns die Wirklichkeit.«

René verstand nicht ganz, was der Freund sagte, aber er hatte das Gefühl, daß er es gar nicht zu verstehen brauchte und daß er damit zufrieden sein konnte, daß es so war, wie es war.

»Was sollen wir weiter unternehmen?« fragte er. »Was du über die Automaten gesagt hast, leuchtet mir ein. Aber werden sie es überhaupt zulassen, daß wir noch weiter forschen?«

»Solange wir nicht mit Gewalt vorgehen, sicher.«

René zog die Schultern hoch. Obwohl der Abend kam, war das Wetter schön wie immer, die Luft würzig wie immer, die Temperatur lau wie immer. An diesem Wetter ist nichts mehr Natur, dachte René. Er wandte sich wieder an Al.

»Eigentlich unheimlich, diesen unbestimmten, unberechenbaren Kräften gegenüberzustehen!«

»So unbestimmt sind sie gar nicht«, sagte Al. »Ich glaube sogar, daß sie ziemlich leicht zu durchschauen sind, wenn man nur den Schlüssel dazu hat – daß man sie begreifen kann, nicht ihre Technik, sondern ihr Verhalten. Ich meine allerdings…« Er wurde leiser und schwieg.

»Du willst sagen, sie gehorchen einfachen Vorschriften – etwa den vier klassischen Gesetzen für Roboter?«

Er zitierte:

»Erstens: Der Roboter hat den Menschen zu schützen und zu verhindern, daß ein Mensch geschädigt wird.

Zweitens: Er hat dem Menschen zu gehorchen.

Drittens: Er hat darauf zu achten, daß er selbst nicht beschädigt wird.

Viertens: Er hat sich stets so zu verhalten, daß von seiner Umgebung möglichst wenig zerstört wird.«

»Eigentlich dachte ich an etwas anderes«, antwortete Al. »Ich wollte sagen, daß… ich kann es schwer ausdrücken. Ich meine, daß das alles noch nicht das Ganze ist. Daß noch etwas dahintersteckt, das wir noch nicht entdeckt haben…« Es bereitete ihm offensichtlich Mühe, sich von diesen wenig fruchtbringenden Grübeleien abzuwenden. »Aber jedenfalls dürfte das mit den Gesetzen richtig sein. Ich bin überzeugt, daß die Automaten, die irgendwo gebaut worden sind oder noch gebaut werden, solchen Regeln gehorchen müssen. Wer so weit kommt, daß er sie bauen kann, ist auch vernünftig genug, sich vor ihnen zu schützen. Gerade hier aber taucht eine ganze Menge von Fragen auf. Was geschieht, wenn die Wesen, die die Roboter gebaut haben, ausgestorben sind? Können diese dann ihre Programme selbständig ändern? Und: Wie sehen hier die Grundregeln für Roboter aus? Die Wesen dieses Planeten könnten eine andere ethische Werteskala besessen haben als wir – um nur ein Beispiel zu nennen: Sie könnten eine Vorschrift, alles Lebendige zu schützen, zwischen den ersten und zweiten Satz aus unseren Gesetzen eingefügt haben.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete René, »denn sie haben doch offenbar alle Tiere ausgerottet.«

»Möglich«, sagte Al, ohne sich darauf einzulassen. »Es könnte schließlich für sie auch ein komplizierteres Gesetzsystem bestehen, als es für uns selbst gilt. Aber das ist, glaube ich, gar nicht das Entscheidende, denn im Prinzip kann es ja auch kein anderes Ziel gehabt haben als das, daß die Automaten ihre Erbauer schützen mußten, daß sie ihnen Gehorsam schuldig waren und daß sie sich selbst und anderes nicht beschädigen durften. Nun aber kommt das, was mir unklar ist: Wie sehr unterscheiden wir uns von den Intelligenzwesen dieses Planeten? Oder anders formuliert: Betrachtet uns der Robotmechanismus als seine Herren? Und es gibt noch eine andere naheliegende Möglichkeit: Betrachtet er uns als Roboter – sozusagen als Kollegen?«

René schnippte verblüfft mit den Fingern.

»Tatsächlich – das ist das wahrscheinlichste!«

»Eben«, sagte Al. »Sie haben uns genau untersucht. Aber was für Mittel stehen ihnen zur Verfügung, um ein intelligentes Lebewesen von einem Roboter zu unterscheiden? Daß wir eines von beiden sein müssen, wurde ihnen sicher klar – aus unseren vernünftigen Reaktionen bei den Tests. Aber zu welchem Ergebnis sollen sie weiter gekommen sein? Wir verstehen die hiesige Sprache nicht. Wir können ihnen nicht befehlen. Und vor allem: Wir unterscheiden uns auch äußerlich von ihren Erbauern!«

»Wir kennen ihre Technik nicht. Und sie nicht die unsere. Daran liegt es«, sagte René. »Wir sind für sie Roboter, und sie behandeln uns als solche. Wir können froh sein, daß sie uns nicht vernichtet haben! Wie sollen wir uns verhalten?«

»Solange wir ohne Gewalt vorgehen, ist nichts zu befürchten. Aber ich glaube, wir werden nicht weit kommen. Ihre Hauptpflicht ist, die Bewohner dieses Planeten zu schützen, und sie werden diese Aufgabe erfüllen, selbst wenn diese längst tot sind. Diese Aufgabe geht also zweifellos vor der Regel, Roboterorganismen unbeschädigt zu erhalten. Sobald wir also erst in die Nähe des Geheimnisses gekommen sind, dürfen wir mit keiner Rücksicht mehr rechnen.«

»Al«, fragte René, »geht es dir noch immer darum, gegen Jak zu gewinnen?«

Al drehte sich zu ihm und blickte ihm forschend in die Augen. Jetzt versteht er mich, dachte er, jetzt endlich versteht er mich.

»Jak ist mir völlig gleichgültig, und ebenso Wurst ist es mir, ob wir gewinnen oder verlieren. Selbst das Aussehen der Einwohner interessiert mich wenig. Ich möchte etwas ganz anderes wissen, wie noch nie etwas zuvor.« Er senkte die Stimme, als wollte er René ein Geheimnis anvertrauen. »Ich will wissen, was aus ihnen geworden ist. Es ist nämlich das, was auch aus uns einst werden wird.«

Sie schwiegen einige Minuten und beobachteten, wie der Flaum des Abendrots die Glas- und Kunststoffflächen mit einem geheimnisumwitterten, verheißungsvollen Schimmer überhauchte. Hinter alldem, was hier durchsichtig und klar vor ihnen lag, barg sich das Rätselhafte. Sie blickten sich an, und es dämmerte ihnen, daß ihre Aufgabe ins Gigantische gewachsen war.

»Wie sollen wir vorgehen?« fragte René noch einmal. »Gibt es überhaupt einen Weg für uns – so hilflos, wie wir jetzt sind? Weißt du einen Weg?«

»Es gibt die Möglichkeit, einmal alles Kindische und Alberne beiseite zu lassen, diese sportlichen Regeln und Absprachen, die für andere Orte und andere Zwecke gut sein mögen, aber nicht für hier. Wir könnten doch einmal alle Mittel aufwenden, die uns zur Verfügung stehen. Es wird schwer sein, denn eine solche Aufgabe hat es seit Jahrtausenden nicht mehr gegeben. Wir dachten, es gibt keine Aufgaben mehr, oder sie interessierten uns nicht. Aber«, fügte er nachdenklich hinzu, »es wird nicht nur schwer sein, sondern es wird auch lange dauern.«

Er verstummte. Mit einem Anflug von Rührung sah er, wie erwartungsvoll ihn René anblickte. Er sagte:

»Es könnte noch einen anderen Weg geben!«

»Welchen?« fragte René.

»Wir könnten uns mit den Automaten verständigen«, sagte Al.

»Dann erfahren wir alles – ohne Mühe«, flüsterte René mit neuer Zuversicht.

»Vielleicht«, schränkte Al ein, aber in diesem »vielleicht« schwang die größte Hoffnung seines Lebens.

8


Nach einer weiteren Nacht im Zelt, einer Nacht voll erwartungsvoller Träume, erwachten sie, als sich Don geräuschvoll erhob und nach außen kroch. »Glaubst du, daß du ihn von unserem Plan überzeugen kannst?« fragte René leise.

Al streckte und dehnte sich.

»Das wird schwierig sein, aber ich will es versuchen.«

»Was tuschelt ihr da?« murmelte Katja im Halbschlaf. »Wie spät ist es?«

»Zeit zum Aufstehen«, sagte Al und verließ hinter René das Zelt.

Wenig später hatten sie sich wieder unten, am Fuß der Leiter innerhalb der Mauer, versammelt.

»Habt ihr eure Waffen noch?« fragte Don.

»Willst du es noch einmal mit einer Schießerei versuchen?« fragte René.

»Na klar! Glaubst du, ich gebe so rasch auf? Immerhin haben wir schon einen von ihnen beseitigt. Es sind nur mehr zwei da. Natürlich müssen wir uns vorsehen. Wir zerschlagen alle Objektive in der Umgebung und nützen die Zeit, während der die Automaten nicht verfolgen können, was wir tun. Hat jemand was dagegen?«

René stieß Al heimlich an.

»Der Plan ist gut«, sagte er, »aber wir haben es uns gestern noch einmal überlegt. Wir haben einen anderen Plan. Sag’s ihm, Al!«

Al tat es, und Don hörte eine Weile stirnrunzelnd zu. Dann unterbrach er die Erklärungen, indem er sich demonstrativ die Ohren zuhielt.

»Auf was für seltsame Ideen ihr kommt, wenn man euch allein läßt!« rief er. »Wollt ihr jetzt mit technischen Studien anfangen? Mit Sprachtheorie und philosophischem Kram? Merkt euch doch endlich, daß man das Ziel am besten erreicht, wenn man geradewegs darauf losgeht! Ich will etwas – und nehme es mir. Das ist es.«

»Was hast du bisher auf diese Weise erreicht?« fragt René.

Don schlug nun einen lehrhaften, überredenden Ton an.

»Seht, Jungens, ich will ja gar nicht behaupten, daß ihr auf eure Art nichts erreicht. Aber das dauert doch viel zu lange. Inzwischen sind Jak und Heiko ans Ziel gekommen, und wir können durch die Finger schauen.«

»Ach Don«, sagte Al bekümmert, »sieh doch endlich ein, daß man hier andere Mittel anwenden muß. Schau dir dieses Ding hier an!« Er zog die Pistole aus Dons Gürtel und hielt sie ihm unter die Nase. »Mit solchem Spielzeug willst du dich gegen Maschinen wehren, gegen eine Intelligenz, die du überhaupt nicht begreifst und die das alles hervorgebracht hat!« Er ließ die Waffe auf den Kunststoffboden vor Dons Füße fallen, packte ihn an der Schulter und schubste ihn herum. »Schau sie dir an, diese riesige Fabrik! Aber ich will dir noch etwas anderes verraten: Das alles ist noch gar nichts. Es ist viel zu einfach. Es ist zwar anders als bei uns, anders aufgebaut, anders eingerichtet, aber es gleicht unserem eigenen System trotzdem ganz erschreckend. Es steht auf derselben Entwicklungsstufe wie unsere eigene Technik. Aber bei denen hier, verstehst du, ist das doch längst vorbei! Die sind schon viel weiter. Irgendwo ist also noch etwas, das erst später kam – etwas, das einer höheren Stufe zugehört! Es muß irgendwo sein! Und das ist viel komplizierter und mächtiger, als du dir vorstellen kannst. Deine Absichten und deine Pläne sind einfach lachhaft!«

Don hatte Al noch nie so aufgeregt gesehen. Er war ein wenig verwirrt, er hörte ihn wettern, aber er begriff ihn nicht.

»Aber Jak«, stammelte er. »Jak und Heiko…«

»… versagen genauso wie wir! Sie schrauben in den Schaltungen der Zentrale herum – was für ein Blödsinn! Sie werden uns noch die letzten Chancen verderben.«

Er schwieg jäh. In seinem Eifer hatte er nicht auf die Umgebung geachtet, aber nun sah er etwas, im Gesicht Dons… darin spiegelte sich Verwunderung, Bestürzung, Entsetzen. Dons Augen hingen an einem fernen Punkt, an irgend etwas, das Al im Moment nicht sah, von dem er aber, auch ohne es zu sehen, sofort wußte, daß es etwas Atemberaubendes war. Er drehte sich um, zur Mauer hin.

Es gab keine Mauer. Es gab weder den Ring aus alten Gebäuden noch den Gürtel der elfenbeinfarbenen Villen, es gab keine Wiesen, keine Felsen, Hügel oder Seen, es gab keinen Wall von Bergen, keinen Horizont. Nur noch das Zentrum, das Maschinengelände, war da. Sie standen auf einer Scheibe, und diese Scheibe hörte vor ihnen auf. Der Himmel reichte unter die Horizontlinie, die verschwunden war, blau, strahlend, ohne das kleinste Wölkchen, ohne den schmalsten Dunststreifen.

Nach einer Sekunde der Erstarrung prallten sie zurück.

»Es kann nur eine optische Täuschung sein«, schrie Al, aber er warf sich mit den andern nach rückwärts – so stark war der Eindruck des vom Himmel erfüllten ungeheuren Abgrunds.

»Wir haben so etwas doch schon einmal erlebt«, ächzte Don, »denkt an die Brücke!«

»So geht doch vor«, rief René, »probiert es doch aus – ob rundherum alles verschwunden ist oder ob es in Wirklichkeit weitergeht!«

Sie brüllten sich gegenseitig an, sie versuchten dadurch den Schrecken in sich abzutöten, aber es glückte nicht. Don trat einen Schritt vor, auf das blaue Nichts zu, aber da erfaßte ihn ein so heftiges würgendes Schwindelgefühl, daß es ihn zusammenkrampfte und er sich mit dem Gesicht voran, die Arme wie ein Gekreuzigter erhoben, an die kühle, wohltuend massive Wand eines Gebäudes lehnte.

»Herrgott«, sagte Al, »wir dürfen uns doch von einigen gelenkten Lichtschwingungen nicht so fertigmachen lassen!«

»Vielleicht ist es wahr«, schluchzte Katja. Sie lief auf Al zu und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter, in der weichen Mulde zwischen Schlüsselbein und Hals.

»Wir müssen es probieren«, rief René. »Gebt mir einen harten Gegenstand!« Da sich keiner rührte, riß er Katja den Dolch aus der Schlinge ihrer Jacke. »Al, halte mich bitte an den Füßen. Ich krieche vor. So helft mir doch schon!«

Al schob Katja beiseite und trat zu René, Don drehte sich langsam, wie schlaftrunken um.

René ging bis auf zehn Meter zum Abbruch und legte sich auf den Bauch. Al ließ sich hinter ihm nieder und hielt die Beine des Gefährten oberhalb der Knöchel fest. So krochen sie vorwärts, Dezimeter um Dezimeter, René streckte eine Hand aus und klopfte mit dem Griff des Dolches den Boden ab. Im Schneckentempo näherten sie sich der Stufe… immer wieder schlug der Knauf des Dolches mit harten Schlägen auf die steinharte Masse des Grundes…

Als Katja plötzlich aufschrie, hielten sie inne und sahen sich um. Und dann hörten sie das sirenenartige Heulen und sahen die dicken, dräuenden schwarzen Rauchsäulen, die aus dem Innern des Geländes herauswuchsen, hoch hinauf, bis sie wie abgeschnitten endeten. Etwas Feuriges, ein großer glühender Tropfen, erhob sich nun irgendwo hinter den Dächern, bewegte sich immer schneller und verschwand schließlich oben in den Lüften. Ein neue Rauchsäule war dazugekommen. Es sah aus, als hinge die Scheibe, die die Fabriken trug, an diesen Schnüren frei unter dem Himmel.

»Weiter«, preßte René zwischen den Zähnen hindurch und robbte wieder vor. Al hielt sich dicht hinter ihm.

Wieder stockte René.

»Siehst du es?« fragte er.

Al hob den Kopf und spähte über den Körper des Freundes.

»Der Rand bewegt sich«, sagte er.

Die Begrenzung lag nicht still, sondern oszillierte. Zwanzig Zentimeter wuchsen hinzu, zwanzig Zentimeter bröckelten ab, in einer stetigen Wellenbewegung.

»Das ist die Bestätigung dafür, daß es nur ein Lichtspiel ist«, rief Al.

René schob sich weiter.

»Los!« rief er und zerrte mit den Beinen ungeduldig an Als klammernden Händen.

In die Pulsationen des Randes kam jetzt Unruhe, sie liefen weiter vor und weiter zurück, und auf einmal stieß der Rand auf sie zu, glitt unter ihnen hinweg…

Die Scheibe lag hinter ihnen. Sie war papierdünn. Vor ihnen, neben ihnen und unter ihnen war der Himmel. Sie schwebten in diesem Himmel, nein, sie schwebten nicht – sie lagen. Sie lagen auf festem Grund, auf den noch immer die mechanisch weitergeführten Schläge Renés dröhnten. Al hatte René losgelassen. Auch seine Hände berührten, betasteten, befühlten diesen Boden, den man nicht sehen konnte. Und wenn es zehnmal ein optischer Trick war – der Widerspruch zwischen dem Eindruck des Gesichtssinnes und dem Empfinden des Tastsinnes war entsetzlich. Sie mußten die Augen schließen, um nicht wahnsinnig zu werden.

Hinter sich hörten sie Don und Katja ihre Namen rufen.

Ohne die Augen zu öffnen, krochen sie auf diese Rufe zu, immer rascher, immer eiliger, sie hasteten, sie schnellten vor… Sie hätten gehen können, aber dann hätten sie den engen Kontakt mit dem einzigen verloren, das ihren Verstand noch beisammenhielt – mit dem festen Boden.

Auf einmal klangen die Schreie anders, Hände griffen zu, sie wurden gerüttelt und wagten noch nicht, die Augen zu öffnen.

»Es ist vorbei, hörst du: Es ist vorbei!«

Al spürte ein weiches, feuchtes Gesicht an dem seinen, und nun erst hob er die Lider – bereit, sie sofort wieder zu schließen. Katja kniete vor ihm und küßte ihn. Sie weinte. Der Abgrund war verschwunden. Die Mauer stand wieder da, die verhutzelten Gebäude, die gedunkelten und patinierten Dächer und Dächlein, die Giebel, Zinnen und Bögen.

Nichts erinnerte an den Spuk.

Doch – etwas war noch da: der schwarze Rauch über dem Maschinengelände. Aber es waren keine Säulen mehr, sondern vielfach zerrissene, verkrümmte, zerflatternde Gebilde, die langsam südwärts krochen.

9


Katja kniete noch vor Al am Boden, René versuchte aufzustehen. Er zitterte vor Aufregung, das Taschentuch entfiel seinen Händen, als er sich den Schweiß von der Stirn wischen wollte. Auch in Katja saß der Schreck – durch ihr Gesicht liefen Linien, die vorher nicht dagewesen waren.

Don sprang auf sie zu und riß sie beiseite.

»Jetzt ist es aber genug mit eurer Schmuserei!« Er gab Katja einen kräftigen Stoß, pflanzte sich vor Al auf und hob die zur Faust geballte Rechte.

»Ich werde dich lehren, mit deinen schmutzigen Fingern an Kat herumzugrapschen.«

Er holte aus und wollte die Faust auf den vor ihm auf dem Boden hockenden Al niedersausen lassen, doch René sprang hinzu und umschloß von hinten fest Dons Handgelenk. Erbost drehte dieser sich um. Er war aufgeregt, aber sein Gesicht trug keine Spuren eines besonderen Erlebnisses, besonders aber sein Verhalten gab zu denken. Es paßte nicht zu dem, was sie eben durchgemacht hatten.

René, der Don voll ins Gesicht sah, fand plötzlich die Erklärung.

»Du hast deine Erlebnisintensität herabgesetzt! Oh, du Schuft.« René konnte vor Empörung nicht weitersprechen und mußte zuerst einmal tief atmen, um sich zu fassen. »Pfui Teufel, schäm dich, du Feigling! Du hast es getan, gib es nur zu! Man tut einfach nicht mehr mit – wie? Man sieht gemütlich zu!«

Don vergaß alles andere vor dieser Anschuldigung. Er wurde bleich und versuchte sich zu rechtfertigen, aber sein Gestammel war nicht überzeugend; an den Blicken der anderen merkte er das deutlich. Der sonst fast stille René stand noch halb unter der Schockwirkung seines Abenteuers, und jetzt tobte er sich aus, schüttelte alles Erduldete und in sich Vergrabene aus sich heraus und ließ es an Don aus, der von diesem unerwarteten Ansturm derart überrannt wurde, daß er vergeblich nach seiner sonst so wirksamen Überzeugungskraft rang. Er gab es nicht zu, aber für die andern stand es fest: Er hatte in einer schwierigen Situation versagt.

Die kleine Gruppe sollte aber erst gar nicht zur Ruhe kommen; denn wieder rührte sich etwas zwischen den Maschinen. Eines der Schwebeboote tauchte auf, verschwand hinter einem Gebäude, kam wieder hervor. Es hing ein wenig schief in der Luft, es klirrte, als ob ein Regen von Scherben niederginge – und genau das war es auch: Das Heck schlitzte ein Glasdach von einer Seite einer Halle bis zur anderen auf. Ein Krach… zwei Masten waren geknickt und sanken fast zeitlupenhaft zur Seite. Wie Peitschenhiebe schlugen sie dann quer über die Dächer und ließen tiefe ausgezackte Narben zurück. Nur zweihundert Meter von ihnen jagte das Schwebeflugzeug auf die Ummauerung und zerschellte mit einer weißgrauen Fontäne aus auseinanderstiebenden Trümmern. Gleich darauf schlug die Schallwelle des Aufschlags mit schmerzhafter Wucht auf ihre Trommelfelle.

»Die ganze Innenstadt ist aus den Fugen«, sagte René. »Was, um alles in der Welt, mag geschehen sein?«

Bisher hatte keiner von ihnen Zeit gehabt, sich um die Ursachen des Aufruhrs zu kümmern. Als aber jetzt die Frage gestellt war, verband sich in Als Gehirn sofort die Erinnerung an ihre drei in den Schaltungen herumschraubenden Gegenspieler mit den gegenwärtigen Ereignissen.

»Kommt mit!« rief er. »Vielleicht können wir noch etwas retten. Es kann sich nur um Defekte in der Zentrale handeln.«

Alle folgten Als Aufforderung – René, weil ihm nun das Schicksal der Stadt viel mehr am Herzen lag als vorher; Don, weil er auf eine Gelegenheit hoffte, seine Führerrolle wieder zu erobern; Katja, weil sie nicht allein zurückbleiben wollte.

Die Stadt bot ein ganz anderes Bild als während der Tage zuvor. René hatte sich gewünscht, die Maschinen in Betrieb zu sehen. Nun ging dieser Wunsch in Erfüllung – mit einer Totalität, die sogar für seine technisch ausgerichteten Bedürfnisse zu total war. Von überall her sauste, summte, heulte und krachte es, Dampf zischte aus Düsen, Flüssigkeiten sprudelten in Behälter, aufsteigende heiße Gase flirrten im Sonnenschein, es roch nach Schwefeldioxyd und Ozon. Räder kreisten, Zentrifugen rotierten, Bänder liefen, Ketten rasselten, Kräne schwenkten, Torflügel schlugen auseinander und fielen wieder zusammen, Wägelchen rollten über Schienen, blieben stehen, Sand rieselte hinein, sie fuhren an, hielten, kippten aus, rollten weiter, im Kreis herum, zu einer neuen Rundfahrt bereit – auf mehreren übereinanderlaufenden Gleisen. Greifzangen packten ruckartig zu, reichten weiter, legten auf Tische, spannten ein, versetzten in rasende Drehung, Bohrer stachen zu, Bandsägen schnitten, Späne wanden sich zu Spiralen, Stanzen fielen dumpf auf darunter hinweglaufende Blechbänder, Hämmer klopften, wieder griffen Zangenkrallen, reichten weiter, schoben zurecht, erfaßten, rückten weiter, schoben…

Nur der kleinste Teil des Geschehens hatte Ähnlichkeit mit bekannten Vorgängen chemischer Fabriken, technischer Fertigungsstätten, elektrizitätsliefernder Kraftwerke, und selbst dieser Teil erfüllte offenbar keine sinnvolle Aufgabe. Da wurden Platten zuerst in komplizierten Arbeitsgängen gestanzt, gebogen, zusammengeschweißt, abgefeilt, gespritzt und auf den folgenden Stationen zerlegt, zerschnitten, geglüht und bis auf Grieskorngröße zerkleinert. Da wurde Pulver gemischt, gesintert, aufgelöst, ausgefällt, filtriert, verflüssigt, elektrolysiert, destilliert, getrennt und in Pakete verpackt. Rollwägelchen brachten die Pakete zum Ausgangspunkt zurück, Drahtbürsten kratzten die Hüllen ab, Gebläse rissen die Fetzen in dunkle Schlünde, die freigelegten Ziegel wurden in Mörsern zu Pulver zerstampft und erneut in den chemischen Prozeß geworfen. Es war aber ein Zufall und nur den gläsernen Wänden zu verdanken, wenn alle Fertigungsstufen beobachtbar waren; René war der einzige, der die Abläufe kritisch verfolgte. Meist vollzog sich das Wichtigste im verborgenen, im Inneren von vibrierenden und dröhnenden Apparaturen, deren Sinn nicht zu ahnen war. Selbst von den sich offen abspielenden Vorgängen blieb viel unverständlich: Platten klappten ruckweise um, elastische Drähte bildeten eigenartige Figuren, Kugeln blähten sich auf, Gleitentladungen wuchsen auf Wänden zu Flechtenbüscheln empor, Fäden tanzten wie auf einem Webstuhl, Netzstreifen liefen über Rollen.

Mehrmals stießen die vier Menschen auf Hindernisse. Als sie um eine Ecke bogen, sahen sie ein Gewimmel von dreirädrigen, mit Greifzangen und Spritzdüsen versehenen Karren und Spielzeughubschraubern ähnlichen Flugapparaturen, insektenhaft eifrig damit beschäftigt, eine riesige Wand zu errichten. Sie war schon ungefähr fünfzehn Meter hoch und lief quer über die Straße. Das genügte den Arbeitsrobotern aber nicht – sie rissen rechts und links die Gebäude ein, um Platz für ihre Mauer zu gewinnen.

In einer anderen Straße schien eine chemische Fabrik vom Wahnsinn ergriffen zu sein. Aus fünf großen Öffnungen quoll eine grüngelbe zähe Masse und ließ nur noch einen schmalen Durchgang an der gegenüberliegenden Straßenfront frei. Hastig liefen sie durch die schmale Passage, die sich zusehends schloß.

»Schaut euch das an!« rief René.

Durch die Glaswand an der rechten Seite erkannten sie, daß die blasige Flüssigkeit auch das Innere des Raumes erfüllte und schon drei Meter hoch stand.

»Die Wände biegen sich!« rief Al. »Lauft, was ihr könnt!«

Ein wehklagendes Ächzen lag in der Luft, dann knirschte es einige Male kurz hintereinander. »Die Wände bersten!«

René konnte seinen Blick nicht von der Glasfläche lösen. Sie war nun nicht mehr durchsichtig und glatt, sondern von einem Spinnennetzmuster von Sprüngen durchzogen. Es wurden immer mehr Risse, ohne daß man sie wachsen gesehen hätte, schon lagen sie so dicht aneinander, daß die Durchsicht unterbunden war; die Wand erschien mehligweiß. Wie unter unwiderstehlichem Zwang wölbte sie sich schließlich in einem befreienden, aber tödlichen Atemholen. Sie blähte sich wie ein Gummiball, den man aufpumpt, und löste sich dann langsam in Millionen kleine Plättchen auf. Sekundenlang klebten die Splitter wie Schuppen auf einem breiten, zylindrischen Wulst, der sich behäbig in die Straße wälzte, dann wurden sie unter ihm begraben.

Die vier Menschen rannten, so rasch sie konnten, sie rannten eng an der linken Wand entlang, sie rannten, wie sie noch nie gerannt waren, aber sie rannten nicht schnell genug. Ihre Augen hefteten sich an die sich schließende Gasse, in die sie sich hineinbewegten, an die zähen Massen, die sich wie ein Riegel vor sie schoben, an das eingedrückte, schmale noch freie Rechteck, das zusehends schmaler wurde.

»Halt«, brüllte Al und schlitterte in dem vergeblichen Versuch stehenzubleiben noch ein paar Meter weiter. Während die Front des Gebäudes links überall glatt und undurchbrochen war, führte hier eine flächenhafte Konstruktion wie ein Spalier die Wand hinauf. An ihren Füßen spürten sie schon zähen Widerstand, und so stürzten sie sich verzweifelt auf diesen Halt, der ihnen nicht allen zugleich Platz bot. Sie drängten, stießen, rutschten ab, fühlten ihre Beine in fließende und ansteigende Massen eintauchen, winkelten verbissen die Arme an, zogen Strähnen von klebrigen Fäden nach… Don war als erster oben, auf einem schmalen Gesims… Al stand in halber Höhe auf den Sprossen… hielt Katja die Hand entgegen… sah in ihr graues maskenhaftes Gesicht… René kämpfte noch immer mit den Schleimmassen, die ihn wie flüssiger Gummi hinunterzogen… er ruckte wild hin und her, stieß Katja an…

Das Mädchen stieß einen schrillen Schrei aus. Al sah ihr Gesicht von ihm fortschnellen. Es klatschte häßlich, als Katja mit dem Rücken voran in den zähen Brei schlug. Sie streckte ihm die Hände entgegen, aber sie war hilflos, langsam, aber mit bestürzendem Gleichmaß sank sie tiefer.

Al kletterte wieder hinunter, auch René hatte gemerkt, was geschehen war – vergeblich angelte er nach Katjas Händen –, und sogar Don verließ seinen sicheren Standplatz, um zu helfen. Weit beugte sich Al vor, René, der einsah, daß er allein nichts ausrichten konnte, hielt ihn am Kragen fest… noch ein Stück tiefer… Katja ruderte mit den Armen, berührte die blasige Masse – wie angefroren saß der rechte Arm fest. Bisher hatte sie leise gewimmert, jetzt drang kein Laut mehr zwischen ihren Lippen hervor. Als wäre die letzte Kraft verronnen, sank nun auch der linke Arm zur sachte wogenden Oberfläche hinab. Al sah es, er ließ sich nach vorn fallen, soweit es die eisern zupackende Hand Renés zuließ, und erwischte ihre Fingerspitzen. Er legte alle Energie in seine Muskeln und zog… Kats Körper hob sich ein wenig aus den trägen Massen… Al griff mit der zweiten Hand zu… Er merkte es gleich: Das Schwerste war überstanden. Er mußte sich noch immer sehr anstrengen, aber jetzt war ihm Katja nicht mehr zu entreißen.

Das, was sie da mit vereinter Kraft über das Gerüst heraufzerrten, war ein unförmiger kugeliger Klumpen, an einem Löffel haftendem grüngelbem Honig ähnlich. Katja steckte darin eingepuppt wie eine Insektenlarve. Nur Gesicht, linker Arm und Brust waren noch frei. Obwohl ihre Nase nicht unter die Flüssigkeit gekommen und somit der Atem nicht unterbunden gewesen war, atmete sie nicht. Sie bewegte sich auch nicht – ihre Augen waren halb geöffnet, starr und blicklos. Al und Don legten sie auf das Gesims, ein zähflüssiges Oval breitete sich um sie herum aus. Auch an sich selbst spürten sie das klebrige Zeug. Bei jedem Schritt hatten sie zu kämpfen, bevor sie die Sohlen lösen konnten.

Don starrte auf Katja.

»Pfui Teufel«, sagte er, »das haben wir nötig gehabt. Sie hat aufgegeben.«

Das Gesims lief um das ganze Gebäude herum. Zu dritt entfernten sie sich aus der unangenehmen Nähe des gedunsenen Klebstoffs. Den Körper Kats hatten sie liegen lassen – ein Stück kompliziert zusammengesetzter Materie, das jetzt wertlos geworden war.

Die Straße auf der gegenüberliegenden Seite war noch frei. Sie fanden ein Gerüst, das ebenso an die Wand gebaut war wie jenes, über das sie heraufgekommen waren, und sie kletterten daran zum Boden hinab.

Zwischen stampfenden Maschinen hindurch, unter Rauchpilzen und absinkendem Staub, gejagt von durch die Straßen peitschenden Entladungen, bedroht von stürzenden Masten und Gerüsten, näherten sie sich dem Zentrum. Mit größtem Unbehagen bewegten sie sich an den porzellanweißen, birnenförmigen Körpern vorbei, aus denen jetzt Striche weißglühender Luft senkrecht nach oben wuchsen.

Dann drangen sie in die Gänge des Hügels, und das Lärmen der Maschinen schmolz zu einem unbestimmten Rauschen zusammen. Die Dämmerung war wie ein Grab, alles, was sich außen befand, erschien entfernt und nebensächlich. Sie taten, was sie sich vorgenommen hatten, sie suchten Jak und Heiko, aber als Triebfeder wirkte nicht mehr die situationsbedingte Notwendigkeit, sondern nur noch ein Pflichtgefühl sich selbst gegenüber.

Ohne zu wissen, wie lange sie schon durch die Gänge geirrt waren, entdeckten sie schließlich ihre beiden Widersacher. Sie standen in einem kanzelartigen Raum, weit oben unter dem Scheitel des Hügels, einem Raum, der ebenso der Steuerung gewidmet zu sein schien wie das tiefer gelegene System, nur waren hier die Wirkungen, auf die sie gerichtet war, unschwer zu erkennen. Ein ringsherum laufendes Glasfenster gab Übersicht über die ganze Stadt. Und wenn Jak oder Heiko einen Hebel herumrissen oder einen Knopf drückten, dann fiel unten irgendwo ein Gebäude auseinander, Flammen schlugen auf, Geschosse rasten hoch, Maschinen explodierten, oder etwas Ähnliches geschah. Sie betrieben es als aufregendes Spiel: Betätige einen Schalter und laß dich davon überraschen, was passiert.

»He«, rief Al von der Tür her, »ihr seid die reinsten Vandalen!«

Die beiden drehten sich um. Heiko winkte ihnen.

»Ah, da seid ihr ja! Wir haben euch anmarschieren sehen! Wo habt ihr denn heute eure Schreckpistolen?«

»Warum zerstört ihr denn die ganze Stadt?« fragte Al. »Was soll das für einen Zweck haben?«

»Keinen«, lachte Jak. »Aber es ist wahnsinnig komisch! Schau doch!« Er drückte einen Schalter herum, und unten öffnete sich ein Tor, eine Rakete schoß heraus und bog in steiler Kurve nach oben.

»Nicht so eilig«, rief Heiko. Er trat neben Jak und drückte einen anderen Hebel hinunter, den er dann, wie es auch Jak mit seinem Hebel tat, wie einen Steuerknüppel eines Sportflugzeuges hin und her rückte. Unten pfeilte eine zweite Rakete aus dem Silber, den Reflexen und dem Rauch heraus und raste auf die erste zu. Mit einer jähen Wendung wich diese aus, die zweite drehte um, flog wieder an…Jak riß seine Rakete in einem Kreis herum und ließ sie in die andere hineinstürzen. Ein Schwarm von glühenden Trümmern senkte sich auf die Erde nieder.

»Was sagt ihr nun?« fragte Jak. »Kommt, versucht es doch selbst!«

Don schien nicht abgeneigt, aber er bezwang sich und fragte:

»Wie weit seid ihr? Habt ihr das Ziel erreicht?«

Jak setzte sich auf einen Schalttisch.

»Wir sind fast soweit«, sagte er. »Nur noch eine Kleinigkeit fehlt.«

Don blickte überlegen von einem zum anderen.

»Jak«, sagte er dann. »Du hast schon zwei Mann verloren. Du bist in der Minderzahl. Ich habe dir einen Vorschlag zu machen: Nimm mich in deine Gruppe auf! Ich mach’ bei dir weiter. Sozusagen im Austausch gegen René.«

Jak zog die Luft zischend durch die Nase ein. »Ho, ho, du gehst ja scharf ran!« Er überlegte kurz. »Aber du bist gar nicht so dumm. Mir soll es recht sein.«

Don gewann wieder etwas Selbstsicherheit. Er wandte sich an Al und René: »Habt ihr gehört? Am besten, ihr verschwindet jetzt von hier. Ihr seid viel zu weich. Durch eure Flausen habt ihr alle meine Aktionen vermasselt.«

Al maß ihn von oben bis unten und drehte sich dann verächtlich von ihm weg zu Jak.

»Da habt ihr euch was Feines eingehandelt! Ich wünsche euch viel Freude mit ihm.« Er wechselte einige leise Worte mit René. »Paß auf, Jak!« sagte er dann. »René und ich, wir geben auf. Wir überlassen dir den Sieg. Wir stellen dir nur eine Bedingung: Du mußt uns alles mitteilen, was ihr bisher entdeckt habt!«

Jak zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

»Wenn wir also doch noch feststellen, wie sie ausgesehen haben, und das Bild im Museum ausstellen, dann wird es nach uns benannt?«

»Ja«, bestätigte Al. »Wir haben kein Interesse daran.«

Jak sprang vom Tisch und schüttelte Als Hand.

»Abgemacht.«

»Jetzt erzähl!« forderte Al.

»Kommt mit!« sagte Jak.

Sie gingen zurück in die Gänge, durch mehrere Dome – die Stiegenhäuser mit den abwärts führenden Wendelwegen. Wo sich Gelegenheit dazu bot, wandten sie sich hinunter. Inzwischen berichtete Jak.

»Es ist nicht viel zu sagen«, meinte er. »Unser erstes Lager liegt drüben im Westen, am Berghang. Das war ja ausgemacht. Wir sind dann losgezogen, haben uns zuerst die modernen und dann die alten Häuser angesehen und sind zuletzt an der Mauer angekommen. Wir gingen daran entlang, bis wir die Brücke fanden. Das war die erste Enttäuschung – ihr habt ja gesehen, was mit ihr los ist. Dann fanden wir den Waffensaal, und ich kam auf die Idee, euch die Suppe ein bißchen zu versalzen – es war ja anzunehmen, daß ihr auch auf die Brücke kommen würdet. Wart ihr sehr überrascht?«

»Es ging«, murrte Don unangenehm berührt.

Jak fuhr belustigt fort:

»Dann waren wir euch drei Tage voraus, aber es dauerte eine Weile, bevor wir auf den Dreh mit der Spiegelung kamen. Wir kletterten dann an einem Seil hinunter. Nun waren wir im Zentrum – und es ging wieder nicht weiter. Gleich zu Beginn steckten uns die Automaten in eine Art Prüfanlage, dann ließen sie uns aber wieder frei, und wir konnten uns in Ruhe umsehen. Die Fabriken sind recht ulkig, aber von den Einwohnern bemerkten wir keine Spur. Seid ihr auch auf die Idee gekommen, daß sie sich vor irgendeiner Katastrophe versteckt und verkrochen haben und dann gestorben sind?«

Er sah sich fragend um, doch er erhielt keine Antwort. Don hatte hierüber keine Meinung, und Al war zu begierig darauf, etwas Neues zu erfahren, als daß er die Erläuterungen Jaks durch mühsame und wahrscheinlich fruchtlose Erklärungen unterbrochen hätte.

»Natürlich erschien uns dieser Hügel am interessantesten. Und das hat sich auch in gewissem Sinn bestätigt. Er ist das Steuerzentrum für die Stadt. Aber nicht nur das: Wir haben noch etwas anderes gefunden, und das will ich euch gleich zeigen.«

Die Gänge hatten ihr Aussehen nicht verändert, doch die Räume, zu denen sie führten und die sie verbanden, waren ein wenig anders eingerichtet als in den oberen Geschossen. Während die Installationen dort fast eintönig waren, gab es hier unten eine unbeschreibliche Fülle der verschiedenartigsten Apparaturen. Manche Räume schienen einfache Schaltkabinen zu sein, andere aber ähnelten eher Laboratorien für komplizierte physikalische, chemische und biologische Experimente; manche Abteilungen sahen wieder wie Archivräume aus, mit ihrer Unzahl von Fächern voll von Bändern, Platten, Rollen und ähnlichen Dingen jener Beschaffenheit, die für Zwecke der Dokumentation prädestiniert sind.

Al fesselte all das sehr, aber Jak steuerte unbeirrt weiter in die Tiefe. Schließlich erreichten sie eine niedere großflächige Halle, deren Decke von regelmäßig angeordneten Pfeilern gestützt war. Sie war leer. Sie schien das System der Gänge nach unten abzuschließen, denn es gab keine der üblichen Vorrichtungen, mit denen Menschen und die vermutlich menschenähnlichen Bewohner dieses Planeten Räume voneinander zu trennen oder miteinander zu verbinden pflegten – keine Türen oder Tore, Fensteröffnungen oder Gangmündungen. Dagegen befand sich etwas Auffälliges am Boden, und selbst das nur an einer Stelle: eine tellerförmige Vertiefung, etwa zwanzig Meter im Durchmesser, und innerhalb der Mulde weitere gleichgeformte Vertiefungen, einander ringförmig umschließend, aber exzentrisch angeordnet, die eingeschlossenen stets ein wenig tiefer hinunterreichend als die einschließenden. Wenn man genauer hinsah, dann bemerkte man, daß die runden Formen abgestuft waren, als wäre alles aus kleinen würfelförmigen Bausteinen zusammengesetzt.

Jak trat an den Rand und sagte:

»Das ist es. Was haltet ihr davon?«

Im Gegensatz zum grauen Material der übrigen Boden- und Wanddeckenverkleidung, jener Masse, mit der das ganze Innere des Hügels verkleidet zu sein schien, war der Baustoff des Bodens und des eingelassenen Tellers Metall, ein spiegelndes, aber ungewöhnlich dunkles, fast schwarzes Metall.

»Es scheint etwas darunter zu stecken«, sagte René. Er klopfte auf der Masse herum, legte sich nieder und hielt das Ohr darauf. »Nichts festzustellen.«

»Man müßte es öffnen«, sagte Don.

»Und wie?« fragte Heiko.

Al legte die Hand an den Rand des äußeren Ringes. Er fühlte sich kühl und erstaunlich glatt an. Al war, als erhielte er über seine Hand Verbindung mit Regungen und Strömungen, die dort unten lebendig waren, aber im stillen schalt er sich sofort wegen dieser absurden Idee. Er konnte aber nicht verhindern, daß sein Herz bis zum Hals hinauf schlug. Ein seltsames Gefühl wogte in ihm hoch, und eine innere Stimme flüsterte ihm zu: »In irgendeinem der Schalträume dürfte die Möglichkeit liegen, das Tor zu öffnen. Wir müssen herausfinden, wie diese Geräte zu bedienen sind, wir–«

Don fiel ihm roh ins Wort: »Ich habe eine Idee.« Er wartete einen Moment, um seinen Worten den richtigen Nachdruck zu verleihen. »Wir sprengen diesen Deckel auf!«

»Womit?« fragte Jak interessiert.

Don blinzelte ihm zu.

»Womit? Das ist die Frage. Aber ich kann sie beantworten. In dieser Stadt gibt es Raketen, es muß darin auch Sprenggeschosse geben – Bomben, wahrscheinlich Atombomben. Wir suchen sie – und knacken das Schloß.«

»Das ist das Unvernünftigste, was ich je gehört habe«, rief Al erregt und trat auf Don zu. Da fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Jak grinste ihn an.

»Ich finde das gar nicht dumm. Das ist sogar sehr gut! Wir sprengen diesen Topf hier auf – warum nicht?« Er nickte vergnügt vor sich hin. »Ihr braucht nicht mitzutun«, sagte er zu Al und René. »Unterhaltet euch mit den Schaltungen. Aber stört uns nicht. Wir suchen!«

Jak, Don und Heiko gingen fort und waren bald im nächsten Wendelraum verschwunden, durch den sie heruntergekommen waren. Al und René blickten ihnen nach.

10


Nachdem die Kameraden sie verlassen hatten, war es sehr still geworden. Leblosigkeit und Einsamkeit beherrschten die Gänge. Sie hätten gern etwas gesprochen, nur um die Stille zu durchbrechen, aber es gab nicht viel zu sagen. René hatte den Wunsch, die Laboratorien zu durchsuchen, und so wanderten sie über die geneigten Wege zur nächsten Etage hinauf.

»Wenn wir noch etwas finden wollen, dann bleibt uns nicht mehr viel Zeit«, sagte Al niedergeschlagen.

René versuchte ihn zu trösten.

»Vielleicht finden sie keine Bombe.«

»Warten wir ab!« sagte Al ohne Hoffnung.

Sie betraten eines der Laboratorien, und für René versank die Gegenwart. Er spähte in Mikroskope, schraubte an Flügelrädchen, untersuchte Waagen, verfolgte ausschlagende Zeiger, projizierte Spektren auf gerasterte Skalen, er wanderte von einem Gerät zum andern, drehte, schaltete, verschob…

»Ich sehe mich inzwischen in den Archiven um«, sagte Al, doch er war nicht sicher, ob ihn René gehört hatte. Er schaute in einige Räume und blieb dann in einem stehen, in dem etwas stand, das einer Einrichtung für Totalwiedergabe nahe kam. Er wußte, daß es gefährlich war, sich des Geräts zu bedienen, weil diese Verfahren in Gehirnvorgänge eingreifen, war sich aber nicht darüber klar, wie sich die induzierten Reize in diesem Fall auswirken würden. Zuerst untersuchte er die Schaltbrettchen, die an den Enden der Stuhllehnen saßen. Wenn sie demselben Zweck angepaßt waren wie jene auf der Erde, dann konnte sich die Anordnung und die Anpassung an die Wiedergabequalitäten nicht allzusehr von den gewohnten unterscheiden. Er drehte ein wenig an den Schrauben, überlegte genau und kam dann zu einer Hypothese für die Bedienung, die sich zwar erst als richtig erweisen mußte, ihm aber doch recht wahrscheinlich erschien. Es blieb ein Wagnis, aber er wollte so schnell wie möglich so viel wie möglich erfahren, und so mußte er es auf sich nehmen. Er setzte sich in den Stuhl, erdete den Knöchel und stülpte den Helm, der den auf der Erde gebräuchlichen verblüffend glich und ihm auch ausgezeichnet paßte, über den Schädel. Dann legte er die Unterarme auf die Lehnen und die Hände vor die Regelschrauben. Der Platz für seine Arme war ein wenig beengt, aber wenn er die Ellenbogen nach hinten schob, paßten sie ganz gut in die leicht geschwungenen, rinnenartig ausgehöhlten Stützen.

Nun drückte er mit dem Daumen der Linken einen Knopf nieder. Er hatte vorher festgestellt, daß er durch ein zweimaliges Niederdrücken wieder ausschalten konnte, und darum ließ er die Fingerkuppe in Kontakt mit der leicht konkav gewölbten Oberfläche des Schaltknopfes stehen. Unruhig wartete er…… das Licht wurde schwächer.

Al wollte nach dem Beleuchtungsstreifen sehen, aber er konnte weder seinen Kopf noch seine Augen bewegen. Er war dazu gezwungen, vor sich hin zu starren und die Konturen der Gegenstände verschwimmen zu sehen, bis alles in Grau verschwand. Der Gesichtssinn wurde also normal beeinflußt. Wie stand es mit dem Gehör? Er sprach einige Zahlen und Worte vor sich hin, »eins, zwei, drei, vier… hörst du mich? Hörst du mich?« Er bewegte die Zunge und die Lippen, aber er hörte nichts, er sprach weiter, »eins, zwei, drei, vier, fünf…«, und war plötzlich nicht mehr sicher, ob er wirklich sprach oder es sich nur einbildete. Es war nicht ganz still, er hörte leises Rauschen, aber seine Sprechbemühungen blieben ohne Erfolg. Plötzlich durchfuhr ihn ein Schreck: wenn er nun auch den Daumen nicht mehr rühren konnte? Hastig drückte er zu…

Sofort glomm das Licht wieder, die Gegenstände formten sich aus dem Grau.

»… vier, fünf, sechs…«

Al hörte Zahlen und kam erst jetzt darauf, daß er selbst noch immer zählte.

Er setzte den Helm ab und erhob sich. Er konnte zufrieden sein – es war ihm nichts geschehen. Andererseits schien die Apparatur tot zu sein. Dann lachte er nervös auf – er hatte ja kein Band eingelegt! Er suchte nach dem Auflegeteller, fand aber keinen, doch fiel ihm ein kleiner Schlitz auf. Er blickte sich nach etwas um, das in diesen Schlitz passen könnte… er stieß auf einige dünne, biegsame, aber feste Metallblätter auf einem Regal. Wahllos griff er eine der Folien heraus und steckte sie in die Spalte. Dann ließ er sich wieder in den Stuhl nieder, setzte den Helm auf und drückte den Knopf auf dem linken Brettchen… er wartete…

… das Licht wurde schwächer, aber gleich wieder hell… immer heller, viel zu hell! Grüne Sonnen kreisten, zerflossen… Als Finger tasteten über die Knöpfe…

… das Licht trat zurück – Farben trennten sich, Streifen zitterten, sprangen… ordneten sich…

… kein Laut, also schalten!

… Dröhnen – halt, zuviel!

… ein Knopf… aufdringlicher Heugeruch… Tränen traten ihm in die Augen, er nieste…

… ein anderer Knopf…

… der Geruch ging zurück… die Farben wurden blasser… sein Gewicht nahm ab…

… aha, die Regelung der Erlebnisintensität, ein drehender Griff – so ist es gut: ein wenig unter normal…

… er sah und hörte, roch, schmeckte, fühlte… die Sonne schien… Gras streifte seine Füße und rauschte leise… neben ihm lag ein kleiner See… Al schlich vorwärts – dort glänzte der rote Ball, halb hinter einer Felsnadel versteckt… Al hatte ihn zuerst gefunden! Jetzt galt es, ihn an der richtigen Seite zu treffen! Er wußte, daß ihn Tausende durch ihre Teleschirme beobachteten, und als er den Schleuderstock anlegte, stellte er sich so, daß er ihnen sein Profil bot. Er visierte kurz, der Bolzen durchschnitt die Luft – getroffen! Die Kugel stieg in gerader Bahn empor, genau um fünfundvierzig Grad gegen die Horizontale geneigt – ein prächtiger Volley! –, und sank erst nach gut zweihundert Metern wieder zur Erde. Beifall brauste auf…

Al schaltete wieder aus, die Szene verblaßte, er saß wieder im dämmrigen Archivraum, in seinem Stuhl zurückgelehnt. Er atmete auf. Er bewunderte die Feinheiten der Wiedergabe, die Farbigkeit der Eindrücke. Es war etwas Neues für ihn, daß hier auch Gedanken und Entschlüsse vermittelt wurden – hier zeigte sich wieder die Überlegenheit dieser Technik. Vor allem aber: Die Aufzeichnungen waren ihm zugänglich. Seine Sinnesorgane und seine Denkweise waren denen der alten Planetenbewohner so ähnlich, daß er ihre Eindrücke nicht nur nacherleben konnte, sondern auch verständlich fand! Es mußten Menschen oder den Menschen sehr verwandte Geschöpfe gewesen sein. Wenn er diese Karte noch weiter ablaufen ließ oder andere einlegte, dann würde er sie zu Gesicht bekommen. Sogar mehr: Er würde sie beobachten, ihre Sprache hören, sogar ihre Freuden und Leiden fühlen. Es konnte natürlich kleine Unterschiede in den Empfindungskategorien geben, denn durch die Schaltknöpfe war ihm eine gewisse Variationsbreite geboten, die er dazu nützte, um die Quantitäten seinen Reiz- und Schmerzschwellen anzupassen. Daß die Optimalwerte aber alle im einstellbaren Bereich lagen, bestätigte ihm die weitgehende Ähnlichkeit.

Eigentlich hatte er damit die Aufgabe, der ihre Expedition gegolten hatte, gelöst – besser gelöst, als die Regeln vorschrieben. Aber das war ihm jetzt gleichgültig.

Er zog das Metallplättchen aus der Versenkung und schob ein anderes ein. Wieder machte er es sich im Wiedergabestuhl bequem, nun schon mit wesentlich sichereren Griffen als beim ersten Versuch. Diesmal hatte er Glück: Er sah die Wesen. Eine ganze Ansammlung bildete einen Halbkreis um eine Maschine. Zwei von ihnen befestigten mit gabelähnlichen Gegenständen Drähte an Ösen, die aus einer siebartig durchlöcherten Bodenplatte ragten – offenbar handelte es sich um einen wichtigen festlichen Akt, denn alle anderen schauten mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

Sie sahen nicht viel anders aus als Menschen. Wäre Al nicht sicher gewesen, daß es Geschöpfe eines Planeten waren, der Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt um eine fremde Sonne kreiste – er hätte sie für Menschen gehalten. Ihre Haut war vielleicht um eine Nuance grauer, sie waren klein und schmächtig, ihre Köpfe erschienen auffällig groß und ihre Gesichtszüge eigenartig verzerrt, aber sonst sahen sie aus wie Menschen, und sie bewegten sich wie Menschen. Obwohl Al das erwartet hatte, war er erschüttert, als er es bestätigt sah – daß sich diese Form von Intelligenzwesen überall im Weltraum heranbilden kann, wenn nur die Umweltbedingungen dieselben sind.

Diesmal ließ ihn die Abfolge nicht aktiv eingreifen – zwar war ihm, als ob er selbst vor der Maschine stand, aber als unbeteiligter Zuschauer.

Die beiden Akteure hatten nun alle Drähte am Boden befestigt und traten zurück. Der eine begann in einer unverständlichen, nasal klingenden Sprache zu reden, der andere antwortete ihm. Aus ihren Gebärden und der Betonung einzelner Worte glaubte Al herauszulesen, daß es sich um eine Art feierliche Erklärung in Rede und Gegenrede handelte. Da er den Sinn nicht erfaßte, beobachtete er sie weiter. Sie trugen enganliegende braune und olivgrüne Anzüge, einige hielten flache Taschen in der Hand. Alle blickten mit größter Anteilnahme auf die beiden Sprecher. Schließlich trat der eine zurück, der andere erfaßte einen aus der Seitenwand der Apparatur herausstehenden Griff… ein Schirm kippte vor, von ihm liefen die Drähte zur Erde hinab; jetzt waren sie senkrecht gespannt. Vorerst rührte sich nichts, aber an der Aufmerksamkeit der Beobachter sah Al, daß sie etwas erwarteten, und zwar unten am Boden, zwischen den Drähten. Es dauerte nicht lange, da kam etwas aus den Löchern hervor, gelbe Triebe, in unsteter Bewegung, als ob sie tasten wollten, immer wieder ruckweise ein Stück vorwachsend. Als sie die Länge einer Handspanne erreicht hatten, griff die eine der im Blickfeld stehenden Personen an die Schalttafel – und alle Triebe teilten sich. Sie wuchsen weiter, wieder ein Handgriff an einem Schalter – aus allen Stengeln sprossen Blätter heraus. Nach und nach baute sich nach den Kommandos die ganze Pflanze auf, so als wäre das Anwachsen im Zeitraffer aufgenommen, aber das war nicht der Fall, wie die normalen Bewegungen der Personen bewiesen. Es war kein optischer Trick, sondern ein zoologisches Experiment – das gelenkte Wachstum einer Pflanze. Die beiden Männer in der Mitte begannen nun wieder mit ihrer Wechselrede. Al schaltete ab. Eine Weile blieb er nachdenklich sitzen. Er hatte viel erreicht, aber er wollte mehr. Er wollte die Vergangenheit und vor allem die Zukunft.

11


Lange stöberte er in den Fächern der verschiedenen Räume. Es galt, aus der ungeheuren Menge an Material jene Aufzeichnungen herauszufinden, die eine Übersicht über die Geschichte gaben. Er suchte nach Schriftzeichen und fand Punktmuster, ähnlich der Brailleschrift, die in die linken oberen Ecken aller Blättchen eingestanzt waren. Er informierte sich über den Inhalt vieler Dutzende der Folien, und er fand auch schnell ein System. Er wußte, an welchen Stellen die Aufzeichnungen über die allgemeinen Grundlagen aufbewahrt waren, wo er sich über Experimente oder Gesetzmäßigkeiten informieren konnte, wo er Detailserien suchen mußte. Er merkte, daß jedes Zimmer einem bestimmten Fachgebiet zugeordnet war, und schickte sich seufzend an, in einem Raum nach dem anderen Stichproben vorzunehmen. Als er merkte, wieviel Zeit das kostete, beschloß er, erst nach René zu sehen.

René war damit beschäftigt, eine Kugel glühenden flüssigen Metalls frei schwebend in der Luft zu halten.

»Hallo, René«, sagte Al. »Ich habe die Einwohner gesehen!«

René justierte zwei Polschuhe ein. Zu den Mikrometerschrauben hinunter antwortete er:

»Das ist schön, Al. Wie sehen sie aus?«

»Wie Menschen.«

»Wie wir es uns vorgestellt haben«, murmelte René. Durch Hochregeln der magnetischen Energie gelang es ihm, den fußballgroßen Tropfen in Rotation zu versetzen; deutlich plattete er sich an den Polen ab.

»Wenn ich nur wüßte, was für eine Kraft noch dabei ist«, sagte René. »Durch Magnetismus allein geht es nicht.«

»Das kann doch nicht so schwierig sein«, sagte Al. »Hast du noch irgend etwas Bemerkenswertes gefunden?«

»Einige Laboratorien«, antwortete René. »Du kannst dir nicht vorstellen, was die alles experimentell betrieben. Nicht nur Physik und Chemie – auch Mathematik. Ein Laboratorium scheint sogar für Historik zu sein!«

Al horchte auf.

»Kannst du es mir zeigen?«

René trennte sich mit merkbarem Mißbehagen von seinen Instrumenten. Er ließ die flüssige Kugel in ein Gefäß hinuntergleiten, wo sie auseinanderfloß, und richtete sich auf.

»Komm, ich zeig’ es dir.« Sie traten auf den Gang hinaus, René riß einige Türen auf, schaute hinein, ging zur nächsten… Endlich sagte er: »Hier ist es.«

Sie kamen in einen Raum, der sich vor allem durch die Ausstattung von den anderen unterschied – eine Mischung zwischen Labor und Museum. Neben einigen unbestimmbaren Apparaturen gab es die drei Wiedergabestühle mit den dazugehörigen Behältern für die Schaltungen. In die Wand eingelassen waren einige Glasfenster, die zu Vitrinen führten. Innen standen wirklichkeitsnahe Modelle von Siedlungen, Dörfern, Städten. Darin bewegten sich Punkte und Striche, in den kleinen Orten nur vereinzelt, in den großen in ganzen Schwärmen.

»Die Einwohner und die Fahrzeuge«, bemerkte Al. Er griff an eine Schalttafel und schob einen Zeiger über eine Skala.

»Paß auf!«

Plötzlich veränderte sich eines der Modelle. Der Ort breitete sich aus, neue Gebäude schossen wie Pilze aus dem Boden, Bäume und Grünanlagen verschwanden, Fabriken mit Schornsteinen, Straßenbrücken, Flugplätze traten an ihre Stelle…

René schaltete wieder.

Explosionen erschütterten die Stadt, Häuser fielen in sich zusammen, Krater gähnten Wie ein rasches Gewitter schlug das Unheil auf die Siedlung hinab, und wie ein Gewitter ging es vorbei. Die aufgerissene Erde überzog sich mit Grün, moderne Häuser füllten die Lücken zwischen den alten aus, der Verkehr verdichtete sich zu einem Höhepunkt und flaute dann wieder ab.

»Tatsächlich«, sagte Al. »Experimentelle Geschichte.«

Er wollte sich schon von der Demonstration abwenden, da hielt ihn etwas zurück. Anstelle der Siedlung gähnte jetzt ein flacher Krater, und darüber hing ein weiß und grau gestreifter Rauchpilz.

Al schauderte.

»Wir scheinen wirklich nicht viel Zeit zu haben«, sagte er. Er ging hinüber an die andere Wand, die mit Fächern ausgefüllt war. Vielleicht ist das Ordnungsprinzip hier dasselbe, dachte er. Er griff in jenes Fach, in dem seiner Vermutung nach die Grundtatsachen eingereiht sein mußten, und woraus sollten diese bei der Geschichte bestehen als aus einem Überblick von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart.

»Vielleicht erfahren wir doch noch, was aus ihnen geworden ist«, sagte er leise vor sich hin, dann zeigte er auf einen Demonstrationsstuhl und wandte sich an René: »Setz dich und gib nun acht!«

Die Apparaturen waren ihm jetzt schon gut vertraut. Immer mehr Einzelheiten fielen ihm auf, die er auch von der Erde her kannte. Er verband beide Stühle durch ein Kabel und stellte auf Gemeinschaftsempfang. Dann steckte er ein Aufzeichnungsblatt in den Schlitz und legte die anderen auf einen Teller, von dem sie, sobald das erste Blatt abgespielt war, hinuntergleiten und dessen Stelle im Abtaster sie nach und nach einnehmen würden.

Al und René setzten die Empfängerhelme auf…

Was er erwartet hatte, trat ein. Es begann bei einer kleinen Gruppe von fellbehangenen Primitiven, die mit steinernen Faustkeilen bewaffnet durch dichte Wälder schlichen. Sie hatten solche Bilder schon gesehen, und das Bildhafte selbst beeindruckte sie nicht so sehr. Aber sie hörten die rohen Schreie, mit denen sich diese Steinzeitmenschen verständigten, sie rochen den Schweiß und das Blut, spürten Ungeziefer an der Hand und Dornen in den nackten Sohlen. Das Beeindruckende war, daß sie das alles nicht empfanden, wie sie zu empfinden gewohnt waren, sondern so wie diese stumpfen Urwesen selbst, und daß sie auch ihre geistigen Regungen fühlten. An diesen Eindrücken war nichts Klares und nichts Reines, zwar war alles da, und es war vollständig da, das Wasser, das sie schlürften, die Bäume, hinter denen sie sich versteckten, die Felsen, unter denen sie hausten, das Fleisch, das sie fraßen, die Weiber, die sie begehrten, alles war wirklich, aber es erschien seltsam vage, seltsam verschleiert. Sie erlebten Gefühle, die sie auch heute noch erlebten, Freuden und Ängste, Wut und Ergebenheit, aber manches bestürzend stark, ohne Möglichkeit der Kontrolle, ohne Möglichkeit, etwas dagegen zu tun – unmittelbar, schicksalhaft.

Al schüttelte den Bann, unter dem er stand, mit Gewalt ab, er drückte die Beschleunigungstaste, die Bilder versanken, andere tauchten auf: vertraut und doch neuartig; Gefühle erstanden, altbekannt und doch ungewohnt.

Mittelalter. Burgen. Rüstungen. Holzkohlenfeuer und schmiedeeiserne Gitter. Aberglaube. Kulte. Verfolgung und Folter. Haß und Angst. Dumpfes Eingesponnensein in kindliche Vorstellungen. Ungewisse Hoffnungen auf Belohnung im Jenseits. Schmutz. Krankheiten. Pomp und Sklaverei. Greuel und Reue…

Atomzeit. Baracken, Verkehrsunfälle. Marschierende Kolonnen. Bomben. Machtwahn und Ohnmacht. Leichtsinn. Lüge. Unterdrückung. Wissensdurst. Furcht vor den entfesselten Naturkräften. Anmaßung und Selbstüberschätzung. Festhalten an überholten Überlieferungen. Affekte und Triebhandlungen. Mißtrauen und Maßlosigkeit. Geistiges Versagen. Massennot und Massentod.

Friedensstaat. Gartenstädte. Reihenhäuser. Projektionswände. Demonstrationsstühle. Automaten. Schwebeboote. Sicherheit. Wunschlosigkeit. Erfüllung. Wohnkultur. Kunst. Beschaulichkeit. Spiele. Illusionen. Gesundheit und Genuß. Sättigung und Langeweile. Freiheit von Verantwortung. Rausch, Traum, Schlaf…

Al verlangsamte den Ablauf und drehte noch ein Stück zurück. Von hier an wollte er alles genau wissen. Die springenden Bilder verschmolzen wieder zu zusammenhängendem Geschehen, das auf und ab flutende Rauschen zu artikulierten Lauten, die Stimmungsfetzen zu logisch begründeten Gefühlsschwankungen.

Er sah die Stadt, die alte Festung auf dem Hügel, die neue, vom Graben umgebene Burg, den mittelalterlichen Ring, die moderne Riesenfläche der Großstadt, die bis zum Gebirge anwuchs. Dann fiel ein Bombenregen, und nur ein ungeheurer Schutthaufen blieb zurück. Langsam wuchsen daraus Bauten hervor, einheitlicher und moderner, und weitere, noch moderner, Generationen von Bauten – und zuletzt war der Ring der Gartenstadt entstanden; darum herum zog eine liebliche Landschaft aus Wiesen, Seen und Felstürmen – gepflanzten Wiesen, angelegten Seen, künstlichen Felsen. Die historische, ringförmige Innenstadt wurde restauriert, im Zentrum entstand die alte Burg – als Lichtkulisse; darunter lagen die Automaten, die für alles sorgten und von denen man doch möglichst wenig sehen wollte.

Dann geriet der Planet in einen Meteorschwarm, und sie bauten den unsichtbaren Schutzschild über die Stadt. Trotz der wiedergewonnenen Sicherheit bewegte sich nur noch selten jemand aus seinem Haus heraus. Die meiste Zeit saßen sie vor den Projektionsschirmen, schauten hinaus ins Vorland, ließen sich Märchen vorgaukeln, blendeten sich ins Geschehen ein oder nahmen passiv daran teil. Sie brauchten sich nicht mehr zu bewegen – alles, was sie erleben wollten, suggerierte ihnen die Totalwiedergabe. Sie brauchten nicht mehr zu essen – Leitungen spülten flüssige Nahrung an ihre Sitzplätze. Sie saßen, träumten oder schliefen…

tagelang…

monatelang…

generationenlang…

Während dieses Geschehen ablief, war Als und Renés Einfühlungsvermögen stetig gewachsen. Sie sahen die Dinge deutlicher, sie erlebten die Empfindungen klarer, sie verstanden besser, was geschah. Von jenem Stadium an, das sie nun erreicht hatten, senkten sich wieder Schleier über die Szenen, und ihre Gefühlsreaktionen wurden von einer seltsamen Lähmung ergriffen. Die Farben wurden blasser, die Umrisse verschwommen, alles verlief in einem geheimnisvollen Halbdunkel, oft löste es sich in nicht faßliche Impressionen auf – in sehr angenehm wirkende Impressionen –, die Geräusche tönten wie Musik, das Körpergefühl verschwand, Düfte schwollen berauschend an. Aus diesem gestaltlosen Weben traten unvermittelt wieder klarere Eindrücke: Jemand läßt sich in ein Schwebeboot transportieren, steigt damit zweihundert Meter auf, unterbricht die Verbindung zur Energieschiene und stürzt ab.

Wieder herrschte das Halbdunkel, das sie nicht verstanden. Dinge glitten vorbei, die nicht zu erkennen waren – Schemen auf einer magisch beleuchteten Bühne. Sogar das Wünschen und das Wollen machte etwas anderem Platz, das Ziele kannte, ohne sie zu erstreben, Absichten, ohne sie zu verwirklichen. Al drehte an den Schrauben, aber er erreichte keine bessere Klarheit. Das, was hier beschrieben war, bewegte sich in anderen Denkgeleisen als menschliche Gehirne.

Und jetzt – Als Hände umkrampften die Stützen. Aus den Schatten trat noch dunklere Schwärze, Metall, eine tellerartige Mulde – die Pforte zum Innersten, doch offen… in das weite Loch hinein sanken Zylinder, eine unabsehbare Reihe… Graue Flecken rannen über die Szene, ein von Lichtpunkten übersätes quadratisches Muster zog vorüber, ein blaßdämmriger Streifen glänzte auf, Flüssigkeit schäumte, Drähte gabelten sich und vereinigten sich wieder, Zeiger wanderten, Kontakte schlossen sich, violettes Licht lag wie ein Dampf in einem Korridor, die Luft war feucht und lau, Leitungen, Drähte, Röhren, Reflektoren, Lampen bildeten Gehäuse, die an große Vogelkäfige erinnerten, eine endlose Reihe solcher Käfige lief durch den Gang, und in jedem saß ein rosafarbenes, fleischiges, vielfach zerlapptes Gebilde. Jedes hockte in einer Schüssel, die mit Flüssigkeit gefüllt war, jedes war durch Stäbe gestützt wie eine kostbare empfindliche Pflanze, einzelne Auswüchse waren von Hüllen umschlossen, in jedes ragten Drähte und Röhren hinein – durchsichtige Röhren, in denen farblose, gelbe und rote Flüssigkeiten pulsierten. Jedes sah aus wie eine in einen Käfig eingeschlossene Orchidee.

Hier brach die Vorführung ab.

Verwirrt und benommen erhoben sich Al und René aus ihren Stühlen.

»Bist du daraus klug geworden?« fragte René.

»Die Geschichte der Stadt ist mir klar«, antwortete Al. »Es ist eine ganz normale Geschichte, wie sie sich auch in jeder unserer Städte zugetragen haben könnte. Sie hat auch ihr Atomzeitalter durchgemacht. Die Bomben, durch die sie vernichtet wurde, waren zweifellos Atombomben. Ich glaube sicher, daß noch irgendwo welche aufbewahrt sind.«

»Sehen wir, ob Jak sie schon aufgestöbert hat«, schlug René vor.

Während sie den Weg nach oben suchten, fuhr Al fort: »Wir kennen jetzt auch die Erklärung für den unsichtbaren Schutzschirm, der uns zuerst soviel Kopfzerbrechen bereitet hat.«

»Ein Meteorschwarm«, erinnerte sich René. »Aber warum haben sie denn die Krater in ihrer Landschaft nicht beseitigt? Mit ihren Mitteln muß ihnen das doch ein leichtes gewesen sein.«

»Noch einfacher ließen sich die Spuren offenbar auf andere Art verwischen. Diese durchsichtigen Wände, die wir in den Häusern gefunden haben, sind Leuchtschirme, auf die sich alles bringen läßt – Nahes und Fernes, Gegenwärtiges und Vergangenes, Wirklichkeit und Phantasie. Eine kleine Änderung in der optischen Steuerung – und niemand sah noch etwas von den häßlichen Einschlägen.«

»Und eine ebensolche Täuschung war auch der Zweck der Luftspiegelung. Wie kann man mit so etwas zufrieden sein!«

»Warum nicht! Denk daran, wieviel bei uns Schwindel, Schminke und Fälschung ist!«

»Na schön! Aber wir wissen doch, wo etwas unecht ist!«

»Wird es dadurch echter?«

René verzichtete auf eine Antwort. Sie erreichten den hochgelegenen Aussichtsturm und hielten Ausschau. Das Gelände bot das Bild schwerer Verwüstung. Längst war es nicht mehr so übersichtlich wie vorher – es fiel ihnen schwer, in dem Durcheinander Jak, Don und Heiko zu finden.

»Verstehen sie etwas von technischen Dingen?« fragte Al.

»Heiko weiß ziemlich viel«, sagte René.

Das bestätigte sich bald. Heiko bog um eine Ecke und kam gleich wieder hervor: auf dem Hochsitz einer Zugmaschine. Er dirigierte einen gegliederten Scherenarm in eine offenstehende Tür. Jak und Don zwängten sich daran vorbei in den Raum. Nach zwei Minuten bewegte sich der Arm wieder. Die Glieder klappten zusammen; an den Greifbügeln hing ein schwerer zweirädriger Karren, ein Raketengeschoß in seiner Abschußvorrichtung – sie konnten es deutlich in dem zylindrischen Lafettengerüst stecken sehen.

»Sie fahren auf den Stadtrand zu!« sagte René.

»Vielleicht können wir es noch verhindern!« rief Al. Er bemühte sich, seinem Gedächtnis den Grundriß der Bauten und den Standort von Jaks Mannschaft einzuprägen.

Sie stürmten die geneigten Bahnen hinunter, durch die dunklen Gänge zum Ausgang. Das Licht hüllte sie blendend ein, aber sie liefen, ohne sich hindern zu lassen, weiter, um Schutthaufen, um zusammengefallene Gebäude und um Kraterlöcher herum. Viel war zerstört, aber viel war auch noch unberührt. Als Blick streifte diese vollkommenen Konstruktionen, als sähe er sie zum letzten Mal.

Er sah sie zum letzten Mal.

Sie erreichten die anderen, als sie an der Stadtmauer ankamen.

»Wartet«, schrie Al schon von weitem. »Wir haben Filme von den Einwohnern gefunden. Ihr könnt die Bilder zur Erde funken!«

»Wie sehen sie aus?« fragte Jak.

Al blieb keuchend stehen.

»Schau sie dir selbst an! Es sind phantastische Filme!«

Man sah Jak an, daß er im Zweifel war. Er blickte auf den mattglänzenden Körper des Raketengeschosses, das wie ein Fisch im Netz lag, und dann wieder auf Al.

»Setz diese Gelegenheit nicht aufs Spiel!« mahnte Al. Er versuchte, die Unsicherheit Jaks zu nutzen.

»Läßt du dich überreden?« fragte Don. »Kann man dich so leicht überreden?«

»Wir haben Zeit«, sagte Jak. »Wir könnten uns die Sache ansehen!«

In Don kochte wieder der Ärger.

»Wer weiß, was dann passiert! Jeden Moment können die Automaten kommen und alles abtransportieren!«

Heiko mischte sich ein.

»Ich glaube, wir haben in der Zentrale das Verbindungsnetz lahmgelegt. Was sollte also…«

»Ihr seid bloß feig«, sagte Don. »Feig und dumm dazu. Na, geht doch!« schrie er plötzlich. »Ich warte hier inzwischen und spiele mit dem Ding hier! Vielleicht geht es los!«

»Sei bloß vorsichtig!« sagte Jak drohend. Und zu Al gewandt: »Habt ihr herausgefunden, was sich unter dem Deckel befindet?«

»Wir hatten nicht viel Zeit«, erklärte René. »Aber wir haben auch etwas von den unteren Räumen gesehen.«

»Was?«

»Schwer zu beschreiben«, antwortete René unsicher. »Es sind – … nun – Dinge wie Blumen, sehen aus wie Orchideen. Und sie sitzen in Käfigen.«

Don lachte laut heraus, sagte aber nichts.

Jak runzelte die Stirn.

»Ist das alles?« fragte er. »Habt ihr Lebewesen unten gesehen?«

René sah sich in die Enge getrieben.

»Nur die Blumen.«

»Der Orchideenkäfig. Ich weiß«, sagte Jak. »Na, dann steht fest, was wir zu tun haben. Heiko, mach die Rakete fertig!«

Heiko thronte noch immer oben auf dem schmalen Führersitz des Kranwagens. Nun ließ er ihn wieder anlaufen, um die daran hängende Lafette in die richtige Position zu bringen.

»Ihr habt euch Blödsinn vormachen lassen«, sagte Jak nebenher zu Al.

»Klinkt den Haken aus!« bat Heiko. Don sprang hinzu und löste die Halterung. Heiko fuhr einige Meter beiseite, sprang hinunter und trat an den Karren, auf dem das Gerüst mit der Rakete montiert war. Er rückte daran herum und visierte den Hügel an.

»Ihr werdet alles in die Luft sprengen!« sagte Al. »Nichts von allem, was wir noch finden könnten, wird übrigbleiben.«

Don tat so, als hätte er nichts gehört. Er trat an das Gerüst, langte durch die Stäbe und klatschte seine Hand auf das Metall.

»Ein wenig klein, das Ding hier«, sagte er. »Das soll eine Atombombe sein!«

Heiko nahm ihn ernst.

»Sie genügt für unsere Zwecke, du wirst sehen!«

»Können wir jetzt schießen?« fragte Jak.

»Wollt ihr vielleicht hierbleiben, während ihr schießt?« fragte René entsetzt.

»Wovor hast du Angst? Vielleicht vor der radioaktiven Wolke?« spottete Don.

»Jak«, sagte Al eindringlich, »René hat recht. Wir sind hier viel zu nah am Explosionsherd. Ihr sprengt euch selbst in die Luft!«

»Wir können nicht weiter zurück«, sagte Heiko. »Hinter uns ist die Mauer. Wie soll ich mit der Rakete und der Abschußvorrichtung drüber hinwegkommen?«

»Wir können nicht weiter zurück«, sagte nun auch Jak. »Wir schießen sie ab, und zwar von hier. Wenn ihr wollt, könnt ihr davonlaufen. Aber beeilt euch, wir warten nicht lang!«

Al schüttelte den Kopf.

»Ihr habt doch gar keine Ahnung von der Wirkungskraft dieser Bombe. Es muß ja gar keine Atombombe sein!«

»Was sonst?« fragte Jak.

»Irgend etwas viel Schlimmeres«, antwortete Al noch immer völlig ruhig, als hätte er es mit ungelehrigen Schülern zu tun. »Diese Technik ist uns doch weit voraus. Denkt an die Abschirmung! Sie kann Waffen entwickelt haben, die wir uns gar nicht vorzustellen vermögen. Ihr könnt doch nicht alles riskieren…«

Don brachte es nicht fertig, ruhig zuzuhören.

»Hör doch endlich auf zu predigen!«

»Laß ihn reden«, sagte Jak. »Was können wir nicht riskieren, Al?«

»Das alles hier! Diese Möglichkeit, Neues zu erfahren. Aber nicht nur das! Jak, diese Leute sind weiter gekommen als wir. Sie haben das Atomzeitalter überstanden; es ist das erste Mal, daß wir eine solche Kultur finden – außer uns selbst! Aber wo sind sie? Was ist mit ihnen geschehen? Ich muß das wissen, Jak, bitte – versteh doch – hier können wir erfahren, was auch aus uns einst werden wird!«

Jak schaute ihm nachdenklich ins Gesicht.

»Gut, Al«, sagte er. »Ich habe dich reden lassen. Ich habe dir zugehört. Du willst wissen, was aus ihnen geworden ist. Schön. Ich verstehe zwar nicht, warum das so wichtig ist, aber das ist deine Sache. Jetzt aber hör mir gut zu. Ich will auch wissen, was da unten in dem Hügel ist, und zwar bald. Bald oder gar nicht. Denn, und das sage ich, damit du auch mich verstehst« – jetzt klang seine Stimme schneidend –, »ich habe genug von hier. Mir ist das hier zu langweilig. Es widert mich an! Ich will versuchen, den Deckel zu heben und hineinzusehen, und dann: ade! Wenn es nicht gelingt, ist es auch recht. Es ist mir also völlig gleichgültig, was mit uns geschieht. Und gar aus der Stadt! Soll sie doch in die Luft gehen. Und darum«, er wurde wieder leise, »und darum schießen wir jetzt.«

Al nickte. Es war wirklich nichts zu machen. Starr sah er zu, wie Heiko noch einmal durch das Visier spähte und dann erwartungsvoll zu Jak schaute, wie dieser den Arm hob und wieder senkte, wie Heiko einen Auslöser ergriff, der an einer langen Zuleitung hing, und den Knopf drückte.

Der bisher tote Metallkörper des Geschosses begann zu zittern, und das Gestänge zitterte mit. Dann schoß am Heck ein feuriger Strahl heraus, die Rakete schob sich einen Meter vor, zischend und dröhnend schien sie noch einmal zum Halten zu kommen, und dann fegte sie mit riesiger Geschwindigkeit fort, in einer geraden Linie auf den Hügel zu.

Es dauerte fast eine Sekunde, während der nichts geschah. Hierauf schien mit einem Mal die Luft zu zerreißen. Es ging lautlos vor sich… Das letzte, was Al sah, war eine glühende Wand, die auf ihn zulief.

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