Der quergestreifte Kaugummi



Wir hatten uns zu einer Erholungsreise entschlossen, meine Frau und ich, und machten uns an die Ausarbeitung eines genauen Reiseplans. Alles klappte, nur ein einziges Problem blieb offen: Was sollen wir den Kindern sagen? Nun, Rafi ist schon ein großer Junge, mit dem man vernünftig reden kann. Er begreift, daß Mami und Papi von der Königin von England eingeladen wurden, und daß man eine solche Einladung nicht ablehnen darf. Das ging also in Ordnung. Aber was machen wir mit Amir? Er ist noch so klein und möchte uns am liebsten dauernd um sich haben.

Ich besprach das Problem beim Mittagessen mit meiner Frau, und wir beschlossen, offen mit Amir zu reden.

„Weißt du, Amirlein", begann meine Frau, „es gibt so hohe Berge in -"

„Nicht wegfahren!" Amir stieß einen schrillen Schrei aus. „Mami, Papi nicht wegfahren! Amir nicht allein lassen!"

Tränen strömten über seine zarten Wangen.

„Wir fahren nicht weg!"

Beinahe gleichzeitig sprachen wir es aus, gefaßt, tröstend, endgültig.

Damit schien das Problem gelöst.

Doch am nächsten Morgen beschlossen wir, trotzdem zu fahren. Wir lieben unseren Sohn Amir, aber wir lieben auch Auslandsreisen sehr. Und wir wollten uns von dem Kind nicht um jedes Vergnügen bringen lassen.

Wir wandten uns an einige Leute aus unserem Bekanntenkreis, die viel von Kindern verstehen. Diese gaben uns den Rat, Amir von unserer Reise zu erzählen. Auf keinen Fall sollten wir heimlich die Koffer packen und abfahren.

Zu Hause angekommen, holten wir die beiden großen Koffer vom Dachboden, klappten sie auf und riefen Amir ins Zimmer.

„Amir", sagte ich mit klarer, kräftiger Stimme, „Mami und Papi -"

„Nicht wegfahren!" brüllte Amir. „Amir nicht ohne Mami und Papi lassen! Nicht wegfahren!"

Amir klammerte sich an mich und schluchzte laut.

Wir waren selbst nahe daran, in Tränen auszubrechen. Was hatten wir da angerichtet, um Himmels willen?

„Steh nicht herum wie ein Idiot!" ermahnte mich meine Frau. „Bring ihm einen Kaugummi!"

Amirs Schluchzen hörte sofort auf.

„Kaugummi? Papi bringt Amir Kaugummi aus Europa?"

„Ja, mein Liebling, ja, natürlich. Kaugummi. Viel, viel Kaugummi. Mit Streifen!"

Amir strahlte übers ganze Gesicht:

„Kaugummi mit Streifen, Kaugummi mit Streifen! Papi wegfahren! Amir Kaugummi aus Europa holen! Ganz viel Kaugummi mit Streifen. Papi schnell wegfahren!"

Amir hüpfte durchs Zimmer und klatschte in die Hände: „Papi wegfahren! Mami wegfahren! Beide wegfahren! Schnell, schnell! Warum Papi noch hier? Warum, warum..."

Er fing wieder an zu weinen.

„Wir fahren ja, Amir, mein Liebling", beruhigte ich ihn. „Wir fahren sehr bald."

„Nicht bald! Papi und Mami jetzt gleich wegfahren!"

Und aus diesem Grund fuhren wir ein paar Tage früher ab, als wir geplant hatten.


In Rom bestiegen wir das Flugzeug, um nach Hause zu fliegen. Uns war seltsam unbehaglich zumute. Wir hatten irgend etwas vergessen. Was war es denn nur? Was, um Himmels willen...

„Ich hab's!" rief meine Frau plötzlich. „Der gestreifte Kaugummi. Wir haben den gestreiften Kaugummi vergessen!"

Ich erschrak und versuchte, meine Frau zu trösten, der es ähnlich ergangen war.

„Vielleicht", stotterte ich, „vielleicht erinnert sich Amir nicht mehr..." Aber daran glaubte ich selbst nicht.

Während der kurzen Zwischenlandung in Athen liefen wir von Kiosk zu Kiosk, um Kaugummi zu kaufen. Aber es gab keinen. Das einzige, was man uns für ein Kind in Amirs Alter anbot, war eine zwei Meter große Stoffgiraffe. Wir nahmen sie mit.

Zwei Stunden später landeten wir auf dem Flughafen von Tel Aviv. Als wir von fern unsere beiden Söhne erspähten, die uns hinter der Sperre erwartungsvoll entgegenschauten, wurden wir nervös. Mit Rafi würde es keine Schwierigkeiten geben, er war schon ziemlich vernünftig. Aber wie stand es mit Amir?

Wir hoben ihn hoch, umarmten ihn, stellten ihn behutsam wieder auf den Boden. Und während ihm seine Mutter vorsorglich über die Locken strich, fragte ich ihn:

„Na? Haben wir dir die Stoffgiraffe mitgebracht oder nicht?"

Amir gab keine Antwort. Er schaute zuerst die Giraffe an, dann uns. Es schien, als wären wir ihm völlig fremd, als hätte er uns vergessen. Im Auto saß er stumm auf den Knien seiner Großmutter und starrte vor sich hin. Erst als wir uns unserer Wohnung näherten, fragte er: „Wo ist der Kaugummi?"

Ich brachte kein Wort heraus. Auch meine Frau seufzte nur leise. Dann faßte sie Mut und sagte beruhigend:

„Der Onkel Doktor... weißt du, Amir lein... der Onkel Doktor sagt, gestreifter Kaugummi ist schlecht fürs Bauchi...ungesund, weißt du..."

Amirs Antwort erfolgte so plötzlich und in einer solchen Lautstärke, daß der Taxifahrer das Steuer verriß.

„Onkel Doktor blöd, Onkel Doktor ekelhaft!" brüllte Amir. „Papi und Mami pfui! Amir will Kaugummi haben. Gestreiften Kaugummi."

Jetzt mischte sich die liebe Oma ein: „Wirklich, warum habt ihr dem Kind keinen Kaugummi mitgebracht?"

Nach diesen Worten schrie Amir noch lauter. Zu Hause angekommen, fragte ich ihn:

„Na, Amir, mein Sohn? Womit werden wir denn die Giraffe füttern?"

„Mit Kaugummi", antwortete Amir, „mit gestreiftem Kaugummi."

Ich beschloß, es anders zu versuchen und Amir die Wahrheit zu sagen. Ich wollte ihm gestehen, daß wir den Kaugummi vergessen hatten, ganz einfach vergessen.

„Papi hatte auf dieser Reise sehr viel zu tun, und er hatte keine Zeit, Kaugummi zu kaufen", begann ich.

Amirs Gesicht verfärbte sich. Um zu verhindern, daß er wieder zu brüllen anfing, erzählte ich ihm:

„Aber die Königin von England hat mir fünf Kilo Kaugummi für dich mitgegeben. Sie stehen im Keller. Gestreifter Kaugummi für Amir in einem gestreiften Karton. Aber du darfst nicht hinuntergehen, hörst du? Sonst kommen Krokodile und fressen dich auf. Krokodile sind ganz verrückt nach Kaugummi. Wenn sie erfahren, daß in unserem Keller so viel Kaugummi liegt, fliegen sie sofort los - moderne Krokodile haben Propeller, weißt du - und suchen unseren Keller. Dann kommen sie ins Kinderzimmer und schnappen nach dir. Willst du, daß Krokodile in unser Haus kommen?"

„Ja!" jauchzte Amir. „Gestreifte Krokodile. Wo sind die Krokodile? Wo?"

Mir fiel keine neue Geschichte mehr ein, um Amir zu beruhigen. Zum Glück kam gerade meine Frau aus dem Nachbarhaus zurück, wo sie vergebens um Kaugummi gebettelt hatte. Auch alle Geschäfte waren bereits geschlossen.

Amir brüllt von neuem los, und wir wissen nicht, wie wir ihn beruhigen sollen. Da geht die Großmutter in den benachbarten Kaufladen und weckt den Inhaber. Dieser führt aber keinen gestreiften Kaugummi, sondern nur ganz gewöhnlichen. Ich verschwinde mit dem gewöhnlichen Kaugummi in der Küche, um mit Wasserfarben die erforderlichen Streifen aufzumalen. Die Wasserfarben halten nicht und laufen vom Kaugummi herunter. In unserer Wohnung herrscht ein heilloses Durcheinander. Die Kinder schreien, im Nebenzimmer explodiert ein Luftballon mit lautem Knall und die Großmutter telefoniert bereits mit dem Arzt. Amir erscheint heulend in der Küche:

„Papi hat Amir Kaugummi versprochen! Kaugummi mit Streifen!" Jetzt habe ich genug. Ich weiß nicht, was plötzlich in mich gefahren ist - aber im nächsten Augenblick werfe ich den Kasten mit den Wasserfarben an die Wand und brülle: „Ich habe keinen gestreiften Kaugummi, und ich werde auch keinen haben! Zum Teufel mit den verdammten Streifen! Noch ein Wort, und ich haue dir ein paar herunter! Hinaus! Schluß mit dem Theater!"

Meine Frau und die Großmutter sind in Ohnmacht gefallen. Auch ich selbst bin von meinen eigenen Worten erschrocken. Wird der kleine Amir diesen Schock jemals überwinden? Es scheint so. Amir hat nach dem angemalten Kaugummi gegriffen, steckt ihn in den Mund und kaut genießerisch. „Mhm. Schmeckt fein. Guter Kaugummi. Streifen pfui."







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