An jenem Mittwoch erfüllte sich das Schicksal von Juan Narciso Ucañan, ohne dass die Welt Notiz davon nahm.
In einem höheren Kontext tat sie es durchaus, nur wenige Wochen später, ohne dass jemals Ucañans Name fiel. Er war einfach einer von zu vielen. Hätte man ihn unmittelbar befragen können, was am frühen Morgen jenes Tages geschah, wären wohl Parallelen zu ganz ähnlichen Geschehnissen offenbar geworden, die sich zeitgleich rund um den Globus ereigneten. Und möglicherweise hätte die Einschätzung des Fischers, eben weil sie seiner unbedarften Weltsicht entsprang, eine Reihe komplexer Zusammenhänge enthüllt, die so erst später augenscheinlich wurden. Aber weder Juan Narciso Ucañan noch der Pazifische Ozean vor der Küste Huanchacos im peruanischen Norden gab etwas preis. Ucañan blieb stumm wie die Fische, die er sein Lebtag gefangen hatte. Als man ihm schließlich in einer Statistik wiederbegegnete, waren die Ereignisse bereits in ein anderes Stadium getreten und etwaige Aussagen über Ucañans persönlichen Verbleib von untergeordnetem Interesse.
Zumal es schon vor dem 14. Januar niemanden gegeben hatte, der sich sonderlich für ihn und seine Belange interessierte.
So wenigstens sah es Ucañan, der wenig Freude daran fand, dass Huanchaco über die Jahre zu einem international gefragten Badeparadies avanciert war. Er hatte nichts davon, wenn Wildfremde glaubten, die Welt sei in Ordnung, wo Einheimische mit archaisch anmutenden Binsenbooten aufs Meer hinausfuhren. Archaisch war eher, dass sie überhaupt noch rausfuhren. Der Großteil seiner Landsleute verdiente sein Geld auf den Fabriktrawlern und in den Fischmehl— und Fischölfabriken, dank derer Peru trotz schwindender Fangmengen unverändert die Weltspitze der Fischereinationen bildete, zusammen mit Chile, Russland, den USA und den führenden Nationen Asiens. El Niño zum Trotz wucherte Huanchaco nach allen Seiten, reihte sich Hotel an Hotel, wurden bedenkenlos die letzten Reservate der Natur geopfert. Am Ende machten alle irgendwie noch ihr Geschäft. Alle bis auf Ucañan, dem kaum mehr geblieben war als sein malerisches Bötchen, ein Caballito, ›Pferdchen‹, wie entzückte Conquistadores die eigentümlichen Konstruktionen einst genannt hatten. Aber wie es aussah, würde es auch die Caballitos nicht mehr lange geben.
Das beginnende Jahrtausend hatte offenbar beschlossen, Ucañan auszusondern.
Inzwischen wurde er seiner Empfindungen nicht mehr Herr. Einerseits fühlte er sich bestraft. Von El Niño, der Peru seit Menschengedenken heimsuchte und für den er nichts konnte. Von den Umweltschützern, die auf Kongressen von Überfischung und Kahlschlag sprachen, dass man förmlich die Köpfe der Politiker sah, wie sie sich langsam drehten und auf die Betreiber der Fischereiflotten starrten, bis ihnen plötzlich auffiel, dass sie in einen Spiegel schauten. Dann wanderten ihre Blicke weiter auf Ucañan, der auch für das ökologische Desaster nichts konnte. Weder hatte er um die Anwesenheit der schwimmenden Fabriken gebeten, noch um die japanischen und koreanischen Trawler, die an der 200-Seemeilen-Zone nur darauf warteten, sich am hiesigen Fisch gütlich zu tun. An nichts trug Ucañan die Schuld, aber mittlerweile konnte er es selber kaum noch glauben. Das war die andere Empfindung, dass er sich schäbig zu fühlen begann. Als sei er es, der Millionen Tonnen Thunfisch und Makrele aus dem Meer zog.
Er war 28 Jahre alt und einer der Letzten seiner Art. Seine fünf älteren Brüder arbeiteten sämtlich in Lima. Sie hielten ihn für einen Schwachkopf, weil er bereit war, mit einem Boot hinauszufahren, das wenig mehr war als der Vorläufer des Surfboards, um in den verödeten Weiten der Küstengewässer auf Bonitos und Makrelen zu warten, die nicht kamen. Sie pflegten ihn darauf hinzuweisen, dass man Toten keinen Atem einhauchen könne. Aber es war der Atem seines Vaters, um den es ging, der trotz seiner bald siebzig Jahre jeden Tag hinausgefahren war. Bis vor wenigen Wochen jedenfalls. Jetzt ging der alte Ucañan nicht mehr fischen. Er lag mit einem merkwürdigen Husten und Flecken im Gesicht zu Hause und schien allmählich den Verstand zu verlieren, und Juan Narciso hatte sich an dem Gedanken festgebissen, den alten Mann am Leben halten zu können, solange er die Tradition am Leben hielt. Seit über tausend Jahren hatten Ucañans Vorfahren, die Yunga und Moche, Schilfboote benutzt, noch bevor die Spanier ins Land kamen. Sie hatten die Küstenregion vom hohen Norden bis hinunter in die Gegend der heutigen Stadt Pisco besiedelt und die mächtige Metropole von Chan Chan mit Fisch beliefert. Damals war die Gegend reich gewesen an Wachaques, küstennahen Sümpfen, die von unterirdischen Süßwasserquellen gespeist wurden. In rauen Mengen war dort das Rietgras gesprossen, aus dem Ucañan und die Verbliebenen seines Standes immer noch ihre caballitos schnürten, nicht anders als es die Alten getan hatten. Ein caballito zu bauen erforderte Geschicklichkeit und innere Ruhe. Die Konstruktion war einzigartig. Drei bis vier Meter lang, mit spitzem, hoch gebogenem Bug und federleicht, war das Binsenbündel praktisch unsinkbar. In früheren Zeiten hatten Tausende die Wellen durchschnitten vor der Küstenregion, die ›Goldener Fisch‹ geheißen hatte, weil man selbst an schlechten Tagen mit reicherer Beute heimkehrte, als Männer wie Ucañan jetzt in ihren kühnsten Träumen fingen.
Aber auch die Sümpfe verschwanden und mit ihnen das Schilfgras.
El Niño wenigstens war kalkulierbar. Alle paar Jahre um die Weihnachtszeit erwärmte sich der ansonsten kalte Humboldtstrom infolge ausbleibender Passatwinde und verarmte an Nährstoffen, und Makrelen, Bonitos und Sardellen ließen sich nicht blicken, weil sie nichts zu fressen fanden. Darum hatten Ucañans Vorfahren dem Phänomen den Namen El Niño gegeben, frei übersetzt ›das Christkind‹. Manchmal beließ es das Christkind dabei, einfach ein wenig die Natur durcheinander zu bringen, aber alle vier bis fünf Jahre schickte es die Strafe des Himmels über die Menschen, als wolle es sie vom Angesicht der Erde tilgen. Wirbelstürme, verdreißigfachte Regengüsse und tödliche Schlammlawinen — jedesmal verloren Hunderte ihr Leben. El Niño kam und ging, so war es immer gewesen. Man konnte sich nicht unbedingt mit ihm anfreunden, aber irgendwie arrangieren. Seit jedoch der pazifische Reichtum in Schleppnetzen verendete, deren Öffnungen groß genug waren, dass zwölf Jumbo Jets nebeneinander reingepasst hätten, halfen nicht mal mehr Gebete.
Vielleicht, ging es Ucañan durch den Kopf, während die Dünung sein Caballito schaukelte, bin ich ja wirklich dumm. Dumm und schuldig. Wir alle sind schuldig, weil wir uns mit einem christlichen Schutzheiligen eingelassen haben, der weder etwas gegen El Niño tut noch gegen die Fischereiverbände und staatliche Absprachen.
Früher, dachte er, hatten wir Schamanen in Peru. Ucañan wusste aus Erzählungen, was Archäologen in den alten präkolumbianischen Tempeln nahe der Stadt Trujillo gefunden hatten, gleich hinter der Pyramide des Mondes. Neunzig Skelette hatten da gelegen, Männer, Frauen und Kinder, erschlagen oder erdolcht. In einem verzweifelten Versuch, den hereinbrechenden Fluten des Jahres 560 Einhalt zu gebieten, hatten die Hohepriester das Leben von neunzig Menschen geopfert, und El Niño war gegangen.
Wen musste man opfern, um die Überfischung zu stoppen?
Ucañan erschauerte vor seinen eigenen Gedanken. Er war ein guter Christ. Er liebte Jesus Christus, und er liebte San Pedro, den Schutzheiligen der Fischer. Kein San Pedro Day, wenn der hölzerne Heilige per Boot von Dorf zu Dorf gefahren wurde, an dem er nicht mit ganzem Herzen dabei war. Und dennoch! Vormittags liefen alle zur Kirche, aber nachts brannten die wahren Feuer. Schamanismus stand in voller Blüte. Doch welcher Gott konnte helfen, wo selbst das Christkind beteuerte, es habe mit dem neuen Elend der Fischer nichts zu tun, sein Einfluss erschöpfe sich im Durcheinander der Naturgewalten, und alles andere sei bitte schön Sache der Politiker und Lobbyisten?
Ucañan schaute in den Himmel und blinzelte.
Es versprach ein schöner Tag zu werden.
Augenblicklich präsentierte sich Perus Nordwesten als perfekte Idylle. Seit Tagen gab es keine Wolke am Himmel zu sehen. Die Surfer lagen zu so früher Uhrzeit noch in ihren Betten. Ucañan hatte sein Caballito vor gut einer halben Stunde durch die sanft heranrollenden Wellen hinaus aufs Meer gepaddelt, zusammen mit einem Dutzend weiterer Fischer, noch bevor sich die Sonne gezeigt hatte. Jetzt kam sie langsam hinter den dunstigen Bergen zum Vorschein und tauchte das Meer in pastellenes Licht. Die endlose Weite, eben noch silbern, nahm einen zartblauen Ton an. Am Horizont erahnte man die Silhouetten mächtiger Frachter, die Lima ansteuerten.
Ucañan, unbeeindruckt von der Schönheit des heraufdämmernden Morgens, griff hinter sich und förderte das Calcal zutage, das traditionelle rote Netz der Caballlito-Fischer, einige Meter lang und rundum mit Haken unterschiedlicher Größe bestückt. Kritisch beäugte er die fein gewobenen Maschen. Er hockte aufrecht auf dem Rietschiffchen. Caballitos besaßen keinen Innenraum zum Sitzen, dafür einen großzügig bemessenen Stauraum im Heck für Ausrüstung und Netz. Das Paddel hatte er quer vor sich liegen, ein halbiertes Guayaquil-Rohr, wie es sonst nirgendwo mehr in Peru benutzt wurde. Es gehörte seinem Vater. Er hatte es mitgenommen, damit der alte Mann die Kraft spüren konnte, mit der Juan Narciso es niederstieß ins Wasser. Jeden Abend, seitdem sein Vater krank war, legte Juan ihm das Paddel an die Seite und die Rechte darauf, damit er es fühlte — das Weiterbestehen der Tradition, den Sinn seines Lebens.
Er hoffte, dass sein Vater erkannte, was er da berührte. Seinen Sohn erkannte er nicht mehr.
Ucañan beendete die Inspektion des Calcal. Er hatte es bereits an Land in Augenschein genommen, aber Netze waren kostbar und jede Aufmerksamkeit wert. Der Verlust eines Netzes bedeutete das Aus. Ucañan mochte auf der Seite der Verlierer stehen im Poker um die verbliebenen Ressourcen des Pazifiks, aber er hatte nicht vor, sich auch nur die geringste Nachlässigkeit durchgehen zu lassen oder sich gar der Flasche anzuvertrauen. Nichts konnte er weniger ertragen als den Blick der Hoffnungslosen, die ihre Boote und Netze verrotten ließen. Ucañan wusste, dass es ihn umbringen würde, sollte er diesem Blick je in einem Spiegel begegnen.
Er schaute sich um. Zu beiden Seiten, weit auseinander gezogen, erstreckte sich das Feld der kleinen Caballito-Flotte, die an diesem Morgen mit ihm unterwegs war, gut einen Kilometer vom Strand entfernt. Heute tanzten die Pferdchen nicht auf und nieder wie sonst. Es herrschte kaum Wellengang. Die nächsten Stunden würden die Fischer hier draußen verharren, geduldig bis fatalistisch. Mittlerweile hatten sich größere Boote hinzugesellt, solche aus Holz und ein Trawler, der an ihnen vorbeizog und das offene Meer ansteuerte.
Unentschlossen sah Ucañan zu, wie die Männer und Frauen nacheinander ihre Calcáis ins Wasser gleiten ließen, sorgsam darauf bedacht, sie über ein Tau fest mit dem Boot zu verbinden. Runde, rote Bojen trieben leuchtend auf der Wasseroberfläche. Ucañan wusste, dass es auch für ihn Zeit wurde, aber er dachte an die vergangenen Tage und tat nichts, als weiter rüberzustarren.
Ein paar Sardinen. Das war alles gewesen.
Sein Blick folgte dem Trawler, der allmählich kleiner wurde. Auch dieses Jahr gab es einen El Niño, allerdings einen vergleichsweise harmlosen. Solange er sich in Grenzen hielt, zeigte El Niño mitunter ein zweites Gesicht, ein lächelndes, wohlwollendes. Angelockt von den gemütlicheren Temperaturen, verirrten sich große Gelbflossenthuns und Hammerhaie in den Humboldtstrom, denen es dort normalerweise zu ungemütlich war. Dann kamen zur Weihnachtszeit stattliche Portionen auf den Tisch. Zwar landeten vorher die wenigen kleinen Fische in den Mägen der großen statt in den Netzen der Fischer, doch man konnte nicht alles haben. Wer an einem Tag wie diesem weiter rausfuhr, hatte durchaus Chancen, einen der dicken Brocken mit nach Hause zu bringen.
Müßige Gedanken. Caballitos fuhren nicht so weit hinaus. Im Schutz der Gruppe wagten sie sich schon mal zehn Kilometer weit vorn Festland weg. Die Pferdchen trotzten auch starkem Seegang, sie ritten einfach auf den Wellenkämmen dahin. Das Problem dort draußen war die Strömung. Wenn es außerdem noch rau war und der Wind landabwärts blies, musste man einiges an Muskelkraft aufbringen, um sein Caballito wieder an Land zu paddeln.
Einige waren nicht zurückgekehrt.
Kerzengerade und reglos hockte Ucañan auf den geflochtenen Binsen. Im frühen Licht hatte das Warten auf die Schwärme begonnen, die auch heute nicht kommen würden. Er suchte die pazifische Weite nach dem Trawler ab. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er mühelos Arbeit auf einem der großen Schiffe bekommen oder in den Fischmehlfabriken, aber das war nun auch vorbei. Nach den verheerenden El Niños Ende der Neunziger hatten sogar die Fabrikarbeiter ihre Jobs verloren. Die großen Sardellenschwärme waren nie zurückgekehrt.
Was sollte er tun? Er konnte sich einfach keinen weiteren Tag ohne Fang mehr leisten.
Du könntest den Señoritas das Surfen beibringen.
Das war die Alternative. Ein Job in einem der zahllosen Hotels, unter deren Übermacht sich das alte Huanchaco zusammenkauerte. Touristen fischen. Ein lächerliches Jäckchen tragen, Cocktails mixen. Oder verwöhnten Amerikanerinnen Lustschreie entlocken. Beim Surfen, beim Wasserskilaufen, spätabends auf dem Zimmer.
Aber sein Vater würde sterben an dem Tag, da Juan das Band zur Vergangenheit durchtrennte. Auch wenn der Alte nicht mehr bei Verstand war, musste er doch spüren, dass sein Jüngster den Glauben verloren hatte.
Ucañans Fäuste ballten sich, bis die Knöchel weiß hervortraten. Dann zog er das Paddel hervor und begann entschlossen und mit aller Kraft dem entschwundenen Trawler zu folgen. Seine Bewegungen waren heftig, ruckartig vor Wut. Mit jedem Eintauchen des Paddels vergrößerte sich der Abstand zum Feld der anderen. Er kam schnell voran. Heute, das wusste er, würden keine plötzlichen, steilen Brecher, keine tückische Strömung, kein heftiger Nordwestwind seinen Rückweg behindern. Wenn er es heute nicht riskierte, dann nie. Es gab immer noch Thunfische, Bonitos und Makrelen in den tieferen Gewässern, aber sie waren nicht allein für die Trawler da. Sie gehörten ebenso ihm.
Nach einer ganzen Weile hielt er inne und schaute zurück. Huanchaco mit seinen eng gesetzten Häusern war kleiner geworden. Um sich herum sah er nur noch Wasser. Keine Caballitos, deren Besitzer seinem Beispiel folgten. Die kleine Flotte war weit zurückgeblieben.
Früher lebten wir mit einer Wüste in Peru, hatte sein Vater einmal gesagt, mit der im Landesinneren. Inzwischen haben wir zwei Wüsten, und die zweite ist das Meer vor unserer Haustür. Wir sind zu Wüstenbewohnern geworden, die den Regen fürchten.
Er war noch zu nah.
Während Ucañan mit kraftvollen Schlägen weiterpaddelte, fühlte er die alte Zuversicht zurückkehren. Fast überkam ihn Hochstimmung, und er stellte sich vor, endlos über das Wasser zu reiten auf seinem Pferdchen, dorthin, wo unter der Oberfläche silberglänzende Rücken zu Tausenden dahinschossen, funkelnde Kaskaden im Sonnenlicht, wo sich die grauen Buckel der Wale aus den Fluten hoben und die Schwertfische sprangen. Ein ums andere Mal stieß sein Paddel zu und brachte ihn weiter weg vom Gestank des Verrats. Wie von selbst bewegten sich Ucañans Arme, und als er endlich das Paddel sinken ließ und erneut zurückblickte, war das Fischerdorf nur noch eine würfelige Silhouette mit weißen Tupfen drumherum — dem in der Sonne leuchtenden, sich stetig ausbreitenden Schimmel der Neuzeit, den Hotels.
Ucañan fühlte Scheu in sich aufsteigen. So weit raus hatte er sich nie zuvor gewagt. Nicht mit dem Caballito. Es war weiß Gott etwas anderes, Planken unter den Füßen zu haben als ein schmales, spitzschnabeliges Binsenbündel unter dem Hintern. Der Morgendunst über dem fernen Ort mochte ihn täuschen, aber ganz sicher lagen zwischen ihm und Huanchaco nun zwölf Kilometer oder mehr.
Er war allein.
Einen Moment lang verharrte Ucañan. Er schickte ein kurzes Gebet an San Pedro, ihn glücklich und wohlbehalten nach Hause zu bringen, das Boot voller Fische. Dann nahm er einen tiefen Zug von der salzigen Morgenluft, holte das Calcal hervor und ließ es ohne Hast ins Wasser gleiten. Die hakenbesetzten Maschen verschwanden nach und nach im gläsernen Dunkel, bis nur noch die rote Boje neben dem Caballito trieb.
Was sollte passieren? Das Wetter war schön, und außerdem wusste Ucañan sehr genau, wo er sich befand. In unmittelbarer Nähe hob sich vom Meeresboden ein Massiv aus erstarrter Lava empor, ein kleiner, zerklüfteter Gebirgszug. Seine Spitzen reichten bis dicht unter die Wasseroberfläche. Seeanemonen siedelten darauf, Muscheln und Krebse. Eine Vielzahl kleiner Fische hauste in den Spalten und Höhlen. Aber auch große Vertreter wie Thuns, Bonitos und Schwertfische kamen, um zu jagen. Für die Trawler war es zu gefährlich, hier zu fischen, sie liefen Gefahr, von den scharfen Felskanten aufgeschlitzt zu werden, und außerdem gab das Gebiet nicht genug her für einen größeren Fang.
Für den mutigen Reiter eines Caballito würde es mehr als reichen.
Ucañan lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Er schaukelte auf und nieder. Ein wenig höher als in unmittelbarer Küstennähe waren die Wellen hier schon, aber es war immer noch sehr komfortabel auf seinem Binsenfloß. Er reckte die Glieder und blinzelte in die Sonne, die fahlgelb über den Bergen aufgestiegen war. Dann ergriff er wieder das Paddel und lenkte sein Caballito mit wenigen Stößen in die Strömung. Er ging in die Hocke und richtete sich darauf ein, während der nächsten Stunde die Boje zu beobachten, die ein Stück weit vom Boot über das Wasser tanzte.
Nach einer knappen Stunde hatte er drei Bonitos gefangen. Fett und glänzend lagen sie im offenen Stauraum des Caballito.
Ucañan geriet in Hochstimmung. Das war besser als die Ausbeute der letzten vier Wochen … Im Grunde hätte er jetzt zurückkehren können, aber da er schon mal hier war, konnte er ebenso gut noch warten. Der Tag hatte erfreulich begonnen. Möglich, dass er noch besser endete.
Außerdem hatte er alle Zeit der Welt.
Während das Caballito gemächlich entlang der Klippen dahintrieb, ließ er dem Calcal mehr Leine und sah zu, wie sich die Boje hüpfend entfernte. Immer wieder suchte sein Blick die Wasseroberfläche nach Aufhellungen ab, wo die Felsen in die Höhe wuchsen. Es war wichtig, dass er ausreichend Abstand hielt, um das Netz nicht zu gefährden. Er gähnte.
Am Seil war ein leichtes Ruckeln zu spüren.
Im nächsten Moment verschwand die Boje im Gezack der Wellen. Dann tauchte sie wieder auf, schoss empor, tanzte einige Sekunden wild hin und her und wurde erneut hinabgerissen.
Ucañan packte das Seil. Es spannte sich in seinem Griff und fetzte ihm die Haut von den Handflächen. Er fluchte. Im nächsten Moment legte sich das Caballito auf die Seite. Ucañan ließ los, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Tief im Wasser blitzte die Boje rötlich auf. Das Seil stand steil nach unten, straff wie eine Sehne, und zog das Heck des kleinen Schilfboots langsam hinab.
Was zum Teufel war da los?
Irgendetwas musste ins Netz gegangen sein, etwas Großes und Schweres. Ein Schwertfisch vielleicht. Aber ein Schwertfisch hätte mehr Tempo vorgelegt und das Caballito mit sich fortgerissen. Was immer sich in den Maschen verfangen hatte, wollte nach unten.
Hastig versuchte Ucañan das Seil wieder in die Finger zu bekommen. Ein erneuter Ruck ging durch das Boot. Er wurde nach vorne gerissen und landete in den Wellen. Beim Untertauchen bekam er Wasser in die Lungen. Hustend und spuckend tauchte er auf und sah das Caballito halb überflutet. Der spitze Bug stand steil in die Höhe. Aus dem offenen Stauraum im Heck trieben die gefangenen Bonitos zurück ins Meer. Beim Anblick der versinkenden Fische packten ihn Wut und Erbitterung. Sie waren verloren. Er konnte ihnen nicht nachtauchen, weil er alle Hände voll zu tun hatte, das Caballito zu retten und damit sich selber.
Der Fang eines Vormittags. Alles umsonst!
Ein Stück weiter trieb das Paddel. Ucañan schenkte ihm keine Beachtung. Er konnte es später holen. Mit aller Kraft warf er sich der Länge nach über den Bug und versuchte ihn hinabzudrücken. Damit geriet er vollends unter Wasser, mitsamt dem Caballito, das weiterhin erbarmungslos hinabgezogen wurde. In fieberhafter Hast robbte er über die glatten Binsen zum Heck. Seine Rechte tastete im Innern des Stauraums umher, bis er gefunden hatte, was er suchte. San Pedro sei Dank! Sein Messer war nicht herausgeschwemmt worden, und auch nicht die Tauchermaske, neben dem Calcal sein kostbarster Besitz.
Mit einem Hieb durchtrennte er das Seil.
Sofort schnellte das Caballito nach oben und wirbelte Ucañans Körper um seine Achse. Er sah den Himmel über sich kreisen, geriet erneut mit dem Kopf unter Wasser und fand sich endlich keuchend auf dem Binsenboot liegend, das wieder gemächlich dahinschaukelte, als sei nichts geschehen.
Verwirrt richtete er sich auf. Von der Boje war nichts zu sehen. Sein Blick suchte die Oberfläche nach dem Paddel ab. Es trieb nicht weit von ihm in den Wellen. Mit den Händen steuerte Ucañan das Caballito darauf zu, bis er das Paddel zu sich heranziehen konnte, legte es vor sich hin und musterte die nähere Umgebung.
Das waren sie, die hellen Flecken im kristallklaren Wasser.
Ucañan fluchte lang anhaltend und lautstark. Er war den unterseeischen Formationen zu nah gekommen, und das Calcal hatte sich darin verfangen. Kein Wunder, dass es ihn nach unten gezogen hatte. Idiotische Tagträumereien, denen er sich hingegeben hatte. Und wo das Netz war, dort war natürlich auch die Boje. Solange es in den Felsen hing, konnte sie nicht aufsteigen, sie war ja fest damit verbunden.
Ucañan überlegte.
Ja, das war die Antwort, so musste es sein. Dennoch erstaunte ihn die Heftigkeit, mit der es ihn um ein Haar ins Verderben gerissen hätte. Es schien die einzig plausible Erklärung, dass er das Netz an die Felsen verloren hatte, aber Reste von Zweifel blieben.
Das Netz verloren!
Er durfte das Netz nicht verlieren.
Mit schnellen Paddelschlägen brachte Ucañan das Caballito dorthin zurück, wo sich das kurze Drama abgespielt hatte. Er spähte nach unten und versuchte im klaren Wasser etwas zu erkennen, aber außer einigen konturlosen Aufhellungen sah er nichts. Von Netz und Boje keine Spur.
War es wirklich hier gewesen?
Er war Seemann. Er hatte sein Leben auf dem Meer verbracht. Auch ohne technische Gerätschaften wusste Ucañan, dass er an der richtigen Stelle war. Hier hatte er das Seil kappen müssen, damit sein Binsenschiff nicht auseinander gerissen wurde. Irgendwo dort unten war sein Netz.
Er würde es holen müssen.
Der Gedanke hinabzutauchen war Ucañan alles andere als angenehm. Wie die meisten Fischer war er — obschon ein ausgezeichneter Schwimmer — im Grunde wasserscheu. Kaum ein Fischer liebte das Meer wirklich. Es rief ihn hinaus, jeden Tag aufs Neue, und viele, die ihr Lebtag gefischt hatten, konnten ohne seine Allgegenwart nicht leben, aber mit ihr lebten sie auch nicht sonderlich gut. Das Meer verbrauchte ihre Lebenskraft, behielt nach jedem Fischzug etwas davon ein und hinterließ verdorrte, schweigsame Gestalten in Hafenkneipen, die nichts mehr erwarteten.
Aber Ucañan besaß ja seinen Schatz! Das Geschenk eines Touristen, den er im Vorjahr mit rausgenommen hatte. Er holte die Tauchermaske aus dem Stauraum, spuckte hinein und verrieb den Speichel sorgfältig, damit sie unter Wasser nicht beschlug. Dann spülte er die Maske im Meerwasser aus, presste sie auf sein Gesicht und zog den Riemen über den Hinterkopf. Es war sogar eine ziemlich teure Maske, mit Rändern aus weichem, anschmiegsamem Latex. Ein Atemgerät oder einen Schnorchel besaß er nicht, aber das war auch nicht nötig. Er konnte die Luft lange genug anhalten, um ein ordentliches Stück hinabzutauchen und ein Netz von den Felsen zu zurren.
Ucañan überlegte, wie groß die Gefahr war, von einem Hai attackiert zu werden. Im Allgemeinen traf man in diesen Breiten keine Exemplare an, die Menschen gefährlich wurden. In seltenen Fällen waren Hammer-, Mako— und Heringshaie gesichtet worden, die Fischernetze plünderten, allerdings weiter draußen. Die großen Weißen ließen sich vor Peru so gut wie gar nicht blicken. Außerdem war es ein Unterschied, im freien Wasser zu tauchen oder in unmittelbarer Nähe von Felsen und Riffstrukturen wie hier, die eine gewisse Sicherheit boten. Ein Hai, schätzte Ucañan, war es ohnehin nicht gewesen, der sein Netz auf dem Gewissen hatte.
Seine eigene Unachtsamkeit war schuld. Das war alles.
Er pumpte seine Lungen auf und sprang kopfüber in die Wellen. Es war wichtig, dass er schnell nach unten gelangte, ansonsten würde ihn die eingeatmete Luft wie einen Ballon an der Oberfläche halten. Den Körper senkrecht gestellt, Kopf voran, legte er Abstand zwischen sich und die Oberfläche. War das Wasser vom Boot aus dunkel und undurchdringlich erschienen, tat sich um ihn herum nun eine helle, freundliche Welt auf, mit klarer Sicht auf das vulkanische Riff, das sich auf einer Länge von einigen hundert Metern dahinzog. Die Felsen waren gesprenkelt von Sonnenlicht. Ucañan sah kaum Fische, aber er achtete auch nicht darauf. Sein Blick suchte die Formation nach dem Calcal ab. Allzu lange konnte er nicht hier unten verweilen, wenn er nicht riskieren wollte, dass das Caballito zu weit abtrieb. Falls er in den nächsten Sekunden nichts erblickte, würde er wieder auftauchen und einen zweiten Versuch unternehmen müssen.
Und wenn es zehn Versuche kostete! Wenn es den halben Tag dauerte. Er konnte unmöglich ohne das Netz zurückkehren.
Dann sah er die Boje.
In etwa zehn bis fünfzehn Metern Tiefe schwebte sie über einem zerklüfteten Vorsprung. Das Netz hing direkt darunter. Es schien sich an mehreren Stellen verhakt zu haben. Winzige Rifffische umschwärmten die Maschen und stoben, als Ucañan näher kam, auseinander. Er stellte sich im Wasser aufrecht, trat mit den Füßen und machte sich daran, das Calcal zu lösen. Die Strömung blähte sein offenes Hemd.
Dabei fiel ihm auf, dass das Netz völlig zerfetzt war.
Fassungslos starrte er auf das Zerstörungswerk. Das hatten nicht allein die Felsen verursacht.
Was um alles in der Welt hatte hier gewütet?
Und wo war dieses Etwas gerade?
Von Unruhe ergriffen begann Ucañan an dem Calcal herumzunesteln. Wie es aussah, stand ihm tagelanges Flicken bevor. Allmählich wurde ihm die Luft knapp. Er würde es vielleicht im ersten Anlauf nicht schaffen, aber selbst ein ruiniertes Calcal besaß noch einen Wert.
Schließlich hielt er inne.
Es hatte keinen Zweck. Er würde aufsteigen, nach dem Caballito sehen und noch einmal hinabtauchen müssen.
Während er darüber nachdachte, ging um ihn herum eine Veränderung vor. Zuerst glaubte er, eine Wolke sei vor die Sonne gezogen. Die tanzenden Lichtflecken waren von den Felsen gewichen, die Strukturen und Pflanzen warfen keine Schatten mehr …
Er stutzte.
Seine Hände, das Netz, alles verlor an Farbe und wurde fahl. Selbst Wolken konnten diesen plötzlichen Übergang nicht erklären. Innerhalb von Sekunden hatte sich der Himmel über Ucañan verdunkelt.
Er ließ das Calcal los und sah nach oben.
So weit das Auge reichte, zog sich dicht unter der Wasseroberfläche ein Schwarm armlanger, schimmernder Fische zusammen. Vor lauter Verblüffung ließ Ucañan einen Teil der Luft in seinen Lungen entweichen. Perlend trieb sie nach oben. Er fragte sich, wo der riesige Schwarm so plötzlich hergekommen war. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges gesehen. Die Leiber schienen beinahe stillzustehen, nur hin und wieder gewahrte er das Zucken einer Schwanzflosse oder das Vorschnellen eines einzelnen Tieres. Dann plötzlich vollzog der Schwarm eine Korrektur seiner Position um wenige Grad, die alle Tiere kollektiv vollführten, und die Leiber schmiegten sich noch enger aneinander.
Eigentlich das typische Verhalten eines Schwarms. Dennoch stimmte etwas nicht damit. Es war weniger das Verhalten der Fische, das ihn irritierte. Es waren die Fische selber.
Sie waren einfach zu viele.
Ucañan drehte sich um seine eigene Achse. Wohin er auch schaute, verlor sich die gewaltige Menge der Fische im Unendlichen. Er legte den Kopf in den Nacken und sah durch eine Lücke zwischen den Leibern den Schatten seines Caballito, das sich gegen die kristallen funkelnde, leicht bewegte Oberfläche abzeichnete. Dann schloss sich auch dieser letzte Ausblick. Es wurde noch dunkler, und die verbliebene Luft in seinen Lungen begann schmerzhaft zu brennen.
Goldmakrelen, dachte er fassungslos.
Auf ihre Rückkehr hatte kaum noch jemand zu hoffen gewagt. Im Grunde hätte er sich freuen müssen. Goldmakrelen brachten einen leidlich guten Preis auf dem Markt, und ein randvolles Netz davon ernährte einen Fischer samt Familie eine ganze Weile.
Aber Ucañan spürte keine Freude.
Stattdessen überkam ihn schleichende Furcht.
Dieser Schwarm war unglaublich. Er reichte von Horizont zu Horizont. Hatten die Makrelen das Calcal zerstört? Ein Schwarm Goldmakrelen? Aber wie sollte das möglich sein?
Du musst hier weg, sagte er sich.
Er stieß sich von den Felsen ab. Um Ruhe bemüht, stieg er langsam und kontrolliert auf, weiterhin Reste von Luft ausstoßend. Sein Körper trieb den dicht gedrängten Leibern entgegen, die ihn von der Wasseroberfläche, vom Sonnenlicht und von seinem Boot trennten. Jede Bewegung in dem Schwarm war mittlerweile zum Stillstand gekommen, eine endlose, glotzäugige Ansammlung von Gleichgültigkeit. Und doch war ihm, als ob die Tiere nur seinetwegen so unvermittelt aus dem Nichts erschienen wären, als ob sie auf ihn warteten.
Sie wollen mich abhalten, durchfuhr es ihn. Sie wollen mich daran hindern, wieder aufs Boot zu gelangen.
Plötzlich erfasste ihn kaltes Grauen. Sein Herz raste. Er achtete nicht mehr auf seine Geschwindigkeit, dachte nicht mehr an das zerfetzte Calcal und die Boje, nicht einmal an das Caballito verschwendete er noch einen Gedanken, nur noch daran, die schreckliche Dichte über sich zu durchstoßen und zurück an die Oberfläche zu gelangen, zurück ins Licht, in sein Element, in Sicherheit.
Einige der Fische zuckten zur Seite.
Aus ihrer Mitte schlängelte sich etwas auf Ucañan zu.
Nach einer ganzen Weile frischte der Wind auf.
Immer noch war keine Wolke am Himmel zu sehen. Es war und blieb ein schöner Tag. Der Wellengang hatte in kaum nennenswerter Weise zugenommen, ohne dass es für einen Mann in einem kleinen Boot ungemütlich geworden wäre.
Aber es war kein Mann zu sehen.
Niemand weit und breit.
Nur das Caballito, eines der letzten seiner Art, trieb langsam hinaus auf den offenen Ozean.