Forschungen zufolge ist der Mensch ab einer gewissen Sub— bzw. Metastufe nicht mehr in der Lage, Intelligenz als solche zu erkennen. Als Intelligenz begreift er nur, was im Rahmen seines Verhaltens liegt. Jenseits dieses Rahmens, im Mikrokosmos etwa, würde er sie schlicht übersehen. Ebenso wird er in einer höheren Intelligenz, einem weit überlegenen Geist, bloßes Chaos erblicken, weil er dessen komplexe Sinnschlüsse nicht zu entwirren vermag. Entscheidungen einer solchen Intelligenz blieben ihm unverständlich, da ihr Parameter zugrunde liegen, die seine intellektuelle Verarbeitungskapazität übersteigen. Auch ein Hund sieht in einem Menschen nur die Macht, der er sich unterordnet, nicht den Geist. Menschliches Verhalten mutet ihm sinnlos an, weil wir auf Grundlage von Überlegungen handeln, die seine Wahrnehmung überfordern. Wiederum werden wir Gott, falls es ihn gibt, nicht als Intelligenz wahrnehmen können, weil sein Denken auf einer Gesamtheit von Überlegungen fußen dürfte, deren Komplexität sich uns bei weitem entzieht. Als Folge ist Gott chaotisch in unseren Augen und mithin kaum der Richtige, um die ortsansässige Fußballmannschaft gewinnen zu lassen oder Kriege zu vereiteln. Ein solches Wesen läge jenseits der äußerstmöglichen Grenze menschlicher Verständnisfähigkeit. Woraus sich zwingend die Frage ableitet, ob das Metawesen Gott seinerseits überhaupt in der Lage ist, uns auf unserer Substufe als Intelligenz wahrzunehmen. Vielleicht sind wir ja nur ein Experiment in einer Petrischale …
Doch Anderson schlug nicht zu.
Sekunden zuvor hatten die Delphine ein unbekanntes Objekt gemeldet und die Mannschaft der Independence in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Gleich darauf erfassten es auch die Sonarsysteme. Etwas von unbestimmter Form und Größe, das sich rasch näherte. Es machte kein Geräusch wie ein Torpedo, und keine Quelle war aufzuspüren, von der es hätte stammen können. Was die Leute auf der Brücke und an den Kontrollinstrumenten besonders nervös machte, war der Umstand, dass sich das Ding nicht nur mit wachsender Geschwindigkeit und völlig lautlos näherte, sondern außerdem senkrecht aus der Tiefe emporstieg. Sie starrten auf die Monitore und sahen im Dunkel des Abgrunds etwas Rundes, Bläuliches erscheinen. Eine wabernde Kugel näherte sich, mehr als zehn Meter im Durchmesser, nahm Gestalt an und wurde größer.
Als Buchanan den Befehl gab, das merkwürdige Ding abzuschießen, war es bereits zu spät.
Direkt unter dem Rumpf platzte die Kugel auf.
Während der letzten Minuten hatte sich das Gas in ihrem Innern immer mehr ausgedehnt und ihren Aufstieg beschleunigt. Jetzt schoss sie mit hoher Geschwindigkeit heran, ein Ball aus dünner, zum Bersten gespannter Gallerte, der plötzlich an der Oberseite aufriss, auseinander klappte und als wehender Fetzen zurückblieb. Das frei werdende Gas wirbelte weiter der Oberfläche entgegen und riss etwas Großes, Rechteckiges mit sich.
Sich überschlagend raste das verloren gegangene Deepflight auf die Independence zu, Bug voran, und bohrte seine panzerbrechenden Torpedos in ihren Rumpf.
Der Herzschlag einer Ewigkeit verstrich.
Dann folgte die Explosion.
Das riesige Schiff erbebte.
Buchanan, der das Unheil hatte kommen sehen, hielt auf der Brücke mit knapper Not das Gleichgewicht, indem er sich an den Kartentisch klammerte. Andere fanden nichts zum Festhalten und gingen zu Boden. In den Kontrollräumen unterhalb der Insel erzitterte das Schiff so stark, dass Monitore zersplitterten und Ausrüstungsgegenstände durch die Luft flogen. Im CIC wurden Crowe und Shankar von ihren Stühlen gerissen. Überall auf der Independence regierte von einer Sekunde auf die andere heilloses Chaos, mischte sich der unvermittelt einsetzende, durchdringende Alarm mit Geschrei, schlugen Stiefelabsätze auf, klirrte, dröhnte und schepperte es, während sich dumpfes Grollen durch die Gänge, Räume und Levels fortpflanzte.
Wenige Sekunden nach dem Aufschlag war der größte Teil der Ölschnepfen, wie die Kessel— und Antriebstechniker im Navy-Jargon genannt wurden, tot. Wo die mittschiffs gelegenen Laderäume und der Maschinenraum mit den beiden LM-2500-Gasturbinen aneinander grenzten, hatte die Explosion einen gewaltigen Krater gerissen. Dort klaffte die Schiffshülle auf einer Länge von über 20 Metern auseinander. Wasser drang mit der Gewalt von Vorschlaghämmern ein und erschlug jeden, den das explodierende Tauchboot nicht sofort getötet hatte. Wer es bis dahin schaffte, am Leben zu bleiben, wer gar versuchte, der Hölle zu entkommen, sah sich mit schließenden Schotts konfrontiert. Der einzige Weg, die Independence jetzt noch zu retten, bestand darin, die Leute in den Katakomben des Schiffes zu opfern, indem man sie zusammen mit den tosenden Wassermassen einschloss, um ein weiteres Ausbreiten der Flut zu verhindern.
Die Plattform erhielt einen heftigen Schlag. Sie schnellte hoch wie eine Wippe und schleuderte Floyd Anderson über Johanson. Der Erste Offizier ruderte mit den Armen, die Finger gespreizt, aber da war nichts, woran man sich hätte festhalten können. Sein Körper beschrieb einen Salto, der unter anderen Umständen als komisch gegolten hätte. Er krachte mit der Stirn auf die Plattform, drehte sich auf den Rücken und blieb reglos liegen, die Augen starr geöffnet.
Vanderbilt taumelte. Die Pistole entglitt ihm und schlitterte auf den Rand zu, wo sie wenige Zentimeter vor der Kante liegen blieb. Er sah Johanson beim Versuch, sich aufzurappeln, lief zu ihm und trat ihm in die Rippen. Der Wissenschaftler kippte mit einem erstickten Schrei zur Seite. Vanderbilt hatte nicht die geringste Ahnung, was passiert war, sah man davon ab, dass es nur das Schlimmste sein konnte, aber der Auftrag lautete, Johanson zu beseitigen, und er war fest entschlossen, diesen Auftrag auszuführen. Er bückte sich, um den stöhnenden und blutenden Mann über die Plattform zu wuchten und möglichst über das Netz hinaus zu befördern, als jemand seitlich gegen ihn prallte.
»Du Schwein!«, schrie Anawak.
Plötzlich sah er sich mit einem Paar wild gewordener Dreschflegel konfrontiert. Anawak prügelte wie besessen auf ihn ein. Vanderbilt wich zurück. Er brauchte einen Moment, um seiner Verblüffung Herr zu werden. Schützend riss er die Arme über den Kopf, wich seitlich aus und trat den Angreifer gegen die Kniescheibe.
Anawak wankte und knickte ein. Vanderbilt verlagerte sein Gleichgewicht. Die meisten Menschen, die Jack Vanderbilt kennen lernten, machten sich völlig falsche Vorstellungen von seiner Kraft und Behändigkeit. Sie sahen nur seine Leibesfülle. Tatsächlich war der CIA-Direktor durch alle Schulen des Angriffs und der Selbstverteidigung gegangen, und auch mit zwei Zentnern gelangen ihm immer noch ein paar bemerkenswerte Sprünge. Er nahm Anlauf, katapultierte sich durch die Luft und rammte Anawak den Stiefel gegen das Brustbein. Anawak stürzte auf den Rücken. Sein Mund öffnete sich zu einem O, aber kein Laut drang heraus. Vanderbilt wusste, dass dem anderen gerade die Luft wegblieb. Er beugte sich über ihn, packte Anawak an den Haaren, riss ihn zu sich hoch und versenkte den Ellbogen in seinem Solarplexus.
Das dürfte fürs Erste reichen. Jetzt zurück zu Johanson. Ab in die See mit ihm, und Anawak gleich hinterher.
Als er sich aufrichtete, sah er Greywolf auf sich zukommen.
Vanderbilt ging in Angriffsposition. Er wirbelte um seine Achse, das rechte Bein ausgestreckt, trat zu — und prallte ab.
Was soll denn das?, dachte er verwirrt. Jeder andere wäre nach der Attacke zu Boden gegangen oder hätte sich unter Schmerzen gekrümmt. Dieser riesige Halbindianer lief einfach weiter. In seinen Augen lag ein unmissverständlicher Ausdruck. Plötzlich wurde Vanderbilt klar, dass er diesen Kampf gewinnen musste, weil er ihn sonst nicht überleben würde. Er überkreuzte die Arme, um den nächsten Schlag zu landen, langte aus und spürte, wie seine Faust einfach weggewischt wurde. Im nächsten Moment grub sich Greywolfs Linke in sein Doppelkinn. Vanderbilt trat mit den Beinen. Der Indianer schob ihn, ohne in seinem Tempo innezuhalten, dem Rand entgegen, holte aus und schlug zu.
Vanderbilts Gesichtsfeld explodierte.
Alles wurde rot. Er hörte sein Nasenbein brechen. Der nächste Schlag zertrümmerte die Knochen der linken Wange. Ein gurgelnder Schrei entrang sich seiner Kehle. Wieder kam die Faust herangesaust und bohrte sich zwischen seine Kiefer. Zähne splitterten. Vanderbilt schrie jetzt lauter, vor Schmerz und aus Wut. Er war außer sich. Er hing hilflos im Griff des Riesen und konnte nichts dagegen tun, dass sein Gesicht zu Brei geschlagen wurde.
Die Beine sackten ihm weg.
Greywolf ließ ihn los, und Vanderbilt schlug der Länge nach hin. Viel sah er nicht mehr, etwas Himmel, den grauen Asphalt der Plattform mit den aufgemalten gelben Markierungen, alles durch einen blutigen Schleier, und dort, ganz nah, die Waffe. Seine Rechte fingerte danach, bekam sie zu fassen, umspannte den Griff. Er riss den Arm hoch und schoss.
Einen Augenblick herrschte Ruhe.
Hatte er getroffen? Er drückte ein weiteres Mal ab, aber dieser Schuss ging in die Luft. Sein Arm war nach hinten gebogen worden. Kurz sah er Anawak über sich auftauchen, dann wurde ihm die Pistole aus der Hand geschlagen, und er blickte wieder in Greywolfs hasserfüllte Augen.
Schmerz durchflutete ihn.
Was war geschehen? Er lag nicht mehr auf dem Rücken, sondern stand aufrecht. Oder hing er? Er wusste tatsächlich nicht mehr, wo oben und unten war. Nein, er schwebte. Er flog rückwärts. Durch einen Nebel von Blut erkannte er die Plattform. Da war die Kante. Warum war er außerhalb der Kante? Sie zog über ihn hinweg, entfernte sich nach oben mitsamt den schützenden Netzen, und Vanderbilt begriff, dass sein Leben jetzt enden würde.
Die Kälte traf ihn wie ein Schock.
Aufspritzende Gischt. Von Schaum durchzogenes Grün, jede Menge Blasen. Unfähig, sich zu bewegen, sank Vanderbilt hinab. Das Meerwasser wusch das Blut aus seinen Augen, während sein Körper der Tiefe zustrebte. Da war kein Schiff, gar nichts, nur konturloses, dunkler werdendes Grün, aus dem sich ein Schatten näherte.
Der Schatten war schnell. Er besaß ein Maul, das unmittelbar vor ihm auseinander klaffte.
Dann war nichts mehr.
»Um Gottes willen, was tun Sie denn da?«
»Freilassen.«
Die Worte hallten in Weavers Kopf wider: Peaks voller Entsetzen ausgestoßene Frage, Lis harscher Befehl, bevor das komplette Labor plötzlich einen Satz getan hatte und in Schieflage geraten war. Auf das Dröhnen der Explosion folgte unbeschreiblicher Lärm, als alles um sie herum umstürzte und zu Bruch ging. Weaver wurde von den Beinen geschleudert, und mit ihr Rubin. In einem Durcheinander umherfliegender Instrumente und Behälter landeten sie nebeneinander hinter dem Labortisch. Ein Donnergrollen fegte durch den Raum. Alles vibrierte. Irgendwo zersprang mit lautem Knallen Glas. Weaver dachte an das Hochsicherheitslabor und hoffte inständig, dass die Abschottung aus Panzerglas und hermetisch verriegelten Schleusen standhielt. Sie robbte auf dem Hintern von Rubin weg, der herumrollte und sich wild umsah.
Ihr Blick fiel auf den Phiolenkoffer. Er war direkt vor ihre Füße gerutscht. Sie sah ihn, und Rubin sah ihn ebenfalls.
Einen Moment lang schätzte jeder von ihnen seine Chancen ab. Dann schnellte Weaver nach vorne, aber Rubin war schneller. Er bekam den Koffer zu packen, sprang auf und rannte in den Raum hinein. Weaver fluchte und verließ notgedrungen ihre Deckung. Was immer gerade passiert war, was immer die Folgen wären, was Li auch vorhaben mochte — sie musste den Koffer an sich bringen.
Zwei der Soldaten lagen am Boden. Einer rührte sich nicht, der andere rappelte sich eben hoch. Der dritte Soldat war auf den Beinen geblieben und hielt seine Waffe unverändert im Anschlag. Li bückte sich, um dem reglosen Mann das Gewehr abzunehmen, ein massives, schwarzes Ding. Im nächsten Moment visierte sie Weaver an. Peak lehnte stocksteif neben der verriegelten Tür.
»Karen!«, schrie er. »Bleiben Sie stehen. Es wird Ihnen nichts passieren, bleiben Sie gottverdammt nochmal stehen!«
Seine Stimme ging unter im Geknatter der Waffe. Weaver sprang wie eine Katze hinter die benachbarte Laborinsel. Sie hatte keine Ahnung, womit Li da schoss, aber die Munition zerfetzte den Tisch, als sei er aus Pappe.
Glassplitter flogen ihr um die Ohren, ein zentnerschweres Mikroskop krachte dicht neben ihr zu Boden. In das Inferno mischte sich gleichmäßig der Bordalarm. Plötzlich sah sie Rubin, der mit angstgeweiteten Augen wieder auf sie zurannte.
»Mick!«, rief Li. »Sie Idiot! Kommen Sie hierher.«
Weaver hechtete aus ihrem Versteck. Sie ließ sich gegen den Biologen fallen und entriss ihm den Phiolenkoffer. Im selben Moment erzitterte das Schiff erneut, und der Raum neigte sich. Rubin rutschte über den Boden, rasselte in ein Regal und brachte es zum Umkippen. Eine Flut aus Probengefäßen und Gläsern prasselte auf ihn herab. Er heulte auf und zappelte wie ein Käfer auf dem Rücken. Weaver sah Li aus dem Augenwinkel die Waffe schwenken und den dritten Soldaten über den zerschossenen Tisch springen. Auch er trug eines der gewaltigen schwarzen Dinger, und noch im Sprung zog er es hoch.
Es gab keinen Weg, wohin sie hätte fliehen können. Also ließ sie sich neben Rubin fallen.
»Nicht schießen!«, hörte sie Lis Stimme. »Es ist zu …«
Der Soldat feuerte. Er verfehlte sie. Die Garbe bohrte sich mit gongartigen Aufschlägen ins Panzerglas des Tiefseesimulators und durchpflügte die ovale Scheibe einmal von links nach rechts.
Plötzlich herrschte unheimliche Stille. Nur der Alarm sonderte in regelmäßigen Abständen sein unbeteiligtes, schnarrendes Geräusch ab. Alle erstarrten und hefteten ihre Blicke wie gebannt auf den Tank. Weaver hörte ein einzelnes, lautes Knacken. Sie wandte den Kopf und sah, wie sich auf der großen Glasplatte Sprünge verästelten.
Es wurden immer mehr.
»Oh Gott«, stöhnte Rubin.
»Mick!«, schrie Li. »Kommen Sie endlich!«
»Ich kann nicht«, jammerte Rubin. »Mein Bein. Ich hänge fest.«
»Auch egal«, sagte Li. »Wir brauchen ihn nicht. Raus hier.«
»Das können Sie doch nicht …«, begann Peak.
»Sal, öffnen Sie die Tür!«
Sofern Peak etwas erwiderte, war es nicht zu verstehen. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, als die Scheibe auseinander flog. Tonnen von Meerwasser kamen ihnen entgegengeschossen. Weaver rannte los. Hinter ihr tosten die Wassermassen durch das Labor und zerstörten, was noch nicht zu Bruch gegangen war.
»Karen!«, hörte sie Rubin. »Bitte lass mich nicht …«
Seine Stimme riss ab. Alles war voller Gischt. Sie sah Peak durch die offene Labortür humpeln. Li folgte ihm. Im Hinauslaufen schlug ihre Hand auf eine Stelle neben der Tür, und Weaver erkannte in plötzlichem Schrecken, was das zu bedeuten hatte.
Li wollte sie einschließen.
Die Flut klatschte gegen ihren Rücken und trug sie ein Stück nach vorne. Sie stürzte hart auf ihre Knie, kam wieder auf die Beine. Sie war durchnässt bis auf die Knochen, aber den Phiolenkoffer hielt sie fest umschlungen. Japsend und bemüht, vom Wasser nicht zurückgerissen zu werden, kämpfte sie sich auf die Tür zu, die sich langsam schloss, legte die letzten Meter in einem einzigen Sprung zurück, prallte gegen den Rahmen und wirbelte hinaus auf die Rampe.
Greywolf und Anawak halfen Johanson auf die Beine. Der Biologe war schwer angeschlagen, aber bei Bewusstsein.
»Wo ist Vanderbilt?«, murmelte er.
»Fischen«, sagte Greywolf.
Anawak fühlte sich, als sei er unter einen Eilzug geraten. Er war kaum in der Lage, aufrecht zu stehen, so sehr schmerzte ihn die Stelle, wo ihn Vanderbilts Ellbogen getroffen hatte.
»Jack«, wiederholte er immer wieder. »Mein Gott, Jack.« Greywolf hatte ihn gerettet. Es schien zur Tradition zu werden, dass Greywolf ihn rettete. »Wo kommst du plötzlich her?«
»Ich war vorhin ein bisschen rüde«, sagte Greywolf. »Wollte mich entschuldigen.«
»Rüde? Bist du wahnsinnig? Du hast keinen Grund, dich für irgendetwas zu entschuldigen!«
»Ich find’s gut, dass er sich entschuldigen wollte«, ächzte Johanson.
Greywolf grinste gequält. Sein Gesicht unter der kupferfarbenen Haut hatte einen wächsernen Ton angenommen. Was ist los mit ihm?, dachte Anawak. Greywolfs Schulten bogen sich nach vorn, seine Augenlider flatterten …
Plötzlich sah er, dass Greywolfs T-Shirt voller Blut war. Einen Moment lang gab er sich der Illusion hin, es stamme von Vanderbilt. Dann erkannte er, dass der Fleck größer wurde und dass all das Blut aus Greywolfs Bauch quoll. Er streckte die Arme aus, um den Riesen aufzufangen, als erneut ein Donnerschlag aus dem Bauch der Independence drang. Das Schiff schwankte. Johanson taumelte gegen ihn. Anawak sah Greywolf nach vorn kippen und über die Kante verschwinden. »Jack!« Er fiel auf die Knie und rutschte zu der Stelle, wo Greywolf verschwunden war. Der Halbindianer hing in einem der Netze und sah zu ihm hoch. Darunter wogte das Meer.
»Jack, gib mir deine Hand« Greywolf rührte sich nicht. Er lag nur da und starrte Anawak an, die Hände auf den Bauch gepresst. Noch mehr Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Vanderbilt! Das verdammte Schwein hatte ihn getroffen. »Jack, es wird alles gut.« Worte wie aus einem Film.
»Gib mir die Hand. Ich ziehe dich hoch, wir kriegen das alles wieder hin.«
Neben ihm robbte Johanson heran. Er legte sich auf den Bauch und versuchte, nach unten ins Netz zu langen, aber es war zu tief.
»Du musst irgendwie hochkommen«, sagte Anawak hilflos. Dann fasste er einen Entschluss. »Nein, bleib da. Ich komme zu dir runter. Ich hieve dich raus, und Sigur hilft von oben.«
»Vergiss es«, sagte Greywolf gequetscht.
»Jack …«
»Es ist besser so.«
»Red keinen Mist«, herrschte Anawak ihn an. »Komm mir bloß nicht mit dieser Kinoscheiße, von wegen, lasst mich zurück, kümmert euch nicht um mich, blabla.« »Leon, mein Freund …« »Nein! Ich sage nein!« Aus Greywolfs Mund floss ein dünner Streifen Blut. »Leon …«
Er lächelte. Plötzlich wirkte er sehr entspannt.
Dann richtete er sich mit einem Ruck auf, rollte sich über die Netzkante ab und stürzte in die Wellen.
Rubin verging Hören und Sehen. Das Wasser aus dem Tank toste über ihn hinweg. Er fragte sich, was um Himmels willen passiert war in den letzten Sekunden. Alles war aus den Fugen geraten. Dann spürte er plötzlich, dass die wirbelnden Wassermassen das Regal von seinem Bein hoben, und er kam frei und tauchte prustend auf.
Gott sei Dank, dachte er. Du hast das Schlimmste überstanden.
Für eine richtige Überschwemmung würde das Wasser aus dem Simulator nicht reichen. Es war eine ganze Menge, aber sobald es sich im Raum verteilt hatte, würde es kaum höher als einen Meter stehen.
Er rieb sich die Augen.
Wo war Li?
Neben ihm trieb der Körper eines der Soldaten. Ein anderer stemmte sich weiter hinten benommen aus dem Wasser.
Li war fort.
Sie hatten ihn zurückgelassen.
Fassungslos saß Rubin im Wasser und starrte auf die verschlossene Tür. Allmählich klärten sich seine Gedanken. Er musste hier raus. Etwas in dem Schiff war in die Luft geflogen. Wahrscheinlich sanken sie schon. Wenn er nicht innerhalb der nächsten paar Minuten höhere Gefilde erreichte, drohten ihm ernsthafte Schwierigkeiten.
Er wollte aufstehen, als es um ihn herum zu leuchten begann.
Blitze zuckten.
Schlagartig wurde ihm bewusst, dass nicht nur Wasser aus dem Tank gelangt war! Er versuchte hochzukommen, glitt aus und stürzte zurück. Das Wasser spritzte auf. Rubin geriet mit dem Kopf unter die Oberfläche, paddelte mit den Händen und spürte Widerstand.
Glatt. Beweglich.
Lichtblitze erschienen vor seinen Augen, dann bekam er plötzlich keine Luft mehr, als die Gallerte begann, sein Gesicht zu überziehen. Wie irrsinnig zerrte Rubin daran, aber das Zeug war nicht zu packen. Er glitt daran ab, und wo er es in die Hände bekam, veränderte es augenblicklich seine Form oder löste sich einfach auf, und neues Gewebe kam hinterher.
Nein, dachte er. Nein, Nein!
Er öffnete den Mund und spürte, wie das Zeug hineinkroch. Das machte ihn vollends wahnsinnig. Ein dünner Ausläufer schlängelte sich seine Speiseröhre hinab, weitere drangen in seine Nasenlöcher. Er würgte, schlug wild um sich, bäumte sich auf, und plötzlich begannen seine Ohren zu schmerzen. Grauenhaft war dieser Schmerz, als bohre ein unbarmherziger Folterknecht mit Messern darin herum, und ein letzter, glasklarer Gedanke sagte ihm, dass die Gallerte auf dem Weg in seinen Schädel war.
Ob es pure Neugierde oder ein gezieltes Vorhaben des Organismus war, menschliche Hirne zu untersuchen, ob er gewohnheitsmäßig seit Jahrmillionen in alles kroch, was sich seiner Ansicht nach zu untersuchen lohnte, darüber hatte sich Rubin seit dem Unfall im Welldeck pausenlos Gedanken gemacht.
Jetzt machte er sich über gar nichts mehr Gedanken.
So friedlich. So ruhig.
Vanderbilt hatte das wahrscheinlich anders empfunden. Er hatte Angst gehabt. Sein Tod war grausam gewesen, und genau so hatte er sein sollen. Aber ohne Angst war es etwas völlig anderes.
Greywolf sank in die Tiefe.
Er hielt die Luft an. Trotz der schrecklichen Schmerzen in seinem Bauch wollte er so lange wie möglich die Luft anhalten. Nicht weil er glaubte, dass es sein Leben verlängern würde. Es war ein letzter Akt des Willens, ein Akt der Kontrolle. Er würde bestimmen, wann das Wasser in seine Lungen drang.
Licia war da unten. Alles, was er je gewollt hatte, was ihm wichtig gewesen war, befand sich unter Wasser. Eigentlich nur konsequent, dass er endlich diesen Weg ging. Es war überfällig.
Wenn du zu Lebzeiten ein guter Mensch gewesen bist, wirst du dereinst als Orca wiedergeboren werden.
Er sah einen schwarzen Schatten über sich hinwegziehen. Ein weiterer folgte. Die Tiere beachteten ihn nicht. Genau, dachte Greywolf, ich bin euer Freund. Ihr lasst mich in Ruhe. Natürlich wusste er, dass die Erklärung viel profaner war, dass ihn die Tiere schlicht übersahen. Diese Orcas waren niemandes Freund. Sie waren schon längst nicht mehr sie selbst, sondern wurden missbraucht von einer Rasse, die nicht weniger skrupellos vorging als der Mensch.
Aber auch das würde wieder in Ordnung kommen.
Irgendwann. Und der Graue Wolf würde ein Orca werden.
Konnte es einen schöneren letzten Gedanken geben?
Er atmete aus.
»Sind Sie eigentlich vollkommen wahnsinnig geworden?«
Peaks Stimme hallte an den Wänden der Rampe wider. Li eilte ihm voraus. Er versuchte, den pochenden Schmerz in seinem Fußgelenk zu ignorieren und mit ihr Schritt zu halten. Sie hatte das Maschinengewehr weggeworfen und hielt stattdessen ihre Pistole in der Hand.
»Gehen Sie mir nicht auf die Nerven, Sal.« Li steuerte den nächsten Niedergang an. Nacheinander kletterten sie ins nächsthöhere Level. Hier mündete der Gang zum geheimen Bereich. Aus dem Bauch des Schiffes drang enervierendes Wimmern und Dröhnen. Dann folgte eine neuerliche Explosion. Der Boden wankte heftig und neigte sich, sodass sie einen Moment innehalten mussten. Vermutlich hatten einige Schotts dem Wasserdruck nicht mehr standgehalten. Die Independence wies mittlerweile eine deutliche Schieflage auf, und sie mussten den Gang aufwärts laufen. Aus dem Kontrollraum kamen ihnen Männer und Frauen entgegengerannt. Sie starrten auf Li in Erwartung von Befehlen, aber die Kommandantin stapfte einfach weiter.
»Nicht auf die Nerven?« Peak verstellte ihr den Weg. Er fühlte, wie sein Entsetzen blanker Wut wich. »Sie knallen wahllos Leute ab. Andere lassen Sie umbringen. Was soll das, verdammt? Das ist unverhältnismäßig! Das war nie geplant und nie besprochen!«
Li sah ihn an. Ihr Gesicht war vollkommen ruhig, aber die blauen Augen flackerten. Nie zuvor hatte Peak dieses Flattern darin gesehen. Plötzlich wurde ihm klar, dass diese hoch gebildete, vielfach ausgezeichnete Soldatin einen ausgemachten Dachschaden hatte.
»Mit Vanderbilt war es besprochen«, sagte Li.
»Mit der CIA?«
»Mit Vanderbilt von der CIA.«
»Sie haben sich mit diesem Drecksack auf einen derartigen Irrsinn eingelassen?« Peak kräuselte angewidert die Lippen. »Ich könnte kotzen, Jude. Wir sollten helfen, das Schiff zu evakuieren.«
»Außerdem ist es abgesprochen mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten«, fügte Li hinzu.
»Niemals!«
»Mehr oder weniger.«
»Nicht so! Das glaube ich Ihnen nicht!«
»Er würde es billigen.« Sie drängte sich an ihm vorbei. »Jetzt gehen Sie mir endlich aus dem Weg. Wir verlieren Zeit.«
Peak hastete ihr hinterher. »Diese Menschen haben Ihnen nichts getan. Sie haben ihr Leben riskiert. Die ziehen doch am gleichen Strang wie wir! Warum konnten wir sie nicht einfach festsetzen?«
»Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Haben Sie das noch nicht gemerkt, Sal?« »Johanson war nicht gegen Sie.«
»Doch, von Anfang an.« Sie wirbelte herum und sah zu ihm hoch. »Sind Sie eigentlich blind oder verblödet, oder was? Sehen Sie nicht, was passieren würde, wenn Amerika diese Schlacht nicht für sich entscheidet? Jeder andere, der sie gewinnen würde, hätte uns im selben Moment eine Niederlage zugefügt.«
»Es geht aber nicht um Amerika! Es geht um die ganze Welt.«
»Die Welt ist Amerika!«
Peak starrte sie an. »Sie sind verrückt«, flüsterte er.
»Nein, ich bin Realist, Sie schwarzer Esel. Und Sie tun, was ich sage. Sie stehen unter meinem Kommando!« Li setzte sich wieder in Bewegung. »Los jetzt. Wir haben einen Auftrag zu erfüllen. Ich muss mit dem Tauchboot runter, bevor uns das ganze Schiff um die Ohren fliegt. Helfen Sie mir, die beiden Torpedos mit Rubins Gift zu finden, danach können Sie sich meinetwegen absetzen.«
Weaver schwankte eine Sekunde, wohin sie sich wenden sollte, als sie vom oberen Ende der Rampe Stimmen hörte. Li und Peak waren verschwunden. Wahrscheinlich auf dem Weg in Rubins Geheimlabor, um den Giftstoff zu holen. Sie lief zum Knick und sah Anawak und Johanson aufeinander gestützt die Rampe herunterkommen.
»Leon«, rief sie. »Sigur!«
Sie rannte auf die beiden zu und umarmte sie. Sie musste ihre Arme sehr weit ausstrecken, aber sie hatte das dringende Bedürfnis, die Männer an sich zu drücken. Ganz besonders einen von ihnen. Offenbar schoss sie dabei übers Ziel hinaus, denn Johanson stöhnte auf.
Sie zuckte zurück. »Entschuldige …«
»Sind nur die Knochen.« Er wischte sich das Blut aus dem Bart. »Der Geist ist willig, und so weiter. Was ist passiert?«
»Was ist euch passiert?«
Der Boden rumpelte unter ihren Füßen. Ein lang gezogenes Quietschen drang aus dem Rumpf der Independence. Ganz leicht neigte sich der Boden ein Stück weiter bugwärts.
Sie berichteten einander in hastigen Worten. Anawak war sichtlich mitgenommen von Greywolfs Tod.
»Hat einer von euch eine Ahnung, was mit dem Schiff geschehen ist?«, fragte er.
»Nein, aber ich fürchte, darüber können wie uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen.« Weaver sah sich gehetzt um. »Ich schätze, wir müssen zwei Dinge gleichzeitig erledigen. Lis Tauchgang verhindern und uns irgendwie in Sicherheit bringen.«
»Du meinst, sie wird ihren Plan ausführen?«
»Klar wird sie das«, knurrte Johanson. Er legte den Kopf in den Nacken. Vom Flugdeck drang Lärm zu ihnen herunter. Sie hörten das Knattern von Rotoren. »Merkt ihr was? Die Ratten verlassen das Schiff.«
»Was ist los mit Li?« Anawak schüttelte fassungslos den Kopf. »Warum hat sie Sue erschossen?«
»Sie wollte auch mich umbringen. Li wird jeden töten, der ihr im Wege steht. Sie war nie interessiert an einer friedlichen Lösung.«
»Aber mit welchem Ziel?«
»Egal«, sagte Johanson. »Ihr Zeitplan dürfte sich stark verknappt haben. Jemand muss sie aufhalten. Sie darf dieses Zeug nicht nach unten bringen.«
»Richtig«, sagte Weaver. »Dafür bringen wir das nach unten.«
Erst jetzt schien Johanson den Kasten in Weavers Händen zu bemerken. Er riss die Augen auf.
»Sind das die Pheromon-Extrakte?«
»Ja. Sues Vermächtnis.«
»Gut, aber wie hilft uns das im Augenblick weiter?«
»Na ja, ich habe eine Idee.« Sie zögerte. »Keine Ahnung, ob sie funktioniert. Ich hatte sie schon gestern, aber sie schien mir nicht wirklich durchführbar zu sein. — Inzwischen hat sich einiges geändert.«
Sie erklärte es ihnen.
»Klingt gut«, beschied Anawak. »Aber das erfordert äußerste Schnelligkeit. Im Grunde bleiben uns nur Minuten. Sobald der Kahn absäuft, sollten wir irgendwo auf dem Trockenen sein.«
»Ich weiß vor allen Dingen nicht, wie genau wir es bewerkstelligen können«, gab Weaver zu.
»Aber ich.« Anawak zeigte zur Rampe. »Wir brauchen ein Dutzend subkutaner Spritzen. Darum kümmere ich mich. Ihr geht runter und macht das Tauchboot klar.« Er überlegte. »Und wir brauchen … Warte mal! Meinst du, im Labor findest du jemanden …?«
»Ja. Finde ich. Wo willst du die Spritzen auftreiben?«
»Im Hospital.«
Über ihnen verstärkte sich der Lärm. Sie sahen einen Helikopter im Durchgang zum Backbordlift auftauchen und dicht über die Wellen hinwegziehen. Der Stahl des Hangardecks ächzte. Das ganze Schiff begann sich zu verformen.
»Beeil dich«, sagte Weaver.
Anawak sah ihr in die Augen. Einen Moment lang hingen sie aneinander fest. Verdammt, dachte Weaver, warum erst jetzt?
»Verlass dich drauf«, sagte er.
Im Gegensatz zu den meisten Menschen auf der Independence wusste Crowe ziemlich genau, was geschehen war. Die Rumpfkameras hatten den Aufstieg der leuchtenden Kugel auf die Monitore übertragen. Der Ball hatte aus Gallerte bestanden, so viel stand fest, und als er geplatzt war, hatte sich Gas aus seinem Innern ausgedehnt. Methangas möglicherweise. Inmitten der wild trudelnden Blasen hatte sie einen Umriss zu erkennen geglaubt, der ihr bekannt vorkam: Es war ein Tauchboot gewesen, das da auf die Independence zugerast kam.
Ein Deepflight, bestückt mit Torpedos.
Unmittelbar nach der Explosion war die Hölle ausgebrochen. Shankar war mit dem Schädel gegen die Konsole geprallt und blutete heftig. Crowe hatte ihm aufgeholfen, dann waren Soldaten und Techniker ins CIC gestürmt und hatten sie nach draußen bugsiert. Der heisere Intervallton des Alarms trieb sie vorwärts. In den Niedergängen drängten sich die Menschen, aber noch schien die Mannschaft der Independence die Situation unter Kontrolle zu haben. Ein Offizier nahm sie in Empfang und lief mit ihnen zu einer heckwärts gelegenen Treppe, die nach oben führte.
»Durch die Insel raus aufs Flugdeck«, sagte er. »Nicht stehen bleiben. Anweisungen abwarten.«
Crowe schob den benommenen Shankar die Treppe hinauf. Sie war klein und zierlich und Shankar groß und schwer, aber sie nahm all ihre Kraft zusammen.
»Beweg dich, Murray!«, keuchte sie.
Shankars Hände umfassten zitternd die Sprossen. Er zog sich unter Mühen nach oben. »Ich hatte mir eine Kontaktaufnahme immer anders vorgestellt«, hustete er.
»Du hast eben die falschen Filme gesehen.«
Eine Zigarette fehlte ihr jetzt zur Beruhigung. Bekümmert dachte sie an die eine, die sie erst Sekunden vor der Explosion angesteckt hatte. Sie lag qualmend im CIC. So eine Schande. Was hätte sie für eine Zigarette gegeben! Noch einmal eine rauchen, bevor hier alle den Löffel abgaben. Irgendetwas sagte ihr, dass ihre Überlebenschancen nicht besonders hoch waren.
Nein, fuhr es ihr durch den Kopf. Blödsinn! Wir sind ja gar nicht auf Rettungsboote angewiesen.
Wir haben die Helikopter!
Erleichterung durchflutete sie. Shankar hatte das obere Ende des Niedergangs erreicht. Hände streckten sich ihm entgegen. Crowe folgte ihm und fragte sich, ob sie nicht soeben genau die Art von Kontakt erlebten, in der die menschliche Rasse so bewandert war — aggressiv, unbarmherzig, tödlich.
Soldaten zogen sie ins Innere der Insel.
Hey, Miss Alien, dachte sie. Immer noch fasziniert von der Möglichkeit intelligenten Lebens im All?
»Haben Sie eine Zigarette?«, fragte sie einen der Soldaten.
Der Mann starrte sie an.
»Sind Sie noch bei Trost? Machen Sie, dass Sie nach draußen kommen!«
Auf der Brücke stand Buchanan mit dem Zweiten Offizier und dem Steuermann zusammen, ließ sich fortwährend auf den neuesten Stand bringen und gab Anweisungen. Er blieb ruhig und besonnen. Wie es aussah, hatte die Explosion einen Teil der Laderäume und des Maschinenraums zerstört. Mit den Laderäumen hätten sie leben können, aber im Maschinenraum war es offenbar zu einer Kettenreaktion in den Kraftstoff-und Flüssigkeitssystemen gekommen. Weitere Explosionen waren die Folge. Nacheinander fielen sämtliche Systeme aus. Der Elektrizitätsbedarf des Schiffes wurde durch eine ganze Serie motorgetriebener Stromaggregate abgedeckt. Neben den beiden LM-2500-Gasturbinen versorgten sechs Dieselelektronik-Generatoren die Independence mit Energie, die sich gerade der Reihe nach verabschiedeten. Tief in den Katakomben unter den Fahrzeug— und Frachtdecks herrschte vermutlich kein Leben mehr. Buchanan hatte die Maschinenraumcrew im Moment, da er die Anweisung zum Schließen der Schotts gegeben hatte, dem Tode preisgegeben, aber er konnte sich jetzt nicht den Luxus leisten, darüber nachzudenken. Sie mussten das Schiff evakuieren. Er wagte keine Aussage zu treffen, wie lange es da unten noch einigermaßen stabil blieb. Der Aufschlag war mittschiffs erfolgt. Dennoch hatten sie nicht verhindern können, dass ein Teil der bugwärts gelegenen Frachträume überflutet wurde, sodass die Independence nun nach vorn wegsackte.
Es war zu viel Wasser im Rumpf. Unter enormem Druck würde es sich seinen Weg in die Bugspitze bahnen und die Schotts zum nächsthöheren Level aufbrechen. Wenn dann noch die achterlichen Schotts nachgaben, drohte das gesamte Schiff voll zu laufen.
Buchanan gab sich keinen Illusionen darüber hin, dass es geschehen würde. Es stellte sich lediglich die Frage nach dem Wann. Die Meisterung dieser Krise hing einzig an ihm und seiner Fähigkeit, die Lage richtig zu bewerten. Augenblicklich schätzte er, dass als Nächstes das Fahrzeugfrachtdeck unter dem Labor dran war und ein Teil der angrenzenden Unterkünfte. Das Einzige, was ihn an der ganzen Sache überhaupt tröstete, war der Umstand, dass keine Marines an Bord waren. Im Kriegsfall hätte er rund 3000 Mann von Bord bekommen müssen. Jetzt waren es eben mal 180, und sie hielten sich in den oberen Levels auf.
Einige der Monitore, die das Big Picture aus dem CIC auf die Brücke übertrugen, waren ausgefallen. Direkt über Buchanans Kopf leuchtete das verplombte rote Telefon, das ihn in Ausnahmesituationen direkt mit dem Pentagon verband. Sein Blick wanderte über die praktisch und logisch angeordneten Kommunikationsgeräte, Navigationsinstrumente und Kartentische. Nichts davon half ihnen jetzt noch weiter.
Nutzloser Kram.
Auf dem Dach entwickelte das Landungspersonal hektische Betriebsamkeit. Menschen wurden aus der Insel aufs Flugdeck geführt und in bereitstehende Helikopter gelotst, die mit laufenden Rotoren warteten, alles im Laufschritt. Buchanan sprach kurz mit der Flugleitzentrale und sah wieder durch die grünen Scheiben der Brücke nach draußen. Ein Helikopter hatte bereits abgehoben und entfernte sich schnell vom Schiff. Es konnte nicht schnell genug gehen. Wenn sich der Bug weiter neigte, verwandelte sich das Flugdeck in eine Rutschbahn. Die Fluggeräte waren gut gesichert, aber irgendwann würde es kritisch werden.
Anawak begegnete nicht vielen Menschen. Er fürchtete, Li und Peak in die Arme zu laufen, aber die beiden waren offenbar in entgegengesetzte Richtung unterwegs. Atemlos und mit schmerzendem Brustkorb hetzte er den Gang zur Krankenstation entlang.
Das Hospital lag verlassen da. Keine Spur von Angelí und seinem Personal. Er gelangte in verschiedene Räume voller Betten, bevor er endlich einen Raum für medizinisches Equipment fand. Dort sah es aus wie nach einem Erdbeben. Schränke standen offen, der Boden war bedeckt mit Scherben, die unter seinen Schritten knirschten. Nacheinander zog er alle Schubladen auf und kramte in den trümmerübersäten Regalböden, ohne eine einzige Spritze zu finden.
Wo waren die verdammten Spritzen?
Wo waren sie normalerweise, wenn man zum Arzt ging? Immer in irgendwelchen Schubladen. Das wusste er genau. In kleinen, weiß lackierten Schränkchen mit vielen Schubladen.
Tief unter ihm rumorte es. Hohles Stöhnen drang zu ihm herauf. Stahl verbog sich.
Anawak hastete in den gegenüberliegenden Raum. Auch dort war alles Mögliche zu Bruch gegangen, doch einige der lackierten Schränkchen schienen fest installiert. Er zog sie auf, sah überall hinein, warf achtlos den Inhalt hinter sich und fand im letzten endlich, wonach er suchte. Hastig griff er ein Dutzend der steril verpackten Spritzen und verstaute sie in seiner Jacke. Jetzt nichts wie zurück.
Was für eine aberwitzige Idee.
Entweder hatte Karen Recht, dann war es ein genialer Plan, oder sie machten sich völlig falsche Vorstellungen von der Realität. Einerseits plausibel, mutete ihr Vorschlag zugleich undurchführbar und naiv an, zumal vor dem Hintergrund der ausgeklügelten Botschaften, die Crowe in die Tiefe geschickt hatte. Andererseits …
Crowe? Wo war sie eigentlich?
Samantha Crowe, die ihm im Traum erschienen war vor langer Zeit und ihm den Weg gewiesen hatte nach Nunavut.
Ein mächtiges Klonk drang an seine Ohren, als sei eine Glocke zersprungen. Der Boden neigte sich weiter. Aus den Tiefen des Schiffs drang dumpfes Rauschen an sein Ohr.
Wasser!
Anawak fragte sich, ob ihm überhaupt noch Zeit blieb, hier wieder rauszukommen. Dann fragte er sich gar nichts mehr und rannte los.
Weaver wusste nicht, was sie erwartete. Ihr war mulmig beim Gedanken, die Tür zum Labor wieder zu öffnen. Aber wenn sie den Plan in die Tat umsetzen wollten, bot das Labor die einzige Chance.
Der Boden bebte. Unmittelbar unter ihren Füßen rauschte und gurgelte es. Johanson lehnte schwer atmend neben ihr.
»Mach schon«, sagte er.
Weaver sah das rote Emergency-Symbol über dem Tastenfeld blinken. Li hatte es tatsächlich geschafft, noch im Herauslaufen die Notverriegelung zu betätigen und das Labor hermetisch abzuriegeln. Sie drückte die Zahlenkombination, und die Tür glitt auf. Wasser schwappte ihnen entgegen und umfloss ihre Beine. Es schoss aus dem hell erleuchteten Raum, aber anstatt die Rampe herunterzufließen, sammelte es sich um ihre Knöchel und stieg. Plötzlich wusste Weaver auch, warum. Die Independence hing so schief, dass es nicht über die Rampe zum Welldeck abfließen konnte. Wahrscheinlich hatte sich dieser Teil der Rampe infolge der Neigung schon in ebenen Boden verwandelt.
Sie wich zurück. »Wir müssen aufpassen«, sagte sie. »Das Zeug könnte nach draußen gelangt sein.« Johanson warf einen Blick ins Innere. In unmittelbarer Nähe des zerborstenen Tanks sah er zwei leblose Körper treiben. Mit vorsichtigen Schritten watete er durch den Sog des ausströmenden Wassers in die große Halle. Weaver folgte ihm. Ihr erster Blick galt den Containern des Hochsicherheitslaboratoriums, aber sie waren augenscheinlich unversehrt. Sie verspürte Erleichterung. Eine Verseuchung mit Pfiesterien war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. Zum Heck hin stieg der Boden sanft aus dem Wasser.
Dafür stand es zur anderen Seite umso höher. »Sie sind alle tot«, flüsterte Weaver. Johanson kniff die Augen zusammen. »Da!« Ein Stück neben den Soldaten trieb ein weiterer Körper. Es war Rubin. Weaver schluckte ihren Abscheu und ihre Angst herunter. »Einen davon brauchen wir«, sagte sie. »Welchen, ist egal.« »Dafür müssen wir tiefer rein.« »Ja. Nicht zu ändern.« Sie setzte sich in Bewegung. »Karen, pass auf!« Das war Johanson. Sie wollte sich umdrehen, als etwas von hinten gegen sie prallte. Ihre Füße rutschten weg. Mit einem Aufschrei landete sie im Wasser, kam prustend hoch und drehte sich auf den Rücken.
Einer der Soldaten stand dort und hielt sie und Johanson mit einem massigen, schwarzen Gewehr in Schach.
»Oh nein«, sagte er gedehnt. »Oooh, nein.«
Sein Blick spiegelte eine Mischung aus Todesangst und einsetzendem Wahnsinn. Weaver richtete sich langsam auf und hob die Hände, sodass er ihre Handflächen sehen konnte.
»Oh nein«, wiederholte der Mann.
Er war sehr jung. Weaver schätzte ihn auf neunzehn. Das Gewehr in seinen Händen zitterte. Er wich einen Schritt zurück und ließ seine Blicke zwischen ihr und Johanson hin— und herwandern.
»Hey«, sagte Johanson. »Wir wollen Ihnen helfen.«
»Ihr habt uns eingeschlossen«, sagte der Soldat. Es klang weinerlich, als sei er kurz davor loszuschreien.
»Das waren nicht wir«, sagte Weaver.
»Ihr habt uns mit … mit diesem … Ihr habt uns damit allein gelassen.«
Das fehlte noch. Die Independence sank, sie mussten Li aufhalten, irgendwie an einen der Toten kommen, um den Plan durchzuführen, und jetzt bekamen sie es auch noch mit diesem in Panik geratenen Jungen zu tun.
»Wie heißen Sie?«, fragte Johanson unvermittelt.
»Was?« Die Augen des Soldaten flackerten. Dann riss er das Gewehr hoch und richtete es auf Johanson.
»Nein!«, schrie Weaver.
Johanson hob die Hand zum Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Er sah in die Mündung der Waffe und senkte seine Stimme.
»Bitte sagen Sie uns Ihren Namen.«
Der Soldat zögerte.
»Es ist wichtig, dass wir Ihren Namen kennen«, wiederholte Johanson im Tonfall des freundlichen Herrn Pfarrers.
»MacMillan. Ich bin … ich heiße MacMillan.«
Allmählich begriff Weaver, was Johanson vorhatte. Der erste Weg, jemanden in die Normalität zurückzuholen, bestand darin, ihm ins Gedächtnis zu rufen, wer er war.
»Gut, MacMillan, sehr gut. Hören Sie, wir brauchen Ihre Hilfe. Dieses Schiff sinkt. Wir müssen ein Experiment durchführen, das uns alle retten könnte …«
»Uns alle?«
»Haben Sie Familie, MacMillan?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Wo lebt Ihre Familie?«
»Boston.« Die Gesichtszüge des Jungen verzogen sich. Er begann zu weinen. »Aber Boston ist …«
»Ich weiß«, sagte Johanson eindringlich. »Hören Sie, wir können noch etwas tun, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Auch in Boston. Aber dafür brauchen wir Ihre Hilfe. Wir brauchen sie jetzt! Jede Sekunde, die wir verlieren, kostet Ihre Familie vielleicht die letzte Chance.«
»Bitte«, sagte Weaver. »Helfen Sie uns.«
Der Soldat ließ seine Blicke weiter zwischen ihr und Johanson hin— und herwandern. Er schniefte laut. Dann ließ er das Gewehr sinken.
»Sie bringen uns hier raus?«, fragte er.
»Ja.« Weaver nickte. »Versprochen.«
Mein Gott, was redest du, dachte sie. Gar nichts kannst du versprechen. Überhaupt nichts.
Das geheime Labor war erstaunlich intakt. Es lag höher als das reguläre. Der Boden war übersät mit Scherben, aber ansonsten schien alles an seinem Platz.
Einige Monitore flackerten vor sich hin.
»Wo hat er bloß die Röhren«, überlegte Li.
Sie steckte ihre Waffe zurück ins Halfter und sah sich um. Der Raum war verlassen. In dem kleinen Hochdrucktank erwartete sie blaues Schimmern zu sehen, aber dann fiel ihr ein, dass Rubin erwähnt hatte, er hätte das Gift erfolgreich getestet. Sie spähte durch eines der Bullaugen. Nichts. Kein Organismus, kein Leuchten.
Peak wanderte zwischen den Labortischen und Schränken umher.
»Hier«, rief er.
Li eilte zu ihm. Ein Gestell war umgefallen. Mehrere schlanke, torpedoförmige Röhren lagen kreuz und quer übereinander, jede knapp einen Meter lang. Sie hoben die Röhren nacheinander auf. Zwei waren deutlich schwerer als die anderen, und plötzlich sah Li auch die Kennzeichnungen. Rubin hatte sie mit einem wasserfesten Marker auf die Seiten geschrieben.
»Sal«, sagte sie fasziniert. »Wir halten die neue Weltordnung in Händen.«
»Schön.« Peak sah sich nervös um. Ein Reagenzglas rollte von einem Tisch und zerbrach mit leisem Klirren. Immer noch dröhnte der Alarm durch das Schiff. »Dann lassen Sie uns die neue Weltordnung schleunigst hier rausbringen.«
Li lachte laut auf. Sie reichte Peak eine der Röhren, nahm die andere und lief aus dem Labor auf den Gang hinaus.
»In fünf Minuten werde ich diese Anmaßung der Schöpfung in den Orkus schicken, Sal, darauf können Sie sich verlassen!«
»Mit wem wollen Sie runtergehen? Glauben Sie, dass Mick noch lebt?«
»Mir ist scheißegal, ob er lebt.«
»Ich könnte Sie begleiten.«
»Danke, Sal, zu großzügig. Was wollen Sie tun? Mir da unten die Ohren voll heulen, weil ich mir erlauben könnte, blauen Schleim zu töten?«
»Das ist was anderes, und das wissen Sie genau! Es ist ein verdammter Unterschied, ob …«
Sie erreichten den Niedergang. Von der anderen Seite näherte sich jemand. Er rannte ihnen entgegen, den Kopf gesenkt.
»Leon!«
Anawak schaute auf, erkannte sie und blieb abrupt stehen. Sie waren einander sehr nahe, nur der Niedergang lag zwischen ihnen.
»Jude. Sal.« Anawak starrte sie an. »Na so was.«
Na so was? Lächerlich! Der Mann war miserabel darin, sich zu verstellen. Beim ersten Blick in seine Augen hatte Li erkannt, dass Anawak über alles Bescheid wusste.
»Wo kommen Sie her?«, fragte sie.
»Ich … ich wollte die anderen suchen und …«
Egal, wie viel er wusste. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Vielleicht suchte er wirklich nur seine Freunde, vielleicht hatte er einen Plan. Es spielte keine Rolle.
Anawak stand im Weg. Li zog ihre Waffe.
Crowe war dicht hinter Shankar gewesen, als sie aufs Dach hinausliefen, aber dann hatte man sie aufgehalten.
»Warten Sie«, sagte jemand in Uniform.
»Aber ich muss …«
»Sie sind in der nächsten Gruppe.«
Inzwischen hatten bereits zwei der großen Super Stallions das Dach verlassen. Zwei weitere warteten gegenüber der Insel. Sie parkten unmittelbar hintereinander. Shankar drehte sich zu ihr um, während er zusammen mit Soldaten und Zivilisten auf einen der Helikopter zurannte. Das riesige Flugfeld neigte sich immer mehr. So groß war es, dass der Eindruck entstand, nicht das Schiff, sondern die aufgewühlte, schaumbedeckte See habe sich schräg gestellt.
»Wir sehen uns später!«, rief Shankar. »Du kommst mit dem nächsten Vogel raus.«
Crowe sah ihm hinterher, wie er die Rampe hinauflief, die unter dem Schwanz des Super Stallion ins Innere führte. Eisiger Wind peitschte ihr ins Gesicht. Wie es aussah, verlief die Evakuierung einigermaßen geordnet. Auch gut. Sie musste sich eben noch gedulden.
Ihr Blick wanderte umher. Wo waren überhaupt die anderen? Leon, Sigur, Karen … Waren sie schon von Bord? Ein beruhigender Gedanke. Hinter Shankar schloss sich die Klappe. Die Rotoren begannen sich schneller zu drehen.
Knapp 30 Meter unterhalb des Flugdecks drückte das eingedrungene Meerwasser gegen die Schotts der bugwärts gelegenen Frachträume und der unteren Mannschaftsquartiere.
Die Schotts hielten.
Ein einzelner Torpedo trieb im Wasser. Bei der Explosion des Tauchboots war er abgesprengt worden, ohne zu detonieren. Solche Fälle ereigneten sich selten, aber es kam vor. Der Torpedo war in einem der überfluteten Laderäume auf ein Laufgitter hinabgesunken, das sich — halb aus seiner Verankerung gerissen — durch die Dunkelheit wand. Sacht rollte er darauf hin und her. Dabei rutschte er zentimeterweise nach vorn, der Neigung des Schiffes folgend.
Die Schotts hielten, aber das Laufgitter quietschte und ächzte unter dem Druck. Wo es noch festhing, bogen sich die Streben unter Hochspannung. Dünne Risse bildeten sich im Stahl der Wand. Eine der dicken Befestigungsschrauben löste sich langsam aus ihrer Verankerung und zog das Gewinde mit heraus …
Mit einem Knall war sie draußen.
Die Spannung entlud sich. Das Gitter schoss hoch, weitere Schrauben flogen heraus, die Wand brach ein. Der Torpedo erhielt einen Schlag, der ihn hoch katapultierte und direkt auf eine Stelle leitete, wo alles Mögliche aneinander grenzte, bugwärts gelegene Laderäume, darüber die riesigen Gemeinschaftsräume der Marines zur einen und zur anderen Seite das stillgelegte Fahrzeugdeck gleich unter dem Labor.
Es war eine der empfindlichsten Nahtstellen des Schiffs.
Die Sprengladung tat das Ihre.
»Nein«, sagte Peak. Er ließ die Torpedohülle fallen und richtete seine Pistole auf Li. »Das werden Sie nicht tun.«
Li stand unbewegt. Ihre Waffe zielte auf Anawak.
»Sal, es reicht mir allmählich mit Ihrer Renitenz«, zischte sie. »Benehmen Sie sich gefälligst nicht wie ein Idiot.«
»Waffe runter.«
»Verdammt, Sal! Ich bringe Sie vor ein Kriegsgericht, ich …«
»Bei drei erschieße ich Sie, Jude. Das schwöre ich. Sie werden nicht noch jemanden umbringen. Nehmen Sie Ihre Waffe runter. Eins … zwei …«
Li atmete heftig aus und senkte den Arm mit der Waffe.
»Ist ja gut, Sal. Ist ja gut.«
»Fallen lassen.«
»Warum reden wir nicht darüber und …«
»Fallen lassen!«
Ein Ausdruck unbeschreiblichen Hasses trat in Lis Augen. Die Waffe polterte zu Boden.
Anawak sah kurz zu Peak hinüber.
»Danke«, sagte er. Mit einem einzigen Satz erreichte er den Niedergang und verschwand darin. Li hörte ihn unten weiterlaufen. Die Schritte entfernten sich. Sie fluchte.
»General Commander Judith Li«, sagte Peak förmlich. »Ich enthebe Sie wegen Unzurechnungsfähigkeit Ihres Kommandos. Ab sofort stehen Sie unter meinem Befehl. Sie können …«
Es tat einen fürchterlichen Schlag. Entsetzliche Geräusche drangen aus der Tiefe. Das Schiff sackte wie ein abstürzender Fahrstuhl nach vorn, und Peak wurde von den Beinen gehebelt. Er schlug hart auf, rollte herum und kam wieder auf die Füße.
Wo war seine Waffe? Wo war Li?
»Sal!«
Er drehte sich um. Li kniete vor ihm. Sie hielt die Waffe auf ihn gerichtet.
Peak erstarrte.
»Jude.« Er schüttelte den Kopf. »Verstehen Sie doch …«
»Idiot«, sagte Li und drückte ab.
Crowe schwankte. Das Deck neigte sich noch stärker. Der Super Stallion rutschte mit laufenden Rotoren auf den davor geparkten Helikopter zu. Aufheulend hob er ab, versuchte Höhe zu gewinnen und von dem anderen Hubschrauber wegzukommen.
Crowes Atem stockte.
Nein, dachte sie. Das ist unmöglich. Das kann doch nicht sein. Nicht so kurz vor der Rettung.
Sie hörte Schreie um sich herum. Leute stürzten, andere liefen weg. Sie wurde mitgezerrt und fiel zu Boden. Im Liegen sah sie, wie der Super Stallion über den geparkten Helikopter hinwegstieg, wie eine der seitlichen Türkanonen das Leitwerk des anderen streifte und daran hängen blieb, wie sich der fliegende Koloss zu drehen begann.
Der Stallion geriet außer Kontrolle.
Sie sprang auf. In Panik begann sie zu rennen.
Buchanan glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
Er war unvermittelt gegen seinen Stuhl geschleudert worden, gegen diesen wunderbaren Captain’s Chair mit den bequemen Armlehnen und der Fußstütze, um den ihn alle beneideten, eine Mischung aus Barhocker, Schreibtischsessel und Captain Kirks Kommandostuhl, der jetzt zu nichts anderem mehr gut war, als dass er sich den Schädel daran blutig schlug. Auf der Brücke flog alles durcheinander. Buchanan hangelte sich hoch und stürzte zu den Seitenfenstern, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich der Super Stallion drehte und langsam auf die Seite legte.
Das Ding hing fest!
»Raus hier!«, schrie er.
Die Maschine drehte sich weiter. Um ihn herum trat das Brückenpersonal die Flucht an, unternahm hilflose Versuche, sich in Sicherheit zu bringen, während Buchanan nicht anders konnte, als weiter hinzuschauen, wie der festhängende Hubschrauber immer mehr auf die Seite kippte.
Plötzlich löste er sich und stieg empor.
Buchanan schnappte nach Luft. Einen Moment lang sah es so aus, als habe der Pilot die Kontrolle wiedererlangt. Dann erkannte er, dass die Schieflage zu stark war. Der Schwanz des 30 Meter langen Helikopters stieg steil in die Höhe, die Triebwerke heulten noch lauter, dann kam der Super Stallion herangesaust, mit den Rotoren voran.
Buchanan hielt die Hände vors Gesicht und wich zurück.
Es war lächerlich. Ebenso gut hätte er die Arme ausbreiten und sein Ende willkommen heißen können.
Über 33 Tonnen Gefechtsgewicht, betankt mit 9000 Litern Treibstoff, krachten in die Brücke und verwandelte den vorderen Teil der Insel augenblicklich in eine lodernde Hölle. Alle Fenster zersplitterten. Eine Feuerwalze schoss fauchend durch den Aufbau, verschmorte die Inneneinrichtung und brachte die Bildschirme zum Explodieren, sprengte Schotts aus ihren Verankerungen, erwischte die Fliehenden auf den Niedergängen, verbrannte sie zu Asche und setzte sich durch die Gänge im Inselinnern fort.
Crowe lief um ihr Leben.
Neben ihr schlugen brennende Trümmerteile auf. Sie rannte auf das Heck der Independence zu. Inzwischen war das Schiff so weit abgesackt, dass sie bergauf laufen musste, was ihr heftiges Keuchen entlockte: In den letzten Jahren war ihrer Lunge mehr Nikotin als Frischluft zugeführt worden.
Eigentlich hatte sie immer angenommen, irgendwann an Lungenkrebs zu sterben.
Sie stolperte und schlitterte über den Asphalt. Im Hochkommen sah sie den kompletten vorderen Teil der Insel in ledernen Flammen stehen. Auch der zweite Hubschrauber brannte. Menschen liefen als lebendige Fackeln über das Deck, bevor sie zusammenbrachen. Der Anblick war grauenhaft, und die damit verbundene Gewissheit, dass sie nun kaum noch eine Chance hatte, den Untergang der Independence zu überleben, war noch grauenhafter.
Heftige Detonationen ließen Glutbälle über der Insel aufsteigen. Das Feuer brüllte und tobte. Mitten hinein mischte sich ein lauter Knall, und dicht vor Crowes Füßen ging ein Funkenregen nieder.
Shankar war in dem Inferno ums Leben gekommen.
So wollte sie nicht sterben.
Sie sprang auf, lief weiter dem Heck zu, ohne die geringste Vorstellung, wie es dort weitergehen sollte.
Li fluchte.
Den ersten Torpedo hatte sie unter den Arm geklemmt, aber der zweite war irgendwo hingerollt. Entweder war er in den Niedergang gefallen oder weiter den Gang Richtung Bug gerollt.
Peak, das verdammte Arschloch!
Sie stieg über seinen Leichnam hinweg, während sie überlegte, ob ein Torpedo voller Gift reichen würde. Aber dann blieb ihr nur eine Chance. Vielleicht versagte der eine, vielleicht öffnete er sich nicht, um das Gift ins Wasser zu entlassen. Zwei waren auf alle Fälle besser.
Angestrengt spähte sie in den Gang.
Plötzlich hörte sie über sich ein gewaltiges Dröhnen. Diesmal erzitterte das Schiff noch stärker. Sie stürzte und rutschte auf dem Rücken den Flur hinunter. Was passierte jetzt wieder? Das Schiff flog in die Luft! Sie musste raus hier. Es ging nicht mehr alleine um den Auftrag, das Deepflight würde auch ihr Leben retten müssen. Der Torpedo entglitt ihr. »Scheiße!«
Sie griff danach, aber er rumpelte an ihr vorbei. Wären die Dinger mit Sprengstoff gefüllt gewesen, hätte es spätestens jetzt geknallt. Aber es war nur Flüssigkeit darin. Kein Sprengstoff, sondern Flüssigkeit, genug, um eine intelligente Rasse auszulöschen.
Sie spreizte Arme und Beine ab und versuchte, sich irgendwo zu verkeilen. Nach einigen Sekunden kam sie zur Ruhe. Ihr ganzer Körper schmerzte, als habe jemand mit Eisenstangen darauf eingeprügelt. Vielleicht sah man ihr nicht an, dass sie auf die fünfzig zuging, aber gerade fühlte sie sich wie hundert. Sie schob sich die Wand hoch und schaute sich um.
Auch der zweite Torpedo war verschwunden.
Sie hätte schreien können.
Die Geräusche aus dem Untergrund, die das eindringende Wasser verursachte, erklangen beunruhigend nahe. Lange würde es nicht mehr dauern. Von oben drang brodelnder Lärm.
Und Hitze.
Sie stutzte. Tatsächlich. Es war wärmer geworden.
Sie musste die Torpedos wieder finden.
Wild entschlossen stieß sie sich von der Wand ab und begab sich auf die Suche.
MacMillan, der Soldat, war dicht hinter ihnen gegangen, das Gewehr im Anschlag, als der Schlag das Labor erbeben ließ. Sie stürzten allesamt ins Wasser. Als Weaver wieder hochkam, krachte es über ihnen fürchterlich, als sei etwas Großes in die Luft geflogen.
Dann fiel das Licht aus.
Von einer Sekunde auf die andere starrte Weaver in tintige Schwärze.
»Sigur?«, rief sie.
Keine Antwort.
»MacMillan?«
»Ich bin hier.«
Sie spürte Grund unter den Füßen. Das Wasser stand ihr bis zur Brust. Verflucht, auch das noch! Sie waren fast schon bei einem der toten Soldaten gewesen.
Etwas stieß sacht gegen ihre Schulter. Sie griff danach. Ein Stiefel. Sie hielt einen Stiefel in der Hand, und in dem Schaft steckte ein Bein.
»Karen?«
Johansons Stimme, ganz nah. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Im nächsten Moment flammte rote Notbeleuchtung auf und verlieh dem Labor die Atmosphäre einer dämmrigen Vorhölle. Gleich neben sich sah sie schattenhaft Johansons Kopf und Schultern aus dem Wasser ragen.
»Komm rüber«, rief sie. »Hilf mir.«
Das dumpfe Dröhnen und Tosen drang jetzt nicht mehr nur von unten, sondern auch aus der Höhe herab. Was war da los? Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass es wärmer wurde im Labor. Johanson erschien an ihrer Seite.
»Wer ist es?«
»Egal. Pack mit an.«
»Wir müssen hier raus«, keuchte MacMillan. »Schnell.«
»Ja, sofort, wir …«
»Schnell!«
Weavers Blick fiel auf eine Stelle weiter hinten im Wasser.
Schwaches, blaues Leuchten.
Ein Lichtblitz.
Sie packte den Fuß des Toten fester und kämpfte sich durch das Wasser in Richtung Tür. Johanson hatte den Arm des Mannes umfasst. Oder war es eine Frau? Hatten sie am Ende Oliviera erwischt? Weaver hoffte inständig, dass es nicht die arme Sue war, die sie da mit sich schleppten. Sie drängte vorwärts, trat auf etwas, das zur Seite wegrutschte, und geriet mit dem Kopf unter Wasser.
Mit offenen Augen starrte sie in die Schwärze.
Etwas schlängelte sich auf sie zu.
Es kam sehr schnell näher und sah aus wie ein langer, leuchtender Aal. Nein, kein Aal. Eher ein riesiger, kopfloser Wurm. Und da waren noch mehr von den Dingern.
Sie tauchte auf.
»Weg hier.«
Johanson zerrte an der anderen Seite. Unter der Wasseroberfläche waren die leuchtenden, ausschwärmenden Tentakel zu sehen, jetzt mindestens ein Dutzend. MacMillan hob das Gewehr. Weaver spürte, wie etwas ihren Knöchel entlang glitt und plötzlich daran zerrte.
Im nächsten Moment umschlangen sie mehrere der Dinger und krochen an ihr hoch. Sie versuchte das Zeug abzureißen. Johanson sprang hinzu und grub seine Finger zwischen die Tentakel und ihren Körper, aber es war, als stecke sie im Klammergriff einer Anaconda.
Das Wesen zog an ihr.
Das Wesen? Sie kämpfte gegen Milliarden von Wesen. Abermilliarden von Einzellern.
»Ich krieg’s nicht los«, keuchte Johanson.
Die Gallerte kroch über ihre Brust und ihren Hals entlang. Weaver geriet erneut unter Wasser, das jetzt immer stärker leuchtete. Hinter den Tentakeln schob sich etwas Größeres heran. Die Hauptmasse des Organismus.
Mit aller Kraft kämpfte sie sich an die Oberfläche.
»MacMillan«, gurgelte sie.
Der Soldat hob das Gewehr.
»Damit richten Sie nichts aus«, schrie Johanson.
MacMillan schien plötzlich ganz ruhig geworden zu sein. Er legte an und zielte auf die große, näher rückende Masse.
»Damit richte ich was aus«, sagte er.
Ein trockenes Stakkato ertönte, als MacMillan feuerte.
»Explosivgeschosse richten immer was aus!«
Die Salve drang in den Organismus. Wasser spritzte auf. MacMillan schickte eine zweite Garbe hinterher, und das Ding flog in Fetzen auseinander. Brocken von Gallerte klatschten ihnen um die Ohren. Weaver rang nach Luft. Mit einem Mal war sie frei. Johanson packte zu. Wie verrückt zogen sie an dem Leichnam. Der Wasserspiegel sank, und sie kamen schneller voran. Nachdem sich das Schiff weiter nach vorn geneigt hatte, sammelte sich der Hauptteil des Wassers jetzt im bugwärtigen Teil des Labors, und die Tür lag beinahe im Trockenen. Es war schwierig, auf dem abschüssigen Boden nicht auszurutschen, aber plötzlich wateten sie nur noch durch knöchelhohes Wasser.
Sie wuchteten den Toten hinaus auf die Rampe. Auch dort war das Wasser zurückgegangen. Plötzlich glaubte Weaver einen erstickten Schrei zu hören.
»MacMillan?«
Sie spähte ins Labor. »MacMillan, wo sind Sie?«
Der leuchtende Organismus strebte wieder zusammen. Die Fetzen verschmolzen miteinander. Von den Tentakeln war nichts zu sehen. Das Wesen hatte eine flache Form angenommen.
»Schließ die Tür«, rief Johanson. »Es kann immer noch raus. Da ist immer noch genügend Wasser.«
»MacMillan?«
Weaver klammerte sich am Türrahmen fest und starrte weiter in den rot erleuchteten Raum, aber der Soldat blieb verschwunden.
MacMillan hatte es nicht geschafft.
Ein dünner, leuchtender Faden näherte sich. Sie sprang zurück und ließ das Schott zufahren. Der Faden beschleunigte sein Tempo, aber diesmal reichte es nicht. Die Tür schloss sich.
Anawak war auf dem Niedergang von der Explosion überrascht und heftig durchgeschüttelt worden. Das Atmen fiel ihm schwer, und sein Knie schmerzte. Er fluchte. Ausgerechnet das Knie, das ihm seit dem Absturz der Beaver genug Schwierigkeiten bereitete, hatte sich Vanderbilt ausgesucht, um dagegen zu treten.
Er fand verschiedene Niedergänge blockiert. Das Schiff lag jetzt sehr schräg. Der einzige Weg führte über die Rampe des Hangardecks, also lief er zurück und nahm eine andere Route nach oben, bis er hoch genug war, um auf die Rampe zu gelangen. Je höher er kam, desto heißer wurde es. Was war da oben los? Der Lärm verhieß nichts Gutes. Er stolperte aufs Hangardeck hinaus und sah dichten, schwarzen Rauch durch die offenen Tore ziehen.
Plötzlich glaubte er, jemanden um Hilfe rufen zu hören.
Er ging ein paar Schritte in den Hangar hinein.
»Ist da jemand?«, schrie er.
Die Sicht war schlecht. Gegen die schwarzen Schlieren konnte sich die fahlgelbe Deckenbeleuchtung kaum behaupten. Dafür war der Hilferuf jetzt deutlich zu hören.
Crowes Stimme!
»Sam?« Anawak rannte ein Stück in die Rußschwaden hinein.
Er horchte, aber der Hilferuf wiederholte sich nicht.
»Sam? Wo bist du?«
Nichts.
Er wartete noch einen Moment, dann drehte er um und rannte auf die Rampe. Zu spät merkte er, dass sie jetzt die Steilheit einer Sprungschanze hatte. Seine Beine knickten ein. Sich überschlagend, rasselte er abwärts und betete, dass wenigstens einige der Spritzen heil blieben. Ob seine Knochen heil bleiben würden, war zu bezweifeln. Aber nirgendwo knackte oder brach etwas. Als er endlich unten ankam, platschte er in Wasser, das seinen Aufprall dämpfte. Er schüttelte sich, kroch auf allen vieren hinaus und sah ein Stück weiter Weaver und Johanson, die einen Körper in Richtung Welldeck schleppten.
Ein dünner Wasserfilm bedeckte den Boden.
Das künstliche Hafenbecken! Es lief in den Gang hinein. Wenn sich die Independence noch weiter neigte, würde es diesen Bereich vollständig überfluten.
Sie mussten sich beeilen.
»Ich habe die Spritzen«, schrie er.
Johanson sah auf. »Wurde auch Zeit.«
»Wer ist das? Wen habt ihr da?« Anawak rappelte sich hoch, lief zu den beiden hinüber und warf einen Blick auf die Leiche.
Es war Rubin.
Am Ende des Dachs hockte Crowe und sah fassungslos zu, wie die Insel abbrannte.
Neben ihr lag ein zitternder, pakistanisch aussehender Mann. Er trug die Montur eines Kochs. Außer ihnen beiden war entweder niemand auf die Idee gekommen, sich hierher zu flüchten, oder niemandem war es gelungen. Der Mann keuchte und richtete sich auf.
»Wissen Sie was?«, sagte Crowe. »Das ist das Resultat der Auseinandersetzung intelligenter Rassen.«
Der Koch starrte sie an, als seien ihr Hörner gewachsen.
Crowe seufzte.
Sie war zu der Stelle gelaufen, unterhalb derer die Plattform des Steuerbordlifts lag. Dort gähnte der Durchlass ins Hangardeck. Ein paar Mal hatte sie hineingerufen, aber niemand hatte geantwortet.
Sie würden mit dem brennenden Schiff absaufen.
Wenn es irgendwo Rettungsboote gab, nützten sie wahrscheinlich wenig. Auf einem Helikopterträger ging man zuallererst davon aus, dass Menschen mit Fluggerät in Sicherheit gebracht wurden. Sollte es Rettungsboote geben, brauchte es wiederum jemanden, um sie aus ihren Verankerungen zu lösen und zu Wasser zu lassen. Aber alle diese Jemands waren in der Gluthölle verschwunden.
Schwarzer Qualm trieb zu ihnen herüber. Widerlicher, teeriger Qualm. Sie wollte in ihrer letzten Stunde nicht ein solches Zeug einatmen.
»Haben Sie eine Zigarette?«, fragte sie den Koch.
Sie erwartete, dass er sie nun für vollkommen verrückt erklären würde, aber stattdessen kramte er ein Päckchen Marlboro und ein Feuerzeug hervor.
»Lights«, sagte er.
»Oh? Wegen der Gesundheit?« Crowe lächelte und paffte, während der Koch ihr Feuer gab. »Sehr vernünftig.«
»Wir spritzen ihm das Zeug unter die Zunge, in die Nase, in Augen und Ohren«, sagte Weaver.
»Warum gerade dahin?«, fragte Anawak.
»Weil es da am besten wieder austreten kann, dachte ich.«
»Dann spritz es ihm auch gleich unter die Fingernägel. Und nimm die Fußnägel dazu. Am besten überallhin. Je mehr, desto besser.«
Das Welldeck war verlassen, das technische Personal offenbar geflohen. Sie hatten Rubin bis auf die Unterhose ausgezogen, alles in fliegender Hast, während Johanson Anawaks Spritzen mit dem extrahierten Pheromon füllte. Bis auf eine waren alle ganz geblieben. Rubin lag oberhalb des künstlichen Gestades. Das Wasser dort stand nur wenige Zentimeter hoch, aber es stieg. Vorsichtshalber hatten sie die Gallertfetzen, unter denen ein Teil seines Kopfes verschwunden war, aufs höher gelegene Trockene geworfen. Etwas davon hing noch in seinen Ohren. Anawak pulte es heraus.
»Ihr könnt es ihm auch in den Arsch spritzen«, sagte Johanson. »Wir haben genug davon.«
»Glaubst du, es funktioniert?«, fragte Weaver zweifelnd.
»Das bisschen, was er von den Yrr noch in sich hat, dürfte kaum in der Lage sein, annähernd so viel Phermonon zu produzieren, wie wir ihm verabreichen. Wenn sie überhaupt auf den Trick reinfallen, werden sie denken, es stammt von ihm.« Johanson ging in die Hocke. Er hielt ihnen eine Hand voll gefüllter Spritzen hin. »Wer will?«
Weaver spürte Abscheu in sich aufsteigen.
»Nicht alle so laut Hier schreien«, sagte Johanson. »Leon?«
Schließlich machten sie es gemeinsam. So schnell es ging, pumpten sie Rubin voll mit Pheromonlösung, bis er fast zwei Liter davon in sich hatte. Wahrscheinlich lief die Hälfte schon wieder heraus.
»Das Wasser ist gestiegen«, bemerkte Anawak.
Weaver horchte. Unvermindert quietschte und jaulte es überall im Schiff.
»Wärmer geworden ist es auch.«
»Ja, weil das Deck abfackelt.«
»Los.« Weaver griff Rubin unter die Achseln und zog ihn hoch. »Bringen wir’s hinter uns, bevor Li hier aufkreuzt.«
»Li? Ich dachte, die hat Peak außer Gefecht gesetzt«, sagte Johanson.
Anawak warf ihm einen Blick zu, während sie Rubins Leichnam ins Welldeck schleppten. »Glaubst du dran? Du kennst sie doch. Die setzt man so leicht nicht außer Gefecht.«
Li tobte.
Immer wieder rannte sie in den Gang hinein, schaute in offene Türen. Irgendwo musste dieser verdammte Torpedo doch sein! Sie sah nur nicht richtig hin. Mit Sicherheit lag er direkt vor ihrer Nase.
»Such, du blöde Kuh«, schalt sie sich. »Zu blöde, um eine Röhre zu finden. Blöde Kuh. Verblödete Schlampe!«
Unvermittelt gab der Boden wieder unter ihr nach. Sie taumelte und hielt sich fest. Da waren weitere Schotts gebrochen. Der Gang neigte sich noch mehr ab. Die Independence lag jetzt so schräg, dass wahrscheinlich bald die ersten Wellen über die bugwärtige Kante des Flugdecks lecken würden.
Lange konnte es nicht mehr dauern.
Plötzlich sah sie den Torpedo.
Er war hinter einem offenen Durchgang hervorgekollert. Li stieß ein Triumphgeheul aus. Sie sprang hinzu, packte die Röhre und rannte den Flur hinauf zum Niedergang. Peaks Leiche hing halb darin. Sie zerrte den schweren Körper heraus und kletterte die Stiege hinab, sprang die letzten zwei Meter und hielt sich am Geländer fest, um nicht der Länge nach hinzuschlagen.
Dort lag der zweite Torpedo.
Jetzt geriet sie in Hochstimmung. Der Rest würde ein Kinderspiel sein. Sie lief weiter und stellte fest, dass es so kinderleicht nicht war, weil einige der Niedergänge durch Gegenstände blockiert waren. Sie frei zu räumen, würde zu lange dauern.
Wie kam sie hier heraus?
Sie musste zurück. Wieder nach oben und raus aufs Hangardeck, um den Weg über die Rampe zu nehmen.
Rasch, die beiden Torpedos an sich gedrückt wie ihren kostbarsten Besitz, machte sie sich an den Aufstieg.
Rubin war ein schwerer Brocken. Nachdem sie in ihre Neoprenanzüge geschlüpft waren — Johanson unter Ächzen und Stöhnen —, schleppten sie ihn mit vereinten Kräften den Steuerbordpier hoch. Das Deck bot einen absurden Anblick. Zu beiden Seiten ragten die Piers wie Sprungschanzen in die Höhe. Der Plankenboden wurde sichtbar, wo er gegen das Heckschott stieß. Inzwischen hatte ein großer Teil des Beckenwassers die vier vertäuten Zodiacs hoch gedrückt und war in den Gang zum Laboratorium geflossen. Anawak lauschte dem Ächzen des Stahls und fragte sich, wie lange die Konstruktion der Belastung noch standhalten mochte.
Schräg hingen die drei Tauchboote von der Decke. Deepflight 2 war an die Stelle des verloren gegangenen Deepflight 1 gerückt, die beiden anderen Boote hatten aufgeschlossen.
»Mit welchem will Li runter?«, fragte Anawak.
»Deepflight 3«, sagte Weaver.
Sie nahmen die Funktionen des Kontrollpults in Augenschein und probierten nacheinander verschiedene Schalter. Nichts tat sich.
»Es muss funktionieren.« Anawaks Blick wanderte über die Konsole. »Roscovitz hat gesagt, das Welldeck verfüge über einen eigenen, unabhängigen Stromkreis.« Er beugte sich tiefer über das Pult und las die Aufschriften genauer. »Da ist es. Das ist die Funktion, um sie runterzulassen. Gut, ich will Deepflight 3. Dann kann Li nichts mehr damit anrichten, wenn sie hier noch erscheint.«
Weaver setzte den Hebezug in Gang, aber statt des mittleren Tauchboots senkte sich das vordere ab.
»Kannst du nicht Deepflight 3 …? «
»Doch, es gibt wahrscheinlich einen Trick, aber ich kenne ihn nicht. Bei mir kommen sie nacheinander runter.«
»Spielt keine Rolle«, sagte Johanson nervös. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Nimm Deepflight 2.«
Sie warteten, bis das Boot auf Pierhöhe schwebte. Weaver sprang hinüber und öffnete die Hauben der beiden Liegeröhren. Rubins Körper schien unglaublich schwer geworden zu sein, als sie ihn auf das Boot zerrten, durchzogen von Nässe und dem Zeug, das sie hineingespritzt hatten. Sein Kopf baumelte hin und her, die Augen starrten milchig ins Nichts. Gemeinsam zerrten und schoben sie die Leiche, bis Rubin in die Röhre des Copiloten plumpste.
Jetzt also war es so weit.
Sein Traum vom Eisberg. Er hatte gewusst, dass es ihn irgendwann nach unten ziehen würde. Der Eisberg würde schmelzen, und er würde hinabsinken zum Grund des unbekannten Ozeans …
Um wen zu treffen?
»Du fährst nicht, Leon.«
Anawak hob überrascht den Kopf. »Wie meinst du das?«
»So, wie ich’s sage.« Einer von Rubins Füßen schaute noch raus. Weaver trat dagegen. Sie fand es schrecklich, so rüde mit dem Toten umzugehen, auch wenn Rubin ein Verräter gewesen war. Aber Pietät konnten sie sich im Augenblick nicht leisten. »Ich werde runtergehen.«
»Was? Wieso auf einmal?«
»Weil es richtiger ist.«
»Nein, auf keinen Fall.« Er fasste sie bei den Schultern.
»Karen, das kann tödlich ausgehen, das ist …«
»Ich weiß, wie es ausgehen kann«, sagte sie leise. »Wir haben alle keine sonderlich große Chance, aber eure ist größer. Ihr nehmt die Boote und wünscht mir Glück, okay?«
»Karen! Warum?«
»Du willst unbedingt Gründe hören, was?«
Anawak starrte sie an.
»Darf ich kurz anmerken, dass wir Zeit verlieren«, drängte Johanson. »Warum bleibt ihr nicht beide oben, und ich gehe?«
»Nein.« Weaver sah Anawak unverwandt an. »Leon weiß, dass ich Recht habe. Ein Deepflight steuere ich mit links, darin bin ich euch beiden überlegen. Ich war mit der Alvin am Atlantischen Rücken, Tausende von Kilometern tief. Ich kenne mich besser mit Tauchbooten aus als jeder andere hier, und …«
»Unsinn«, rief Anawak. »Ich kann das Ding ebenso gut fliegen.«
»… außerdem ist das da unten meine Welt. Die tiefe blaue See, Leon. Seit ich klein war. — Seit meinem zehnten Lebensjahr.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Weaver legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Ich fliege.«
»Du fliegst«, flüsterte er.
»Okay.« Sie schaute sich um. »Ihr öffnet die Schleuse und lasst mich runter. Keine Ahnung, was passiert, wenn der Durchlass einmal offen ist. Vielleicht werden uns die Yrr direkt angreifen, vielleicht passiert gar nichts. Denken wir positiv. Nachdem ich mich ausgeklinkt habe, wartet ihr eine Minute, sofern die Lage es erlaubt, und flieht mit dem zweiten Boot. Kommt mir nicht nach. Bleibt einfach dicht unter den Wellen und seht zu, dass ihr Abstand zum Schiff gewinnt. Ich werde vielleicht sehr tief tauchen müssen. Später dann …« Sie machte eine Pause. »Na ja, irgendjemand wird uns schon auffischen, oder? Die Dinger haben Satellitensender an Bord.«
»Mit zwölf Knoten brauchst du zwei Tage und zwei Nächte bis Grönland oder Svalbard«, sagte Johanson. »Dafür reicht nicht mal der Sprit.«
»Wird schon schief gehen.«
Sie fühlte ihr Herz schwer werden. Schnell drückte sie Johanson an sich. Sie dachte daran, wie sie gemeinsam dem Tsunami auf den Shetlands entgangen waren.
Sie würden sich wieder sehen!
»Tapferes Mädchen«, sagte Johanson.
Dann nahm sie Anawaks Gesicht in beide Hände und gab ihm einen langen, festen Kuss auf den Mund. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Sie hatten so wenig miteinander gesprochen, so wenig von dem getan, was das Beste für sie beide war …
Jetzt bloß nicht sentimental werden.
»Mach’s gut«, sagte Anawak leise. »Spätestens in ein paar Tagen sind wir wieder zusammen.«
Mit einem Sprung war sie in der Pilotenröhre. Das Deepflight schwankte leicht. Sie legte sich auf den Bauch, kroch in die richtige Position und betätigte die Verriegelung. Langsam sanken die beiden Kuppeln herab und schlossen sich. Sie überflog die Instrumente. Alles sah intakt aus.
Weaver reckte den Daumen.
Johanson trat ans Kontrollpult, öffnete die Schleuse und setzte das Boot in Bewegung. Sie sahen zu, wie das Deepflight absank und die Stahlschotts auseinander fuhren. Dunkle See erschien. Nichts bahnte sich seinen Weg ins Innere. Weaver entriegelte von innen die Arretierung, um das Boot freizugeben. Es klatschte auf und versank. Eingeschlossene Luft schimmerte in den Glaskuppeln. Nacheinander verblassten die Farben, begannen die Umrisse zu verschwimmen, bis das Boot nur noch ein Schatten war.
Dann verschwand es.
Anawak fühlte einen Stich.
Die Heldenrollen in dieser Geschichte sind bereits verteilt, und es sind Rollen für Tote. Du gehörst in die Welt der Lebenden.
Greywolf!
Vielleicht brauchst du einen Mittler, der dir verrät, was der Vogelgeist sieht.
Greywolf war der Mittler gewesen, von dem Akesuk gesprochen hatte. Greywolf hatte ihm seinen Traum erklärt, und er hatte ihn richtig gedeutet. Der Eisberg war geschmolzen, aber Anawaks Weg führte nicht in die Tiefe, sondern ans Licht.
Er führte in die Welt der Lebenden.
Zu Crowe.
Anawak schrak zusammen. Natürlich! Wie hatte er so beschäftigt sein können mit seiner heldenhaften Aufopferung, dass ihm entgangen war, welche Aufgabe an Bord der Independence auf ihn wartete?
»Und jetzt?«, fragte Johanson.
»Plan B.«
»Soll heißen?«
»Ich muss nochmal nach oben.«
»Bist du verrückt? Wozu?«
»Ich will Sam finden. Und Murray.«
»Da ist niemand mehr«, sagte Johanson. »Das Schiff dürfte vollständig evakuiert sein. Sie waren beide im CIC, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Wahrscheinlich sind sie gleich als Erste rausgeflogen worden.«
»Nein.« Anawak schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht Sam. Ich habe sie um Hilfe rufen hören.« »Was? Wann?«
»Bevor ich zu euch runterkam. — Sigur, ich will dir nicht mit meinen Problemen auf die Nerven gehen, aber ich habe ein paar Mal zu oft weggesehen im Leben. Es hat sich einiges geändert. So bin ich nicht mehr. Verstehst du? Ich kann das nicht ignorieren.«
Johanson lächelte.
»Nein. Das kannst du nicht.«
»Pass auf! Ich unternehme einen einzigen Versuch. In der Zeit lässt du Deepflight 3 herunter und machst es startklar. Sofern ich Sam nicht innerhalb der nächsten paar Minuten finde, komme ich zurück, und wir hauen hier ab.«
»Und falls du sie findest?«
»Haben wir immer noch Deepflight 4, um uns alle rauszubringen.«
»In Ordnung.«
»Wirklich in Ordnung?«
»Natürlich.« Johanson breitet die Hände aus. »Worauf wartest du noch?«
Anawak zögerte. Er biss sich auf die Lippen. »Und wenn ich in fünf Minuten nicht hier bin, verschwindest du ohne mich. Klar?«
»Ich werde warten.«
»Nein. Du wartest fünf Minuten. Maximal.«
Sie umarmten sich. Anawak lief den Pier hinab. Wo der Tunnel zum Labortrakt begann, war alles überflutet, aber noch schien sich die Independence in einigermaßen stabiler Lage zu halten. Das Schiff hatte sich während der letzten Minuten nicht weiter nach vorn geneigt.
Wie lange noch, dachte Anawak. Wasser schwappte gegen seine Knöchel. Er ging tiefer hinein, kraulte ein Stück, bekam Boden unter die Füße und watete ein paar Meter, bevor es wieder abschüssig wurde. Näher zur Hangarrampe neigte sich die Decke dem Wasserspiegel zu, aber es blieben immer noch einige Meter Luft. Anawak schwamm an der verschlossenen Labortür vorbei bis zum Knick und spähte hinauf. Wahrend Teile der Rampe inzwischen ebenen Boden bildeten, waren andere sehr steil geworden. Der Abschnitt zum Hangardeck ragte düster empor. Hoch oben hing eine dunkle Rauchglocke. Er würde auf allen vieren hinaufkriechen müssen. Ihm war kalt, trotz des Neoprenanzugs. Selbst wenn sie es schafften, mit dem Tauchboot wegzukommen, war das noch keine Garantie dafür, die Sache zu überleben.
Doch. Er musste überleben! Er musste Karen Weaver wiedersehen.
Entschlossen machte er sich an den Aufstieg.
Es ging einfacher, als er befürchtet hatte. Der Stahl der Rampe war geriffelt, um den Fahrzeugen und den marschierenden Marines, für die sie gedacht war, Halt zu bieten. Anawaks Finger klammerten sich ins Relief. Stück für Stück zog er sich hoch, verkeilte die Stiefel in den Streben, packte zu. Nach oben hin erhöhte sich die Temperatur, und er fror weniger. Dafür legte sich klebriger Rauch auf seine Lungen und saugte das letzte bisschen Atemluft heraus. Je höher er kam, desto undurchdringlicher wurden die Rauchschwaden. Vom Flugdeck drang wieder das brüllende Geräusch an seine Ohren.
Crowe hatte um Hilfe gerufen, als es bereits brannte. Wenn sie den Ausbruch des Feuers überlebt hatte, lebte sie vielleicht immer noch.
Keuchend zog er sich die letzten paar Meter hoch und stellte zu seiner Überraschung fest, dass die Sicht im Hangar besser war als auf der Rampe. Im Tunnel sammelte sich der Rauch, hier sorgten die Durchgänge der Außenlifts für Zirkulation. Sie brachten den Qualm ins Innere und ließen ihn zugleich wieder entweichen. Es war heiß und stickig wie in einem Backofen. Anawak presste den Jackenärmel vor Mund und Nase und rannte ins Hangardeck hinein.
»Sam!«, schrie er.
Keine Antwort. Was hatte er erwartet? Dass sie mit ausgestreckten Armen auf ihn zugelaufen kam?
»Sam Crowe! Samantha Crowe!«
Er musste wahnsinnig sein.
Aber besser wahnsinnig als zu Lebzeiten tot. Greywolf hatte Recht gehabt. Er war wie ein lebender Toter durch die Welt gegangen. Diese Art Wahnsinn hier hatte tausendmal mehr zu bieten.
»Sam!«
Johanson war allein.
Er zweifelte nicht daran, dass Floyd Anderson ihm ein paar Rippen gebrochen hatte. Zumindest fühlte es sich ganz so an. Jede Bewegung schmerzte höllisch. Als sie Rubins Leiche geborgen und ins Tauchboot verfrachtet hatten, hätte er mehrfach laut schreien können, aber er hatte die Zähne zusammengebissen, um nicht zum Problem zu werden.
Allmählich fühlte er seine Kräfte nachlassen.
Er dachte an den Bordeaux in seiner Kabine. Was für eine Schande! Gerade jetzt hätte ihm ein Glas davon geschmeckt. Es hätte zwar nicht die Rippenbrüche geheilt, aber der ganzen leidigen Angelegenheit eine erträglichere Note verliehen. Eben recht, um mit sich selber anzustoßen, denn außer ihm schien kein Genießer mehr am Leben zu sein. Überhaupt hatte von den vielen wunderbaren und widerwärtigen Menschen, die er in den letzten Wochen kennen gelernt hatte, kaum einer seinen ausgeprägten Sinn für das Schöne geteilt.
Wahrscheinlich war er doch ein Dinosaurier.
Ein Saurus Exquisitus, dachte er, während er das Deepflight 3 auf Pierhöhe absenkte.
Das gefiel ihm. Saurus Exquisitus. Genau das war er. Ein Fossil, das es genoss, Fossil zu sein. Fasziniert von Zukunft und Vergangenheit, die sich allzu oft mischten, sodass man oft gar nicht mehr wusste, in welchem Zeitalter man gerade lebte, weil Vergangenes und Zukünftiges gleichermaßen die Phantasie beflügelte.
Bohrmann …
Der Deutsche hätte einen guten Bordeaux zu schätzen gewusst. Sonst niemand. Sue Oliviera hatte Spaß daran gefunden, aber ebenso gut hätte er ihr etwas halbwegs Trinkbares aus dem Supermarkt vorsetzen können. Wer aus dem Chateau-Disaster-Team war schon kultiviert genug, einen trinkreifen Pomerol zu schätzen, außer vielleicht …
Judith Li.
Er versuchte, ein letztes Mal den Schmerz in seinen Rippen zu ignorieren, sprang auf das Deepflight, stöhnte und blieb mit zitternden Knien in der Aufrechten. Dann hockte er sich hin, öffnete die Klappe mit der Verschlussmechanik und entriegelte die Hauben.
Langsam fuhren sie hoch und stellten sich senkrecht. Die beiden Röhren lagen offen vor ihm.
»Alles einsteigen«, trompetete er.
Bizarr! Einsam balancierte er im schräg stehenden Welldeck auf einem Tauchboot. An was für Gestade einen das Leben doch verschlug. Judith Li?
Eher hätte er die Flaschen in die Grönländische See entleert. Man konnte dem Schönen auch gerecht werden, indem man es bestimmten Menschen vorenthielt.
Außer Atem erreichte sie das Hangardeck.
Alles war verdunkelt von schwarzem Rauch. Sie versuchte etwas in den Schwaden zu erkennen und meinte, weit hinten eine Gestalt zu erblicken, die dort auf— und ablief.
Dann hörte sie es: »Sam! Sam Crowe!«
War das Anawak, der schrie?
Einen Moment lang zögerte sie. Aber was brachte es jetzt noch, Anawak auszuschalten? Jeden Augenblick konnten die letzten Schotts im Bug nachgeben. Das Schiff konnte auseinander brechen. Wenn es einmal so weit war, würden die Independence sinken wie ein Stein.
Sie lief zur Rampe und sah in ein rauchverhangenes Loch. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Li war weder ängstlich noch fühlte sie sich von dem Abstieg überfordert, aber sie fragte sich, wie sie mit den beiden Torpedos da runterkommen sollte. Wenn sie die Dinger noch einmal verlor, würden sie irgendwo im dunklen Wasser landen.
Sie stellte die Füße quer und begann, Schritt für Schritt die Rampe hinunterzusteigen. Es war dunkel und bedrückend. Das Schlimmste war der Rauch, in dem sie zu ersticken glaubte. Mit hohlem Klonk trafen ihre Stiefelsohlen auf den geriffelten Stahl.
Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, fiel auf den Hintern und streckte die Beine aus. In rasender Fahrt ging es abwärts. Krampfhaft umklammerte sie die beiden Torpedos, spürte schmerzhaft die raue Oberfläche der Rampe und die Streben, die ihr ins Kreuz hämmerten, überschlug sich und sah schwarzes Wasser auf sich zustürzen.
Es spritzte nach allen Seiten. Der Untergrund wich zurück. Li wurde herumgewirbelt, tauchte auf und schnappte nach Luft.
Sie hatte die Röhren nicht losgelassen!
Dumpfes Jammern erscholl aus den Tunnelwänden. Sie stieß sich ab und schwamm geräuschlos in den Trakt hinein, um die Biegung herum und auf das Welldeck zu. Das Wasser war temperiert, es musste aus dem Becken stammen. Im Tunnel war das Licht ausgefallen, aber das Welldeck verfügte über ein eigenes Versorgungssystem. Weiter vorne wurde es heller. Im Näherkommen erkannte sie die schräg aufsteigenden Piers, die Heckverschlussklappe, die jetzt drohend über dem künstlichen Hafenbecken hing, die zwei Tauchboote, von denen eines auf Pierhöhe schwebte.
Zwei Boote?
Deepflight 2 war verschwunden.
Und auf Deepflight 3 turnte, bekleidet mit einem Neoprenanzug, Johanson herum.
Crowe hielt es nicht mehr aus.
Der pakistanische Koch hatte zwar Zigaretten, aber darüber hinaus war er keine große Hilfe. Er saß jammernd und zusammengekauert an der Heckkante und war nicht in der Lage, Pläne zu machen. Genau genommen sah sich Crowe ebenso wenig dazu imstande, weil sie schlicht nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Ratlos starrte sie auf die tosenden Flammen. Aber den Gedanken aufzugeben, hasste sie aus tiefstem Herzen. Für jemanden, der Jahre und Jahrzehnte ins Weltall gehorcht hatte in der Hoffnung, Signale einer fremden Intelligenz zu empfangen, nahm sich der Gedanke an Aufgeben absurd aus. Er gehörte einfach nicht ins Repertoire.
Plötzlich gab es einen donnernden Knall. Über der Insel breitete sich eine riesige Glutwolke aus, in der es blitzte und knatterte wie von einem Feuerwerk. Eine Welle heftiger Vibrationen erfasste das Deck, dann rasten aus dem Inferno Flammenfontänen auf sie zu.
Der Koch stieß einen Schrei aus. Er sprang auf, machte einen Satz zurück, taumelte und kippte über die Kante. Crowe versuchte, seine ausgestreckten Hände zu fassen. Eine Sekunde hielt der Mann das Gleichgewicht, das Gesicht von Todesangst verzerrt, wankte und stürzte schreiend in die Tiefe. Sein Körper schlug auf die schräg stehende Heckklappe, dann wurde er darüber hinweggetragen und entzog sich Crowes Blicken. Das Schreien brach ab. Sie hörte ein Aufklatschen, wich entsetzt von der Kante zurück und wandte den Kopf.
Sie stand inmitten von Flammen. Um sie herum brannte der Asphalt. Es war unerträglich heiß. Einzig die Steuerbordseite war von dem feurigen Regen verschont geblieben. Jetzt fühlte sie erstmals wahre Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in sich aufsteigen. Die Situation war aussichtslos. Sie konnte es hinauszögern, aber ändern konnte sie es nicht.
Die Hitze zwang sie zum Zurückweichen. Sie lief zur Steuerbordseite und daran entlang.
Dort war die Anschlussstelle für den Außenlift.
Was sollte sie bloß tun?
»Sam!«
Jetzt suchten sie schon Halluzinationen heim! Hatte da jemand ihren Namen gerufen? Unmöglich.
»Sam Crowe!«
Nein, sie halluzinierte nicht. Jemand rief ihren Namen.
»Hier!«, schrie sie. »Ich bin hier!«
Mit aufgerissenen Augen sah sie sich um. Wo war die Stimme hergekommen? Sie sah niemanden auf dem Flugdeck.
Dann begriff sie.
Vorsichtig, um nicht herunterzufallen, beugte sie sich über die Kante. Die Luft hing voller Ruß, aber dennoch sah sie deutlich die schräg stehende Plattform des Außenlifts unter sich.
»Sam?«
»Hier! Hier oben!«
Sie schrie sich die Seele aus dem Leib. Plötzlich kam jemand auf die Plattform hinausgelaufen und legte den Kopf in den Nacken.
Es war Anawak.
»Leon!«, rief sie. »Ich bin hier!«
»Mein Gott, Sam.« Er starrte zu ihr hinauf. »Warte. Bleib da, ich komme dich holen.«
»Wie denn, Junge?«
»Ich komme rauf.«
»Es gibt kein Raufkommen mehr«, rief Crowe. »Hier brennt alles lichterloh. Die Insel, das Flugdeck. Wir haben hier ein flammendes Inferno, dass die Hollywood-Version ein müder Scheiß dagegen ist.«
Anawak lief aufgeregt hin und her.
»Wo ist Murray?«
»Tot.«
»Wir müssen weg, Sam.«
»Danke, dass du mich drauf aufmerksam machst.«
»Bist du sportlich?«
»Was?«
»Kannst du springen?«
Crowe starrte hinab. Sportlich! Du liebe Güte. Das war sie mal gewesen. Irgendwann in einem Leben, bevor die Zigaretten erfunden wurden. Und das da waren mindestens acht Meter, vielleicht zehn. Zu allem Überfluss hatte die Neigung aus der Plattform eine Rutschbahn gemacht.
»Ich weiß nicht.«
»Ich auch nicht. Hast du eine bessere Idee, die innerhalb der nächsten zehn Sekunden funktionieren könnte?« »Nein.« »Ich kann uns mit dem Tauchboot rausbringen.«
Anawak breitete die Arme aus. »Spring endlich! Ich fange dich auf.« »Vergiss es, Leon. Am besten gehst du zur Seite.« »Halt keine Volksreden. Spring!«
Crowe warf einen letzten Blick über ihre Schulter. Die Flammen rückten näher. Sie griffen nach ihr, züngelten hungrig heran.
Kurz schloss sie die Augen und öffnete sie wieder.
»Ich komme, Leon!«
Wo zum Teufel blieb Anawak? Johanson hockte auf dem sacht hin und her schaukelnden Tauchboot und sah hinab. Im dunklen Wasser der Schleuse war bis jetzt nichts aufgetaucht, was auf die unmittelbare Anwesenheit von Yrr schließen ließ. Wozu auch? Warum hätten sie noch angreifen sollen? Sie mussten nur abwarten, bis das Schiff gesunken war. Am Ende hatten die Yrr sogar die Independence kleingekriegt.
Die fünf Minuten waren um.
Im Grunde konnte er sich davonmachen. Es blieb immer noch ein Tauchboot zurück, um Anawak und Crowe herauszubringen.
Und Shankar?
Dann wären sie zu viert. Er konnte nicht weg. Wenn Anawak mit Crowe und Shankar kam, würden sie beide Boote brauchen.
Leise begann er Mahlers Erste Symphonie zu summen.
»Sigur!«
Johanson fuhr herum. Stechender Schmerz peitschte durch seinen Oberkörper und schnürte ihm die Luft ab. Direkt hinter dem Boot stand Li auf dem Pier und hielt eine Pistole auf ihn gerichtet. Neben ihr lagen zwei schlanke Röhren.
»Kommen Sie da runter, Sigur. Zwingen Sie mich nicht, Sie zu erschießen.«
Johanson packte den Seilzug, an dem das Deepflight aufgehängt war.
»Wieso zwingen? Ich dachte, Sie haben Spaß an so was.«
»Runter da.«
»Wollen Sie mir drohen, Jude?« Er lachte trocken, während seine Gedanken rasten. Er musste sie irgendwie hinhalten. Improvisieren. Bluffen, so gut es eben ging, bis Anawak kam. »Ich würde an Ihrer Stelle nicht abdrücken, sonst hat sich Ihre kleine Tauchfahrt erledigt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Das werden Sie dann schon sehen.«
»Reden Sie.«
»Reden ist langweilig. Kommen Sie, General Commander Li. Nicht so zimperlich. Erschießen Sie mich und finden Sie’s raus.«
Li zögerte. »Was haben Sie mit dem Boot angestellt, Sie verdammter Idiot?«
»Wissen Sie was? Ich sag’s Ihnen.« Johanson zog sich unter Mühen hoch. »Ich helfe Ihnen sogar, es wieder in Ordnung zu bringen, aber vorher werden Sie mir was erklären.«
»Dafür ist keine Zeit.«
»Tja. Wie dumm.«
Li funkelte ihn wutentbrannt an. Sie ließ die Waffe sinken. »Fragen Sie.«
»Sie kennen die Frage schon. — Warum?«
»Das fragen Sie ernsthaft?« Li schnaubte. »Strengen Sie doch mal Ihr hoch entwickeltes Hirn an. Was glauben Sie denn, wo die Welt ohne die Vereinigten Staaten von Amerika stünde? Wir sind der einzige verbliebene Stabilitätsfaktor. Es gibt nur ein einziges nachhaltiges Modell für den nationalen und internationalen Erfolg, das für jede Person in jeder Gesellschaft wahr und uneingeschränkt gültig ist, nämlich das amerikanische. Wir können der Welt nicht gestatten, das Problem der Yrr zu lösen. Wir können es den Vereinten Nationen nicht gestatten. Die Yrr haben der Menschheit großen Schaden zugefügt, aber sie halten auch ein ungeheures Potenzial an Wissen und Erkenntnissen bereit. In wessen Händen wollen Sie dieses Wissen sehen, Sigur?«
»In den Händen desjenigen, der am besten damit umgehen kann.«
»Ganz richtig.«
»Aber daran haben wir alle gearbeitet, Jude! Stehen wir nicht auf derselben Seite? Wir können zu einer Einigung mit den Yrr kommen. Wir können …«
»Begreifen Sie denn immer noch nicht? Die Möglichkeit einer Einigung ist uns verwehrt. Sie widerspricht den Interessen meines Landes. Wir, die Vereinigten Staaten, müssen an dieses Wissen gelangen, und zugleich müssen wir alles daransetzen, dass es niemand anderer erlangt. Es gibt keine Alternative, als die Welt von den Yrr zu befreien. Schon eine Koexistenz wäre das Eingeständnis unserer Niederlage, einer Niederlage der Menschheit, des Glaubens an Gott, des Vertrauens in unsere Vorherrschaft. Aber das Schlimmste an einer Koexistenz wäre, dass sie eine neue Weltordnung nach sich zöge. Vor den Yrr wären wir alle gleich. Jedes hoch technisierte Land könnte mit ihnen kommunizieren. Alle würden darauf spekulieren, Bündnisse mit ihnen zu schließen, in den Besitz ihrer Kenntnisse zu gelangen, sie am Ende vielleicht doch noch zu bezwingen. — Wem das gelänge, der würde fortan den Planeten beherrschen.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Ist Ihnen klar, was das bedeutet? Diese Rasse da unten verfügt über eine Biotechnologie, von der wir bis heute nicht einmal zu träumen wagten. Man kann nur auf biologischem Weg mit ihnen in Verbindung treten, also würde überall auf der Welt vollkommen legitim mit Mikroben herumexperimentiert. Dies können wir nicht zulassen. Es gibt keine Alternative, als die Yrr zu vernichten, und keine Alternative zu Amerika! Niemandem sonst dürfen wir das überlassen, nicht einmal den Waschlappen von der UNO, in der jeder Lump einen Platz und eine Stimme hat.«
»Sie sind doch nicht bei Trost«, sagte Johanson. Er musste husten. »Was sind Sie überhaupt für ein Mensch, Li?«
»Ich bin ein Mensch, der Gott liebt …«
»Sie lieben Ihre Karriere! Sie sind komplett größenwahnsinnig!«
»Und mein Land!«, schrie Li. »Woran glauben Sie denn? Ich kenne meinen Glauben. Nur den Vereinigten Staaten von Amerika kommt es zu, die Menschheit zu retten …«
»Um ein für alle Mal klarzustellen, wie die Rollen verteilt sind, was?«
»Na und? Immer will alle Welt, dass die USA den Drecksjob machen, und jetzt machen wir ihn eben! Und genau so ist es richtig! Wir dürfen nicht zulassen, dass die Welt das Wissen der Yrr untereinander aufteilt, also müssen wir sie vernichten und dieses Wissen bewahren. Danach werden wir endgültig die Geschicke des Planeten lenken, und kein Diktator und kein Regime, das uns nicht freundlich gesonnen ist, wird diese Vorherrschaft je noch einmal in Frage stellen können.«
»Was Sie vorhaben, ist die Vernichtung der Menschheit!«
Li fletschte die Zähne.
»Oh, diese Argumente kommen euch Wissenschaftlern ja so gut von den Lippen. Ihr habt nie daran geglaubt, dass man diesen Feind bezwingen kann, noch, dass seine Vernichtung unser Problem löst. Ihr bibbert und jammert nur rum, dass die Ausrottung der Yrr die Ökosysteme des Planeten zerstören könnte. Aber die Yrr zerstören ihn ja bereits! Sie rotten uns aus! Sollten wir also nicht lieber ein bisschen Schaden an der Umwelt in Kauf nehmen, wenn wir dadurch langfristig wieder zur vorherrschenden Rasse werden?«
»Sie sind die Einzige, die hier vorherrschen will, Sie arme Irre. Wie wollen Sie der Würmer Herr werden und verhindern, dass …«
»Wir vergiften erst die einen, dann die anderen. Sobald uns die Yrr nicht mehr im Wege stehen, haben wir unten freie Hand.«
»Sie vergiften die Menschheit!«
»Wissen Sie was, Sigur? In der Dezimierung der Menschheit liegt auch eine Chance. Eigentlich tut es dem Planeten doch ganz gut, wenn er insgesamt ein bisschen luftiger wird.« Lis Augen verengten sich. »Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg.«
Johanson rührte sich nicht. Er hielt sich am Seilzug fest und schüttelte langsam den Kopf.
»Das Boot ist nicht benutzbar«, sagte er.
»Ich glaube Ihnen kein Wort.«
»Dann müssen Sie’s wohl drauf ankommen lassen.«
Li nickte. »Das tue ich.«
Sie riss den Arm mit der Pistole hoch und schoss. Johanson versuchte auszuweichen. Er fühlte, wie die Kugel sein Brustbein durchschlug und ihn eine Welle aus Kälte und Schmerz überflutete.
Das Miststück hatte abgedrückt.
Sie hatte ihn erschossen.
Seine Finger lösten sich einer nach dem anderen vom Seilzug. Er wankte, versuchte etwas zu sagen, drehte sich und kippte bäuchlings in die Pilotenröhre.
Im Moment, als er Crowe springen sah, bezweifelte Anawak plötzlich, ob es gut gehen würde. Sie zappelte in der Luft und sprang viel zu weit links. Er hechtete zur Seite und rückwärts, breitete die Arme aus und hoffte, dass sie der Aufprall nicht beide ins Meer schleudern würde.
Für jemanden, der so zierlich war, traf sie ihn mit der Wucht eines heransausenden Omnibusses.
Anawak fiel auf den Rücken. Crowe lag auf ihm. Gemeinsam schlitterten sie die Schräge hinab. Er hörte sie schreien und sein eigenes Schreien dazu, versuchte mit aller Kraft, die Absätze gegen den Boden zu stemmen, während sein Hinterkopf über den Asphalt rumpelte. Es war das zweite Mal, dass er an diesem Tag unerfreuliche Bekanntschaft mit dem Außenlift machte, und er hoffte inständig, dass es das letzte Mal sein möge — so oder so.
Knapp vor der Kante kamen sie zum Stillstand.
Crowe starrte ihn an.
»Geht’s dir gut?«, fragte sie heiser.
»Mir ging’s nie besser.«
Sie rollte sich von ihm herunter, versuchte aufzustehen, verzog das Gesicht und fiel zurück. »Geht nicht«, sagte sie. Anawak sprang auf. »Was ist los?« »Mein Fuß. Der rechte Fuß.« Er kniete neben ihr nieder und betastete das Fußgelenk. Crowe stöhnte auf. »Ich glaube, er ist gebrochen.« Anawak hielt inne. Täuschte er sich, oder hatte sich das Schiff soeben wieder ein Stück vorgeneigt?
Die Plattform quietschte in ihren Laufschienen.
»Leg deinen Arm um meinen Nacken.«
Er half Crowe, sich aufzurichten. Wenigstens konnte sie auf einem Bein neben ihm herhüpfen. Umständlich gelangten sie ins Innere des Hangars. Man sah kaum die Hand vor Augen. Dafür war es noch abschüssiger geworden.
Wie sollen wir bloß über die Rampe kommen, dachte Anawak. Sie muss sich in den reinsten Steilhang verwandelt haben.
Plötzlich fühlte er Wut in sich aufsteigen.
Das hier war die Grönländische See. Der Hohe Norden. Er kam aus dem Hohen Norden. Ein Inuk. Hundert Prozent ein Inuk! Er war in der Arktis geboren worden und gehörte hierher. Aber er würde ganz gewiss nicht hier sterben, und Crowe auch nicht.
»Los«, sagte er. »Weiter.«
Li lief zum Kontrollpult. Viel zu viel Zeit verloren, dachte sie. Ich hätte mich nicht mit Johanson auf diesen unsinnigen Disput einlassen dürfen.
Sie ließ das Deepflight ein Stück hoch fahren und über den Pier schwenken, bis es dicht über ihr hing. Sofort sah sie die beiden freien Schächte. Die Panzerbrecher steckten in ihren Halterungen, die zwei kleineren Torpedos waren entfernt worden, um Platz für die giftgefüllten Röhren zu schaffen. Ausgezeichnet! Damit verfügte das Deepflight immer noch über eine stattliche Bewaffnung.
Schnell schob sie die Röhren in die Schächte und arretierte sie. Das System war perfekt durchgeplant.
Sobald sie abgeschossen wurden, etwa in die blaue Wolke, sorgte eine kleine Sprengkapsel dafür, dass der Giftstoff unter Hochdruck herausgespritzt wurde. Die Verteilung übernahm das Wasser, den Rest besorgten — unfreiwillig — die Yrr selber. Das war das Beste an dem Plan: Rubins Programmierter Zelltod. Einmal infiziert, würde das Kollektiv sich in einer wunderbaren Kettenreaktion selbst vernichten.
Rubin hatte gut gearbeitet.
Sie überprüfte ein letztes Mal die Arretierung, manövrierte das Deepflight zurück über die Schleuse und senkte es ab, bis es auf der Wasseroberfläche dümpelte. Keine Zeit mehr, Neoprenkleidung anzulegen. Sie musste eben aufpassen. Über die Steigleiter hastete sie nach unten, lief zum Boot und kletterte hinauf. Das Deepflight schaukelte. Ihr Blick fiel in die offene Pilotenröhre, und sie sah Johanson darin liegen, bewegungslos, mit dem Gesicht nach unten.
Dieser renitente Idiot. Warum hatte er nicht zur Seite kippen und in die Schleuse fallen können? Jetzt musste sie zu allem Überfluss seine Leiche loswerden.
Plötzlich fühlte sie ein gewisses Bedauern. Auf eine Weise hatte sie den Mann gemocht und bewundert.
Unter anderen Umständen vielleicht …
Ein Rumpeln ging durch das Schiff.
Nein, es war zu spät, ihn zu entsorgen. Und eigentlich spielte es auch keine Rolle. Das Boot ließ sich ebenso gut vom Platz des Copiloten aus steuern. Die Funktionen waren übertragbar. Unter Wasser konnte sie Johanson immer noch loswerden.
Irgendwo barst geräuschvoll Stahl.
Li kroch hastig in die Röhre und schloss die Hauben.
Simultan senkten sie sich herab und rasteten ein. Ihre Finger glitten über die Armaturen. Leises Summen erfüllte den Innenraum, Reihen von Lichtern und zwei kleine Monitore flammten auf. Alle Systeme waren in Bereitschaft. Ruhig lag das Deepflight über dem schwarzgrünen Wasser der Grönländischen See, bereit, durch den drei Meter dicken Schacht in die Tiefe zu sinken, und Li fühlte sich von Euphorie durchdrungen. Sie hatte es doch noch geschafft!
Johanson saß am See.
Still lag er vor ihm, voller Sterne. Wie sehr hatte er sich gewünscht, noch einmal dorthin zurückzukehren. Er blickte auf die Landschaft seiner Seele und war durchdrungen von Ehrfurcht und Glück. Seltsam körperlos fühlte er sich, ohne eine Empfindung von Kälte oder Wärme. Etwas war anders als sonst. Ihm schien, als sei er selber der See, das kleine, dahinter liegende Haus, der verschwiegene, schwarze Wald ringsum, die Geräusche im Unterholz, der gescheckte Mond, alles. Er war all das, und alles war in ihm.
Tina Lund.
Wie jammerschade. Wie bedauerlich, dass sie nicht hier war. Er hätte ihr diese Ruhe gegönnt, den tiefen Frieden. Aber sie war tot. Gestorben in einer gewaltigen Auflehnung der Natur gegen den schimmelartigen Befall von Zivilisation, der sich die Küsten entlang zog. Einfach hinweggewischt, so wie alles hinweggewischt worden war, nur nicht dieses Bild auf seiner Netzhaut. Der See war ewig. Diese Nacht würde kein Ende finden. Und dem Alleinsein würde sich wohl tuendes Nichts anschließen, der finale Genuss des Egoisten.
Wollte er das? Wollte er wirklich allein sein?
Einerseits, warum nicht? Das Alleinsein hatte eine Reihe unschätzbarer Vorzüge. Man teilte die wertvolle Zeit mit sich selber. Man lauschte in sich hinein und bekam erstaunliche Dinge zu hören.
Andererseits, wo verlief die Grenze zur Einsamkeit?
Plötzlich verspürte er Furcht.
Die Furcht schmerzte. Sie fraß sich in seine Brust, raubte ihm den Atem. Mit einem Mal war ihm kalt. Er begann zu schlottern. Die Sterne im See blähten sich zu roten und grünen Lichtern und gaben ein elektronisches Summen ab. Das ganze Bild verschwamm zu etwas Glänzendem, Eckigem, und er saß nicht mehr am See, war nicht mehr der See, sondern lag eingeengt in einem Tunnel, einem Rohr, einer Röhre.
Schlagartig kehrte sein Bewusstsein zurück.
Du bist tot, dachte er.
Nein, ganz tot war er nicht. Aber er spürte, dass ihm nur noch wenige Sekunden blieben. Er lag im Innern des Tauchboots, das den Giftstoff in die Tiefe bringen sollte, um dem Verbrechen der Yrr, falls es eines war, mit einem noch größeren Verbrechen zu begegnen — einem Verbrechen an den Yrr und an der Menschheit.
Vor ihm blinkten keine Sterne, sondern die Armaturen des Deepflight. Sie waren in Betrieb. Er hob den Blick, schaute durch die gläserne Kuppel und sah, wie die Kante des Welldecks nach oben verschwand.
Sie waren in der Schleuse.
Mit unglaublicher Willensanstrengung schaffte er es, den Kopf zu drehen. In der Nachbarröhre erkannte er Lis schönes Profil.
Li.
Judith Li hatte ihn erschossen.
Fast erschossen.
Das Boot sank tiefer. Vernietete Stahlplatten zogen vorbei. Gleich würden sie draußen sein. Nichts und niemand konnte Li dann noch hindern, ihre tödliche Fracht ins Meer zu entlassen.
Es durfte nicht sein.
Der Schweiß brach ihm aus, als er seine Hände unter seinem Oberkörper hervorschob und die Finger streckte. Fast verlor er darüber die Besinnung. Dort waren die Konsolen. Er lag in der Röhre des Piloten. Li hatte die Kontrollen zu sich hinübergeschaltet. Sie steuerte das Boot vom Platz des Copiloten aus, aber das ließ sich ändern.
Ein Tastendruck, und die Kontrolle lag wieder bei ihm.
Wo war die Umschaltfunktion?
Roscovitz’ Cheftechnikerin, Kate Ann Browning, hatte ihn geschult. Sie war sehr gründlich vorgegangen, und er hatte gut aufgepasst. Solche Dinge interessierten ihn. Das Deepflight verhieß den Beginn einer neuen Ära in der Tieftauchtechnik, und die Zukunft hatte Johanson seit eh und je interessiert. Er wusste, wo diese Funktion war! Er wusste auch, wozu die anderen Instrumente dienten, und was man tun musste, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Er musste sich lediglich erinnern.
Erinnere dich.
Wie sterbende Spinnen krochen seine Finger über die Tastatur, verschmiert von Blut. Seinem Blut.
Erinnere dich!
Dort. Die Funktion. Und daneben …
Viel konnte er nicht mehr tun. Das Leben strömte aus ihm heraus, aber ein letzter Rest Kraft verblieb ihm noch.
Es würde reichen. Fahr zur Hölle, Li!
Judith Li starrte aus der Kuppel. Wenige Meter vor ihr erstreckte sich die Stahlwand der Schleuse. Das Boot sank gemächlich der offenen See entgegen. Einen Meter noch, vielleicht weniger, und sie würde die Propeller starten. Dann steil nach unten seitlich wegziehen. Falls die Independence innerhalb der nächsten paar Minuten sank, wollte sie möglichst weit entfernt sein.
Wann würde sie auf die ersten Yrr-Kollektive stoßen? Ein größeres Kollektiv konnte Probleme machen, das wusste sie, und sie hatte keine Vorstellung davon, wie groß sie wurden. Vielleicht griffen auch Orcas an. In beiden Fällen würde ihr die Bewaffnung den Weg frei schießen. Kein Grund zur Sorge.
Sie musste auf die blaue Wolke warten. Der richtige Moment, das Gift abzuschießen, lag unmittelbar vor der Verschmelzung.
Diese verfluchten Einzeller würden sich wundern.
Spaßiger Gedanke. Konnten sich Einzeller wundern?
Plötzlich wunderte sie sich selber. Etwas an den Armaturen hatte sich gerade verändert. Eines der Kontrolllämpchen war erloschen, das ihr anzeigte, dass die Steuerung auf ihrer Seite …
Die Steuerung!
Sie hatte die Kontrolle über die Steuerung verloren! Alle Funktionen waren zum Piloten zurückgeschaltet worden. Stattdessen blinkte ein Display auf, das in grafischer Anordnung vier Torpedos zeigte, zwei schmale und zwei größere, die Panzerbrecher.
Einer der Panzerbrecher leuchtete.
Li stöhnte entsetzt auf. Mit dem Handballen schlug sie auf die Konsole, um die Kontrolle wieder auf ihren Platz zurückzulegen, aber der Befehl zum Abschuss ließ sich nicht rückgängig machen. Im Wasserblau ihrer Augen leuchtete die Anzeige weiter und zählte unerbittlich rückwärts:
00.03 … 00.02 … 00.01 … »Nein!«
00.00.
Ihr Gesicht versteinerte.
Der Panzerbrecher, den Johanson abgeschossen hatte, raste aus seiner Röhre. Knapp drei Meter bahnte er sich seinen Weg durchs Wasser, dann prallte er gegen die Stahlwand der Schleuse und explodierte.
Eine ungeheure Druckwelle erfasste das Deepflight. Es krachte gegen die rückwärtige Wand. Aus der Schleuse schoss eine riesige Wasserfontäne. Noch während sich das Tauchboot überschlug, ging der zweite Torpedo hoch. Mit ohrenbetäubendem Krachen flog das halbe Welldeck in die Luft. Ein Feuerball blähte sich, in dem das Deepflight, seine beiden Insassen und die giftige Fracht so vollständig vergingen, als habe es sie nie gegeben. Trümmerteile bohrten sich in Decke und Wände und zerfetzten die achterlichen Ballasttanks, die augenblicklich voll liefen, während durch den Krater, der einmal der Boden eines künstlichen Hafenbeckens gewesen war, Tausende Tonnen Meerwasser einströmten.
Das Heck der Independence sackte ab.
Sie begann in rasender Geschwindigkeit zu sinken.
Anawak und Crowe hatten es bis an den Rand der Rampe geschafft, als die Schockwelle der Explosion das Schiff durchlief.
Die Erschütterung warf sie von den Beinen. Anawak wurde durch die Luft gewirbelt, sah die rauchverhangenen Wände des Rampentunnels um sich kreisen, bevor er Kopf voran in den schwarzen Schlund stürzte. Neben ihm drehte sich Crowe im freien Fall, verschwand aus seinem Sichtfeld. Der geriffelte Stahl drosch ihm gegen Schultern, Rücken, Brust und Becken und schürfte ihm die Haut von den Knochen. Er kam auf, schlug einen Salto, wurde von einer Druckwelle erfasst und herumgeschleudert, sodass er für die Dauer eines Augenblicks den Eindruck hatte, wieder zurückgeschossen zu werden nach oben. Unbeschreiblicher Lärm drang an sein Ohr, als ob das ganze Schiff in Fetzen ginge. Unaufhaltsam fiel er weiter, flog in hohem Bogen auf schäumendes Wasser zu und tauchte unter.
Sofort erfasste ihn ein unerbittlicher Sog. In seinen Ohren brodelte es. Er strampelte mit Armen und Beinen, um dem Sog entgegenzuarbeiten, ohne jede Ahnung, wo oben und unten war. Hatte es nicht so ausgesehen, als werde die Independence Bug voran versinken? Wieso lief plötzlich das Heck voll?
Das Welldeck. Es war explodiert.
Johanson!
Etwas schlug in sein Gesicht. Ein Arm. Er griff danach, hielt ihn fest umklammert, stieß sich mit den Füßen ab, ohne ein Gefühl des Vorwärtskommens, wurde auf die Seite geworfen und sofort wieder zurückgezerrt, in alle Richtungen gleichzeitig. Seine Lungen schmerzten, als atme er flüssiges Feuer. Er musste husten und fühlte, wie ihm schlecht wurde auf seiner Achterbahnfahrt unter Wasser.
Plötzlich stieß sein Kopf über die Oberfläche.
Dämmrig.
Crowe tauchte neben ihm auf. Er hielt immer noch ihren Arm umklammert. Sie würgte und spuckte mit geschlossenen Augen, geriet wieder unter Wasser. Anawak zog sie zurück. Um ihn herum schäumte und strudelte es. Er legte den Kopf in den Nacken und sah, dass sie am Grund des Rampentunnels waren. Wo die Biegung zum Labor und zum Welldeck gelegen hatte, tobten die Fluten.
Das Wasser stieg, und es war bitterkalt. Eisiges Wasser direkt aus der See. In seinem Neoprenanzug war er eine Weile vor der Auskühlung geschützt, aber Crowe trug nichts dergleichen am Leib.
Wir werden ertrinken, dachte er. Oder erfrieren. So oder so, das ist das Ende. Wir sind eingeschlossen im Bauch dieses schrecklichen Schiffes, und es läuft voll. Wir werden mit der Independence untergehen.
Wir werden sterben.
Ich werde sterben.
Namenlose Angst überkam ihn. Er wollte nicht sterben. Er wollte nicht, dass es vorbeiging. Er liebte das Leben, so sehr liebte er es, so viel hatte er nachzuholen. Er konnte jetzt nicht sterben. Keine Zeit. Ein andermal gern, aber gerade passte es überhaupt nicht.
Die Angst war unerträglich.
Wieder geriet er unter Wasser. Etwas hatte seinen Kopf gestreift. Nicht sonderlich hart, aber es drückte ihn nach unten. Anawak schlug mit den Beinen und kam frei. Er tauchte nach Luft schnappend auf und sah, was ihn da getroffen hatte, und sein Herz vollführte einen Sprung.
Eines der Zodiacs war aus dem Welldeck gespült worden. Die Druckwelle der Explosion musste es losgerissen haben. Es trieb, sich drehend, auf dem schäumenden Wasser, das im Rampentunnel höher stieg. Ein intaktes Schlauchboot mit Außenborder und Regenkabine. Gedacht für acht Personen, allemal groß genug für zwei und voll gepackt mit Notausrüstung.
»Sam!«, schrie er.
Er sah sie nicht. Nur schwarzes, gurgelndes Wasser.
Nein, dachte er, so läuft das nicht. Eben ist sie doch noch neben mir gewesen.
»Sam!«
Das Wasser stieg weiter. Über die Hälfte des Tunnels war überflutet. Er reckte die Arme, zog sich an der Gummiwulst des Zodiacs hoch und sah sich um. Crowe war verschwunden.
»Nein«, heulte er. »Nein, verdammt, nein!«
Er stemmte sich ins Boot. Es schaukelte heftig. Auf allen vieren kroch er zur anderen Seite und schaute hinab ins Wasser.
Da war sie!
Sie trieb mit halb geschlossenen Augen neben dem Boot. Die Wellen überspülten ihr Gesicht. Das Boot hatte ihm den Blick auf sie versperrt. Ihre Hände vollführten schwache, hilflose Bewegungen. Anawak beugte sich hinab, bekam ihre Handgelenke zu fassen und zog daran.
»Sam!«, schrie er ihr ins Gesicht.
Crowes Augenlider zuckten. Dann hustete sie und gab einen Wasserschwall von sich. Anawak stemmte sich mit den Füßen gegen die Wulst und zerrte an ihr. Seine Arme schmerzten so heftig, dass er glaubte, es nicht zu schaffen, aber sein Wille diktierte ihm als einzig akzeptablen Weg, Samantha Crowe zu retten.
Komm mir bloß nicht ohne sie nach Hause, schien er zu sagen, sonst kannst du dich gleich wieder ins Wasser stürzen.
Er stöhnte und wimmerte, heulte und fluchte, zog und zerrte, und dann war sie plötzlich im Boot.
Anawak fiel auf den Hintern.
Er hatte keine Kraft mehr.
Nicht schlappmachen, sagte die innere Stimme. Dass du im Zodiac sitzt, nützt dir noch gar nichts. Du musst aus dem Schiff gelangen, bevor es dich mit in die Tiefe reißt.
Das Zodiac drehte sich immer schneller. Es tanzte auf der steigenden Wassersäule dem Hangardeck entgegen. Nur noch ein kurzes Stück, und sie würden in die riesige Halle gespült werden. Anawak richtete sich auf und fiel sofort wieder hin. Auch gut, dachte er, dann kriechen wir eben. Auf Händen und Knien robbte er zur Fahrerkabine und zog sich an den Verstrebungen hoch. Sein Blick fiel auf die Instrumente. Um das kleine Lenkrad herum waren sie in ähnlicher Weise angeordnet wie bei der Blue Shark. Ein bekanntes Bild. Damit konnte er klarkommen.
Er schaute auf. Sie schossen dem oberen Ende der Rampe entgegen. Er klammerte sich fest und wartete auf den richtigen Augenblick.
Plötzlich waren sie raus aus dem Tunnel. Eine Flutwelle spuckte sie aus und spülte sie in den Hangar, der nun ebenfalls voll zu laufen begann.
Anawak startete den Außenborder.
Nichts.
Komm schon, dachte er. Mach dich nicht wichtig, du Scheißteil! Spring endlich an.
Wieder nichts.
Spring an! Scheißteil! Scheißteil!!!
Unvermittelt röhrte der Motor los, und das Zodiac schoss davon. Anawak kippte hintenüber. Er bekam eine der Verstrebungen des Fahrerhauses zu fassen und zog sich zurück in die Kabine. Seine Hände umschlossen das Lenkrad. Er jagte durch den Hangar, fuhr eine rasante Kurve und hielt mit voller Geschwindigkeit auf den Durchlass zur Steuerbordplattform zu.
Vor seinen Augen schrumpfte er.
Der Durchlass verlor an Höhe, je näher er ihm kam. Es war unglaublich, wie schnell sich das Deck füllte. Das Wasser strömte von unten und durch die Seiten herein, in grauen, zerklüfteten Wellen. Aus den acht Metern Deckhöhe des Hangars waren innerhalb von Sekunden vier geworden.
Weniger als vier.
Drei.
Der Außenborder heulte gepeinigt auf.
Weniger als drei.
Jetzt!
Wie eine Kanonenkugel schossen sie ins Freie. Das Kabinendach schrammte hart an der Oberkante des Durchlasses entlang, dann flog das Zodiac über einen Wellenkamm, hing einen Moment in der Luft und klatschte hart auf.
Die See war stürmisch. Graue Ungetüme wälzten sich heran. Anawak klammerte sich ans Lenkrad, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er raste den nächsten Wellenberg hinauf und fiel in den dahinter liegenden Abgrund, stieg wieder empor, stürzte hinab. Dann drosselte er die Geschwindigkeit. Langsamer war besser. Jetzt sah er, dass die Wellen zwar hoch waren, aber nicht sehr steil. Er wendete das Zodiac um einhundertachtzig Grad, ließ sich von dem nächsten Berg, der heranrollte, hochheben, fuhr ganz langsam und sah hinaus.
Der Anblick war gespenstisch.
Aus der schieferfarbenen See ragte die in Flammen stehende Insel der Independence in einen düsteren Wolkenhimmel. Es sah aus, als sei mitten im Meer ein Vulkan ausgebrochen. Auch das Flugdeck lag inzwischen unter Wasser, nur die brennende Ruine behauptete sich noch trotzig gegen das unabwendbare Schicksal. Er hatte ein ordentliches Stück zwischen sich und das versinkende Schiff gebracht, aber das Donnern der Flammen drang bis zu ihnen hinüber.
Atemlos sah er hinaus.
»Intelligente Lebensformen.« Crowe tauchte neben ihm auf, leichenblass, mit blauen Lippen und heftig zitternd. Sie krallte sich in seine Jacke, das verletzte Bein angewinkelt. »Man hat nichts als Ärger mit ihnen.«
Anawak schwieg. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Independence unterging.