Anderthalb Tage später: »Das Schlimmste ist«, sagte Carvajal, »wenn man seinen eigenen Tod sieht. Das ist der Moment, wo das Leben aus einem schwindet, nicht wenn man tatsächlich stirbt, sondern wenn man es sehen muß.«
»Ist das der Fluch, den Sie gemeint haben?«
»Ja, das ist der Fluch. Das ist es, was mich umgebracht hat, Lew, lange vor meiner Zeit. Ich war gerade dreißig Jahre alt, als ich ihn das erste Mal sah. Seitdem habe ich ihn viele Male gesehen. Ich kenne das Datum, die Stunde, den Ort, die Umstände. Ich habe es wieder und wieder durchlitten, den Anfang, die Mitte, das Ende, die Dunkelheit, das Schweigen. Und nachdem ich es einmal gesehen habe, war das Leben für mich nur noch ein sinnloses Puppentheater.«
»Was war das Schlimmste«, fragte ich, »zu wissen, wann; zu wissen, wie?«
»Zu wissen, daß«, sagte er.
»Daß Sie überhaupt sterben würden?«
»Ja.«
»Ich verstehe nicht. Ich meine, es muß bestürzend sein, ja, sich selbst beim Sterben zuzusehen, seinen eigenen Abgang wie in einer Nachrichtenschau zu sehen, aber das kann doch keine fundamentale Überraschung auslösen, oder? Ich meine, der Tod ist unvermeidlich, und das wissen wir doch alle schon als kleine Kinder.«
»Wissen wir?«
»Natürlich.«
»Glauben Sie, daß Sie sterben werden, Lew?«
Ich riß die Augen auf. »Natürlich.«
»Sind Sie absolut überzeugt davon?«
»Ich kapiere Sie nicht. Wollen Sie andeuten, ich hätte Illusionen von Unsterblichkeit?«
Carvajal lächelt heiter. »Jeder hat sie, Lew. Als Sie ein Junge waren, starb Ihr Lieblingsgoldfisch oder Ihr Hund, und Sie sagten, nun, Goldfische leben nicht lang. Hunde leben nicht lang, und so haben Sie Ihre erste Erfahrung mit dem Tod abgeschüttelt. Es gilt nicht für Sie. Der Junge von nebenan fällt vom Fahrrad und bricht sich den Schädel. Nun, sagen Sie, Unfälle kommen vor, aber sie beweisen nichts; einige Leute sind weniger vorsichtig als andere, und ich bin einer von den vorsichtigen. Ihre Großmutter stirbt. Sie war alt und seit Jahren krank, sagen Sie, sie hat sich zu fett werden lassen, sie ist in einer Generation aufgewachsen, in der Vorsorgemedizin erst primitiv entwickelt war, sie hat sich nicht richtig um ihren Körper gekümmert. Das wird mir nicht passieren, sagen Sie, mir nicht.«
»Meine Eltern sind tot. Meine Schwester ist gestorben. Ich hatte eine Schildkröte, die gestorben ist. Der Tod ist in meinem Leben nichts Fernes und Unwirkliches. Nein, Carvajal, ich glaube an den Tod. Ich akzeptiere die Tatsache des Todes. Ich weiß, ich werde sterben.«
»Nicht wirklich.«
»Wie können Sie das sagen?«
»Ich weiß, wie die Menschen sind. Ich weiß, wie ich war, bevor ich mich sterben sah, und was danach aus mir wurde. Nicht viele haben diese Erfahrung gehabt, haben sich verändert; wie ich mich verändert habe. Vielleicht noch nie jemand. Hören Sie mir gut zu, Lew. Niemand glaubt wirklich und ganz, daß er sterben wird, egal, was er meint zu glauben. Hier oben im Kopf akzeptieren Sie es vielleicht, aber Sie akzeptieren es nicht auf der Ebene der Zellen, auf der Ebene des Stoffwechsels und der Zellteilung. Ihr Herz hat seit dreißig Jahren oder so keinen Schlag ausgelassen, und es weiß, es wird nie einen auslassen. Ihr Körper tummelt sich fröhlich wie eine Drei-Schichten-Fabrik, die rund um die Uhr Blutkörperchen, Lymphe, Samen, Speichel herstellt, und soviel Ihr Körper weiß, wird er das immer tun. Und Ihr Hirn, das sieht sich selbst als das Zentrum eines großen Dramas, dessen Star Lew Nichols ist, und das ganze Universum ist für den Star nur eine riesige Ansammlung von Requisiten, alles was passiert, passiert um Sie herum, in bezug auf Sie, Sie sind der Dreh- und Angelpunkt, und wenn Sie auf die Hochzeit von Freunden gehen, dann heißt diese Szene nicht Dick und Judy heiraten, nein, sie heißt Lew geht auf eine Hochzeit, und wenn ein Politiker gewählt wird, heißt es nicht Paul Quinn wird Präsident, sondern Lew erlebt, wie Paul Quinn Präsident wird, und wenn ein Stern explodiert, heißt die Überschrift nicht Beteigeuze verschwunden, sondern Lews Universum verliert einen Stern, und so weiter, bei jedem dasselbe, jeder ist der Held des großen Schauspiels der Existenz; Dick und Judy haben, jeder für sich im eigenen Kopf, die Starrolle, Paul Quinn, vielleicht sogar Beteigeuze, und jeder von euch meint, wenn er sterben sollte, würde das ganze Universum verlöschen müssen wie ein ausgeschaltetes Licht, und das ist unmöglich, und daher wird er nicht sterben. Jeder weiß, er ist die eine Ausnahme. Hält die ganze Sache mit seiner fortdauernden Existenz zusammen. Sie wissen wohl, Lew, all die anderen, die werden sterben; klar, das sind die Nebenrollen, die Lanzenträger, die müssen laut Textbuch irgendwann verschwinden, aber nicht Sie, o nein, nicht Sie! Ist das nicht wirklich so, Lew, drunten im Keller Ihrer Seele, drunten auf den geheimnisvollen Ebenen, die Sie nur ab und zu besuchen?«
Ich mußte grinsen. »Schon möglich, daß es doch so ist. Aber…«
»Es ist so. Es ist bei jedem dasselbe. Für mich war es genauso. Nun, aber die Menschen sterben wirklich, Lew. Einige mit zwanzig und einige mit hundertzwanzig, und immer kommt es als eine Überraschung. Da stehen sie und sehen, wie sich plötzlich die große Finsternis vor ihnen öffnet — und wie sie in das Loch hineingehen, sagen sie, mein Gott, ich habe mich doch geirrt, es erwischt mich wirklich, auch mich! Was für ein Schock das ist, was für ein fürchterlicher Schlag für das Ego, daß sie nicht die einzigartige Ausnahme sind, für die sie sich hielten. Aber bis dieser Augenblick kommt, ist es sehr beruhigend, sich an den Gedanken zu klammern, daß sie vielleicht entwischen werden, daß sie irgendwie davonkommen. Jeder hat zum Leben diesen Fetzen Trost, Lew. Jeder außer mir.«
»Sehen war so schlimm?«
»Es hat mich vernichtet. Es hat mir die eine große Illusion geraubt, Lew, die heimliche Hoffnung, unsterblich zu sein, die uns weitermachen läßt. Natürlich mußte ich weitermachen, dreißig Jahre oder mehr, weil ich gesehen hatte, daß es mich erst als alten Mann treffen würde. Aber das Wissen hat eine Mauer um mein Leben gezogen, eine Grenze, ein unzerbrechliches Siegel. Ich war kaum mehr als ein Junge und hatte schon den wirklichen Schlußstrich mitbekommen, den Punkt am Ende des Satzes. Ich konnte nicht darauf bauen, mein Leben ewig zu genießen, wie das die anderen tun. Ich hatte nur meine dreißig Jahre vor mir. Wenn Sie so etwas wissen, dann schnürt das Ihr Leben ein, Lew. Es beschränkt Ihre Möglichkeiten.«
»Es fällt mir nicht leicht zu verstehen, warum es diese Wirkung haben sollte.«
»Einmal werden Sie es verstehen.«
»Vielleicht wird es für mich nicht so sein, wenn ich das Wissen habe.«
»Ah!« rief Carvajal. »Wir alle denken, wir wären die Ausnahme!«