Boris Akunin Der Tod des Achilles Aus dem Russischen von Andreas Tretner

ERSTER TEIL FANDORIN

ERSTES KAPITEL, in welchem eine Kette von Zufällen ihre gewichtigen Folgen hat

Der Frühzug aus Sankt Petersburg, eben am Perron des Bahnhofs Nikolajewskaja zum Stillstand gekommen, war noch nicht aus den Rauchschwaden der Lokomotive hervorgetaucht, die Wagenschaffner hatten kaum Zeit gehabt, die Trittbretter auszuklappen und Aufstellung zu nehmen, da kam aus der Ersten Klasse schon ein junger Mann auf den Bahnsteig gesprungen, dessen Äußeres sofort ins Auge fiel. Er wirkte wie einem jener Pariser Journale entstiegen, die die Sommermode des Jahres 1882 anpriesen: der Anzug aus sandfarbener Rohseide, der Strohhut mit breiter Krempe italienisches Fabrikat, die Schuhe spitz, dazu weiße Gamaschen mit silbernen Druckknöpfen und in der Hand ein elegantes Stöckchen mit silbernem Knauf. Jedoch wurde der eitle Aufputz des Reisenden durch die, man darf schon sagen: hinreißende Imposanz seiner körperlichen Erscheinung in den Schatten gestellt. Hochgewachsen und schlank, breit in den Schultern, blickte der junge Mann mit klaren blauen Augen in die Welt; ein geschwungenes Oberlippenbärtchen stand ihm ausnehmend gut, während das schwarze, sorgfältig geschnittene Haar eine Merkwürdigkeit aufwies, die stutzen machte: Die Schläfen schimmerten in silbrigem Grau. Das Gepäck des jungen Mannes, von Trägern flink aus dem Abteil geladen, war ein Anblick für sich. Von diversen ledernen Reisekoffern und -taschen abgesehen, landeten auf dem Perron: ein Klappveloziped, mehrere Gymnastikhanteln 3

sowie bündelweise Bücher in verschiedenen fremden Sprachen. Zuletzt entstieg dem Waggon ein krummbeiniger Mann mit gedrungenem Körperbau und asiatischen Gesichtszügen, pausbäckig, eine gewichtige Miene zur Schau tragend. Seine grüne Livree paßte herzlich wenig zu den hölzernen Riemchensandalen und dem bunten Papierfächer, der ihm an seidener Schnur um den Hals baumelte. In den Armen hielt der kleine Mann einen lackierten viereckigen Blumentopf, aus dem ein winziger Kiefernbaum wuchs - wie geradenwegs aus Liliputanien auf den Moskauer Bahnhof verfrachtet.

Inzwischen ließ der junge Mann den Blick über die wenig aufregenden Stationsbauten hingehen, sog in nicht ganz nachvollziehbarer Erregung die verräucherte Bahnhofsluft ein und flüsterte: »Sechs Jahre, o mein Gott!« Seiner Wehmut länger nachzuhängen war ihm indes nicht vergönnt, denn sofort wurden die Ankömmlinge aus der Hauptstadt durch die Horde von Fuhrleuten bedrängt, die größerenteils bei den Moskauer Hotels unter Vertrag standen. So sah sich der schwarzhaarige Beau, sichtlich ein lohnender Kunde, von den Kutschern jener vier Häuser umkämpft, die als die vornehmsten am Ort zu gelten hatten: »Metropol«, »Loskut-naja«, »Dresden« und »Dusseaux«.

»Ins >Metropol<, wenn der Herr belieben!« preschte der erste vor. »Neumodisches Hotel in bester europäischer Ausstattung! Und für Ihren Chinesen ein Kämmerchen inklusive!« »Das ist k-kein Chinese, sondern ein Japaner«, erläuterte der junge Mann und verriet hiermit ein leichtes Stottern. »Ich möchte, daß er bei mir wohnt.«

»Dann kommen Sie zu uns ins >Loskutnaja

»Im >Loskutnaja<, ach ja, da war ich schon mal«, hatte der junge Mann mitzuteilen. »Nettes Hotel.«

»Was wollen sie in dem Fuchsbau, mein Herr?« mischte ein dritter sich in den Handel. »Bei uns im >Dresden<, da haben Sie Prunk und himmlische Ruhe, die Fenster nach der Twerskaja, direkt auf das Anwesen Seiner fürstlichen Durchlaucht, des Gouverneurs.«

Der Ankömmling horchte auf.

»Tatsächlich? Das wäre äußerst günstig. Ich habe mich in die Dienste Seiner Durchlaucht zu begeben, müssen Sie wissen. Ja, also dann ...«

»Warten Sie, mein Herr!« brüllte der letzte in der Reihe der Kutscher, ein junger Geck in himbeerroter Weste, mit so viel Brillantine in der Haartolle, daß man sich darin hätte spiegeln können. »Im >Dusseaux< pflegen samt und sonders die allerbesten Schriftsteller zu nächtigen. Dostojewski, Graf Tolstoi - und sogar Herr Krestowski in Person.«

Der Köder dieses Hotelpsychologen, mit einem Blick auf die Bücherbündel ausgeworfen, war wohlgezielt; unser schöner junger Mann staunte.

»Graf Tolstoi? Sagen Sie bloß!« »Was dachten denn Sie! Sobald die einen Fuß nach Moskau setzen, immer zu uns!« Der Kutscher hatte schon zwei Koffer gegriffen und gab dem Japaner geschäftig Anweisung: »Hopp-hopp, angefaßt, mir nach!«

»Na dann ins >Dusseaux<, von mir aus!« sagte der junge Mann achselzuckend - nicht ahnend, daß dieser Entschluß das erste Glied in einer fatalen Kette von Ereignissen war. »Ach Masa, wie hat sich dieses Moskau verändert!« sprach unser Adonis seinen Diener ein um das andere Mal auf japanisch an, während er sich auf der lederbezogenen Kutschbank nach allen Seiten drehte. »Einfach nicht wiederzuerkennen!

Die Straßen durchgehend gepflastert, ganz anders als in Tokio. Und wieviel adrette Leute! Schau, die Pferdebahn da, sie verkehrt linienmäßig. Und auf der oberen Plattform sitzt eine Dame! Früher durften Damen dort nicht hinauf, des Anstands wegen.«

»Wieso, Herr?« fragte Masa, der mit vollem Namen Masahiro Sibata hieß.

»Na, weil einer sonst von der unteren Plattform Stielaugen machen könnte, wenn die Dame die Treppe hinaufsteigt. Was dachtest du denn!«

»Europäische Dummheiten. Typisch Barbaren!« Der Diener zuckte mit den Schultern. »Hört, Herr, was ich Euch sage. Gleich wenn wir im Gasthaus sind, lassen wir eine Kurtisane für Euereins kommen, erste Sorte. Und für mich eine von der dritten. Hier gibt es feine Frauen. Groß und drall. Viel besser als die Japanerinnen.«

»Laß den Quatsch«, sagte der junge Mann wütend. »Das ist ja nicht zum Anhören.«

Der Japaner schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Wie lange wollt Ihr Midorisan noch hinterher trauern? Nach einer Frau zu schmachten, die man nie wieder zu Gesicht bekommen wird, das ist eine müßige Beschäftigung.«

Sein Herr seufzte dennoch, und gleich noch ein zweites Mal, worauf er, wohl um sich von den traurigen Gedanken abzulenken, dem Kutscher eine Frage stellte (sie fuhren soeben am Strastnoi-Kloster vorbei): »Wem haben sie d-d-... denn da ein Denkmal auf die Straße gestellt? Etwa Lord Byron?«

»Aber das ist doch der Puschkin! Unser Alexander Sergejewitsch!« klärte der Mann auf dem Bock ihn vorwurfsvoll auf. Errötend wandte der junge Herr sich wieder seinem schlitzäugigen kleinen Diener zu und plapperte etwas Fremdländisches. Dreimal hörte der Kutscher ein Wort heraus, das wie »Pusikin« klang.

Das Hotel »Dusseaux« konnte sich in seiner Ausstattung mit den ersten Pariser Häusern messen: vornehm livrierter Portier, geräumiges Vestibül, wo in Kübeln Azalien und Magnolien blühten, hauseigenes Restaurant. Der Gast aus St. Petersburg nahm ein ordentliches Zimmer zu sechs Rubeln, die Fenster auf den Teatralny Projesd hinausgehend, trug sich als Kollegienassessor Erast Petrowitsch Fandorin in das Empfangsbuch ein und trat neugierig an die schwarze Tafel heran, auf der nach guter europäischer Sitte die Namen der Gäste mit Kreide verzeichnet waren. Ganz oben stand in großen Schnörkeln das Datum: Freitag, 25. Juni - 7juillet, vendredi* - und ein Stück weiter unten, an honorigster Stelle und in kalligraphischer Ausführung: Generaladjutant Gen. d. Inf. Sobolew, M. D. - N° 47.

»Das kann doch nicht wahr sein!« jauchzte der Kollegienassessor. »Welch ein Zufall!« Und an den Portier gewandt, fragte er: »Sind Seine Hochwohlgeboren anwesend? Wir sind alte B-... Bekannte!«

»Anwesend, gewiß doch!« bestätigte der Bedienstete mit einer Verbeugung. »Gestern eingetroffen. Mitsamt der Suite. Haben den Ecktrakt gemietet, den ganzen Flur dort hinter der Tür. Aber jetzt schlafen Seine Hochwohlgeboren noch und wünschen nicht behelligt zu werden.«

»Michel? Um halb neun?« wunderte sich Fandorin. »Das sieht ihm aber g-gar nicht ähnlich. Na, mitunter ändert sich der Mensch. Bitte richten Sie dem G-... General aus, daß ich in N2 20 wohne - er wird mich bestimmt sehen wollen.«

Während der junge Mann sich zum Gehen wandte, begab sich ein weiterer Zufall, das zweite Glied in unserer tückischen

* (franz.) 7. Juli, Freitag.

Kette. Die Tür, die auf den vom hochrangigen Gast bewohnten Flur führte, öffnete sich plötzlich einen Spalt, durch den sich der Kopf eines Kosakenoffiziers schob: zerzauster Haarschopf, schwarze Brauen, Adlernase und eingefallene Wangen, deren bläulicher Schimmer auf mangelnde Rasur hindeutete.

»He, Sie!« brüllte er mit donnernder Stimme und wedelte ungeduldig mit einem Blatt Papier. »Eine Depesche zum Telegrafen! Hurtig!«

»Nanu! Gukmassow!« Erast Fandorin breitete die Arme aus. »So sieht man sich wieder! Immer noch der Patroklus von unserem lieben Achilles? Und zum Jessaul befördert. G-g-... Gratuliere!«

Aber die freundschaftliche Zuwendung berührte den Offizier nicht im geringsten - und wenn doch, dann unangenehm. Er maß den jungen Hagestolz mit einem bösen Blick aus schwarzen Zigeuneraugen und schlug, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, die Tür hinter sich zu. Fandorin erstarrte in dämlicher Pose: mit ausgebreiteten Armen, so als hätte er anfangen wollen zu tanzen und es sich im letzten Moment anders überlegt.

»Nein, wirklich«, murmelte er verwirrt, »es hat sich doch v-v-... viel verändert. Die Stadt, und die Leute auch.«

»Belieben Sie das Frühstück aufs Zimmer serviert zu bekommen?« fragte der Portier, der die Verwirrung des Assessors geflissentlich übersah.

»Nein, nicht nötig«, kam die Antwort. »Lieber hätte ich einen Eimer Eis aus dem Keller. Oder besser z-zwei.«

In seinem Zimmer, das geräumig und komfortabel eingerichtet war, benahm der neue Gast sich reichlich eigenartig. Er zog sich splitternackt aus, stellte sich auf den Kopf und stemmte sich, beinahe ohne mit den Füßen die Wand zu berühren, zehnmal mit den Armen vom Boden weg. Derweil nahm der japanische Diener, den das Verhalten seines Herrn absolut nicht zu beirren schien, vom Etagendiener die zwei randvoll mit Eis gefüllten Eimer entgegen, schüttete die hübschen grauen Würfel vorsichtig in die Wanne, ließ kaltes Wasser aus dem kupfernen Hahn dazulaufen und wartete, bis der Kollegienassessor seine wunderliche Gymnastik beendet hatte.

Eine Minute später erschien Fandorin, puterrot von seinen Exerzitien, im Badezimmer und stieg entschlossen in das horribel eisige Becken.

»Masa, hol die Paradeuniform heraus. Und die Orden. In den Samtkästchen. Ich fahre dem Fürsten meine Aufwartung machen.«

Die Anweisung kam knapp, durch die zusammengepreßten Zähne. Offensichtlich kostete das Bad einige Willenskraft.

»Zum Statthalter des Zaren, Eurem neuen Dienstherrn?« fragte Masa ehrerbietig nach. »Dann bringe ich auch das Schwert. Ohne Schwert geht es nicht. Früher, beim russischen Gesandten in Tokio, wäre es angegangen, der hielt nichts von Zeremonien. Nicht aber beim Gouverneur solch einer großen, aus Stein gebauten Stadt. Keine Widerrede!«

Er verschwand und kam bald darauf zurück, den Paradedegen andächtig vor sich her tragend.

Fandorin, der wohl einsah, daß zu streiten nicht lohnte, seufzte nur.

»Und wie steht es mit der Kurtisane, Herr?« fragte Masa und blickte seinem Gebieter beunruhigt in das blaugefrorene Gesicht. »Gesundheit geht vor.«

»Zum Teufel damit!« Zähneklappernd erhob sich Fandorin aus der Wanne. »D-d-... das Handtuch und die Kleider.«

»Herein mit Ihnen, mein Bester, treten Sie ein! Wir warten schon auf Sie. Damit das Geheimsynedrion komplett ist, haha!«

Mit diesen Worten wurde der herausgeputzte Kollegienassessor von Moskaus allmächtigem Hausherrn Fürst Wladimir Andrejewitsch Dolgorukoi empfangen.

»Was stehen Sie auf der Schwelle herum? Kommen Sie, hier in den Sessel. Und die Uniform war ganz umsonst, erst recht der Degen! Vor mir dürfen Sie getrost im Rock erscheinen.« In den sechs Jahren, die Erast Fandorin in der Fremde verbracht hatte, war der Generalgouverneur sehr gealtert. Die kastanienbraunen Locken (sichtlich ein Kunstprodukt) wollten sich wenig vertragen mit dem von tiefen Runzeln gefurchten Gesicht, das Fehlen grauer Haare in dem hängenden Schnurrbart und den üppigen Koteletten war eher auffällig, und die allzu jugendliche Statur ließ ein Korsett vermuten. Fünfzehn Jahre nun schon lenkte der Fürst die Geschicke der Stadt, führte ein mildes, doch unnachgiebiges Regime.

»Das ist also unser Gast aus Übersee«, sagte der Gouverneur zu zwei Herren, einem in Uniform und einem in Zivil, die in Sesseln neben dem ausladenden Schreibtisch saßen. »Mein neuer Sonderbeauftragter, Kollegienassessor Fandorin. Aus St. Petersburg zu mir beordert. Hat zuvor in unserer Gesandtschaft im Königreich Japan Dienst getan, am Ende der Welt. Ich darf vorstellen: Jewgeni Ossipowitsch Karatschenzew, Polizeipräsident von Moskau. Unterpfand von Gesetz und Ordnung in dieser Stadt.« Er wies auf einen rothaarigen General mit leicht glupschenden braunen Augen, die ihm gelassen, doch aufmerksam entgegenblickten. »Und das ist mein Petruscha, für Sie Pjotr Parmenowitsch Chur 6

tinski, Hofrat und Vorsteher der Geheimabteilung bei der ' Generalgouverneurskanzlei. Was immer in Moskau passiert, Petruscha bekommt es spitz und hinterträgt es mir.«

Ein rundlicher Herr um die Vierzig, das dünne Haar auf dem länglichen Kopf akkurat gescheitelt, mit prallen Bäckchen, die auf der steif gestärkten Kragenbinde aufsaßen, und schläfrig hängenden Lidern, nickte gravitätisch.

»Es ist mitnichten ein Zufall, daß ich Sie an einem Freitag zu mir bestellt habe, mein Lieber«, sagte der Gouverneur in jovialem Ton. »Freitags um elf geruhen wir in dieser Runde diverse Angelegenheiten vertraulich-delikaten Charakters zu erörtern. Heute zum Beispiel haben wir eine heikle Frage anliegen: Wo kriegen wir das restliche Geld für die Ausmalung der Kathedrale her. Eine hochheilige Angelegenheit, die mir seit Jahren schwer im Magen liegt.«

Der Gouverneur bekreuzigte sich fromm, bevor er fortfuhr: »Die Künstler intrigieren gegeneinander, und Diebereien geschehen zur Genüge. Wir werden überlegen, wie wir aus den Moskauer Geldsäcken noch ein Milliönchen für die gottgefällige Sache herausschütteln. Nun denn, meine Herren Konspiranten, Sie waren zu zweit, nun sind Sie zu dritt. Wünsche Glück und Eintracht, wie man bei derlei Hochzeiten zu sagen pflegt. Sie sind ja, mein lieber Fandorin, just in diskreten Angelegenheiten zu mir bestellt, nicht wahr? Allerbeste Reputationen, geradezu beachtlich für Ihre Jugend. Ein gestandener Mann, darf ich hoffen.«

Bei diesen Worten blickte er dem Neuling forschend in die Augen, doch der hielt dem Blick stand, zeigte nicht einmal ein Zittern.

»Ich kenne Sie doch!« entsann sich Dolgorukoi auf einmal, womit er sich sogleich in den lieben Onkel zurückverwandelte. »War ich nicht bei Ihrer Trauung zugegen? Aber ja! Ich weiß es noch ganz genau ... Sie haben sich tüchtig rausgemacht, man erkennt Sie kaum wieder. Na, wir werden alle nicht jünger. Setzen Sie sich, mein Bester, setzen Sie sich, ich mag keine Umstände.«

Dabei zog er wie zufällig die Dienstliste des Neuen zu sich heran - zwar wußte er noch den Familiennamen, Vor- und Vatersnamen aber waren ihm entfallen. In derlei Dingen, das sagte dem Fürsten die Erfahrung, durfte man sich keine Blöße geben. Das konnte keiner gut vertragen, daß man ihn beim falschen Namen nannte, und Untergebene sollte man auf die Art schon gar nicht vor den Kopf stoßen.

Ach ja, Erast Petrowitsch - so hieß er, der schmucke junge Mann. Der Blick auf das geöffnete Dossier ließ den Fürsten jedoch die Stirn kraus ziehen, denn was es da zu lesen gab, war allerhand. Die Laufbahn seines neuen Mitarbeiters roch geradezu nach Komplikationen. Ein Eindruck, der sich auch bei näherem Hinsehen nicht verflüchtigte. Was sollte man von einer solchen Akte halten. Sechsundzwanzig Jahre alt, russisch-orthodoxe Konfession, Vater höherer Offizier, Geburtsort Moskau. So weit, so gut. Nach Abschluß des Gymnasiums auf eigenes Gesuch von der Moskauer Polizeikanzlei als Kollegienregistrator im Amte bestätigt und zum Schriftführer im Kriminalpolizeiamt bestellt. Auch das ließ sich nachvollziehen. Doch von hier an: Wunder über Wunder. Für besonderen Eifer im Dienst und hervorragende Pflichterfüllung auf Allergnädigstes Geheiß außerplanmäßig zum Titularrat befördert und dem Außenministerium unterstellt. Wie ging das zu, nach nur zwei Monaten? Und weiter unten in der Spalte »Auszeichnungen« kam es noch dicker: 'Wladimirorden 4. Klasse für den Vorgang »Asasel« (Geheimfonds des Sondergendarmeriekorps); Stanislausorden 3. Klasse für den Vorgang »Türkisches Gambit« (Geheimfonds des Kriegsministeriums); Annenorden 4. Klasse für den Vorgang »Diamantenkollier« (Geheimfonds des Außenministeriums). Nichts als Geheimnisse!

Mit diskreter Aufmerksamkeit schielte Fandorin nach seinem hochrangigen Vorgesetzten und hatte schnell einen ersten Eindruck gewonnen, der alles in allem günstig ausfiel. Fürst Dolgorukoi war nicht mehr der Jüngste, schien die Gedanken jedoch noch gut beisammen zu haben und zudem recht pfiffig zu sein. Auch die Verwunderung im Gesicht Seiner Durchlaucht, während er in die Dienstliste Einsicht nahm, entging dem Kollegienassessor mitnichten. Fandorin seufzte mitfühlend: Zwar hatte er noch nie in seiner Akte gelesen, konnte sich jedoch ungefähr vorstellen, was dort stand.

Die anhaltende Pause nutzend, nahm Fandorin nunmehr auch die beiden Staatsdiener in Augenschein, denen es von Amtes wegen oblag, in alle Moskauer Geheimnisse eingeweiht zu sein. Churtinski zeigte ein serviles Blinzeln, ein Lächeln auch, das jedoch nur die Lippen betraf - dem Anschein nach freundlich, doch sichtlich nicht ihm, seinem Gegenüber, sondern einer ganz eigennützigen Phantasie zugekehrt. Auf das Hofratslächeln ging Fandorin gar nicht erst ein - er kannte diesen Menschenschlag nur zu gut und mochte ihn überhaupt nicht leiden. Da gefiel ihm der Polizeipräsident schon besser, ihm widmete er ein kleines Lächeln, das freilich jeder Schmeichelei entbehrte. Der General nickte höflich zurück, wobei sein Blick dem jungen Mann sonderbar mitfühlend vorkam. Fandorin beschloß, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen (er würde schon noch erfahren, was dahinter steckte), und wandte sich wieder dem Fürsten zu. Der hatte inzwischen in das stumme, die Grenzen des Anstands wahrende Blickgeplänkel eingegriffen.

Auf der Stirn Seiner Durchlaucht stand eine steile, tiefe Falte, die für eine ausgeprägte Nachdenklichkeit sprach. Und im Zentrum dieser Nachdenklichkeit die besorgte Frage: Dich wird mir doch nicht die Kamarilla auf den Hals geschickt haben, mein Junge? Um mir womöglich ein Beinchen zu stellen? Das sähe denen doch sehr ähnlich. Ein Karatschenzew reicht wohl noch nicht.

Das Mitgefühl in den Augen des Polizeipräsidenten hatte indes ganz andere Ursachen. In dessen Tasche steckte nämlich ein Brief seines direkten Vorgesetzten, des Ministerialdirektors der Staatspolizei Wjatscheslaw Plewako. Darin schrieb ihm sein alter Freund und Wohltäter unter dem Siegel des Vertrauens, Fandorin sei ein gescheiter und verdienstvoller Mann, auf den damals Seine Majestät, Gott habe ihn selig, und insbesondere der Ex-Gendarmeriechef große Stücke hielten, doch in den Jahren seines Auslandsdienstes habe er den Anschluß an die große Politik verloren und sei darum nach Moskau geschickt worden, weil man in der Hauptstadt keine Verwendung für ihn habe. Jewgeni Karatschenzew kam der junge Mann auf den ersten Blick sympathisch vor - die Luchsaugen vor allem und die aufrechte Haltung. Der Ärmste! Er wußte nicht, daß man ihn höhererseits schon abgeschrieben hatte. Zum alten Eisen befördert, aufs Abstellgleis geschoben ... Das war es ungefähr, was General Karatschenzew durch den Kopf ging.

Was unterdessen Pjotr Churtinski dachte, konnte keiner wissen. Die Gedanken dieses Mannes gingen allzu geheime Wege.

Dem stummen Intermezzo wurde durch den Auftritt einer neuen Person ein Ende bereitet, die lautlos aus einem der hinteren Gouverneursgemächer hereingeschwebt war: ein betagter Diener in abgewetzter Livree, lang und dürr, mit blankem Kahlschädel und gut geölten und gebürsteten Koteletten. Der Alte trug ein silbernes Tablett mit kleinen Fläschchen und Gläschen.

»Durchlaucht«, schnarrte der Diener in nöligem Ton, »jetzt wird es mal Zeit für den Trunk gegen die Verstopfung. Sonst beschwert Ihr Euch hinterher wieder und sagt, der Frol hat mich nicht dran erinnert, jaja. Schon vergessen das Ach und Weh von gestern? Auf das Mündchen!«

Genauso ein Tyrann wie mein Masa! dachte Fandorin. Obwohl von ganz anderem Schlag. Man hat's nicht leicht mit seinen Dienern!

»Ja doch, mein lieber guter Frol!« streckte der Fürst sogleich die Waffen. »Ich trink ja schon, ich trink ja schon. Das hier, Fandorin, ist mein Kammerdiener Frol Wedischtschew. Hält mich seit Kindesbeinen an der Kandare. Und was ist mit Ihnen, meine Herren? Wollen Sie

auch einen? Kräuter vom Besten. Schmeckt widerlich, hilft aber bei Hartleibigkeit ungemein, stimuliert den Darm in vorzüglicher Weise. Frol, schenk ihnen auch einen ein.« Karatschenzew und Fandorin lehnten rundweg ab, während Churtinski sein Gläschen trank und sogar versicherte, der Geschmack habe etwas.

Frol kredenzte seinem Fürsten den Trunk mit süßem Fruchtlikör und einem Scheibchen Butterbrot (Churtinski bekam keines), dann wischte er Seiner Durchlaucht mit einer Batistserviette über die Lippen.

»Ich frage mich, mein lieber Fandorin, mit was für Sonderaufgaben ich Sie betrauen soll?« Dolgorukoi, dessen Augen vom Likörchen einen öligen Glanz angenommen hatten, hob ratlos die Arme. »Da fällt mir beim besten Willen nichts ein. Mit Geheimberatern bin ich gut versorgt, wie Sie sehen. Aber das muß Sie nicht verdrießen. Gewöhnen Sie sich erst mal ein bißchen ein, orientieren Sie sich ...« — und derweil erkundigen wir uns, was für ein Vögelchen du bist! beendete er seinen Satz im stillen, während eine Hand vage in der Luft hängenblieb.

An dieser Stelle schlug die Standuhr elf Mal (ein uraltes Modell, dessen Front ein Basrelief mit Szenen von der Einnahme der Festung Ismail schmückte), das dritte Glied in der Kette unheilvoller Zufälligkeiten hakte sich ein.

Die Tür zum Vorzimmer ging, ohne daß zuvor angeklopft worden wäre, einen Spalt auf, darin erschien das verzerrte Gesicht des Sekretärs. Herein führ - unsichtbar, doch nicht zu verkennen - der Blitzschlag des Besonderen Vorkommnisses.

»Ein Unglück, Durchlaucht!« verkündete der Beamte mit bebender Stimme. »General Sobolew ist tot! Seine persönliche Ordonnanz Jessaul Gukmassow bittet vortreten zu dürfen.«

Die Wirkung dieser Neuigkeit auf die Anwesenden fiel, je nach ihrem Naturell, unterschiedlich aus. Der Generalgouverneur begegnete dem Überbringer mit einer abwehrenden Handbewegung - geh! mochte das heißen, ich glaube dir nicht! -, bevor er sich mit selbiger Hand bekreuzigte. Der Chef der Geheimabteilung riß die Augen nur für einen Moment weit auf, dann senkten sich seine Lider sogleich wieder. Der rothaarige Polizeipräsident war aufgesprungen. Auf dem Gesicht des Kollegienassessors schließlich gab es zwei widerstreitende Gefühle zu beobachten: Heftige Erregung wurde abgelöst von Skepsis, die im Verlauf der nachfolgenden Szene nicht von ihm wich.

»Ich lasse bitten, Innokenti!« befahl Dolgorukoi seinem Sekretär in gefaßtem Ton. »Was für ein Unglück.«

Ins Zimmer trat, gemessenen Schrittes und mit klirrenden Sporen, derselbe verwegene Offizier, der im Hotel partout nicht in Fandorins ausgebreitete Arme hatte sinken wollen. Er war nun wohlrasiert und trug die Paradeuniform eines Leibkosaken; die Ikonostase der Verdienstkreuze und Medaillen schien komplett.

»Jessaul Gukmassow, Oberordonnanz des Generaladjutanten Michail Dmitrijewitsch Sobolew, Durchlaucht! Eine betrübliche Nachricht ...« Der Offizier hatte sichtlich mit sich zu kämpfen, zerrte an seinem schwarzen Räuberschnurrbart, ehe er fortfahren konnte. »Der Herr Kommandeur des Vierten Korps ist gestern auf der Durchreise von Minsk nach seinem Rjasaner Gut in Moskau eingetroffen und im Hotel >Dusseaux< abgestiegen. Heute morgen, wie der Herr ewig nicht aus seinem Zimmer kam, fingen wir an, uns Sorgen zu machen, und klopften an seine Tür - keine Antwort. Also wagten wir uns einzutreten, und da ...« - der Jessaul unternahm eine weitere heldenhafte Anstrengung, die Stimme im Griff zu behalten, es gelang ihm - »... da sahen wir den Herrn General im Sessel sitzen. Tot. Wir riefen den Arzt. Der sagte, er kann nichts mehr tun. Der Körper war schon kalt.« »Ei-ei-ei!« Der Gouverneur stützte den Kopf in die Hand. »Wie kann das zugehen? Der General war doch ganz jung. Noch keine vierzig, oder irre ich mich?«

»Achtunddreißig, etwas über achtunddreißig«, bestätigte der Jessaul mit unverändert gepreßter, dem Brechen naher Stimme und zwinkerte sich die Tränen aus den Augen. »Aber was ist die Todesursache?« fragte Karatschenzew mit gefurchter Stirn. »War der General denn krank?«

»Überhaupt nicht. Er war wohlauf und bester Dinge. Der Arzt vermutet einen Schlaganfall oder eine Paralyse des Herzens.«

»Gut, du kannst gehen, geh jetzt!« entließ der erschütterte Fürst die Ordonnanz des Generals. »Ich werde alles Nötige veranlassen und den Zaren in Kenntnis setzen. Geh!« Als die Tür sich hinter dem Jessaul geschlossen hatte, ächzte er fassungslos.

»Auwei, meine Herren, das kann heiter werden. So ein Mann. Rußlands Liebling! Was sage ich, ganz Europa kennt den Weißen General... Ich wollte ihn heute noch visitieren ... Petruscha, schick Seiner Majestät eine Depesche, du weißt, wie so was am besten ... Das heißt, nein, zeig's mir lieber vorher noch mal. Und anschließend kümmerst Du dich um die Staatstrauer, die Beisetzungsfeierlichkeiten und so weiter ... Du kennst das ja. Sie, Karatschenzew, bitte ich für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Wenn die Sache bekannt wird, kommt ganz Moskau vor das >Dusseaux< geströmt. Sehen Sie zu, daß keiner in Ohnmacht fällt und erdrückt wird. Ich kenne meine lieben Moskauer. Daß mir alles Form und Anstand hat!«

Der Polizeichef nickte und nahm seinen Berichtsordner, der auf dem Sessel gelegen hatte, an sich.

»Sie erlauben, daß ich mich entferne, Durchlaucht?«

»Tun Sie das. Oje-oje, das gibt Aufregung, das gibt eine Riesenaufregung.« Der Fürst schrak auf. »Was, wenn es dem Zaren einfällt anzureisen, meine Herren? Bestimmt wird er das tun! Da hat nicht irgendwer das Zeitliche gesegnet. Der Held von Plewna und Turkestan, der Ritter ohne Furcht und Tadel, den man nicht umsonst Achilles nennt. Wir müssen den Kremlpalast herrichten. Darum kümmere ich mich selbst.«

Churtinski und Karatschenzew, bereit, den Anordnungen Folge zu leisten, waren schon auf dem Weg zur Tür, während der Kollegienassessor seelenruhig im Sessel sitzen blieb und den Fürsten etwas verwundert ansah.

»Ach ja, mein lieber Fandorin«, erinnerte Dolgorukoi sich an seinen Neuzugang. »Um Sie kann ich mich jetzt nicht kümmern, Sie sehen ja selbst. Richten Sie sich ein fürs erste! Und bleiben Sie in Reichweite. Vielleicht gibt es für Sie was zu tun. Arbeit ist für alle da. Oje-oje, was für eine Geschichte.«

»Aber sagen Sie, Eure Ho-Hoheit: Es wird doch wohl Ermittlungen geben?« reagierte Fandorin mit einer überraschenden Frage. »Ich meine, bei so einer Persönlichkeit von Rang. Und die seltsamen Umstände des Todes ... Da muß doch ermittelt werden.«

»Wieso ermitteln?« Der Fürst furchte unwirsch die Stirn. »Sie hören doch, der Zar ist im Anmarsch!«

»Ich für meinen Teil habe allen Grund zur Annahme, daß die Sache nicht astrein ist!« versetzte der Kollegienassessor mit umwerfender Gelassenheit.

Seine Äußerung schlug ein wie eine Bombe.

»Was sind denn das für dämliche Phantasien!« schnauzte Karatschenzew. In dem Moment hatte der junge Mann sich alle Sympathien bei ihm verscherzt.

»Anhaltspunkte!« warf Churtinski verächtlich hin. »Hätten Sie dafür irgendwelche Anhaltspunkte? Wie wollen Sie überhaupt von der Sache eine Ahnung haben?«

Fandorin sah den Hofrat nicht einmal an; dem Gouverneur zugewandt, sagte er: »Ich bitte in Betracht zu ziehen, Durchlaucht, daß ich zufällig auch im >Dusseaux< abgestiegen bin - Punkt eins. Den General Sobolew kenne ich seit langem. Er pflegt im ersten Morgengrauen aufzustehen. Sich vorzustellen, er könnte bis in die Puppen schlafen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Spätestens um sechs hätte sein Gefolge unruhig werden müssen - Punkt zwei. Jessaul Gukmassow, mir gleichfalls gut bekannt, bekam ich um halb neun zu Gesicht. Und zwar unrasiert - Punkt drei.«

Hier machte Fandorin eine vielsagende Pause - so als hätte sein letzter Punkt entscheidendes Licht in die Sache bringen müssen.

»Ja, und? Was hat das zu besagen?« fragte der Polizeipräsident verblüfft.

»Es hat zu besagen, Durchlaucht, daß es nie und unter keinen Umständen vorstellbar ist, Gukmassow um halb neun Uhr morgens in unrasiertem Zustand zu begegnen. Ich habe mit dem Mann die B-b-... Balkantour absolviert. Er ist in dieser Hinsicht absolut pedantisch und hat sein Zelt nie unrasiert verlassen, selbst wenn es kein Wasser gab und er zu diesem Zweck Schnee zum Tauen bringen mußte. Ich vermute, daß Gukmassow schon seit dem frühen Morgen vom Tod seines Vorgesetzten wußte. Wenn dem so ist - warum hat er so lange geschwiegen? Punkt vier. Das muß genauer untersucht werden. Erst recht, wenn der Z-z-... der Zar im Anmarsch ist.«

Die letzte Bemerkung schien den Gouverneur am allermeisten zu beeindrucken. »Fandorin hat recht«, sagte der Fürst und erhob sich. »Es ist eine Staatsangelegenheit. Ich ordne hiermit eine vertrauliche Untersuchung der Umstände an, die zum Ableben des Generaladjutanten Sobolew geführt haben. Und um eine Obduktion werden wir da wohl nicht herumkommen. Aber ich bitte Sie, Karatschenzew, seien Sie vorsichtig, lassen Sie nichts Unnötiges verlauten. Es wird ohnehin genug Gerüchte geben ... Petruscha, um die Gerüchte kümmerst du dich, ich möchte einen Sammelbericht darüber. Die Ermittlungen leiten selbstverständlich Sie, Karatschenzew. Und vergessen Sie nicht, die Einbalsamierung zu veranlassen. Es werden viele kommen, von ihrem Helden Abschied zu nehmen, und wir haben einen heißen Sommer. Da verdirbt er schneller, als man denkt. Was Sie angeht, Fandorin - wenn das Schicksal Sie schon mal im >Dusseaux< einquartiert hat und Sie den Verstorbenen so gut kennen, versuchen Sie Ihr Glück und ermitteln Sie ein bißchen auf eigene Faust, partikulär sozusagen. Zum Glück kennt Sie in Moskau noch keiner. Hieß es nicht, Sie seien zuständig für besondere Aufgaben? Da haben Sie eine. Besonderer geht es nicht.«

ZWEITES KAPITEL, in welchem Fandorin die Ermittlungen aufnimmt

Wie Erast Fandorin die Umstände, die zum Tod des vielgerühmten Heerführers und Lieblings der Nation geführt hatten, zu ermitteln anfing, war sonderbar. Nachdem der junge Mann sich unter größten Mühen zum Hotel durchgekämpft hatte, das mit einem doppelten Polizeikordon geschützt und von vielen trauernden Moskauern umringt war (seit eh und je breiten sich Hiobsbotschaften in der altehrwürdigen Stadt schneller aus als die gefräßigsten Brände), ging er, ohne nach links und nach rechts zu sehen, hinauf in seine N- 20, warf dem Diener Mütze und Degen zu und schüttelte auf alle neugierigen Fragen nur kurz mit dem Kopf. So wußte Masa Bescheid, verbeugte sich und rollte auf dem Fußboden geschwind eine Strohbastmatte aus. Der kurze Degen wurde respektvoll in Seide gehüllt und im Chiffonier verstaut, dann trat der Diener wortlos auf den Korridor hinaus, nahm mit dem Rücken zur Zimmertür Aufstellung und stand da wie der grimmige Feuergott Fudomyo. Kam jemand den Flur entlang, legte er vorwurfsvoll zischelnd den Finger an die Lippen und wies mit der anderen Hand abwechselnd auf die verschlossene Tür hinter sich und auf die Gegend um seinen Bauchnabel. Infolgedessen sprach es sich auf der Etage herum, in N- 20 sei eine schwangere chinesische Prinzessin untergekommen und gar wohl schon am Kreißen.

Währenddessen saß Fandorin absolut reglos auf seiner Matte. Knie ebenmäßig gespreizt, Körper entspannt, Handflächen nach oben gekehrt. Den Blick hielt der Kollegienassessor auf den eigenen Bauch gerichtet - auf den untersten Knopf seiner Uniformjacke, um genau zu sein. Irgendwo dort, unter dem goldenen doppelköpfigen Adler, befand sich der magische Punkt Tanden, Quelle und Zentrum geistiger Energie. Wenn man sich frei macht von allen Gedanken und ganz auf das eigene Selbst konzentriert, dann wird die Seele erleuchtet, und noch das heikelste Problem erscheint einem einfach, verständlich und klar. Fandorin mühte sich nach Kräften um Freimachung und Erleuchtung, was durchaus nicht so leicht und überhaupt nur durch ausgiebiges Training zu erreichen war. Seine angeborene Beweglichkeit im Denken und die hieraus entspringende Ungeduld waren für diese Konzentrationsübungen von Nachteil. Doch der edle Mann geht, wie Konfuzius sagte, nicht den leichten, sondern den schweren Weg, und darum starrte Fandorin hartnäckig auf den vermaledeiten Knopf und wartete auf Ergebnisse.

Zunächst wollten sich die Gedanken durchaus nicht zurückdrängen lassen. Im Gegenteil, wie Fische im zu flachen Wasser klatschten und platschten sie hin und her. Aber allmählich traten die Geräusche der Außenwelt zurück, verschwanden ganz, die Fischlein glitten in tieferes Wasser, im Kopf wallte Nebel. Fandorin hielt den goldenen Kreis mit dem Wappen im Auge und dachte an gar nichts. Eine Sekunde oder eine Minute, vielleicht auch eine Stunde später war es soweit. Der kaiserliche Adler nickte kurz mit beiden Köpfen, die Krone funkelte auf, und Fandorin zuckte zusammen. Der Plan, nach dem vorzugehen war, stand fest.

Fandorin rief Masa herein, hieß ihn den Gehrock bringen, und während er sich umzog, erläuterte er seinem Vasallen kurz und knapp, worum es ging.

Die ersten Schritte unternahm der Detektiv innerhalb des Hotels. Vom Vestibül begab er sich zur Pförtnerloge und von da ins Restaurant. Was er mit der Dienerschaft zu besprechen hatte, war nicht in einer und nicht in zwei Stunden erledigt, so daß der Tag sich zum Abend neigte, die Schatten lang geworden waren und das Sonnenlicht zäh und dick wie Lindenblütenhonig, als Fandorin sich endlich vor der Tür zu dem Hotelflügel einfand, den man hier schon die Sobolew-Suite nannte.

Fandorin wies sich dem Gendarmen aus, der die Tür bewachte, und wurde in die Bannzone der Trauer vorgelassen, wo man nur im Flüsterton sprach und auf Zehenspitzen lief. N2 47, das Appartement, wohin der tapfere General gestern eingezogen war, bestand aus Wohn- und Schlafzimmer. In ersterem drängten sich etliche Leute: Fandorin erkannte Karatschenzew inmitten weiterer Polizeibeamter, hinzu kamen die Adjutanten und Ordonnanzen des Toten, der Hotelchef, und in einer Ecke, still vor sich hinheulend, saß Lukitsch -Sobolews allseits bekannter Kammerdiener. Alle schienen sie auf etwas zu warten, schielten verstohlen nach der Tür zum Schlafzimmer. Der Polizeichef kam auf Fandorin zu und brummte halblaut: »Der Gerichtsmediziner Professor Welling ist drinnen und macht die Obduktion. Es zieht sich hin. Er könnte sich ruhig ein bißchen sputen.« Wie um dem Wunsch des Generals zu entsprechen, ging in diesem Moment die weiße, mit geschnitzten Löwenköpfen verzierte Tür knarrend auf. Sofort wurde es im Raum still. Ein grauhaariger Mann, mürrisch blickend, mit hängender Unterlippe, erschien auf der Schwelle. An seiner Brust über der Lederschürze prangte das Annenkreuz.

»So, Exzellenz, ich bin soweit«, knurrte der Mann, augenscheinlich der Professor. »Ich kann Ihnen Bericht geben.«

Der General blickte sich im Zimmer um und sagte mit munter werdender Stimme: »Gut! Fandorin, Gukmassow und Sie« - er nickte dem Hotelchef zu - »kommen mit rein. Die anderen bitte ich hier zu warten.«

Das erste, was Fandorin beim Eintreten ins Totengemach sah, war der mit einem schwarzen Schleier verhängte Spiegel im verschnörkelten Bronzerahmen. Der Leichnam lagerte nicht auf dem Bett, sondern auf einem Tisch, den man offenbar aus dem Nachbarraum herübergeschoben hatte. Fandorin schaute auf die unter dem weißen Laken sich abzeichnende Kontur, bekreuzigte sich, und bei dem Gedanken an den schönen, starken und mutigen Mann, den er gekannt und der sich nun in diesen länglichen, unförmigen Gegenstand verwandelt hatte, vergaß er für einen Moment seine Ermittlungen. »Die Sache ist klar«, begann der Professor nüchtern seinen Bericht. »Etwas Verdächtiges war nicht zu entdecken. Ich werde noch ein paar Analysen im Laboratorium anstellen, bin mir aber schon jetzt absolut sicher, daß die Lebensfunktionen infolge Paralyse des Herzmuskels zum Stillstand gekommen sind. Gleichzeitig liegt eine Paralyse des rechten Lungenflügels vor, die wir aber wohl eher als Folge denn als Ursache anzusehen haben. Der Tod ist augenblicklich eingetreten. Selbst wenn ein Mediziner in der Nähe gewesen wäre, hätte er nichts auszurichten vermocht.«

»Aber der Mann war doch das blühende Leben! Mit allen Wassern gewaschen!« Karatschenzew trat zum Tisch und schlug den Rand des Lakens zurück. »Der kann doch nicht einfach so gestorben sein!«

Gukmassow wandte sich brüsk ab, um seinem Vorgesetzten nicht in das tote Gesicht sehen zu müssen, während Fandorin und der Hotelchef näher traten. Das Antlitz des Toten wirkte ruhig und gefaßt. Selbst der berühmte wuchernde Backenbart, Zielscheibe des Spotts für die Liberalen im Lande und für die Karikaturisten in aller Welt, schien mehr denn je am Platz, gab dem wächsernen Gesicht einen Rahmen von Würde.

»Ach, was für ein Recke, ein echter Achilles«, murmelte der Hotelchef mit dem gurrenden R eines Franzosen.

»Was läßt sich über den Zeitpunkt des Todes sagen?« fragte Karatschenzew.

»Letzte Nacht zwischen ein und zwei Uhr«, gab Welling, ohne zu zögern, an. »Nicht früher und nicht später.«

Der General drehte sich nach dem Jessaul um.

»Gut. Nachdem die Todesursache festgestellt ist, können wir in die Einzelheiten gehen. Legen Sie los, Gukmassow. So ausführlich wie möglich.«

Ausführlichkeit schien Gukmassows Sache nicht zu sein. Sein Bericht geriet knapp, doch unmißverständlich.

»Gegen sechs sind wir vom Brjansker Bahnhof hier angekommen. Seine Exzellenz haben geruht bis zum Abendessen. Das gab's um neun im Restaurant. Dann haben Seine Exzellenz noch eine Spazierfahrt gemacht. Moskau bei Nacht. Gehalten haben wir nirgends. Kurz nach Mitternacht hieß es, genug jetzt, zurück ins Hotel. Seine Exzellenz wollten noch ein paar Aufzeichnungen machen, weil, er hat ja an der neuen Schlachtordnung gearbeitet.«

Gukmassow schielte nach dem beim Fenster stehenden Sekretär, auf dessen ausgeklappter Schreibplatte Papiere verstreut lagen. Ein Stück zur Seite gerückt stand der Armstuhl. Karatschenzew ging hin, griff nach einem der beschriebenen Blätter, nickte ehrfürchtig. »Ich ordne an, die Papiere sicherzustellen und Seiner Majestät persönlich zu übergeben. Fahren Sie fort, Gukmassow.«

»Den Herren Offizieren gestatteten Seine Exzellenz, über sich zu verfügen. Er wollte zu Fuß nachkommen, ihm war nach einem Spaziergang.«

Karatschenzew blickte erstaunt auf.

»Und Sie haben den General alleine ziehen lassen? Mitten in der Nacht? Äußerst merkwürdig.«

Er warf einen bedeutungsvollen Blick zu Fandorin hinüber, der sich um dieses Detail jedoch nicht im geringsten zu bekümmern schien. Statt dessen stand der Kollegienassessor vor dem Sekretär und fuhr mit dem Finger über den bronzenen Wandkandelaber.

»Da hat der General nie mit sich reden lassen.« Gukmassow lächelte bitter. »Wenn ich was gesagt hab, hat er mich angeschaut, als ob ... Außerdem hatten Seine Exzellenz andere Spaziergänge hinter sich als im friedlichen Moskau. Mutterseelenallein durch die türkischen Berge und die turkmenischen Steppen.« Düsteren Blickes zwirbelte der Jessaul seinen Schnauzbart. »Ins Hotel haben Seine Exzellenz ja auch zurückgefünden. Nur den Morgen nicht mehr erlebt.«

»Wie fanden Sie den Leichnam vor?« fragte der Polizeichef.

»Er hat dort gesessen.« Gukmassow wies auf den Lehnstuhl. »Hintenüber gelehnt. Die Schreibfeder lag auf dem Fußboden.«

Karatschenzew ging in die Hocke und betastete die Tintenflecke auf dem Teppich.

»Tja. Gottes Wege ...«, sagte er seufzend.

Die pietätvolle Pause wurde von Fandorin harsch unterbrochen. Während er nicht davon abließ, den vermaledeiten Kandelaber zu streicheln, raunte er vernehmlich zum Hotelchef hinüber: »Wie kommt es, daß Sie noch keine Elektrizität im Haus haben? Darüber wundere ich mich schon die 14 ganze Zeit. So ein modernes Hotel, und G-g- ... Gas gibt es auch nicht. Kerzenlicht auf den Zimmern!«

Der Franzose holte zu einer Erklärung aus, der zufolge Kerzenlicht immer noch hon ton sei, und im Restaurant habe man selbstverständlich elektrisches, und spätestens im Herbst würden die Leitungen im übrigen Haus gelegt - Karatschenzew unterbrach das nicht zur Sache gehörende Geschwätz mit zornigem Hüsteln.

»Und wie haben Sie die Nacht zugebracht, Gukmassow?« fragte er, sein Verhör fortsetzend.

»Ich habe einen alten Kampfgefährten besucht, Oberst Dadaschew. Wir haben gesessen und geredet. Im Morgengrauen kam ich zurück ins Hotel und bin gleich schlafen gegangen.«

»Richtig«, mischte Fandorin sich ein, »der Nachtportier sagte mir, es sei schon hell gewesen, als Sie kamen. Sie schickten ihn nach einer Flasche Selterswasser.«

»Das stimmt. Ich hatte, geb ich zu, einen über den Durst getrunken. Davon bekam ich einen trockenen Hals. Sonst stehe ich meistens sehr früh auf, aber ausgerechnet diesmal hab ich verschlafen. Da wollte ich gleich rüber zum General, zum Rapport - aber Lukitsch sagte mir, Seine Exzellenz seien noch nicht auf. Gut, dachte ich, wahrscheinlich hat er bis in die Nacht gearbeitet. Dann, wie es halb neun war, hab ich gesagt: Nein, Lukitsch, jetzt gehen wir ihn wecken, sonst nimmt er's uns übel. Es war einfach nicht seine Art. Wir gehen also rein, und er sitzt so da« - Gukmassow ließ den Kopf in den Nacken kippen, klappte die Lider nach unten und öffnete den Mund halb - »und ist schon ganz kalt. Wir haben den Arzt gerufen, eine Depesche ans Korps geschickt... In dem Moment standen Sie vor mir, Fandorin. Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht so begrüßt habe, wie es sich ziemt für 15

einen alten Gefährten. Sie können sich vorstellen, daß mir der Sinn nicht danach stand.« Anstatt die Entschuldigung anzunehmen, die, mochte man meinen, unter den gegebenen Umständen gar nicht nötig gewesen wäre, hielt Fandorin nur den Kopf ein wenig schief, legte die Hände auf den Rücken und sagte: »Wie mir in der Restauration zu Ohren kam, hat gestern eine gewisse Dame für Seine Exzellenz gesungen und angeblich sogar bei ihm am Tisch gesessen. Irgendeine stadtbekannte Person? Wanda heißt sie, wenn ich mich recht entsinne. Und anschließend seien alle, der G-... General inklusive, mit ihr davongefahren. Ist das wahr?«

»Stimmt, eine Sängerin war dabei«, antwortete Gukmassow in knarzigem Ton. »Wir haben sie mitgenommen, irgendwo abgesetzt und sind weitergefahren.«

»Wo abgesetzt? Im >Anglija< vielleicht, Stoleschnikow Pe-reulok?« fragte der Kollegienassessor nach, der erstaunlich gut informiert zu sein schien. »Ich habe gehört, F-frau Wanda logiert dort?«

Gukmassow schob die dunklen Brauen zusammen, und seine Stimme wurde noch hölzerner, man meinte es splittern zu hören: »Ich weiß in Moskau nicht Bescheid. Irgendwo in der Nähe, fünf Minuten Fahrt von hier.«

Fandorin nickte versonnen und schien gleich darauf jedes Interesse am Jessaul Gukmassow verloren zu haben - er hatte neben dem Bett die Tür zum Wandtresor entdeckt. Er ging hin, drehte am Knauf, das Türchen öffnete sich.

»Ist er leer?« fragte der Polizeichef.

»Jawohl, Euer Exzellenz. Der Schlüssel steckt von außen.« »Auch gut.« Karatschenzew schüttelte sein rothaariges Haupt. »Was wir an Papieren noch finden, kommt unter Siegel. Wir sortieren später, was den Anverwandten zusteht, was 16

dem Ministerium und was Seiner Majestät persönlich. Professor, Sie können Ihre Gehilfen rufen und sich ans Einbalsamieren machen.«

»Was denn, doch nicht etwa hier?« entrüstete sich Welling. »Einbalsamieren ist etwas anderes als Weißkraut einlegen, Herr General!«

»Verlangen Sie von mir, daß ich den Leichnam quer durch die Stadt in Ihre Akademie bugsiere? Schauen Sie aus dem Fenster, da fällt kein Apfel zur Erde. Nein, das müssen Sie schon hier zuwege bringen. Jessaul Gukmassow, ich danke Ihnen, Sie können gehen. Und Sie«, nun wandte er sich an den Hotelchef, »sehen zu, daß Sie alle Wünsche des Herrn Professor befriedigen.«

Allein mit Fandorin, nahm der General den jungen Mann beim Arm, führte ihn von dem Leichnam weg ein Stück beiseite und fragte halblaut, so als könnte der Tote es hören: »Nun? Was meinen Sie? Ihren Fragen und Ihren sonstigen Anstalten durfte ich entnehmen, daß Gukmassows Erklärungen Sie nicht zufriedenstellen. Glauben Sie, daß er mit etwas hinter dem Berg hält? Seine Nachlässigkeit in bezug auf die Morgenrasur hat er jedenfalls schlüssig begründet, finden Sie nicht? Er hat gesoffen und verpennt - die normalste Sache der Welt.«

»Gukmassow wäre gar nicht imstande zu verschlafen«, sagte Fandorin achselzuckend. »Das ginge gegen seine Natur. Und erst recht nicht käme er auf die Idee, bei Sobolew zum Rapport zu erscheinen, ohne sein Äußeres in Ordnung gebracht zu haben. Der Jessaul lügt, soviel ist klar. Aber das ist es nicht, Eure Exzellenz ...«

»Sondern?« Karatschenzew horchte gespannt.

»Die Sache ist noch ernster, als ich vermutete. Sobolew ist nicht hier zu Tode gekommen.« 16

»Was soll das heißen, nicht hier?« staunte der Polizeichef. »Wo sonst?«

»Das weiß ich nicht. Aber gestatten Sie zu fragen, wieso der Nachtportier, mit dem ich gesprochen habe, Sobolew nicht hat heimkehren sehen?«

»Na, vielleicht hat er nicht aufgepaßt und will es nicht zugeben«, erwiderte Karatschenzew, mehr um der Polemik willen, als daß er ernsthaft daran glaubte.

»Das kann nicht sein, und ich werde Ihnen sagen, warum. Aber zuvor darf ich Ihnen noch ein Rätsel aufgeben, das Sie mir b-b-... bestimmt nicht lösen. Wenn Sobolew in der Nacht zurückgekommen wäre und an diesem Sekretär gesessen und geschrieben hätte, dann gewiß nicht, ohne sich ein Licht anzuzünden. Die Kerzen in den Kandelabern sind aber noch frisch, wie Sie sehen!«

»Tatsächlich!« Der General schlug sich mit der flachen Hand auf den in straffer Reithose steckenden Schenkel. »Fandorin, Sie sind ja ein Fuchs! Und aus mir wird wohl nie ein rechter Kriminalist.« Er zeigte ein entwaffnendes Lächeln. »Sie müssen wissen, ich bin erst seit kurzem zur Gendarmerie versetzt, war früher bei der Gardekavallerie. Aber sagen Sie doch, wie könnte die Sache sich zugetragen haben?«

Fandorins schöne Zobelbrauen zuckten vor Anspannung.

»Ich bin kein Wa-... Wahrsager. Aber eines steht fest: Der General ist nach dem Abendessen nicht auf seinem Zimmer gewesen, weil es zu der Zeit schon finster wurde, und Licht hat er, wie wir nun wissen, nicht gemacht. Auch nach Aussage der Kellner ist Sobolew mit seinem Gefolge vom Tisch weg aufgebrochen. Und der Nachtportier ist ein so gründlicher und auf seinen Ruf bedachter Mann, daß ich nicht glaube, er könnte sich von seinem Posten entfernt und die Rückkehr des Generals verpaßt haben.«

»Glauben oder nicht glauben, das ist kein Argument«, stichelte Karatschenzew. »Lassen Sie Tatsachen sprechen.«

»Bitte schön!« Fandorin ging lächelnd darauf ein. »Nach Mitternacht wird die Tür des Hotels zugesperrt. Es kommt hinaus, wer will. Wer aber herein will, muß schellen.«

»Gut, das ist schon einmal ein Fakt«, gab der General zu. »Aber machen Sie weiter.«

»Der einzige Moment, wo Sobolew hätte unbemerkt zurückkommen können, war, als unser braver Jessaul den P-... Portier nach Selterswasser schickte. Aber wie wir wissen, geschah das im Morgengrauen, also nicht vor vier. Wenn wir Herrn Welling glauben wollen - und warum sollten wir dem ehrenwerten Professor den Glauben verwehren? - dann ist Sobolew zu dem Zeitpunkt schon Stunden tot gewesen. Was läßt sich daraus schließen?« Karatschenzews Augen blitzten.

»Ja, was?«

»Gukmassow hat den Portier weggeschickt, um Sobolews Leichnam unbemerkt ins Hotel zu befördern. Die übrigen Offiziere waren zu der Zeit außer Haus, nehme ich an.«

»Dann muß man diese Schufte ins Gebet nehmen, aber ordentlich!« polterte der Polizeipräsident so heftig, daß man im Nachbarzimmer offenbar aufhorchte - das von dort herüberdringende Gemurmel verstummte jäh.

»Das führt zu nichts. Sie haben sich abgesprochen. Darum sind sie mit der Nachricht vom Tod des Generals erst reichlich spät herausgerückt. So eine Absprache braucht Zeit.« Fandorin ließ sein Gegenüber ein Weilchen zur Ruhe kommen und das Gehörte überdenken, bevor er die Rede auf etwas anderes brachte.

»Wer ist eigentlich diese Wanda, die hier jeder zu kennen scheint?«

»N a, jeder vielleicht nicht, aber in gewissen Kreisen kennt man sie wohl. Eine Deutsche aus Riga. Sängerin, bildschön, nicht gerade eine Kokotte, aber etwas in der Richtung. Ein Kameliendämchen ... Ich sehe, worauf Sie hinauswollen«, ereiferte sich Karatschenzew und nickte energisch. »Diese Wanda wird uns Licht in die Sache bringen. Ich werde Anweisung geben, daß man sie unverzüglich holen läßt.«

Der General ging entschlossen zur Tür.

»Das würde ich nicht raten«, erklang Fandorins Stimme in seinem Rücken. »Was immer vorgefallen ist - vor der Polizei wird die Person ungern auspacken wollen. Und mit den Offizieren steckt sie g-g-... garantiert unter einer Decke. Falls sie überhaupt etwas mit der Sache zu tun hat, versteht sich. Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Karatschenzew, fühle ich ihr selbst auf den Zahn. In meiner partikulären Eigenschaft, ja? Wo finde ich denn das >Anglija

»Genau. Fünf Minuten von hier.« Der Polizeichef betrachtete den jungen Mann mit sichtlichem Behagen. »Ich erwarte Ihren Bericht, Fandorin. Gehen Sie mit Gott.«

Und der Kollegienassessor, gestärkt durch den Segen seines hochrangigen Vorgesetzten, verließ das Zimmer.


DRITTES KAPITEL, in welchem Fandorin die Münze werfen läßt In fünf Minuten zum »Anglija« zu gelangen sollte Fandorin indes nicht gelingen. Auf dem Gang, direkt vor der unseligen Tür, erwartete ihn ein düster dreinschauender Gukmassow.

»Ich hab ein Wörtchen mit Ihnen zu reden«, sagte er zu Fandorin, packte ihn fest beim Ellbogen und führte ihn in ein Zimmer, das gleich neben dem Appartement des Generals lag.

Dieses Zimmer glich dem, welches Fandorin bewohnte, wie ein Ei dem anderen. Auf Sofa und Stühlen hatte eine ganze Gesellschaft Platz genommen. Fandorin ließ den Blick schweifen und erkannte die Offiziere aus dem Gefolge des Toten, die er vorhin noch im Nachbarzimmer gesehen hatte. Mit einer leichten Verbeugung grüßte der Kollegienassessor in die Runde, worauf jedoch niemand einging - die Blicke der Anwesenden waren voll unverhohlener Feindseligkeit. Also verschränkte Fandorin die Arme vor der Brust, lehnte sich gegen den Türrahmen, und seine Miene, eben noch von höflicher Verbundenheit, wurde ebenso kühl und mürrisch.

»Meine Herren«, eröffnete Jessaul Gukmassow in strengem, beinahe festlichem Ton. »Ich darf Ihnen vorstellen: Erast Petrowitsch Fandorin, den zu kennen ich seit dem Türkischen Krieg die Ehre habe. Inzwischen ist er dem Moskauer Generalgouverneur unterstellt.« Und wieder konnte man sehen, daß keiner der Offiziere auch nur ein Nicken für nötig hielt. Fandorin verzichtete 18

gleichfalls auf eine zweite Verbeugung - gespannt, was da kommen mochte. Gukmassow sprach ihn an.

»Dies, Herr Fandorin, sind meine Kollegen Offiziere. Oberadjutant Oberstleutnant Baranow, Adjutant Oberleutnant Fürst Erdeli, Adjutant Stabshauptmann Fürst Abadsijew, Ordonnanz Rittmeister Uschakow, Ordonnanz Kornett Baron Eichholz, Ordonnanz Kornett Hall, Ordonnanz Fähnrich Markow.«

»Das werde ich mir kaum merken«, versetzte Fandorin.

»Wird auch nicht nötig sein«, entgegnete Gukmassow schroff. »Ich habe Ihnen die Herren vorgestellt, weil Sie uns allen eine Erklärung schulden.«

»Schulden?« fragte Fandorin spöttisch zurück. »Sagen Sie bloß!«

»Jawohl, mein Herr. Ich erwarte von Ihnen vor diesen Herren eine Erklärung, wie Sie sich erdreisten konnten, mich in Gegenwart des Polizeichefs einem derart erniedrigenden Verhör zu unterziehen.«

Ungeachtet der Drohung, die in der Stimme des Jessauls schwang, blieb Fandorin die Ruhe in Person, selbst sein übliches kleines Stottern war auf einmal verschwunden.

»Ich erlaubte mir, Ihnen einige Fragen zu stellen, Jessaul, weil der Tod General Sobolews ein Vorfall von nationaler Bedeutung, ich möchte gar sagen, von historischem Rang ist. Punkt eins. Und Sie«, wandte er sich mit einem säuerlichen Lächeln an Gukmassow, »haben uns zum Narren halten wollen, noch dazu nicht eben sehr geschickt - Punkt zwei. Fürst Dolgorukoi hat mir den Auftrag erteilt, in dieser Angelegenheit zu ermitteln - Punkt drei. Und Sie können sicher sein, daß ich die Ermittlungen zum Erfolg führe, so weit werden Sie mich kennen - Punkt vier. Aber vielleicht möchten Sie uns ja irgendwann die Wahrheit erzählen?«

Einer von den kaukasischen Fürsten auf dem Sofa - Fandorin wußte schon nicht mehr, welcher von beiden, er trug eine weiße Tscherkeßka mit silbernem Patronenbesatz -sprang auf.

»Punkt eins-zwei-drei-vier! Meine Herren! Dieser kleine Schnüffler, dieses Milchbübchen macht sich über uns lustig! Prochor, bei der Ehre meiner Mutter, den knöpf ich mir vor!« »Setz dich, Erdeli!« schnarrte Gukmassow ihn an, und der Kaukasier fiel zurück in das Polster, sein Kinn ruckte nervös.

»Ich kenne Sie in der Tat, Fandorin. Ich kenne und ich achte Sie.« Gukmassows Blick war schwermütig und finster. »Und auch der General hat sie immer geachtet. Wenn Ihnen sein Andenken etwas wert ist, dann lassen Sie die Finger von der Sache. Sie machen alles nur noch schlimmer.«

Fandorins Antwort klang ebenso ernst und aufrichtig: »Wenn es nur um mich und meine pure Neugier ginge, ich käme Ihrer Bitte unbedingt nach. So aber, mit Verlaub, habe ich nicht die Wahl. Dienst ist Dienst.«

Gukmassow knackte mit den auf dem Rücken verschränkten Fingern, lief sporenklirrend im Zimmer auf und ab. Schließlich baute er sich wieder vor Fandorin auf.

»Dann habe auch ich nicht die Wahl. Ich kann nicht zulassen, daß Sie Ihre Ermittlungen fortsetzen. Die Polizei von mir aus, aber nicht Sie. Ihre Talente, Herr Fandorin, sind hier völlig fehl am Platz. Seien Sie gewiß, ich werde Ihnen mit allen Mitteln das Handwerk legen, ohne einen Gedanken an unsere gemeinsame Vergangenheit zu verschwenden.«

»Welche Mittel schweben Ihnen vor, Jessaul Gukmassow?«

»Ich weiß ein vorzügliches!« brüllte Oberleutnant Erdeli und war schon wieder auf den Beinen. »Sie, gnädiger Herr, haben die Offiziere des 4. Korps in ihrer Ehre beleidigt, und 19

ich fordere Sie zum Duell. Hier und jetzt! Aug in Aug, auf Tuchfühlung!«

»Soweit ich den Duellkodex kenne«, gab Fandorin trocken zurück, »werden die Bedingungen des Zweikampfs von demjenigen diktiert, der herausgefordert worden ist. Ich spiele, wenn es sein muß, mit Ihnen dieses dämliche Spiel, aber erst, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind. Sie können mir Ihre Sekundanten schicken, ich wohne in Nö 20. Auf Wiedersehen, die Herren.«

Er kam nicht dazu, sich umzudrehen, denn Erdeli sprang mit dem Ruf: »So zwinge ich dich zum Duell!« auf ihn zu und wollte ihm eine Ohrfeige verpassen. Mit verblüffender Gewandtheit gelang es Fandorin jedoch, den ausgeholten Arm zu packen und das fürstliche Handgelenk mit zwei Fingern zusammenzupressen - dem Anschein nach nicht sehr kräftig, doch der Oberleutnant verzog das Gesicht vor Schmerz.

»Drrrecksack!« winselte er im Falsett und schwang nun den freien linken Arm. Fandorin, den penetranten Fürsten zurückstoßend, sagte verächtlich: »Geben Sie sich keine Mühe. Wir können die Ohrfeige als verabreicht ansehen. Ich werde Sie zum Duell fordern und die Beleidigung mit Blut büßen lassen.«

»Na wunderbar!« tat der phlegmatische Stabsoffizier, den Gukmassow als Oberstleutnant Baranow vorgestellt hatte, zum ersten Mal den Mund auf. »Nenn ihm deine Bedingungen, Erdeli!«

Dieser rieb sich das Handgelenk und zischte haßerfüllt: »Mit der Pistole. Sofort. Und auf Tuchfühlung.«

»Was heißt denn das, auf Tuchfühlung?« fragte Fandorin interessiert. »Ich habe von dem Brauch schon gehört, kann mir aber leider nichts Genaues darunter vorstellen.«

»Ganz einfach«, gab der Oberstleutnant liebenswürdig Auskunft. »Die Duellanten ergreifen mit der freien Hand je einen Zipfel eines gewöhnlichen Taschentuches. Sie können meines nehmen, es ist sauber.« Bei diesen Worten zog Baranow tatsächlich ein großes rot-weiß kariertes Taschentuch hervor. »Dann werden die Pistolen aufgenommen. Gukmassow, wo hast du deine LePage?«

Der Angesprochene nahm einen länglichen Kasten vom Tisch und klappte den Deckel auf. Die langen, inkrustierten Läufe blitzten.

»Die Duellanten losen die Pistolen aus«, fuhr Baranow gutmütig lächelnd in seinen Erläuterungen fort. »Dann wird gezielt - wobei es auf die Entfernung eigentlich nichts zu zielen gibt. Und auf Kommando wird geschossen. Das ist eigentlich alles.«

»Die Pistolen werden ausgelost? Heißt das etwa, eine ist geladen und die andere nicht?« »So ist es.« Der Oberstleutnant nickte. »Darin liegt ja der Witz des Ganzen. Sonst wäre es kein Duell, sondern ein Doppelselbstmord.«

»Wenn das so ist«, sagte Fandorin achselzuckend, »tut der Herr Oberleutnant mir leid. Ich hab noch nie im Leben das falsche Los gezogen.«

»Es liegt in Gottes Hand. Passen Sie auf, daß Sie Ihr Unglück nicht beschreien!« wies Baranow ihn zurecht.

Augenscheinlich gibt er hier den Ton an und nicht Gukmassow! ging es Fandorin durch den Kopf.

»Sie benötigen einen Sekundanten«, sagte der verbiesterte Jessaul. »Wenn Sie wollen, kann ich als Ihr alter Bekannter Ihnen den Dienst erweisen. Und seien Sie unbesorgt, mit dem Losen hat alles seine Richtigkeit.«

»Das bin ich, mein lieber Gukmassow. Aber zum Sekundanten taugen Sie ganz und gar nicht. Denn sollte ich Pech haben, sähe das alles sehr nach einem Mord aus.« Baranow nickte.

»Da hat er recht. Es ist angenehm, mit einem klugen Menschen Umgang zu haben. Und du hast auch recht, Prochor, so einer ist gefährlich. Wen schlagen Sie vor, Herr Fandorin?« »Hätten Sie etwas gegen einen japanischen Staatsangehörigen einzuwenden? Sie müssen wissen, ich bin erst heute in Moskau angekommen und fand noch nicht die Zeit, Bekanntschaften zu knüpfen.«

Der Kollegienassessor hob entschuldigend die Hände.

»Von mir aus einen Papua!« rief Erdeli. »Hauptsache, es geht bald los!«

»Gibt es denn einen Arzt?« wollte Fandorin wissen.

»Ein Arzt wird nicht benötigt«, seufzte der Oberstleutnant. »Auf die Entfernung ist jeder Schuß tödlich.«

»Na, na. Nicht um mich mache ich mir übrigens Sorgen, sondern um den Fürsten.« Empört rief Erdeli etwas in seiner georgischen Muttersprache und verzog sich in die entlegenste Ecke des Raumes.

Fandorin schrieb - in wunderlichen Zeichen, von oben nach unten und von rechts nach links - eine kurze Notiz, die er nach N- 20 hinaufzubringen bat.

Masa beeilte sich nicht sonderlich zu erscheinen. Als er eine gute Viertelstunde später auftauchte, waren die Offiziere bereits nervös geworden und verdächtigten Fandorin des unlauteren Spiels.

Der Auftritt des Sekundanten machte auf die desavouierte Partei ordentlich Eindruck. Masa als ein großer Liebhaber von Duellen hatte sich für den Anlaß herausgeputzt: Er trug einen Paradekimono mit hohen, steif gestärkten Schultern, weiße Strümpfe und hatte seinen besten Gürtel mit Bambusspitzenmuster um die Hüften geschlungen.

»Was ist denn das für ein Makak!« entfuhr es Erdeli. »Na egal! Zur Sache!«

Masa verbeugte sich förmlich vor den Anwesenden und reichte seinem Herrn auf ausgestreckten Händen den Beamtendegen.

»Hier Euer Schwert, mein Herr.«

»Du fällst mir auf den Wecker mit deinem Schwert«, seufzte Fandorin. »Wir schießen uns mit Pistolen, der Herr da und ich.«

»Schon wieder mit Pistolen?« fragte Masa enttäuscht. »Was für eine barbarische Sitte. Und wen wollt Ihr erschießen? Den Struppigen? Der sieht ja aus wie ein Affe.«

Die Duellzeugen nahmen längs der Wand Aufstellung, während Gukmassow, den übrigen Männern den Rücken zukehrend, geheimnisvoll mit den Pistolen hantierte und die Duellanten alsdann wählen ließ. Fandorin sah zu, wie Erdeli, der sich zuvor bekreuzigt hatte, nach einer der Pistolen griff, und nahm sich lässig, mit zwei spitzen Fingern, die andere.

Den Anweisungen Gukmassows Folge leistend, packten die Duellanten die Taschentuchzipfel und entfernten sich voneinander, so weit es ging - es ging, selbst bei ausgestreckten Armen, nicht weiter als auf drei Schritt. Der Fürst hob die Pistole in Schulterhöhe und zielte mitten auf die Stirn seines Gegenübers. Fandorin hingegen hielt die Waffe irgendwo neben dem Oberschenkel und zielte überhaupt nicht, was die Entfernung ja auch wirklich nicht erforderte.

»Eins, zwei, drei!« zählte Gukmassow in rascher Folge und sprang zurück.

Die Pistole des Fürsten gab nur ein trockenes Klicken von sich. Dafür schoß aus Fandorins Waffe eine böse Feuer 21

zunge, und im nächsten Moment wälzte sich der Oberleutnant auf dem Teppich, hielt sich die durchschossene rechte Hand, jammerte und fluchte zum Gotterbarmen.

Nach einer Weile, als der Jammer in dumpfes Stöhnen übergegangen war, konstatierte Fandorin in schulmeisterlichem Ton: »Mit dieser Hand werden Sie jedenfalls keinen mehr ohrfeigen!«

Vom Flur her ertönte Getrappel und Geschrei. Gukmassow öffnete die Tür einen Spalt und meldete nach draußen, es gebe einen peinlichen Vorfall, der Oberleutnant Erdeli habe sich beim Entladen der Pistole die Hand verletzt. Daraufhin wurde der Verletzte zu Professor Welling hinübergetragen, der glücklicherweise das Haus noch nicht verlassen hatte, um die Utensilien für die Balsamierung zu beschaffen, und ihm also einen Verband anlegen konnte; alsdann kehrte man in Gukmassows Zimmer zurück.

»Was nun?« fragte Fandorin. »Ist Satisfaktion gegeben?«

Gukmassow schüttelte den Kopf.

»Nun werden Sie sich mit mir duellieren. Zu den nämlichen Bedingungen.« »Und dann?« »Dann? Dann, sofern Sie davonkommen sollten, mit allen übrigen. Der Reihe nach. So lange, bis einer sie erschießt. Fandorin, ersparen Sie mir und meinen Leuten diese Tortur.« Jessaul Gukmassow schaute den jungen Mann beinahe bittend an. »Geben Sie Ihr

Ehrenwort, daß Sie sich aus den Ermittlungen heraushalten werden, und wir scheiden als Freunde.«

»Ihre Freundschaft zu erwerben wäre mir eine große Ehre, doch Sie verlangen Unmögliches von mir«, erwiderte Fandorin mit Bedauern in der Stimme.

Masa hatte ihm etwas ins Ohr zu wispern: »Herr, ich weiß zwar nicht, was der Mann mit dem schönen Bart Euch da erzählt, aber mir schwant Böses. Wäre es nicht vernünftiger, den ersten Schritt zu tun und diese Samurais über den Haufen zu schießen, solange sie noch nicht mit sich zu Rande sind? Ich habe Euer kleines Pistölchen im Ärmel stecken und außerdem den Schlagring, den ich mir in Paris gekauft habe. Den würde ich zu gerne mal ausprobieren.«

»Masa! Halt dich im Zaum mit deinen Räubermanieren!« wies Fandorin den Diener in die Schranken. »Ich schlage mich mit den Herren auf ehrliche Art, immer schön der Reihe nach.«

»Och, das kann ja dauern!« maulte der Japaner und ließ sich, den Rücken zur Wand, auf dem Fußboden nieder. Fandorin unternahm einen Versuch, die Offiziere zur Vernunft zu rufen.

»Meine Herren! Glauben Sie mir, das führt zu gar nichts. Es ist die pure Zeitverschwendung.«

»Keine überflüssigen Worte«, schnitt Gukmassow ihm das Wort ab. »Weiß dein Japaner, wie man Duellpistolen lädt? Nein? Dann mach du es, Eichholz.«

Und wieder griffen die Kontrahenten zu den Pistolen, das Taschentuch straffte sich. Gukmassow wirkte düster und entschlossen, während Fandorin einen eher verlegenen Eindruck machte. Auf das Kommando, welches diesmal von Baranow kam, klickte Gukmassows Abzug leer. Fandorin hatte nicht abgedrückt.

»Schießen Sie, Fandorin, zum Teufel mit Ihnen!» zischte der Jessaul leichenblaß. »Und Sie, meine Herren, bestimmen gefälligst den nächsten. Die Tür verbarrikadieren, damit keiner schnüffelt! Und lassen Sie ihn ja nicht lebend davonkommen.«

»Schade, daß Sie mich nicht ausreden lassen wollen«, sprach Fandorin, die geladene Pistole schwenkend. »Und ich sage Ihnen, meine Herren, solange das Los zu entscheiden hat, sind Sie ohne Chance. Ich verfüge über die seltsame Gabe, in Hasardspielen sagenhaftes Glück zu haben. Ein unerklärliches Phänomen, ich muß damit leben. Offenbar liegt es daran, daß meinem seligen Papa das Glück in den seltensten Fällen hold war. Ich hingegen gewinne immer und in jedem Spiel, weswegen ich es nicht ausstehen kann zu spielen.« Aufrichtig blickte er in die finsteren Offiziersgesichter. »Sie glauben mir wohl nicht? Dann schauen Sie her. Hier ist ein Imperial.« Fandorin zog eine Goldmünze aus der Tasche und reichte ihn Eichholz. »Werfen Sie, Baron, und ich sage Ihnen an, ob Adler oder Avers.«

Der Baron, ein blutjunger Offizier, dem eben erst der Bart zu sprießen begann, wechselte mit Gukmassow und Baranow einen Blick, zuckte mit den Achseln und warf die Münze. Sie wirbelte noch durch die Luft, da ließ Fandorin sich schon hören: »Sagen wir: Adler.« »Adler!« bestätigte Eichholz. Er warf noch einmal.

»Wieder Adler!« versetzte Fandorin gelangweilt.

»Adler!« rief der Baron erstaunt. »Potzblitz, meine Herren!«

»Los, Mitja, noch einmal!« trieb Gukmassow ihn an.

»Avers«, warf Fandorin hin, in eine ganz andere Richtung schauend.

Grabesstille trat ein. Der vorgereckten Handfläche des Barons gönnte Fandorin keinen Blick.

»Ich sagte es Ihnen doch. Masa, ikoo. Owari da* Adieu, die Herren.«

Mit abergläubischem Entsetzen sahen die Offiziere den Beamten und seinen japanischen Diener zur Tür gehen.

;:" (jap.) Masa, wir gehen. Das war's.

»Eines wenigstens sollten Sie versprechen, Fandorin!« hielt Gukmassow, immer noch blaß, ihn zurück. »Versprechen Sie, Ihr detektivisches Talent nicht zum Schaden des Vaterlands zu verwenden! Rußlands Ehre steht auf dem Spiel.«

Fandorin schwieg. Dann sagte er: »Ich kann Ihnen versprechen, Gukmassow, nichts zu tun, was meiner eigenen Ehre zuwiderläuft. Das dürfte genügen.«

Der Kollegienassessor Fandorin verschwand durch die Tür. Masa, ihm hinterdrein, drehte sich auf der Schwelle um und tat vor den Offizieren einen förmlichen Diener, dann war auch er weg.

23

VIERTES KAPITEL, in welchem architektonischer Schnickschnack seine Nützlichkeit beweist Die Zimmer im »Anglija« standen dem vornehmen »Dusseaux« in Prunk und Komfort nicht nach, in puncto architektonischer Finesse übertrafen sie es wohl gar; der enorme Goldstuck an den Decken und die marmornen Schnörkel hie und da erweckten allerdings eher den Anschein von Fragwürdigkeit oder immerhin Leichtsinn. Jedenfalls strahlte das Portal in elektrischer Beleuchtung, die drei oberen Stockwerke waren per Fahrstuhl zu erreichen, und im Vestibül machte dann und wann ein in Mode gekommenes Wunderwerk der Technik mit durchdringendem Schellen auf sich aufmerksam: das Telefon.

Fandorin war in der geräumigen Halle mit Wandspiegeln und saffianledernen Diwanen ein wenig auf und ab spaziert und schließlich vor der Tafel mit den Namen der Gäste stehengeblieben. Das Publikum schien hier bunter gemischt als im »Dusseaux«: Ausländische Handelsleute ebenso wie Börsenmakler und Schauspieler beliebter Bühnen gaben sich die Ehre. Eine Sängerin namens Wanda war auf der Liste jedoch nicht zu entdecken. Fandorin beobachtete die Bedienstetenschaft, die zwischen Tresen und Fahrstuhl hin- und herhuschte, und suchte sich einen besonders beflissen wirkenden Diener mit verständiger, aufgeweckter Physiognomie heraus, den er, ein wenig den Verlegenen markierend, fragte: »K-k-... Kann es sein, daß Frau Wanda nicht mehr hier logiert?«

»Doch, doch! Warum, bitte schön, sollte sie nicht?« kam die bereitwillige Antwort des Dieners, und da er den suchenden Blick des holden jungen Herrn gewahrte, tippte er mit dem Finger auf die Tafel.

»Hier: Frau Helga Iwanowna Tolle, das ist sie. Wanda ist ihr, bitte schön, Künstlername, zum besseren Wohlklang. Frau Wanda logiert im Seitenflügel. Sie müßten sich, bitte schön, durch die Tür da auf den Hof begeben, mein Herr, Frau Wanda hat dort ihr Appartement mit separatem Eingang. Aber um die Zeit pflegt sie, bitte schön, noch nicht anwesend zu sein.«

Schon wollte der Diener davoneilen, doch das Knistern einer frischen Banknote in Fandorins Tasche ließ den Burschen in der Bewegung erstarren.

»Noch ein Begehrchen, bitte schön?« fragte er und bedachte den jungen Herrn mit einem ergebenen, geradezu liebkosenden Blick.

»Wann pflegt sie denn nach Hause zu kommen?«

»Je nachdem. Sie singt doch in der >Alpenrose<, täglich außer Montag, bitte schön. Wissen Sie was, mein Herr, setzen Sie sich doch einstweilen ans Büfett, trinken Sie einen Tee oder noch was dazu, bitte schön, und wenn Mademoiselle auftauchen, gebe ich Ihnen unbedingt Bescheid.«

»Und sagen Sie, was - was ist sie f-f-... für eine?« Fandorin machte eine vage kreisende Handbewegung. »Ich meine, ist sie wirklich so hübsch?«

»Bildhübsch, ich kann Ihnen sagen!« Der Diener schmatzte mit den wulstigen roten Lippen. »Sie hat bei uns ihren exklusiven Stand. Zahlt monatlich dreihundert für Logis und ist beim Trinkgeld äußerst spendabel, bitte schön.«

Hier plazierte er eine psychologisch fein bemessene Pause - Fandorin Gelegenheit gebend, seiner Hosentasche umständlich zwei Rubelscheine zu entnehmen, die er sich jedoch, scheinbar aus Zerstreutheit, in die Brusttasche stopfte.

»Frau Wanda pflegt nicht jeden zu empfangen, bitte schön, da ist sie streng«, hatte der Diener bedeutungsvoll mitzuteilen, während sein Blick sich an der Brust seines Gegenübers festsaugte. »Etwas anderes wäre es, bitte schön, wenn ich es hinterbrächte, insofern ich ihr spezielles Vertrauen genieße.«

»Da hast du.« Fandorin reichte ihm einen der Scheine. »Den zweiten gibt es, wenn Mademoiselle Wanda eingetroffen ist. Ich gehe derweil ein bißchen Zeitung lesen. Wo, sagtest du, habt ihr euer Büfett?«

Die »Moskauer Regierungsnachrichten« vom 25. Juni 1882 meldeten das Folgende: TELEGRAMM AUS SINGAPUR

Der berühmte Weltreisende Nikolai N. Miklucho-Maklai beabsichtigt, an Bord des Klippers »Strelok« die Rückkehr nach Rußland anzutreten. Miklucho-Maklais Gesundheitszustand ist deutlich angegriffen. Er ist abgemagert, leidet beständig unter Schüttelfieber- und Neuralgieanfällen. Seine seelische Verfassung ist meistenteils düster. Wie er unserem Korrespondenten anvertraute, habe er vom Umherziehen die Nase gestrichen voll und träume davon, auf kürzestem Wege die heimatlichen Gestade anzusteuern.

Das ausgemergelte, nervös zuckende Gesicht des sogenannten »Märtyrers der Ethnographie« lebendig vor Augen, schüttelte Fandorin mitleidig den Kopf und blätterte um.

BLASPHEMIE IN DER AMERIKANISCHEN REKLAME DER TOD DES PRÄSIDENTEN stand jüngst in großen Lettern über New Yorks Hauptstraße, dem Broadway, zu lesen und jagte den Passanten einen heillosen Schrecken ein, bevor sie Gelegenheit hatten, das in weit kleinerer Schrift darunter Stehende zur Kenntnis zu nehmen: ... wäre eine Frage der Zeit, trüge er in unserem unwirtlichen Klima nicht die warme Wollunterwäsche der Garland Comp. Ein Repräsentant des Weißen Hauses hat gegen die schamlose Firma wegen Mißbrauchs des hohen Titels zu Geschäftszwecken Anzeige erstattet.

Na, so weit sind wir bei uns gottlob noch nicht, und es dürfte wohl kaum so weit kommen, dachte der Kollegienassessor befriedigt. Seine Majestät der Zar war eben doch nicht irgendein Präsident.

Und noch eine Überschrift ästimierte Fandorin, der für die Reize der schöngeistigen Literatur seit je empfänglich war:

LITERARISCHE VORTRÄGE

Im repräsentativen Saal des Hauses der Fürstin Trubezkaja hielt Professor I. N. Pawlow einen Vortrag über die zeitgenössische Literatur, der beträchtlichen Zustrom fand. Der Vortrag widmete sich der Analyse jüngster Werke von Iwan Turgenjew. Herr Pawlow legte anschaulich dar, wie tief dieses Talent in seiner Hascherei nach einer tendenziösen, falsifizierten Realität gesunken sei. Die nächste Vorlesung wird einer Analyse der Werke von Schtschedrin, dem namhaften Vertreter eines Realismus gröbster und irrigster Machart, Vorbehalten sein. Fandorin las den Artikel zu Ende und war irritiert. Die Herren Turgenjew und Schtschedrin zu preisen hatte in Kreisen russischer Diplomaten in Japan zum guten Ton gehört. Nun zeigte sich, wie weit er durch seine fast sechsjährige Abwesenheit hinter der literarischen Entwicklung zurückgeblieben war. Aber was gab es Neues auf technischem Gebiet?

TUNNEL UNTER DEM ÄRMELKANAL Die Länge des unter dem Ärmelkanal entstehenden Eisenbahntunnels beträgt mittlerweile 1200 Meter. Die Stollen werden von Ingenieur Brunton unter Anwendung eines Schnittbohrers vorangetrieben, der mit Druckluft funktioniert. Den Plänen zufolge soll die unterirdische Anlage eine Länge von etwas über dreißig Werst erreichen. Ursprünglich sah das Projekt vor, den englischen und den französischen Stollen binnen fünf Jahren zu vereinen, doch sind Skeptiker heute der Meinung, daß aufgrund des Arbeitsaufwandes bei der Auskleidung des Tunnels sowie der Schienenverlegung mit der Eröffnung der Strecke nicht vor 1890 zu rechnen sei...

Fandorin war dem Fortschritt zugetan, und die Grabung eines englisch-französischen Tunnels interessierte ihn außerordentlich. Den spannenden Artikel zu Ende zu lesen war ihm jedoch nicht vergönnt. Am Schanktresen drückte sich nämlich seit Minuten ein Herr im grauen Anzug herum, der ihm schon zuvor im Vestibül an der Loge des Oberhoteldieners aufgefallen war. Einzelne Worte, die an Fandorins vorzüglich geschultes Ohr drangen, erschienen ihm so erbaulich, daß er die Lektüre erst einmal abbrach, ohne die Zeitung deswegen sinken zu lassen.

»Versuch ja nicht, mich reinzulegen!« warnte der Herr in Grau den Büffetier. »Hattest Du gestern nacht Dienst oder nicht?«

»Ich hab geschlafen, Euer Gnaden!« brummte der Angesprochene, ein vierschrötiges, rotbäckiges Unikum mit geöltem und gescheiteltem Kinnbart. »Vom Nachtdienst ist nur Senja noch hier.« Mit einer Bartspitze deutete er auf den Jungen, der Tee und Piroggen austrug.

Der Graue winkte den Jungen mit dem Finger heran. Ein 25

Spitzel! beschied Fandorin zweifelsfrei und wunderte sich nicht weiter. Der Herr Polizeipräsident war ein ehrgeiziger Mann, der nicht wollte, daß sämtliche Lorbeeren erfolgreicher Ermittlung dem Sonderbeauftragten zufielen.

»Du, sag mir doch mal, Senja«, fragte der neugierige Herr den Jungen zuckersüß, »ist denn vorige Nacht bei Mamsell Wanda ein General mit seinen Offizieren gewesen?«

Senja schniefte, klapperte mit den weißblonden Wimpern und fragte zurück: »Als wie in der Nacht? 'N Gennrall?«

»Jaja. Ein General!« Der Spitzel nickte.

»Dahier?« Der Junge furchte die Stirn.

»Ja doch, hier, wo sonst?«

»Tun Gennralls inne Nacht rumfahrn?« erkundigte Senja sich ungläubig. »Warum nicht?« »'N Gennrall tut inne Nacht schlafen. Dafür isser Gennrall«, verkündete der Junge aus tiefster Überzeugung.

»Du ... du ... Paß bloß auf, wenn du mich zum Narren halten willst!« erboste sich der Graurock. »Dann nehm ich dich mit aufs Revier, da wirst du Vögelchen schon singen!« »Aufs Revier? Wieso, Onkel, ich bin doch 'n Waisenkind!« gab Senja zurück, und seine unschuldigen Augen füllten sich mit Tränen. »Aufs Revier darf ich nich mit, weil da davon krieg ich die Fallsucht.«

»Hach, ihr steckt doch alle unter einer Decke, ihr!« Der Agent spuckte aus. »Aber wartet nur, ich komm euch noch auf die Schliche!« Die Tür laut hinter sich zuschlagend, verließ er den Büfettraum.

Senja schaute ihm nach.

»Grätig, der Herr!« sagte er.

»Die gestern warn grätiger!« tuschelte der Büfettier und 26

gab dem Jungen einen Klaps auf den geschorenen Hinterkopf. »Das warn solche, die dir die Rübe abreißen, und die Polizei guckt bloß zu. Paß bloß auf, Senja, daß du dichthältst. Hast ja auch was einkassiert für, oder nicht?«

»Prof. Semjonowitsch, beim Allmächtgen!« sprudelte es aus dem Jungen, der dabei heftig blinzelte. »Ich schwör's Ihnen, Prof Semjonowitsch, auf die Heilje Muttergottes. Und sowieso hab ich nur fünf Dreier gekriegt, damit bin ich gleich in die Kirche, 'ne Kerze anzünden für die liebe Seele von meiner Mamma.«

»Fünf Dreier, ach Gottchen! Erzähl das mal deiner Großmutter. In die Kirche, guck an!« Der Büfettier holte aus, doch Senja entwischte flink, schnappte sich das Tablett und lief zu einem Gast, der gerufen hatte.

Fandorin legte die »Moskauer Regierungsnachrichten« beiseite und ging zum Tresen.

»War der Mann wirklich von der Polizei?« fragte er, und auf seinem Gesicht spiegelte sich höchste Pein. »Ich meine, ich bin ja nicht zum Teetrinken hier, Verehrtester, ich warte auf Frau Wanda. Wieso interessiert sich denn um Himmelswillen die P-... Polizei für sie?«

Der Büfettier maß ihn mit einem langen Blick, dann fragte er argwöhnisch: »Haben der Herr ... eine Verabredung?«

»Und ob ich die habe! Sonst t-t-... tat ich ja nicht auf sie warten.« Die blauen Augen des jungen Herrn blickten äußerst besorgt. »Aber mit der P-... damit will ich nichts zu tun haben. Mademoiselle Wanda wurde mir als anständige Dame empfohlen, und jetzt höre ich, die P-... Polizei ist hinter ihr her! Ein Glück, daß ich wenigstens in Zivil hier bin und nicht in Uniform.«

»Nicht doch, Euer Wohlgeboren«, besänftigte der Büfettier den erregten Gast. »Die Dame ist aller Ehren wert. Keine 26

Dahergelaufene. Manche Herren gehen in Uniform ein und aus, das gilt nicht als Schande.« »In Uniform?« Der junge Herr traute seinen Ohren nicht. »Etwa auch Offiziere?«

Der Büfettier und Senja, der schon wieder bei ihm stand, blickten einander an und brachen in Lachen aus.

»Da kannste getrost höher gehen«, sagte der Junge prustend. »Gennralls spaziern hier durch, das iss die wahre Pracht. Auf zwei Beinen gehnse bei ihr rein, und hinterher wernse stockbesoffen rausgetragen. So 'ne lustige Mamsell iss das!«

Prof Semjonowitsch verpaßte dem Scherzbold eine Backpfeife.

»Der schwindelt sich noch um Kopf und Kragen. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst die Klappe halten!«

Fandorin legte angewidert die Stirn in Falten und ging zum Tisch zurück. Aber der Ärmelkanaltunnel ließ ihn jetzt kalt. Er konnte es kaum noch erwarten, mit Mademoiselle Helga Iwanowna Tolle ins Gespräch zu kommen.

Und der Kollegienassessor mußte sich nur noch eine Winzigkeit gedulden. Keine fünf Minuten waren vergangen, als der Diener von vorhin in den Büfettraum scharwenzelt kam und Fandorin ins Ohr wisperte: »Sie ist da, bitte schön. Wie soll ich melden?«

Fandorin entnahm seiner Schildpattbrieftasche ein Visitenkärtchen und kritzelte nach kurzem Überlegen mit einem kleinen silbernen Stift ein paar Worte darauf.

»Hier, b-b-... bring ihr das.«

Der Diener flitzte. Im Nu hatte er den Auftrag erfüllt und meldete: »Mademoiselle lassen bitten. Wenn Sie mir folgen würden. Ich geleite Sie, bitte schön.«

Draußen dunkelte es bereits. Fandorin betrachtete den 27

Anbau, dessen Erdgeschoß die geheimnisvolle Frau Wanda ganz in Beschlag hatte. Daß die Dame einen separaten Eingang benötigte, leuchtete ein, ihren Gästen war zweifellos an Konfidenz gelegen. Das Obergeschoß hatte einen Balkon, der, gestützt auf die Schultern einer ganzen Sippe von Karyatiden, schwer über Wandas hohen Fenstern hing. Auch ansonsten prunkte die Fassade mit allerlei Stuck, ganz nach dem schlechten Geschmack der sechziger Jahre, in denen dieses putzige Gebäude wohl errichtet worden war.

Der Diener betätigte die elektrische Klingel und entfernte sich, nachdem er seinen Rubel entgegengenommen hatte, mit artiger Verbeugung. So eifrig schien er darauf bedacht, Diskretion und Einfühlung zu verkörpern, daß er den Weg quer über den Hof auf Zehenspitzen zurücktrippelte.

Die Tür ging auf, und Fandorin sah eine schlanke, zierliche Frau mit toupiertem aschblondem Haar und großen, grünen Augen vor sich stehen, denen man die Spottlust ansah. Letztere schien sich allerdings gerade hinter einer Portion Argwohn verstecken zu wollen.

»Tritt ein, seltsamer Gast!« sprach die Mieterin des Etablissements mit brusttiefer Stimme, die durch das poetische Beiwort »betörend« wohl am besten beschrieben war. Einen Akzent, wie ihr deutscher Name ihn hätte erwarten lassen, konnte Fandorin beim besten Willen nicht heraushören.

Das von Mademoiselle Wanda gemietete Appartement bestand aus Diele und großem Wohnzimmer, das wohl zugleich als Boudoir diente. Ein in Anbetracht der Profession, welcher hier nachgegangen wurde, völlig naheliegender Gedanke, der Fandorin jedoch in Verlegenheit brachte, denn einer dieser leichtlebigen Damen sah Frau Wanda überhaupt nicht ähnlich. Nachdem sie ihren Gast ins Wohnzimmer gebeten und selbst in einem weichen türkischen Sessel Platz 27 genommen hatte, blickte sie, die Beine übereinandergeschlagen, dem immer noch im Türrahmen stehenden jungen Mann abwartend entgegen. Der seinerseits nahm sich die Zeit, Wanda und ihre Behausung im Schein der elektrischen Lampe eingehender zu betrachten.

Eine ausgesprochene Schönheit war sie auf den ersten Blick nicht. Die Nase ein bißchen sehr aufwärts gebogen, der Mund etwas zu breit, die Jochbeine stärker hervortretend, als der klassische Kanon gebot. Doch all diese Unzulänglichkeiten schienen die phänomenale Anziehungskraft der Frau nicht zu mindern, sondern auf merkwürdige Art zu verstärken. Von diesem Gesicht mochte man den Blick nicht wenden - so viel Leben war darin, so viel Gefühl und so viel von dem, was nicht zu beschreiben, doch von jedem Mann unfehlbar zu erspüren ist: jenem Zauber, den man Fraulichkeit nennt. Alle Achtung! dachte Fandorin. Wenn Mademoiselle Wanda sich bei den Moskauern solcher Popularität erfreute, schien es um deren Geschmack nicht zum schlechtesten zu stehen. Es fiel ihm schwer, die Augen von dem wunderbaren Gesicht loszureißen, um sich nunmehr das Zimmer näher zu besehen. Ein Pariser Interieur wie aus dem Bilderbuch, in Farbtönen von Purpur bis bordeaux: plüschiger Teppich, gediegenes, anheimelndes Mobiliar, eine Vielzahl Lampen und Leuchter mit bunten Schirmen, dazu einige chinesische Figürchen und an der Wand - der neueste Schrei! - japanische Stiche mit Geishas und Kabuki-Mimen. In der gegenüberliegenden Ecke befand sich, von zwei Säulen verdeckt, der Alkoven. Den Blick gezielt dorthin zu richten, verbot allerdings Fandorins Taktgefühl.

»Was alles?« beendete die Hausherrin das offensichtlich schon viel zu lange währende Schweigen. Fandorin zuckte zusammen: Er spürte geradezu physisch, wie ihre magische 28

Stimme ein paar höchst selten angerührte Saiten in seinem Inneren zum Schwingen brachte.

Und da sich in seinem Gesicht eine höfliche Begriffsstutzigkeit abzeichnete, fügte Wanda ungeduldig hinzu: »Auf Ihrer Karte, Herr Fandorin, steht: >Ich weiß alles.< Was soll das heißen, alles? Und wer sind Sie überhaupt?«

»Beamter im besonderen Auftrag des Generalgouverneurs Fürst Dolgorukoi«, gab Fandorin ruhig zur Antwort. »Beauftragt, die Umstände des Ablebens von Generaladjutant Sobolew zu ermitteln.«

Die feinen Brauen der Hausherrin schnellten nach oben; Fandorin sah es und bemerkte: »Geben Sie sich keine Mühe, Verehrteste, so zu tun, als wüßten Sie nichts vom Tod des Generals. Und was meine Notiz auf dem Kärtchen angeht, so habe ich Sie damit getäuscht. Ich weiß beileibe nicht alles, nur das Wichtigste ist mir klar: Michail Sobolew ist gestern nacht gegen ein Uhr hier in diesem Zimmer gestorben.«

Ein Beben ging durch Wandas Körper, sie legte die schmalen Hände um den Hals, als fröre sie, und sagte kein Wort. Fandorin sah es mit Befriedigung; er nickte und fuhr fort: »Sie haben niemanden verraten, Mademoiselle, und Ihr Wort also nicht gebrochen. Die Herren Offiziere sind selber schuld, sie waren beim Verwischen ihrer Spuren allzu ungeschickt. Ich möchte ganz offen zu Ihnen sein und darf auf gleich viel Ehrlichkeit Ihrerseits hoffen. Was ich bis jetzt weiß, ist das Folgende.« Er schloß die Augen zu einem Spalt, damit ihn das Farbspiel auf dem erregten Gesicht seiner Gesprächspartnerin, von zarter Röte zu feiner Blässe changierend, nicht aus dem Konzept brachte. »Sie sind mit Sobolew und seinem Gefolge aus der Restauration des >Dusseaux< direkt hierhergefahren. Das geschah kurz vor Mitternacht. Eine Stunde später war der G-... General bereits tot. Die Offiziere trugen ihn hinaus, indem sie ihn als betrunken ausgaben, und brachten ihn zurück in sein Hotel. Wenn Sie so freundlich wären, das Bild zu vervollständigen, könnte ich dafür sorgen, daß Ihnen weitere polizeiliche Verhöre erspart bleiben. Die Polizei ist übrigens schon dagewesen, die Diener haben es Ihnen gewiß berichtet. Es wäre also weit besser für Sie, sich mir zu offenbaren, das versichere ich Ihnen.«

Mehr sagte Fandorin nicht - mehr gab es seiner Meinung nach nicht zu sagen. Wanda erhob sich jäh, nahm den persischen Schal von der Stuhllehne und legte ihn sich um die Schultern, wiewohl der Abend warm, ja beinahe schwül war. Sie ging im Zimmer zweimal auf und ab, warf dem wartenden Beamten zwischendurch immer wieder einen kurzen Blick zu. Endlich blieb sie vor ihm stehen.

»Wenigstens sehen Sie einem Polizisten überhaupt nicht ähnlich. Setzen Sie sich. Die Erzählung kann sich hinziehen.«

Sie wies auf den weichen, ganz unter bestickten Kissen begrabenen Diwan, doch Fandorin zog es vor, sich auf einem Stuhl niederzulassen. Eine kluge Frau! beschied er im stillen. Stark, kaltblütig. Die ganze Wahrheit wird sie vielleicht nicht sagen. Aber lügen wird sie ebensowenig.

»Ich habe den Helden gestern im >Dusseaux< zum ersten Mal gesehen.« Wanda ergriff einen mit Brokat bezogenen Hocker und setzte sich neben Fandorin - ganz dicht und so, daß sie zu ihm aufsah. Aus dieser Perspektive wirkte sie auf berückende Weise schutzlos, wie eine orientalische Sklavin zu Füßen des Padischah. Fandorin rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, doch abzurücken hätte dumm ausgesehen.

»Ein schöner Mann. Ich hatte natürlich schon viel von ihm gehört, doch daß er so gut aussah, hatte ich nicht vermutet. Besonders diese kornblumenblauen Augen.« Wanda fuhr 29

sich mit der Hand zerstreut über die Brauen, so als wollte sie die Erinnerung verscheuchen. »Ich habe für ihn gesungen. Er lud mich an seinen Tisch. Ich weiß nicht, was man Ihnen über mich erzählt hat, bestimmt ist viel üble Nachrede dabei. Ich bin keine Dirne, ich bin eine moderne, freizügige Frau, die selbst entscheidet, wen sie liebt und wen nicht.« Wanda schaute Fandorin herausfordernd an, und er meinte zu sehen, daß sie jetzt ganz ungeschminkt zu ihm sprach. »Wenn mir ein Mann gefällt und ich ihn haben will, schleppe ich ihn nicht vor den Altar, wie das die sogenannten ordentlichen Frauen tun. Nein, ordentlich bin ich gewiß nicht. Weil ich nämlich eure Ordnungen nicht anerkenne.«

Von wegen Sklavin und schutzlos! dachte Fandorin verblüfft, während er in ihre blitzenden Augendiamanten hinunterblickte. Eher war sie eine Amazonenkönigin. Man konnte sich gut vorstellen, wie sie den Männern den Kopf verdrehte mit diesen gezielten Registerwechseln, von Hochmut zu Demut und wieder retour.

»Mehr z-zur Sache, wenn ich bitten darf«, sagte Fandorin trocken, da er sich den unpassenden Gefühlen, die ihn bestürmten, nicht gern ergeben wollte.

»Mehr z-zur Sache geht gar nicht«, äffte die Amazone ihn nach. »Nicht ihr kauft mich, nein, ich kaufe euch und lasse euch noch dafür zahlen! Ich möchte nicht wissen, wie viele ordentliche Frauen ihre Gatten liebend gern mit dem Weißen General betrogen hätten, nur eben heimlich, still und leise. Ich hingegen bin frei und habe nichts zu verbergen. Sobolew hat mir gefallen, jawohl.« Schon wieder hatte sie den Tonfall gewechselt, klang jetzt nicht mehr herausfordernd, sondern verschmitzt. »Und ich gebe zu, daß es mir schmeichelte, so einen Schwalbenschwanz in meine Sammlung zu bekommen. Gut. Wie ging es weiter?« Wanda hob die Schultern.

»Ganz normal. Wir sind zu mir gefahren, haben Wein getrunken. Was dann kam, weiß ich nur noch dunkel. Ich war im Rausch. Wir müssen ziemlich schnell dort im Alkoven gelandet sein.« Sie lachte rauh, doch das Lachen brach gleich wieder ab, und ihr Blick umwölkte sich. »Das Ende war furchtbar, ich mag nicht daran denken. Ersparen Sie mir die physiologischen Details, ja? So etwas wünscht man keinem ... Wenn der Liebhaber auf dem Höhepunkt der Gefühle plötzlich innehält und auf dich fällt als ein totes Gewicht... « Wanda schluchzte und wischte sich wütend eine Träne von der Wange.

Fandorin verfolgte ihre Mimik und Tonlage genau, und ihm schien immer noch, daß Mademoiselle die Wahrheit sprach. Nach einer angemessenen Pause fragte Fandorin: »War es Zufall, daß Sie dem G-... General begegnet sind?«

»Ja. Das heißt, nicht ganz. Daß er im >Dusseaux< abgestiegen war, wußte ich. Und ich war neugierig auf ihn.«

»Hat er denn viel Wein getrunken bei Ihnen?«

»Bestimmt nicht. Eine halbe Flasche Chateau Yquem, das war alles.«

»Nanu?« Fandorin wunderte sich. »Hat er den Wein mitgebracht?«

»Nein. Wie kommen Sie darauf?« fragte die Gastgeberin verwundert zurück.

»Ich habe den Toten recht gut gekannt, Mademoiselle. Chateau Yquem war sein Lieblingswein. Woher konnten Sie das wissen?«

Wanda schlug theatralisch die schmalen Hände zusammen.

»Das wußte ich überhaupt nicht. Aber Chateau Yquem ist auch meine Marke. Überhaupt hatten wir zwei, der General und ich, viele Gemeinsamkeiten. Um so trauriger, daß die 30

Bekanntschaft nicht von Dauer war.« Sie lächelte bitter und sah wie unabsichtlich nach der Kaminuhr.

Fandorin, dem diese Regung nicht entgangen war, ließ sich Zeit bei seinem Verhör.

»Na schön. Das weitere läßt sich denken. Sie bekamen einen Schreck, wahrscheinlich haben Sie g-... geschrien, die Offiziere liefen herbei und versuchten, Sobolew wieder zum Leben zu erwecken. Wurde nach einem Arzt geschickt?«

»Nein, man sah ja, daß er tot war. Die Offiziere hätten mich am liebsten in der Luft zerrissen.« Sie lächelte schon wieder, doch diesmal nicht bitter, sondern hämisch. »Besonders der eine, in so einer Tscherkeßka. Der konnte sich gar nicht einkriegen von wegen Schande und daß nun die ganze Sache in Gefahr sei, Tod im Hurenbett und so weiter.« Wandas Lächeln wurde unfein, entblößte ihre makellosen weißen Zähne. »Und noch so ein finsterer Jessaul war dabei, der heulte erst herum, und dann meinte er: >Wenn du quatschst, schlag ich dich tot.< Geld hat er auch geboten. Ich hab's genommen, falls es Sie interessiert. Und die Drohungen haben mich erschreckt, muß ich zugeben. Das klang doch alles sehr einschüchternd, besonders bei dem Jessaul.«

»Ja, ja, das kenne ich!« Fandorin nickte.

»Sehen Sie ... Dann haben sie ihn angekleidet, bei den Armen gepackt wie einen Betrunkenen und fortgeschleift, den tapferen Helden. Es war einmal ... Sie wollten doch die Wahrheit wissen. Das ist sie. Berichten Sie Ihrem Gouverneur: Rußlands große Hoffnung, der Bezwinger der Muselmanen, starb im Bett einer Hure den Heldentod. Ehe man sich versieht, ist man als neue Delila in die Geschichte eingegangen. Was meinen Sie, Monsieur, ob eines Tages etwas über mich in den Schulbüchern stehen wird?«

Diesmal klang ihr Lachen kampflustig.

»Wohl kaum«, erwiderte Fandorin ganz in Gedanken.

Das Bild schien klar. Und der Eifer, mit dem die Offiziere ihr Geheimnis zu hüten gedachten, war nur allzu verständlich. Ein Nationalheld - mit solch einem Ende. Wie häßlich. Und irgendwie unrussisch. Die Franzosen hätten es ihrem Idol vermutlich vergeben - in Rußland mußte es als nationale Schande gelten.

Frau Wanda hatte jedenfalls nicht viel zu befürchten. Zwar oblag es dem Gouverneur zu entscheiden, was mit ihr werden sollte, doch dafür, daß die freiheitsliebende Sängerin von den Behörden zumindest nicht offiziell behelligt werden würde, durfte man die Hand ins Feuer legen.

Man hätte den Fall also als abgeschlossen ansehen können. Doch neugierig, wie Fandorin nun einmal war, gab ihm seine beiläufige Beobachtung von vorhin keine Ruhe. Wanda hatte inzwischen schon mehrfach heimlich zur Uhr geschaut, und er meinte in diesen flüchtigen Blicken eine wachsende Unruhe bemerkt zu haben. Der kleine Zeiger näherte sich unterdessen der Zehn, fünf Minuten blieben noch. Konnte es sein, daß Frau Wanda um zehn Uhr Besuch erwartete? Und daß ihr auffälliges Entgegenkommen nur diesem Umstand zu verdanken war? Fandorin zögerte. Zu gern hätte er einerseits erfahren, wen die Dame zu solch später Stunde noch erwartete. Andererseits hatte Fandorin schon als Kind gelernt, daß man Damen nicht zur Last fiel. In einer Situation wie dieser verbeugt sich ein wohlerzogener Mensch und geht - zumal, wenn er bekommen hat, was er wollte. Also? Ein vernünftiger Gedanke setzte allem Zaudern ein Ende. Selbst wenn er seinen Abgang bis zehn hinauszögerte und den Gast noch zu sehen bekam, würde in seiner Gegenwart ganz bestimmt kein spannendes Gespräch in Gang kommen.

Dieses Gespräch aber war es, das Fandorin am allermeisten interessierte.

Also erhob sich Fandorin, dankte der Gastgeberin für ihre Offenheit und verabschiedete sich, womit er Mademoiselle augenscheinlich einen Gefallen tat. Doch als Fandorin aus der Tür des Seitenflügels getreten war, hatte er es nicht eilig, den Hof zu überqueren, sondern blieb stehen, wie um sich irgendwelchen Staub vom Ärmel zu wischen, und warf einen Blick auf die Fenster hinter sich. Vielleicht schaute Wanda ihm nach? Nein. Es war nur natürlich, daß sie jetzt nicht am Fenster stand, sondern dort, wohin sich jede normale Frau begibt, wenn ein Gast gegangen und der nächste schon im Anmarsch ist: vor dem Spiegel. Sicherheitshalber wanderte sein Blick aber noch einmal die erleuchteten Hotelfenster ab, bevor Fandorin den Fuß auf einen Mauervorsprung setzte und von da, artistisch auf die Schräge der Fensterbank gestützt, noch weiter hinaufschnellte; einen Moment später kauerte er auf dem vorspringenden Sturz von Wandas Wohnzimmerfenster. Mit der Hüfte lagerte er auf dem schmalen Sims, ein Fuß klemmte im Busen der einen Karyatide, eine Hand hing fest um den kräftigen Nacken der zweiten. Nachdem er sich noch ein bißchen zurechtgedreht hatte, verharrte er reglos in dieser Lage - das heißt, er wurde, der Kunst der japanischen Ninja-Krieger folgend, zu Stein, zu Wasser, zu Gras. Löste sich in der Landschaft auf. Strategisch gesehen war Fandorins Position ideal: Vom Hof aus konnte man ihn nicht sehen (der Dunkelheit wegen und weil der Schatten des Balkons über ihm zusätzlich Schutz bot), aus dem Zimmer schon gar nicht. Er aber überblickte den gesamten

Hof und konnte durch das der milden Sommernacht wegen offenstehende Fenster Gespräche im Wohnzimmer belauschen. Bei Bedarf und mit einem Quentchen Gelenkigkeit hätte er sich sogar vornüber beugen und durch den Spalt zwischen den Gardinen spähen können.

Einen Nachteil gab es: Die Lage war unkomfortabel. Ein normaler Mensch hätte in derart verkrümmter Pose, noch dazu auf einem Steinsims von vier Zoll Breite, schwerlich lange ausharren können. Doch bestand die höchste Kunst der Ninja seit erdenklichen Zeiten eben nicht darin, den Feind mit nackten Händen zu töten oder von einer Festungsmauer zu springen, o nein. Der Gipfel für einen Ninja war es, die Kunst der Reglosigkeit zu beherrschen. Ein Meister dieses Fachs konnte über sechs, acht Stunden in einer Stellung verharren, ohne einen einzigen Muskel zu bewegen. Fandorin war solch ein Meister nicht, dafür hatte er die edle und gefährliche Kunst viel zu spät erlernt, doch durfte er sich im gegebenen Fall trösten, daß die Verschmelzung mit der Landschaft nicht von Dauer sein mußte. Und das Geheimnis eines schwierigen Unterfangens ist im Grunde immer dasselbe: Man darf die Schwierigkeit nicht als Übel, man muß sie als Gnade empfinden. Dem vornehmen Manne muß es eine Lust sein, den Unvollkommenheiten der eigenen Natur zu trotzen. Und daran gilt es zu denken, wenn selbige in besonders peinigender Form auftreten - sich einem als steinerne Kante in die Hüfte bohren, zum Beispiel.

Die Lust hielt seit etwa zwei Minuten an, da ging die Hintertür des »Anglija« auf, und eine männliche Silhouette erschien. Massig, mit festen, schnellen Schritten. Das Gesicht bekam Fandorin nur einen flüchtigen Moment lang zu sehen, als der Mann unmittelbar vor der Tür in das Lichtgeviert von Wandas Fenster geriet. Ein Durchschnittsgesicht ohne herausragende Merkmale: oval, engstehende Augen, helles Haar, die Schläfenknochen etwas hervorstehend, preußisch gezwirbelter Schnurrbart, mittelgroße Nase, ein Grübchen auf dem quadratischen Kinn. Der Fremde trat bei Wanda ein, ohne anzuklopfen, was interessant genug war. Fandorin lauschte angespannt. Beinahe umgehend begann man im Zimmer zu reden - und sogleich wurde klar, daß es nicht gelangt hätte, über ein gutes Gehör zu verfügen, man mußte auch Deutsch verstehen, denn das Gespräch wurde in der Sprache Goethes und Schillers geführt. Fandorin hatte sich während der Schulzeit in diesem Fach nicht sonderlich hervorgetan, so daß sich der Brennpunkt bei der Schwierigkeitsbewältigung nun zwangsläufig von der physischen Inkommodität hin zur intellektuellen Anspannung verschob. Was sein Gutes hatte: Die Steinkante geriet darüber in Vergessenheit.

»Sie sind unfolgsam, Fräulein Tolle«, sprach ein schneidender Bariton. »Zwar finde ich es gut, daß Sie sich doch noch besonnen und getan haben, was Ihnen befohlen war. Aber wozu mußten Sie sich so lange zieren und meine Nerven strapazieren? Ich bin doch keine Maschine, ich bin ein lebendiger Mensch.«

»Ach so?« erwiderte Wandas Stimme sarkastisch.

»Ja, stellen Sie sich vor. Sie haben Ihre Aufgabe erfüllt. So weit, so gut. Aber wieso erfahre ich davon nicht durch Sie, sondern durch einen befreundeten Journalisten? Wollen Sie mich unnötig reizen? Das würde ich Ihnen nicht raten.« Der Bariton klang zunehmend metallischer. »Sie wissen doch, was ich mit Ihnen machen kann?«

Wandas Antwort klang müde: »Ja doch, Herr Knabe, ja.«

An dieser Stelle beugte Fandorin sich vorsichtig über die Kante und spähte ins Zimmer, doch der geheimnisvolle Herr Knabe stand mit dem Rücken zu ihm. Er hatte die Melone abgenommen, viel sah man trotzdem nicht: glattgescheiteltes 33

Haar (blond, Stufe III, mit einem Stich ins Rötliche, bestimmte Fandorin nach der speziellen polizeilichen Fahndungstabelle) und einen dicken, roten Hals (dem Anschein nach nicht unter Größe sechs).

»Schon gut, ich vergebe Ihnen. Na, na, wer wird denn gleich schmollen.«

Der Besucher tätschelte der Hausherrin mit seinen kurzen Fingern die Wange und küßte sie unter das Ohr. Wandas Gesicht lag im Licht, und Fandorin sah die feinen Züge zu einer Grimasse des Abscheus entgleisen.

Leider mußte Fandorin die Besichtigung in diesem Augenblick abbrechen - noch ein weniges, und er wäre abgestürzt. Eine für die gegebene Situation höchst peinliche Vorstellung.

»Erzählen Sie mir alles.« Die Stimme des Mannes versuchte sich einzukratzen. »Wie sind Sie vorgegangen? Haben Sie das Präparat benutzt, das ich Ihnen gab? Ja oder nein?« Schweigen.

»Anscheinend nicht. Bei der Obduktion ist man auf keine Spuren von Gift gestoßen, so viel weiß ich schon. Ein Glück auch. Wer hätte gedacht, daß sie auf die Idee kommen, die Leiche aufzumachen? Aber nun sagen Sie doch, was ist passiert? Hat er uns etwa den Gefallen getan, von sich aus zu sterben? Das wäre ja allerhand. Die Güte der Vorsehung. Gott hält die Hand über unser deutsches Vaterland.« Der Bariton bebte vor Emphase. »Warum sagen Sie denn nichts?«

Dumpf kam es von Wanda: »Gehen Sie. Ich kann Sie heute nicht ertragen.«

»Ach, schon wieder diese Weiberlaunen. Wie ich das satt habe! ... Ist ja gut, Sie müssen keine Blitze nach mir schleudern. Die große Tat ist vollbracht, das ist das Wichtigste. Sie sind famos, Fräulein Tolle, und ich lasse Sie jetzt allein. Aber morgen erzählen Sie mir alles. Ich brauche das für meinen Bericht.«

Ein langanhaltender Kuß war zu vernehmen. Fandorin zog die Stirn kraus, denn er dachte an den Abscheu in Wandas Gesicht. Dann klappte die Tür.

Pfeifend schritt Herr Knabe über den Hof und verschwand.

Kurz darauf sprang Fandorin lautlos nach unten, reckte sich erleichtert, richtete die eingeschlafenen Glieder und nahm sodann die Verfolgung von Wandas Landsmann auf. Der Fall geriet in ein völlig anderes Licht.


FÜNFTES KAPITEL, in welchem Moskau als Dschungel erscheint »Mein V-v-... Vorschlag wäre«, faßte Fandorin seinen Rapport zusammen, »den deutschen Staatsbürger Hans-Georg Knabe ab sofort zu observieren und seine Verbindungen aufzuklären.«

»Sollten wir den Schuft nicht besser gleich verhaften, Karatschenzew?« polterte der Generalgouverneur und runzelte seine gefärbten Brauen.

»Eine Verhaftung ohne Beweise ist schlechterdings unmöglich«, erwiderte der Polizeipräsident. »Und es würde auch nichts bringen, der ist doch ein geriebener Kerl. Wenn Sie mich fragen, Euer Exzellenz, so sollte man diese Wanda hernehmen und ordentlich schütteln. Dann fallen die Beweise von ganz alleine an.«

Pjotr Churtinski als vierter Teilnehmer der vertraulichen Unterredung sagte gar nichts. Man saß schon geraume Zeit beisammen, seit dem frühen Morgen. Fandorin hatte über die Ereignisse des gestrigen Abends Bericht gegeben und dabei auch geschildert, wie er dem rätselhaften Besucher nachgeschlichen war, von dem man inzwischen wußte, daß er Hans-Georg Knabe hieß, in der Karetny-Gasse wohnte und die Berliner Bank Kerbl & Schmidt in Moskau repräsentierte. Bei der Wiedergabe des feindseligen Gesprächs zwischen Knabe und Wanda mußte der Detektiv den Rapport für eine Weile unterbrechen, denn Fürst Dolgorukoi geriet in Rage, schüttelte die Fäuste:

»Nein, diese Schufte, diese Schurken! Haben die etwa den stolzesten Recken Rußlands auf dem Gewissen? Ein unerhörtes Verbrechen! Ein Skandal, den die Welt noch nicht gesehen hat! Dafür werden die Germanen uns büßen!«

»Immer mit der Ruhe, Durchlaucht«, raunte der Chef der Geheimabteilung in besänftigendem Ton. »Das ist doch eine mehr als zweifelhafte Hypothese. Den Weißen General zu vergiften? Hanebüchen! Daß die Deutschen ein solches Risiko eingehen, kann ich nicht glauben. Das ist eine zivilisierte Nation, nicht irgendein Persien!«

»Zivilisiert?« fragte Karatschenzew und lachte verächtlich. »Die Russische Nachrichtenagentur hat mir ein paar Artikelchen aus der heutigen Presse zukommen lassen, der britischen und der deutschen. Wie man weiß, mochte General Sobolew beide Länder nicht sonderlich und hat aus seinen Ansichten keinen Hehl gemacht. Aber vergleichen Sie einmal den Ton. Sie gestatten, Hohe Exzellenz?« Der Polizeipräsident setzte den Kneifer auf und entnahm seiner Mappe ein Blatt Papier. »Der englische >Standard< schreibt wie folgt: Sobolew zu ersetzen wird seinen Landsleuten nicht leichtfallen. Es genügte, daß er auf seinem Schimmel vor der Schlachtlinie auftauchte, und schon gerieten die Soldaten in eine Begeisterung, der Napoleons Veteranen nichts entgegenzusetzen hatten. Der Tod eines solchen Mannes zu solch kritischer Zeit ist ein unersetzlicher Verlust für Rußland. Wiewohl Englands Feind, hat er mit seinen Ruhmestaten hierzulande nicht weniger Eindruck gemacht als bei sich zu Hause.«

»Ein nobles und ehrliches Wort, da läßt sich nichts sagen«, lobte der Fürst.

»Genau. Und jetzt zitiere ich aus der Samstagsausgabe des deutschen >Börsenkuriers<.«

Karatschenzew zog ein weiteres Blatt hervor. »Ah ... ja, nehmen wir doch das hier: Vom russischen Bären droht keine Gefahr mehr. Mögen die Panslawisten sich an Sobolews Grab die Augen ausweinen! Was uns Deutsche betrifft, so geben wir unumwunden zu, daß der Tod eines eingefleischten Feindes uns mit Befriedigung erfüllt. Ein Gefühl des Bedauerns empfinden wir nicht. Der einzige Mann in Rußland, der tatsächlich in der Lage war, seinen Worten Taten folgen zu lassen, ist tot... Und in dem Stil geht es weiter. Was, bitte schön, ist daran zivilisiert?« Der Gouverneur war empört. »Eine Unverschämtheit! Natürlich sind uns die deutschfeindlichen Anwandlungen des Verstorbenen bekannt. Wir wissen noch gut, welchen Sturm der Entrüstung seine Pariser Rede zur slawischen Frage hervorgerufen hat, beinahe wären Seine Majestät und der deutsche Kaiser ihretwegen aneinandergeraten. >Der Weg gen Konstantinopel führt über Berlin und Wien!< Starker Tobak, nicht eben diplomatisch. Aber deswegen auf einen Mord zu verfallen, das ist doch die Höhe! Ich werde Seine Majestät unverzüglich in Kenntnis setzen. Den Bratwurstmaxen verpassen wir auch ohne Sobolew eine Abreibung, die sich gewaschen ... «

»Durchlaucht«, wurde dem kochenden Gouverneur von Karatschenzew milde Einhalt geboten, »wollen wir Herrn Fandorin nicht doch erst einmal zu Ende rapportieren lassen?«

Fandorins Rapport erfuhr nun keine weitere Unterbrechung, doch sein abschließender Vorschlag - Knabe observieren zu lassen - rief sichtliche Enttäuschung und die bereits erwähnten Äußerungen hervor. »Wanda zu verhaften würde einen Skandal erzeugen«, hielt Fandorin dem Polizeipräsidenten entgegen. »Wir würden damit nur das Andenken des Verstorbenen besudeln und hätten wenig gewonnen. Herr Knabe wäre obendrein gewarnt. Und außerdem hat das be 35

lauschte Gespräch bei mir den Eindruck hinterlassen, daß es gar nicht Mademoiselle Wanda war, die Sobolew getötet hat. Zumal Professor Welling bei der Obduktion kein Gift entdeckt hat.«

»In der Tat«, versetzte Churtinski bedeutungsvoll, wobei er sich ausschließlich dem Fürsten zuwandte. »Ein einfacher Herzstillstand, Durchlaucht. Betrüblich, aber nicht ungewöhnlich. Selbst für einen Mann im besten Alter. Ich könnte mir denken, daß sich der Herr Kollegienassessor vielleicht auch nur verhört hat. Oder womöglich hat er eine allzu blühende Phantasie? Daß es mit seinem Deutsch nicht zum besten steht, hat er ja selbst zugegeben.«

Fandorin sah den Geheimdienstler durchdringend an und erwiderte nichts. Dafür ereiferte sich der rothaarige Polizeigeneral.

»Was heißt hier Phantasie! Sobolew war kerngesund! Er ist mit der Lanze auf Bärenjagd gegangen und hat in Eislöchern gebadet! Wollen Sie damit sagen, daß einer, der aus dem Sperrfeuer von Plewna ungeschoren hervorgeht und die Wüste Turkestans durchquert, beim Liebesspiel den Löffel abgibt? Blödsinn! Sie sollten dem Stadtklatsch Ihr Ohr schenken, Herr Churtinski, und sich aus Spionagedingen heraushalten.«

Die offene Konfrontation setzte Fandorin in Erstaunen. Der Gouverneur hingegen schien an derlei Szenen gewöhnt. Er hob begütigend die Hände: »Aber, aber, meine Herren, wer wird sich denn streiten. Wir wissen auch so nicht, wo uns der Kopf steht. Dieser Tod bringt alles durcheinander. Telegramme, Kondolenzen, Deputationen, der ganze Tea-tralny ist mit Kränzen vollgepackt - kein Durchkommen. Hochprominente Persönlichkeiten haben sich zur Trauerfeier angesagt, die wollen empfangen und untergebracht sein.

Heute abend treffen der Kriegsminister und der Generalstabschef ein. Morgen früh kommt Großfürst Kirill Alexandrowitsch direktemang zum Begräbnis. Und heute muß ich noch zum Herzog Lichtenburgski. Er ist mit seiner Frau, der Gräfin Mirabeau, zufälligerweise gerade in Moskau. Sie ist die leibliche Schwester des Verstorbenen. Es gehört sich, daß ich kondolieren fahre, hab mich schon ankündigen lassen. Kommen Sie ruhig mit, mein lieber Fandorin, unterwegs in der Kutsche erzählen Sie mir das Ganze noch einmal haarklein. Und wir überlegen, wie es weitergehen soll. Und Sie, Karatschenzew, sollten es auf sich nehmen und die beiden fürs erste beschatten lassen: den Deutschen und das Mädel. Und unbedingt Knabes Bericht für die Spionagechefs abfangen, von dem er gesprochen hat. Am besten, Sie lassen ihn erst mal schreiben und ziehen ihm das fertige Papierchen unter der Feder weg. Und wenn die Beschattung in die Wege geleitet ist, bitte ich Sie wieder an diesen Tisch. Sobald ich mit Fandorin zurück bin, legen wir das Weitere fest. Wir dürfen keine unnötigen Fehler machen. Die Sache riecht nach Krieg.«

Der General schlug die Absätze zusammen und trat ab. Churtinski schien nur darauf gewartet zu haben und kam vor den Schreibtisch des Gouverneurs gesprungen.

»Durchlaucht, ich habe hier noch ein paar dringende Vorgänge«, sagte er, den Kopf dicht vor des Fürsten Ohr geneigt.

»Sind die wirklich so dringend?« brummte der. »Du hast doch gehört, daß ich in Eile bin, der Herzog wartet.«

Der Hofrat legte die Hand an die gestärkte, ordensgeschmückte Uniformbrust.

»Absolut dringend und keinen Aufschub duldend. Hier zum Beispiel, Durchlaucht, der Kostenüberschlag für die Ausmalung der Kathedrale. Wenn Sie die Güte hätten, einen 36

Blick darauf zu werfen. Ich empfehle den Auftrag an Herrn Gegetschkori zu geben, ein famoser Maler, noch dazu von löblichster Denkungsart. Er verlangt zwar eine erkleckliche Summe, aber dafür liefert er pünktlich - ein Mann, ein Wort. Wenn Sie hier unterschreiben würden, dann wäre die Sache geritzt.«

Fingerfertig schob Pjotr Churtinski dem Gouverneur ein Papier hin, während er schon das nächste aus seiner Mappe fischte.

»Und dies hier, Durchlaucht, ist das Projekt zur Grabung einer Untergrundbahn nach dem Londoner Vorbild. Ausführender Unternehmer: Kommerzienrat Sykow. Eine großartige Sache. Ich hatte schon die Ehre, Ihnen davon zu berichten.«

»Ich entsinne mich«, brummelte Fürst Dolgorukoi. »Eine Untergrundbahn muß es neuerdings sein. Braucht das denn viel Geld?«

»Nicht der Rede wert, Durchlaucht. Sykow will für die Ingenieursarbeiten eine läppische halbe Million haben. Ich hab mir den Überschlag angesehen - das hat Hand und Fuß.« »Eine läppische halbe Million, soso«, seufzte der Fürst. »Ich möchte bloß wissen, auf welchem Berg von Reichtümern du stehst, daß eine halbe Million dir läppisch vorkommt?« Und zu Fandorin, dessen Blick verriet, daß er sich über den vertraulichen Umgangston eines Gouverneurs gegenüber seinem Geheimdienstchef wunderte, sagte der Fürst: »Mit Pjotr Parmenowitsch stehe ich familiär. Er ist in meinem Haus aufgewachsen, müssen Sie wissen. Sein seliger Vater war Koch bei mir. Wenn der gute alte Parmen dich so reden hörte, wie du mit den Millionen um dich wirfst, Peterchen!«

Churtinski schielte mürrisch zu Fandorin herüber; die Erwähnung seiner plebejischen Herkunft war ihm augenscheinlich gar nicht recht.

»Ja, und hier noch, was die Gaspreise angeht, Durchlaucht, da habe ich eine Aktennotiz vorbereitet. In Anbetracht der erwünschten Einsparungen bei der Straßenbeleuchtung sollten wir den Tarif senken. Auf drei Rubel pro tausend Fuß kubik. Ist auch so teuer genug.« »Schon gut, gib deine Papierchen her, ich lese sie in der Kutsche durch und unterschreibe.« Dolgorukoi war aufgestanden. »Höchste Zeit aufzubrechen. Es wäre unanständig, eine so hochangesehene Persönlichkeit warten zu lassen. Kommen Sie, Fandorin, wir halten unterwegs ein Schwätzchen.«

»Vernahm ich recht, daß Seine Majestät nicht zum Begräbnis anreisen?« erkundigte Fandorin sich auf dem Flur ehrerbietig beim Fürsten. »Sobolew ist doch aber nicht irgendwer.«

Dolgorukoi sah den Kollegienassessor von unten her an und versetzte bedeutsam: »Er kann nicht. Schickt seinen Bruder, den Großfürsten. Warum, geht uns nichts an.« Fandorin verbeugte sich schweigend.

Zum Schwätzchen unterwegs kam es indes nicht. Kaum saßen sie in der Kutsche, der Gouverneur in den weichen Polstern, Fandorin auf der lederbezogenen Bank gegenüber, als die Tür plötzlich wieder aufflog und der fürstliche Kammerdiener Frol Wedischtschew unter Ächzen zustieg. Umstandslos quetschte er sich neben den Fürsten.

»Fahr zu, Mischka, fahr schon!« brüllte er dem Kutscher zu.

Sodann wandte er sich, ohne Fandorin die geringste Beachtung zu schenken, an Dolgorukoi.

»Ich komme mit, Fürst«, verkündete er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Was willst du denn, mein lieber Frol«, versetzte der Fürst milde. »Die Arznei hab ich geschluckt, jetzt störe uns bitte nicht, ich habe eine wichtige Unterredung mit Herrn Fan- dorin.«

»Ach wo, die hat Zeit«, fauchte der Despot und winkte wütend ab. »Sagen Sie, was hat Ihnen der Hofrat wieder für Papiere untergejubelt?«

»Hier hab ich sie, Frol.« Der Fürst öffnete seine Mappe. »Ein Auftrag für den Künstler Gegetschkori zur restlichen Ausmalung der Kathedrale. Der Voranschlag liegt bei, siehst du? Und das hier ist der Vertrag mit dem Kaufmann Sykow. Wir werden nämlich in Moskau eine unterirdische Eisenbahn graben, damit man schneller überall hinkommt. Und dann ist hier noch ein Papierchen zur Senkung der Gaspreise.«

Wedischtschew überflog die Papiere.

»Der Gegetschkori sollte die Kathedrale auf gar keinen Fall kriegen, das ist ein ausgemachter Gauner«, erklärte er entschieden. »Lieber nehmen wir einen von den hiesigen Leuten. Die müssen ja auch leben. Das kommt uns in jedem Fall billiger und wird bestimmt nicht weniger hübsch. Wo soll das viele Geld denn herkommen? Wir haben keins. Und der Gegetschkori hat dem Churtinski doch bloß versprochen, sein Sommerhaus in Alabino anzupinseln! Von daher weht der Wind.«

»Du meinst also, Gegetschkori sollte den Auftrag nicht kriegen?« fragte Dolgorukoi zweifelnd und steckte das Papier zuunterst.

»Das fehlte noch!« beschied Frol ihm knapp. »Und hier diese Untergrundbahn - ein einziger Schwachsinn! Ein Loch in die Erde graben und eine Lokomotive reinfahren lassen -was soll das? Da könnte man die Steuergelder gleich in den Wind streuen! Was für eine dämliche Idee!«

»Nein, nein, da irrst du dich«, widersprach der Fürst. »Die Metro ist eine feine Sache. Bei dem Verkehr, den wir haben - sieh doch, man kommt kaum vorwärts.«

Tatsächlich war die Kutsche des Gouverneurs am Tor zur Neglinnaja steckengeblieben, und so sehr die Begleitgendarmen sich auch mühten, der Weg war nicht freizubekommen, da die Markthändler vom Ochotny Rjad wie jeden Samstag die Straßen mit ihren Karren und Fuhrwerken verstopften.

Wedischtschew aber schüttelte den Kopf: Du müßtest doch wissen, daß dein Sträuben ganz umsonst ist, mein lieber Fürst, mochte das heißen.

»Jetzt ist der Dolgorukoi völlig verrückt geworden, werden die Abgeordneten in der Duma sagen«, meinte er dann. »Und Ihre Erbfeinde in Petersburg würden in die Hände klatschen. Unterschreiben Sie das bloß nicht, Fürst.«

Der Gouverneur seufzte konsterniert und schob auch das zweite Papier in die Mappe zurück.

»Und was machen wir mit dem Gas?«

Wedischtschew nahm die Aktennotiz, hielt sie etwas von sich weg und las, lautlos die Lippen bewegend.

»Doch, doch, das kann man machen. Die Stadt hat was davon, und die Moskauer sind's auch zufrieden.«

»Ganz meine Meinung«, befand der Fürst, dessen Miene sich aufhellte, während er das von innen an die Tür geschraubte kleine Pult mit den Schreibutensilien öffnete und schwungvoll unterschrieb.

Fandorin, erschüttert von dieser unglaublichen Szene, tat sein Bestes, sich nichts anmerken zu lassen, und schaute höchst interessiert aus dem Kutschenfenster. Eben fuhren sie vor dem Haus der Fürstin Beloselskaja-Beloserskaja vor, wo Herzog Lichtenburgski und seine Gemahlin, geborene 38

Sinaida Dmitrijewna Sobolewa, per morganatischer Ehe zur Gräfin Mirabeau avanciert, Quartier bezogen hatten.

Fandorin wußte, daß Jewgeni Lichtenburgski, russischer Gardegeneralmajor und Kommandeur des Potsdamer Leibkürassierregiments, ein leiblicher Enkel des Zaren Nikolai war. Allerdings hatte der Herzog den berühmten Basiliskenblick von seinem bösen Großvater nicht geerbt - seine Augen waren wie hellblaues Meißner Porzellan und schauten höflich und milde durch den Kneifer. Dafür war die Ähnlichkeit der Gräfin mit ihrem berühmten Bruder um so frappanter: nicht so sehr in der Statur, auch die Haltung schien weniger kämpferisch und das Gesichtsoval weicher geformt, das Tiefblau der Augen war jedoch exakt dasselbe und die Sobolewsche Rasse insgesamt unverkennbar.

Die Audienz geriet von Anfang an verquer.

»Die Gräfin und ich, wir sind in ganz anderer Angelegenheit hier, und dann so ein Unglück!« begann der Herzog ausgiebig gestikulierend, so daß der altertümlich gefaßte Saphir am Ringfinger gut zur Geltung kam. Ein leichter Akzent verriet seine deutsche Herkunft.

Gräfin Mirabeau ließ ihn nicht ausreden.

»Wie konnte das bloß geschehen?« rief sie verzweifelt, und augenblicklich kullerten große Tränen über ihr bezauberndes, wenngleich vom Weinen angeschwollenes Gesicht. »Fürst, sagen Sie doch, ist es nicht furchtbar?«

Der Mund der Gräfin verzog sich zu einer kleinen Sichel, und sie konnte erst einmal nicht weiterreden.

»Es ist gekommen, wie Gott befohlen«, murmelte der Herzog bestürzt und blickte Dolgorukoi und Fandorin hilfesuchend an.

»Jewgeni Maximilianowitsch, Eure Hoheit, ich kann Ihnen versichern, daß die Umstände des plötzlichen Todes Ihres werten Anverwandten auf das sorgfältigste geprüft werden«, teilte der Gouverneur mit bewegter Stimme mit. »Herr Fandorin an meiner Seite ist als Sonderbeauftragter damit befaßt.«

Fandorin verbeugte sich. Während der Herzog den jungen Beamten aufmerksam musterte, hörten die Tränen der Gräfin nicht auf zu strömen.

»Sinaida Dmitrijewna, mein Herzchen«, schluchzte nun auch der Fürst. »Herr Fandorin ist ein Kampfgefährte Ihres lieben Bruders. Der Zufall wollte es, daß er im selben Hotel wie er abgestiegen ist, im >Dusseaux<. Er ist ein sehr geschickter und erfahrener Ermittler, er

wird die Sache angehen und uns auf dem laufenden halten. Nicht doch, meine Liebe, Tränen können ihn uns ja auch nicht wiederbringen ...«

Der Zwicker des Herzogs blitzte kalt und gebieterisch.

»Sollte Herr Fandorin etwas Wichtiges herausbekommen, so bitte ich um unverzügliche Mitteilung an meine Person. Solange Großfürst Kirill noch nicht vor Ort ist, vertrete ich Seine Majestät den Zaren.«

Fandorin verbeugte sich wortlos ein weiteres Mal.

»Ach ja, der Zar.« Sinaida barg ein zerknittertes Telegramm aus ihrem Ridikül. »Wir haben eine Depesche Seiner Majestät erhalten. >Bin bestürzt und betrübt über den plötzlichen Tod des Generaladjutanten Sobolew ...«<

Die Gräfin schluchzte und schniefte, bevor sie weiterlas.

»>... Schwer ersetzlicher Verlust für die russische Armee, von allen aufrechten Kämpfern betrauert. Einen so nützlichen und der Sache ergebenen Mann zu verlieren tut weh. Alexandere«

Fandorin hob eine Braue - das Telegramm kam ihm recht kühl vor. Schwer ersetzlich, was hieß denn das? Daß ein Ersatz sehr wohl möglich schien? Tut weh, und fertig?

»Aufbahrung und Totenmesse sind für morgen angesetzt«, informierte Dolgorukoi. »Die Moskauer wünschen ihrem Helden die letzte Ehre zu erweisen. Anschließend wird der Leichnam per Eisenbahn in die Hauptstadt überführt, nehme ich an? Seine Majestät werden gewiß ein Staatsbegräbnis veranlassen. Da sind noch viele, die von Michail Sobolew Abschied nehmen wollen.« Der Gouverneur nahm Haltung an. »Die nötigen Maßnahmen sind ergriffen, Eure Hoheit. Der Leichnam ist einbalsamiert, so daß diesbezüglich keine Komplikationen entstehen.«

Der Herzog schielte aus den Augenwinkeln nach seiner Frau, deren Tränenstrom unversiegbar schien. Dann sagte er halblaut: »Schauen Sie, Fürst, Seine Majestät hat den Wünschen der Familie entsprochen und einem Begräbnis im engsten Kreise, auf dem Rjasaner Gut zugestimmt.«

Etwas sehr eilfertig, wie es Fandorin schien, lenkte der Fürst auf diese Neuigkeit ein.

»Aha, das ist doch gut. So ist es menschlicher, ohne allen Pomp. Wenn man bedenkt, was für ein Mensch er war. Eine Seele von Mensch!«

Das hätte er nun nicht sagen sollen. Die Gräfin, gerade dabei, sich ein wenig zu beruhigen, heulte von neuem los, und heftiger als zuvor. Zwinkernd holte der Gouverneur ein riesiges Taschentuch hervor und wischte Gräfin Sinaida mit väterlicher Geste das Gesicht, was wiederum ihn so in Rührung versetzte, daß er in selbiges Tuch geräuschvoll hineinschneuzte. Herzog Jewgeni verfolgte die slawisch ungezügelten Gefühlsausbrüche mit Verlegenheit.

»Wladi-... Wladimir Andreje-... Andrejewitsch, wie konnte es nur geschehen ...« Die Gräfin sank dem Fürsten an die korsettgeschnürte Brust. »Er ist doch nur sechs Jahre älter als ich, hu-huuh ...« Die Gräfin, alle aristokratische 39

Würde fahren lassend, greinte nun wie ein Klageweib aus dem einfachen Volke. Das brachte Dolgorukoi um das letzte bißchen Mut.

»Fandorin, mein Bester«, sprach er mit vor Erregung knödelnder Stimme über Sinaidas rotblonden Nacken hinweg, »Sie könnten ... Fahren Sie ruhig schon los, ich ... Ich bleibe noch eine Weilchen. Nehmen Sie Frol mit, und schicken* Sie die Kutsche anschließend wieder her. Regeln Sie das Nötige allein mit Karatschenzew... Sie sehen ja, daß ich hier nicht...«

Auf der Rückfahrt klagte Frol Wedischtschew ausgiebig über Intriganten (»Antreganten«, wie er sagte) und Steuerbetrüger.

»Was sie anrichten, diese Mißgeburten! Jede Laus zupft sich ihr Blättchen! Da will ein Geschäftsmann einen Laden aufmachen, mit Plüschhosen handeln zum Beispiel. Nichts einfacher als das, möchte man meinen. Fünfzehn Rubel an den Fiskus, und es kann losgehen. Aber weit gefehlt! Der Reviervorsteher will sein Teil abhaben, der Akziseeintreiber und der Sanitärarzt. Alles an der Steuer vorbei! Und die Hosen, die höchstens anderthalb Rubel kosten dürften, kosten nun drei. Moskau ist nicht mehr Moskau, ein Schungel ist das.«

»Ein was?« Fandorin verstand nicht gleich.

»Ein Schungel. Tier gegen Tier! Oder nehmen wir den Wodka. Ei-ei-ei, meine Herren! Mit dem Wodka ist es eine Tragödie! Ich könnte Ihnen Dinge erzählen ...«

Es folgte die dramatische Geschichte, wie Schnapshändler unter Mißachtung aller von Gott und den Menschen gemachten Gesetze bei den Akzisebeamten Steuerbanderolen kaufen, eine Kopeke das Stück, und sie oben auf ihre Flaschen mit Selbstgebranntem kleben, damit es aussieht wie genehmigt. Fandorin wußte nicht, was er darauf sagen sollte, 40

doch war seine Beteiligung am Gespräch glücklicherweise gar nicht gefragt.

Als die Kutsche, über Kopfsteine holpernd, vor dem Portal der Gouverneursresidenz anlangte, brach Wedischtschew seine Philippika mitten im Satz ab und sagte: »Gehen Sie am besten gleich rauf ins Kabinett. Der Polizeipräsident wird -schon warten. Ich hab noch zu tun.«

Und mit einer Flinkheit, die man bei seinen Jahren und der Würde seines Bartes nicht erwartet hätte, schnürte der Kammerdiener in einen Seitengang hinein.

Das Gespräch unter vier Augen verlief ergiebig und qualifiziert. Fandorin und Karatschenzew verstanden einander auf Anhieb, was wiederum für beide ein Grund zur Freude war.

Der General hatte es sich in einem Sessel am Fenster bequem gemacht, Fandorin saß ihm gegenüber auf einem Stuhl mit samtenem Bezug.

»Lassen Sie sich erst einmal über Herrn Knabe ins Bild setzen«, begann Karatschenzew, ohne einstweilen in den bereitliegenden Hefter hineinzuschauen. »Die Person ist mir bestens bekannt - was ich mir heute morgen zu sagen verkniff, es gab ja schon genug Theater.«

Der General verzog vielsagend den Mund, und Fandorin verstand, daß das eine Anspielung auf Churtinski war.

»Ich habe hier« - der General klopfte auf seinen Hefter -»ein geheimes Zirkular vom letzten Jahr. Die Ministerialabteilung, exakt: Sachgebiet drei, welches sich, wie Sie wissen, mit politischen Angelegenheiten befaßt, ordnete damals an, einen Hans-Georg Knabe ins Visier zu nehmen. Damit er nicht abtauchte.«

Fandorin neigte den Kopf zur Seite und schaute sein Gegenüber fragend an.

»Ein Spion!« erklärte der Polizeichef. »Unseren Erkenntnissen zufolge Hauptmann beim deutschen Generalstab, Nachrichtenoffizier des kaiserlichen Geheimdienstes in Moskau. In Kenntnis dessen durfte ich Ihrem Bericht vorbehaltlos Glauben schenken.«

»Und Sie lassen ihn deswegen nicht hochgehen, weil ein Spion, den man kennt, besser ist als einer, den man nicht kennt?« Dies war schon mehr eine Feststellung als eine Frage. »Exakt. Außerdem existieren gewisse Regeln diplomatischer Schicklichkeit. Und was habe ich davon, wenn ich ihn festnehme und außer Landes weise? Die Deutschen reagieren umgehend mit der Ausweisung eines unserer Leute. Wem soll das nützen? Spione rührt man nicht an, wenn kein besonderer Grund vorliegt. Den dürfte es nun allerdings geben. Eine herbe Verletzung des Gentlemen's Agreement.«

»Gelinde gesagt«, erwiderte Fandorin und mußte lächeln. So etwas nennt man Understatement, dachte er.

Nun lächelte auch der General.

»Wir werden uns Herrn Knabe also schnappen. Die Frage ist, wo und wann ... Ich schlage vor, heute abend. Im Restaurant >Alpenrose<.« Der General lächelte noch mehr. »Nach mir vorliegenden Angaben« - wieder ein Klopfen auf den Hefter - »verkehrt Knabe dort regelmäßig. Für heute sieben Uhr hat er telefonisch einen Tisch bestellt. Seltsamerweise auf den Namen Rosenberg, obwohl er in dem Restaurant ja bekannt sein dürfte.« »Interessant«, bemerkte Fandorin. »Man sollte ihn schnappen, das finde ich auch.«

Der General nickte.

»Ein Haftbefehl des Generalgouverneurs liegt vor. Wir handeln hier ganz soldatisch: Was der Chef befiehlt, wird erledigt.«

»Woher weiß man, daß Knabe t-t-... telefoniert und auf fremden Namen einen Tisch bestellt hat?« fragte Fandorin.

»Das ist der technische Fortschritt.« Die Augen des Polizeipräsidenten blitzten schelmisch. »Telefongespräche lassen sich vom Fernamt aus abhören. Aber das bleibt bitte streng unter uns. Wird es ruchbar, verliere ich mit einem Schlag die Hälfte meiner Informationen. Übrigens wird Ihre Freundin Wanda heute gleichfalls in der >Alpenrose< auftreten, sie hat den Portier für um sechs eine Kutsche reservieren lassen. Da bahnt sich eine interessante Begegnung an. Am besten, wir kassieren sie gleich alle beide. Bleibt die Frage: Wie gehen wir vor?«

»Resolut. Aber ohne unnötig P-... Porzellan zu zerschlagen.«

Karatschenzew seufzte.

»In puncto Resolutheit kann ich mich auf meine Männer verlassen. Was das Porzellan angeht, da steht die Sache schon schlechter.«

Seine nachfolgenden Gedanken mußte Fandorin nur noch in Halbsätzen formulieren: »Könnte vielleicht ich?... als Privatperson? Ohne diplomatische Verwicklungen, im Falle des Falles? Und Ihre Leute zur Absicherung? Nur ohne Double, wenn ich bitten darf. Nicht wie gestern im >Anglija<.«

Ei der Daus! Mit so einem Mann zu arbeiten ist ein Vergnügen! dachte der General, sagte aber etwas anderes: »Für gestern bitte ich um Entschuldigung. Kommt nicht wieder vor. Für heute ... Zwei auf die Straße und zwei in den Saal? Was meinen Sie?«

»In den Saal besser niemanden - wer den Blick dafür hat, erkennt sie so oder so«, sagte der Kollegienassessor überzeugt. »Und draußen ... am besten einen in eine Kutsche vors Portal und einen an den Hintereingang. Zur Sicherheit. Das dürfte genügen. Ist ja ein Spion und kein Terrorist.«

»Und wie gedenken Sie vorzugehen?« »Kann ich ehrlich noch nicht sagen. Wie es sich ergibt. Ich arbeite mich ein und beobachte. Voraussagen sind nicht meine Sache.«

»Verstehe.« Der General nickte. »Und ich vertraue auf Ihr Einschätzungsvermögen. Haben Sie eine Waffe? Herr Knabe ist in einer leidigen Lage. Einer Ausweisung entgeht er keinesfalls, und wenn es darauf ankommt, wird er auf seine Vorgesetzten nicht rechnen können. Selbst wenn er kein Terrorist ist - Nerven könnte der Mann zeigen.«

Fandorin griff in die Falten seines Rocks, und im nächsten Moment lag auf seinem Handteller ein kleiner Revolver. Die abgenutzte Riffelung am Griff verriet den häufigen Gebrauch.

»Ein Herstal Agent?« fragte Karatschenzew hochachtungsvoll. »Feines Spielzeug. Darf ich?«

Der General nahm den Revolver, kippte kundig die Trommel heraus und schnalzte anerkennend.

»Ohne Hahn? Phantastisch! Dann kann man ja alle sechs Schuß auf einmal abfeuern. Aber geht der Abzug so nicht zu leicht?«

»Der Knopf hier ist zur Sicherung. Damit sie einem nicht in der Tasche losgeht. Die Zielgenauigkeit ist natürlich mäßig, aber in unserem Geschäft ist Schnelligkeit das A und O. Es kommt ja nicht darauf an, dem Zobel ein Auge auszuschießen, stimmt's?«

»Wohl wahr«, sagte Karatschenzew und gab Fandorin die Waffe zurück. »Sie wird Sie übrigens erkennen, oder? Die Wanda, meine ich.«

»Das wird sie nicht, Euer Exzellenz, keine B-... Bange. Ich habe einen ganzen Schminkladen dabei.«

Rundum zufrieden lehnte der General sich in seinen Sessel zurück und hatte es, wiewohl die dienstlichen Dinge nun 42

besprochen schienen, nicht eilig, seinen Gast zu verabschieden. Statt dessen bot er ihm eine Zigarre an, doch Fandorin holte sein eigenes elegantes, sämischledernes Etui hervor. »Echte Batavia, Herr General. Mögen Sie?«

Der General nahm eines der schokoladenbraunen Stäbchen, entzündete es und stieß genüßlich einen dünnen Rauchstrahl aus. Dieser Herr Fandorin gefiel ihm außerordentlich. So daß er beschloß, dem Gespräch nunmehr eine delikate Wendung zu geben.

»Sie sind ja in unserem Moskauer Dschungel gewissermaßen ein Neuling, nicht wahr«, begann er vorsichtig.

Ach! Noch ein Dschungelführer! dachte Fandorin, ohne sein Erstaunen zu zeigen.

»Das betrifft Rußlands Weiten im ganzen«, sagte er.

»Genau. Es hat sich einiges verändert, während Sie außer Landes waren.«

Mit feinsinnigem Lächeln wartete Fandorin ab, was kam -die Unterhaltung versprach bedeutungsvoll zu werden.

»Wie gefällt Ihnen eigentlich unser Fürst?« kam die plötzliche Frage.

Fandorin zögerte ein wenig, ehe er zur Antwort gab: »Meiner Meinung nach sind Seine Durchlaucht nicht zu unterschätzen.«

»Wahrlich nicht!« Energisch schickte der General einen dicken Rauchstrahl zur Decke. »Seinerzeit war der Fürst alles andere als gemütlich, kann ich Ihnen sagen. Sechzehn Jahre hindurch diese Stadt mit eiserner Hand zu regieren, das ist kein Pappenstiel. Aber die Klauen des alten Wolfs sind ein bißchen stumpf geworden. Kein Wunder, er geht auf die Achtzig zu. Hat nicht mehr den Biß von dazumal.«

Karatschenzew hatte sich nach vorn gebeugt und sprach vertraulich, mit leiser Stimme.

»Er liegt, offen gesagt, in den letzten Zügen. Sie sehen ja, wie seine Schranzen, Churtinski und Wedischtschew, ihm auf der Nase herumtanzen. Nehmen Sie nur diese leidige Kathedrale! Sie hat die letzten Säfte aus der Stadt gesogen. Und man fragt sich, wozu? Wie viele Armen- und Krankenhäuser hätte man von dem Batzen Geld bauen können! Nein, unser selbsternannter Cheops hat es sich in den Kopf gesetzt, eine Pyramide zu hinterlassen.«

Gespannt hörte Fandorin zu und schwieg sich aus.

»Ich verstehe, ein Urteil in dieser Sache ziemt sich nicht für Sie.« Karatschenzew ließ sich wieder in seinen Sessel zurückfallen. »Aber schenken Sie einem Manne Gehör, der aufrichtige Sympathien für Sie hegt. Und Ihnen darum nicht verheimlichen will, daß man bei Hofe mit Dolgorukoi unzufrieden ist. Er braucht nur noch einen winzigen Fehler zu machen und wird abtreten müssen. Nach Nizza, aufs Altenteil. Und dann, lieber Fandorin, geht seine ganze Moskauer Clique mit vor die Hunde. Ein neuer Mann wird kommen, dem sie gestohlen bleiben kann. Der bringt seine eigenen Leute mit. Soweit sie nicht längst vor Ort sind. Schon am Einfädeln.«

»Zum Beispiel Sie?«

Karatschenzew kniff beifällig die Augen zusammen.

»Sie begreifen sehr schnell. Das heißt, ich muß nicht viel Worte machen. Der Kern meines Ansinnens ist Ihnen klar.«

Fürwahr ein Dschungel - von wegen ehrwürdige Metropole! dachte Fandorin, während er dem rothaarigen Polizeipräsidenten in die vor Wohlwollen sprühenden Augen sah. Immerhin schien der ein ehrlicher und kluger Mann zu sein. Kollegienassessor Fandorin setzte ein gewinnendes Lächeln auf.

»Euer V-V-... Vertrauen ehrt mich«, sagte er, bedauernd die Arme hebend, »ich fühle mich sehr geschmeichelt. Und daß Moskau mit einem neuen Gouverneur etwas gewinnen kann, mag durchaus sein. Darüber will ich nicht urteilen, da ich die Moskauer Verhältnisse bislang nicht durchschaue. Nur habe ich, Euer Exzellenz, nicht umsonst vier Jahre in Japan zugebracht und bin, müssen Sie wissen, so japanisiert, daß ich mich manchmal selbst darüber wundere. In Japan gehört es sich, daß ein Samurai - und nach den dortigen Begriffen rechnen Sie wie auch ich zu diesem Stand - seinem Suzerän die Treue zu halten hat, gleich, wie garstig sich dieser auch verhalten mag. Das ist zwingend vonnöten, damit das System nicht zerfällt. Fürst Wladimir ist nun zwar nicht mein Suzerän, doch immerhin fühle ich mich ihm gegenüber in der Pflicht. Ich bitte mir das nachzusehen.«

»Tja, da kann man nichts machen«, seufzte der General, der wohl begriff, daß Überredung in diesem Fall nicht fruchtete. »Sie hätten eine große Zukunft vor sich haben können. Nichts für ungut. Vielleicht wird ja doch noch etwas daraus. Auf meine Unterstützung können Sie immer rechnen. Darf ich mich darauf verlassen, daß dieses Gespräch unter uns bleibt?«

»Jawohl«, sagte der Kollegienassessor knapp, und Karatschenzew glaubte es ihm aufs Wort. »Die Zeit drängt«, sagte er und erhob sich. »Ich werde bezüglich der >Alpenrose< die nötigen Anweisungen erteilen. Ich gebe Ihnen erprobte Leute zur Seite, und Sie Ihrerseits sollten achtgeben, daß ...«

Während die beiden Männer das Kabinett des Gouverneurs verließen, besprachen sie die letzten Einzelheiten der bevorstehenden Operation. Sekunden später öffnete sich in der Ecke des Zimmers ein Türchen - dahinter lag ein kleiner Ruheraum, wo der alte Fürst sein Mittagsschläfchen zu 44

halten beliebte. Dort hervor kam nun, lautlos auf Filzsohlen schleichend, der fürstliche Kammerdiener Frol Wedischtschew. Die buschigen grauen Brauen finster zusammen gezogen, trat er zu dem Sessel, wo eben noch der Polizei Präsident gesessen hatte, und spuckte wütend eine Ladun braunen Tabakseim mitten auf die lederne Sitzfläche.


SECHSTES KAPITEL, in welchem eine Frau in Schwatz auftritt

Im Hotel erwartete Fandorin eine Überraschung. Er war schon kurz vor seinem Zimmer N- 20, als dort die Tür aufsprang und ein dralles Zimmermädchen herausgestürzt und auf ihn zugerannt kam. Sie hielt das Gesicht zur Seite gedreht, so daß Fandorin es nicht erkennen konnte; einige Details - die linksherum gebundene Schürze, das verrutschte Spitzenhäubchen, das falsch zugeknöpfte Kleid - entgingen seiner geschärften Aufmerksamkeit jedoch nicht. Masa empfing ihn auf der Schwelle. Er strahlte vor Zufriedenheit und schien durch das plötzliche Auftauchen seines Herrn überhaupt nicht in Verlegenheit gebracht.

»Die russischen Frauen sind sehr gut«, verkündete der Diener im Brustton der Überzeugung. »Wie ich vermutet hatte. Jetzt weiß ich es gewiß.«

»Gewiß?« fragte Fandorin neugierig und schaute dem Japaner in das erhitzte Gesicht. »Jawohl, Herr. Sie sind heißblütig und verlangen für die Liebe keine Geschenke. Anders als die Bewohnerinnen der französischen Stadt Paris.«

»Aber du kannst doch gar kein Russisch«, sagte Fandorin kopfschüttelnd. »Wie hast du dich denn mit ihr verständigt?«

»Französisch hab ich genausowenig gekonnt. Um sich mit einer Frau zu verständigen, bedarf es keiner Worte«, tat Masa sich vor seinem Herrn wichtig. »Der Atem und der Blick -auf die zwei Dinge kommt es an. Atmet man geräuschvoll 44

und schnell, so weiß die Frau, daß man in sie verliebt ist. Und schauen muß man so.« Er verengte seine ohnehin geschlitzten Augen noch mehr, wodurch sie auf unbegreifliche Weise zu funkeln anfingen.

»Hm-hm!« machte Fandorin und war erstaunt.

»Dann muß man ihr nur noch ein bißchen den Hof machen - bis sie nicht mehr widerstehen kann.«

»Und wie hast du es angestellt, ihr den Hof zu machen?«

»Jede Frau erfordert ihre besondere Strategie, Herr. Die Dünnen mögen Süßigkeiten, die Dicken Blumen. Der wunderbaren Frau, welche uns soeben verlassen hat, da sie Eure Schritte nahen hörte, habe ich einen Magnolienzweig verehrt und anschließend eine Nackenmassage verabreicht.«

»Und wo nahm der Verführer so schnell einen Magnolienzweig her?«

»Von da unten.« Masa deutete ins Vestibül. »Dort gibt es Blumentöpfe voll davon.«

»Und die Nackenmassage ist wozu?« »Die Nackenmassage geht über in eine Schultermassage«, erläuterte Masa seinem Herrn nicht ohne einen mitleidigen Blick. »Die wiederum geht über in eine Rückenmassage, und diese ... «

»Alles klar«, seufzte Fandorin. »Spar Dir den Rest. Und bring mir jetzt bitte rasch den Schminkkasten.« Masa horchte auf.

»Steht uns ein Abenteuerchen bevor?«

»Nicht uns, aber mir. Noch etwas: Ich habe heute morgen meine Gymnastik versäumt, und nachher muß ich gut in Form sein.«

Sogleich legte der Japaner das baumwollene Gewand ab, das ihm als Hauskittel diente. »Was darf s denn sein, Herr? Wollen wir an der Decke spa 45

zieren? Oder ist eine kleine Prügelei gefällig? Ich fände den Spaziergang besser. Die Wand ist wie geschaffen dafür.«

Fandorin warf einen abschätzenden Blick auf die tapezierte Wand sowie den Stuck an der Decke und war im Zweifel.

»Es ist arg hoch. Zwölf Shaku mindestens. Na schön, probieren wir's.«

Masa stand schon bereit - mit nichts als einem Lendenschurz bekleidet. Um die Stirn hatte er sich ein schneeweißes Tüchlein gebunden, auf das mit roter Tusche das Schriftzeichen für »Fleiß« gezeichnet war. Rasch hatte auch Fandorin sich umgezogen: enganliegendes Ringeltrikot und Gymnastikschuhe. Er hüpfte ein paarmal auf der Stelle, ging sodann leicht in die Hocke und kommandierte: »Ichi, ni, san«

Die zwei rasten los, auf die Wand zu und an ihr hinauf, bis sie, kurz bevor die Decke erreicht war, sich von der Vertikale abstießen und nach einem Salto wieder auf den Füßen landeten.

»Ich bin höher gekommen, Herr, bis zu der Rose da, Ihr wart zwei Rosen darunter!« brüstete sich Masa, auf das Tapetenmuster zeigend.

Statt einer Antwort kommandierte Fandorin erneut: »Ichi, ni, san!«

Das atemberaubende Kunststück ward wiederholt, und diesmal berührte der Diener im Saltoflug mit einem Fuß die Decke.

»Ich war oben und Ihr nicht!« verkündete er. »Und dabei sind Eure Beine viel länger als meine!«

»Du bist eben aus Gummi gemacht«, brummte Fandorin, der etwas außer Atem war. »Aber gut, jetzt kämpfen wir.«

Der Japaner machte eine artige Verbeugung und nahm

* (jap.) Ein, zwei, drei!


unlustig die Grundstellung ein: eingewinkelte Knie, auseinandergestellte Füße, hängende Arme.

Fandorin sprang hoch, drehte sich in der Luft, und sein vorschnellender Fuß traf den Rivalen, ehe der ausweichen konnte, mit der Schuhspitze ziemlich heftig am Kopf.

»Erster Treffer!« rief er. »Jetzt du!«

Masa tat, indem er sich die weiße Binde vom Kopf riß und zur Seite schleuderte, eine ablenkende Bewegung. Während Fandorin dem fliegenden Ding unwillkürlich hinterhersah, kam der Diener wie ein Gummiball über den Boden gerollt; mit einem Schrei aus tiefer Brust suchte er seinem Herrn einen Kick unter den Knöchel zu versetzen, der ihn umreißen sollte. Doch Fandorin sprang im letzten Moment zurück und schaffte es gar noch, dem kleinen Mann die Handkante gegen das Ohr zu stupsen.

»Treffer zwei!«

Flink stand der Japaner wieder auf den Füßen und wirbelte im Halbkreis durch das Zimmer. Fandorin tänzelte derweil auf der Stelle, die ausgestellten Handflächen in Taillenhöhe.

»Ach, Herr, wie unverzeihlich! Ich vergaß Euch Meldung zu machen«, sagte Masa, ohne in seinen Bewegungen innezuhalten. »Vor einer Stunde war eine Frau hier und wollte Euch sprechen. Ganz in Schwarz.«

Fandorin ließ die Arme sinken.

»Was für eine Frau?«

Im selben Moment bekam er einen Tritt vor die Brust. Er flog gegen die Wand, während Masa triumphierend verkündete:

»Treffer eins! Jung war sie nicht, und schön war sie auch nicht. Alles, was sie anhatte, war schwarz. Ich verstand nicht, was sie wollte, und sie ging wieder.«

Fandorin stand da und rieb sich die geprellte Brust.

»Es wird Zeit, daß du russisch lernst! Nachher, wenn ich aus dem Haus bin, nimmst du das Wörterbuch, das ich dir geschenkt habe, und lernst achtzig Wörter auswendig.«

»Vierzig sind genug!« protestierte Masa. »Ihr wollt Euch nur an mir rächen! Außerdem habe ich heute schon zwei Wörter gelernt: Milaska, das heißt: verehrter Herr, und Ki-taitsik, das heißt: Japaner.«

»Milaska?... Ach herrje. Milaschka'1'! Ich kann mir denken, wer dir das beigebracht hat. Wage ja nicht, mich so zu nennen! Übrigens, falls es dich interessiert: Sie hält dich für einen Chinesen. Achtzig Worte und keines weniger, sage ich! Und das nächste Mal schlägst du dich gefälligst auf ehrlichere Art.«

Fandorin setzte sich vor den Spiegel und begann sich zu schminken.

Er probierte einige Perücken und entschied sich für eine dunkelblonde, Pagenschnitt mit glattem Mittelscheitel. Sein gezwirbeltes schwarzes Lippenbärtchen strich er nach unten und überklebte es mit einem viel üppigeren aus hellerem Haar. Ans Kinn kam ein dichter Fransenbart. Die Brauen wurden passend nachgeschminkt. Er verlieh ihnen ein nervöses Zucken, stülpte die Lippen hervor, ließ den Glanz aus seinen Augen verschwinden und die roten Wangen etwas hängen, fläzte sich auf den Stuhl und war plötzlich, wie durch einen Zauberstab berührt, der flegelhafte Marktbudenkrämer vom Ochotny Rjad.

Kurz nach sieben Uhr hielt vor dem deutschen Restaurant »Alpenrose« in der Sofijka ein schickes Gefährt: lackschwarze, stahlgefederte Kalesche, die Radspeichen ocker gestrichen, gezogen von zwei Rappen, denen rote Bänder in die Mähnen geflochten waren. ':~ (russ.)

Liebster.

»Brrr!« rief der Kutscher schallend und knallte noch dazu übermütig mit der Peitsche. »Aufwachen, der Herr! Fuhre wohlbehalten angelandet!«

Der Fahrgast hing auf der samtbezogenen Sitzbank und schnarchte: ein geschniegeltes Kaufmannsbürschchen in dunkelblauem Gehrock, himbeerfarbener Weste und Stulpenstiefeln. Auf dem Kopf des jungen Tunichtgut saß keck ein glänzender Zylinder.

Die schlaftrunkenen Augen aufklappend, lallte er: »Wo-wohin?«

»Nirgends hin, Eure Lordschaft. Wir sind da, wo Sie hinwollten. Bei der Rose.«

Vor dem stadtbekannten Restaurant standen die Fuhrwerke aufgereiht. Mißmutig schauten ihre Inhaber auf den lärmseligen Kutscher. Der krakeelte hier herum, knallte unnötig mit

der Peitsche und machte anderen die Pferde scheu. Einer aus der Reihe, ein junger Kerl im gummierten Wettermantel mit glattrasiertem, nervös zuckendem Gesicht, trat dem Störenfried entgegen und fuhr ihn wütend an: »Was machste solchen Wind? Das iss hier kein Zigeunerbasar! Troll dich oder sei friedlich wie alle!« Und leise setzte er hinzu: »Fahr zu, Sinelnikow. Gleich retour, ohne Aufhebens. Ich hab einen Wagen hier. Richte dem Chef aus, es läuft alles nach Plan.«

Unterdessen war der Kaufmann auf das Trottoir gesprungen. Schwankend winkte er dem Kutscher: »Hau ab! Ich bleib hier über Nacht.«

Der Kutscher ließ noch einmal die Peitsche knallen und trollte sich mit einem wüsten Räuberpfiff, während der beschwipste Kaufmann nach ein paar unsicheren Schritten schon wieder bedenklich schwankte. Der bartlose junge Mann kriegte ihn gerade noch beim Ellbogen zu fassen.

»Darf man helfen, gnädiger Herr? Das ist der falsche Platz zum Umfallen.«

Fürsorglich nahm er den jungen Mann beim Arm und wisperte ihm hastig zu: »Agent Kljujew, Euer Hochwohlgeboren. Da vorne steht mein Wagen, der mit dem Fuchs. Ich sitz auf dem Bock in Bereitschaft. Am Hintereingang steht Agent Nesnamow. Als Messerschleifer getarnt, mit Gummischürze. Das Objekt ist vor zehn Minuten eingetroffen. Mit rotem Klebebart. Ziemlich fuchtig. Anscheinend bewaffnet - unter der Achsel beult sich was. Und das hier lassen Seine Exzellenz übergeben.«

Schon an der Tür, ließ der »Kutscher« geschickt ein vierfach gefaltetes Papier in die Tasche des Kaufmanns gleiten, zog die Schirmmütze und tat einen tiefen Diener, bekam aber kein Trinkgeld; als die Tür vor seiner Nase zuschlug, grunzte er verdrossen. Unter dem Spott der anderen Fuhrleute (»Na, Scharmör, hat er dir die zwanzig Kopeken an den Hut gesteckt?«) schlurfte er zurück zu seiner Kutsche und kletterte mit hängendem Kopf auf den Bock.

Das Restaurant »Alpenrose« galt allenthalben als gepflegtes Lokal von europäischem Niveau. Zumindest tagsüber. Zum Frühstück und zu Mittag kamen mit Vorliebe die in Moskau ansässigen Deutschen hierher, Kaufleute ebenso wie Beamte. Sie aßen Schweinshaxe mit Sauerkraut, tranken echt bayerisches Bier dazu, lasen die Berliner, Wiener und Rigaer Zeitungen. Doch gegen Abend machten sich die langweiligen Biertrinker auf den Heimweg, um Ordnung in ihre Rechnungsbücher zu bringen, das Nachtmahl einzunehmen und hurtig in die Federn zu kriechen, während in die »Rose« ein lustigeres und spendableres Publikum einzog. Auch hier überwogen die Ausländer - aus Breiten allerdings, wo man etwas losere Sitten pflegte und die europäische Art, sich zu 47

verlustieren, der derb russischen vorzog, also ohne Gegröle und offene Hosenställe. Wenn Russen hereinschauten, so eher aus Neugier - und seit einiger Zeit auch, um zu hören, wie Mademoiselle Wanda sang.

Der eben eingetroffene Bonvivant verharrte zwischen den weißen Marmorwänden des Foyers, besah sich hicksend die Säulen und den Läufer auf der Treppe, schleuderte dem Lakaien seinen blitzenden Zylinder entgegen und winkte den Maitre d'hotel heran.

Als erstes schob er diesem einen Rubelschein zu. Dann hüllte er ihn in seine Kognakfahne und stellte Forderungen: »Du, Hans Pfefferwurst, verschaffst mir einen Tisch. Und zwar nicht irgendeinen, sondern den, der mir paßt.« »Es ist proppenvoll«, sagte der Maitre d'hotel und hob bedauernd die Hände. Daß er Deutscher war, hinderte ihn nicht daran, ein waschechtes Eingeborenenrussisch zu sprechen.

»Wehe, du hast keinen!« sagte der Kaufmann und drohte mit dem Finger. »Dann gibt es ein Malheur. Und jetzt sagst du mir, wo hier das Klo ist.«

Der Maitre winkte einen Lakaien heran, von dem der krakeelende Gast in aller Förmlichkeit zur Toilette geleitet wurde. Diese war nach dem letzten Schrei der europäischen Technik ausgestattet: Porzellansitze, Wasserspülung und Spiegel über den Waschbecken. Doch unser Tit Titytsch (Ostrowskis Zerrbild eines Kaufmanns, wie es leibte und lebte!) hatte kein Auge für die deutschen Neumoden. Er hieß den Lakaien vor der Tür warten, zog das zusammengefaltete Papier aus der Tasche und fing, die Stirn gefurcht, zu lesen an.

Es war die Niederschrift eines Telefongesprächs.

2 Uhr 17 Minuten nachmittags. Abonnent 1 - männlichen Geschlechts, Abonnent 2 - weiblichen Geschlechts.

Al: Fräulein, bitte Nummer 762 ... Ist dort das »Anglija«?

Hier Georg Knabe. Ich möchte Frau Wanda sprechen. Stimme (unklaren Geschlechts): Sofort, der Herr. A2: Wanda am Apparat. Wer ist da?

Al: [Randnotiz:] (ab hier auf deutsch) Ich bins. Hören Sie, es ist wichtig. Hochwichtig sogar. Sagen Sie mir eines: Haben Sie etwas mit ihm gemacht? Sie wissen, was ich meine. Ja oder nein? Sagen Sie die Wahrheit, ich flehe Sie an!

A2 (nach einer längeren Pause): Was Sie meinen, habe ich nicht gemacht. Es ist von allein passiert. Aber was haben Sie denn? Sie klingen so komisch.

Al: Sie haben also nicht...? Oh, dem Himmel sei Dank! Sie können sich nicht vorstellen, in wasfür einer Lage ich bin. Es ist ein Alptraum.

Al: Freut mich für Sie ... (Nächster Satz unverständlich.)

Al: Hören Sie auf zu scherzen. Alle lassen sie mich hängen! Statt dankbar zu sein für die ergriffene Initiative - nichts als der pure Undank. Und noch schlimmer. Es könnte passieren, daß das Ihnen bekannte Ereignis den Konflikt nicht hinausschiebt, sondern im Gegenteil heraufleschwört - so hat man mir es mitgeteilt. Und Sie haben wirklich nichts getan?

A2: Wenn ich es Ihnen sage.

Al: Und wo ist die Ampulle?

A2: Bei mir auf dem Timmer. Versiegelt.

Al: Ich muß unbedingt kommen und sie abholen. Noch heute.

Al: Ich trete heute im Restaurant auf und kann dort nicht weg. Es reicht, daß ich zwei Auftritte versäumt habe.

Al: Ich weiß. Ich komme hin. Der Tisch ist schon bestellt. Für um sieben. Wundern Sie sich nicht, ich werde maskiert sein. Konspirationshalber. Packen Sie die Ampulle ein. Und 48

übrigens, Fräulein Wanda, ich finde, Sie nehmen sich in letzter Zeit reichlich viel heraus. Ich bin keiner, mit dem man seine Scherze treibt, das sollten Sie wissen. A2: (legt, ohne zu antworten, auf) Stenogramm und Übersetzung aus dem Deutschen: Julius Schmidt

Unter dem Stenogramm stand in fliehender Gardistenschrift ein Zusatz: Nicht, daß er sie vor

Schreck noch um die Ecke bringt! K.

Der Kaufmann verließ die Toilette sichtlich erfrischt. In Begleitung des Maitre betrat er den Saal. Sein trüber Blick glitt über die Tische mit den unerhört weißen Tischtüchern, auf denen es nur so glänzte von Silber und Kristall. Er spuckte auf den blankgewienerten Parkettboden (der Maitre krümmte sich vor Grausen), und endlich stieß sein Finger in die Richtung eines (gottlob unbesetzten) Tisches in Wandnähe. Zur Linken saßen zwei begüterte Studenten in Gesellschaft wiehernd lachender Modistinnen, zur Rechten ein rotbärtiger Herr im karierten Jackett. Der süffelte seinen Moselwein, den Blick zur Bühne gewandt.

Wäre Fandorin nicht durch den Agenten Kljujew vorgewarnt gewesen, er hätte Knabe niemals erkannt. Auch er ein Verwandlungskünstler! Was bei seinem Hauptberuf allerdings kein Wunder war.

Der jetzt aufbrandende Beifall war nicht einhellig, doch enthusiastisch. Wanda hatte die niedrige Bühne betreten: Schlank von Gestalt, schnell in den Bewegungen, glich sie in ihrem Glitzerkleid einer Märchenschlange.

»Mann, iss die dünne, da guckste ja durch!« fauchte eine der drallen Hutmacherinnen am Nachbartisch, die es kränkte, daß die beiden Studenten kein Auge von der Sängerin ließen.

Wanda schenkte dem Publikum einen schweifenden Blick aus weit aufgerissenen Strahleaugen und hob unvermittelt, ohne musikalisches Vorspiel, leise zu singen an - der Begleitpianist, der ein paar Takte später in die Melodie einfiel, häkelte nur ein Spitzengeflecht aus Akkorden um die tiefe, geradewegs zu Herzen gehende Stimme:

Am Kreuzweg wird begraben Wer selber sich brachte um; Dort wächst eine blaue Blume, Die Armesünderblum.

Am Kreuzweg stand ich und seufzte; Die Nacht war kalt und stumm. Im Mondschein bewegte sich langsam Die Armesünderblum.

Merkwürdiges Repertoire für ein Restaurant! dachte Fandorin, während er sich in den deutschen Liedtext hineinhörte. War das nicht etwas von Heine?

Im Saal war es sehr still geworden, und dann brach der Applaus los. Selbst die eben noch eifersüchtige Modistin rief »Bravo!«. Fandorin besann sich, aus der Rolle gefallen zu sein, doch war der unangemessen tiefsinnige Ausdruck auf seiner besoffenen Kaufmannsvisage wohl niemandem aufgefallen. Jedenfalls nicht dem rechts von ihm sitzenden Rotbart, der unverwandt zur Bühne sah.

Die letzten Akkorde der traurigen Ballade waren noch nicht verklungen, da gab Wanda, mit den Fingern schnipsend, schon einen neuen, schnelleren Rhythmus vor. Der Pianist schüttelte den Lockenkopf, pfuschte seinen Schluß aus dem Ärmel, dann hieb er alle zehn Finger in die Tasten, und das Publikum wiegte sich auf den Stühlen im Takt eines flotten kleinen Pariser Chansons.

Einer im Saal, der wie ein russischer Fabrikant aussah, verrichtete unterdessen eine eigentümliche Bastelei: Er hatte eine Blumenverkäuferin herangewinkt und ihrem Korb einen Strauß Stiefmütterchen entnommen, den er nun mit einer Hundertrubelnote umwand; damit schickte er das Mädchen zur Bühne. Wanda nahm die Blumen singend entgegen, roch daran und ließ sie mitsamt dem Geld zurückgehen. Der Fabrikant, der sich bis hierhin wie ein König aufgeführt hatte, sackte unübersehbar in sich zusammen und kippte zwei volle Gläser Wodka auf ex. All dies wurde im Saal mit Hohn zur Kenntnis genommen.

Fandorin vergaß seine Rolle kein zweites Mal. Er spielte ein wenig den Deppen: goß Champagner ins Teeglas und von da auf den Untersatz. Mit aufgeblasenen Backen nippte er davon - in winzigen Schlückchen, um jeden Rausch zu vermeiden, doch mit um so lauterem Schlürfen. Den Kellner schickte er nach mehr Champagner (»Aber keinen von La-nin! Moet, ungepanscht!«) und verlangte außerdem, daß für ihn ein Spanferkel gebraten werde, und zwar ein lebendiges, und er wolle es gefälligst vorher sehen, »sonst dreht ihr mir ein totes Viech aus dem Kühlhaus an, ich kenn euch deutsche Schlawiner.« Fandorins Hintergedanke war, daß es seine Zeit brauchen würde, bis man ein lebendes Ferkel auftrieb; inzwischen würde die Situation sich so oder so klären.

Knabe hinter seiner Maske äugte ungehalten zu dem zänkischen Nachbarn herüber, ohne sonderlich Anteil zu nehmen. Der Spion hatte schon viermal seine Breguet hervorgeholt, er war sichtlich nervös. Fünf Minuten vor acht kündigte Wanda das letzte Lied vor der Pause an und begann 50

eine sentimentale irische Ballade - von Molly, die sich nicht gedulden konnte, bis ihr Liebster aus dem Krieg heimkehrt. Nicht alle Augen im Saal blieben trocken.

Gleich ist sie fertig und kommt an Knabes Tisch! mutmaßte Fandorin und traf seine Vorkehrungen: Er ließ sich wie abgeschlafft vornüber fallen, die Stirn auf den Ellbogen, wobei er zugleich die Haarsträhne vom rechten Ohr wischte, und übte sich nun in der Schule der Konzentration, indem er alle Sinnesorgane mit Ausnahme des Gehörs abschaltete. Er verwandelte sich sozusagen in sein rechtes Ohr. Wandas Gesang kam jetzt wie von weit her, wohingegen Knabes Regungen, sie konnten noch so gering sein, in größter Klarheit vernehmlich waren. Der Deutsche saß wie auf Kohlen: knarrte mit dem Stuhl, scharrte mit den Füßen, und plötzlich klappten seine Absätze über das Parkett. Um sicherzugehen, drehte Fandorin den Kopf, öffnete das Auge einen Spalt - und konnte gerade noch sehen, wie der Rotbart durch einen Seitenausgang davonschlich.

Im Saal tobte der Beifall.

»Göttliche!« rief einer der Studenten ganz aufgewühlt. Die Modistinnen klatschten laut. Herrn Knabes stille Retirade war gar nicht nach Fandorins Geschmack. Im Zusammenspiel mit der Maske und dem falschen Namen schien sie sogar alarmierend.

Der Kaufmann erhob sich jäh, so daß sein Stuhl umkippte.

»Wir müssen dringend mal Pipipi!« hatte er der fröhlichen Gesellschaft am Nebentisch vertrauensvoll mitzuteilen und steuerte leicht schwankend auf den Seitenausgang zu. »Mein Herr!« rief der herbeieilende Kellner. »Die Toilette befindet sich nicht dort.«

»Geh weg!« verstieß ihn der Barbar, ohne sich umzudrehen. »Die Toilette befindet sich, w-w-wo ich will.«

Schreckensstarr verharrte der Kellner, wo er stand, während der Kaufmann breitbeinig davonwalzte. Oje, wie dumm: Auch Wanda war schon hinter die Kulissen gerauscht. Er mußte die Beine in die Hand nehmen.

Kurz vor der Tür ein neues Hindernis. Ein verzweifelt quietschendes Ferkel wurde dem kapriziösen Gast entgegengetragen.

»Hier haben wir das Bestellte!« wies ein schnaufender Koch stolz seine Trophäe vor. »Quicklebendig, quietschvergnügt. Gestatten Sie, es aufzuspießen?«

Fandorin blickte in die schreckgeweiteten rosa Schweinsäuglein und empfand auf einmal Mitleid mit der armen Kreatur, die anscheinend nur auf die Welt gekommen war, um im Wanst irgendeines Vielfraßes zu landen.

»Issa fillsu klein! Mussa erssnoch fettwern!« bellte der Kaufmann.

Entmutigt preßte der Koch sich den kleinen Paarhufer an die Brust, während der Grobian, gegen den Türpfosten prallend, auf den Korridor hinaustaperte.

Das hätten wir! dachte Fandorin fieberhaft. Rechts geht es ins Foyer. Also müssen Küche und Wandas Garderobe links liegen.

Im Laufschritt fegte er über den Korridor. Da ertönten von hinter der nächsten Ecke, aus einem dunklen Seitenflur, Gepolter und ein Schrei.

Fandorin stürzte dem Lärm entgegen und sah im nächsten Moment den Rotbart, wie er Wanda von hinten umklammert hielt, ihr eine Hand auf den Mund preßte, während die andere sich mit einer dünnen Stahlklinge Wandas Kehle näherte.

Die Sängerin hatte beide Hände in das breite, von roten Haaren bewucherte Handgelenk gekrallt, doch der Abstand zwischen feiner Klinge und dünnem Hals schmolz zusehends.

»Halt! Polizei!« brüllte Fandorin mit vor Erregung kippender Stimme, und nun bewies Herr Knabe eine nicht alltägliche Reaktionsschnelligkeit, indem er die zappelnde Wanda direkt in Fandorins Richtung schleuderte. Instinktiv fing der sie bei den mageren Schultern, worauf die Dame, wie Espenlaub zitternd, sich sofort in ihren Retter verkrallte. Der Deutsche war mit zwei Sätzen an ihnen vorbei und raste den Korridor entlang, warf jetzt eine Hand nach oben und fuhr sich mit der anderen in die Achselhöhle. Fandorin sah, wie diese Hand samt etwas Schwarzem, Schwerem herumschwenkte und riß Wanda mit sich zu Boden. Keine Sekunde zu früh - der Schuß hätte sie beide getroffen. Für einen Moment ertaubte Fandorin von dem Knall, der den schmalen Korridor ausfüllte. Dann hörte er Wanda wie von Sinnen winseln und spürte, wie sie sich unter ihn drängte.

»Ich bin es, Fandorin!« keuchte er und versuchte sich zu erheben. »Lassen Sie mich los.« Doch er kam nicht auf die Füße. Wanda, am Boden liegend, hielt ihn eisern beim Knöchel gepackt und schluchzte hysterisch: »Warum tut er das, warum tut er das? Nicht allein lassen, bitte nicht!«

Alle Versuche, den Fuß freizubekommen, scheiterten - die Sängerin hing fest und ließ nicht locker. Fandorin versuchte es in absichtlich ruhigem Ton: »Warum er das tut, wissen Sie selbst am besten. Wir haben Gott sei dank noch mal Glück gehabt.«

Behutsam, doch resolut befreite er seinen Knöchel aus Wandas Griff und lief, den Spion einzuholen. Am Portal stand ja Kljujew, fiel ihm ein. Ein erfahrener Agent. Der ließ ihn nicht entwischen. Der hielt ihn wenigstens auf.

Doch als Fandorin aus der Tür des Restaurants auf die Straße sprang, mußte er erkennen, daß die Sache miserabel stand. Knabe saß schon in dem englischen Einsitzer, der unter der Bezeichnung »Egoist« bekannt war, und peitschte auf seinen sehnigen Falben ein. Das Pferd ging mit den Vorderhufen in die Luft und ruckte so heftig an, daß es den Deutschen gegen die Lehne schleuderte.

Der erfahrene Agent Kljujew saß, die Hände gegen den Kopf gepreßt, auf dem Trottoir. Zwischen den Fingern sickerte Blut hervor.

»Tut mir leid, er ist mir entwischt«, stöhnte er dumpf. »Ich brülle halt! - und er zieht mir den Pistolengriff übern Schädel.«

»Komm hoch!« Fandorin packte den Verletzten bei der Schulter und zwang ihn zum Aufstehen. »Er haut uns ab!«

Kljujew riß sich zusammen, verschmierte die rote Brühe auf seinem Gesicht und taumelte seitwärts zur Kalesche.

»Ich bin schon in Ordnung, es verschwimmt bloß alles«, murmelte er, während er auf den Bock kroch.

Mit einem Sprung saß Fandorin auf der Hinterbank, Kljujew schüttelte die Zügel, und das fuchsrote Pferdchen begann über das Pflaster zu traben, legte immer mehr zu. Doch es lief zu langsam, viel zu langsam. Der Egoist war schon an die hundert Schritt voraus. »Schneller!« brüllte Fandorin auf den schlaffen Kljujew ein. »Schneller!«

Mit einem Affentempo fegten die beiden Kutschen aus der kleinen Sofijka auf die breite Lubjanka - Häuser, Ladenschilder, vom Donner gerührte Passanten flogen vorbei -, und hier ging die wilde Jagd erst richtig los. Der Schutzmann, der gegenüber dem Photoatelier Möbius postiert war, pfiff mißbilligend, drohte den Störern der öffentlichen Ordnung mit der Faust, mehr konnte er nicht tun. Ach, jetzt müßte man einen Telefonapparat in der Kutsche haben! kam Fandorin der flüchtige Gedanke, man könnte Karatschenzew antelefonieren, damit er uns ein paar Wagen vom Gendarmerieamt entgegenschickte. Eine unsinnige Phantasie im unrechten Augenblick - alle Hoffnung lag auf dem fuchsroten Pferd. Und das plagte sich nach Kräften, warf die kräftigen Fesseln, schüttelte die Mähne, schielte zurück aus irre glupschendem Auge: ist's genug? noch eins drauf? etwa immer noch eins?

Noch eins drauf, mein Liebes, immer noch eins! flehte Fandorin still. Kljujew schien sich etwas gefangen zu haben, er stand aufrecht, ließ die Peitsche knallen und johlte aus vollem Halse, so als jagte Mamais wilde Tatarenhorde durch die abendlich stille Straße.

Der Abstand zum Egoisten hatte sich verringert. Beunruhigt blickte Knabe sich öfters um, und wahrscheinlich sah er, daß so kein Entkommen war. Als nur noch etwa dreißig Schritt die beiden Wagen trennten, drehte der Spion sich um, streckte die linke Hand mit dem Revolver aus und schoß. Kljujew duckte sich.

»Verdammt, nicht schlecht gezielt! Knapp übers Ohr gepfiffen! Der ballert aus 'nem Reichsrevolver! Schießen Sie doch, Euer Hochwohlgeboren! Auf das Pferd! Sonst entkommt er!«

»Was kann das Pferd denn dafür?« knurrte Fandorin, der noch das Ferkel vor Augen hatte. Nicht das jedoch war sein Problem - fürs Vaterland hätte er den Falben gewiß aufs Spiel gesetzt. Aber sein Herstal Agent war für einen gezielten Schuß aus solcher Entfernung schlicht ungeeignet. Was, wenn er statt des Pferdes diesen Herrn Knabe traf? Die gesamte Operation wäre gescheitert.

An der Ecke Sretenski-Boulevard drehte der Deutsche sich erneut um, und diesmal zielte er etwas länger, bevor ein Rauchwölkchen aus der Mündung seines Revolvers stieg. Im selben Moment fiel Kljujew rücklings um - gerade auf Fandorin. Ein Auge schaute dem Kollegienassessor erschrocken ins Gesicht, das andere war eine Grube, die sich binnen kurzem mit Blut füllte.

»Euer Hochwohl-« suchten die Lippen das Wort zu formen und kamen nicht zu Ende damit.

Die Kalesche drehte ab, und Fandorin sah sich gezwungen, den auf ihm Liegenden gnadenlos beiseite zu stoßen. Er griff nach den Zügeln und straffte sie - gerade noch rechtzeitig, bevor der Wagen am gußeisernen Randgitter des Boulevards zu zerschellen drohte. Im nächsten Moment war die Fahrt zu Ende. Das außer Rand und Band geratene Pferd versuchte weiterzurasen, doch das linke Vorderrad hing an einem Poller fest.

Fandorin beugte sich über den Agenten und sah, daß das verbliebene Auge den Ausdruck des Schreckens verloren hatte, es blickte starr und konzentriert nach oben, so als hätte Kljujew dort etwas sehr Interessantes erspäht - interessanter als alles, was zwischen Himmel und Erde war.

Mechanisch ging Fandorins Hand zum Kopf, den Hut abzunehmen, doch es gab keinen, der eindrucksvolle Zylinder war an der Garderobe der »Alpenrose« zurückgeblieben. Großartige Bilanz: Agent tot, Knabe entwischt.

Aber wohin eigentlich? Die Wohnung in der Karetny war vermutlich Knabes einziger Rückzugsort. Dorthin mußte er auf jeden Fall, und wenn es nur fünf Minuten waren: Geld holen, einen Ersatzpaß vielleicht, kompromittierendes Material vernichten ...

Zum Trauern war dies nicht der rechte Moment. Fandorin faßte den Toten unter den Achseln, zog ihn aus der Kalesche und lehnte ihn mit dem Rücken gegen das Gitter.

»Bleib hier erst mal sitzen, Kljujew«, murmelte der Detektiv, und ohne auf die Passanten achtzugeben, welche die Szene erschrocken und neugierig verfolgten, kroch er zurück auf den Bock.

Vor dem Portal des ansehnlichen Bürgerhauses, wo im zweiten Obergeschoß die Filiale des Bankhauses Kerbl & Schmidt residierte, stand der bekannte Egoist. Das Pferd, ganz von Schaum bedeckt, trat nervös auf der Stelle und ließ den nassen Kopf pendeln. Fandorin stürzte in den Eingang.

»Halt, wohin?« rief ein bulliger Portier und packte ihn beim Arm, bekam jedoch im nächsten Augenblick einen trockenen Fausthieb gegen die Schläfe und flog zur Seite. Oben klappte eine Tür. Bestimmt im zweiten Stock! peilte Fandorin und jagte, drei Stufen auf einmal nehmend, den Herstal im Anschlag, die Treppe hinauf. Zweimal schießen -auf die rechte und auf die linke Hand! schärfte er sich ein. Denn der Kerl hatte Wanda mit der Rechten erstechen wollen, geschossen hatte er mit der Linken. Ein Beidhänder.

Da war auch schon die Tür mit dem Kupferschildchen: Hans-Georg Knabe. Fandorin drückte auf die Bronzeklinke. Die Tür war unverschlossen. In schnellen, doch überlegten Schritten - die Hand mit dem Revolver ausgestreckt, die Sicherung entriegelt - rückte er vor.

In dem langgestreckten Wohnungsflur war es duster - nur durch ein offenstehendes Fenster an seinem Ende fiel Licht herein. Darum übersah Fandorin, gefaßt auf eine von vorn oder der Seite drohende Gefahr, das längliche Etwas zu seinen Füßen, stolperte und wäre beinahe lang hingeschlagen. Blitzschnell fuhr er herum, setzte zum Schuß an - doch das war überflüssig.

53

Vor ihm auf dem Boden lag bäuchlings, einen Arm von sich gestreckt, die nämliche Person im karierten Jackett mit umgeschlagenen Schößen. Mysteriös! war Fandorins erster Gedanke. Er drehte den Mann auf den Rücken und sah nun das hölzerne Heft eines

Fleischermessers aus der rechten Seite ragen. Also doch nicht mysteriös. Der Spion war ermordet worden, und zwar, nach dem aus der Wunde pulsenden Blut zu urteilen, gerade eben.

Gehetzt kniff Fandorin die Augen zusammen und rannte durch alle Räume. Es herrschte Chaos: Das Unterste war zuoberst gekehrt, die Bücher waren von den Regalen geworfen, im Schlafzimmer wirbelte einem Schneesturm gleich der Flaum aus dem zerstochenen Daunenbett. Nirgends ein Mensch.

Nun sah Fandorin aus dem Fenster, das dem Flur Licht gab, und blickte auf das direkt darunter gelegene Dach eines Anbaus. Aha!

Der Detektiv sprang nach draußen und landete auf polterndem Blech. Vom Dach aus bot sich ein großartiger Blick: purpurnes Abendrot über Moskaus Kirch- und Festungstürmen, Krähenschwärme als ein schwarzes Flimmern. Doch Fandorin, zu gewöhnlichen Zeiten durchaus ein Ästhet, hatte für das wunderbare Panorama keinen Blick.

Ein seltsamer Spaß. Der Mörder war verschwunden, obwohl es von dem Dach eindeutig keine Fluchtmöglichkeit gab. Er konnte doch nicht davongeflogen sein?

Zwei Stunden später war die Wohnung in der Karetny nicht wiederzuerkennen. In den engen Zimmern tummelten sich die Kriminalbeamten, Mitarbeiter aus der Chiffrierabteilung numerierten alle vorhandenen Papiere und hefteten sie in Ordner ab, der Polizeiphotograph fertigte Aufnahmen des Leichnams aus verschiedenen Perspektiven. Die höheren Chargen - Polizeipräsident, Leiter der Geheimabteilung bei der Gouverneurskanzlei und Sonderbeauftragter - hielten sich in der Küche auf, da dort die Durchsuchung bereits abgeschlossen war.

»Was haben die Herren Ermittler vorzutragen?« fragte Churtinski, während er sich eine Prise Tabak ins Nasenloch stopfte.

»Das Bild ist eindeutig«, sagte Karatschenzew achselzuckend. »Ein vorgetäuschter Raubüberfall. Inszeniert für Idioten. Die haben hier alles verwüstet, aber nichts von Wert mitgehen lassen. Auch die Geheimsachen - Waffe, Chiffriertabelle, technische Hilfsmittel - alles noch da. Sie haben anscheinend gehofft, wir kämen nicht dahinter.«

»Happ-tschi!« nieste der Hofrat schallend, doch keiner der Anwesenden wünschte ihm Gesundheit.

Vielmehr drehte der General sich von ihm weg und sprach das Weitere in Fandorins Richtung: »Ein besonders schlagendes Detail sollte wohl die Mordwaffe sein. Das Messer stammt von da!« Er wies auf eine Hakenleiste an der Küchenwand, wo Messer verschiedener Größe hingen. Ein Haken war leer. »Es sollte aussehen, als hätte der Räuber sich das Nächstbeste gegriffen. Eine plumpe Finte, typisch deutsch. Der Stich in die Niere erfolgte in höchstem Maße professionell. Jemand hat Herrn Knabe in dem dunklen Korridor aufgelauert.«

»Nämlich wer?« fragte Churtinski, während er damit beschäftigt war, die zweite Ladung akkurat im anderen Nasenloch anzubringen.

Anscheinend war der Polizeichef zu Erklärungen nicht zu bewegen, so daß Fandorin einspringen mußte: »Wohl jemand von den eigenen Leuten. K-... Kein anderer scheint in Frage zu kommen.«

»Die Wurstmaxen haben den Schwanz eingekniffen, sie scheuen den diplomatischen Konflikt«, sagte Karatschenzew und nickte. »Der Überfall ist natürlich fingiert. Was hätte es für einen Sinn, das Deckbett aufzuschlitzen? Nein, hier sollten Spuren verwischt werden. Den eigenen Offizier abzuschlachten wie eine Sau, das ist nicht fein, meine Herren, nicht die christliche Art. Aber der Grund für die Panik ist mir klar. Denn wenn die Sache ans Licht kommt, droht nicht bloß ein Skandal, sondern Krieg. Der Hauptmann des Generalstabs, Knabe, war gar zu beflissen, hat sich zu weit vorgewagt. Allzuviel Eifer schadet. Geschieht ihm recht, dem Karrieristen. Aber wie es aussieht, meine Herren, sind wir mit unserer Arbeit fertig. Der Tod des Generals Sobolew wäre hiermit aufgeklärt. Über das weitere Vorgehen sollen sie höhererseits entscheiden. Was fangen wir mit Wanda an?« »Sie hat mit Sobolews T-... Tod nichts zu schaffen«, sagte Fandorin. »Und dafür, daß sie mit einem deutschen Spion Umgang pflegte, ist sie genug gestraft. Hätte ja b-b-... beinahe mit dem Leben bezahlt.«

»Die Sängerin lassen wir ungeschoren«, stimmte Churtinski zu. »Was da alles ans Tageslicht käme ... Das muß nicht sein.«

»Gut«, konstatierte der Polizeipräsident, der gedanklich wohl schon dabei war, seinen Abschlußbericht zu verfassen, »in zweitägiger Ermittlung ließ sich der Gang der Ereignisse lückenlos wie folgt rekonstruieren. Der deutsche Geheimdienstoffizier Knabe hatte, um sich bei seinen Vorgesetzten beliebt zu machen, auf eigene Faust beschlossen, den fähigsten Kommandoführer im russischen Militär zu beseitigen, der für seine militante Deutschenfeindlichkeit bekannt und als Führer der Russischen Nationalistischen Partei etabliert war. Als Knabe von Sobolews bevorstehender Moskaureise erfuhr, spielte er ihm eine Dame der Halbwelt zu, der er zuvor ein Fläschchen mit einem stark wirkenden Gift anvertraut hatte. Das Gift anzuwenden konnte die Dame sich nicht entschließen, oder sie kam nicht dazu. Die versiegelte Ampulle wurde ihr inzwischen abgenommen und befindet sich beim Moskauer Gendarmerieamt in Verwahrung. Der General starb eines natürlichen Todes, was Knabe jedoch nicht ahnen konnte, und er beeilte sich, die erfolgreiche Aktion nach Berlin zu melden, damit ihm die erwarteten Lorbeeren zuteil würden. Die Berliner Obrigkeit geriet ob der zu befürchtenden Folgen solch eines politischen Mordes aus dem Häuschen und beschloß, sich ihres übereifrigen Nachrichtendienstlers schnellstmöglich zu entledigen. Und so geschah es. Für diplomatische Schritte an die Adresse der deutschen Regierung besteht aus unserer Sicht kein Anlaß, zumal der Tatbestand eines Attentats ja nicht gegeben ist.« Und Karatschenzew fügte, schon nicht mehr im Berichtston, hinzu: »Eine fatale Verkettung von Umständen hat dem flotten Hauptmann das Genick gebrochen. Und nichts anderes hat der Schuft verdient.«

»Amen«, sagte Churtinski und erhob sich. »Meine Herren, Sie werden die Sache hier zu Ende bringen, erlauben Sie, daß ich mich zurückziehe. Seine Durchlaucht erwarten meinen Bericht.«

Mitternacht war weit überschritten, als Fandorin im Hotel anlangte. Auf dem Gang vor seiner Zimmertür stand Masa und rührte sich nicht.

»Sie ist wieder da, Herr«, gab er lakonisch kund.

»Wer?«

»Die Frau in Schwarz. Sie ist da und will nicht gehen. Ich 55 hab extra ins Wörterbuch geschaut und gesagt, daß Ihr wer weiß wann wiederkommt. >Hell nix da. Spatel kommt!< hab ich gesagt. Aber sie sitzt und sitzt. Drei Stunden schon hockt sie da drin, und ich stehe hier.«

Fandorin schob seufzend die Tür auf und spähte hinein. Am Tisch saß, die Hände auf den Knien gefaltet, ein goldblondes Mädchen in Trauerkleid und breitkrempigem Hut mit schwarzem Flor. Man sah ihre langen, gesenkten Wimpern, die schmale, sanft gebogene Nase, das feingeschnittene Gesicht. Und jetzt, da die Unbekannte das Knarren der Tür gehört hatte und die Augen aufschlug, erstarrte Fandorin vor so viel Schönheit. Instinktiv prallte er von der Tür zurück und zischte dem Diener zu: »Hast du nicht gesagt, sie sei alt? Die ist keine fünfundzwanzig!«

»Die Frauen in Europa sehen alle alt aus«, sagte Masa. »Und ist man mit fünfundzwanzig etwa jung, Herr?«

»Und häßlich, hast du gesagt!«

»Das ist sie, die Ärmste. Gelbe Haare, lange Nase, Wasseraugen - genau wie Eure!«

»Ach so«, flüsterte Fandorin peinlich berührt. »Ich vergaß, daß du hier der einzige schöne Mensch bist.«

Und nach einem weiteren Seufzer, der aber schon aus ganz anderen Tiefen rührte, betrat er das Zimmer.

»Herr Fandorin?« fragte das Mädchen und erhob sich hastig. »Sie führen die Ermittlungen zum Tod von Michail Sobolew, nicht wahr? Ich weiß es von Gukmassow.«

Fandorin verbeugte sich wortlos und starrte die Unbekannte an. Willensstärke und Zerbrechlichkeit, Esprit und Weiblichkeit in einer solchen Verschmelzung bekam man in einem Mädchengesicht nicht oft zu sehen. In gewisser Weise erinnerte die Dame an Wanda, nur war die Mundpartie ohne Spuren von Schärfe und zynischem Spott.

Die nächtliche Besucherin trat dicht vor den jungen Mann, sah ihm in die Augen und fragte mit einer Stimme, die vor Zorn oder zurückgehaltenen Tränen zu beben schien: »Wissen Sie, daß Michail Sobolew ermordet worden ist?«

Fandorin runzelte die Stirn.

»Jawohl, ermordet!« Die Mädchenaugen bekamen einen fiebrigen Glanz. »Und nur wegen dieses verfluchten Portefeuilles!«

SIEBTES KAPITEL, in welchem viel getrauert wird und Fandorin nur Zeit verliert

Im makellosen, von der grellen Sonne weißglühenden Moskauer Himmel hing schon am frühen Sonntagmorgen ein erbarmungsloser Glockenklang. Und obwohl der Tag heiter zu werden versprach und das Gold zahlloser Zwiebelkuppeln glänzte, daß man blinzeln mußte, war es der auf sanften Hügeln hingebreiteten Stadt in der Seele öd und kalt. Allzu fade, allzu unfroh klangen heute die berühmten Glocken - denn Moskau trauerte im Gedenken an Michail Sobolew, den der Herrgott als den Seinen jüngst zu sich befahl.

Der Verstorbene hatte die meiste Zeit in Sankt Petersburg gelebt und sich in der alten Metropole immer nur besuchsweise aufgehalten, doch Moskau liebte ihn mehr als das kalte, geschäftige Petersburg, liebte ihn hingebungsvoll wie eine Frau, ohne viel Gedanken an die Meriten seines Idols zu verschwenden. Es genügte, daß er ein guter Mensch und heldenhafter Kämpfer war, und am meisten liebten die Moskauer ihren Sobolew, weil sie den echten Russen in ihm sahen, der allen fremden Flausen und Haarspaltereien abhold war.

Darum hingen Lithographien mit dem Konterfei des Weißen Generals - Rauschebart und blankgezogener Säbel! - im Hause beinahe eines jeden Moskauers, gleich ob er niederer Beamter, Kaufmann oder Großbürger war.

So viel Gram hatte die Stadt nicht einmal letzten März bekundet, als die Beisetzung des heimtückisch ermordeten Zaren Alexander stattfand und danach ein ganzes Jahr lang Staatstrauer herrschte, die Straßen also nicht geschmückt, keine Feste veranstaltet, Friseurläden nicht aufgesucht und Komödien nicht gespielt wurden.

Lange bevor sich der Trauerzug quer durch das Stadtzentrum zum Platz Krasnyje Worota in Bewegung setzte, wo in der Dreiheiligenkirche die Totenmesse abgehalten werden sollte, waren Trottoirs, Fenster, Balkone und selbst die Dächer entlang des Teatralny Projesd, der Lubjanka und der Mjasnizkaja von Zuschauern verstopft. Die Jungs hockten auf den Bäumen, die verwegensten erklommen die Fallrohre der Dachrinnen. Längs des gesamten Weges, den der Leichenwagen zurücklegen sollte, bildeten Garnisonstruppen sowie Zöglinge der Alexander- und der Junkerschule ein Ehrenspalier. Am Rjasaner Bahnhof stand der aus fünfzehn Wagen bestehende, mit Flaggen, Georgskreuzen und Eichenlaub geschmückte Sonderzug zur Überführung bereit. Auch wenn Petersburg keine Anstalten machte, von seinem Helden Abschied zu nehmen - Mütterchen Rußland tat es mit einer tiefen Verbeugung, und sein Herz schlug zwischen Moskau und Rjasan, genauer: im Dorf Spasskoje, Ujesd Ranenburg, wo der Weiße General zur letzten Ruhe gebettet werden würde.

Die Prozession dehnte sich über mehr als eine Werst. Allein Ordenskissen waren es gute zwei Dutzend. Den St. Georgsstern 1. Klasse trug der Oberkommandierende des Petersburger Militärbezirks, Infanteriegeneral Ganezki, vor sich her. Und erst die Kränze - welche Flut! Gestiftet von den Händlern des Ochotny Rjad und vom Englischen Klub und von der Moskauer Bürgergilde und von den Rittern des St. Georgsordens und, und, und - man kann sie nicht alle aufzählen. Vor dem Katafalk, einer mit rotem Samt bespannten und von goldenem Baldachin beschirmten Lafette, ritten Herolde mit gesenkten Fackeln einher, ihnen nach der Generalgouverneur und der Kriegsminister als die Ausrichter der Feierlichkeiten. Dem Sarg folgte einsam auf seiner pechschwarzen Araberstute Großfürst Kirill Alexandrowitsch, leiblicher Bruder und persönlicher Berater Seiner Majestät des Zaren. Hinter ihm führten Adjutanten den schneeweißen Bajazette, Sobolews berühmten Achal-Tekkinerhengst, der eine Trauerdecke trug. Daran anschließend marschierte im Stechschritt die Ehrenwache, weitere, etwas bescheidenere Kränze folgten, und dann kamen, barhäuptig einherschreitend, die angesehensten Gäste: Würdenträger, Generäle, Magnaten, die Deputierten der Stadtduma. Es war, alles in allem, ein erhebender Anblick, ganz unvergleichlich.

Am Ende schien sich auch die Junisonne ihrer unangebrachten Holdseligkeit zu schämen und bedeckte sich mit Wolken, der Tag wurde grau, und als der Zug Krasnyje Worota erreicht hatte, wo eine hunderttausendköpfige Menge wogte, schluchzte, Kreuze schlug, da setzte gar ein zaghafter Nieselregen ein. Nun waren Mensch und Natur in ihrer Stimmung vollkommen überein.

Fandorin drängte sich durch die dichte Menge, denn er war auf der Suche nach dem Polizeipräsidenten. In aller Herrgottsfrühe, gleich nach sieben, hatte er im Hause des Generals auf dem Twerskoi vorgesprochen und war doch zu spät gekommen - es hieß, Seine Exzellenz sei bereits auf dem Weg ins »Dusseaux«. Kein Wunder an so einem Tag, bei so viel Verantwortung, die ja doch in erster Linie auf Karatschenzews Schultern lag. Das Pech blieb Fandorin treu. Am Portal des »Dusseaux« erfuhr er von einem Gendarmeriehauptmann, der General sei »gerade vorhin eben aufs Amt galoppiert«. Doch im Kabinett an der Malaja Nikitskaja traf er Karatschenzew auch nicht mehr an - er war schon wieder losgeprescht, um vor der Kathedrale für Ordnung zu sorgen, wo die Massen sich zu erdrücken drohten.

Für eine Lösung des anstehenden, nicht länger aufzuschiebenden Problems hätte freilich auch der Generalgouverneur sorgen können. Und den mußte man nicht suchen -dort vorn ritt er auf seinem Apfelschimmel, von allen Seiten sichtbar, in eherner Gardekavalleristenhaltung dem Trauerzug voran. Da war kein Herankommen.

In der Dreiheiligenkirche, in die Fandorin nur mit Hilfe des justament auftauchenden fürstlichen Sekretärs gelangte, sah die Sache nicht günstiger aus. Zwar glückte es Fandorin, die Gangart der Ninja pflegend, sich bis kurz vor den Sarg nach vorn zu schlängeln, doch hier stieß er auf eine undurchdringliche Wand von Rücken. Feierlich, in Wichs und Pomade stand Fürst Wladimir, eine Greisenträne im Augenwinkel, neben Herzog Lichtenburgski. Ein Wort mit ihm zu wechseln schien ganz unmöglich - und selbst wenn es dazu gekommen wäre, hätte der Fürst schwerlich einen Sinn für die Dringlichkeit der Sache zu entwickeln vermocht.

In wütender Ohnmacht mußte Fandorin die ergreifende Rede von Vater Ambrosius, die unerforschlichen Ratschlüsse des Herrn betreffend, über sich ergehen lassen. Ein kleiner Kadett, leichenfahl vor Aufregung, deklamierte mit heller Stimme ein langes, gereimtes Epitaph, das mit den Worten schloß:

Ihn fürchtet' noch der ärgste Feind, So wie der Hase furcht'-den Aar. Und sinkt er nun ins Grab hinab -Sein Geist wohnt in uns immerdar!

Ringsum flössen die Tränen, nicht zum ersten und nicht zum zweiten Mal. Das Hervorkramen der Taschentücher sorgte für Unruhe. Und weiter ging die Zeremonie in ihrer dem Anlaß wohlgebührenden Betulichkeit. Darüber verstrich die Zeit.

In der zurückliegenden Nacht hatte Fandorin von Umständen erfahren, die den Fall erneut in gänzlich anderem Licht erscheinen ließen. Die späte Besucherin, die der in europäische Maßstäbe uneingeweihte Diener als nicht sehr jung und nicht sehr schön eingestuft hatte, während sein der Romantik zuneigender Herr sie als geheimnisvoll und wunderschön ansah, hieß Jekaterina Golowina und war Lehrerin am Minsker Mädchengymnasium. Ihrer zarten Konstitution und dem Überschwang der Gefühle zum Trotz äußerte sich Frau Golowina in für eine Gymnasiallehrerin unüblicher Direktheit und Schärfe - falls sie nicht von Natur aus so war, hatten Leid und Verbitterung sie so weit gebracht.

»Herr Fandorin«, begann sie, jede einzelne Silbe skandierend, »ich muß Sie als erstes darüber aufklären, welcherart Beziehungen mich mit ... dem Toten verbanden.«

Das vorletzte Wort hatte ihr nicht über die Zunge gewollt. Auf ihrer reinen, hohen Stirn zeichnete sich eine Leidensfurche ab, doch die Stimme zitterte kein bißchen. Eine echte Spartanerin! mußte Fandorin sogleich denken.

»Anders werden Sie nicht einsehen, wieso ich weiß, was niemand sonst wußte, nicht einmal seine engsten Getreuen. Michel und ich, wir haben uns geliebt.«

Bei diesen Worten sah Frau Golowina Fandorin forschend an. Von der höflichen Aufmerksamkeit in seiner Miene offenbar unbefriedigt, glaubte sie deutlicher werden zu müssen: »Ich war seine Geliebte.«

Jekaterina Golowina preßte die zu Fäusten geballten schmalen Hände gegen die Brust, und in dem Moment kam sie Fandorin wieder wie Wanda vor, als die von der freien Liebe sprach - der gleiche Ausdruck von Provokation, die gleiche Bereitschaft, übelzunehmen. Fandorins Miene blieb höflich und unvoreingenommen. Darum seufzte Frau Golowina und erklärte es diesem Einfaltspinsel ein drittes Mal.

»Wir lebten zusammen wie Mann und Frau, verstehen Sie? Darum war er mir gegenüber offenherziger als zu irgendwem.«

»Das habe ich verstanden, meine Dame, Sie k-k-... können fortfahren«, machte Fandorin zum ersten Mal den Mund auf.

»Wobei Ihnen bekannt sein dürfte, daß Michel vor dem Gesetz verheiratet war«, meinte Frau Golowina immer noch einmal präzisieren zu müssen; sie legte sichtlich Wert darauf, jegliche Mißverständnisse in bezug auf ihre Person auszuschließen und klarzustellen, daß sie sich ihrer Situation in keiner Weise schämte.

»Mit einer geborenen Fürstin Titowa, ich weiß. Aber Michail Sobolew lebte seit langem getrennt von ihr, sie ist nicht einmal zum B-... Begräbnis angereist. Erzählen Sie von dem Portefeuille.«

»Das kommt noch«, parierte die Golowina. »Alles der Reihe nach. Zuvor muß ich Ihnen erklären ... Vor einem Monat haben Michel und ich uns gestritten.«

Sie schluchzte.

»Also, wir sind auseinandergelaufen und haben uns seither nicht mehr gesehen. Er fuhr auf Manöver, dann kam er für einen Tag zurück nach Minsk, und dann ist er ...«

»Michail Sobolews Ortsveränderungen im letzten Monat sind mir bekannt«, versuchte Fandorin seine Gesprächspartnerin höflich, aber unnachgiebig zu bewegen, auf das Wesentliche zu kommen.

Die Golowina stutzte und sagte darauf in prononciertem Ton: »Wissen Sie denn auch, mein Herr, daß Michel im Mai alle seine Aktien und Wertpapiere eingelöst, alles Geld von seinen Konten abgehoben, eine Hypothek auf sein Gut in Rjasan und noch dazu einen großen Bankkredit aufgenommen hat?«

Fandorin zog die Brauen zusammen.

»Wozu das?« fragte er.

Jekaterina Golowina ließ den Kopf sinken.

»Das weiß ich auch nicht. Es gab da irgendeine Geheimsache, die für ihn sehr wichtig gewesen sein muß und in die er mich nicht hineinziehen wollte. Mich hat das wütend gemacht, wir haben uns gezankt deswegen ... Ich habe Michels politische Ansichten nie geteilt: Rußland den Russen, vereinigtes Slawentum, nichteuropäischer Weg und dieser ganze Unfug. Unser letzter, entscheidender Streit hatte auch damit zu tun. Aber nicht nur ... Ich spürte, daß ich in seinem Leben nicht mehr die Hauptrolle spielte. Da war etwas, das wichtiger war als ich. Vielleicht auch nicht etwas, sondern jemand ...« Sie errötete. »... Aber das tut nichts zur Sache. Wesentlich ist etwas anderes.« Die Golowina senkte die Stimme. »Alles Geld befand sich in einem Portefeuille, das Michel während seiner Februarreise in Paris gekauft hat. Braunes Leder, mit zwei Silberschlössern, zu denen es zwei kleine Schlüsselchen gab.«

Fandorin kniff die Augen zusammen und überlegte, ob ein solches Portefeuille unter den bei der Durchsuchung von Zimmer N- 47 vorgefundenen Dingen gewesen war. Nein. Dessen war er sich sicher.

»Er sagte mir, er brauche das Geld für die Reise nach Moskau und Sankt Petersburg«, fuhr die Lehrerin fort. »Die Reise sollte Ende Juni stattfinden, im Anschluß an die Manöver. Sie haben das Portefeuille vermutlich nicht bei ihm gefunden?«

Fandorin schüttelte den Kopf.

»Prochor Gukmassow sagt auch, daß es verschwunden sei. Michel hatte es ständig bei sich, und im Hotelzimmer hat er es in den Tresor geschlossen, Prochor hat es mit eigenen Augen gesehen. Aber dann, als es passiert war ... Wie er den Tresor aufgesperrt hat, lagen da nur irgendwelche Papiere, das Portefeuille war nicht da. Prochor maß dem nicht viel Bedeutung bei, er war viel zu mitgenommen von alledem und wußte ja außerdem nicht, wieviel Geld das Portefeuille enthielt.«

»Nämlich w-w-... wieviel?« fragte Fandorin.

»Soweit ich weiß, über eine Million Rubel«, erwiderte Jekaterina Golowina gedämpft.

Vor Überraschung stieß Fandorin einen leisen Pfiff aus und entschuldigte sich sofort dafür. All diese Neuigkeiten gefielen ihm ganz und gar nicht. Eine Geheimsache? Was konnte ein Generaladjutant, Infanteriegeneral und Korpskommandeur für eine Geheimsache hegen? Und was für Papiere sollten in dem Tresor gelegen haben? Als Fandorin in Gegenwart des Polizeipräsidenten hineingeschaut hatte, war das Fach völlig leer gewesen. Was konnte Gukmassow bewogen haben, die Papiere vor den Ermittlungsbeamten zu verbergen? Das war gewiß kein Spaß. Dazu die große, unerhört große Summe Geld! Wozu hatte Sobolew sie benötigt? Und was die hauptsächliche Frage war: Wohin war sie verschwunden?

Den endlich einmal besorgten Ausdruck im Gesicht des Detektivs bemerkend, legte Jekaterina Golowina schnell und heftig nach: »Er ist ermordet worden, das weiß ich. Wegen dieser verfluchten Million. Und dann haben sie es so gedreht, den Tod als natürlich erscheinen zu lassen. Michel war ein kräftiger Mann, ein wahrer Recke, sein Herz hätte noch 60

hundert Schlachten und Katastrophen ausgehalten, das war seine Welt!«

»Ja«, sagte Fandorin mitfühlend, »so meinen alle.«

»Darum habe ich auch nicht auf der Heirat bestanden«, fuhr die Golowina fort, ohne auf ihn zu hören, der Ansturm der Gefühle hatte ihr eine sanfte Röte ins Gesicht getrieben. »Mir war klar, daß ich dazu kein Recht habe, er hat eine andere Mission, er kann nicht bloß einer Frau gehören, und für ein Gnadenbrot bin ich mir zu schade. Mein Gott, was rede ich da! Verzeihen Sie.«

Sie legte die Hand über die Augen und sprach nun langsamer, mühevoller.

»Als gestern Gukmassows Telegramm kam, bin ich sofort zum Bahnhof gelaufen. Paralyse des Herzens! Ich konnte es gleich nicht glauben, und als ich von dem verschwundenen Portefeuille erfuhr ... Er ist ermordet worden, so viel steht fest.«

Unversehens packte sie Fandorins Hand, und der Detektiv wunderte sich, woher ihre dünnen Finger die Kraft nahmen.

»Finden Sie den Mörder! Prochor Gukmassow sagt, Sie seien ein analytisches Genie und könnten alles. Tun Sie etwas! Sie haben diesen Mann nicht gekannt, wie ich ihn gekannt habe!«

Hier nun brach sie in Tränen aus und vergrub ihr Gesicht wie ein Kind an Fandorins Brust. Während er die Dame ungeschickt bei den Schultern nahm, fiel ihm ein, wie er erst neulich, bei ganz anderer Gelegenheit, Wanda in den Armen gehalten hatte. Die gleichen schutzlosen, zerbrechlichen Schultern, der gleiche Duft ihres Haars. Man konnte sich vorstellen, was Sobolew an der Sängerin fasziniert hatte - sie mußte ihn unweigerlich an seine Minsker Liebe erinnern.

»So wie Sie habe ich ihn natürlich nicht gekannt«, sagte Fandorin milde. »Aber ich kannte Michail Sobolew gut genug, um an der Natürlichkeit seines Todes meine Zweifel zu haben. Leute von seinem Schlag sterben nicht einfach so.«

Fandorin setzte die von Weinkrämpfen geschüttelte junge Frau in den Sessel und nahm selbst den Gang durch das Zimmer auf, bis er plötzlich achtmal hintereinander in die Hände klatschte.

Jekaterina Golowina zuckte zusammen und sah den jungen Mann aus erschrockenen, tränenüberströmten Augen an.

»Achten Sie nicht auf mich!« beeilte sich Fandorin, sie zu beruhigen. »Das ist eine fernöstliche Konzentrationsübung. Sie hilft mir, Nebensächliches beiseite zu schieben und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.«

Dann lief er entschlossen aus dem Zimmer, die verdutzte Golowina hinterher. Im Laufen erteilte Fandorin dem vor der Tür ausharrenden Masa Anweisung: »Schnapp dir den Werkzeugkoffer und mir nach!«

Keine dreißig Sekunden später, Fandorin und seine Begleiterin waren noch auf der Treppe, hatte der Diener sie eingeholt, lief trippelnd hinter seinem Herrn her und keuchte ihm in den Nacken. In der Hand trug er einen kleinen Lederkoffer, welcher das ermittlungstechnisch notwendige Instrumentarium enthielt - eine Vielzahl nützlicher und für einen Detektiv unentbehrlicher Dinge.

Im Vestibül klingelte Fandorin nach dem Nachtportier und befahl ihm, aufzuschließen.

»Leider ganz unmöglich!« Der Portier hob bedauernd die Hände. »Die Herren Gendarmen haben ein Siegel angebracht und den Schlüssel mitgenommen.« Und weiter, mit gesenkter Stimme: »Dort drinnen liegt der Tote, Gott hab 61

ihn selig. Im Hellwerden kommen sie ihn holen. Morgen ist doch das Begräbnis.«

»Ein Siegel, soso. F-fehlt nur noch die Ehrenwache!« brummte Fandorin. »Ehrenwache im Schlafzimmer, das wäre doch mal was. Gut, ich schließe mir selber auf. Mir nach, Masa, du mußt leuchten.«

Im Sturmschritt enterte der Detektiv die »Sobolew-Suite«, riß mit furchtloser Hand das Siegel von der Tür, entnahm seinem Köfferchen einen Bund Dietriche und stand eine Minute später im Zimmer.

Mit einem schrägen, furchtsamen Blick auf die geschlossene Tür zur Schlafkammer, schnell noch ein Kreuz schlagend, entzündete der Portier die Kerzen. Auch Jekaterina Golowinas

Blick aus schreckensweiten Augen hing wie gebannt an dem weißen Türblatt, hinter dem der balsamierte Leichnam liegen mußte, und ihre Lippen bebten. Doch Fandorin hatte jetzt keinen Sinn für die seelischen Erschütterungen der Lehrerin, er hatte zu tun. Mit dem zweiten Siegel verfuhr er ebenso umstandslos wie mit dem ersten, und einen Dietrich brauchte es diesmal nicht - die Tür zur Schlafkammer war nicht verschlossen. Ungeduldig sah sich Fandorin nach dem Diener um.

»Was stehst du wie ein Klotz? Bring die Kerzen.«

Und er betrat das Reich des Todes.

Zum Glück war der Sarg geschlossen - sonst hätte sich Fandorin womöglich, statt seiner Arbeit nachzugehen, mit dem Fräulein plagen müssen. Am Kopfende lag ein aufgeschlagenes Gebetsbuch, und eine dicke Kirchenkerze tropfte.

»Meine Dame«, rief Fandorin nach drüben, »darf ich Sie bitten, hier nicht hereinzukommen. Sie kämen ungelegen.« Und an Masa gewandt, auf japanisch: »Die Lampe, rasch!«

Mit gezückter elektrischer Miniaturlampe (englisches Fa 62

brikat!) trat Fandorin nun ohne Umschweife zum Safe und leuchtete das Schlüsselloch ab. »Lupe Nummer vier!« gab er über die Schulter Anweisung.

Aha. Die Tür hatte irgendwer kräftig angefaßt. So viele Abdrücke! Es war jetzt zwei Jahre her, daß Fandorin mit Professor Hardings Hilfe erfolgreich den mysteriösen Doppelmord in der englischen Siedlung von Tokio aufgeklärt hatte, nachdem er am Tatort auf Fingerabdrücke gestoßen war. Die neue Methode hatte Furore gemacht. Leider würden Jahre vergehen, ehe man in Rußland die nötigen daktyloskopischen Laboratorien und Karteien eingerichtet haben würde. Schade um diese bildschönen Spuren! Noch dazu direkt am Schlüsselloch. Und wie sah es drinnen aus?

»Lupe Nummer sechs!«

Deutlich ließ die starke Vergrößerung frische Kratzer erkennen, die davon herrühren mochten, daß man den Safe nicht mit dem Schlüssel, sondern mit einem Dietrich geöffnet hatte. Außerdem gab es merkwürdige Rückstände irgendeiner weißen Substanz. Fandorin faßte mit einer Miniaturpinzette zu, besah sich die Sache. Dem Anschein nach Wachs. Interessant.

»Hat er dort gesessen?« erklang hinter ihm eine dünne, gepreßte Stimme.

Verdrossen wandte Fandorin sich um. Jekaterina Golowina stand in der Tür, fröstelnd die Arme verschränkt. Sie schaute nicht nach dem Sarg, genauer: Sie war bestrebt, nicht hinzusehen, interessierte sich vielmehr für den Sessel, in dem Sobolew angeblich gestorben war. Sie braucht nicht zu wissen, wo es tatsächlich passiert ist! dachte Fandorin.

»Ich habe Sie gebeten, nicht hereinzukommen!« fuhr er die Lehrerin an, denn Strenge bewirkt in solchen Situationen mehr als Mitgefühl. Sollte die Geliebte des gefallenen Generals sich bitte schön vor Augen halten, wozu sie mitten in der Nacht in diesem Zimmer standen. Und sich gefälligst zusammenreißen.

Wortlos machte die Golowina kehrt und ging zurück nach nebenan.

»Setzten Sie sich ruhig«, sagte Fandorin laut. »Das hier kann dauern.«

Tatsächlich nahm die eingehende Besichtigung des Zimmers mehr als zwei Stunden in Anspruch. Längst hatte der Portier aufgehört, sich vor dem Sarg zu fürchten, still hockte er in seiner Ecke und döste. Masa, ein Liedlein trällernd, verhielt sich als der Schatten seines

Herrn, reichte ihm von Zeit zu Zeit die nötigen Werkzeuge. Jekaterina Golowina ließ sich kein weiteres Mal in der Schlafkammer sehen. Als Fandorin einmal nach ihr schaute, saß sie, die Stirn auf die gefalteten Hände gestützt, am Tisch. Als spürte sie den auf sie gerichteten Blick, fuhr sie hoch, sah Fandorin durchdringend an, stellte aber keine Fragen.

Erst im Morgengrauen entdeckte Fandorin einen Anhaltspunkt. Auf dem Fensterbrett des am weitesten links gelegenen Fensters war ein schwacher Sohlenabdruck zu sehen - schmal wie der einer Frau, doch handelte es sich eindeutig um einen Männerschuh, mit der Lupe ließ sich sogar das Muster aus Kreuzchen und Sternchen erkennen. Fandorin hob den Kopf. Die Lüftungsklappe im Oberteil des Fensters war nur angelehnt. Ohne den Abdruck hätte er diesem Umstand keine Bedeutung beigemessen - für einen Durchschlupf schien die Klappe viel zu eng.

»He, Wertester, aufgewacht!« sprach er den schläfrigen Portier an. »Ist hier im Zimmer schon saubergemacht worden?«

»Ganz gewiß nicht«, antwortete der Portier, sich die Augen reibend. »Wieso und wozu denn. Sie sehen doch ...« Er deutete mit dem Kopf nach dem Sarg.

»Und die Fenster, sind die Fenster geöffnet worden?«

»Keine Ahnung. Aber ich kann es mir nicht denken. Wo ein Toter liegt, läßt man die Fenster zu.«

Fandorin besichtigte die übrigen zwei Fenster, ohne noch etwas Auffälliges zu finden.

Um halb fünf mußte er die Ortsbesichtigung abbrechen. Der Maskenbildner nebst Gehilfen war erschienen, um Achilles für seine letzte Streitfahrt zu rüsten.

Der Detektiv entließ den Portier und verabschiedete sich von Frau Golowina, ohne ein überflüssiges Wort zu verlieren. Sie drückte ihm fest die Hand, blickte ihm forschend in die Augen - auch sie wußte die Zunge im Zaum zu halten. Eine Spartanerin, wie gesagt. Fandorin konnte es nicht erwarten, allein zu sein. Es drängte ihn, die Ergebnisse der Durchsuchung zu überdenken und das weitere Vorgehen daraus abzuleiten. Trotz der durchwachten Nacht war ihm nicht nach Schlafen zumute, er empfand nicht einmal Müdigkeit. Kaum war er in seinem Zimmer, ging er an die Analyse.

Auch wenn die nächtliche Besichtigung von N- 47 nicht viel hergegeben hatte, bot sich mittlerweile ein halbwegs klares Bild.

Fandorin mußte sich eingestehen, daß ihm die Version, der Nationalheld könnte um des schnöden Geldes willen ermordet worden sein, zunächst unwahrscheinlich, wenn nicht abenteuerlich vorgekommen war. Doch daß jemand in besagter Nacht durch die Lüftungsklappe ins Zimmer eingedrungen war, den Tresor geöffnet und das Portefeuille entwendet hatte, stand wohl fest. Und das schien mit Politik wenig zu tun zu haben. Der Dieb hatte die an selbigem Ort verwahrten Papiere verschmäht - die doch immerhin so brisant sein mußten, daß Gukmassow es für nötig erachtet hatte, sie vor Eintreffen der Beamten zu entfernen. Also hatte der Einbrecher sich tatsächlich nur für das Portefeuille interessiert?

Auffällig war: Der Dieb mußte gewußt haben, daß Sobolew sich in dieser Nacht nicht in seinem Zimmer aufhalten würde, auch nicht plötzlich auftauchen konnte, denn der Tresor war umständlich und in aller Ruhe geöffnet worden. Am bemerkenswertesten aber war, daß der ausgeraubte Tresor nicht etwa offengelassen, sondern akkurat wieder verschlossen worden war, was bekanntlich viel mehr Zeit und Fingerspitzengefühl verlangte, als ihn zu öffnen. Wozu hatte einer dieses Risiko in Kauf genommen, wenn der Verlust des Portefeuille von seinem Besitzer doch sowieso entdeckt werden würde? Und warum kletterte er durch die Lüftungsklappe wieder hinaus, wenn er durch das Fenster gekonnt hätte? Hieraus galt es Schlüsse zu ziehen.

Fandorin stand auf und begann durch das Zimmer zu spazieren.

Der Räuber hatte gewußt, daß Sobolew nicht mehr wiederkommen würde. Jedenfalls nicht lebend. Punkt eins.

Er hatte zudem gewußt, daß außer dem General keiner das Portefeuille vermissen würde, da außer ihm keiner von der Million wußte. Punkt zwei.

All dies ließ darauf schließen, daß der Räuber geradezu phantastisch gut informiert war. Punkt drei.

Ja, und Punkt vier verstand sich von selbst: Der Dieb mußte gefunden werden. Schon weil er möglicherweise auch der Mörder war. Eine Million ist ein ernsthafter Stimulus.

Leicht gesagt. Wie fand man ihn?

Fandorin setzte sich an den Tisch und zog einen Stapel Schreibpapier zu sich heran.

»Tuschkasten und Pinsel?« Masa, der bis eben noch reglos an der Wand gestanden und sogar leiser als gewöhnlich geschnauft hatte, um seinen Herrn nicht bei der Sinnfindung längs der Großen Spirale zu behindern, auf die alle maßgebenden Ursachen und Wirkungen, große ebenso wie kleine, aufgefädelt sind - dieser Masa war nun lautlos herangeflogen und stand dienstbereit. Fandorin nickte und setzte seine Gedankengänge fort.

Man durfte keine Zeit verlieren. Jemand war gestern nacht um eine ganze Million reicher geworden. Möglicherweise war der Dieb mit seiner Beute schon über alle Berge. Doch wenn er gescheit war - und allem Anschein nach hatte man es mit einem Pfiffikus zu tun -, so mied er alle schroffen Winkelzüge und war erst einmal untergetaucht.

Wer kannte die Zunft der Tresorknacker wohl am besten? Seine Exzellenz Jewgeni Karatschenzew. Sollte er ihm gleich einen Besuch abstatten? Doch der General schlief gewiß, sammelte Kräfte für einen arbeitsreichen Tag. Im Kriminalamt würde zu dieser frühen Stunde auch niemand anzutreffen sein. Sollte er also ausharren, bis dort die Dienstzeit begann?

Aber hatten die denn überhaupt eine Kartei? In früheren Zeiten, als Fandorin noch für diese Behörde arbeitete, war an derlei Finessen nicht zu denken gewesen. Nein, bis zum Vormittag zu warten lohnte nicht.

Inzwischen hatte Masa flink ein Stäbchen Trockentusche in einem quadratischen Lackschälchen pulverisiert, ein paar Tropfen Wasser beigegeben, den Pinsel befeuchtet und Fandorin ehrerbietig gereicht, worauf er diskret hinter seinem Herrn Aufstellung nahm, um ihn nicht von seiner kalligraphischen Übung abzulenken.

Langsam hob Fandorin den Pinsel und zögerte eine Sekunde, ehe er mit Sorgfalt eine Hieroglyphe auf das Papier zeichnete: »Geduld«. Dabei mühte er sich, an nichts anderes zu denken, damit das Schriftzeichen seine ideale Form bekam. Es ging schief: gezwungene Linien, disharmonierende Elemente, zu alledem noch ein Klecks. Das geknüllte Papier flog auf den Fußboden. Es folgte ein zweiter, ein dritter, ein vierter Versuch. Immer zügiger, immer sicherer fuhr der Pinsel über das Papier. Beim achtzehnten Versuch geriet die Hieroglyphe vollkommen tadellos.

»Da, heb das auf!« Fandorin reichte Masa das Kunstwerk.

Der betrachtete es ausgiebig und mit beifälligem Schmatzen, sodann verstaute er das Blatt in einer speziellen Mappe aus Reispapier.

Erast Fandorin aber wußte nun, was zu tun war. Er hatte eine einfache, richtige Entscheidung getroffen; durch sie war Ruhe in ihn eingekehrt. Richtige Entscheidungen haben es an sich, einfach zu sein. Die Regel lautete: Der vornehme Mann geht nicht an ein ungewisses Werk, ohne Weisheit bei einem Lehrer eingeholt zu haben.

»Rüste dich, Masa«, sagte Fandorin. »Wir fahren meinen alten Lehrer besuchen.«

Xaveri Feoflaktowitsch Gruschin, einstmals leitender Ermittlungsbeamter beim Moskauer Kriminalamt, war mehr wert als jede Kartei. Unter seiner nachsichtigen väterlichen Obhut hatte der junge Fandorin seine Detektivlaufbahn begonnen. Zwar währte die gemeinsame Dienstzeit nur kurz, doch gelernt hatte er viel bei ihm. Der alte Gruschin, längst schon im Ruhestand, kannte das kriminelle Moskau wie seine Westentasche, hatte es in den vielen Jahren gründlichst studiert. Manchmal war der zwanzigjährige Fandorin an seiner Seite durch die unsicheren Reviere geschlendert, die Chitrowka beispielsweise oder die Gratschowka, und aus dem Staunen nicht herausgekommen. Die abgefeimtesten Räu bervisagen gaben sich die Ehre, zerlumpte Gestalten, schmierige Gockel mit fliehendem Blick - und alle zogen sie vor dem Beamten den Hut, verbeugten sich und grüßten. Mit dem einen hatte Gruschin etwas zu wispern, dem nächsten gab er einen arglosen Klaps hinters Ohr, einem dritten schüttelte er die Hand. Und kaum waren sie ein Stück weitergegangen, klärte der Beamte seinen grünschnäbligen Schriftführer auf: »Das war Tischka Rauhbein, Bahnhofsdieb. Darauf spezialisiert, Koffer von fahrenden Droschken zu ziehen. Und der da ist Gulja, ein erstklassiger Handnepper.« -»Handnepper?« fragte Fandorin schüchtern nach, während er den äußerlich ganz passablen, mit Stöckchen und Melone ausstaffierten Mann näher betrachtete. »Na, er verkauft Goldschmuck von der Hand und dreht den Leuten falsche Ringe an, aber äußerst fingerfertig. Den Goldring zeigt er vor und schiebt dir dann doch vergoldetes Kupfer unter. Ein reputierliches Gewerbe, das viel Übung erfordert.« Oder Gruschin blieb vor den »Spielern« stehen - solchen, die vermittels dreier Fingerhüte einen Gimpel schröpfen - und gab Erläuterungen: »Haben Sie gesehen, wie das Jungchen, Stepka heißt er, die Brotkugel unter den linken Hut gesteckt hat? Trauen Sie ja Ihren Augen nicht! Die Kugel klebt ihm am Fingernagel und bleibt darum niemals unterm Hut.« -»Warum verhaften wir die denn nicht, diese Gauner!« rief Fandorin hitzig, was Gruschin mit einem Grinsen quittierte. »Ach, jeder muß doch sein Auskommen haben, Herr Kollege. Ich verlange von ihnen nur eines: daß sie soviel Anstand haben, ihr Opfer nicht bis aufs letzte Hemd auszuziehen.«

In Gaunerkreisen genoß der Kriminalpolizist besonderes Ansehen - weil er Gerechtigkeit an den Tag legte, weil er jedem Hühnchen sein Körnchen gönnte, vor allem aber, weil er uneigennützig war. Nie nahm Xaveri Gruschin Schmiergeld, wie andere Polizisten das taten, weshalb er auch keine Reichtümer anhäufte und sich, als er schließlich in Rente ging, in einem bescheidenen Vorstadthäuschen mit Gemüsegarten niederließ. In der Zeit, da Fandorin diplomatischen Dienst im fernen Japan leistete, hatte sein alter Vorgesetzter ihm hin und wieder ein paar Zeilen geschrieben, und als jetzt die Versetzung nach Moskau erfolgte, hatte Fandorin sich unbedingt vorgenommen, ihn zu besuchen, sobald er sich nur ein wenig eingelebt hatte. Nun aber mußte es gleich sein. Während die Mietkutsche über die Moskworezki-Brücke holperte, die im ersten schütteren Morgenlicht lag, fragte Masa besorgt: »Herr, ist Glusin-Sensei bloß ein Sensei oder ein Onjin?«

Und mit mißbilligendem Kopfschütteln präzisierte er seine Bedenken: »Für eine ehrbare Visite bei einem Sensei ist es noch zu früh. Bei einem Onjin erst recht.«

Sensei war ein einfacher Lehrer. Onjin war unvergleichlich viel mehr: ein Lehrer, für den man eine tiefe und aufrichtige Dankbarkeit empfand.

»Ich denke, er ist ein Onjin«, entschied Fandorin, und mit einem Blick auf den roten Lichtstreif, der sich den halben Horizont entlangzog, meinte er leichthin: »Wir kommen ein bißchen früh, das gebe ich zu. Aber Gruschin kann bestimmt sowieso nicht schlafen.« Xaveri Gruschin schlief tatsächlich nicht. Er saß am Fenster eines Häuschens, das - klein zwar, aber sein! - in dem Labyrinth von Straßen und Gassen zwischen der Großen und der Kleinen Ordynka lag. Gruschin war am Sinnen: über die Eigentümlichkeit des Schlafes nämlich. Daß der Mensch im Alterwerden weniger schläft als in der Jugend, ist einerseits vernünftig und in Ordnung. Warum soll er unnötig seine Zeit vergeuden - der ewige Schlaf ist nicht mehr fern. Andererseits hat man, wenn man jung ist, viel weniger Zeit. Als junger Mensch rennt man herum von früh bis in die Nacht, läuft sich die Hacken ab, und ach, bekäme man noch das eine oder andere Stündchen geschenkt, wären alle Dinge erledigt - und doch verschläft man acht Stunden in den Kissen. Um die Zeit tut es einem manchmal furchtbar leid, doch was soll man machen - die Natur fordert das Ihre. Hingegen jetzt ... Jetzt genügt es, wenn man ein, zwei Stunden in der Laube vor sich hin döst, um dann wieder die ganze Nacht kein Auge zuzutun und nicht zu wissen, was mit sich anfangen. Es herrschen ja nun andere Zeiten, es weht ein anderer Wind. Der alte Gaul ist abgeschrieben und soll seine alten Tage in der warmen Box verbringen. Darüber muß man sich nicht beschweren, es ist gut so. Nur leider langweilig. Die Frau, Gott hab sie selig, ist schon drei Jahre unter der Erde. Saschenka, das einzige Töchterchen, hatte nichts Eiligeres zu tun, als einen windigen Unterleutnant zur See zu heiraten und mit ihm ans Ende der Welt zu ziehen, nach Wladiwostok. Die Köchin Nastassja, gut, die bekocht ihn und wäscht die Wäsche, aber ein bißchen reden möchte man ja auch. Und worüber sollte er mit dieser Trine reden? Über die Preise für Petroleum und Sonnenblumenkerne?

Dabei könnte Gruschin sich noch nützlich machen. Und ob! Mit den Kräften ist er längst nicht am Ende, das Hirn ist gottlob noch nicht eingerostet. Und, geben Sie es doch zu, Herr Polizeipräsident, Ihr Blatt ist ausgereizt. Wie viele Bösewichter haben Sie denn dingfest gemacht mit Ihrer dämlichen Bertillonage? Heutzutage hat man Angst, durch Moskau zu laufen. Im Nu ist die Geldbörse weg, und zu vorgerückter Stunde kann man leicht eins mit dem Bleischläger über die Rübe kriegen.

Das stille Wortgefecht mit seinem früheren Chef ließ Xaveri Gruschin für gewöhnlich in Schwermut verfallen. Der Polizist im Ruhestand machte sich nichts vor: Das Amt kam ohne ihn mehr oder weniger über die Runden, er hingegen langweilte sich ohne das Amt sehr. Ach, er entsann sich gut, wie es war, wenn er morgens zu einem Ortstermin fuhr. In ihm ein einziges Klingen, so als wäre eine Feder bis zum Äußersten gespannt. Nach dem Kaffee und dem ersten Pfeifchen war der Kopf klar, die Gedanken ordneten sich wie von

selbst zu einer klaren Linie, einem Plan. Das, so wußte er jetzt, war das Glück, das war das wahre Leben. Nein, er hatte weiß Gott nicht wenig gelebt und erlebt. Aber es dürfte ruhig noch etwas mehr sein! dachte Gruschin seufzend und schaute mißmutig auf die hinter den Dächern hervortauchende Sonne - denn wieder stand ein langer, öder Tag bevor.

Und der Herrgott hatte ein Einsehen. Die weitsichtigen Augen zusammenkneifend, spähte Gruschin die ungepflasterte Straße hinab - da schien von der Pjatnizkaja her ein Gespann heraufgefegt zu kommen. Zwei Insassen: einer mit Schlips, der andere, kleinere in etwas Grünes gewandet. Wer mochte das sein, zu so früher Stunde?

Nach den obligaten Umarmungen, Küssen und Höflichkeitsfragen, auf die Gruschin äußerst weitschweifig, Fandorin eher knapp antwortete, kam man zur Sache. Fandorin erging sich nicht in Einzelheiten, über Sobolew kein Wort - er schilderte nur das, was für die Beantwortung seiner Fragen wichtig war.

In einem Hotel ist ein Tresor ausgeraubt worden. Zur Handschrift läßt sich sagen, daß das Schloß nicht sehr akkurat geöffnet wurde - den Kratzern nach zu urteilen, hat sich der Dieb damit ordentlich geplagt. Besonderes Merk 67

mal: Wachsspuren im Schlüsselloch. Auffällig an dem Einbrecher ist der überaus subtile Körperbau: Er kroch durch eine Lüftungsklappe von sieben mal vierzehn Zoll. Dabei trug er Stiefel oder Halbstiefel mit einem Kreuz- und Sternenmuster auf der Sohle, selbige mutmaßlich neun Zoll lang und gerade mal drei breit... Fandorin hatte die Liste der Gegebenheiten noch nicht bis zu Ende abgearbeitet, da wurde er von Gruschin unterbrochen. »Stiefel.«

Bestürzt schielte der junge Kollegienassessor nach dem in der Ecke vor sich hin schlummernden Masa. Waren sie vielleicht umsonst hergekommen? War sein alter Onjin doch nicht mehr recht bei Trost?

»Was?«

»Stiefel«, wiederholte der alte Kriminalist. »Keine Halbstiefel. Chromstiefel, blitzblank geputzt. Andere trägt er nicht.«

Vor Erregung wagte Fandorin kaum zu atmen. Behutsam, wie um sein Gegenüber nicht zu erschrecken, fragte er: »Ist das Subjekt Ihnen etwa bekannt?«

»Bestens bekannt!« Zufrieden strahlte Gruschin über sein ganzes weiches, runzliges Gesicht, an dem viel mehr Haut war, als der Schädel benötigt hätte. »Das war der Kleine Mischa, klarer Fall. Seltsam nur, daß er sich an dem Schloß so lange aufgehalten hat, einen Hoteltresor zu knacken ist für ihn normalerweise ein Kinderspiel. Von den Geldschrankspezialisten kommt nur er durch die Lüftungsklappe, und seine Dietriche sind immer mit Wachs eingerieben - er hat ein sehr empfindliches Gehör und kann jegliches Quietschen nicht ausstehen.«

»Der K-... Kleine Mischa? Wer ist denn das?«

»Den kennen Sie nicht?« Xaverin Gruschin schnürte seinen Tabakbeutel auf und stopfte sich gemächlich eine Pfeife. »Er ist der König der Branche in ganz Moskau. Ein erstklassiger Tresorspezialist, der aber auch blutige Geschäfte nicht verachtet. Außerdem Zuhälter, Hehler für jedwedes Diebesgut und Kopf einer ganzen Bande. Ein Breitbandkünstler, der Benvenuto Cellini der Verbrecherwelt. Dabei ein Winzling - kaum zwei Arschin und zwei Werschok groß. Schmächtig obendrein. Immer schick angezogen. Schlau, wendig und von bestialischer Grausamkeit. Eine Person, die in der Chitrowka jeder kennt.«

»Und warum ist so eine Berühmtheit nicht längst hinter Schloß und Riegel?« wunderte sich Fandorin.

»Ha!« machte der alte Kriminalpolizist und sog erst einmal genüßlich an seiner Pfeife - der erste Zug an diesem Morgen, der wie immer der süßeste war.

»Den mußt du erst mal kriegen. Mir ist es nicht gelungen, und denen, die heute am Ruder sind, wird es gleich gar nicht gelingen. Das Aas hat seine Leutchen bei der Polizei - hundertprozentig. Wie oft ich versucht habe, ihn in die Finger zu kriegen! Keine Chance!« Gruschin winkte ab. »Er entschlüpft dir bei jeder Razzia. Seine Wohltäter warnen ihn. Alle haben sie Schiß vor ihm, und wie! Mischas Bande, das sind Mörder und Totschläger durch die Bank. Du weißt, ich hab bei den Leuten in der Chitrowka einen Stein im Brett, aber wenn ich ihnen mit dem Kleinen Mischa komme, sind sie verstockt, da könnte ich sie noch so in die Zange nehmen. Was ja gar nicht meine Art ist, höchstens, daß ich ihnen mal eine runterhaue. Aber wenn Mischa sie anfaßte, dann nicht mit der Zange, mit glühenden Eisen würde der sie in Stücke reißen. Einmal, vor vier Jahren vielleicht, da war ich knapp davor, ihn zu kriegen. Ein Mädel aus seinem Stall hatte ich bearbeitet, ein gutes Mädel, bei der war Hopfen und Malz

noch nicht verloren. Und kurz vor dem Zugriff, wie ich mir den Mischa aus ihrem Banditennest angeln wollte, haben sie uns einen Sack vors Amt geschmissen. Drinnen steckte meine Informantin - in zwölf Scheiben geschnitten ... Ach, mein lieber Fandorin, ich könnte Ihnen von seinen Künsten Geschichten erzählen, aber wenn ich es recht sehe, haben Sie gar keine Zeit. Denn sonst wären Sie ja nicht früh um halb sechs hier reingeschneit.«

Stolz auf seine Kombinationsgabe, kniff Gruschin schelmisch ein Auge zu.

»Ich brauche diesen Kleinen Mischa unbedingt«, sagte Fandorin mit gerunzelter Stirn. »Es klingt vielleicht unglaublich, aber er ist irgendwie verwickelt in ... nein, ich glaube, ich darf das nicht... Jedenfalls geht es um eine hochbedeutende Staatsangelegenheit von noch dazu äußerster D-... Dringlichkeit, soviel kann ich Ihnen versichern. Können wir nicht einfach hinfahren und ihn uns schnappen, Ihren Benvenuto?«

Gruschin hob die Hände.

»Sonst noch Wünsche! Ich kenne in der Chitrowka jedes Mauseloch, aber wo der Kleine Mischa sein Domizil hat, weiß ich nicht. Hierzu brauchten wir eine Großrazzia. Aber die müßte von ganz oben kommen, ohne daß die Reviere und Hauptämter davon Wind bekämen - sonst machen die uns einen Strich durch die Rechnung. Die ganze Chitrowka abriegeln, und zwar ordentlich, nicht bloß husch-husch. Wenn wir schon nicht Mischa erwischen, dann vielleicht wen aus seiner Bande oder aus seinem Harem. Aber dazu brauchten wir mindestens fünfhundert Mann. Und die dürften bis zum letzten Moment nicht wissen, was auf sie zukommt. Da beißt die Maus keinen Faden ab.«

Darum also streunte Erast Fandorin vom Morgen dieses Tages an durch die trauernde Stadt, darum fegte er hin und her zwischen Twerskoi und Krasnyje Worota, auf der Suche nach den Vorgesetzten »von ganz oben«. Schade um die kostbare Zeit! Mit der Riesensumme Geld konnte der Kleine Mischa längst sonstwohin abgeschwirrt sein, ins heitere Odessa vielleicht, oder nach Rostow oder Warschau. Das Reich war groß genug, ein Schlitzohr wie er konnte überall seinen Spaß haben. Seit vorgestern nacht saß Mischa auf einer Beute, von der er nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Wenn er klug war, kroch er still irgendwo unter und wartete ein Weilchen ab, ob die Sache Wellen schlug oder nicht. Mischa war ein gerissener Bursche, der wußte, wie man es macht. Aber soviel Geld mußte sein Banditenherz in Wallung bringen. Lange würde er es nicht aushalten, dann suchte er das Weite. Wenn er nicht längst auf und davon war. Ach, wie ungelegen dieses Begräbnis kam!

Eben hatte es einen Moment gegeben - als nämlich Großfürst Kirill zum Sarg schritt und in der Kirche eine ehrfürchtige Stille eintrat -, da hatte Fandorin einen Blick des Generalgouverneurs aufgefangen und inbrünstig genickt, um die Aufmerksamkeit Seiner Durchlaucht zu erregen, doch der Fürst nickte nur zurück, um sodann den gramvollen Blick mit einem schweren Seufzer hinauf zu dem im Kerzenlicht strahlenden Kronleuchter zu wenden. Dafür wurde der wild gestikulierende Kollegienassessor von Seiner Hoheit, dem Herzog Lichtenburgski wahrgenommen, der etwas verloren inmitten all des byzantinischen Prunks herumstand, seine Kreuze anders schlug als alle, nämlich von links nach rechts, und sich überhaupt in seiner Haut nicht wohl zu fühlen schien. Er sah ein Weilchen zu, wie der junge Beamte seine verzweifelten Zeichen gab, hob eine Braue und tippte nach kurzem Überlegen Churtinski an die Schulter, dessen geleckter Nacken die Epauletten des Gouverneurs überragte. Und Churtinski zeigte sich verständiger als sein Nebenmann: Sofort hatte er begriffen, daß etwas Extraordinäres vorgefallen sein mußte, und deutete mit dem Kinn in die Richtung eines Seitenausgangs: Kommen Sie dort hinüber, hieß das, da können wir reden.

Wieder glitt Fandorin durch die gedrängten Reihen, nur diesmal in anderer Richtung - nicht zur Mitte hin, sondern quer, was schneller ging. Und die ganze Zeit über, während er sich durch die Trauergemeinde schob, stand die tiefe, mächtige Stimme des Großfürsten im gewölbten Kirchenraum, der man allseits mit besonderer Aufmerksamkeit lauschte. Denn Kirill Alexandrowitsch war mehr als nur der Lieblingsbruder des Zaren. Vielen der Anwesenden war sehr wohl klar, daß dieser schmucke, prächtige General mit den etwas bübischen, habichtartigen Gesichtszügen nicht bloß Oberbefehlshaber der Garde war, sondern recht eigentlich der Herrscher im Imperium. Im Kriegsministerium hielt er das Heft ebenso in der Hand wie in der obersten Polizeibehörde und, noch wesentlicher, beim Sondergendarmeriekorps. Das Wichtigste aber war, daß der Zar, wie man hörte, keinen einzigen Entschluß von irgendwelcher Tragweite faßte, ohne ihn zuvor mit dem Bruder erörtert zu haben. Dem Seitenausgang zustrebend, hörte Fandorin sich an, was der Großfürst zu sagen hatte. Die Natur hat Rußland einen bösen Streich gespielt! dachte er dabei: Hätte sie den einen Bruder zwei Jahre früher auf die Welt kommen lassen und den anderen zwei Jahre später, so wäre nicht der zögerliche, schlaffe, griesgrämige Alexander zum unumschränkten Herrscher über ganz Rußland geworden, sondern der kluge, weitsichtige und entschlossene Kirill. Ach, gewiß hätte das 69

träge russische Leben einen sehr viel anderen Lauf genommen! Wie glänzend hätte das Reich in der Welt dastehen können ! Doch der Mutter Natur war schwer etwas anzukreiden. Wenn überhaupt, dann mußte man der Vorsehung die Schuld geben. Und weil die nichts von allein und ohne höheres Geheiß bestimmte, so sollte es wohl nicht sein, daß das Imperium nach den Maßgaben eines neuen Peter Auftrieb bekam. Der Herrgott hatte für das Dritte Rom offenbar ein anderes Schicksal ausersehen. Blieb zu hoffen, daß es ein lichtes, freundliches war ... Bei diesem Gedanken angelangt, bekreuzigte sich Fandorin, was bei ihm extrem selten vorkam, aber hier nicht weiter auffiel, denn alle ringsum taten es in einem fort. Vielleicht ging ihnen dasselbe durch den Kopf wie ihm?

Großartig, wie Kirill sprach: vornehm, doch überhaupt nicht förmlich. Seine Worte hatten Gewicht.

»Manch einer beklagt, daß dieser tapfere Held, die Hoffnung der russischen Nation, so plötzlich und - wozu darum herumreden - auf so törichte Weise von uns ging. Einer, dem man den Beinamen Achilles verlieh für sein legendäres Glück im Kampf, das ihn viele Male vor dem sicheren Tode gerettet hatte, ist nun nicht auf dem Feld der Ehre gefallen, nein, er starb einen stillen und äußerst zivilen Tod. Aber - stimmt denn das?«

Kirills Stimme tönte in antikem, bronzenem Glanz.

»Sobolew hat es das Herz zerrissen, weil dieses zuvor, in langen Jahren der Aufopferung für das Vaterland verzehrt worden, weil es geschwächt war von mannigfachen Wunden, die ihm unsere Feinde im Kampf zufügten. Nicht Achilles sollte er heißen, nein! Denn jener Achilles war, vom Wasser des Styx zuverlässig gefeit, durch Pfeil und Schwert nicht zu verwunden, und bis zum letzten Tag seines Lebens ward kein 70

Tropfen seines Blutes vergossen. Michail Sobolew hingegen trug am Leibe die Narben von vierzehn Verwundungen, deren jede die Stunde seines Todes näher rücken ließ. Nein, nicht der Glückspilz Achilles ist ein würdiger Ahne unseres Sobolew, sondern der edle Hektor - ein einfacher Sterblicher, der, Seite an Seite mit seinen Kriegern, sein Leben aufs Spiel setzte!«

Das Ende der emphatischen Rede bekam Fandorin nicht mehr mit, denn in diesem Moment hatte er endlich die ersehnte Tür erreicht, wo der Geheimabteilungsleiter der Gouverneurskanzlei schon auf ihn wartete.

»Na, was gibt's?« fragte der Hofrat. Die Falten auf seiner bleichen, hohen Stirn zuckten, während er Fandorin ein Stück zur Seite zog, weg von fremden Ohren.

Wie gewohnt, in mathematischer Klarheit und Kürze, legte Fandorin dar, worum es ging, und endete mit den Worten: »Die Großrazzia müßte umgehend erfolgen, spätestens heute Nacht - Punkt sechs.«

Churtinski hörte konzentriert zu. An zwei Stellen ächzte er überrascht und lockerte gegen Ende der Ausführungen sogar den steifen Kragen.

»Was Sie da erzählen, Fandorin, macht mich ganz fassungslos«, sagte er dumpf. »Das ist noch ärger als die Spionagegeschichte. Der Held von Plewna, ermordet aus schnöder Geldgier - es wäre eine Schande vor der ganzen Welt. Wobei eine Million natürlich ein erkleckliches Sümmchen ist.«

Pjotr Churtinski knackte mit den Fingern, während er hin und her zu überlegen schien. »Was tun, mein Gott, was tun? Den Fürsten Dolgorukoi zu behelligen wäre sinnlos - der ist heute nicht in der Verfassung dafür. Und Karatschenzew kann auch nicht helfen 70

an so einem Tag hat der nicht einen Schutzmann übrig. Heute abend wird aufgrund des betrüblichen Ereignisses mit Äußerungen des Volkszorns zu rechnen sein, und wenn man bedenkt, wieviel Prominenz in der Stadt ist - jeder einzelne muß vor Terroristen und

Bombenwerfern in Schutz genommen werden. Nein, gnädiger Herr, aus einer Razzia wird heute nichts, vergessen Sie das.«

»Dann entwischt er uns«, konstatierte Fandorin, und es war fast ein Stöhnen. »Dann haut er ab.«

»Höchstwahrscheinlich ist er längst weg«, bestätigte Churtinski und seufzte melancholisch. »Aber selbst wenn«, beharrte Fandorin, »die Spur ist noch frisch. Vielleicht erwischen wir ja d-... doch noch ein Fädchen, an das man anknüpfen kann.«

Hier faßte Pjotr Churtinski seinen Gesprächspartner auf taktvolle Weise beim Arm und sagte: »Sehr richtig. Noch mehr Zeit zu verlieren wäre fatal. Ich führe Moskaus Geheimgeschäfte nicht erst seit kurzem, und dieser Kleine Mischa ist mir durchaus ein Begriff. Seit geraumer Zeit versuche ich ihm auf die Schliche zu kommen, aber die Bestie ist geschickt. Und wenn ich Ihnen noch etwas sagen darf, lieber Freund«, die Stimme des Hofrats bekam einen schmeichelnden, vertraulichen Klang, seine allzeit zusammengekniffenen Augen gingen auf zu ganzer Größe und sahen plötzlich klug und hellsichtig aus, »so muß ich gestehen, daß ich von Ihnen anfangs nicht begeistert war. Nicht im mindesten. Ein Großmaul, hab ich gedacht, ein pseudoaristokratisches Musterschülerchen, das daherkommt und sich der Ernte bemächtigt, die andere mit Schweiß und Blut eingefahren haben. Aber Churtinski ist gern bereit, einen Irrtum zuzugeben. In Ihnen habe ich mich gründlich geirrt, wie die Ereignisse der letzten beiden Tage deutlich gemacht haben. Ich sehe, Sie sind ein sehr kluger und erfahrener Mann, und ein hervorragender Detektiv noch dazu.«

Fandorin tat eine leichte Verbeugung; er war gespannt, was nun folgte.

»Und darum hätte ich Ihnen einen kleinen Vorschlag zu unterbreiten. Nur für den Fall natürlich, daß Sie sich der Sache gewachsen sehen.«

Churtinski rückte dicht an ihn heran, das Weitere flüsterte er: »Hätten Sie nicht Lust, selbst einen kleinen Spaziergang durch die Kneipen der Chitrowka zu machen und Ihr Naschen in den Wind zu halten? Ich meine, nur damit der heutige Abend nicht untätig verstreicht ... Mir kam zu Ohren, daß Sie sich vorzüglich zu maskieren verstehen. So einen kleinen Strauchdieb aus sich zu machen dürfte also kein Problem für Sie sein. Ich meinerseits könnte Ihnen sagen, wo Sie am wahrscheinlichsten auf die Fährte dieses Mischa stoßen. Ich habe da meine Informationen. Und ich gebe Ihnen ein paar meiner besten Agenten als Geleitschutz. Ich hoffe, Sie sind sich nicht zu fein für diese Arbeit? Oder finden Sie es zu gefährlich?«

»Ich bin mir nicht zu fein und finde es nicht zu gefährlich«, erwiderte Fandorin, dem der »kleine Vorschlag« des Hofrats durchaus nicht dumm vorkam. In der Tat: Wenn schon keine Polizeiaktion möglich war, warum sollte er es nicht auf eigene Faust probieren? »Und wenn Sie eine heiße Spur finden sollten«, fuhr Churtinski fort, »dann ließe sich am frühen Morgen immer noch eine Razzia organisieren. Sie müßten mir nur eine Nachricht zukommen lassen. Fünfhundert Schutzleute kann ich Ihnen zwar nicht versprechen, aber so viele dürften kaum nötig sein. Sie werden die Schlinge zu dem Zeitpunkt ja schon ein wenig zugezogen haben. Schicken Sie mir einfach einen von meinen Leuten, um das übrige kümmere ich mich. Seine Exzellenz Jewgeni Karatschenzew brauchen wir für diese Sache ganz bestimmt nicht.«

Fandorin runzelte die Stirn, da der Unterton der letzten Bemerkung schon wieder an die Moskauer Rankünen gemahnte, die ihn in diesem Moment am allerwenigsten interessierten.

»Ich d-... danke Ihnen für die angebotene Hilfe, aber ich werde Ihre Leute nicht brauchen«, sagte er. »Ich bin es gewohnt, allein vorzugehen. Außerdem habe ich einen sehr verläßlichen Gehilfen.«

»Etwa diesen Japaner?« Churtinski schien bestens unterrichtet zu sein. Aber das war ja nun einmal sein Beruf.

»Ja. Er reicht mir v-v-... vollkommen aus. Von Ihnen müßte ich nur noch wissen, wo ich den Kleinen Mischa am besten suchen soll.«

Der Hofrat bekreuzigte sich fromm, da über ihnen die Glocke zu schlagen anfing.

»Es gibt in der Chitrowka ein besonders verrufenes Örtchen: die Kneipe >Zur Galeere<. Tagsüber ein gewöhnliches mieses Bierlokal, nachts treffen sich dort die Füchse, wie man in Moskau zu den Banditen sagt. Der Kleine Mischa läßt sich dort des öfteren sehen. Taucht er nicht selber auf, treffen Sie unter Garantie einen von seinen Halsabschneidern an. Auch auf den Wirt sollten Sie ein Auge werfen, er ist ein ausgemachter Hundsfott. Im übrigen finde ich es nicht gut, daß Sie auf meine Agenten verzichten wollen.«

Churtinski wiegte tadelnd den Kopf.

»Das ist eine gefährliche Gegend. Es handelt sich um die Chitrowka, nicht um die mysteres de Paris. So schnell, wie da ein Messer aufklappt, können Sie gar nicht gucken. Wenigstens bis zur >Galeere< sollten Sie sich bringen lassen, und eine Wache vor der Tür wäre auch nicht schlecht. Kommen Sie, seien Sie nicht halsstarrig.«

»Wirklich nicht nötig, ergebensten Dank. Ich k-k-... komme klar«, erwiderte Fandorin stolz. 72

ACHTES KAPITEL, in welchem die Katastrophe eintritt

»Nastassja, sag mal, was brüllst du wie angestochen?« fragte Xaveri Gruschin wütend und schaute in die Diele hinaus.

Die Köchin war eine dumme Trine, die ihre Zunge nicht im Zaum halten konnte und ihrem Herrn gegenüber unmanierlich war. Wenn Gruschin sie dennoch bei sich hielt, so aus purer Gewohnheit und weil das Trampel vorzügliche Leber- und Rhabarberpasteten backen konnte. Ihr deftiges Organ jedenfalls, von dem Nastassja im Zank mit der Nachbarin Glaschka, dem Schutzmann Silytsch und lästigen Almosensammlern ordentlich Gebrauch machte, vergällte Gruschin des öfteren die Lektüre der »Moskauer Polizeinachrichten«, seine philosophischen Reflexionen und selbst das süße Nachmittagsschläfchen.

Heute also schlug das verfluchte Weib wieder einen solchen Heidenlärm, daß Gruschin sich gezwungen sah, aus seinem wohligen Schlummer hervorzutauchen. Was um so bedauerlicher war, da er geträumt hatte, kein Polizist im Ruhestand, sondern ein Kohlkopf im Garten zu sein. Der reckte und räkelte sich fröhlich in seinem Beet, und neben ihm saß ein Rabe und pickte ihn an die linke Schläfe, was indes überhaupt nicht weh tat, im Gegenteil, es war sanft und angenehm. Man mußte nirgendwohin gehen, hatte es nicht eilig und brauchte sich über nichts aufzuregen. Die reinste Seligkeit. Dann aber fing der Rabe an, verrückt zu spielen, sein Picken war kein Spaß mehr, sondern so heftig und gemein, daß es knackte, dazu noch sein ohrenbetäubendes Gekrächze - bis Gruschin von Nastassjas Schimpfen endlich aufwachte und Kopfweh hatte.

»Bist wohl noch nicht krumm genug, daß ich dir eins mit dem Feuerhaken überziehen soll?« gellte die Stimme der Köchin durch die Wand. »Und du, Gottloser, was blinzelst du so? Gleich kriegst du meinen Lappen in deine Ölgötzenfresse!«

Gruschin vernahm die Philippika und horchte auf. Wer war noch nicht krumm genug? Und Ölgötzenfresse? Ächzend erhob er sich, um für Ordnung zu sorgen.

Der Sinn von Nastassjas rätselhafter Ausdrucksweise klärte sich, da Gruschin auf die Vortreppe hinaussah.

Natürlich waren es wieder Bettler. Ihresgleichen zog den lieben langen Tag die Gassen der Vorstadt auf und ab, wo die Bewohner ein weites Herz hatten. Der eine der beiden, alt und in der Tat krumm wie ein Flitzbogen, stand auf zwei kurze Krücken gestützt. Der andere ein dreckstarrender Kirgise in schmierigem Kittel und abgerissener Pelzmütze. Meine Herren, wen es nicht alles zu Moskaus Toren hereinspülte!

»Genug, Nastassja, ich werd noch taub von deinem Gebrüll!« rief Gruschin die Zanknudel zur Ordnung. »Gib jedem eine Kopeke, damit sie sich trollen!«

»Die behaupten, zu Ihnen zu wollen!« fuhr die wütende Köchin herum. »Der da«, sie deutete auf den Buckligen, »meint, er hätte was mit dem Herrn zu bereden. Weck ihn! spricht er. Ich werd dir was und wecken! sag ich. Übergeschnappt, oder wie? Die Leute nicht schlafen zu lassen!«

Gruschin sah sich die Gesellen aufmerksamer an. Moment mal! Den Kirgisen kannte er doch? Und es war gar kein Kirgise. Der Inspektor griff sich unwillkürlich ans Herz.

»Ist was mit Fandorin? Wo ist er?« Ach, der verstand ja kein Russisch.

»Kommst du von Fandorin, Alter?« beugte Gruschin sich zu dem Buckligen hinunter. »Ist irgendwas passiert?«

Der Invalide richtete sich auf und war nun einen halben Kopf größer als der Kriminalamtsleiter a. D.

»Fein, Xaveri! Wenn Sie mich nicht erkannt haben, ist die Verkleidung gelungen!« sagte er mit Erast Fandorins Stimme.

Gruschin war verzückt.

»Ja, sag einer! Nicht zu erkennen! Ein Bubenstreich! Ohne Ihren Diener wäre ich nie auch nur auf den Gedanken gekommen! Aber ist es nicht ermüdend, die ganze Zeit so gebückt herumzulaufen?«

»Macht nichts.« Fandorin winkte ab. »Schwierigkeiten sind dazu da, überwunden zu werden. Das gehört zu den Genüssen des Lebens.«

»In dem Punkt würde ich Ihnen gern widersprechen«, sagte Gruschin, während er die Gäste ins Haus ließ. »Aber natürlich nicht heute, das können wir ein andermal beim Tee diskutieren. Heute soll es auf Expedition gehen, wenn ich recht sehe?«

»Ja. Ich möchte einen Abstecher zur Chitrowka machen, genauer gesagt, in ein G-... Gasthaus mit dem romantischen Namen >Zur Galeere<. Dort soll der Kleine Mischa sozusagen sein Stabsquartier haben.«

»Wer sagt das?«

»Pjotr Churtinski, Vorsteher der geheimdienstlichen Abteilung bei der Kanzlei des Generalgouverneurs.« Gruschin hob nur die Hände.

»Na, dann will man es beinahe glauben. Der hat seine Augen und Ohren überall. In die >Galeere< zieht es Sie also?«

»Jawohl. Erzählen Sie doch mal! Was das für ein Gasthaus ist, was dort für Sitten herrschen und vor allem, wie man hinfindet.«

»Nehmen Sie Platz, mein Bester. Nein, nicht in den Sessel, besser dort auf die Holzbank. In Ihrem Aufzug!«

Gruschin nahm den Sessel in Beschlag und rauchte sein Pfeifchen an.

»Dann mal schön der Reihe nach. Zur ersten Frage: Was ist das für ein Gasthaus? Die Antwort lautet: ein Besitztum des Wirklichen Staatsrats Jeropkin.«

»Ach was?« Fandorin war verblüfft. »Und ich dachte, es wäre eine Spelunke, ein D-... Diebesloch.«

»Damit liegen Sie nicht falsch. Aber das Haus gehört dem General und wirft Seiner Exzellenz ein beträchtliches Sümmchen ab. Der General verkehrt dort natürlich nicht persönlich, er hat es vermietet. Jeropkin nennt in Moskau etliche solcher Etablissements sein eigen. Geld stinkt nicht, wie man weiß. Oben im Haus haben ein paar feile Freudenmädchen ihre Zimmer, und im Keller ist das Lokal. Aber der springende Punkt an dem Generalshaus liegt woanders. Zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen waren an der Stelle nämlich Kasematten mit Folterkammern gelegen. Die sind längst geschleift, aber das Kellerlabyrinth ist noch da. Und in den letzten dreihundert Jahren ist noch manch neuer Gang gegraben worden, da kann selbst der Leibhaftige sich das Bein brechen. Nun geh da mal rein und such den Kleinen Mischa ... Kommen wir zur Frage Nummer zwei: Was herrschen dort für Sitten?«

Gruschin schmatzte behaglich. Lange hatte er sich nicht mehr so prächtig gefühlt. Der Kopfschmerz war wie weggeblasen.

»Die Sitten sind rauh. Räubersitten. Gesetz und Polizei bleiben außen vor. Nur zwei Varietäten des Menschen haben in der Chitrowka Überlebenschancen: Wer sich dem Starken beugt und wer den Schwachen knechtet. Einen Mittelweg gibt es nicht. Und die >Galeere< ist für sie wie der Nabel der Welt: Dort wird mit Diebesgut gehehlt, üppige Gelder gehen übern Tisch, und alles, was in der Banditenwelt Rang und Namen hat, gibt sich die Klinke in die Hand. Churtinski hat recht, über die >Galeere< ließe der Kleine Mischa sich auftreiben. Die Frage ist nur, wie. Mit dem Kopf durch die Wand geht es nicht.«

»Die d-d-... dritte Frage lautete anders«, wurde Gruschin von Fandorin höflich, aber bestimmt korrigiert. »Wie findet man die >Galeere

»Das sage ich Ihnen nicht!« Lächelnd ließ Gruschin sich in seinen Sessel zurückfallen. »Wieso nicht?«

»Weil ich Sie persönlich hinbringe. Keine Widerrede! Dafür bin ich taub.«

Gruschin hatte Fandorins abwehrende Geste gesehen und tat, als hielte er sich die Ohren zu.

»Erstens finden Sie ohne mich sowieso nicht hin. Und wenn, kommen Sie zweitens nicht rein. Na, und falls doch, kommen Sie lebend nicht wieder raus.«

Und da er sah, daß seine Argumente bei Fandorin nicht fruchteten, setzte er flehend hinzu: »Versagen Sie's mir nicht, mein Lieber, ich bitte Sie! Aus alter Verbundenheit! Haben Sie Erbarmen mit dem alten Eisen, das in Untätigkeit vor sich hin rostet. Wir könnten zu zweit was Feines erleben!«

»Das geht doch nicht, Xaveri!« sagte Fandorin sanft und geduldig wie zu einem kleinen Kind, »in der Chitrowka kennt Sie doch immer noch jeder Hund.«

Gruschin lächelte schlau.

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Sie glauben wohl, Sie wären der einzige Verwandlungskünstler auf Erden?« Und es entspann sich ein langer, aufreibender Streit.

Es dunkelte schon, als sie sich Jeropkins Haus näherten. Nie zuvor war Fandorin nach Einbruch der Nacht in diesem traurig berühmten Stadtviertel gewesen. Die Gegend war wirklich zum Fürchten, eine Art Totenreich, wo keine lebenden Menschen, sondern Schatten wohnten. In den winkligen Gassen brannte nicht eine Laterne, die unansehnlichen Hüttchen standen schief und krumm, von den Kehrichthaufen ging Gestank aus. Keiner ging hier normal: Man schlich, schnürte, schlurfte an der Wand entlang, hie und da löste sich ein grauer Schatten aus einem Hausflur oder einer leicht zu übersehenden Tür, witterte nach allen Seiten, huschte über die Straße, um wieder in irgendeinem Spalt zu verschwinden. Ein Rattenland! dachte Fandorin, während er auf seinen Krücken voranhumpelte. Nur war man es von den Ratten nicht gewohnt, daß sie Sauflieder grölten, sich die Seele aus dem Hals brüllten, heulten und fluchten oder den Entgegenkommenden mit knurrend vorgebrachten Verwünschungen schreckten.

»Dort vorn, das ist die >Galeere

Gruschin deutete auf ein düsteres zweistöckiges Haus mit gruselig fahl erleuchteten Fensterchen und bekreuzigte sich.

»Lieber Gott, laß uns gut fischen und mit heiler Haut entwischen!«

Sie betraten das Haus, so wie es abgemacht war: Gruschin und Masa als erste, Fandorin kurz darauf. Das war die Bedingung, die der Kollegienassessor gestellt hatte.

»Lassen Sie sich nicht davon irritieren, daß mein Japaner kein Russisch redet«, erläuterte Fandorin. »Er hat oft genug in der Klemme gesessen und kann die Gefahr riechen. Früher ist er bei den Yakuza gewesen, das sind so japanische Banditen. Seine Reaktionsschnelligkeit ist phänomenal, und mit dem Messer weiß er umzugehen wie P-... Professor Pirogow mit dem Skalpell. Masa hält Ihnen den Rücken frei. Und zu dritt fallen wir bloß auf - das riecht nach Verhaftungsk-... -kommando.«

Gruschin sah es halbwegs ein.

In der »Galeere« war es schummerig, denn hier verkehrte ein lichtscheues Gesindel. Auf dem Tresen stand eine Petroleumlampe, unter der man Geld zählen konnte, und auf jedem der grobgezimmerten Holztische ein dickes Talglicht. Wenn das Flämmchen flackerte, tanzten die verzerrten Schatten an den niedrigen Deckenbögen. Doch dem geübten Auge war das Dämmerlicht kein Hindernis. Saß man ein Weilchen und gewöhnte sich ein, sah man alles, was man sehen mußte. Dort hinten in der Ecke zum Beispiel, an dem üppig gedeckten Tisch (sogar ein Tischtuch war aufgelegt!) saßen die »Füchse« in wortkarger Runde. Getrunken wurde in Maßen, gegessen noch weniger. Kurze Bemerkungen wurden gewechselt, die ein Außenstehender nicht verstand. Kein Zweifel, die bösen Brüder warteten auf etwas. Vielleicht stand ein »Geschäft« an, oder eine ernste Unterredung war angesetzt. Das übrige Publikum war nicht der Rede wert: ein paar leichte Mädchen, ein paar besoffene Wracks und ein paar Taschendiebe nebst »Anreißern« als die unvermeidlichen Stammgäste. Letztere waren dabei, »Kasse zu machen«, das heißt, sie teilten die Tageseinnahmen - was so aussah, daß man einander beim Kragen gepackt hielt und haarklein vorrechnete, wer wieviel eingenommen hatte und was wem zustand. Einer lag

schon unterm Tisch und wurde zornig mit Füßen malträtiert. Er jaulte und versuchte freizukommen, wurde jedoch immer wieder zurückgestoßen. »Wag's noch mal, die eignen Leute zu beklauen! Wag's noch mal!«

Jetzt kam ein buckliger Alter zur Tür herein. Einen Moment lang blieb er auf der Schwelle stehen, sah sich um, den Buckel hin und her wendend, und humpelte dann, flink die Krücken gebrauchend, auf eine Ecke zu. Ein massiges Kreuz an patinierter Kette, dazu ein grobes Gehänge aus rasselnden Blechsternen baumelten um den Hals des Invaliden. Ächzend ließ der Alte sich an einem Tisch nieder. Ein gutes Plätzchen: die Wand im Rücken, gesittete Nachbarschaft. Rechts saß ein blinder Bettler, aus trüben Pupillen ins Leere starrend, mit malmenden Kinnladen beim Abendessen. Zur Linken hatte ein Mädchen den schwarzen Schopf auf die Tischplatte gelegt; das halbleere Schnapsglas umklammernd, schien sie im Tiefschlaf. Man mochte annehmen, daß sie zu einem der »Füchse« gehörte: Sie war besser gekleidet als die übrigen Huren, trug Ohrringe mit Türkisen, und vor allem wagte es keiner, sie anzumachen. Man wußte, warum. Wenn der Mensch müde ist, schläft er. Wenn er munter wird, trinkt er.

Der Kellner kam heran und fragte mißtrauisch: »Wo kommstn du her, Alter? Dich hab ich hier noch nie gesehen.«

Der Bucklige fletschte die fauligen Zähne und ließ die Sätze nur so hervorrasseln: »Wo ich herkomm? Mal von da und mal von woanders. Mal vom Mannaschlecken, mal vom Stiefellecken. Bring dem alten Mann ein Schnäpschen, mein Baron. Ich hatte einen schweren Tag, mußt du wissen. Hab mich krumm gemacht vor den Leuten. Penunze ist genug da, glaub nur ja nicht!« Er klingelte mit dem Kupfer in den Taschen. »Das fromme Volk hat Mitleid mit dem armen Krüppel!«

Zwinkernd holte der muntere Alte unter den Schultern seines Wamses eine Lage Watte hervor, reckte und straffte sich. Der Buckel war verschwunden.

»Was klemmen die Knochen vom bösen Malochen, joi-joi-joi ... Jetzt noch ein Brötchen, und der Jungfer ans Schötchen ... «

Der Witzbold lehnte sich nach links hinüber und stieß die Schlafende an.

»He, Matroschka Dreigroschka! Wen machst du heute glücklich? Küßchen für den alten Mann?«

Und so ging es weiter. Der Kellner grunzte nur. Ein Spaßvogel, der Alte.

»Von der Fiska laß die Finger«, riet er ihm. »Das ist nicht deine Kragenweite. Wenn du was zum Grabbeln brauchst, geh dort hinten die Stiege rauf. Zutritt mit 'nem halben Rubel und 'nem Viertelliter.«

Der Alte bekam seinen Schnaps, doch nach oben zu gehen, hatte er es nicht eilig. Hier unten fand er es wohl auch ganz nett. Er schmiß ein Glas um, maunzte mit dünnem Stimmchen ein Lied und schoß derweil aus flinken, für sein Alter kräftig blitzenden Äuglein Pfeile durch den Raum. Im Handumdrehn hatte er die anwesende Gesellschaft erfaßt, wobei er sich bei den »Füchsen« ein wenig länger aufhielt; alsdann wandte er sich zum Tresen, wo der Kneipenwirt Abdul, ein ruhiger, sehniger Tatare, den die ganze Chitrowka kannte und fürchtete, halblaut mit einem hausierenden Trödler verhandelte. Letzterer war anscheinend der Gesprächigere; die Entgegnungen des Wirtes, der mit seinem dreckigen

Lappen betulich an einem Trinkglas herumrieb, kamen um so einsilbiger und unlustiger. Der graubärtige Trödler in solidem Nankingmantel und Galoschen über den Stiefeln ließ indes nicht locker, hatte, über den Tresen gebeugt, immer noch etwas zu wispern und tippte in Abständen an den 77

Spankorb, den sein Begleiter, ein kleiner, mißtrauisch umheräugender Kirgise, über der Schulter hängen hatte.

Einstweilen lief alles nach Plan. Fandorin wußte, daß Gruschin einen Händler vorstellte, der umständehalber an einen kompletten Satz gediegenen Werkzeugs gekommen war, wie es für einen fachgerechten Einbruch benötigt wird, und der nun nach einem guten, kundigen Käufer Ausschau hielt. Die Idee war nicht übel, doch die gespannte Aufmerksamkeit, die der Trödler und sein Gefährte bei den »Füchsen« im Hintergrund des Schankraums erregten, gab Fandorin sehr zu denken. Waren die beiden etwa durchschaut worden? Wie und weswegen? Gruschins Tarnung war virtuos - es gab keinen Schwachpunkt.

Masa schien das dräuende Unheil gleichfalls zu gewahren: Aufrecht stand er da, die Hände tief in den Taschen, die buschigen Wimpern halb über die Augen gesenkt. In seinem Ärmel steckte einen Dolch, und die Pose verhieß Bereitschaft zur Abwehr eines Angriffs von jedweder Seite.

»He, Schlitzauge!« brüllte einer der »Füchse« und erhob sich. »Von welchem Volksstamm bist du?«

Der Trödler drehte sich auf dem Absatz herum.

»Er ist Kirgise, guter Mann!« sagte er höflich, doch mit fester Stimme. »Ein armer Waisenknabe, dem die Muselmanen die Zunge abgeschnitten haben. Was mir ja nur recht ist!« Gruschin tat eine verschlagene Geste. »Wer Weiches pascht und Schnee schiebt, kann Plaudertaschen nicht gebrauchen!«

Masa, im Bilde jetzt, von welcher Seite die wirkliche Gefahr drohte, hatte sich ebenfalls umgedreht. Mit dem Rücken zum Tresen stand er da, die Augen nun beinahe ganz geschlossen, doch unter den Wimpern blitzte es.

Die »Füchse« blickten einander an. Irgendwie schienen die undurchsichtigen Auskünfte des Trödlers beruhigend auf sie zu wirken. Fandorin fiel ein Stein vom Herzen: Gruschin ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Mit einem Seufzer der Erleichterung zog der junge Detektiv die Hand unter dem Tisch hervor, die schon am Griff des Herstal gelegen hatte.

Das hätte er lieber nicht tun sollen.

Der Wirt nutzte die Gelegenheit, daß die beiden Männer mit dem Rücken zu ihm standen, nahm blitzschnell ein Zweipfundwägestück vom Tresen, ergriff den daranhängenden Bindfaden und schleuderte es mit einer federleicht aussehenden, in ihrer Wirkung verheerenden Kreiselbewegung gegen den runden Hinterkopf des »Kirgisen«. Ein widerliches Knacken war zu hören, und Masa ging wie ein Sack zu Boden, während der feige Tatare das wirbelnde Gewicht behende - man sah ihm die Übung an - dem herumschnellenden Gruschin gegen die Schläfe prallen ließ.

Ohne recht eigentlich zu begreifen, was vorging, warf Fandorin den Tisch um und riß den Revolver hervor.

»Keine Bewegung!« schrie er mit wilder Stimme. »Polizei!«

Einer der »Füchse« fuhr mit der Hand unter den Tisch, und Fandorin feuerte, ohne zu zögern. Der Bursche brüllte auf, griff sich mit beiden Händen an die Brust, fiel um und zappelte in Krämpfen. Die anderen erstarrten.

»Wer zuckt, wird erschossen!«

Während Fandorin die Mündung seiner Waffe in einem fort zwischen den »Füchsen« und dem Kneipier hin- und hergehen ließ, überlegte er fieberhaft, ob genug Patronen für alle im Magazin steckten und was nun zu tun war. Ein Arzt mußte her! Auch wenn die Schläge mit dem Wägestück so furchtbar gewesen sein mochten, daß ein Arzt kaum mehr nötig war. Fandorin ließ den Blick durch den Schankraum gehen. Hinter ihm war die Wand, längsseits schien auch Ruhe zu herrschen: Der Blinde saß, wo er saß, drehte nur unruhig den Kopf, und seine leeren Augäpfel flackerten; das Mädchen war von dem Schuß aufgewacht, hob sein hübsches, nur leider versoffenes Gesicht mit den glänzenden schwarzen Augen einer Zigeunerin.

»Und die erste Kugel ist für dich, du Schuft!« brüllte Fandorin den Tataren an. »Dazu brauche ich keinen Richter, das erledige ich jetzt und sof...«

Er kam mit seiner Ankündigung nicht zum Ende. Lautlos wie eine Katze war die Zigeunerin aufgesprungen und hieb ihm von hinten eine Flasche an den Schädel. Was Fandorin nicht sehen konnte. Plötzlich und grundlos wurde die Welt für ihn schwarz.


NEUNTES KAPITEL, in welchem auf Fandorin neue Erschütterungen zukommen

Nur allmählich kam Fandorin zu sich, das heißt, die Sinne kehrten nacheinander wieder. Als erstes setzte der Geruch ein. Es roch säuerlich, nach Staub und Schießpulver. Dann meldete sich der Tastsinn zurück: Die Wange spürte eine rauhe, hölzerne Unterlage, die Handwurzeln juckten. Im Mund ein salziger Geschmack - das konnte nur Blut sein. Zuletzt hörte und sah er wieder, und der Verstand begann zu arbeiten.

Fandorin begriff, daß er bäuchlings am Boden lag, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Durch das halbgeöffnete Auge sah er vor sich einen bespuckten Dielenboden, eine flitzende rote Kakerlake und mehrere Paar Stiefel. Eines davon waren Modestiefel aus Chromleder, mit silbernen Spitzenbeschlägen und merkwürdig klein, wie von einem Halbwüchsigen. Und dann erblickte Fandorin ein Stück weiter entfernt, hinter den Stiefeln, etwas Furchtbares, wodurch ihm mit einem Schlag alles wieder einfiel: Xaveri Gruschins totes Auge schaute ihn an. Der alte Kriminalpolizist lag gleichfalls am Boden, sein Gesicht wirkte verdrossen, sogar wütend, so als wollte es sagen: »Was für ein dämliches Possenspiel!« Daneben zeichnete sich Masas dunkler Hinterkopf ab, blutüberströmt. Fandorin kniff die Augen zu. Er wollte zurück in die Schwärze, nichts weiter sehen und hören müssen. Doch die scharfen, sich schmerzhaft ins Hirn schneidenden Stimmen erlaubten es nicht.

»Mensch, Abdul, du bist 'n Filou!« frohlockte jemand mit näselnder Syphilisstimme. »Wie der so klipp zu kacheln anfing, dacht ich, nee, das isser nich, aber Abdul, zack! mit dem Boller!«

Eine bedächtige Stimme brummte, auf Tatarenart die Endungen verschluckend: »Isser nich ... Hast kein Aug im Kopf? Hat geheiß: Wer mit Schlitzaug kommt, mit Chines, isses.«

»Iss doch aber kein Chinese, iss 'n Kirgise.« »Selb einer! Schlitzaug lauf ja hundert in Chitrowka rum, wie? Und wenn's falsch gewes, auch nich schlimm. Leich in Fluß und Sens.«

»Die Fiska, ich fasses nich!« sprach eine dritte Stimme, herrisch, doch mit hysterischem Unterton. »War sie nich, der Alte hätt uns alle weggeputzt. Hieß es nich, es kämen zwei oder was, Mischa? Aber dann warn's drei, siehste. Den Trumm hat er umgelegt. Den Trumm, Mischa! Der kommt nich durch.«

Wie Fandorin den Namen Mischa hörte, wollte er doch nicht mehr in sein schwarzes Loch zurücktauchen. Von dem Schlag schmerzte der Kopf; Fandorin nahm den Schmerz und trieb ihn in das Loch, aus dem er eben hervorgetaucht war. Es gab Ärgeres als den Schmerz.

»Eigentlich gehörte dir eins mit der Peitsche übergezogen, Fiska, dafür, daß du so viel säufst«, versetzte eine Falsettstimme matt und schaukelnd. »Aber zur Feier des Tages vergebe ich dir. Hast es dem Spitzel fein gegeben.«

Zwei rote Saffianstiefelchen kamen näher und stellten sich vor dem Chromleder auf.

»Von mir aus mit der Peitsche, Mischenka«, ließ eine volltönende, rauchige Frauenstimme sich hören. »Aber schick mich nicht weg. Drei Tage hab ich dich nicht gesehn, mein 79

Falke. Hab mich verzehrt vor Sehnsucht. Laß dich bei mir sehn heute, ich besorg's dir.« »Das verschieben wir auf später.« Die Chromledernen taten einen Schritt auf Fandorin zu. »Erst mal schauen wir, was für ein Vögelchen sich hier reinverirrt hat. Dreh ihn um, Schucha. Ach, sieh an, er blinzelt ja schon.«

Fandorin wurde auf den Rücken gewälzt.

So also sah er aus, der Kleine Mischa. Der Zigeunerin reichte er gerade bis zur Schulter, von den anderen Füchsen ganz zu schweigen. Schmales, angespanntes Gesicht, ein Mundwinkel zitternd. Ungute Augen: als schaute ein Fisch und kein Mensch. Ansonsten kein Scheusal, äußerlich gesehen. Die Haare, in der Mitte schnurgerade gescheitelt, kringelten sich an den Enden. Ein peinliches Detail: Das schwarze Schnurrbärtchen glich dem von Fandorin aufs Haar, zumal es auf gleiche Weise gezwirbelt war. Sogleich schwor sich Fandorin, nie wieder Pomade zu verwenden. Der nächste Gedanke aber war, daß er sowieso kaum mehr Gelegenheit dazu haben würde.

In der einen Hand hielt der Banditenkönig den Herstal, in der anderen das Stilett, das Fandorin am Knöchel getragen hatte. Sie hatten ihn also schon durchsucht.

»Na, was bist du für einer?« fragte der Kleine Mischa durch die Zähne gepreßt. Von unten gesehen, erschien er gar nicht so klein, im Gegenteil: ein Gulliver. »Von welchem Revier? Mjasnizkaja, nehm ich an? Bestimmt von da. Alle meine Häscher glucken dort zusammen, die unersättlichen Vampire.«

Fandorin wunderte sich. Häscher, Vampire? Das hieß wohl, daß die Beamten in der Mjasnizkaja nicht bestechlich waren. Eine nützliche Information. Falls sie noch jemandem nützlich werden konnte, verstand sich.

»Wieso seid ihr zu dritt gekommen?« stellte Mischa eine 79

etwas rätselhafte Frage. »Oder habt ihr gar nichts miteinander zu tun?«

Fandorin fühlte sich versucht zu nicken, doch er beschloß, daß es klüger war nicht zu reagieren. Und abzuwarten, was kam.

Was kam, war ekelhaft. Mischa holte kurz aus und trat dem Liegenden in den Bauch. Fandorin aber, während er den Fuß auf sich zukommen sah, fand Zeit, sich zu rüsten. Er stellte sich vor, in ein Eisloch zu springen. Das höllisch kalte Wasser brannte so, daß der Tritt mit der beschlagenen Stiefelspitze vergleichsweise harmlos ausfiel. Fandorin stöhnte nicht einmal.

»Hart im Nehmen, der Alte!« staunte Mischa. »Mit dem werden wir uns schön plagen müssen. Na, macht nichts, davon wird es nur interessanter. Zeit haben wir ja genug. Kippt ihn erst mal in den Keller, Kinder. Wir schmausen, was der Herrgott gegeben hat, und amüsieren uns ein bißchen. Hoch die Hufe, hoch die Tassen. Hinterher kühlt mir Fiska das Mütchen.«

Unter dem schrillen Gelächter der Frau wurde der Detektiv an den Beinen über die Dielen geschleift, bis hinter den Tresen und von da einen dunklen Gang entlang. Eine Falltür knarrte, im nächsten Moment flog Fandorin schon und knallte in völliger Finsternis auf. Er sortierte sich: Schulter und Hüfte geprellt, aber die Knochen anscheinend heil geblieben. »Da hast du deine Stelzen, Krummhahn!« grölte es von oben. »Geh ein bißchen Almosen sammeln!«

Nacheinander fielen die beiden kurzen Krücken auf ihn herab.

Dann verschwand über ihm krachend das matte Quadrat, und Fandorin schloß die Augen, weil es ohnehin nichts mehr zu sehen gab.

Er knickte die Hände und betastete mit den Fingern die Fesseln, die seine Gelenke zusammenhielten. Simpler Strick - nicht der Rede wert. Eine halbwegs harte und nach Möglichkeit gerippte Fläche genügte, wenn man noch etwas Geduld hinzunahm. Was hatten wir zum Beispiel hier? Aha, die Stiege, gegen die er eben geprallt war. Fandorin drehte ihr den Rücken zu und machte sich daran, das Seil in schnellen, rhythmischen Bewegungen an dem hölzernen Pfosten zu reiben. Damit würde er wohl eine runde halbe Stunde zu tun haben.

Und Fandorin fing an, bis eintausendachthundert zu zählen. Nicht um sich die Zeit zu verkürzen, sondern um nicht an das Furchtbare denken zu müssen. Nur leider konnte das Zählen nicht verhindern, daß die schwarzen Gedanken nadelspitz in das arme Herz des Detektivs drangen.

Was haben Sie angerichtet, Herr Fandorin! Es ist unverzeihlich und nie wieder gutzumachen.

Wie konnte er bloß seinen alten Lehrer in diese Raubtierhöhle hineinzerren! Der gute Xaveri hatte seinem jungen Freund geglaubt, sich gefreut, auf seine alten Tage dem Vaterland zu Diensten zu sein - und was war dabei herausgekommen! Nicht der Zufall war schuld, nicht das böse Verhängnis, sondern die Fahrlässigkeit, der mangelnde Sachverstand dessen, dem der Kriminalamtsleiter a. D. blind vertraut hatte. Denn die Schakale der Chitrowka hatten Fandorin aufgelauert. Genauer gesagt, nicht Fandorin, sondern dem, der mit dem »Chinesen« kommen würde. Ans Messer geliefert hatte der täppische Detektiv seine Getreuen. Und dabei war er von Gruschin gewarnt worden: Der Kleine Mischa hielt die gesamte Polizei an der Leine. Dieser unsympathische Churtinski hatte vor irgendeinem seiner Leute etwas verlauten lassen, und der hatte es der Chitrowka brühwarm hinterbracht. Nichts einfacher als das. Selbst wenn sich nun nachträglich klären ließ, welchen Judas sie dort in der Geheimabteilung sitzen hatten - davon wurden Masa und Gruschin nicht wieder lebendig. Eine unverzeihliche Dummheit. Nein, keine Dummheit, ein Verbrechen!

Fandorin in seiner Seelenpein stöhnte und arbeitete mit den Händen nur noch heftiger, so daß das Seil schneller als erwartet rutschte und nachließ. Fandorin konnte sich darüber nicht freuen. Er konnte die frei gewordenen Hände nur vor das Gesicht schlagen und weinen. Ach, Masa, mein Masa ...

Vier Jahre war es her, daß Fandorin, damals zweiter Sekretär an der russischen Botschaft, dem jungen Yakuza-Kämpfer in Yokohama das Leben gerettet hatte. Seither war Masahiro ihm ein treuer, ach was, der einzige Freund und hatte dem auf Abenteuer versessenen Diplomaten mehr als einmal aus der Patsche geholfen, ohne seine Schuld beglichen zu sehen. Wozu, werter Herr Fandorin, verschleppten Sie diesen netten Japaner in die Fremde? Damit ihm hier - durch Ihre Schuld! - ein übler Halunke den Schädel einschlug? Bitter, unaussprechlich bitter war es Fandorin ums Gemüt, und wenn ihn etwas daran hinderte, sich an der schlierigen Kellerwand den Kopf einzurennen, dann war es das süße Vorgefühl der Rache. Oh, wie gnadenlos würde er an den Mördern Rache üben! Xaveri Gruschin als frommem Christenmenschen mochte das gleich sein, doch Masas Japanerseele in Erwartung der Wiedergeburt würde jauchzen!

Um sein eigenes Leben fürchtete Fandorin längst nicht mehr. Der Kleine Mischa hatte eine gute Chance gehabt, dem Detektiv den Garaus zu machen - oben, als er ihm betäubt, gefesselt und waffenlos zu Füßen lag. Nun aber, mit Verlaub, Eure Majestät, Herr Banditenkönig, würde eine andere Farbe ausgespielt werden.

Am Hals des buckligen Bettlers, der er bis vorhin gewesen war, hingen nämlich immer noch das Kupferkreuz und die eigentümlichen Blechsterne. Außerdem hatten die Tölpel ihm die Krücken in die Grube nachgeworfen und damit ein Geschenk gemacht. Denn so war eine komplette japanische Waffenkammer in seiner Hand.

Er nahm das Gehänge ab und zerlegte es in einzelne Sterne. Dabei befühlte er die Schärfe ihrer Kanten: die reinsten Rasiermesser. Diese Sterne hießen eigentlich Shuriken, und die Kunst, sie aus der trockenen Hand zu werfen, zählte zu den Grundübungen, die ein Ninja zu beherrschen hatte. Im Ernstfall wurden die Kanten mit Gift eingerieben, doch Fandorin hoffte, daß sie auch so ihren Zweck erfüllten. Nun mußte nur noch das Nunchaku montiert werden: eine Waffe, die furchtbarer ist als jeder Säbel.

Fandorin nahm also als nächstes das an der Kette hängende Kreuz vom Hals. Letzteres legte er beiseite; die Kette zerriß er und befestigte an den beiden Enden je eine der Krücken. Eigens dafür waren oben an den Stelzen Häkchen angebracht. Probehalber ließ er, ohne sich vom Erdboden zu erheben, sein Nunchaku in einer pfeifenden Acht über dem Kopf kreisen und war sehr zufrieden damit. Das Mahl war bereitet, die Gäste durften erscheinen.

Die Sprossen im Dunkeln ertastend, kletterte Fandorin die Stiege hinauf. Er stemmte den Kopf gegen die Luke - sie war von außen versperrt. Auch gut. Fandorin konnte warten. Der Hafer läuft nicht zum Pferd, wie der Russe sagt.

Er sprang wieder hinunter, ging auf alle viere und fuhr mit den Händen suchend über den Boden. Bald schon stieß er gegen einen schlaffen, mürben Bastsack, von dem ein unerträglicher Schimmelgeruch ausging. Fandorin war nicht wählerisch und nahm den Sack als Kopfkissen.

Es war sehr still - abgesehen von ein paar emsigen Tierchen, die sich raschelnd bemerkbar machten: Mäuse vielleicht, oder auch Ratten. Von mir aus! dachte Fandorin und merkte nicht, wie er in den Schlaf sank - letzte Nacht hatte er kein Auge zugetan.

Er schrak auf, als die Falltür sich knarrend öffnete, und wußte augenblicklich, wo er war und warum. Er hätte nur nicht sagen können, wieviel Zeit vergangen war.

Ein Mann in Überzieher und Juchtenstiefeln kam schwankend die Stiege herab, in der Hand eine Kerze. Fandorin erkannte einen von Mischas »Füchsen«. Hinter ihm erschienen die silberbeschlagenen Chromlederstiefel in der Luke.

Zu fünft kamen sie Fandorin besuchen: der Kleine Mischa und die vier aus der Tischrunde. Nur Abdul fehlte, das Erlebnis vollkommen zu machen, was Fandorin ein bißchen ärgerte - und ihm gar einen Seufzer entlockte.

»Ja, seufz du nur, Spitzelchen!« sagte Mischa grienend und entblößte dabei seine blendend weißen Zähne. »Gleich wirst du mir brüllen, daß die Ratten sich in den Löchern verstecken. Was hast du denn mit der Leiche, poussiert ihr ein bißchen? Recht so! Bald bist du selber eine.«

Fandorin sah nach dem vermeintlichen Sack, der ihm als Kissen diente, und fuhr entsetzt hoch. Aus leeren Augenhöhlen starrte ihn ein fast ganz verwester Toter an. Die »Füchse« johlten. Alle außer Mischa hatten eine Kerze dabei, einer noch dazu eine Handvoll Klammern oder Zangen.

»Ist was?« erkundigte sich der kleine Mann höhnisch. »Vorigen Herbst ist uns schon ein Spitzel ins Netz gegangen, auch von der Mjasnizkaja. Kennt ihr euch?« Wieder Gelächter, während Mischas Stimme nun sanft und dickflüssig wie Sirup wurde. »Hat sich lange gequält, das Herzchen. Wie wir 82

ihm die Därme aus dem Wanst gezogen haben, hat er nach Papa und Mama geschrien.« Fandorin hätte den Kleinen Mischa in dieser Sekunde töten können; in jeder seiner hinter dem Rücken verborgenen Hände steckte ein Shuriken. Sich von unvernünftigen Emotionen hinreißen zu lassen ist eines vornehmen Mannes jedoch nicht würdig. Mit Mischa mußte ein Wörtchen geredet werden. Es gab einen »Stapel Fragen« an ihn, wie der Konsul von Yokohama, Alexander Pelikan, zu sagen pflegte. Genausogut hätte er erst einmal die Suite Seiner Majestät, König der Chitrowka, unschädlich machen können. Sie standen gerade äußerst günstig: zwei rechts, zwei links. Eine Schußwaffe war bei keinem zu entdecken, nur Mischa spielte unentwegt mit Fandorins gutem alten Herstal herum. Und das war nicht weiter schlimm - den Knopf kannte er gewiß nicht, und solange die Sicherung nicht entriegelt war, ging die Waffe nicht los.

Nein, das Beste war es wohl zu versuchen, dem Kleinen Mischa etwas zu entlocken, solange er sich obenauf fühlte. Denn ob er hinterher noch Lust haben würde zu reden, war fraglich. Ein halsstarriger Typ, allem Anschein nach. Wie lange würde es dauern, bis er ihn weich hatte?

»Das Portefeuillechen vermiß ich, Meister Mischa. Mit den Penunzen drin, den Riesenscheinchen!« gurrte Fandorin nun wieder mit der Stimme des buckligen Pechvogels. »Wo hast du's versteckt, sag schon!«

Mischas Gesichtsausdruck veränderte sich jäh, während einer seiner Untergebenen - der näselnde - aufgeregt fragte: »Was will er? Wieso Penunzen? Wovon redet der?«

»Der Spitzelhund will uns nur äppeln!« fauchte der »König«. »Einen Keil zwischen uns treiben. Warte nur, Schuft, gleich spuckst du Blut!«

Der Kleine zog ein langes, dünnes Messer aus dem Stiefel und tat einen Schritt nach vorn. Derweil zog Fandorin seine Schlüsse. Das Portefeuille war bei Mischa - Punkt eins. Die Bande wußte nichts davon, das hieß, er gedachte die Beute ganz für sich zu behalten - Punkt zwei. Jetzt fürchtete er bloßgestellt zu werden und wollte dem Gefangenen rasch das Maul stopfen, am besten ein für allemal - Punkt drei. Fandorin mußte seine Taktik ändern. »He-he! Immer mit der Ruhe fährt der Pastor in die Schuhe!« sprudelte er hervor. »Stockig macht bockig. Lieb mich, dann red ich.«

»Warte, Mischa.« Der Näselnde zog den Anführer beim Ärmel. »Mach ihn noch nicht kalt. Der hat was zu singen.«

»Grüße von Herrn Churtinski, Pjotr Parmenytsch, hochachtungsvoll!« flötete Fandorin und zwinkerte Mischa zu. Dabei sah er genau hin: Stimmte die Hypothese? Doch Mischa zuckte diesmal mit keiner Wimper.

»Ach was. Der Alte markiert den wilden Mann. Faselt was zusammen. Parmenytsch, wer soll das sein? Wir werden ihm das Hirn schon zurechtrütteln. Kur, du setzt dich auf seine Beine. Gib die Zangen, Pronja. Gleich kräht er wie ein Hahn, der elende Misthaken.«

Da verstand Fandorin, daß der Monarch der Chitrowka ihm hier kein Licht aufstecken würde - zu sehr fürchtete er die eigenen Leute.

Fandorin seufzte tief, und für einen Moment verengten sich seine Augen zu einem Schlitz. Rachsucht ist eines der heikelsten Gefühle überhaupt. Manch ein Unternehmen ist durch sie schon vereitelt worden.

Fandorin öffnete die Augen wieder, lächelte Mischa an und schleuderte erst die rechte und dann die linke Hand hinter dem Rücken hervor. Sch-scht! Sch-scht! schwirrten zwei 83

kleine kreiselnde Schatten durch die Luft. Der erste drang Kur in die Kehle, der zweite Pronja. Blut spritzte, die zwei röchelten, schwankten, wußten noch nicht, daß sie starben, als der Detektiv schon das Nunchaku aufgehoben hatte und auf den Beinen stand. Der Kleine Mischa schaffte es nicht einmal, die Hand zu heben, geschweige den Knopf an der Waffe zu finden, bevor der Knüttel ihn traf - nicht sehr heftig, nur zur Betäubung. Hingegen bekam der kräftige Bursche, der vorhin Schucha genannt worden war, kaum daß er den Mund aufgerissen hatte, einen so gewaltigen Schlag auf den Scheitel, daß er umfiel und sich nicht mehr rührte. Der letzte der »Füchse«, dessen Spitzname Fandorin nicht mehr erfahren sollte, zeigte sich seinen Gefährten zunächst überlegen: Geschickt sprang er zur Seite und entging dem Hieb des Nunchaku, zog das Finnmesser aus dem Stiefelschaft, vermochte auch dem zweiten Schlag auszuweichen, ehe die gnadenlos pfeifende Acht erst die Hand brach, welche das Messer hielt, und dann den Schädel des Messerhelden zertrümmerte. Fandorin hielt inne und suchte seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Zwei der Banditen krümmten sich auf dem Boden, scharrten mit den Beinen und mühten sich vergeblich, die aufgeschlitzten Kehlen zuzupressen. Zwei lagen reglos. Der Kleine Mischa saß da und schüttelte benommen den Kopf. Der brünierte Stahl des Herstal schimmerte in sicherer Entfernung.

Ich habe soeben vier Menschen getötet und bereue es nicht! sprach Fandorin zu sich selbst. Während dieser furchtbaren Nacht war die Seele ihm taub geworden.

Fürs erste packte Fandorin Mischa, der wie gelähmt schien, beim Kragen, schüttelte ihn ordentlich und verpaßte ihm zwei saftige Backpfeifen - dies nicht aus Rache, sondern damit er schneller zu sich kam. Doch die Wirkung war von geradezu magischer Art. Klein Mischa zog den Kopf ein und wimmerte: »Nicht schlagen, mein Herr! Ich will ja alles sagen! Nicht totschlagen! Wozu noch ein Lebenslicht ausblasen!«

Fandorin blickte auf diese weinerlich verzerrte Visage und wollte Augen und Ohren nicht trauen. Immer aufs neue wußte die menschliche Natur mit ihrer Unberechenbarkeit zu verblüffen. Wer hätte für möglich gehalten, daß der allmächtige Räuberkönig, Schrecken der Moskauer Polizei, sich von zwei Ohrfeigen so aus der Fassung bringen ließ? Testhalber schwang Fandorin nur ein wenig das Nunchaku, das Wimmern hörte sofort auf. Gebannt starrte Mischa auf den gleichmäßig schwingenden blutigen Knüttel, zog den Kopf zwischen die Schultern und zitterte. Tatsächlich: Es funktionierte. Extreme Grausamkeit ist die Kehrseite extremer Feigheit! kam Fandorin ein philosophischer Gedanke. Was im Grunde nicht verwunderlich ist - zählt beides doch zu den miesesten Charakterzügen, die man bei Menschenkindern findet.

»Wenn du möchtest, daß ich dich der Polizei überantworte, statt dich auf der Stelle totzuschlagen, dann beantworte meine Fragen!« sagte der Detektiv mit normaler, nicht mehr den Narren spielender Stimme.

»Wenn ich das tue, verschonst du mich?« fragte Mischa ängstlich und schniefte. Fandorin runzelte die Stirn. Irgend etwas stimmte hier nicht. So ein Schlappschwanz konnte unmöglich die Verbrecherwelt einer ganzen großen Stadt in Schach halten. Dazu brauchte es eisernen Willen, einen Charakter von Format. Oder immerhin etwas, das diese Qualitäten zu ersetzen vermochte. Was konnte das sein?

»Wo steckt die Million?« fragte Fandorin finster.

»Da, wo sie immer war«, erwiderte der Kleine eilfertig.

Das Nunchaku begann wieder bedrohlich zu schwingen.

»Nichts für ungut, Mischa. Ich habe dich gewarnt. Mir ist es sowieso lieber, wenn ich die Rechnung für meine Freunde persönlich mit dir begleiche.«

»Nein, wirklich! So wahr mir Gott helfe!« Das schmächtige, eingeschüchterte Männlein legte sich die Hände um den Kopf. Von der ganzen Szene wurde Fandorin auf einmal schrecklich übel.

»Ich sag die Wahrheit, mein Herr. Heiliges Ehrenwort! Der Zaster steckt im Portefeuille. Wo er war.«

»Und das Portefeuille ist wo?«

Mischa schluckte, seine Lippen zitterten.

»Hier im Haus. In einer Geheimkammer«, sagte er kaum hörbar.

Fandorin schleuderte das Nunchaku beiseite (es wurde nicht mehr benötigt), hob seinen Herstal vom Boden auf und stellte Mischa mit einem Ruck auf die Füße.

»Los, zeig es mir.«

Während Mischa die Stiege hinauftappte, piekte Fandorin ihn von unten mit dem Pistolenlauf in den Hintern und stellte weitere Fragen: »Woher wußtest du von dem Chinesen?«

»Von Churtinski und seinen Leuten.« Mischa wandte sich um, hob die schmalen Hände. »Wer sind wir denn! Wir sind doch auf die angewiesen. Pjotr Churtinski ist unser Gönner, unser Fürsprecher. Dafür will er immer alles ganz genau wissen. Und streicht von allem die Hälfte ein, wohlgemerkt.«

Na großartig! dachte Fandorin zähneknirschend. Ganz phantastisch. Der Chef der Geheimkanzlei, rechte Hand des Generalgouverneurs, war Pate und Schutzpatron der Moskauer Unterwelt. Nun ließ sich begreifen, warum Mischa, dieser Abschaum, nie zu fassen gewesen war und wie er in der Chitrowka so viel Macht gewinnen konnte. Churtinski. Der wackere Herr Hofrat.

Sie krabbelten hinaus auf den finsteren Korridor und gelangten von da in ein Labyrinth enger, modriger Gänge. Zweimal bogen sie nach links ab und einmal nach rechts. Vor einer niedrigen, leicht zu übersehenden Tür blieb Mischa stehen und gab ein kompliziertes Klopfzeichen. Fiska öffnete - im bloßen Nachthemd, die Haare gelöst, das Gesicht verschlafen und verkatert. Sie war nicht erstaunt über den Besuch, würdigte Fandorin keines Blickes. Ohne zu zögern, schlurfte sie über den Lehmboden zurück zum Bett, plumpste hinein und schien sofort wieder eingeschlafen. Ein erlesener Trumeau stand in der Ecke, offensichtlich dem Boudoir einer Dame entstammend. Darauf stand rußend ein Leuchter.

»Hier bei ihr hab ich's versteckt«, erklärte der Kleine. »Sie ist dumm, aber verschwiegen.« Fandorin packte den Schwächling beim dünnen Hals, zog ihn zu sich heran, sah ihm in die runden Fischaugen und fragte eindringlich, jede Silbe betonend: »Was hast du mit General Sobolew angestellt?«

»Nichts.« Mischa schlug drei flüchtige Kreuze. »Ich will am Galgen baumeln, wenn ich was damit zu tun habe. Von dem General weiß ich nichts, rein gar nichts. Churtinski hat mir nur aufgetragen, das Portefeuille aus dem Safe zu klauen, in sauberer Arbeit. Keiner würde dasein, auch keiner dazukommen, hieß es. So hab ich's eben geklaut, warum auch nicht. Wenn Gras über die Sache gewachsen ist, hat er gesagt, machen wir halbe-halbe, und ich lotse dich mit astreinen Papieren aus der Stadt. Wenn er mich brauchte, würde er mich finden, hat er gesagt. Churtinski kann man das glauben.«

Mischa nahm einen Wandteppich ab, worauf der Kosakenführer Stepan Rasin mit der geretteten Prinzessin zu sehen war, öffnete eine Klappe und wühlte in der dahinterliegenden Nische. Fandorin stand da, den kalten Schweiß auf der Stirn, und konnte das Unerhörte nicht fassen.

»Keiner würde dasein, auch keiner dazukommen« - das sollte Churtinski seinem Spießgesellen gesagt haben? Demnach hatte der Hofrat gewußt, daß Sobolew nicht lebend ins »Dusseaux« zurückkehren würde?

Im übrigen hatte Fandorin den Regenten der Chitrowka unterschätzt. Mischa war nicht von Pappe, nicht der Schlappschwanz, den er bis hierhin markiert hatte. Ein Blick über die Schulter genügte ihm, seine Erwartungen bestätigt zu sehen: Der Detektiv, verblüfft von den Neuigkeiten und unaufmerksam, hatte die Pistole sinken lassen. Der flinke kleine Mann fuhr herum, und Fandorin blickte in die Mündung eines Stutzens, den er gerade noch nach oben wegzuschlagen vermochte. Der Lauf spuckte Blitz und Donner, ein heißer Wind schlug Fandorin ins Gesicht. Von der Decke bröckelte Putz. Währenddessen hatte Fandorin instinktiv den Sicherungsknopf gedrückt. Folgsam ging der entsicherte Herstal los. Der Kleine Mischa faßte sich mit beiden Händen an den Bauch und ging leise aufstöhnend zu Boden. Fandorin blickte sich nach Fiska um, ihm war die Flasche eingefallen. Doch Fiska hob auf den Knall hin nicht einmal den Kopf, zog sich nur das Kissen aufs Ohr.

Mischas überraschende Gefügigkeit bedurfte nun keiner Erklärung mehr. Er hatte ein kluges Spiel gespielt, den Argwohn seines Gegners eingeschläfert und ihn dorthin gelockt, wo er ihn haben wollte. Mit Fandorins Reaktionsschnelligkeit, die selbst bei dessen Ninja-Lehrern legendär gewesen war, hatte er nicht rechnen können.

War denn das Portefeuille wirklich da? Fandorin schob den zuckenden Körper mit dem Fuß zur Seite und schob die Hand in die Nische. Die Finger rührten an eine bauchige lederne Oberfläche. Es war da!

Fandorin beugte sich über Mischa. Dessen Blick flackerte, krampfhaft leckte er sich die bleich gewordenen Lippen. Schweiß perlte auf seiner Stirn.

»Zum Doktor!« stöhnte der Leidende. »Ich sage alles ... alles!«

Die Verwundung schien schwer zu sein. Doch war der Herstal von so kleinem Kaliber, daß Mischa Chancen hatte zu überleben, wenn man ihn schnell ins Krankenhaus brachte. Und überleben sollte er - ein so wichtiger Zeuge!

»Warte hier, rühr dich nicht!« befahl Fandorin laut. »Ich schaffe einen Kutscher herbei. Und wage ja nicht wegzukriechen - das treibt dir die letzten Lebenskräfte aus dem Leib!« Der Schankraum hatte sich geleert. Durch die trüben Fensterluken drang schütteres Morgenlicht herein. Mitten auf dem dreckigen Fußboden wälzten sich engumschlungen ein Mann und ein Weib. Der Saum ihres Kleides war zerrissen. Fandorin wandte sich ab. Ansonsten schien keiner dazusein. Oder doch: Auf einer Bank in der Ecke schlief der Blinde von gestern abend - Schultersack unterm Kopf, Blindenstock auf der Erde. Abdul, der Wirt - derjenige, den wiederzusehen Fandorin am allermeisten begehrte - war nicht zu sehen. Doch halt! Nebenan schnarchte jemand.

Behutsam zog Fandorin den Kattunvorhang zurück, und ein Stein fiel ihm vom Herzen: Da lag das Scheusal. Hingestreckt auf einer Truhe, der Bart gesträubt, der dicklippige Mund halb offen.

Kurzerhand schob der Detektiv ihm den Lauf seiner Waffe zwischen die Zähne.

»Steh auf, Abdul. Morgenstund hat Gold im Mund!« sprach er dazu in herzlichem Ton. Der Tatare schlug die Augen auf. Sie waren schwarz, glanzlos, ohne den geringsten Ausdruck.

»Versuch du nur zu zappeln und wegzulaufen«, lud Fandorin ihn ein. »Dann knall ich dich ab wie einen räudigen Hund.«

»Lauf nirgendhin«, erwiderte der Mörder und gähnte herzhaft. »Bin kein Kind nich.«

»An den Galgen kommst du«, sagte Fandorin, der haßerfüllt in die gleichmütigen Augen sah.

»Kommt, wie's kommt«, erklärte der Wirt sich einverstanden. »Wie's Allah will.«

Der Detektiv hatte gegen ein unbändiges Kribbeln im Zeigefinger anzukämpfen.

»Komm mir nicht mit Allah, du Drecksack! Wo sind die Toten?«

»Lieg in Speiskammer. Speiskammer iss da!« gab das Scheusal bereitwillig Auskunft. Und deutete auf eine Brettertür.

Die Tür war verriegelt. Fandorin fesselte Abdul mit dessen Ledergürtel die Hände, bevor er mit wehem Herzen den Riegel zurückschob. Drinnen war es finster.

Zögernd ging Fandorin einen Schritt hinein, dann noch einen, doch da schlug ihm eine Handkante hart ins Genick. Verdattert und benommen fiel Fandorin bäuchlings hin, jemand warf sich auf ihn, ein heißer Atem schlug ihm ins Ohr: »Wo ist Hell, wo? Möldel! Hundesohn!«

Mit Mühe (der Schlag war saftig gewesen und hatte zudem die Beule von gestern getroffen) nahm Fandorin sein Japanisch zusammen und stammelte: »Sag bloß, du Faulpelz lernst Vokabeln?«

Dann konnte er nicht mehr an sich halten und brach in Tränen aus.

Doch damit hatten die Erschütterungen noch kein Ende. Nachdem Masas geschundener Kopf verbunden und ein Kutscher ausfindig gemacht war, ging Fandorin den Kleinen Mischa aus Fiskas Kammer holen. Die Zigeunerin war weg, und Mischa saß nicht mehr gegen die Wand gelehnt, er lag da. Tot. Und nicht der Bauchschuß war die Ursache. Jemand hatte dem Ganovenkönig fein säuberlich die Kehle durchgeschnitten.

Mit dem Revolver im Anschlag fegte Fandorin über den dunklen Korridor, doch der verzweigte sich ausführlich und führte in klamme, undurchdringliche Finsternis. Hier konnte man froh sein, wenn man sich nicht verirrte - jemanden zu finden war ein Ding der Unmöglichkeit.

Als Fandorin aus der »Galeere« trat, mußte er blinzeln, denn die Sonne schaute schon über die Dächer. Masa saß in einer Mietkutsche, das ihm anvertraute Portefeuille fest in der einen Hand, die andere am Kragen des gefesselten Abdul. Neben ihm ein unförmiges Bündel - der in eine Decke gewickelte Leichnam Xaveri Gruschins.

»Abfahren!« rief Fandorin und sprang neben den Kutscher auf den Bock. Nur schnell weg von diesem gottverfluchten Ort.

»In die Malaja Nikitskaja, zur Gendarmerie!«


ZEHNTES KAPITEL, in welchem der Generalgouverneur sein Brötchen in den Kaffee tunkt

Der Wachtmeister, der vor dem Portal der Gendarmerieverwaltung des Gouvernements Moskau, Malaja Nikitskaja, Dienst tat und das seltsame Trio aus der Kutsche steigen sah, verfolgte das Geschehen interessiert, doch nicht über die Maßen verwundert: Auf seinem Posten bekam man allerhand zu sehen. Als erster stieg, über das Trittbrett stolpernd, ein schwarzbärtiger Tatare aus, dem die Arme auf dem Rücken gefesselt waren. Ihm auf dem Fuße folgte ein schlitzäugiger Fremder in zerschlissenem Beschmet, weißem Turban und mit einer edlen Ledermappe unterm Arm, der den Gefangenen mit Püffen vorantrieb. Als letzter sprang - behender, als man es für sein Alter erwartete - ein zerlumpter Greis vom Kutschbock. Der Wachtmeister sah etwas genauer hin und bemerkte den Revolver in der Hand des Alten, und der Turban auf dem Kopf des Schlitzäugigen war kein Turban, sondern ein stellenweise blutgetränktes Handtuch. Klarer Fall: Ein Trupp Geheimagenten kehrte von der Operation zurück.

»Ist General Karatschenzew in seinem Zimmer?« fragte der alte Mann mit junger, forscher Befehlsstimme, und der altgediente Gendarm salutierte, statt unnötige Fragen zu stellen: »Zu Befehl. Eingetroffen vor einer halben Stunde.«

»Ruf den d-diensthabenden Offizier, Wachtmeister«, sagte der maskierte Agent mit leichtem Stottern. »Er soll sich um den Gefangenen kümmern. Und da drinnen« - er deutete 87

finster auf die Kutsche, wo das sperrige Bündel zurückgeblieben war - »liegt unser Toter. Der muß fürs erste in die Kühlkammer. Gruschin, Kriminalamtsleiter a. D.« »Nicht möglich, Euer Wohlgeboren! Xaveri Gruschin, den kenne ich doch, wir haben etliche Jahre im selben Amt ...« Der Wachtmeister nahm das Käppi ab und bekreuzigte sich. Eilig schritt Fandorin durch das weitläufige Vestibül, so daß Masa, das bauchige Portefeuille schwenkend (von den dicken Geldscheinbündeln schien das Leder platzen zu wollen), kaum hinterherkam. Das Amt war zu dieser frühen Stunde noch recht leer - und es war ohnehin nicht der Ort, wo sich die Besucher drängten. Vom anderen Ende des Korridors her, wo an geschlossener Tür ein Schild Turnsaal für Offiziere prangte, konnte man Rufe hören, dazu ein metallisches Klirren. Skeptisch schüttelte Fandorin den Kopf: Das Rapierfechten schien für einen Gendarmerieoffizier immer noch von lebenswichtiger Bedeutung zu sein. Man fragte sich, wozu und mit wem. Mit Bombenlegern etwa? Alles Rudimente einer vergangenen Zeit. Besser wäre es, Jiu-Jitsu zu lernen oder wenigstens englischen Faustkampf.

An der Tür zum Vorzimmer des Polizeipräsidenten sagte Fandorin zu Masa: »Bleib hier sitzen, bis du gerufen wirst. Und gib gut auf das Mäppchen acht. Tut der Kopf sehr weh?« »Mein Kopf ist stark«, erwiderte der Japaner stolz.

»Na, Gott sei Dank. Rühr dich nicht von der Stelle, hörst du?«

Masa blies beleidigt die Backen auf, er schien die Ermahnung für überflüssig zu halten. Hinter der hohen, zweiflügeligen Tür lag ein Sekretariat, von dem aus man, wie Täfelchen auswiesen, geradeaus in das Arbeitszimmer des Polizeipräsidenten oder nach rechts in ein Geheimkontor gelangte. Zwar verfügte General Karatschenzew über eine eigene Kanzlei am Twerskoi Boulevard, doch nutzte Seine Exzellenz lieber das Kabinett in der Malaja Nikitskaja - näher am verborgenen Räderwerk der Staatsmaschinerie.

»Wohin?« Der diensthabende Adjutant stellte sich dem zerlumpten Eindringling in den Weg.

»Kollegienassessor Fandorin, Sonderbeauftragter des Generalgouverneurs, in dringender Angelegenheit.«

Der Adjutant nickte und verschwand, ihn zu melden. Nach kurzer Zeit kam Karatschenzew persönlich herausgeeilt. Beim Anblick des elenden Strolches verhielt er den Schritt.

»Fandorin, sind Sie das? Eindrucksvolle Maske. Was gibt es?«

»So einiges.«

Fandorin trat in Karatschenzews Arbeitszimmer und schloß hinter sich die Tür. Der Adjutant hatte dem ungewöhnlichen Besucher neugierig hinterhergeblickt. Nun stand er auf, spähte nach draußen auf den Korridor. Außer einem Kirgisen, der genau gegenüber saß, war niemand zu sehen. Also kehrte der Offizier auf Zehenspitzen zur Tür seines Vorgesetzten zurück und legte das Ohr an. Die ruhige Stimme des Sonderbeauftragten war zu hören, dazwischen hin und wieder des Generals aufgeregter Baß. Leider ließ sich nur er verstehen. Das hörte sich folgendermaßen an:

»Was denn für ein Portefeuille?«

»...«

»Wie konnten Sie nur!« »...«

»Und er?« »... «

»Mein Gott!« »...«

»Zur Chitrowka?«

In diesem Moment flog die Tür zum Korridor auf, und der Adjutant hatte alle Mühe zurückzuspringen - er tat so, als hätte er eben beim General anklopfen wollen, und drehte sich mißmutig nach dem Eintretenden um. Der, ein fremder Offizier mit Portefeuille unterm Arm, winkte begütigend ab und zeigte auf die andere Tür, die in das Geheimkontor führte: Keine Umstände! mochte das heißen, ich muß dort hinein. Rasch hatte er den großen Raum durchschritten und war verschwunden. Der Adjutant konnte seinen Horchposten wieder beziehen.

»Das ist ja unglaublich!« rief Karatschenzew aufgeregt. Und eine Weile später, fassungslos: »Churtinski? Das ist die Höhe!«

Der Adjutant klebte buchstäblich an der Tür, um wenigstens Bruchstücke von des Kollegienassessors Bericht mitzubekommen, doch ausgerechnet jetzt mußte ein Kurier mit Eilbrief hereinschneien, den er entgegenzunehmen und zu quittieren hatte.

Zwei Minuten später kam der General heraus - hochrot im Gesicht und ganz aufgelöst. Doch das Glänzen in den Generalsaugen ließ günstige Neuigkeiten vermuten. Hinter Karatschenzew erschien der sonderbare Beauftragte.

»Erledigen wir als erstes die Sache mit dem Portefeuille, und anschließend befassen wir uns mit unserem Schießbuden-Kain«, sagte der Polizeipräsident und rieb sich die Hände. »Wo haben Sie denn Ihren Japaner?«

»Erwartet auf dem K-... Korridor.«

Der Adjutant schielte um den Türpfosten und sah, wie der General und der Beauftragte vor dem schäbigen Kirgisen stehenblieben. Der stand auf, verneigte sich förmlich, die Hände auf die Oberschenkel gelegt.

Der Kollegienassessor sprach ihn in unverständlichem Kauderwelsch an; es schien eine dringliche Frage zu sein.

Der Asiate verneigte sich noch einmal und gab etwas zur Antwort, das Besänftigung verhieß. Der Beamte wurde lauter, schien nicht einverstanden zu sein.

Bestürzung trat in das asiatische Gesicht. Noch ein Versuch der Rechtfertigung.

Der General drehte den Kopf vom einen zum anderen. Verwirrt zog er die rötlichen Brauen zusammen.

Nun griff der Kollegienassessor sich an die Stirn und kam auf den Adjutanten zu.

»Ist bei Ihnen ein Offizier mit Portefeuille durchgekommen?«

»Sehr wohl. Er begab sich nach nebenan ins Geheimkontor.«

Rüde stieß der Beamte erst den Polizeipräsidenten und dann den Adjutanten beiseite und stürzte quer durch das Sekretariat zur seitlichen Tür hinein. Die drei anderen liefen ihm nach. Hinter der Tür lag ein kurzer Flur, dessen Fenster auf den Hof gingen. Eines davon war offen. Der Kollegienassessor lehnte sich über die Fensterbank hinaus.

»Da unten sind Stiefelabdrücke! Er ist hinuntergesprungen!« stöhnte der hitzige Sonderbeauftragte und hieb vor Wut die Faust gegen den Fensterrahmen. So heftig, daß sämtliche Scheiben traurig klirrend nach draußen fielen.

»Fandorin, was ist denn los?« fragte der Polizeipräsident ganz erschrocken.

»Ich verstehe das alles nicht«, sagte der Angesprochene und hob die Hände. »Masa sagt, ein Offizier sei auf dem Korridor auf ihn zugekommen, habe ihn beim Namen angesprochen und ihm einen versiegelten Brief übergeben, dafür habe er ihm das Portefeuille abgenommen und behauptet, er 89

wolle es mir bringen. Und ein Offizier war da tatsächlich, nur ist er leider mitsamt dem Portefeuille durch das Fenster hier gesprungen. Wenn das kein Alptraum ist!« »Und der Brief? Wo ist er?«

Der Beauftragte fand seinen Eifer wieder und fing erneut asiatisch zu radebrechen an, worauf der Kittelträger, sichtlich bis zum Äußersten zerknirscht, einen großen, amtlich versiegelten Brief aus dem Rock zog und dem General mit einer Verbeugung reichte. Karatschenzew prüfte Siegel und Adresse.

»Hm«, machte er und las laut: »An die Gendarmerieverwaltung des Gouvernements Moskau. Von der Abteilung Ordnung und Öffentliche Sicherheit des Amtsbezirks St. Petersburg.«

Er öffnete den Umschlag und begann vorzulesen.

»Geheim! "Zu Händen des Moskauer Polizeipräsidenten. Gemäß §16 Kaiserl. Verfügung über Maßnahmen zur Wahrung der staatlichen Ordnung und der öffentlichen Ruhe, in Abstimmung mit dem Generalgouverneur von St. Petersburg, ist der Hebamme Maria Iwanowna Iwanowa aufgrund politischer Unzuverlässigkeit das Wohnrechtin St. Petersburgund Moskau verwehrt, wovon Eure Exzellenz in Kenntnis zu setzen ich hiermit die Ehre habe. Gez. Rottmeister Schipow, Abteilungsleiter. Was soll der Blödsinn!«

Der General drehte das Blatt ratlos in den Händen.

»Ein harmloses Zirkular. Was hat das mit dem Portefeuille zu tun?«

»Die Sache ist d-... doch sonnenklar«, äußerte der Kollegienassessor matt, der Verdruß brachte ihn wieder einmal zum Stottern. »Jemand hat den Umstand ausgenutzt, daß Masa kein Russisch versteht und Uniformen g-g-... gegenüber eine g-g-... grenzenlose Unterwürfigkeit an den Tag legt. Erst recht, wenn ein Säbel an der Seite hängt.«

»Fragen Sie ihn, wie der Offizier aussah«, befahl der General.

Der Beauftragte hörte sich die verworrene Rede des Asiaten nur kurze Zeit an, dann winkte er ab: »Gelbe Haare, Wasseraugen, das Übliche ... Für ihn sehen wir alle gleich aus.«

Er wandte sich an den Adjutanten: »Haben Sie denn den Mann nicht erk-k-...kannt?«

»Tut mir leid«, antwortete der, hob bedauernd die Arme und wurde sogar ein bißchen rot. »Ich hab nicht genau hingesehen. Blond war er und ziemlich groß. Normale Gendarmenuniform. Hauptmann.«

»Optische Analyse und Verbalcharakteristik sind Ihnen wohl nicht beigebracht worden?« fragte der Beauftragte anzüglich. »Vom Tisch zur Tür sind es zehn Schritt Entfernung!« Der Adjutant schwieg und errötete noch mehr.

»Eine K-k-... Katastrophe, Euer Exzellenz«, konstatierte der verkleidete Mann. »Die Million ist uns durch die Lappen gegangen. Und ich frage mich, wie? Es ist geradezu mystisch! Was machen wir nun?«

»Ist doch egal!« sagte Karatschenzew und winkte verächtlich ab. »Als ob es um die Million ginge! Die wird sich schon wieder anfinden, eine Million geht nicht so leicht verloren. Wir haben Wichtigeres zu tun. Dem feinen Herrn Churtinski müssen wir einen Besuch abstatten. Dieser Marionette!« Karatschenzew setzte ein böses Lächeln auf. »Er wird uns wohl oder übel Licht in die Sache bringen. Das sind höchst interessante Entwicklungen. Unser lieber Dolgorukoi ist damit auch abgemeldet. Er hat eine Schlange an seinem Busen genährt, und was für eine!«

Kollegienassessor Fandorin schreckte aus seinen Gedanken.

»Ja, gewiß, fahren wir zu Churtinski. Ehe es zu spät ist.«

»Erst müssen wir leider zum Fürsten«, seufzte der Polizeipräsident. »Ohne seinen Segen kommen wir nicht weiter. Aber das macht nichts, ich schaue mir mit Vergnügen an, wie der alte Schlaukopf sich winden wird. Nix da, Durchlaucht, diesmal schlängelt Ihr Euch nicht raus! Swertschinski!«

Der General sah nach seinem Adjutanten.

»Meine Kutsche, aber schnell. Und dazu einen Wagen mit Kommando zur Verhaftnahme - der soll mir zum Haus des Generalgouverneurs folgen. Drei Mann in Zivil, das muß reichen. Wird ja wohl ohne Ballerei abgehen, nehme ich an.« Und wieder setzte er sein lüsternes Lächeln auf.

Im Laufschritt befolgte der Adjutant die Anweisungen. Fünf Minuten später fegte eine von vier Pferden gezogene Kutsche mit Karacho über das Kopfsteinpflaster. Sanft schaukelnd folgte der stahlgefederte Wagen mit den drei Zivilagenten.

Nachdem er die Kolonne aus den Augen verloren hatte, griff der Adjutant zur Telefonmuschel, drehte die Kurbel und nannte eine Nummer. Dann sagte er, den Blick zur Tür gerichtet, halblaut: »Herr Wedischtschew, sind Sie es? Swertschinski am Apparat.«

Die Herren mußten im Vorzimmer darauf warten, vorgelassen zu werden. Der Sekretär des Gouverneurs äußerte sein tiefes Bedauern, blieb jedoch fest in der Kundgabe, Durchlaucht wären momentan sehr beschäftigt, wünschten von niemandem behelligt zu werden, auch Anmeldungen würden derzeit nicht entgegengenommen. Karatschenzew sah Fandorin mit süffisantem Lächeln an, als wie: Da scheint der Alte sich zu guter Letzt noch ins Zeug zu legen. Mindestens eine Viertelstunde verging, ehe endlich der Klang eines Glöckchens durch die überdimensionale vergoldete Tür herausdrang.

»Jetzt darf ich Sie anmelden, Euer Exzellenz«, sagte der Sekretär und erhob sich.

Beim Eintreten klärte sich sogleich, mit welcherart unaufschiebbaren Dingen der Fürst beschäftigt war: Er frühstückte. Genauer gesagt, ging das Frühstück dem Ende entgegen, die ungeduldigen Besucher durften seiner letzten Phase beiwohnen: Fürst Dolgorukoi trank Kaffee. Eine flauschige Leinenserviette akkurat um den Hals gebunden, saß er da, tunkte ein Milchbrötchen aus Filippows Patisserie in seine Tasse und schien in aufgeräumter Stimmung zu sein.

»Guten Morgen, die Herren!« rief er freundlich, nachdem der Bissen hinuntergeschluckt war. »Nehmen Sie es mir nicht krumm, daß ich Sie warten ließ. Mein Frol ist da streng, er duldet bei den Mahlzeiten keine Ablenkung. Möchten Sie nicht vielleicht einen Kaffee? Es gibt vorzügliche Brötchen, die zergehen auf der Zunge.«

Hier kam der Gouverneur darauf, den Begleiter des Generals etwas aufmerksamer zu betrachten, und er verzog überrascht das Gesicht. Zwar hatte Fandorin auf dem Weg in die Twerskaja Graubart und Perücke abgenommen, doch zum Umkleiden war keine Gelegenheit gewesen. Sein Anblick war durchaus irritierend. Fürst Dolgorukoi schüttelte mißbilligend den Kopf und hüstelte.

»Fandorin, ich weiß, ich hatte Ihnen nahegelegt, getrost ohne Uniform zu erscheinen, aber das geht ein bißchen zu weit, mein Lieber. Was ist mit Ihnen, haben Sie im Kartenspiel verloren?« Des Fürsten Stimme klang ungewohnt streng. »Mir liegt nicht viel an alten Zöpfen, das wissen Sie, aber ich muß Sie bitten, in derlei Aufzug künftig nicht mehr bei mir anzutanzen. Das ist ganz und gar nicht schön.«

Tadelnd wiegte er den Kopf, während er an seinem Brötchen weiterkaute. Doch der Ausdruck in den Gesichtern des Polizeipräsidenten und des Kollegienassessors war von einer Art, daß Dolgorukoi im Kauen innehielt und verwundert fragte: »Was ist denn passiert, meine Herren? Brennt's irgendwo?«

»Schlimmer, Hohe Exzellenz. Weit schlimmer!« versetzte Karatschenzew beinahe wollüstig und nahm, der Aufforderung zuvorkommend, im Sessel Platz. Fandorin blieb stehen.

»Der Chef Eurer Geheimkanzlei ist ein Dieb und Verbrecher, und er ist ein Schutzpatron der kriminellen Unterwelt in dieser Stadt. Der Herr Kollegienassessor verfügt über die nötigen Beweise. Eine heikle Situation, Durchlaucht, eine äußerst heikle Situation. Ich weiß offen gestanden nicht, wie wir uns da herausmanövrieren werden.«

Der General ließ eine kleine Pause, damit der Alte Zeit hatte zu kapieren, um dann honigsüß fortzufahren: »Ich hatte ja mehrfach die Ehre, Hohe Exzellenz über das verwerfliche Verhalten des Herrn Churtinski zu unterrichten, ohne daß Sie mir Gehör schenkten. Doch hätte ich selbstredend nie geahnt, wie hochgradig kriminell die Machenschaften dieses Mannes sind.«

Der Generalgouverneur verfolgte die kurze, effektvolle Rede mit halboffenem Mund. Fandorin erwartete einen Ausruf, einen Sturm der Entrüstung, die Forderung, Beweise auf den Tisch zu legen, doch Juri Dolgorukoi ließ sich nicht im geringsten aus der Ruhe bringen. Während der Polizeipräsident erwartungsvoll schwieg, kaute der Fürst erst einmal zu Ende, nippte vom Kaffee. Dann seufzte er, und es klang nach einem Vorwurf.

»Das ist sehr schlecht, mein Lieber, daß Sie nicht früher darauf gekommen sind. Immerhin sind Sie der Chef der Moskauer Polizei, eine Säule des Gesetzes und der Ordnungsmacht. Ich bin kein Gendarm und habe andere Dinge im Kopf, die ganze aufwendige Verwaltung dieser Stadt liegt auf meinen Schultern. Aber Pjotr Churtinski habe ich schon lange in Verdacht.«

»Ach ja?« fragte der Polizeipräsident spöttisch. »Seit wann denn das?«

»L-a-ange! Der liebe Pjotr gefällt mir schon eine ganze Weile nicht mehr. Erst vor drei Monaten habe ich eurem Minister, dem Grafen Tolstow, brieflich kundgetan, daß Hofrat Churtinski, vorliegenden Erkenntnissen zufolge, nicht nur ein korrupter Hund, sondern ein Dieb und Lügner ist.«

Der Fürst wühlte in den Papieren auf seinem Tisch.

»Irgendwo hatte ich doch die Kopie von dem Schreiben ... Da ist sie.«

Er hob ein Blatt in die Höhe, schwenkte es vage.

»Der Graf hat auch geantwortet. Wo haben wir das nun wieder? ... Ah ja.«

Er wies ein anderes Blatt vor, das ein Monogramm trug.

»Soll ich vorlesen? Der Minister hat mich vollständig beschwichtigt und angeraten, mir um Churtinski keine Sorgen zu machen. Hören Sie.«

Der Gouverneur setzte den Kneifer auf.

»Auf etwaige Bedenken Dero Hoher Exzellenz hinsichtlich der Tätigkeit von Hofrat Churtinski beeile ich mich zu versichern, daß gelegentlich undurchsichtige Verhaltensweisen des betreffenden Beamten durchaus nicht kriminellen Antrieben entspringen, sondern der Erfüllung einer hochwichtigen geheimdienstlichen Staatsmission geschuldet sind, von der Kaiserliche Hoheit ebenso wie meine "Wenigkeit Kenntnis haben. Von daher darf ich Sie beruhigen, verehrtester Wladimir An 92 drejewitsch, und erlaube mir insbesondere in Erwähnung zu bringen, daß die Churtinski übertragene Aufgabe in keiner Weise gegen die Kompetenzen von ... - na gut, das gehört schon nicht mehr zur Sache. Sie sehen, meine Herren, wenn hier jemand etwas versäumt hat, dann nicht Dolgorukoi, sondern Ihre Behörde, Karatschenzew. Warum sollte ich Gründe haben, dem Innenministerium nicht zu trauen?«

Vor Überraschung verlor der Polizeipräsident die Contenance. Jäh sprang er auf und langte nach dem Brief, was nicht sehr gescheit war, denn jeder Verdacht einer Mystifikation verbot sich in solch ernsthafter Angelegenheit von selbst -sie wäre allzu leicht zu überführen gewesen. Gleichmütig überließ der Fürst dem rothaarigen General den Briefbogen.

»Tatsächlich«, murmelte Karatschenzew. »Das ist die Unterschrift des Grafen. Kein Zweifel.«

»Hat Ihr Vorgesetzter etwa unterlassen, Sie davon in Kenntnis zu setzen?« fragte der Fürst mitfühlend. »O weh, das ist aber gar nicht schön. So etwas gehört sich nicht. Dann wissen Sie vermutlich auch nicht, welche Geheimmission Churtinski zu erfüllen hatte?« Karatschenzew schwieg. Er schien vollkommen konsterniert. Derweil kreisten Fandorins Gedanken um ein merkwürdiges Detail: Wieso lag ein drei Monate altes Schreiben dem Fürsten vor der Nase zwischen den aktuellen Vorgängen? Was er indes aussprach, war etwas anderes: »Mir ist genausowenig bekannt, worin Herrn Churtinskis g-... geheime Aufgabe bestand, aber in diesem Fall hat er den Rahmen zweifellos überschritten. Seine Verbindungen zu den Ganovenkreisen der Chitrowka sind eindeutig und mit Staatsräson nicht zu erklären. Und vor allem: Churtinski ist ganz offensichtlich in die Geschehnisse verwickelt, die zum Tod des Generals Sobolew führten.«

Worauf Fandorin in aller Kürze und Punkt für Punkt die Vorkommnisse rund um die gestohlene Million rapportierte. Der Gouverneur hörte sehr aufmerksam zu. Am Ende sagte er resolut: »Ein Gauner, ein ausgemachter Gauner. Er gehört in Arrest genommen und verhört.«

»D-... Deswegen, Durchlaucht, sind wir hier.«

Und der Polizeipräsident - schneidig, ehrerbietig, in gänzlich anderem Tonfall als zuvor - vergewisserte sich: »Darf ich das als Anweisung verstehen, Hohe Exzellenz?«

»Aber freilich, mein Bester!« Dolgorukoi nickte. »Der Spitzbube ist doch schuld an allem.« Im Eilschritt liefen die beiden Polizeioffiziere die langen Korridore entlang, die Zivilagenten polternd hinterdrein. Fandorin sagte kein Wort und mühte sich, Karatschenzew nicht anzuschauen. Er konnte sich vorstellen, wie sehr der an seiner Niederlage zu knabbern hatte, zumal es einer noch unangenehmeren und alarmierenden Tatsache ins Auge zu sehen galt: Es gab offenbar Dinge, die die Obrigkeit nicht dem Moskauer Polizeipräsidenten anvertraute, sondern lieber seinem ewigen Widersacher, dem Geheimdienstchef der Gouverneurskanzlei.

Sie begaben sich in den ersten Stock, wo die Amtszimmer lagen. Fandorin fragte den diensthabenden Wachmann, ob Herr Churtinski an seinem Platz sei. Er war es, seit dem Morgen schon.

Karatschenzew, frischen Mut fassend, beschleunigte seinen Schritt noch mehr. Wie eine Kanonenkugel schoß er den Korridor entlang - mit blitzenden Sporen und klappernden Achselschnüren.

Das Vorzimmer des Geheimdienstchefs war voller Wartender.

»Ist er da?« fragte der General den Sekretär barsch.

»Jawohl, Euer Exzellenz, doch er möchte keinesfalls gestört werden. Darf ich Sie anmelden?«

Der Polizeipräsident winkte ab. Er sah sich nach Fandorin um, schmunzelte in seinen buschigen Schnurrbart und öffnete die Tür.

Zuerst meinte Fandorin Pjotr Churtinski auf dem Fensterbrett stehen und auf die Straße hinunterspähen zu sehen. Aber im nächsten Moment war ihm klar, daß Churtinski nicht stand, sondern hing.

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ELFTES KAPITEL, in welchem der Fall eine unerwartete Wendung nimmt

Zum dritten Mal nun schon las Fürst Dolgorukoi mit gefurchter Stirn die in vertrauter Handschrift hingeworfenen Zeilen:

Ich, Pjotr Churtinski, bekenne, aus Habgier ein Verbrechen gegen meine Pflicht und Schuldigkeit sowie Verrat an demjenigen begangen zu haben, dem treu zu dienen und in seinem anspruchsvollen Werk allmöglichst behilflich zu sein ich geschworen habe. Gott ist mein Richter.

Die Zeilen waren schief, ineinandergekeilt, und die letzte endete ganz und gar in einem Klecks, so als hätte der Schreibende sich zuletzt in einem Übermaß an Reue erschöpft. »Also, was hat der Sekretär ausgesagt?« fragte der Gouverneur. Er sprach langsam. »Erzählen Sie's noch einmal, mein bester Karatschenzew, und in aller Ausführlichkeit, wenn ich bitten darf.«

So berichtete Karatschenzew zum zweiten Mal, nun schon ruhiger und zusammenhängender als beim ersten, was bislang zu erfahren gewesen war.

»Churtinski ist um zehn Uhr zum Dienst erschienen wie gewöhnlich. Er wirkte normal, dem Sekretär sind keine Anzeichen von Verstörung oder Erregung aufgefallen. Nach Durchsicht der Korrespondenz begann Churtinski mit der Sprechstunde. Etwa fünf Minuten vor elf erschien im Sekretariat ein Gendarmerieoffizier, der sich als Hauptmann Pewzow vorstellte und in Eigenschaft eines Petersburger Kuriers 94

in dringender Angelegenheit zum Hofrat vorgelassen zu werden wünschte. Im Arm hielt der Hauptmann ein braunes Portefeuille, das in seiner Beschreibung dem gestohlenen exakt entspricht. Pewzow wurde sogleich ins Kabinett beordert, die Sprechstunde hierfür unterbrochen. Bald darauf erschien Churtinski in der Tür, wies an, bis auf weiteres niemanden mehr einzulassen, verbat sich überhaupt jede Störung. Nach Aussage des Sekretärs wirkte sein Vorgesetzter hierbei überaus erregt. Zehn Minuten später entfernte sich der Hauptmann, nachdem er erklärt hatte, der Herr Hofrat sei beschäftigt und untersage strengstens jedwede Inanspruchnahme, da es Geheimdokumente zu studieren gebe. Eine weitere Viertelstunde später, um elf Uhr zwanzig, erschienen Kollegienassessor Fandorin und ich.«

»Was sagt der Arzt? Kann es Mord gewesen sein?«

»Er sagt, alle Anzeichen sprächen für eine Autostrangulation. Churtinski hat sich die Kordel vom Schließhaken des Oberfensters um den Hals geschlungen und ist vom Fensterbrett gesprungen. Halswirbelbruch in charakteristischer Form. Auch der Abschiedsbrief läßt, wie Sie sehen, keine Zweifel zu. Eine Fälschung ist ausgeschlossen.« Der Generalgouverneur bekreuzigte sich und wurde tiefsinnig.

»>Und er warf die Silberlinge in den Tempel, hob sich davon, ging hin und erhängte sich selbst ...< Des Frevlers Schicksal ist einem gerechteren Richter in die Hände gelegt, als Sie und ich es sind, meine Herren.«

Fandorin konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als käme der Ausgang der Geschichte dem Fürsten nur zu gelegen. Dafür schien der Polizeipräsident deutlich verdrossen: Eben noch hatte er das kostbare Fädchen in der Hand 95

gehalten, das ihn zum goldenen Knäuel hinzuführen versprach, nun war es schon wieder abgerissen.

Den Kollegienassessor hinwiederum scherten im Moment weder Staatsgeheimnisse noch zwischenbehördliche Intrigen, ihn beschäftigte der geheimnisvolle Hauptmann Pewzow. Daß dieser Mann es gewesen war, der vierzig Minuten, bevor er in Churtinskis Vorzimmer auftauchte, dem armen Masa die Sobolewsche Million abgeluchst hatte, ließ sich kaum bezweifeln. Vom Gendarmerieamt war der Polizeihauptmann (oder auch nur einer, der sich die blaue Hauptmannsuniform übergezogen hatte, wie Fandorin anzunehmen geneigt war) auf kürzestem Wege in die Gouverneurskanzlei herübergekommen. Der Sekretär hier hatte ihn sich gründlicher angesehen als der Adjutant des Polizeipräsidenten, und er beschrieb ihn so: etwa zwei Arschin, sieben Werschok groß, breitschultrig, strohblond. Besonderes Kennzeichen: sehr helle, beinahe farblose Augen. Von diesem Detail bekam Fandorin eine Gänsehaut. In seiner Jugend hatte er mit einem Mann, der genau solche Augen hatte, Bekanntschaft schließen müssen, und Fandorin erinnerte sich ungern jener weit zurückliegenden Geschichte, die ihn damals teuer zu stehen gekommen war. Im übrigen hatte die schmerzliche Erinnerung nichts mit dem anliegenden Fall zu schaffen, und er scheuchte den düsteren Schatten von sich.

Seine Fragen ordneten sich wie folgt: War dieser Mann tatsächlich ein Gendarm? Wenn ja (und erst recht, wenn nicht), was spielte er für eine Rolle im Fall Sobolew? Und vor allem: Woher wußte er so teuflisch gut Bescheid, wie konnte er so wundersam allgegenwärtig sein?

Zur gleichen Zeit formulierte auch der Generalgouverneur die ihn interessierenden Fragen. Allerdings klangen sie etwas anders.

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»Wie machen wir weiter, meine Herren Detektive? Was sollen wir nach oben berichten? Ist Sobolew ermordet worden oder eines natürlichen Todes gestorben? Was hat Churtinski vor unserer, das heißt, Ihrer Nase, General, tatsächlich getrieben? Wohin ist die Million verschwunden? Und wer ist dieser Pewzow? Was haben Sie zu alledem zu sagen, Euer Exzellenz, unser aller Beschützer?«

In der aufgesetzten Gutmütigkeit des Fürsten schwang ein bedrohlicher Unterton.

Der General, in großer Erregung, wischte sich mit dem Taschentuch die schweißige Stirn. »In meinem Amt gibt es keinen Pewzow. Denkbar wäre es, daß er tatsächlich von Petersburg angereist ist und direkt, unter Umgehung des Dienstweges, mit Churtinski zu verhandeln hatte. Ich mutmaße das Folgende.«

Nervös zupfte Karatschenzew sich am Backenbart.

»Churtinski hatte gewisse konfidentielle Aufgaben höhererseits zu erfüllen, von denen Sie und ich« - der Polizeipräsident schluckte - »keine Kenntnis hatten. Dazu gehörte offenbar auch die Betreuung des Generals Sobolew während seiner Visite in Moskau. Wozu das nötig gewesen sein soll, weiß ich nicht. Von irgendwoher muß Churtinski erfahren haben,

daß Sobolew eine beträchtliche Summe Geld bei sich führte, von der auch sein Gefolge nichts wußte. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag wurde Churtinski über Sobo-lews plötzlichen Tod im >Anglija< informiert - vermutlich durch die Agenten, die den General beschatteten. Ja, und dann ... Wie wir wissen, war der Hofrat in seiner Habgier unersättlich und in seinen Mitteln nicht wählerisch. Er erlag der Versuchung, den Batzen Geld an sich zu reißen, und schickte seinen Spießgesellen, einen veritablen Geldschrankknacker, genannt: Kleiner Mischa, den Tresor zu öffnen und 96

das Portefeuille zu entwenden. Doch das von Churtinski eingefädelte Spielchen durchkreuzte Hauptmann Pewzow, der allem Anschein nach abgestellt war, die Beschatter zu beschatten - das kommt in unserer Behörde nicht selten vor. Pewzow fing das Portefeuille ab und erschien damit vor Churtinski, um ihn des Diebstahls und der Doppelzüngigkeit zu bezichtigen. Nach Abgang des Hauptmanns begriff der Hofrat, daß er ausgespielt hatte, schrieb seinen Abschiedsbrief und erhängte sich ... Das ist die einzige Erklärung, die mir in den Kopf will.«

»Doch. Das klingt schlüssig«, gab Dolgorukoi zu. »Welche Maßnahmen schlagen Sie vor?« »Als erstes lassen wir uns aus Petersburg Auskunft betreffs Person und Vollmachten des Hauptmanns Pewzow geben. Währenddessen können Fandorin und ich die Papiere des Selbstmörders sichten. Ich nehme mir den Inhalt des Tresors vor, und Herr Fandorin studiert Churtinskis Journal.«

Der Kollegienassessor mußte in sich hineinlächeln: geschickt, wie der General die Beute zu teilen beabsichtigte. Der eine bekam den ganzen Tresorinhalt ab, der andere ein gewöhnliches, offen auf dem Tisch des Verstorbenen liegendes dienstliches Notizbuch. Dolgorukoi trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch herum, ordnete mit routinierter Bewegung die etwas verrutschte Perücke.

»Ich darf Ihre Schlußfolgerungen so verstehen, Karatschenzew, daß Sobolew nicht ermordet, sondern eines natürlichen Todes gestorben ist. Daß Churtinski ein Opfer seiner eigenen Habgier wurde. Und daß Pewzow ein Petersburger ist. Teilen Sie diese Auffassungen, Fandorin?«

»Nein«, kam die knappe Antwort.

»Aha. Ist ja interessant!« Der Gouverneur lebte auf. »Dannbin ich sehr gespannt, was Sie sich zurechtklamüsert haben - so mit Punkt eins, Punkt zwei, Punkt drei, wie ich Sie kenne.«

»Zu Diensten, Durchlaucht.« Wohl nur um des Effektes willen zögerte der junge Mann einen Moment, bevor er unbeirrbar seine Ausführungen begann.

»Einiges spricht dafür, daß General Sobolew an einer Geheimaktion teilhatte, über deren Inhalt wir vorläufig nichts wissen. Zum Beispiel die diskret beschaffte riesige Geldsumme - Punkt eins. Die im Hoteltresor verwahrten Geheimpapiere, die die Gefolgschaft des Generals den Behörden vorenthalten zu müssen meint - Punkt zwei. Die Tatsache, daß Sobolew observiert wurde - denn ich denke, hierin hat General Karatschenzew recht - Punkt drei.«

Die Aussage von Fräulein Golowina - Punkt vier! fügte Fandorin im stillen hinzu. Wobei er die Minsker Lehrerin nicht unnötig in die Ermittlungen hineinziehen mochte.

»Endgültige Schlüsse zu ziehen, halte ich für verfrüht, doch erdreiste ich mich zu ein paar Vermutungen. Sobolew ist ermordet worden. Und zwar auf hinterhältige Weise, die einen natürlichen Tod vortäuschte. Churtinski fiel seiner Habsucht zum Opfer, verlor durch seine unangefochtene Stellung den Boden unter den Füßen - auch in diesem Punkt stimme ich Ihnen, Herr General, vollkommen zu. Doch der eigentliche Übeltäter, der Hauptdrahtzieher hinter den Kulissen, scheint mir jener zu sein, den wir als Hauptmann Pewzow kennengelernt haben. Dieser Mann hat Churtinski, dem hartgesottenen Schelm und Gauner, einen Todesschreck eingejagt. Er ist im Besitz des Portefeuilles. Pewzow weiß alles, und ihm gelingt alles. Eine übernatürlich anmutende Intuition, die mir gar nicht gefällt. Diesen blonden Mann mit den hellen Augen, der zweimal in Hauptmannsuniform gesehen wurde, müssen wir auftreiben - koste es, was es wolle.«

Der Polizeipräsident rieb sich müde die Augenlider.

»Es könnte durchaus sein, daß Herr Fandorin recht hat und ich mich irre. In Fragen der deduktiven Analyse ist der Herr Kollegienassessor mir weit überlegen.«

Ächzend kam der Fürst hinter seinem Schreibtisch hervor, trat zum Fenster und schaute gute fünf Minuten dem Strom der Equipagen auf der Twerskaja zu. Dann drehte er sich um und sagte in einem dienstlichen Ton, den man von ihm nicht kannte: »Ich werde nach oben Rapport erstatten. Als verschlüsselte Depesche, gleich nachher. Sobald ich Antwort habe, rufe ich Sie. Bleiben Sie erreichbar, halten Sie sich zur Verfügung. Wo finde ich Sie, General?«

»In meiner Kanzlei. Ich werde ein bißchen in Churtinskis Papieren stöbern.«

»Und ich bin im >Dusseaux<«, gab Fandorin kund. »Ich kann mich, ehrlich gesagt, kaum mehr auf den Beinen halten. Seit achtundvierzig Stunden habe ich so gut wie nicht geschlafen.«

»Gehen Sie, mein Lieber, legen Sie sich ein Stündchen aufs Ohr. Und bringen Sie endlich Ihr Äußeres in Ordnung! Ich schicke nach Ihnen, wenn ich Sie brauche.«

Zu schlafen hatte Fandorin zwar nicht vor, aber Erfrischung tat not: Ein Eisbad und anschließend eine gute Massage, das würde ihm guttun. Nein, wer mochte an Schlafen denken, wenn sich derlei Geschichten abspielten! Da tat doch keiner ein Auge zu! Fandorin öffnete die Tür zu seinem Hotelzimmer und prallte zurück - denn Masa fiel ihm zu Füßen, preßte den verbundenen Kopf gegen den Boden und stammelte: »Oh, es ist unverzeihlich, Herr, unverzeihlich, unverzeihlich ... Nicht genug, daß ich Euren Onjin nicht behütet habe und die wichtige Ledermappe nicht verteidigt. Nein, das ist noch nicht alles! Ich konnte die Schmach nicht ertragen, wollte Hand an mich legen und habe es gewagt, Euer Schwert zu gebrauchen. Dabei ist es zerbrochen! Noch eine Sünde, noch ein gräßliches Verbrechen!«

Auf dem Tisch lag der Paradedegen - mittendurch gebrochen. «

Fandorin hockte sich neben den leidgeplagten Japaner und strich ihm behutsam über den Kopf. Noch durch das Handtuch war die Riesenbeule zu ertasten.

»Masa, dich trifft überhaupt keine Schuld. Sansei Gruschin habe allein ich auf dem Gewissen, was ich mir nie verzeihen werde. Für das Portefeuille kannst du auch nichts. Weder warst du feige, noch hast du Schwäche gezeigt. Das hier ist ein anderes Leben, hier herrschen andere Regeln, als du es gewöhnt bist. Und der Degen war Talmi - eine Stricknadel, mit der sich keiner etwas antun kann. Wir kaufen einen neuen, kostet fünfzig Rubel, und fertig. War ja kein Familienstück!«

Masa richtete sich auf, Tränen liefen ihm über das verzerrte Gesicht.

»Trotzdem, Herr, ich bestehe darauf. Ich kann nicht einfach so weiterleben, nachdem ich Euch so schmählich enttäuscht habe. Ich fordere eine Bestrafung.«

»Na gut«, seufzte Fandorin. »Du lernst die nächsten zehn Seiten im Wörterbuch auswendig.«

»Zwanzig!«

»Von mir aus. Aber nicht gleich. Erst, wenn der Kopf wieder heil ist. Und jetzt wirst du mir ein Eisbad bereiten, hörst du?«

Während Masa mit dem leeren Eimer hinausstürzte, setzte Fandorin sich an den Tisch und schlug Churtinskis Journal auf. Es war kein übliches Notizbuch, sondern ein englisches, von der Sorte der schedule-books: eine Art Kalender, worin jedem einzelnen Tag des Jahres eine extra Seite zugewiesen war. Fandorin hatte so etwas schon früher gesehen - ein praktisches Ding. Er begann zu blättern, ohne viel Hoffnung, auf etwas von Bedeutung zu stoßen. Was irgend wichtig und vertraulich gewesen war, hatte der Hofrat selbstverständlich in den Tresor gesperrt, während das Büchlein lediglich als Gedächtnisstütze diente: Termine für Sitzungen, Audienzen und Berichte standen vermerkt. Namen waren oft auf ein oder zwei Buchstaben abgekürzt. All dies verstand man nicht so ohne weiteres. Beim Datum 4 July, Tuesday (das war in Rußland, rechnete Fandorin, der 22. Juni) blieb der Detektiv hängen, da ein seltsam in die Länge gezogener Tintenklecks den Blick auf sich zog. Bis hierhin hatte es in dem Buch keinen einzigen Klecks, nicht einmal eine Streichung gegeben - Churtinski schien ein Mann von außerordentlicher Akkuratesse gewesen zu sein. Außerdem war die Form des Kleckses auffällig: als wäre die Tinte nicht von der Feder getropft, sondern mit Absicht verschmiert worden. Fandorin hielt das Blatt ins Licht. Es war nichts zu erkennen. Er tastete mit der Fingerspitze über das Papier. Doch, etwas hatte dort gestanden. Der Tote hatte eine Stahlfeder benutzt, beim Schreiben stark aufgedrückt. Entziffern ließ sich allerdings nichts.

Masa brachte den Eimer mit dem Eis, ließ es in die Wanne prasseln. Derweil holte Fandorin seinen Werkzeugkoffer und entnahm ihm das Instrumentarium, das er benötigte. Er wandte die Seite mit dem Klecks um, legte auf die Rückseite ein hauchdünnes Blatt Reispapier und fuhr ein paarmal mit 98

einer kleinen Gummiwalze darüber. Das Papier war präpariert, mit einer speziellen Lösung getränkt, die auf feinste Unebenheiten reagierte. Mit vor Ungeduld zitternden Fingern zog Fandorin das Blatt ab. Auf mattem Hintergrund zeichneten sich schwach, doch unzweideutig Buchstaben ab: Metropol NQ 19, Klonow.

Der Eintrag stammte vom 22. Juni. Was hatte es an diesem Tag sonst noch gegeben? Der Oberkommandierende des 4. Korps, Infanteriegeneral Sobolew, hatte seine Manöver abgeschlossen und Urlaub eingereicht. Im Hotel »Metropol«, Zimmer N- 19, schien ein Herr Klonow gewohnt zu haben. Existierte zwischen beidem ein Zusammenhang? Vermutlich nicht. Aber was hatte Churtinski bewogen, Name und Adresse zu tilgen? Das hätte man gern gewußt.

Fandorin entkleidete sich und stieg in die Wanne. Wie immer zwang das Bad zur Konzentration aller körperlichen und geistigen Kräfte, ließ nebensächliche Gedanken nicht zu. Fandorin tauchte kopfunter und zählte bis einhundertzwanzig, dann tauchte er auf, öffnete die Augen - und lief puterrot an. Denn auf der Schwelle des Badezimmers stand wie

versteinert die Gräfin Mirabeau, morganatische Gemahlin Seiner Hoheit, des Herzogs Jewgeni Lichtenburgski - auch sie in flammender Röte.

»Monsieur Fandorin, ich bitte um Verzeihung«, stammelte sie auf französisch. »Ihr Diener ließ mich ein und wies auf diese Tür. Ich nahm an, hier sei Ihr Arbeitszimmer ...«

Nach der alten Anstandsregel, bei Eintreten einer Dame nicht sitzenzubleiben, war der von Panik erfaßte junge Mann instinktiv auf die Beine gesprungen, um im nächsten Moment, in noch viel größerer Panik, ins Wasser zurückzuplumpsen. Glühend vor Scham stürzte die Gräfin zur Tür hinaus.

»Masa!« brüllte Fandorin mit Stentorstimme. »Masa!!!« Der Schuft und Missetäter kam geeilt, den Bademantel auf den Armen, und verneigte sich. »Was ist gefällig, Herr?«

»Was gefällig ist?« brüllte Fandorin. Die Entrüstung ließ ihn aus der Haut fahren. »Daß du dir jetzt den Bauch aufschlitzt! Aber nicht mit der Stricknadel, sondern mit dem Reisstäbchen. Wie oft hab ich dir hirnlosem Dachs schon erklärt, daß das Badezimmer in Europa eine intime Räumlichkeit ist! Mich bringst du in die peinlichste Situation, und die Dame kommt um vor Scham!« Ins Russische wechselnd, rief der Detektiv: »Gräfin, ich bitte sehr um Entschuldigung! Machen Sie es sich bequem, ich bin gleich soweit!« Und wieder auf japanisch: »Hemd, Rock und Hose her, elender Tölpel!«

Als Fandorin ins Zimmer kam, war er vollständig angezogen und tadellos gekämmt, nur die Schamröte war noch nicht verflogen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er seinem Gast nach dem skandalösen Vorfall noch in die Augen sehen sollte. Doch entgegen den Erwartungen hatte die Gräfin sich gänzlich beruhigt; neugierig betrachtete sie die an den Wänden hängenden japanischen Kupferstiche. Ganz kurz nur, da sie den verstörten Kriminalbeamten nun anblickte, flackerte in ihren blauen Sobolew-Augen ein kleines Lächeln auf, das jedoch umgehend von einer ernsthaften Miene verdrängt wurde.

»Herr Fandorin, ich erkühne mich, zu Ihnen zu kommen, da Sie als ein alter Freund von Michele damit befaßt sind, die Umstände seines Todes aufzuklären. Mein Mann ist gestern mit dem Großfürsten weggefahren. Irgendwelche dringenden Geschäfte. Während ich den Leichnam meines Bruders auf unser Gut überführen und beerdigen werde.«

Die Gräfin stockte, schien unsicher, ob sie weiterreden sollte. Doch entschlossen, als gälte es, ins tiefe Wasser zu springen, fuhr sie nun fort: »Mein Mann ist ohne Gepäck gefahren. Und in der Tasche eines seiner Gehröcke hat der Diener das hier gefunden. Eugene ist nun einmal sehr zerstreut!«

Die Gräfin reichte Fandorin einen gefalteten Zettel, wobei ihm auffiel, daß noch irgendein Papierchen in ihrer Hand steckte. Auf dem Briefbogen des 4. Armeekorps stand in Sobolews schwungvoller Handschrift auf französisch das Folgende zu lesen: Eugene, zur letzten Verständigung in Dir bekannter Angelegenheit sei am 25. früh in Moskau. Die Zeit ist reif. Ich steige im »Dusseaux« ab. Sei innigst umarmt. Dein Michele.

Eine Erklärung erwartend, sah Fandorin die Besucherin an.

»Es ist sehr eigenartig«, begann sie, seltsamerweise im Flüsterton. »Mein Mann hat mir nicht gesagt, daß er sich in Moskau mit Michele zu treffen beabsichtigte. Ich wußte überhaupt nicht, daß mein Bruder in Moskau sein würde. Eugene hatte bloß gemeint, wir hätten irgendwelche Visiten zu machen und würden dann nach St. Petersburg zurückkehren.« »Das ist in der Tat seltsam«, stimmte Fandorin zu. Er hatte aus dem Stempel ersehen, daß die Depesche dem Kurier in Minsk schon am 16. übergeben worden war. »Aber warum wollen Sie Seine Hoheit nicht selbst danach fragen?«

Die Gräfin biß sich auf die Lippe und hielt ihm den anderen Zettel hin.

»Weil Eugene auch das hier vor mir verheimlicht hat.«

»Was ist das?«

»Eine Nachricht von Michele an mich. Sie muß der Depesche beigelegen haben. Aus irgendeinem Grund hat Eugene sie mir nicht gegeben.«

Fandorin nahm das Papier zur Hand. Man sah, daß es in Eile geschrieben war.

Liebe Sissi, komm bitte unbedingt mit Eugene nach Moskau. Es ist sehr wichtig. Ich kann es dir jetzt nicht erklären, doch es könnte sein, daß wir uns lange nicht mehr Wiedersehen.

Im hinteren Teil des letzten Satzes war etwas durchgestrichen. Fandorin ging zum Fenster und legte den Zettel an die Scheibe, um es besser zu erkennen.

»Geben Sie sich keine Mühe, ich weiß schon, was da steht«, sagte Gräfin Sinaida hinter seinem Rücken mit bebender Stimme. »Da steht: >... daß wir uns zum letzten Male sehen. <« Fandorin raufte sich die eben erst gekämmten nassen Haare. Sobolew hatte also gewußt, daß ihm Gefahr drohte? Und der Herzog auch? Sieh einer an ... Er wandte sich nach der Gräfin um.

»Vorerst kann ich Ihnen dazu gar nichts sagen, Madame, doch ich werde aufdecken, wie alles zusammenhängt, das verspreche ich Ihnen!«

Und da er die Bestürzung im Blick der Gräfin gewahrte, fügte er hinzu: »Selbstverständlich in aller Diskretion.«

Als die Gräfin gegangen war, setzte sich Fandorin an den Tisch und begann wie üblich, wenn er sich konzentrieren wollte, mit einer kalligraphischen Übung: Er malte die Hieroglyphe »Ruhe«. Doch beim dritten Versuch - bis zur Vollkommenheit war es noch weit - klopfte es erneut. Nachdrücklich, ungestüm.

Mit einem erschrockenen Blick auf seinen Exerzitien abhaltenden Herrn schlich Masa auf Zehenspitzen zur Tür und öffnete.

Draußen stand Jekaterina Golowina, das Goldköpfchen, Achilles' Geliebte. Wutentbrannt, was ihre Schönheit noch unterstrich.

»Sie waren einfach weg!« schleuderte sie Fandorin anstelle eines Grußes entgegen. »Ich warte, werde vor Ungewißheit fast wahnsinnig. Wie sind Ihre Ergebnisse? Ich habe Ihnen wertvolle Informationen geliefert, und Sie sitzen hier und malen! Ich verlange eine Erklärung! Ich ... «

»Wenn einer Erklärungen zu verlangen hat, dann bin ich es, Verehrteste!« schnitt Kollegienassessor Fandorin ihr barsch das Wort ab. »Ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen.« Er nahm die unverhoffte Besucherin beim Arm, geleitete sie zum Sessel und zog sich einen Stuhl heran.

»Sie haben mir einiges verschwiegen, meine Dame. Was plante Sobolew? Warum fürchtete er um sein Leben? Was war der heikle P-... Punkt seiner Reise? Wozu mußte er das viele Geld mitnehmen? Wozu überhaupt die ganze Geheimniskrämerei? Ja, und wieso haben Sie sich mit ihm zerstritten? Soll ich Ihnen sagen, Frau Golowina, was passiert ist, weil Sie mir nur die Hälfte erzählen wollten und ich die Situation darum falsch eingeschätzt habe? Ein

Mensch ist zu T-... Tode gekommen, ein herzensguter Mensch. Und ein paar weniger gute dazu, die ja doch auch eine Seele hatten.«

Die Golowina ließ den Kopf hängen. Ein ganzes Spektrum heftiger und einander widerstreitender Gefühle spiegelte sich auf ihrem hübschen Gesicht. Sje begann mit einem Eingeständnis.

»Es stimmt, ich habe Ihnen weisgemacht, ich hätte Micheles Beweggründe nicht gekannt. Er war der Meinung, Rußland sei vom Tode bedroht, und er wollte es retten. In der letzten Zeit redete er von nichts anderem als von Konstantinopel, von der deutschen Bedrohung, Großrußland ... Und bei unserem letzten Treffen vor einem Monat sprach er plötzlich von Bonaparte und fragte mich, ob ich nicht seine Josephine werden wolle. Ich war entsetzt. Wir waren schon immer unterschiedlicher Ansicht gewesen. Er glaubte an die historische Mission des Slawentums und an einen besonderen russischen Weg, wogegen ich meinte und immer noch meine, daß Rußland Kultur und eine Verfassung nötiger hat als die Dardanellen.«

Jekaterina Golowina bekam Schwierigkeiten mit ihrer Stimme und schwang gereizt die Faust, als könnte sie damit den Frosch im Hals besiegen.

»Als er mir mit Josephine kam, erschrak ich. Weil ich sah, daß Michele wie eine furchtlose Motte in dem lodernden Feuer verbrennen würde, in das ihn sein Ehrgeiz trieb. Noch mehr schreckte mich der Gedanke, er könnte sein Ziel erreichen. Er hatte das Zeug dazu. Zielstrebig, stark und erfolgsgewohnt, wie er war ... War! Ich meine, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, das Schicksal von Millionen zu besiegeln - wer weiß, was aus ihm geworden wäre? Ich mag nicht daran denken. Er wäre nicht mehr Michele gewesen, sondern ein ganz anderer.«

»Und darum haben Sie ihn denunziert?« fragte Fandorin scharf.

Die Golowina prallte erschrocken zurück.

»Wie können Sie so etwas glauben? Nein, ich habe nur gesagt: Du kannst wählen - zwischen mir und deiner Mission. Und ich wußte, wie die Antwort sein würde.«

Sie wischte sich wütend die Tränen.

»Ich konnte doch nicht ahnen, daß das Ganze in solch einer widerlichen und gemeinen Farce enden würde. Der künftige Bonaparte - wegen eines Bündels Banknoten ermordet! >Daß die Stolzen zuschanden würden< - genau wie es in der Bibel steht.«

Sie wedelte mit den Armen - Schluß! hieß das, ich kann nicht mehr! - und brach in Tränen aus.

Fandorin wartete, bis der Weinkrampf seinen Höhepunkt überschritten hatte, und sagte leise: »Ich vermute, es ging gar nicht um das Bündel Banknoten.«

»Worum denn sonst?« schluchzte die junge Frau. »Er ist doch ermordet worden, oder nicht? Ich glaube ja immer noch, daß Sie eines Tages bis zur Wahrheit vorstoßen werden. Schwören Sie, daß Sie mir dann alles erzählen werden! Alles, wie es wirklich war!« Verlegen wandte sich Fandorin ab. Frauen sind doch unvergleichlich bessere Geschöpfe als die Männer! dachte er. Aufrichtiger, ergebener, konsequenter. Vorausgesetzt natürlich, daß sie wirklich lieben.

»Ja doch, gewiß!« murmelte er und wußte genau, daß er der Golowina nie und nimmer die ganze Wahrheit über den Tod ihres Geliebten zumuten würde.

An dieser Stelle mußte das Gespräch beendet werden, denn ein Bote des Generalgouverneurs kam Fandorin abholen.

»Hat sich im Tresor etwas angefunden, Euer Exzellenz?« fragte der Kollegienassessor den General. »Irgendwelche interessanten Dinge?«

»Massenweise!« Der Polizeipräsident zeigte eine zufriedene Miene. »Es ist viel Licht in die dunklen Machenschaften des Toten gekommen. Die Aufschlüsselung der Transaktionen wird noch etwas knifflig werden. Unser Bienchen hat an vielen Blüten Honig gesammelt, nicht nur mit Hilfe des Kleinen Mischa. Und was ist bei Ihnen herausgekommen?«

»So dies und das«, erklärte Fandorin bescheiden.

Die Unterhaltung begab sich im Arbeitszimmer des Generalgouverneurs. Dieser ließ auf sich warten - nach Auskunft des Sekretärs saß er noch beim Mittagessen.

Endlich erschien Dolgorukoi. Mit einem sonderbar amtlichen Gesichtsausdruck setzte er sich, hüstelte offiziell.

»Meine Herren, Petersburg hat auf meinen ausführlichen Rapport hin zurücktelegrafiert. Postwendend, woraus zu ersehen ist, für wie wichtig die Angelegenheit erachtet wird. Mich dürfen Sie hierbei nur als übermittelnde Instanz ansehen. Graf Tolstow schreibt das Folgende: Geehrter Herr Wladimir Andrejewitsch, bezugnehmend auf Ihre Depesche gebe ich Ihnen zur Kenntnis, daß Hauptmann Pewzow sehr wohl dem Gendarmeriekorps zugehörig und derzeit in besonderem Auftrag nach Moskau beordert ist. Vornehmlich hat er Order zur diskreten Sicherstellung eines Portefeuilles, welches mutmaßlich Dokumente von staatswichtiger Bedeutung enthält. Die Ermittlungen im Todesfall des Generaladjutanten Michail Sobolew sind als abgeschlossen zu betrachten, ein entsprechendes Dekret geht General Karatschenzew in Bälde zu. Der Sonderbeauftragte Fandorin ist wegen Eigenmächtigkeit - Hinzuziehung einer Privatperson in eine Geheimermittlung mit Todesfolge betreffender Person - auf Geheiß Seiner Kaiserlichen Hoheit vom Dienst zu suspendieren und bis auf weitere Verfügung unter Hausarrest zu stellen. DmitriA. Tolstow, Innenminister.

Der Fürst hob bekümmert die Arme und sagte zu Fandorin, der sichtlich wie vom Schlag getroffen war: »So sieht's aus, mein Lieber. Eine überraschende Wendung. Aber der Chef muß es wissen.«

Fandorin war blaß geworden und langsam aufgestanden. Von der Strafe des Monarchen, die nicht eigentlich streng, nein, die nur gerecht zu nennen war, wurde ihm kalt ums Herz. Am ärgsten aber war, daß seine mit Aplomb vorgetragene Version sich so schmählich zerschlagen hatte. Einen geheimen Regierungsagenten für den Haupttäter zu halten! Welch ein Fauxpas!

»Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Sie jetzt ins Hotel entlasse, während der General und ich noch ein wenig weiterberaten. Ruhen Sie sich aus. Und lassen Sie den Mut nicht sinken!« sagte Dolgorukoi mitfühlend. »Sie sind mir ans Herz gewachsen, ich werde mich in Petersburg für Sie verwenden.«

Zerknirscht begab der Kollegienassessor sich zur Tür. Als er sie fast erreicht hatte, rief Karatschenzew ihn zurück.

»Was war es denn, was Sie in dem Notizbuch entdeckt haben?« fragte er und zwinkerte dabei verstohlen: Halb so schlimm, da wächst Gras drüber! schien er sagen zu wollen. Fandorin zögerte, ehe er zur Antwort gab: »Nichts von Belang, Euer Exzellenz.«

Im Hotel angekommen, verkündete Fandorin noch in der Tür:

»Masa, ich bin in Unehren entlassen und unter Hausarrest gestellt. Gruschins Tod ist meine Schuld - Punkt eins. Mir fällt dazu nichts mehr ein - Punkt zwei. Das Leben ist zu Ende - Punkt drei.«

Fandorin wankte zum Bett, fiel, ohne die Kleider abzulegen, hinein und war sogleich eingeschlafen.


ZWÖLFTES KAPITEL, in welchem die Falle zuschnappt

Das erste, was Fandorin sah, als er die Augen aufschlug, war ein rosa Sonnenuntergang, der den Rahmen des Fensters vollständig ausfüllte. Auf dem Fußboden vor dem Bett saß, die Hände feierlich auf den Knien liegend, sein Diener Masa im schwarzen Paradekimono, mit einem frischen Verband um den Kopf, und hatte ein strenges Gesicht aufgesetzt.

»Wozu hast du dich so herausgeputzt?« fragte Fandorin neugierig.

»Ihr sagtet, Herr, Ihr seid in Unehren entlassen, und Euch fällt nichts mehr ein.« »Ja, und?« »Mir ist etwas Gutes eingefallen. Ich habe mir die Sache überlegt und darf Euch einen würdigen Abgang aus der schlimmen Situation vorschlagen, in der wir uns beide befinden. Zu all den Vergehen, die ich mir zuschulden kommen ließ, kam noch hinzu, daß ich gegen die europäische Regel verstieß, die es verbietet, Frauen ins Badezimmer vorzulassen. Daß ich den seltsamen Brauch nicht verstehe, rechtfertigt meinen Fehltritt nicht. Ich habe sage und schreibe sechsundzwanzig Seiten im Wörterbuch auswendig gelernt, vom einfachen Wörtchen Bückling bis zum schwierigen Wort Burgfriedensbruch, aber auch diese harte Probe hat mir die Last nicht von der Seele genommen. Was Euch angeht, mein Herr, so sagtet Ihr selbst: Das Leben ist zu Ende. Darum laßt uns gemeinsam aus diesem Leben gehen, Herr. Ich habe alles vorbereitet. Sogar Tusche und Pinsel für das Abschiedsgedicht.« Fandorin räkelte sich, genoß das wohlige Ziehen in den Gliedern.

»Hör auf damit, Masa«, sagte er, herzhaft gähnend. »Mir fällt etwas Besseres ein. Was duftet da eigentlich so lecker?«

»Ich habe frische Kringel gekauft, das Zweitbeste, was es in Rußland gibt, nach den Frauen«, erwiderte der Diener in wehmütigem Ton. »Die Suppe aus vergorenem Kraut, die hier alle essen, schmeckt grauenvoll, aber Kringel sind eine prima Erfindung. Ich möchte meinem Hara etwas Gutes tun, bevor ich es mit dem Dolch aufschneide.«

»Ach, du Aufschneider!« Der Detektiv drohte seinem Diener mit der Faust. »Her mit den Kringeln, ich habe einen Riesenhunger. Nach dem Essen geht es frisch an die Arbeit.« »Herr Klonow aus?« fragte der Hoteldiener zurück, der sich, wie es hier im »Metropol« merkwürdige Sitte war, mit dem deutschen Wort Kellner ansprechen ließ. »Aber ja doch, natürlich erinnere ich mich an den Herrn Kaufmann. Darf ich annehmen, Mister, daß Sie mit ihm bekannt sind?«

Der idyllische Sonnenuntergang hatte einem kalten Wind und um sich greifender Düsternis Platz machen müssen. Im Nu war der Himmel bezogen, Nieselregen setzte ein, der sich am späteren Abend zu einem Platzregen auszuwachsen drohte. Fandorin hatte beschlossen, den Elementen zu trotzen und sich auf die Wetterkapriolen einzustellen: Er trug eine Schirmmütze mit gewachstem Schild, eine wasserdichte Schwedenjacke aus Glaceleder und Gummigaloschen. Sein Aussehen war denkbar exotisch und erklärte die kuriose Anrede des »Kellners« ohne weiteres. Eine Stunde nach zwölf ist 103 es eins, was man tut! dachte der Detektiv, der seit neuestem ein flüchtiger Arrestant war, und er raunte, über den Tresen gebeugt: »Bekannt durchaus nicht, Verehrtester. Gendarmeriehauptmann Pewzow, sehr erfreut. Es geht um einen brisanten G-... Geheimfall.«

»Ah, verstehe!« flüsterte der »Kellner« zurück. »Augenblick, das haben wir gleich.«

Er blätterte in seinem Anmelderegister.

»Hier ist er. Kaufmann erster Gilde Nikolai Nikolaje-witsch Klonow. Ankunft am 22. morgens aus Rjasan. Abreise in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag.«

»Wie?« rief Fandorin aus. »Vom 24. zum 25.? Noch in der Nacht?«

»Jawohl, mein Herr. Ich war selbst nicht zugegen, aber hier ist der Eintrag, schauen Sie. Die Endabrechnung hat der Nachtdienst vorgenommen, um vier Uhr dreißig.«

Fandorins Herz machte einen Sprung. Ein Fieber ergriff ihn, wie es nur der passionierte Jäger kennt. Betont lässig fragte er nun: »Wie sah er denn aus, der Herr Klonow?«

»Eine achtbare Person, solide Erscheinung. Wie man sich einen Kaufmann erster Gilde vorstellt.«

»Ja, wie denn? So mit Bart und Bauch? Beschreiben Sie sein Äußeres. Gibt es besondere Kennzeichen?«

»Nein, kein Bart, und die Figur ... jedenfalls nicht dick. Kein Großmaul oder Knauser vom alten Schlag, mehr so der moderne Handlungsreisende. Europäisch gekleidet. Und sonst ...« Der Kellner dachte nach. »Eher unauffällig. Von den Haaren her blond. Besondere Kennzeichen ... Vielleicht die Augen. Ganz helle, wie die Balten sie haben.«

Wild vor Eifer, knallte Fandorin die flache Hand auf den Tresen. Volltreffer! Er hatte die Hauptperson im Visier. Dienstag angekommen, zwei Tage vor Sobolew, und abge taucht just zu der Stunde, da die Offiziere den toten General in die ausgeraubte zurückschleppten. Die Spur war heiß, sehr heiß!

»Solide Erscheinung, sagten Sie? Da hat er wohl auch B-... Besuch bekommen, Geschäftspartner und so weiter?«

»Überhaupt nicht. Höchstens, daß ein paar Mal Kurierpost für ihn kam. Es hatte ganz den Anschein, als wäre er nicht geschäftlich hier gewesen, sondern vergnügungshalber.« »Woher der Anschein?«

»Nun ja ... «

Der »Kellner« lächelte verschwörerisch. Das Folgende raunte er in Fandorins Ohr.

»Kaum hier, hat er sich als erstes nach dem weiblichen Geschlecht erkundigt. Wo denn in Moskau die schicken Dämchen zu finden wären und so weiter. Unbedingt blond und schlank, mit schmaler Taille, jaja. Der Herr war äußerst anspruchsvoll im Geschmack.« Fandorin runzelte die Stirn. Jetzt wurde es seltsam. Hauptmann Pewzow und Blondinen, das paßte nicht zusammen.

»Waren Sie derjenige, mit dem er darüber sprach?«

»Nein, nein, das hat mir unser Timofej erzählt. Er war bis vor kurzem bei uns Kellner, hier auf diesem Platz.« In gespielter Bekümmernis rang er sich einen Seufzer ab. »Am Samstag ist Timofej verschieden, Gott hab ihn selig. Morgen wird er begraben.«

»Verschieden, was heißt das?« wagte Fandorin zu fragen. »Woran verschieden?«

»Wie das Leben so spielt. Abends auf dem Heimweg ist er ausgerutscht und mit dem Kopf auf die Steinplatten geschlagen. In einer Passage nicht weit von hier. So schnell kann es gehen. Wir alle sind in Gottes Hand.«

Der Hoteldiener bekreuzigte sich.

»Bis dahin war ich hier nur Gehilfe. Jetzt hab ich die Beförderung. Aber der arme Timofej tut mir leid.«

»Mit ihm hat Klonow also über die Damenwelt gesprochen?« lenkte der Detektiv auf das Thema zurück.

Er spürte es, gleich würde der Schleier sich heben, und der wahre Hergang der Ereignisse würde in seiner ganzen Klarheit und Logik vor ihm stehen.

»Einzelheiten hat Timofej nicht zufällig erzählt?«

»Und ob. Der konnte seine Zunge doch nie im Zaum halten! Sämtliche 1-a-Blondinen aus ganz Moskau mußte er für den Neunzehner anheuern, hat er mir erzählt. Pardon, so nennen wir unter uns die Gäste, nach der Zimmernummer. Und wissen Sie, wer seine Favoritin war? Mademoiselle Wanda aus der >Alpenrose

Für einen Moment mußte Fandorin die Augen schließen. Wer geduldig ist, gewinnt. Endlich hatte er den Faden in der Hand und konnte das Knäuel suchen.

»Sie?«

In einen Spitzenumhang gehüllt, stand Wanda in der Tür und schaute erschrocken auf Fandorin, dessen nasse Lederjacke im Licht der Laterne wie von einem Heiligenschein umgeben schien. Hinter dem Rücken des späten Gastes strömte und rauschte die glasige Wand des Regens, noch dahinter stand die Finsternis. Rinnsale flössen von der Jacke zu Boden.

»Kommen Sie herein, Herr Fandorin, Sie sind ja ganz naß.«

»Was mich wundert, ist, daß Sie noch am Leben sind«, erwiderte Fandorin, statt guten Abend zu sagen.

»Das habe ich Ihnen zu verdanken!« Die schmalen Schultern der Sängerin zuckten. »Bis

heute sehe ich ständig das Messer vor mir, wie es immer näher kommt, auf meinen Hals zu ... Ich kann nachts nicht schlafen deswegen. Singen auch nicht.«

»Dabei meinte ich gar nicht Herrn Knabe, sondern Herrn Klonow.« Bei dieser Entgegnung sah Fandorin Wanda tief in die großen grünen Augen. »Erzählen Sie mir ruhig etwas über diese bemerkenswerte Person.«

Wanda war erstaunt oder tat immerhin so.

»Klonow? Nikolai Klonow? Was hat denn der damit zu tun?«

»Das werden wir gleich klären.«

Sie gingen ins Wohnzimmer und setzten sich. Es brannte nur die mit einem grünen Schal verhüllte Tischlampe, wodurch das Zimmer wie eine Unterwasserwelt wirkte. Das Reich der Meerhexe! dachte Fandorin unwillkürlich, verscheuchte den unwillkommenen Gedanken jedoch sogleich.

»Erzählen Sie mir vom K-k-... Kaufmann erster Gilde Klonow.«

Wanda nahm ihm die nasse Jacke ab und legte sie auf den Boden, ohne sich zu sorgen, ob das ihrem flauschigen Perserteppich bekam.

»Er ist sehr attraktiv«, begann sie in träumerischem Ton, und Fandorin verspürte etwas wie einen Stich von Eifersucht, wozu es freilich keine Berechtigung gab. »Gelassen, selbstbewußt ... Ein guter Mensch, einer von den besten. Ein Mann, wie man ihn selten trifft. Mir zumindest sind solche kaum je untergekommen. Ihnen ähnelt er übrigens ein

bißchen«, fügte sie mit leisem Lächeln hinzu, was Fandorin aus der Fassung brachte: Sie behexte ihn schon wieder. »Aber ich verstehe nicht, wieso Sie sich für ihn interessieren?« »Er ist nicht der, für den er sich ausgibt. Er ist b-... beileibe kein Kaufmann.«

Wanda drehte den Kopf halb zur Seite, ihr Blick bekam etwas Verlorenes.

»Das wundert mich nicht. Ich habe mich daran gewöhnt, daß jeder seine Geheimnisse hat. Nach Möglichkeit mische ich mich in fremde Angelegenheiten nicht ein.«

»Sie sind eine scharfsinnige Frau, Mademoiselle, sonst hätten Sie es in Ihrem ... Beruf nicht so weit gebracht.«

Fandorin geriet ob seiner etwas unglücklichen Formulierung in Verlegenheit.

»Ich frage mich, ob Sie nie gespürt haben, was von dem Mann für eine G-... Gefahr ausgeht?«

Jäh wandte die Sängerin sich ihm wieder zu.

»Doch, doch. Manchmal schon. Aber woher wollen Sie das wissen?«

»Ich habe schwerwiegende Gründe zu der Annahme, daß Klonow ein äußerst gefährlicher Mann ist«, erwiderte Fandorin ausweichend, und dann übergangslos: »War er es eigentlich, der Sie mit Sobolew bekanntgemacht hat?«

»Ach wo!« kam ebenso schnell die Antwort.

Vielleicht etwas zu schnell? Sie schien es gemerkt zu haben und suchte den Eindruck zu korrigieren.

»Jedenfalls hat er mit Sobolews Tod nicht das Geringste zu schaffen, das schwöre ich Ihnen! Alles hat sich genauso zugetragen, wie ich es Ihnen erzählt habe.«

Sie sagte gerade die Wahrheit - oder schien es zumindest zu glauben. Alle Anzeichen - die Modulation der Stimme, die Gesten, die Regungen der Gesichtsmuskeln - sprachen dafür. Es konnte im übrigen sein, daß an Frau Tolle eine vorzügliche Schauspielerin verlorengegangen war.

Fandorin änderte seine Taktik. Besteht der Verdacht, eine zu verhörende Person könnte Aufrichtigkeit vortäuschen, statt aufrichtig zu sein, empfiehlt es sich, eine Anzahl schneller, überraschender, eindeutige Antwort heischender Fragen auf sie niederhageln zu lassen. So lehren es die Meister der Kriminalpsychologie.

»Hat Klonow von Knabe gewußt?«

»Ja. Aber wieso ... «

»Hat er das Portefeuille erwähnt?«

»Was für ein Portefeuille?«

»Und Churtinski?«

»Wer soll das sein?«

»Trägt Klonow eine Waffe bei sich?«

»Ich glaube, ja. Aber das ist ja von Gesetz wegen nicht ver-«

»Treffen Sie sich noch manchmal mit ihm?« »Ja. Das heißt...«

Wanda wurde blaß, biß sich auf die Lippe. Fandorin wußte genau, was immer jetzt folgte, wäre gelogen, und bevor sie damit anfing, sprach er sie auf andere Weise an: betont ernst, eindringlich, geradezu beschwörend.

»Sie müssen mir sagen, wo er steckt. Sollte ich mich irren und er ist nicht der, für den ich ihn halte, wäre es für ihn um so wichtiger, den Verdacht von sich zu weisen. Sollte ich mich aber nicht irren, so ist er ganz anderer Art, als er Ihnen erscheint, ein Unhold. Und wenn ich seine Logik recht verstehe, wird er Sie nicht lebend davonkommen lassen, das ist nicht sein Stil. Daß Sie bis jetzt noch nicht in der Leichenkammer des Polizeireviers gelandet sind, finde ich erstaunlich genug. Ich bitte Sie, verraten Sie mir, wo ich Ihren Klonow finde!«

Sie schwieg.

»Kommen Sie.«

Fandorin ergriff ihre Hand. Die Hand war kalt, doch der Puls ging sehr schnell.

»Einmal habe ich Ihnen schon das Leben gerettet und würde es wieder tun. Ich schwöre Ihnen, wenn er kein Mörder ist, lasse ich ihn ungeschoren.«

Mit geweiteten Pupillen blickte Wanda auf den vor ihr sitzenden jungen Mann. Sie kämpfte mit sich, und Fandorin fiel nicht ein, was er noch in die Waagschale werfen sollte, um diesen Kampf für sich zu entscheiden. Während er noch fieberhaft überlegte, wurde Wandas Blick wieder fest: Ein Gedanke schien die Oberhand gewonnen zu haben, von dem Fandorin nichts wußte.

»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte die Sängerin bestimmt.

Fandorin stand unverzüglich auf und verbeugte sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Wozu auch? Das Wichtigste war: Sie traf sich noch mit ihm. Um zum Ziel zu gelangen, genügte es, eine gründliche Observation in die Wege zu leiten.

Plötzlich blieb der Kollegienassessor stehen - mitten auf der Petrowka und ohne auf den Regen zu achten, der allerdings auch nicht mehr so heftig strömte wie vorhin.

Was denn für eine Observation? Zum Teufel! Er vergaß, daß er unter Hausarrest stand, fromm und brav im Hotel zu sitzen hatte. Er verfügte über keinerlei Gehilfen, und im Alleingang ließ sich eine ordentliche Beschattung nicht bewerkstelligen - fünf, sechs erfahrene Agenten waren das Minimum dafür.

Damit die Gedanken aufhörten, im Kreis zu gehen, klatschte Fandorin acht mal schnell hintereinander laut in die Hände. Die Passanten, versteckt unter ihren Regenschirmen, wichen dem Verrückten aus, um dessen Mund nun ein zufriedenes Lächeln spielte. Er hatte eine originelle Idee.

Im »Dusseaux« angekommen, schritt er durch das weitläufige Vestibül sogleich zum Tresen.

»Hör mal her, mein Lieber«, wandte er sich in Chefmanier an den Portier, »du verbindest mich jetzt mit dem >Anglija< auf der Petrowka und läßt mich dann alleine, ich habe etwas Vertrauliches zu b-b-... besprechen.«

Der Portier, der genügend Gelegenheit gehabt hatte, sich an die Heimlichtuerei des stolzen Beamten aus N- 20 zu gewöhnen, verbeugte sich, fuhr mit dem Finger die an der Wand hängende Liste mit Telefonteilnehmern entlang, fand den richtigen und nahm das Hörrohr ab. Nach einer Weile reichte er es an Fandorin weiter.

»Das >Anglija<, der Herr, bitte schön.«

»Wer ist am Apparat?« hörte Fandorin es vom anderen Ende der Leitung krächzen. Auffordernd blickte Fandorin den Portier an, der sich daraufhin diskret in die entfernteste Ecke des Vestibüls zurückzog.

Nun erst sprach Fandorin, die Lippen an den Sprechtrichter gelegt: »Würden Sie bitte Frau Wanda zum Apparat bitten. Sagen Sie, Herr Klonow möchte sie dringend sprechen. Klonow, jawohl!«

Das Herz des Detektivs klopfte wild. Was ihm da eingefallen war, schien neu und geradezu empörend simpel zu sein. Das Telefonnetz, welches sich bei den Moskauern einer rasant gewachsenen Beliebtheit erfreute, war, bei allem Komfort, noch weit entfernt von technischer Perfektion. Den Sinn des Gesagten mitzubekommen gelang inzwischen zumeist, das Timbre und die Nuancen der menschlichen Stimme jedoch wurden von der Membran immer noch gnadenlos geschluckt. Bestenfalls ließ sich unterscheiden, ob ein Mann oder eine Frau sprach - und selbst das nicht immer. In den Zeitungen hatte gestanden, daß der große Erfinder Mr. Bell an der Konstruktion eines neuen Modells arbeitete,

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das den Klang weit besser reproduzieren sollte. Allein, auch die Unvollkommenheit hat ihre Reize, wie eine alte chinesische Weisheit besagt. Ein Fall, wo sich jemand am Telefon für einen anderen ausgegeben hatte, war Fandorin bislang nicht zu Ohren gekommen. Warum sollte man es nicht probieren?

Im Hörer erklang nun eine jaulende, von Knattern untermalte Stimme, die Wandas getragenem Alt nicht im entferntesten ähnelte: »Kolja, bist du es? Was für ein Glück, daß du mich ausgerechnet jetzt anrufst!«

Kolja? Du? Nanu!

Hastig, ganze Silben verschluckend, rief Wanda: »Kolja, du bist in Gefahr! Eben war ein Mann bei mir, der nach dir sucht!«

»Wer?« fragte Fandorin und hielt den Atem an. Gleich würde sie ihn verraten. Doch Wanda erwiderte ganz ungerührt: »Ein Detektiv. Ein sehr kluger und pfiffiger. Kolja, wenn du wüßtest, wie schrecklich er über dich geredet hat!«

»Alles Quatsch!« gab Fandorin knapp zurück. Konnte es sein, daß die Femme fatale in den Gendarmeriehauptmann erster Gilde ernsthaft verliebt war?

»Ach ja? Ich wußte es! Aber es hat mich trotzdem furchtbar aufgeregt! Kolja, warum telefonierst du mich an? Bleibt es nicht bei unserer Verabredung?«

Fandorin schwieg; ihm fiel nicht gleich ein, was er darauf sagen sollte.

»Was ist denn, treffen wir uns morgen-orgen?«

Ein Echo hallte durch die Leitung, und Fandorin mußte sich das andere Ohr zuhalten, Wandas überstürzte Rede war jetzt nur noch schwer zu verstehen.

»Du hast mir versprochen, nicht abzureisen-eisen, bevor du dich von mir verabschiedet hast! Wehe-ehe! Kolja, sag doch was-as! Fällt das Treffen aus?-aus?«

»Nein.« Fandorin nahm seinen Mut zusammen und formulierte einen längeren Satz. »Ich wollte mich nur vergewissern, ob du alles gut behalten hast.«

»Wie?! Was soll ich behalten haben-aben?«

Anscheinend hatte Wanda genauso Probleme, ihn zu verstehen, und das war ein Glück. »Wann und wo wir uns treffen!«

»Aber ja doch! Um sechs in der >Treue<, Zimmer sieben, Eingang vom Hof-of! ... Erst zweimal, dann dreimal, dann zweimal klopfen-opfen ... Oder geht es vielleicht ein bißchen später als sechs?-echs? ... Ich bin schon ewig nicht mehr so zeitig aufgestanden-anden!« »Na schön«, erdreistete sich Fandorin zu sagen, während er in Gedanken repetierte: sechs, sieben, zweimal, dreimal, zweimal. »Dann eben um sieben. Aber nicht später. Ich hab zu tun.« »Gut, um sieben!« rief Wanda. Echo und Knattern waren mit einem Mal verschwunden, ihre Stimme erklang jetzt sehr deutlich und war beinahe wiederzuerkennen. Freude war aus ihr herauszuhören, was Fandorin beschämte.

»Ich lege jetzt auf«, sagte er.

»Von wo telefonierst du denn? Wo bist du?«

Fandorin hängte das Hörrohr in die Gabel und drehte die Kurbel einmal herum. Die Telefonmystifikation war demnach ein Kinderspiel. Das war für die Zukunft gut zu wissen, wenn man nicht selbst angeschmiert werden wollte. Sollte man für jeden Teilnehmer eine extra Parole festlegen? Oder, wenn schon nicht für jeden, wenigstens für die Agenten oder allgemein für konfidentielle Zwecke?

Darüber konnte er später einmal nachdenken.

Den Hausarrest durfte er jetzt vergessen. Er hatte der Obrigkeit etwas vorzuweisen.

Klonow-Pewzow - bis jetzt nicht zu greifen, geradezu körperlos - würde morgen früh um sechs in einem Lokal mit Namen »Treue« anzutreffen sein. Fandorin hatte keine Ahnung, wo das war, und sowieso ließ es sich nicht vermeiden, Karatschenzew einzuweihen. Die Verhaftung mußte umsichtig erfolgen, nach allen Regeln der Kunst. Damit er nicht entwischte - geschickt, wie dieser Mann war.

Das Haus des Polizeipräsidenten auf dem Twerskoi galt als eine Moskauer Sehenswürdigkeit. Die bessere Gesellschaft, die den vornehmen Boulevard an heiteren Tagen entlangflanierte, schien sich von der amtlich gelben, zweistöckigen Fassade behütet zu fühlen, ihrem friedlichen, eleganten Zeitvertreib wurde gewissermaßen der Segen erteilt: Immer spaziert hier entlang, hochverehrte Herrschaften, auf dieser schlanken, europäischen Promenade, atmet den Duft der Lindenblüten und laßt euch nicht bekümmern von der schnaufenden Stadt, diesem asiatischen Moloch, wo es von ungezogenen, unaufgeklärten Leuten nur so wimmelt: Die Macht ist anwesend, sorgt für Zivilisation und Ordnung, schau her, hier ist sie! - und sie schläft nie.

Von letzterem durfte Fandorin sich überzeugen, als er kurz vor Mitternacht an der Tür der geschätzten Villa schellte. Kein Portier öffnete, sondern ein Gendarm mit Säbel und Revolver, der sich gewissenhaft anhörte, was des nächtlichen Besuchers Begehr war, und ihn, ohne einen Ton zu erwidern, auf der Schwelle warten ließ, nur eine elektrische Klingel betätigte, die den diensttuenden Adjutanten heranrief, welcher Fandorin glücklicherweise bekannt war: Hauptmann Swertschinski. Dieser erkannte in dem angelsächsisch ausstaffierten Herrn mit einiger Mühe den abgerissenen Bettler wieder, der am Morgen für soviel Aufruhr im Amt gesorgt hatte, und wurde die Liebenswürdigkeit in Person. Fandorin erfuhr, daß der General wie üblich vor dem Schlafengehen seinen Spaziergang auf dem Boulevard machte. Er liebte es, sich am Abend die Füße zu vertreten, und tat es bei jedem Wetter.

Fandorin begab sich zurück auf den Boulevard, lief ein Stück in Richtung des bronzenen Puschkin, und tatsächlich: Betulichen Schrittes kam die vertraute Gestalt im langen Kavalleriemantel mit in die Stirn gezogener Kapuze ihm entgegengelaufen. Doch kaum steuerte der Kollegienassessor auf den General zu, als zwei lautlose Schatten links und rechts von ihm wie aus dem Boden wuchsen, im Rücken des Polizeipräsidenten noch ein weiteres resolutes Schattenpaar. Fandorin schüttelte den Kopf. So sah sie aus, die Illusion von Intimität für einen Staatsmann in Zeiten des politischen Terrorismus! Rußland, was ist aus dir geworden!

Und schon hatten die Schatten den Kollegienassessor im Griff - nicht eben derb, aber fest. »Fandorin! Wenn man an ihn denkt, steht er vor einem!« rief Karatschenzew freudig und verwies seine Wächter barsch auf ihre Plätze. »Ich war wirklich gerade mit den Gedanken bei Ihnen. Der Arrestant hat es wohl zu Hauso nicht ausgehalten?«

»Stimmt, Euer Exzellenz. Gehen wir am besten g-g-... gleich zu Ihnen, die Sache eilt.« Ohne viel zu fragen, lief der General schnurstracks auf sein Haus zu. Schweigend schritt er aus, warf nur dann und wann einen verhohlenen Blick auf seinen Begleiter.

Sie gingen geradewegs in Karatschenzews großes, oval geschnittenes Arbeitszimmer und setzten sich einander gegenüber an den langen, mit grünem Tuch bedeckten Tisch. »Swertschinski, halten Sie sich zur Verfügung!« rief der Polizeipräsident. »Vielleicht brauche ich Sie.«

Kaum hatte die ledergepolsterte Tür sich lautlos geschlossen, fragte Karatschenzew ungeduldig: »Was gibt es? Eine Spur?«

»Noch besser«, gab Fandorin kund. »Den T-... Täter leibhaftig. Darf ich rauchen?« Zigarrepaffend unterbreitete Fandorin dem General seinen neuesten Ermittlungsstand. Karatschenzews Gesicht verdüsterte sich zusehends. Am Ende kratzte er sich besorgt die hohe Stirn, strich eine widerspenstige rötliche Strähne zurück.

»Und wie deuten Sie diese verzwickte Geschichte?«

Fandorin stippte ein Säulchen Asche von seiner Zigarre.

»Sobolew hatte irgendeine tolldreiste Demarche geplant. Vielleicht einen Umsturz im Stile des achtzehnten Jahrhunderts. Ungefähr das, was die Deutschen einen P-... Putsch nennen. Wir wissen, wie populär der Mann bei der Armee und im Volk war. Und mit der Autorität der Obrigkeit ist es derzeit ja nicht weit her ... Aber wozu erzähle ich Ihnen das, dafür hat Ihre Behörde das Ohr an der Masse.«

Der Polizeipräsident nickte.

»Über diese Verschwörung konnte ich bislang nichts Näheres in Erfahrung bringen«, sprach Fandorin weiter. »Entweder sah Sobolew sich selbst als Bonaparte, oder, was wahrscheinlicher ist, er beabsichtigte irgendeinen Verwandten des Zaren auf den T-... Thron zu hieven. Das weiß ich nicht und will darüber nicht spekulieren. Für Ihre und meine Aufgabe ist es auch unerheblich.«

Karatschenzew reagierte nur mit einem Zucken des Kopfes, und er knöpfte sich den goldbetreßten Kragen auf. Oberhalb seiner Nasenwurzel zeichneten sich Schweißtröpfchen ab.

»Jedenfalls hegte unser Achilles böse Pläne«, fuhr Fandorin ungerührt fort und blies einen Rauchstrahl von solcher Eleganz zur Decke, daß es eine Augenweide war. »Er muß aber heimliche, einflußreiche Widersacher gehabt haben, die von seinen Absichten Wind bek-k-kommen hatten. Klonow respektive Pewzow ist deren Mann. Mit seiner Hilfe gedachte die Anti-Sobolew-Gruppe sich des Möchtegern-Bonapartes zu entledigen, und zwar ohne Aufhebens, es sollte wie ein natürlicher Tod aussehen. Und so geschah es. Dem Exekutor zur Hand war unser lieber Churtinski, der K-... Kontakte zur Anti-Sobolew-Gruppe hatte und allem Anschein nach ihre Interessen in Moskau vertrat.« »Mal langsam, Fandorin!« bat der Polizeipräsident. »Mir schwirrt der Kopf. Von was für einer Gruppe reden Sie? Wo soll die sein? Bei uns im Innenministerium?«

Fandorin zuckte mit den Schultern.

»Durchaus möglich. Ihr Chef, Graf Tolstow, muß jedenfalls die Hände im Spiel haben. Denken Sie nur an den Brief, der Churtinski rechtfertigen sollte, und die Depesche, die Pewzow deckt. Hofrat Churtinski agierte nur als gemeiner Vollstrecker. G-... Gierig, wie er nun einmal war, verfiel er der Verlockung der Sobolewschen Million und beschloß, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Die zentrale Figur in der ganzen Geschichte ist und bleibt jedoch der Blonde mit den Wasseraugen.«

An dieser Stelle durchfuhr es den Detektiv wie ein Blitz.

»Nein, warten Sie ... Vielleicht ist die Sache ja noch viel vertrackter! Aber natürlich!«

Er war aufgesprungen und fing an, im Arbeitszimmer des Generals auf und ab zu laufen. Der Gastgeber folgte seinem umtriebigen Untergebenen mit stummem Blick, da er dessen scharfsinnige Gedankengänge nicht zu stören wagte.

»Ein Innenminister kann unmöglich für die Ermordung des Generaladjutanten Sobolew gesorgt haben, ganz gleich, was der auf dem Kerbholz hatte! Das ist Nonsens!«

Vor Aufregung vergaß Fandorin zu stottern.

»Unser Klonow ist sehr wahrscheinlich gar nicht identisch mit jenem Hauptmann Pewzow, von dem der Graf schreibt. Vermutlich ist der wirkliche Pewzow gar nicht mehr am Leben. Hier riecht alles nach einer schlauen Intrige, so eingefädelt, daß sich im Falle des Mißlingens alles auf Ihre Behörde abwälzen ließe, Herr General! So muß es sein, genauso!« Der Kollegienassessor war in seinen Phantasien nicht mehr aufzuhalten. Jetzt klatschte er mehrmals rasch hintereinander in die Hände - General Karatschenzew, der gespannt zugehört hatte, mußte an sich halten, um nicht vor Schreck hinter dem Tisch hervorzuspringen. Und Fandorin sprach bereits wieder.

»Nehmen wir an, der Minister weiß von Sobolews Verschwörungsplänen und läßt den General observieren - Punkt eins. Dann ist da noch jemand, der davon weiß, und der will Sobolew ermorden - Punkt zwei. Im Unterschied zum Minister ist dieser Mann oder sind diese Männer - nennen wir sie die Gegenverschwörer - nicht auf das Gesetz vereidigt, sie verfolgen ihre eigenen Ziele.«

»Was für Ziele denn?« wagte der konsternierte Polizeipräsident mit zaghafter Stimme zu fragen.

»Macht und Einfluß, nehme ich an«, erwiderte Fandorin lässig. »Worum sollte es sonst gehen, wenn eine Intrige von solchen Ausmaßen gesponnen wird? Die Gegenverschwörer hatten einen überaus findigen Aktivisten zu ihrer Verfügung, den wir unter dem Namen Klonow kennen. Daß er kein Kaufmann ist, steht außer Frage. Ein ungewöhnlicher Mann mit phänomenalen Begabungen. Nicht zu sehen, nicht 111

zu greifen, gibt sich keine Blöße. Weiß bestens Bescheid und ist immer vor uns da, schlägt als erster zu. Wir konnten noch so schnell sein, wir hatten immer das Nachsehen.«

»Und wenn er nun doch Gendarmeriehauptmann ist und mit Billigung des Ministers handelt?« fragte Karatschenzew. »Und ...« Er schluckte. »... der Mord an Sobolew wäre von höchster Seite sanktioniert gewesen? Mit Verlaub, Fandorin, wir sind beide gestandene

Sicherheitsbeamte und wissen, daß zur Wahrung von Staatsinteressen bisweilen unkonventionelle Mittel Anwendung finden.«

»Wozu hätte dann das Portefeuille gestohlen werden müssen, noch dazu aus der Gendarmerieverwaltung?« fragte Fandorin achselzuckend. »Das Ding war doch schon an Ort und Stelle, Sie hätten es ohnehin auf dem Behördenweg nach Petersburg geschickt, dem Grafen Tolstow auf den Tisch. Wozu mit der Kirche ums Dorf? Nein, das Ministerium hat damit nichts zu tun. Ein Volksheld wie Sobolew läßt sich nicht einfach so ins Jenseits befördern. Er war kein General Piche-gru, den man mal eben im Verlies erdrosselt. Einem Michail Sobolew an den Kragen gehen, ohne Urteil, ohne Gericht? Nein, Herr General, bei aller Unzulänglichkeit unserer Institutionen, das wäre ein zu starkes Stück. Das kann ich nicht glauben.«

»Da haben Sie recht«, gab Karatschenzew zu.

»Außerdem ist es eine Stilfrage. Daß einer mit so leichter Hand mordet wie dieser Klonow. Das sieht dem Geheimdienst überhaupt nicht ähnlich.«

Abwehrend hob der Polizeipräsident die Hand.

»Hübsch mit der Ruhe, nicht gleich übertreiben. Wieso mordet? Wir wissen noch gar nicht sicher, ob Sobolew ermordet oder nicht doch eines natürlichen Todes gestorben ist. Die Obduktion behauptet jedenfalls letzteres.«

»Es war Mord«, blieb Fandorin fest. »Unklar ist nur, wie es gelang, die Spuren zu vertuschen. Hätten wir damals gewußt, was wir heute wissen, hätten wir Professor Welling zu einer gründlicheren Analyse angehalten. Er war von Anfang an der Meinung, der Tod sei auf natürlichem Wege eingetreten, und Voreingenommenheiten können viel bewirken. Außerdem ...« Fandorin blieb vor dem General stehen.

»Außerdem ist es ja nicht bei Sobolew geblieben. Klonow hat alle möglichen Mitwisser beseitigt. Ich bin mir sicher, daß auch Knabes rätselhafter Tod auf sein Konto geht. Geben Sie zu, es leuchtet nicht sehr ein, daß die Deutschen einen Offizier ihres eigenen Generalstabs ermordet haben sollen, nur weil ihnen der Schreck in die Glieder gefahren ist. In zivilisierten Ländern ist dergleichen nicht üblich. Allenfalls hätte man ihm nahegelegt, sich selber zu erschießen, aber nicht diese Schlächterei mit dem Fleischermesser. Unwahrscheinlich! Klonow hingegen kam die Sache sehr gelegen - so durften Sie und ich den Fall für geklärt halten. Wäre nicht zufällig das Portefeuille mit der Million aufgetaucht, wir hätten einen Punkt hinter die Ermittlungen gesetzt. Höchst verdächtig ist des weiteren der plötzliche Tod eines Hoteldieners im >Metropol<. Dieser arme Timofej hatte vermutlich nur das Pech, Klonow zu einer Komplizin verholfen zu haben - Wanda. Nehmen Sie's mir nicht übel, Herr General, mir kommt auf einmal alles verdächtig vor! Auch der Tod des Kleinen Mischa! Auch der Selbstmord Churtinskis!«

»Nun mal halblang!« Der Polizeipräsident verzog das Gesicht. »Von ihm haben wir ja immerhin einen Abschiedsbrief.«

»Hand aufs Herz, Euer Exzellenz: Hätten Sie einem Pjotr Churtinski zugetraut, sich selbst zu richten, nur weil Entlarvung drohte? Gab er so viel auf seine Ehre?«

»Das nun gerade nicht«, räumte Karatschenzew ein, der inzwischen ebenfalls aufgesprungen war und die Wand entlangwanderte. »Es hätte ihm ähnlicher gesehen, wenn er das Weite gesucht hätte. Den im Tresor aufgefundenen Papieren läßt sich entnehmen, daß er ein Konto bei einer Zürcher Bank hatte. Und wäre die Flucht fehlgeschlagen, hätte er immer noch um Gnade betteln und versuchen können, die Richter zu bestechen. Diese Sorte Mensch kenne ich gut, das sind zähe Leutchen. Vermutlich wäre Churtinski lieber in die Verbannung gegangen, als sich die Schlinge um den Hals zu ziehen. Aber daß er den Brief eigenhändig geschrieben hat, läßt sich wirklich nicht bezweifeln.«

»Am meisten erschreckt mich, daß in all diesen Fällen der Verdacht auf Mord entweder gar nicht erst aufkommt oder, wie bei Knabe und beim Kleinen Mischa, mit Vehemenz auf andere gelenkt wird - beim einen auf deutsche Agenten, beim anderen auf diese Fiska. Da steckt ein Meister seines Fachs dahinter. Nur eines verstehe ich nicht.«

Fandorins Augen wurden schmal.

»Wieso er ausgerechnet Wanda verschont hat... Apropos, Herr General, man sollte unverzüglich ein Kommando hinschicken und sie aus dem >Anglija< herausholen. Wenn es dumm kommt, telefoniert der echte Klonow bei ihr an. Oder, noch schlimmer, ihm fällt ein, seine unerklärliche Nachlässigkeit in diesem Punkt zu korrigieren.«

»Swertschinski!« brüllte der General und ging ins Vorzimmer hinaus, um Order zu erlassen. Als er zurückkehrte, stand Fandorin vor dem Stadtplan an der Wand und fuhr mit dem Finger darauf entlang.

»Die >Treue<, wo ist denn das?« fragte er.

»Das ist die >Herberge zur Treue<, ein Quartier auf der Pokrowka, in der Nähe der

Trinitatiskirche. Hier!« Der General zeigte es. »Chochlowski Pereulok. Es war früher einmal eine Klosterherberge, jetzt ist da ein höhlenartiges Labyrinth aus Hinterhäusern, Schuppen und Baracken. Im Volksmund kurz >die Treue< genannt. Keine gute Gegend, bis zur Chitrowka ist es ja auch nur ein Katzensprung. Wobei das dort wohnende Publikum noch nicht gänzlich auf den Hund gekommen ist. Allerlei Theatervolk, Modistinnen, frisch ruinierte Kaufleute. Lange bleibt dort keiner hängen: Entweder er rappelt sich wieder hoch, oder er sackt noch tiefer, in den Pfuhl der Chitrowka.«

Während der Polizeipräsident auf Fandorins schlichte Frage so ausschweifend antwortete, schien er mit den Gedanken woanders zu sein; man sah ihm die Unschlüssigkeit an. Als er geendet hatte, entstand eine Pause. Fandorin verstand, daß die Unterredung in ihre entscheidende Phase trat.

»Es wäre durchaus ein riskanter Schritt, Euer Exzellenz«, sagte er leise. »Ich weiß, sollten meine Mutmaßungen in die Irre gehen, könnte Sie das die K-... Karriere kosten, und das täte Ihrem Ehrgeiz gar nicht gut. Aber eben darum bin ich zu Ihnen gekommen und nicht zum Fürsten, weil der bestimmt nichts riskieren möchte. Er ist allzu vorsichtig - vermutlich eine Frage des Alters. Andererseits ist seine Situation weniger heikel als die Ihre. Immerhin hat das Ministerium hinter Ihrem Rücken eine Intrige gesponnen, in der Ihnen, mit Verlaub, die Rolle des D-... Deppen im Spiel zugewiesen ist. Graf Tolstow hielt es nicht für nötig, Sie als Oberhaupt der Moskauer Polizei in den Kasus Sobolew einzuweihen, wohingegen er Churtinski, einen charakterlich fragwürdigen und sogar kriminellen Menschen, ins Vertrauen zog. Da hat ein noch Schlauerer, als der Minister es ist, die Fäden gezogen. Sie waren bei diesen Vorgängen außen vor, doch die Verantwortung liegt letztlich bei Ihnen. Ich fürchte, die Rechnung für das D-... Debakel werden Sie zu zahlen haben. Und was das Ärgste ist: Sie werden nicht einmal erfahren, wer es eigentlich verzapft hat und zu welchem Zweck. Um auf den Grund der Intrige vorzustoßen, müssen wir Klonow schnappen. Dann haben Sie den Joker in der Hand.«

»Und falls er doch ein Regierungsagent ist, fliege ich in hohem Bogen aus dem Amt. In den Ruhestand, gelindestenfalls«, entgegnete Karatschenzew knurrend.

»Die Sache wird sich ohnehin nicht vertuschen lassen, Euer Exzellenz, und das aus gutem Grund. Nicht so sehr Sobolews wegen, sondern weil wir uns ernstlich fragen müssen: Was ist das für eine geheimnisvolle Macht, die über Rußlands Schicksal verfügen will? Woher nimmt sie sich das Recht? Und was gedenkt diese Macht morgen zu tun?«

»Spielen Sie auf die Freimaurer an?« fragte der General verwundert. »Graf Tolstow ist Bruder in einer Loge, und Ministerialdirektor Plewako ist es auch. Von den einflußreichen Leuten in Sankt Petersburg ist beinahe jeder zweite Freimaurer. Aber die haben einen politischen Mord nicht nötig, die können auch so jedem die Hölle heiß machen, von Rechts wegen.«

»Vergessen Sie die Freimaurer!« Angeödet legte Fandorin die glatte Stirn in Falten. »Die sind doch Schnee von gestern. Hier geht es um ein handfestes Komplott, keine Operettenintrige. Falls wir Erfolg haben, Euer Exzellenz, b-... bekommen Sie den Schlüssel zu Aladins Höhle in die Hand. Dann wird Ihnen Hören und Sehen vergehen.«

Die roten Brauen des Generals zappelten erregt. Es war verlockend, sehr verlockend. Plewako, diesem Judas (so etwas nennt sich Kollege!), und dem Grafen Tolstow persönlich könnte man einen großartigen Denkzettel verpassen: daß mit Karatschenzew nicht zu spaßen ist. Daß der sich nicht zum Affen machen läßt. Wer anderen eine Grube gräbt, meine Herren. Eine Bande Verschwörer diskret ins Visier zu nehmen - dagegen ist nichts einzuwenden, eine solche Sache erfordert Fingerspitzengefühl. Aber zuzuschauen, wie einem Volkshelden der Garaus gemacht wird - das ist ein Skandal. Da haben sie geschlafen, die Petersburger Schlaumeier. Die sollen sich jetzt die Haare raufen und zittern in ihren Sesseln. General Karatschenzew serviert ihnen das Täubchen auf dem Tablett: Hier habt ihr ihn, den Übeltäter. Oder sollte er ihn gleich eine Etage höher servieren? Hm. Was für eine Sache!...

Vor dem inneren Auge des Polizeipräsidenten eröffneten sich derart verheißungsvolle Horizonte, daß ihm das Herz bis zum Halse schlug. Zugleich aber wurde ihm im Magen flau. Vor Angst.

»Gesetzt den Fall«, begann Karatschenzew vorsichtig, »wir verhaften diesen Klonow. Der aber bleibt stumm wie ein Fisch. Weil er auf seine Hintermänner rechnen kann. Was machen wir dann?«

»Das ist eine sehr berechtigte Frage.«

Fandorin nickte. Sein Frohlocken darüber, daß das Gespräch aus dem Stadium der Theorie in praktische Bereiche überzugehen schien, ließ er sich nicht anmerken.

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Klonow zu fassen wird schwierig genug sein, ihn zum Reden zu bringen noch tausendmal schwieriger. Darum hätte ich einen Vorschlag zu machen.«

Der General spitzte die Ohren. Die Erfahrung sagte ihm, daß der gewitzte junge Mann keine Torheiten vorschlug und außerdem den schwierigsten Teil der Arbeit selbst übernahm.

»Ihre Leute umstellen das Quartier von allen Seiten. So dicht, daß keine Kakerlake durchschlüpfen kann.«

Fandorins Blick klebte am Stadtplan.

»Hier eine Postenkette, hier und hier. Die Hofpassagen im ganzen B-... Bezirk sind abzuriegeln, das dürfte um die Zeit kein Problem sein, da schlafen die meisten noch. Ein paar gute Agenten direkt vor die Herberge - drei, vier, nicht mehr. Die sollen äußerst behutsam vorgehen, gut getarnt, damit um Himmels willen kein Verdacht erregt wird. Sie haben nur auf mein Signal zu warten. Ich g-g-... gehe rein zu ihm und spiele mit ihm ein offenes Spiel. Daß er sofort auf mich losgeht, ist unwahrscheinlich - er wird erst einmal herauskriegen wollen, woher ich komme, wieviel ich weiß und was ich will. Wir könnten einen feschen Pas de deux miteinander tanzen: Ich lupfe den Vorhang für ihn ein bißchen, und er erzählt mir ein bißchen was, dann wieder ich, dann wieder er. In dem Glauben, mich jederzeit ausschalten zu können, dürfte er mehr aus sich herausgehen, als wenn er in Untersuchungshaft säße ... Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.«

»Aber das ist doch ein Vabanquespiel!« sagte Karatschenzew. »Wenn er ein so virtuoser Totschläger ist, wie Sie sagen, dann wird er, ehe Sie sich versehen ...«

Fandorin zuckte leichtfertig mit den Schultern.

»Wie Konfuzius sagte, muß der vornehme Mann für seine Fehler selbst die Verantwortung tragen.«

»Na schön. In Gottes Namen. Es ist ein tollkühnes Stück. Wer wagt, gewinnt.«

Die Stimme des Generals bebte vor Mitgefühl, während er Fandorin kräftig die Hand drückte.

»Gehen Sie in Ihr Hotel, Fandorin, und schlafen Sie sich richtig aus. Keine Sorge, ich werde die Operation persönlich vorbereiten. Alles wird im Lot sein. Wenn Sie morgen früh zur >Treue< kommen, werden Sie sehen, wie gut sich meine Jungs tarnen können.«

»Sie sind ja wie die weise Wassilissa im Märchen, Euer Exzellenz!« sagte Fandorin mit strahlendem Lächeln. »Schlaf, mein Prinz, schlaf ruhig ein, morgen werden wir schlauer sein! Aber Sie haben recht, ich bin tatsächlich ein bißchen müde, und der morgige Tag wird hart. Morgen früh pünktlich um sechs bin ich in der Herberge. Das Signal, mit dem ich Ihre Leute zu Hilfe rufe, wird ein Pfiff sein. Vorher will ich keinen seine Nase hereinstecken sehen. Ja, und ... Falls etwas passiert... Lassen Sie ihn nicht entwischen! Das wäre meine p-p-... persönliche Bitte an Sie, Herr General.«

»Seien Sie unbesorgt«, erwiderte der General ernst, Fandorins Hand immer noch in der seinen haltend. »Alles wird auf das exakteste erledigt. Ich entsende meine besten Agenten, besser einen zuviel als zuwenig. Dafür darf ich Sie Draufgänger bitten, um so vorsichtiger zu sein.«

Schon vor langer Zeit hatte Fandorin es sich antrainiert, exakt zu der am Vorabend festgelegten Zeit zu erwachen. Darum schlug er Punkt fünf die Augen auf und mußte lächeln: Just in diesem Moment lugte der äußerste Sonnenrand über die Fensterbank - man hätte meinen können, ein runder, rosiger Kahlkopf stünde unter dem Fenster.

Eine Arie aus dem »Liebestrank« pfeifend, stand Fandorin vor dem Spiegel und verguckte sich beim Rasieren wieder einmal in sein, wie er doch fand, bemerkenswert schönes Gesicht. Weil es sich für einen Samurai verbot, vor dem Kampf zu frühstücken, nahm sich Fandorin anstelle des Morgenkaffees für ein paar Minuten die Hanteln vor; anschließend befaßte er sich in aller Ruhe mit seiner Ausrüstung für den Tag. Dabei wählte er das komplette Arsenal. Schließlich hatte er es mit einem ernsthaften Gegner zu tun.

Masa, der seinem Herrn beim Anlegen der Waffen half, wurde zunehmend unruhig. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten.

»Euer Gesicht verrät mir, daß Ihr dem Tod ins Auge seht, Herr.«

»Du weißt doch, ein echter Samurai muß jeden Morgen aufstehen und zum Sterben bereit sein«, scherzte Fandorin, während er sein helles Jackett aus Rohseide anzog.

»In Japan habt Ihr mich immer mitgenommen«, beklagte sich der Diener. »Ich weiß, ich habe Euch zweimal schmählich im Stich gelassen, doch es wird nie wieder vorkommen, das schwöre ich. Sonst will ich im nächsten Leben als Meduse geboren sein! Nehmt mich mit, Herr. Ich bitte Euch sehr.«

Fandorin stupste ihn zärtlich bei der kleinen Nase.

»Diesmal kann ich dich wirklich nicht gebrauchen, Masa. Ich muß allein sein. Und außerdem bin ich gar nicht allein, da ist noch ein ganzes Heer Polizisten. Allein sein wird nur mein Gegner.«

»Ist er gefährlich?«

»Sehr. Derselbe, der dir das Portefeuille abgeluchst hat.« Masa blies die Backen auf, zog die schütteren Brauen zusammen und sagte weiter nichts.

Fandorin hatte beschlossen, den Weg bis zur Pokrowka zu Fuß zu gehen. Wie schön Moskau nach dem Regen doch war! Diese Frische, dieser rosa Flor des anbrechenden Tages, diese Stille. Wenn einer schon sterben muß, dann an solch einem göttlichen Morgen! dachte der junge Detektiv - und schalt sich im selben Moment seines Hangs zur Melodramatik. Pfeifend, im gemächlichen Spazierschritt, gelangte er auf den Lubjanskaja Ploschtschad, wo die Fuhrleute am Springbrunnen ihre Pferde tränkten. Beim Einbiegen in die Soljanka sog er den Duft frischen Brotes ein, der aus den geöffneten Fenstern einer Bäckerei im Souterrain heraufdrang.

Und da war auch schon die Querstraße, in die er hinein mußte. Die Häuser wurden ärmlicher, die Trottoire schmaler, kurz vor der »Treue« war endgültig jede Idylle abhanden gekommen: tiefe Pfützen im Pflaster, schiefe Zäune, verwitterte Mauern. Eine Polizeisperre konnte Fandorin trotz aller Aufmerksamkeit nicht entdecken, und das freute ihn sehr.

Vor dem Hofeingang sah Fandorin auf die Uhr - fünf vor sechs. Genau richtig. Ein hölzernes Tor, daran ein verrutschtes Schild: Herberge zur Treue. Die Gebäude durchweg einstöckig, jedes Zimmer mit separatem Eingang. Dort vorn begann es mit N- 1 und ging bis NQ 6. Links um die Ecke mußte Ns 7 kommen.

Hauptsache, Klonow eröffnete das Feuer nicht sofort und ohne mit sich reden zu lassen. Man mußte irgendeinen ersten Satz parat haben, der ihn irritierte. Zum Beispiel: »Mademoiselle Wanda läßt grüßen.« Oder, noch raffinierter: »Wußten Sie, daß Sobolew gar nicht tot ist?« Nur nicht die Initiative aus der Hand geben. Das Weitere je nach Gespür. Er fühlte, wie das Gewicht des Herstal das Futter seiner Jacketttasche straffte. Ein beruhigendes Gefühl.

Entschlossen trat Fandorin durch das Tor. Ein Hauswart im schmutzigen Kittel schob träge den Besen durch eine Pfütze. Mürrisch musterte er den eleganten Herrn, und Fandorin zwinkerte ihm verstohlen zu. Ein überzeugender Hauswart, nicht zu bemäkeln. Beim Tor saß noch ein Agent und mimte den Betrunkenen: schnarchend, die Mütze ins Gesicht gezogen. Auch nicht schlecht. Und mit einem Blick über die Schulter sah Fandorin nun gar

ein pausbäckiges Weiblein mit Kopftuch bis knapp über die Augen, in einem

unförmigen Kittelkleid die Straße entlangtrippeln. Etwas zuviel des Guten! dachte sich Fandorin und schüttelte den Kopf. Das roch schon nach Schmierenkomödie.

N- 7 war tatsächlich die erste Tür hinter der Ecke, auf der Hofseite. Eine flache Vortreppe, zwei Stufen. Die Zimmernummer war mit weißer Ölfarbe an die Tür gemalt.

Fandorin blieb stehen, atmete tief ein und gab die Luft in kleinen, rhythmischen Stößen wieder von sich.

Dann hob er die Hand und klopfte leise an.

Zweimal, dreimal und noch zweimal.


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