DRITTER TEIL

SCHWARZ UND WEISS DAS SKYTHISCHE TOR oder: VORLETZTES KAPITEL, in welchem sich Fandorin in ein Nichts verwandelt

Fandorin horchte: Es blieb still. Er klopfte noch einmal. Kein Laut. Vorsichtig stieß er gegen die Tür, die unerwartet nachgab und mit einem bösen Knarren aufging. War die Falle etwa leer?

Die Hand mit dem Revolver ausgestreckt, sprang er hinein, drei Stufen hinauf, und stand nun in einem quadratischen Zimmer mit niedriger Decke.

Aus dem hellen Morgenlicht kommend, empfand er den Raum als stockdunkel. Rechterhand das dunkelgraue Viereck des Fensters mit vorgezogener Gardine, weiter hinten an der Wand die eiserne Bettstelle, ein Schrank und ein Stuhl.

Was war das dort auf dem Bett? Unter der Decke lag jemand.

Die Augen des Detektivs hatten sich ausreichend an die Düsternis gewöhnt, um einen Arm zu erkennen, genauer gesagt, einen Ärmel, der leblos unter der Decke hervorhing. Eine Hand im Handschuh. Handfläche nach oben. Auf dem Fußboden lag ein Colt, daneben breitete sich eine dunkle kleine Pfütze aus.

Das hatte er nicht erwartet. Mit einem Stich der Enttäuschung im Herzen steckte Fandorin den überflüssigen Herstal ein, war mit ein paar Schritten beim Bett und riß die Decke zurück.

Reglos stand Ahimaaz hinter dem dichten Vorhang neben dem Fenster. Davon, daß der Detektiv das verabredete Klopfzeichen benutzt hatte, war ihm in der Seele schal. Also doch Wanda ...

Das Zimmer war so präpariert, daß Fandorins Blick nicht erst umherschweifte, sondern sogleich abgelenkt wurde; dabei sollte der Detektiv Ahimaaz den Rücken zudrehen und die Waffe herunternehmen.

Die Rechnung ging in allen drei Punkten auf.

»Sehr schön!« sagte Ahimaaz halblaut. »Jetzt die Hände in den Nacken. Und wagen Sie ja nicht, sich umdrehen, Herr Fandorin. Ich schieße sofort.«

Arger war das erste, was in Fandorin hochstieg, da er unter der Decke die primitiv hergerichtete Kleiderpuppe liegen sah und hinter sich die ruhige, selbstsichere Stimme hörte. Böse hereingefallen!

Doch gleich darauf wurde der Arger von Bestürzung verdrängt. Wieso war Klonow-Pewzow auf der Hut gewesen? Hatte er am Fenster gelauert und gesehen, daß an Wandas Statt ein anderer kam? Doch er hatte ihn beim Namen angesprochen. Das deutete darauf hin, daß er mit ihm gerechnet hatte. Wie konnte das sein? Hatte Wanda ihn doch noch gewarnt? Aber wieso war er dann noch hier und nicht über alle Berge?

Man mußte vermuten, daß das Objekt in die Besuchspläne des »Herrn Fandorin«, nicht aber in die Polizeiaktion eingeweiht war. Seltsam.

Im übrigen war es nicht der rechte Moment, Hypothesen aufzustellen. Was sollte er machen? Einen Hechtsprung zur Seite? Auf einen Mann zu schießen, der eine Ausbildung bei den Ninja-Mönchen genossen hatte, war immerhin weit schwieriger, als der falsche Gendarmeriehauptmann sich einbilden mochte.

Doch wenn einmal Schüsse fielen, war die Polizei im nächsten Moment zur Stelle, eröffnete das Feuer, und dann war jede Chance vertan, das Objekt lebend zu ergreifen. Fandorin legte die Hände in den Nacken. Ruhig, im selben Ton wie sein Gegner, fragte er: »Und was nun?«

»Das Jackett ausziehen!« befahl Ahimaaz. »In die Mitte des Zimmers werfen.«

Das Klirren im Jackett war unüberhörbar - da schien außer dem Herstal noch mehr in den Taschen zu stecken.

Hinten am Gürtel hatte der Detektiv ein Halfter mit einer winzigen Pistole hängen. »Die Deringer abschnallen. Unter das Bett damit. Noch weiter. Jetzt nach vorn beugen - schön langsam. Das linke Hosenbein aufkrempeln. Höher. Jetzt das rechte.«

Na also: Am linken Knöchel steckte, Heft nach unten, ein Stilett. Herr Fandorin war gut ausgerüstet. Vorsorgliche Menschen waren Ahimaaz sympathisch.

»Jetzt können Sie sich umdrehen.«

Auch hierbei verhielt der Detektiv sich klug: Er drehte sich ohne übertriebene Eile, um seinen Kontrahenten nicht unnötig nervös zu machen.

Was hingen denn da an den Hosenträgern für Blechsterne - ganze vier Stück? Etwa wieder so ein orientalischer Wunderzauber?

»Hosenträger abschnallen. Unter das Bett.«

Die niedliche Physiognomie des Detektivs entgleiste vor Zorn. Die langen Wimpern zuckten, Fandorin blinzelte - er schien das Gesicht seines Gegners erkennen zu wollen, der mit dem Rücken zum Licht stand.

Warum eigentlich nicht? Dies war der Moment, sich zu zeigen und zu sehen, ob der junge Mann ein gutes optisches Gedächtnis besaß.

Und wie gut es war! Ahimaaz hatte nur zwei Schritte nach vorn getan, und schon durfte er erleben, wie die Wangen des schönen Knaben sich mit roten Flecken bedeckten, um gleich darauf wieder bleich zu werden.

So sieht es aus, mein Junge. Das Schicksal ist ein launisches Wesen.

Das war kein Mensch, das war ein Teufel! Selbst die Shuriken hatte er als Waffen identifiziert. Fandorin kochte vor Wut, als er sich seines ganzen Arsenals beraubt sah. Des beinahe ganzen.

Von all den vielen schönen Dingen, die er sich zu seinem Schutz ausgesucht hatte (und er war sich dabei übereifrig vorgekommen! Da hatte er es!), war ihm einzig der Pfeil geblieben, der im Hemdärmel steckte. Er war aus hauchdünnem Stahl und mit einer Feder gespannt. Man brauchte nur den Arm kräftig anwinkeln, damit die Feder sich löste. Doch damit so ein Pfeil tödlich war, mußte man schon sehr genau treffen. Und überhaupt: Wie hätte von einer kräftigen Armbewegung die Rede sein können, wenn man in die Mündung eines mit sechs Schuß geladenen Bayard blickte?

Da plötzlich trat die Gestalt vor ihm aus dem Schatten. Fandorin bekam endlich das Gesicht seines Gegners zu sehen.

Die Augen! Diese hellen Augen! Es war das Gesicht, das Fandorin seit so viel Jahren in seinen Träumen verfolgte. O nein, das durfte nicht sein! Nicht schon wieder dieser Alptraum! Sofort aufwachen!

Er mußte den psychologischen Vorteil ausnutzen, solange sein Objekt sich noch nicht wieder in der Gewalt hatte.

»Woher haben Sie die Adresse? Die genaue Zeit? Das Klopfzeichen?«

Der Detektiv schwieg.

Ahimaaz senkte die Mündung tiefer, bis sie auf die Kniescheibe zielte. Fandorin schien nicht zu erschrecken. Im Gegenteil, die Blässe verschwand aus seinem Gesicht.

»Von Wanda?«

Ahimaaz hatte die Frage nicht länger zurückhalten können. Und dummerweise klang seine Stimme auf einmal sehr belegt.

Der antwortet sowieso nicht! dachte er. Der stirbt lieber, ehe er auch nur ein Wort zuviel sagt. Diesen Menschenschlag kennen wir.

Da machte der Detektiv plötzlich den Mund auf: »Ich sage es Ihnen. Wenn Sie mir auch eine Frage beantworten. Woran ist Sobolew gestorben?«

Ahimaaz schüttelte den Kopf. Die menschliche Extravaganz war für ihn immer wieder ein Grund zum Staunen. Wobei einer, der seine professionelle Neugier im Angesicht des Todes bewahrte, allen Respekt verdiente.

»Das läßt sich machen«, sagte er. »Aber ich will eine ehrliche Antwort von Ihnen. Kriege ich die?«

»Ja.«

»Gut. Ein Farnwurzelextrakt vom Amazonas. Herzmuskelparalyse bei erhöhter Pulsfrequenz. Keinerlei Rückstände. Chateau Yquem.«

Weiterer Erläuterungen bedurfte es nicht. »Aha. Sieh an«, murmelte Fandorin.

»Also, was ist? War es Wanda?« fragte Ahimaaz durch die zusammengebissenen Zähne.

»Nein. Sie hat Sie nicht verraten.«

Beinahe hätte Ahimaaz aufgestöhnt, so unbändig erleichtert fühlte er sich. Für einen Moment mußte er die Augen schließen.

Die Art, wie sich das Gesicht des Mannes in Erwartung der Antwort anspannte, verriet Fandorin, warum er überhaupt noch am Leben war.

Und er wußte: Sobald die Antwort gegeben war, die dem Weißäugigen so unendlich viel bedeutete, würde der Schuß keinen Moment länger auf sich warten lassen.

Er durfte den Moment nicht verpassen, da der Finger am Abzug sich zu rühren anfing. Ein bewaffneter Mann, der sich einem unbewaffneten gegenübersieht, dämpft unweigerlich seine Instinkte, da ihn das leblose Metall in seiner Hand in Sicherheit wiegt. Die Reaktionen dieses Mannes sind verzögert - das gehört zum Einmaleins der Ninja-Kunst.

Das Wichtigste ist, den rechten Moment abzupassen. Den ersten Sprung nach vorn und leicht nach links, dann schießt er rechts vorbei. Den zweiten Sprung nach unten, dem Schützen vor die Füße - dann geht der nächste Schuß über den Kopf hinweg. Dann die Beine wegreißen.

Es war riskant. Acht Schritt Entfernung waren etwas sehr viel. Und fiel es dem Objekt ein, nur ein wenig zurückzuweichen, war er geliefert.

Aber er hatte keine Wahl.

Und da beging der Weißäugige zum ersten Mal eine Unachtsamkeit - er schloß für einen Moment die Augen.

Das genügte. Fandorin ging das Risiko, sich vor die Waffe zu werfen, gar nicht erst ein. Statt dessen schnellte er ohne Anlauf und wie von einer Feder getrieben aus dem Fenster. Den Rahmen mit den Ellbogen aus den Angeln schlagend, segelte er in einem Regen aus Glassplittern nach draußen, schlug in der Luft ein Salto und landete wohlbehalten in der Hocke. Er hatte sich nicht einmal geschnitten.

In seinen Ohren dröhnte es - der Weißäugige mußte geschossen haben. Selbstverständlich, ohne zu treffen.

Fandorin raste die Hauswand entlang. Er riß die Trillerpfeife aus der Hosentasche und ließ den vereinbarten Pfiff ertönen, mit dem die Polizeiaktion eröffnet war.

Noch nie hatte Ahimaaz einen Menschen mit solcher Schnelligkeit wegspringen sehen. Eben stand er noch da, und im nächsten Moment waren die Lackstiefel mit den weißen Gamaschen durch das Fenster verschwunden. Der Schuß kam einen Sekundenbruchteil zu spät.

Ohne zu überlegen, sprang Ahimaaz auf das mit Glasscherben übersäte Fensterbrett und flog hinterher. Er landete auf allen vieren.

Vor ihm rannte der Detektiv und blies verzweifelt in seine Pfeife. In diesem Moment tat er Ahimaaz sogar ein bißchen leid - der Arme hoffte auf Beistand.

Leichtfüßig wie ein Straßenjunge flitzte Fandorin um die Hausecke. Von Ahimaaz' Schuß aus der Hüfte spritzte nur der Putz von der Wand. Das war nicht gut.

Doch der vordere Hof war größer als der hintere. Bis zum Tor würde das Objekt nicht kommen.

Da vorne war das Tor - mit kleinem hölzernem Schutzdach und Schnitzwerk an den Pfosten. Ein russisches Tor wie aus dem Bilderbuch, gebaut noch vor Peters Zeiten. Aus unerfindlichem Grund sagte man dazu skythisches Tor - was die Moskowiter Zimmerleute mit den alten Steppennomaden zu schaffen gehabt hatten, war Fandorin schleierhaft. Mitten im Hof stand der Hauswart mit dem Besen in der Hand, den grindigen Mund weit aufgerissen, wie vom Donner gerührt. Der, welcher den Betrunkenen markiert hatte, hing immer noch so auf seiner Bank und glotzte dem fliehenden Detektiv entgegen. Und die Alte von vorhin, in dem komischen Kopftuch und dem Sackkleid, drückte sich erschrocken gegen die Mauer. Mit einem Mal begriff Fandorin: Das waren keine Polizeiagenten! Sondern ein Hauswart, ein Trunkenbold und eine Bettlerin, nichts sonst. Er hörte seinen Verfolger nahen.

Fandorin schlug einen Haken zur Seite, gerade noch rechtzeitig: Etwas Glühendes ritzte ihm die Schulter. Tangentialtreffer, nicht der Rede wert.

Durch das Tor hindurch sah er die Straße golden in der Sonne liegen. Scheinbar ganz nah und doch unerreichbar.

Erast Fandorin blieb stehen und wandte sich um. Was hatte es für einen Sinn, eine Kugel ins Kreuz zu bekommen?

Auch der Weißäugige stoppte. Dreimal hatte er geschossen, drei Schuß steckten also noch in seinem Bayard. Mehr als genug, um dem Erdenweg des Herrn Fandorin - sechsundzwanzig Jahre alt, ohne Anverwandte - ein Ende zu setzen.

Die Entfernung betrug fünfzehn Schritt. Zu viel, um etwas Ernsthaftes unternehmen zu können. Wo war Karatschenzew? Wo steckten seine Leute? Keine Zeit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.

Unter seiner Manschette steckte der Pfeil, mit dem sich auf diese Entfernung kaum etwas anfangen ließ. Trotzdem hob Fandorin den Arm, bereit, ihn ruckartig anzuwinkeln. Derweil nahm auch der Weißäugige gelassen Maß, zielte ihm auf die Brust.

Plötzlich hatte der Detektiv einen komischen Gedankenblitz: Die Duellszene aus »Eugen Onegin« stand ihm vor Augen. Gleich würde der Weißäugige anfangen zu singen: »Nun stürze ich, vom Pfeil getroffen ...«

Zwei Kugeln in die Brust. Die dritte aus nächster Nähe in den Kopf.

Niemand würde auf die Schüsse hin gerannt kommen. Einen Schutzmann konnte man in dieser Gegend lange suchen. Es gab keinen Grund zur Eile.

Da nahm Ahimaaz aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung wahr. Ein kompakter Schatten kam von der Mauer her auf ihn zugewischt.

Ahimaaz fuhr jäh herum und blickte in ein wild grimassierendes schlitzäugiges Gesicht unter einem seltsamen, teppichartigen Kopftuch, in einen aufgesperrten Rachen, aus dem ein markerschütternder Schrei hervorbrach. Der Japaner!

Sein Finger drückte auf den Abzug.

Das Weiblein, eben noch schüchtern gegen die Wand gepreßt, stieß plötzlich den Kampfschrei der Yakuza von Yokohama aus und griff den Weißäugigen nach allen Regeln des Jiu-jitsu an.

Der fuhr behende herum und drückte ab, das Weib aber schien geradezu unter der Kugel hinwegzutauchen und schlug dem Schützen mit einem überaus kundigen Mawashigeri aus der vierten Position die Füße weg. Dabei rutschte ihr das alberne Kopftuch auf die Schultern, ein schwarzer Schopf kam zum Vorschein, der mit einem weißen Handtuch umwickelt war.

Masa! Wo kam der auf einmal her? Er hatte ihm nachspioniert, der Gauner! Darum also hatte er sich so schnell damit abgefunden, seinen Herrn allein ziehen zu lassen!

Und das Kopftuch war kein Kopftuch, sondern der Badvorleger aus dem »Dusseaux«! Und das Kittelkleid - ein Sesselschoner!

Die Früchte seiner etwas verzögerten Auffassungsgabe waren im Moment allerdings gar

nicht gefragt. Fandorin stürzte vorwärts, den Arm mit dem Pfeil immer noch aufgestellt, wobei er sich zu schießen hütete, um Masa nicht zu treffen.

Soeben hieb der Japaner seinem Gegner den Handrücken auf den Unterarm - der Bayard flog zur Seite, schlug auf das Pflaster und ballerte in den blauen Himmel hinein.

Doch eine Sekunde später knallte dem Japaner eine eiserne Faust mit solcher Wucht gegen die Schläfe, daß er in sich zusammensackte und auf die Nase fiel.

Der Weißäugige warf einen gehetzten Blick erst auf den heranspringenden Fandorin, dann auf den entfernt liegenden Revolver. Gelenkig sprang er auf die Füße und rannte zurück in den Hinterhof.

An seinen Bayard kam er nicht heran. Der Kontrahent war schnell und im Nahkampf geübt. Bis er ihm beikam, war der Japaner wieder zu sich gekommen, und mit zwei solchen Meistern wurde er allein nicht fertig.

Also zurück ins Zimmer. Dort lag der geladene Colt vor dem Bett.

Seinen Lauf nur wenig abbremsend, griff sich Fandorin den Revolver vom Boden. Es dauerte vielleicht eine halbe Sekunde, doch in dieser Zeit war der Weißäugige um die Ecke verschwunden. Und schon wieder kam Fandorin ein unpassender Gedanke: Erst laufen wir zusammen in die eine Richtung, dann zusammen in die andere. Wie Kinder beim Völkerballspiel.

Fünf Schüsse waren abgegeben, nur eine Patrone steckte noch in der Trommel. Fandorin durfte nicht danebenschießen.

Er jagte um die Ecke und sah den Weißäugigen nach der Türklinke von Nummer sieben greifen. Ohne zu zielen, schoß der Detektiv seinen Pfeil ab. Zwecklos. Das Objekt war schon in der Tür verschwunden.

Kurz hinter der Tür kam Ahimaaz jäh ins Stolpern, sein Bein knickte ein und wollte nicht mehr gehorchen.

Fassungslos schaute er hin: Aus seinem Knöchel ragte seitlich eine kleine metallene Spindel. Eine Sinnestäuschung?

Er überwand den heftigen Schmerz, kämpfte sich die drei Stufen hinauf, kroch auf allen vieren über den Boden - dorthin, wo er den schwarzen Schemen seines Colts liegen sah. In dem Moment, da sich seine Finger um den geriffelten Griff schlossen, krachte hinter ihm ein Schuß.

Getroffen!

Die dunkle Gestalt schlug lang hin. Den sich spreizenden Fingern entglitt der schwarze Revolver.

In zwei Sätzen hatte Fandorin das Zimmer durchquert und die Waffe vom Boden aufgehoben. Er spannte den Hahn und wich sicherheitshalber zurück.

Der Weißäugige lag mit dem Gesicht nach unten. In der Mitte seines Rückens zeichnete sich ein nasser Fleck ab und wurde zusehends größer.

Hinter Fandorin - ein Tappen. Der Detektiv wandte sich nicht um. Masas Schritt kannte er. »Dreh ihn um«, sagte er auf japanisch. »Aber sei vorsichtig, der Mann ist gefährlich.«

In den vierzig Jahren seines Lebens war Ahimaaz kein einziges Mal verwundet gewesen, worauf er sehr stolz war. Zugleich hatte er sich immer davor gefürchtet, daß diese Glückssträhne eines Tages ihr Ende haben mußte. Den Tod fürchtete er nicht, den Schmerz und die Hilflosigkeit einer Verletzung hingegen sehr. Was, wenn die Qual so überhandnahm, daß er es nicht mehr aushielt? Wenn er die Kontrolle verlor über Körper und Geist, so wie er es viele Male bei anderen mitangesehen hatte?

Schmerzen hatte er nicht. Überhaupt keine. Nur sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.

Das Rückgrat ist durchschossen, dachte er. Der Graf von Santa Croce würde sein Eiland nie betreten. Ein nüchterner Gedanke, der kein Bedauern hervorrief.

Dann ging mit ihm eine Veränderung vor. Eben hatten seine Augen noch die staubigen Dielenbretter gesehen. Jetzt sahen sie plötzlich eine graue, in den Ecken mit Spinnweben verhangene Zimmerdecke.

Ahimaaz wandte den Blick zur anderen Seite. Über ihm stand Fandorin mit dem Revolver in der Hand.

Wie komisch ein Mensch von unten aussieht. Es ist das Bild, das die Hunde, die Würmer, die Schaben von uns haben.

»Hören Sie mich?« fragte der Detektiv.

»Ja«, erwiderte Ahimaaz und wunderte sich, wie rein und klangvoll seine Stimme war.

Er verlor unablässig Blut - das spürte er genau. Wenn es nicht bald gestillt wurde, war sein Ende nah. Das war gut. Er mußte dafür sorgen, daß das Bluten nicht aufhörte. Am besten war es, wenn er redete.

Der am Boden liegende Mann sah Fandorin scharf an, so als stünde in dessen Gesicht etwas sehr Wichtiges zu lesen. Dann begann er zu sprechen. Er sprach in knappen, unmißverständlichen Sätzen.

»Ich schlage einen Handel vor. Ich rette Ihnen das Leben, Sie erfüllen mir eine Bitte.«

Vermutlich halluzinierte der Weißäugige schon.

»Was denn für eine Bitte?« fragte Fandorin verwundert. »Und mein Leben retten ... Wie meinen Sie das?«

»Die Bitte nachher. Passen Sie auf. Ihr Schicksal ist besiegelt. Ich bin der einzige, der Sie noch retten kann. Ihre eigenen Vorgesetzten werden Sie hochgehen lassen. Sie sind schon abgeschrieben. Ich habe es nicht geschafft, Sie zu töten. Die anderen werden es tun.« »Reden Sie keinen Blödsinn!« rief Fandorin, doch dabei krampfte sich sein Magen seltsam zusammen. Wo war die Polizei abgeblieben? Wo Karatschenzew?

»Machen wir es so«, sagte der Verwundete und leckte sich die bleichen Lippen. »Ich sage Ihnen, was Sie tun müssen. Wenn Sie mir glauben, erfüllen Sie meine Bitte. Wenn nicht, dann nicht. Abgemacht?«

Fandorin nickte. Wie gebannt blickte er auf den Mann, der seiner Vergangenheit entstiegen schien.

»Meine Bitte ist die folgende. Unter dem Bett liegt ein Portefeuille. Sie wissen, welches. Keiner wird sich mehr dafür interessieren. Es ist allen nur im Wege. Das Portefeuille gehört Ihnen. Darin liegt ein Umschlag. Mit fünfzigtausend Rubeln. Den Umschlag schicken Sie bitte Wanda. Werden Sie das tun?«

»Natürlich nicht!« rief Fandorin entrüstet. »Alles Geld geht zurück an den Staat. Ich bin kein Dieb. Ich bin Beamter und im Adelsstand.«

Ahimaaz versuchte zu verfolgen, was mit seinem Körper geschah. Anscheinend blieb ihm weniger Zeit, als er vermutet hatte. Das Sprechen fiel ihm immer schwerer. Er mußte sich beeilen.

»Sie sind ein Niemand und ein Nichts. Sie sind ein toter Mann.«

Die Umrisse des Detektivs begannen vor seinen Augen zu verschwimmen, Ahimaaz sprach schneller.

»Sobolew ist von einem geheimen Schwurgericht zum Tode verurteilt worden. Im Namen des Zaren. Jetzt wissen Sie die ganze Wahrheit. Dafür wird man Sie töten.

Im Interesse des Staates. In dem Portefeuille liegen ein paar Pässe. Fahrkarten für den Zug nach Paris. Er geht um acht. Sie schaffen es noch. Andernfalls... ist Ihnen der Tod gewiß.«

Vor seinen Augen wurde es dunkel. Ahimaaz riß sich zusammen und vertrieb den Schleier.

Denk schneller, Fandorin! drängte er im stillen. Du bist klug, und ich habe keine Zeit mehr.

Der Weißäugige sprach die Wahrheit.

Als Erast Fandorin sich dessen ganz bewußt wurde, schwankte er.

Wenn dem so war, dann war er um alles gebracht: den Beruf, die Ehre, den Sinn des Lebens. Dann war er erledigt. Karatschenzew, dieser Schuft, hatte ihn verraten, in den sicheren Tod geschickt. Nein, nicht Karatschenzew - der Staat war es, das Imperium, das Vaterland.

Daß er noch am Leben war, hatte er einem Wunder zu verdanken. Masa, um es genau zu sagen.

Fandorin blickte seinen Diener an. Der hatte die Hand an seine lädierte Schläfe gelegt und rollte mit den Augen.

Der Ärmste. Kein Kopf, nicht einmal einer aus Eisen, hielt auf Dauer eine derart schlechte Behandlung aus. Ach, Masa, Masa, was machen wir nun? Du hast dein Leben an den Falschen gehängt.

»Die Bitte. Versprechen Sie es mir«, flüsterte der Sterbende kaum noch hörbar.

»Wird gemacht«, brummte Fandorin widerwillig.

Der Weißäugige lächelte. Dann schloß er die Augen.

Ahimaaz lächelte. Dann schloß er die Augen.

Alles war gut. Das Leben war gut, das Ende auch. Stirb jetzt! befahl er sich. Und er starb.

LETZTES KAPITEL, in welchem sich alles zum Besten fügt

Die Bahnhofsglocke schlug das zweite Mal, die »Ericsson«-Lokomotive spuckte ungeduldig Rauch - ganz so, als könnte sie es nicht erwarten, loszuspringen und auf blitzenden Gleisen der Sonne hinterherzujagen. Der Transeuropa-Expreß Moskau-Warschau-Berlin-Paris stand zur Abfahrt bereit.

In einem Schlafwagenabteil 1. Klasse (Bronze, Samt und Mahagoni) saß ein mißmutiger junger Mann in zerknittertem, an den Ellbogen aufgerissenem cremefarbenem Jackett, schaute geistesabwesend aus dem Fenster und kaute auf seiner Zigarre herum. Auch er ließ ein bißchen Rauch aufsteigen - doch im Unterschied zur Lokomotive ohne jeglichen Enthusiasmus.

Da ist man nun erst sechsundzwanzig, und das Leben ist vorbei! dachte der Reisende. Ganze vier Tagen war es her, daß er voller Hoffnung und Tatendrang hier angekommen war. Und schon sah er sich gezwungen, seine geliebte Heimatstadt wieder zu verlassen, unwiderruflich und für immer. Verfemt, verfolgt, mit aufgekündigtem Dienstverhältnis. Pflicht und Vaterland im Stich lassend. Nein, das nun gerade nicht - das Vaterland war es ja, das seinen treuen Diener verraten hatte! Eine schöne Staatsräson war das, die einen redlichen Angestellten erst in ein sinnloses Rädchen verwandelte und ihm dann gar nach dem Leben trachtete. Lest Konfuzius, ihr Herren Thronwächter! Bei ihm steht zu lesen: Ein vornehmer Mann kann niemandes Werkzeug sein.

Was nun? Man würde ihn verleumden, als Dieb hinstellen und in ganz Europa nach ihm fahnden lassen.

Als Dieb übrigens vielleicht doch nicht - das Portefeuille zu erwähnen würden sie sich hüten.

Und auch die Fahndung ließen sie wohl lieber sein. Nichts von alledem sollte ruchbar werden.

Eher würden sie stille Jagd auf ihn machen, bis sie ihn früher oder später fanden und totschlugen. Wer in Begleitung eines japanischen Dieners unterwegs war, konnte nicht schwer aufzutreiben sein. Aber wo hätte er Masa lassen sollen? Allein in Europa ging der sofort unter.

Apropos, wo steckte er überhaupt?

Fandorin zog seine Breguet hervor. Bis zur Abfahrt blieben noch zwei Minuten.

Sie waren rechtzeitig auf den Bahnhof gekommen, der Kollegienassessor (Ex-Kollegienassessor, besser gesagt) hatte sogar noch Zeit gehabt, einen an Frau Tolle, Hotel »Anglija« adressierten Brief aufzugeben, doch viertel vor acht, als sie schon im Abteil saßen, hatte Masa Protest eingelegt: Er sei hungrig, verkündete er. Hühnereier, eklige Kuhbutter und rohes, nach Rauch schmeckendes Schweinefleisch im Speisewagen zu essen weigere er sich jedoch entschieden. Und er begab sich auf die Suche nach frischen, dampfenden Kringeln.

Inzwischen schlug die Glocke zum dritten Mal, und die Lokomotive stieß einen fröhlichen, saftigen Pfiff aus.

Er hatte sich doch nicht etwa verlaufen, dieser plattfüßige Dickwanst? Beunruhigt steckte Fandorin den Kopf aus dem Fenster.

Aber da kam er schon den Perron entlanggetrippelt, mit einer Papiertüte von enormen Ausmaßen im Arm. Sein weißleuchtender Kopfverband hatte sich verdoppelt: Zur 217

Beule am Hinterkopf, nicht ganz abgeheilt, war nun noch der Bluterguß an der Schläfe gekommen. Aber wen hatte er da bei sich?

Fandorin schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne.

Neben Masa schritt ein großer, hagerer Mann mit üppigen Koteletten, in einer Livree.

Frol Wedischtschew, seines Zeichens persönlicher Kammerdiener des Fürsten Dolgorukoi! Was suchte der denn hier? Wie unpassend, o weh!

Und Wedischtschew hatte ihn schon bemerkt, er winkte.

»Herr Fandorin, Euer Hochwohlgeboren! Euch suche ich eben!«

Schnell zog Fandorin den Kopf zurück, wofür er sich im nächsten Moment schämte. Es war zu dumm. Und es brachte nichts. Außerdem interessierte ihn, was dieser Auftritt zu bedeuten hatte.

Er klemmte sich das Portefeuille unter den Arm und begab sich hinaus auf den Perron. »Uff, gerade noch geschafft...«

Wedischtschew keuchte und rieb sich die dampfende Glatze mit einem bunten Taschentuch.

»Kommt schnell, gnädiger Herr, Seine Durchlaucht warten schon.«

»Wie haben Sie mich denn g-g-... gefunden?«

Dabei sah der junge Mann konsterniert zu, wie der Waggon vor ihm langsam anfuhr.

Egal. Eine Flucht mit der Eisenbahn schien ohnehin nicht die glücklichste Idee zu sein. Die Behörden kannten die Route und konnten ihn an der erstbesten Station aus dem Zug holen.

Er mußte sich auf anderem Wege aus Moskau davonstehlen.

»Zu Seiner Durchlaucht kann ich nicht mitkommen, mein lieber Frol. Gewisser Umstände wegen muß ich den Dienst leider quittieren. Ich ... Ich muß dringend verreisen. Ich werde das dem Fürsten b-b-... brieflich erläutern.«

Genau! An Dolgorukoi mußte er schreiben, ihm alles klarlegen! Damit wenigstens einer die wahren Hintergründe dieser schlimmen und bedauerlichen Geschichte erfuhr.

»Wozu denn das schöne Papier verderben?« fragte Wedischtschew naiv und zuckte die Achseln. »Uber Eure gewissen Umstände sind Seine Durchlaucht vorzüglich unterrichtet. Wenn wir da sind, könnt Ihr den Fall ja noch einmal persönlich rekapitulieren. Wie das zuging mit diesem Meuchler, in der Hölle soll er schmoren. Und wie der Polizeipräsident Euch reingelegt hat. Der Judas!«

Fandorin verschlug es die Sprache.

»Aber ... Wie kann denn ... Woher wissen Sie das alles?«

»Man hat so seine Quellen«, erwiderte der Kammerdiener nebulös. »Von Eurer Morgenmission bekamen wir gottlob noch rechtzeitig Wind. Ich hatte ja auch meinen Mann vor Ort, um zu sehen, was passiert. Habt Ihr ihn denn nicht erkannt? Hockte mit seiner Schirmmütze am Tor und spielte den Besoffenen. Dabei ist er dem Alkohol mehr als abhold, nicht mal zu Ostern wird er schwach. Deswegen ist er mein Mann. Er hat gehört, wie Ihr den Kutscher zum Brjansker Bahnhof zu fahren befahlt, und hat es mir zugetragen. Joi, was bin ich Euch hinterhergesaust! Und hab Euch mit Gottes Hilfe noch eingekriegt. Gut, daß ich Euer Schlitzauge am Büfett entdeckt habe, sonst hätte ich womöglich noch durch alle Wagen gemußt. Ich bin nicht mehr zwanzig wie Ihr, gnädiger Herr!«

»Aber wissen denn Seine Durchlaucht, daß ... ich meine ... wie delikat die Angelegenheit ist?«

»Wieso delikat? Die Angelegenheit ist so klar, daß noch jeder Polizist sie begreift!« beschied Wedischtschew ihm barsch. »Ihr hattet mit dem Polizeipräsidenten vereinbart, einen Verdächtigen zu ergreifen, einen Hochstapler, der sich als Kaufmann Klonow aus Rjasan ausgibt. Dabei ist der echte Klonow dem Vernehmen nach eine respektable Person, gute zwei Zentner schwer. Karatschenzew, das Schaf, hat die Zeiten durcheinandergebracht, und darum mußtet Ihr Euer Leben alleine riskieren. Schade übrigens, daß es nicht geklappt hat, den Übeltäter lebend zu fangen. Jetzt werden wir nie erfahren, was er im Schilde führte. Aber die Hauptsache ist ja, Verehrtester, daß Ihr gesund und munter seid. Seine Durchlaucht hat schon alles fein ordentlich nach Petersburg gemeldet, an Seine Majestät persönlich. Und was nun kommt, ist klar wie Kloßbrühe: Der Polizeipräsident wird wegen Dämlichkeit achtkantig aus dem Nest geschmissen, ein neuer wird ernannt, und Euer Hochwohlgeboren kriegen einen Orden angehängt. Was soll daran heikel sein?«

»Was d-d-... daran heikel sein soll?« fragte Fandorin zurück und sah dem Alten forschend in die wäßrigen Auglein.

»Ja, nun? War denn noch was?«

»Nein, nein ... Eigentlich nicht«, gab Fandorin nach kurzem Überlegen kund.

»Na, seht Ihr. Joi, was habt Ihr da für ein hübsches Portefeuillechen! Exquisites Stück. Vermutlich ausländisches Fabrikat?«

Der Kollegienassessor (von wegen, Ex-Kollegienassessor: er war es, und er blieb es!) zuckte zurück.

»Das Portefeuille gehört mir nicht. Ich bin dabei, es der städtischen Duma zu überstellen. Die Großspende eines anonymen Stifters zur Fertigstellung der Kathedrale.«


»Eine ... beträchtliche Großspende?« fragte der Kammerdiener und sah den jungen Mann gespannt an. »Fast eine Million Rubel.« Wedischtschew nickte erfreut.

»Na, das wird den Fürsten aber freuen. Dann kriegen wir die verflixte Kathedrale ja fertiggebaut. Ohne daß sie noch mehr Geld aus dem Stadtsäckel zieht! Ach, wenn Rußland nicht seine Wohltäter hätte, Gott schenke ihnen ein langes Leben, und so sie sterben, Friede ihren Seelen ... «

Wedischtschew bekreuzigte sich inbrünstig. Doch er war noch nicht damit zu Ende, als er sich an den Kopf faßte.

»Wir müssen, mein Lieber, wir müssen!« rief er und fuchtelte mit den Armen. »Seine Durchlaucht haben verkündet, ohne Euch nicht frühstücken zu wollen. Und das geht bei uns streng nach Plan: Punkt halb neun wird das Breichen gegessen. Auf dem Bahnhofsvorplatz wartet die Gouverneurskutsche, mit der sind wir eins-zwei-drei an Ort und Stelle. Um Euren Asiaten sorgt Euch nicht, den nehme ich mit zu mir, schließlich hat unsereins ja auch noch nicht gefrühstückt! Von gestern ist noch ein ganzes Kesselchen Kohlsuppe mit Kaidaunen übrig, köstlich nur einmal! Die Kringel da, die schmeißen wir weg - wozu den Wanst mit Teig vollstopfen, das erzeugt nur üble Darmwinde.« Teilnahmsvoll blickte Fandorin zu Masa hinüber, der selbstvergessen und mit geblähten Nasenflügeln den Duft aus seiner Tüte in sich einsog. Auf den Ärmsten wartete eine schwere Prüfung.


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