ZWEITER TEIL AHIMAAZ

SKIROWSK

1

Der Vater hieß Pelet, was auf althebräisch Flucht bedeutet. Im Jahr seiner Geburt ereilte die »Brüder Christi«, die zwei mal hundert Jahre in Mähren gelebt hatten, ein Unglück. Der Kaiser schaffte das Privileg ab, welches die Gemeinde vom Militärdienst befreite, weil er neuerdings einen großen Krieg gegen einen anderen Kaiser führte und viele Soldaten brauchte.

Land und Hof im Stich lassend, brach die Gemeinde eines Nachts auf und zog nach Preußen. Den »Brüdern Christi« war es gleich, was die Kaiser miteinander hatten; ihr strenger Glaube untersagte ihnen, irdischen Herrschern zu dienen, ihnen den Treueeid zu schwören, eine Waffe in die Hand zu nehmen und die Uniform mit den Wappenknöpfen zu tragen, die nichts anderes waren als Abdrücke des Satanssiegels. Weshalb die Brüder an ihren langen, braunen Kamisolen, deren Zuschnitt sich in über zwei Jahrhunderten nicht verändert hatte, keine Knöpfe trugen, sondern Schnüre.

In Preußen gab es Glaubensgenossen. Die hatte es vor langer Zeit, gleichfalls auf der Flucht vor dem Antichristen, nach hier verschlagen. Dazumal hatte der König ihnen Land in festen Besitz gegeben und sie vom Kriegsdienst befreit - mit der Auflage, die endlosen preußischen Sümpfe trockenzulegen. Über zwei Generationen kämpften die Brüder wider den unwegsamen Morast, in der dritten bezwangen sie ihn und begannen auf dem humusreichen Land ein sattes und freies Leben zu führen. Die mährischen Glaubensbrüder wurden freudig empfangen, man teilte mit ihnen, was da war, und lebte zusammen in Eintracht und Güte.

Mit einundzwanzig heiratete Pelet. Gott gab ihm eine gute Frau, und die gebar nach gebührender Zeit einen Sohn. Bald darauf jedoch beschloß Gott der Allmächtige, seine treuen Diener schweren Prüfungen zu unterziehen. Zuerst kam eine Seuche über sie, an der viele starben, darunter Pelets Frau und sein Sohn. Er murrte nicht, auch wenn das Leben seine Farbe geändert hatte und aus Weiß Schwarz geworden war. Doch das schien dem Allmächtigen nicht genug zu sein, Er wollte die

Auserwählten Seine Liebe in ihrer ganzen, rauhen Unerbittlichkeit spüren lassen. Also hatte ein neuer, aufgeklärter König verfügt, in seinem Staate seien alle gleich, und das von einem anderen, früheren König erlassene Gesetz wurde abgeschafft. Nunmehr hatten auch Juden, Mennoniten und »Brüder Christi« in der Armee zu dienen und ihr Vaterland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Doch befand sich der Brüder Vaterland nun einmal nicht inmitten trockengelegter preußischer Sümpfe, sondern im Himmel, weshalb der Konvent der geistigen Führer zusammentrat und befand, man müsse gen Osten ziehen, ins Land des russischen Zaren. Dort gab es auch eine Gemeinde, von der kamen manchmal Briefe, die lange unterwegs waren, per verläßlichen Boten, denn die amtliche Post war des Teufels. In den Briefen schrieben die Glaubensbrüder, der Boden bei ihnen sei fett, die Obrigkeit entgegenkommend und mit einer geringen Abgabe zufrieden.

Sie packten das Allernötigste, verkauften, was zu verkaufen ging, und ließen das Übrige zurück. Siebenmal sieben Tage waren sie mit Karren unterwegs, bis sie in ein Land kamen, das den schwierigen Namen Melitopolschtschina trug und wo es tatsächlich einen fetten Boden gab. Aber zwölf junge Familien und mit ihnen der Witwer Pelet beschlossen weiterzuziehen, da sie noch nie Berge zu Gesicht bekommen, immer nur in ihren heiligen Schriften davon gelesen hatten. Sie wußten sich nicht vorzustellen, wie es sein konnte, daß das Festland sich viele Tausend Ellen weit in den Himmel erhob und an das Reich des Herrn in den Wolken stieß. Die jungen Leute begehrten es zu sehen, und Pelet war es einerlei. Ihm gefiel es, auf dem Leiterwagen mit den vorgespannten Stieren durch Wälder und Felder zu fahren, denn es lenkte ihn ab von den Gedanken an Rahel und den kleinen Ahava, die für immer in der nassen preußischen Erde geblieben waren.

Die Berge waren haargenau so, wie sie in den Büchern beschrieben standen. Ihr Name war Kaukasus, und sie dehnten sich nach allen Seiten, so weit das Auge reichte. Pelet vergaß Rahel und Ahava, denn hier war alles anders, selbst das Gehen: Man ging von oben nach unten und von unten nach oben. Gleich im ersten Jahr heiratete er.

Und das kam so: Die »Brüder Christi« waren dabei, den Wald an dem einzigen Hang, der etwas flacher war, einzuschlagen und das Feld für den Pflug vorzubereiten. Die Mädchen aus der Nachbarschaft sahen zu, wie die fremden Männer in ihren komischen langen Gewändern geschwinde die jahrhundertealten Kiefern fällten und die zähen Stümpfe rodeten. Die Mädchen lachten und knackten Nüsse dabei. Eines von ihnen, die fünfzehnjährige Tetima, verguckte sich in den Hünen mit den weißen Haaren und dem weißen Bart. Er war mächtig, aber sanft und gut, ganz anders als die Männer in ihrem Aul, die hitzig und in ihren Bewegungen fahrig waren.

Tetima mußte sich taufen lassen und andere Kleidung tragen -ein schwarzes Kleid und eine weiße Haube. Sie mußte ihren Namen wechseln, aus Tetima wurde Sarah, sie mußte von früh bis spät in Haus und Hof arbeiten, die fremde Sprache erlernen,

und den ganzen Sonntag über mußte sie Andacht halten und im Gebetshaus, das noch vor den anderen Häusern gezimmert worden war, singen und beten. Aber all dies konnte Tetima nicht schrecken, denn sie fühlte sich wohl bei dem weißhaarigen Pelet, und Allah hatte den Frauen ohnehin kein leichtes Leben versprochen.

Den Sommer darauf, als Sarah-Tetima in den Wehen lag, kamen die kriegerischen Tschetschenen von den Bergen herab, zündeten die Weizenernte an und trieben das Vieh von dannen. Pelet sah zu, wie sie das Pferd wegführten, die zwei Stiere und die drei Kühe, sprach ein Gebet, der Herr möge ihn nicht verlassen, und gab seinem Zorn nicht freien Lauf. Und also taufte der Vater seinen Sohn, dessen erster Schrei just in dem Moment ertönte, da über die glattgehobelten Wände des Gebetshauses die gierigen Flammen züngelten, auf den Namen Ahimaaz, was bedeutet: Bruder des Zorns.

Übers Jahr kamen die Räuber erneut, mußten aber ohne Beute wieder abziehen, denn am Rande des fertiggebauten Dorfes stand ein Blockhaus, worin ein Feldwebel und zehn Soldaten kampierten. Dafür hatte die Bruderschaft dem Militärgouverneur fünfhundert Rubel bezahlt.

Der Junge war bei seiner Geburt sehr groß. Sarah-Tetima hätte es beinahe nicht überlebt, als er aus ihr hervorkam. Sie konnte danach keine Kinder mehr bekommen. Und sie hätte es auch nicht gewollt, da sie ihrem Mann nicht verzeihen konnte, daß er dagestanden und zugesehen hatte, wie die Räuber Pferd, Stiere und Kühe entführten.

Als Kind hatte Ahimaaz zwei Götter und drei Sprachen zur Verfügung. Der Gott des Vaters, der streng war und nachtragend, lehrte: Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halte ihm die linke hin; wer sich dieses Lebens freut, wird des kommenden gram sein; Kummer und Leid soll man nicht fürchten, denn sie sind eine Wohltat, ein Zeichen besonderer Liebe des Allmächtigen. Der Gott der Mutter hingegen, über den man nicht laut sprechen durfte, war lieb und gut: Er erlaubte, Freude zu zeigen, zu spielen, und er befahl nicht, Kränkungen von anderen durchgehen zu lassen. Nur flüstern durfte man über den lieben Gott und nur, wenn außer der Mutter niemand in der Nähe war, was bedeutete, daß der Gott des Vaters die Oberhand hatte. Er bediente sich einer Sprache, welche DIE SPRACHE hieß und ein Gemisch aus Deutsch und Holländisch war. Der Gott der Mutter sprach tschetschenisch. Außerdem gab es noch die russische Sprache, die Ahimaaz von den Soldaten im Blockhaus beigebracht bekam. Der Junge fühlte sich angezogen von deren Schwertern und Gewehren, aber das war untersagt, streng untersagt, der Obergott verbot es, eine Waffe anzurühren. Während die Mutter es ihm im Flüsterton erlaubte: Mach nur, Junge, es ist gut. Manchmal führte sie den Sohn in den Wald, erzählte von den kühnen Kriegern ihres Stammes und zeigte ihm, wie man ein Bein stellt und einen Fausthieb austeilt.

Als Ahimaaz sieben war, spritzte ihm der neunjährige Melchisedek, Sohn des Schmieds, mit Absicht Tinte über die Fibel. Ahimaaz stellte dem bösen Buben ein

Bein und hieb ihm die Faust aufs Ohr. Heulend lief Melchisedek nach Hause, um zu petzen.

Das sich anschließende Gespräch mit dem Vater war lang und quälend. Pelets Augen, die hell waren wie die seines Sohnes, füllten sich mit Zorn und Trauer. Den ganzen Abend mußte Ahimaaz auf den Knien hocken und Psalmen lesen. Doch waren seine Gedanken nicht beim Gott des Vaters, sondern bei dem der Mutter. Er betete zu ihm, daß seine Augen sich schwarz färben möchten wie die der Mutter und die ihres Stiefbruders Hassan. Zwar hatte Ahimaaz seinen Onkel Hassan nie gesehen, doch daß er stark, tapfer, siegreich und unnachsichtig gegenüber seinen Feinden war, wußte er. Der Onkel brachte über die geheimen Bergpfade flauschige Teppiche aus Persien herüber und Ballen von Tabak aus der Türkei, auf dem Rückweg schaffte er Waffen über die Grenze. Ahimaaz mußte oft an Hassan denken. Er stellte sich ihn vor, wie er im Sattel saß und den wachsamen Blick über die Felsspalten wandern ließ, ob da nicht vielleicht ein Trupp Grenzwächter im Hinterhalt saß. Hassan trug eine zottige Papacha-Pelzmütze, eine Burka aus Filz um die Schultern und darüber ein Gewehr mit schön verziertem Kolben.

2

An dem Tag, als Ahimaaz zehn Jahre alt wurde, saß er von morgens an im Holzschuppen hinter Schloß und Riegel. Er war selbst daran schuld: Die Mutter hatte ihm heimlich einen Dolch geschenkt - nicht groß, aber echt, mit polierter Klinge, das Heft aus Horn - und zu verstecken befohlen, doch Ahimaaz hatte nichts Eiligeres zu tun, als auf den Hof zu rennen und die Schärfe der Klinge auszuprobieren; dabei war er vom Vater erwischt worden. Pelet wollte wissen, wo er das Messer herhatte, und als er merkte, daß mit keiner Antwort zu rechnen war, ließ er den Sohn büßen.

Den halben Tag brachte Ahimaaz im Schuppen zu. Um den weggenommenen Dolch tat es ihm schrecklich leid, außerdem langweilte er sich. Am Nachmittag - er hatte inzwischen mächtigen Hunger - ertönten auf einmal Schüsse und Schreie.

Der Räuber Mahoma mit vieren seiner Kumpanen hatte die Soldaten überfallen, die gerade dabei waren, im Bach ihre Hemden zu waschen, denn es war Badetag. Die Angreifer schössen eine Salve aus den Büschen, töteten zwei Soldaten, verwundeten zwei weitere schwer. Die übrigen Soldaten rannten zum Blockhaus, wurden jedoch von den Kaukasiern abgefangen und mit dem Säbel niedergemacht. Der Feldwebel, der nie mit zum Bach ging, hatte sich in dem wuchtigen Holzhaus mit den schmalen Fensterluken verschanzt und schoß aus seiner Flinte. Mahoma wartete, bis der Russe mit Nachladen fertig war und sich wieder hinter der Schießscharte zeigte, nutzte die Zeit zum Zielen und traf den Feldwebel mit einer schweren Kugel mitten in die Stirn.

All dies hatte Ahimaaz nicht gesehen. Sehen konnte er, an einer Ritze zwischen zwei Planken klebend, wie ein bärtiger einäugiger Mann in zottiger weißer Papacha und mit einer langläufigen Flinte in der Hand den Hof betrat - Mahoma. Er sagte etwas zu den Eltern, die aus dem Haus geeilt kamen; Ahimaaz verstand nicht, was. Dann packte er die Mutter mit der einen Hand bei der Schulter, mit der anderen beim Kinn und zwang sie, das Gesicht zu heben. Pelet stand da, den Löwenkopf gesenkt, und bewegte die Lippen. Er betet! dachte Ahimaaz. Sarah-Tetima betete nicht, sie fletschte die Zähne und zerkratzte dem Einäugigen mit den Fingern das Gesicht.

Weil aber eine Frau das Gesicht des Mannes nicht berühren darf, wischte Mahoma sich das Blut von der Wange und erschlug die Gottlose mit einem Fausthieb gegen die Schläfe. Anschließend tötete er ihren Mann, denn auch der durfte nach einem solchen Frevel nicht weiterleben. Ebenso mußten alle übrigen Dorfbewohner sterben - das Schicksal hatte es so gewollt.

Die Räuber trieben das Vieh zusammen, alles nützliche und kostbare Gut wurde auf zwei Karren geladen und das Dorf von vier Seiten her angezündet. Dann zogen sie ab.

Während die Dorfbewohner von den Tschetschenen gemeuchelt wurden, saß Ahimaaz mucksmäuschenstill im Schuppen. Er wollte nicht auch totgeschlagen werden. Erst als das Hufgetrappel und das Räderrattern sich in Richtung Karamyk-Paß entfernt hatten, rammte er mit der Schulter ein Brett aus der Schuppenwand und sprang auf den Hof hinaus. Im Schuppen hätte er ohnehin nicht länger bleiben können, denn die Rückwand hatte schon Feuer gefangen, grauer Rauch kam durch die Ritzen gequollen.

Die Mutter lag auf dem Rücken. Ahimaaz hockte sich neben sie, berührte den blauen Fleck zwischen Auge und Ohr. Die Mutter sah aus, als lebte sie - nur daß sie, statt Ahimaaz anzuschauen, in den Himmel blickte. Der war für Sarah-Tetima wichtiger geworden als der leibliche Sohn. Wie konnte es auch anders sein, dort war ja ihr Gott. Ahimaaz beugte sich über den Vater, doch dessen Augen waren geschlossen, und der Bart war nicht mehr weiß, sondern rot. Als der Junge mit den Fingern darüber wischte, färbten sie sich ebenso.

Einen Hof nach dem anderen suchte Ahimaaz auf. Überall lagen tote Frauen,

Männer und Kinder. Ahimaaz kannte sie allesamt gut, doch sie erkannten ihn nicht mehr. Die, die er gekannt hatte, waren in Wirklichkeit gar nicht mehr da. Er war übrig. Ahimaaz befragte erst den einen Gott und dann den anderen, was er jetzt tun sollte. Anschließend wartete er. Es kam keine Antwort.

Ringsum stand alles in Flammen. Im Gebetshaus, das gleichzeitig Schule war, rumpelte es, und eine dicke Rauchwolke schoß empor - das Dach war eingestürzt. Ahimaaz sah sich nach allen Seiten um. Er sah die Berge, den Himmel, die brennenden Felder und nirgends eine Menschenseele. In diesem Augenblick begriff er: So würde es von nun an immer sein. Er war allein und mußte selbst entscheiden, ob er bleiben oder gehen, sterben oder leben wollte.

Er horchte in sich hinein, sog den Brandgeruch ein und rannte zur Straße, die hinauf auf einen Bergsattel und von da ins weite Tal hinunter führte.

Er lief den Rest des Tages und die ganze Nacht. Im Morgengrauen sank er in den Straßengraben. Sein Hunger war groß, die Müdigkeit noch größer, und Ahimaaz schlief ein. Der Hunger weckte ihn. Die Sonne stand im Zenit. Er lief weiter und erreichte gegen Abend eine Kosakensiedlung.

Gurkenbeete zogen sich die Einfriedung entlang. Ahimaaz blickte sich um, es war niemand da. Früher wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, fremdes Gut an sich zu nehmen, denn der Gott des Vaters gebot: Du sollst nicht stehlen. Doch inzwischen gab es den Vater nicht mehr, seinen Gott ebensowenig, und Ahimaaz ließ sich auf alle viere nieder, um die knackigen, warzigen Gurkenfrüchte in sich hineinzuschlingen. Erde knirschte ihm zwischen den Zähnen, so daß er nicht hörte, wie der Besitzer der Beete, ein breitschultriger Kosake in weichen Stiefeln, sich von hinten anschlich. Er packte Ahimaaz beim Kragen und ließ ein paarmal die Peitsche auf ihn niedersausen. »Du Dieb, du Dieb!« rief er dabei. Der Junge weinte nicht, bettelte nicht um Gnade, stumm sah er ihn von unten her aus hellen Wolfsaugen an. Das brachte den Mann erst richtig in Rage, er verprügelte den kleinen Wolf aus Leibeskräften, bis dieser einen grünen Gurkenbrei erbrach. Da zog er ihn am Ohr auf die Füße, zerrte ihn zur Straße und gab ihm einen Tritt.

Ahimaaz trollte sich und dachte: Der Vater ist tot, aber sein Gott scheint am Leben und dessen Gebote scheinen gültig zu sein. Rücken und Schultern brannten wie Feuer, aber noch ärger brannte es in ihm drinnen.

An einem munter sprudelnden Flüßchen begegnete Ahimaaz einem Jungen: größer als er, um die vierzehn vielleicht. Der Kosakenbengel hatte einen kleinen Laib Graubrot und einen Topf Milch dabei.

»Gib her!« sagte Ahimaaz und entriß ihm das Brot.

Der Junge stellte den Topf ab und gab Ahimaaz eins mit der Faust auf die Nase. Seine Augen sprühten Funken dabei. Ahimaaz fiel hin, und der Junge, kräftiger als er, setzte sich rittlings auf ihn, begann auf seinen Kopf einzuschlagen. Da griff Ahimaaz nach einem in der Nähe liegenden Stein und hieb ihn dem jungen Kosaken gegen die Braue. Der Junge rollte zur Seite, bedeckte das Gesicht mit den Händen und fing an zu flennen. Ahimaaz hatte den Stein schon zum nächsten Schlag erhoben, als ihm Gottes Gebot einfiel, das da lautete: Du sollst nicht töten. Und er tötete nicht. Der Milchtopf war während des Kampfes umgefallen, die Milch verschüttet, aber Ahimaaz hatte das Brot. Er ging die Straße weiter und aß. Er hörte nicht auf zu essen, bis der letzte Krümel vertilgt war.

Daß er nicht auf Gott hätte hören und den Jungen lieber totschlagen sollen, begriff Ahimaaz, als er - es dämmerte schon - von zwei Reitern eingefangen wurde. Einer von ihnen, eine blaugeränderte Uniformmütze auf dem Kopf, hatte den Kosakenjungen hinter sich sitzen, dessen Gesicht von einem Bluterguß geschwollen war.

»Da ist er, Onkel Kondrat!« brüllte der Knabe. »Das ist er, der Mörder!«

Die Nacht verbrachte Ahimaaz im Karzer. Er konnte hören, wie Unteroffizier Kondrat und Wachsoldat Kowaltschuk über sein Schicksal verhandelten. Ahimaaz hatte kein Wort zu ihnen gesprochen, so viel sie ihm auch das Ohr gezwirbelt und Backpfeifen verpaßt hatten, um herauszubekommen, wer er war und woher er stammte. Am Ende erklärten sie den Jungen für taubstumm und ließen von ihm ab. »Wohin mit ihm, Kondrat Pantelejewitsch?« fragte der Wachsoldat. Er saß mit dem Rücken zu Ahimaaz, aß und trank aus einem Krug dazu. »Müssen wir ihn wirklich in die Stadt schaffen? Vielleicht behalten wir ihn bis morgen hier und geben ihm dann den Laufpaß?«

»Ich werd dir gleich den Laufpaß geben!« antwortete der Vorgesetzte, der ihm gegenübersaß und mit der Gänsefeder etwas in ein Buch schrieb. »Hat nicht viel gefehlt, und er hätte dem Sohn vom Ataman die Rübe gespalten. Das kleine Raubtier muß nach Kisljar, ins Gefängnis.«

»Wär's nicht ein Jammer, ins Gefängnis? Weißt doch selber, Kondrat, was sie mit den Küken dort machen.«

»Wo soll er sonst hin!« sagte der Unteroffizier rauh. »Hier ist kein Platz für ihn.« »Vielleicht nach Skirowsk? Nehmen die Nonnen dort nicht Waisenkinder auf?«

»Nur weibliche. Er kommt ins Gefängnis, Kowaltschuk, und basta. Morgen früh bringst du ihn hin. Ich mach grad die Papiere fertig.«

Am anderen Morgen aber war Ahimaaz schon über alle Berge. Nachdem der Unteroffizier gegangen war und der Wachsoldat sich schlafen gelegt hatte (kurz darauf schnarchte er), kletterte Ahimaaz zum Fenster hinauf, zwängte sich zwischen den zwei dicken Gitterstäben hindurch ins Freie und sprang hinunter auf die weiche Erde.

Von Skirowsk hatte er schon gehört - das lag gen Sonnenuntergang, vierzig Werst weit. Es gab also doch keinen Gott.

3

Ahimaaz kam im klösterlichen Waisenhaus zu Skirowsk als Mädchen an - er hatte Kattunkleidchen und Kopftuch von einer Wäscheleine stibitzt. Der Äbtissin, die sich mit Mutter Pelageja ansprechen ließ, stellte er sich als Lia Weide vor, Flüchtlingskind aus dem von den Bergvagabunden geschleiften Dorf Neueswelt. Weide - so hieß er wirklich, und Lia war der Name seiner Großcousine gewesen, einem sommersprossigen Zicklein mit Piepsstimme. Das letzte Mal hatte Ahimaaz sie mit gespaltenem Gesicht auf dem Rücken liegen sehen.

Mutter Pelageja strich der kleinen Deutschen über den kurzgeschorenen weißblonden Kopf, als sie fragte: »Wirst du denn auch unseren rechten Glauben annehmen?«

So wurde Ahimaaz zum Russen, denn inzwischen war er sich sicher, daß es keinen Gott gab, Beten sinnlos war und der russische Glaube nicht ärger sein konnte als der väterliche.

Im Kloster gefiel es ihm. Zweimal täglich gab es zu essen, und schlafen durfte man in einem richtigen Bett. Gebetet wurde allerdings etwas viel für seinen Geschmack, und der Saum des Kleides verfing sich immerzu zwischen den Beinen.

Am zweiten Tag sprach ihn ein Mädchen mit schmalem Gesicht und großen grünen

Augen an. Sie hieß Shenja, und ihre Eltern waren gleichfalls von Räubern ermordet wurden, schon letzten Herbst. »Was für klare Augen du hast, Lia!« sagte sie. »Wie Wasser so klar.« Ahimaaz wunderte sich: Bis jetzt waren seine viel zu hellen Augen nie auf Sympathie gestoßen. Selbst dieser Kosakenoffizier hatte ihn, während er auf ihn einprügelte, »Schneeule« geschimpft. Das Mädchen Shenja heftete sich an seine Fersen. Wo er war, da war sie. Am vierten Tag kam sie dazu, wie Ahimaaz, das Kleid gerafft, hinter dem Schuppen stand und pinkelte.

Pech gehabt. Nun würde er wieder fliehen müssen - und hatte doch keine Ahnung, wohin. Er beschloß so lange zu warten, bis sie ihn wegjagten. Aber sie jagten ihn nicht weg. Shenja hatte dichtgehalten.

Der sechste Tag war ein Sonnabend. Badetag. Früh kam Shenja geschlichen und flüsterte: »Geh nicht mit, sag, du hättest die Regel.«

»Was für eine Regel?« Ahimaaz verstand nicht.

»Das ist, wenn du nicht ins Badehaus darfst, weil Blut aus dir fließt und du unrein bist. Manche Mädchen hier haben das schon. Katja und Sonja zum Beispiel«, erklärte sie. Das waren die Namen der zwei ältesten Zöglinge. »Mutter Pelageja kontrolliert es nicht, sie ekelt sich davor.«

Ahimaaz folgte dem Ratschlag. Die Nonnen wunderten sich: so früh schon und so weiter, doch sie erlaubten, dem Badehaus fernzubleiben. Am Abend sagte Ahimaaz zu Shenja: »Nächsten Sonnabend haue ich ab.«

»Dann brauchst du Brot auf den Weg«, sagte sie, und Tränen rollten über ihr Gesicht.

Von nun an aß sie ihr Brot nicht mehr, sondern steckte es heimlich Ahimaaz zu, der die Scheiben in einen Sack legte.

Wegzulaufen war indes gar nicht nötig, denn Freitag abend, am Vorabend des nächsten Badetags, tauchte Onkel Hassan im Waisenhaus auf. Er ging zu Mutter Pelageja und fragte sie, ob es stimme, daß ein Mädchen aus dem von Mahoma abgefackelten deutschen Dorf bei ihr sei. Hassan wünschte mit dem Mädchen zu sprechen, um zu erfahren, wie seine Schwester und sein Neffe zu Tode gekommen waren. Mutter Pelageja rief Lia Weide in ihre Zelle und ging selbst hinaus, weil sie vom Bösen nichts hören mochte.

Hassan war ganz anders, als Ahimaaz ihn sich vorgestellt hatte. Rote Nase, dicke Backen, ein dichter schwarzer Bart und kleine, listige Äuglein. Haßerfüllt sah Ahimaaz ihn an, denn der Onkel glich den Tschetschenen, die das Dorf Neueswelt angezündet hatten.

Ein Gespräch wollte nicht in Gang kommen. Auf Hassans Fragen schwieg das Waisenkind oder antwortete einsilbig, der Blick unter den weißblonden Wimpern hervor war trotzig und stechend.

»Mein Neffe Ahimaaz ist nicht gefunden worden«, sagte Hassan auf russisch mit kehlig krächzender Stimme. »Vielleicht hat Mahoma ihn verschleppt?«

Das Mädchen zuckte die Schultern.

Nach kurzem Überlegen holte Hassan ein paar silberfarbene Glasperlen aus der Tasche.

»Die schenk ich dir«, sagte er. »Sie sind echt, aus Schemacha. Schau, wie schön sie sind. Spiel ruhig ein bißchen damit, inzwischen gehe ich die Äbtissin um ein Nachtlager bitten. Ich bin weit gereist und müde. Kann ja nicht unter freiem Himmel schlafen.«

Er ging hinaus. Seinen Säbel ließ er auf dem Stuhl liegen. Kaum hatte die Tür sich hinter dem Onkel geschlossen, fegte Ahimaaz die Perlen beiseite und stürzte zu der schweren Waffe. Die Scheide war schwarz, mit Silber ausgelegt. Er zog am Griff, und die blanke Stahlklinge kam zum Vorschein, die im Schein der Lampe eisig funkelte. Eine echte Gurdaklinge! dachte Ahimaaz, während sein Finger über die arabischen Schnörkel im Stempel fuhr.

Es knarrte leise. Ahimaaz zuckte zusammen und sah in Hassans lachende schwarze Augen, die ihn durch den Türspalt anblickten.

»Unser Blut!« sagte Hassan auf tschetschenisch und ließ seine weißen Zähne sehen. »Es ist stärker als das deutsche! Laß uns aufbrechen, Ahimaaz. Wir nächtigen in den Bergen. Unter freiem Himmel schläft es sich besser.«

Später, als Skirowsk hinter einer Wegbiegung verschwunden war, legte Hassan Ahimaaz die Hand auf die Schulter. »Ich werde dich in eine Schule geben, Ahimaaz, aber vorher mache ich einen Mann aus dir. Du mußt dich an Mahoma für Vater und Mutter rächen. So ist das Gebot, ob du es willst oder nicht.«

Und Ahimaaz begriff: Das war einmal ein rechtes Gebot.

4

Sie übernachteten, wo es sich gerade ergab: in heruntergekommenen Gasthöfen, bei Geschäftsfreunden des Onkels oder manchmal auch einfach, in die Burka gewickelt, im Wald.

»Drei Dinge muß ein Mann im Gebirge zu finden wissen: Nahrung, Wasser und den Weg«, lehrte Hassan den Neffen sein Einmaleins. »Und er muß sich und die Ehre seines Stammes verteidigen können.«

Ahimaaz wußte nicht, was mit der Ehre des Stammes gemeint war. Er hatte keinen Stamm. Aber sich verteidigen können, das wollte er unbedingt, und er war bereit, von früh bis spät dafür zu lernen.

»Halte den Atem an und stell dir vor, aus der Mündung kommt ein feiner Strahl. Mit diesem Strahl tippst du gegen das Ziel.« Hassan atmete in Ahimaaz' Nacken, während er die in den Gewehrschaft gekrallten Finger des Jungen richtete. »Kraft ist

nicht nötig dafür. Das Gewehr ist wie eine Frau oder wie ein Pferd, es will Liebe und Verständnis.«

Ahimaaz versuchte das Gewehr zu verstehen, hörte sich ein in seine nervöse eiserne Stimme, bis das Metall ihm ins Ohr zu gurren begann: ein bißchen weiter links, noch ein bißchen - jetzt schießen!

»Oho!« Der Onkel rollte staunend die Augen. »Du hast ja den Adlerblick! Eine Flasche auf hundert Schritt! Mahomas Kopf möge einmal so zerspringen!«

Ahimaaz wünschte den Einäugigen jedoch nicht auf hundert Schritt zu töten. Er wollte ihn erschlagen, so wie Tetima erschlagen worden war: mit der Faust gegen die Schläfe. Oder noch besser: die Kehle durchschneiden, wie Mahoma es mit Pelet getan hatte.

Mit der Pistole zu schießen war noch einfacher.

»Vergiß das Zielen!« sagte der Onkel. »Der Pistolenlauf ist die Verlängerung deines Arms. Wenn du mit dem Finger auf etwas zeigst, mußt du auch nicht vorher zielen, du zeigst einfach drauf. Stell dir vor, die Pistole wäre dein sechster Finger.« Ahimaaz zeigte mit dem langen Eisenfinger auf eine Walnuß, die auf einem Baumstumpf lag, und die Nuß zersprang in viele kleine Splitter.

Den Säbel gab Hassan seinem Neffen nicht in die Hand; Arm und Schultern sollten erst noch wachsen. Aber einen Dolch schenkte er ihm gleich am allerersten Tag und wies ihn an, sich nie von ihm zu trennen: »Hänge ihn dir um den Hals, wenn du nackt in den Fluß steigst, um zu baden.« Nach einiger Zeit war der Dolch für Ahimaaz zu einem Körperteil geworden, so wie der Stachel für die Wespe. Mit ihm konnte man Reisig fürs Feuer hauen, den erlegten Hirsch zum Ausbluten bringen und einen feinen Span schnitzen, um sich nach dem Hirschbraten in den Zähnen zu stochern. Am Rastplatz, wenn es weiter nichts zu tun gab, übte Ahimaaz Zielwerfen gegen einen Baum: im Stehen, Sitzen oder Liegen. Diesen Zeitvertreib bekam er nie über. Zuerst vermochte er nur eine Kiefer zu treffen, später auch schon eine junge Buche und am Ende jeden beliebigen Buchenast.

»Die Waffe ist das eine«, sagte Hassan, »aber ein Mann muß seinen Feind auch ohne Waffen besiegen können: mit bloßen Fäusten, Füßen oder Zähnen, gleich wie. Hauptsache, das Herz ist in heiligem Zorn entflammt: Der schützt dich vor Schmerz, läßt den Feind erschauern und verhilft dir zum Sieg. Laß ruhig das Blut in den Kopf schießen, laß die Welt um dich her in roten Nebel tauchen, dann ist das Übrige halb so schwer. Du wirst verwundet oder totgeschlagen und merkst es nicht mal. So ist er, der heilige Zorn.«

Ahimaaz erhob keine Einwände, doch insgeheim war er mit diesem Gedanken des Onkels nicht einverstanden. Er wollte weder verwundet, noch totgeschlagen werden. Um jedoch zu überleben, mußte er hellsichtig sein - heiliger Zorn und roter Nebel störten dabei nur. Und der Junge wußte, er würde ohne sie auskommen. Einmal, schon zur Winterszeit, kam der Onkel in freudiger Stimmung von einem Geschäftsgang zurück. Ein zuverlässiger Freund hatte ihm mitgeteilt, Mahoma sei

mit viel Beutegut aus Georgien herübergekommen und sitze jetzt in Chanacha beim Gelage. Was ganz in der Nähe war, zwei Tagesmärsche nur.

In Chanacha, einem großen, kriegerischen Aul, kamen sie bei einem Geschäftsfreund des Onkels unter. Hassan ging auf Erkundungstour und blieb lange weg; bei seiner Rückkehr war er mürrisch. »Kein leichtes Spiel!« sagte er. Mahoma sei stark und schlau. Drei von den vieren, die er im deutschen Dorf bei sich gehabt hatte, saßen und zechten mit ihm. Den vierten, den krummbeinigen Mussa, hatten die Swanen getötet. An seiner Stelle war jetzt ein Dshafar aus Nasran dabei. Sie waren also zu fünft.

Nachdem der Onkel gut zu Abend gegessen und gebetet hatte, ging er zu Bett. Vor dem Einschlafen sagte er zu Ahimaaz:

»Im Morgengrauen, wenn Mahoma und seine Leute müde und betrunken sind, gehen wir hin und üben Rache. Du wirst Mahoma sterben sehen und deine Finger in das Blut des Mannes tauchen, der deine Mutter getötet hat.«

Mit diesen Worten drehte Hassan sich zur Wand und war in kürzester Zeit eingeschlafen. Der Junge aber löste behutsam das grüne Seidensäckchen von des Onkels Hals. In ihm lag, zu Pulver gestoßen, der giftige Irgantschai-Pilz.

»Wenn dich die Grenzwache schnappt und in den steinernen Sack steckt, wo weder Berge, noch Himmel zu sehen sind«, so hatte der Onkel gesagt, »dann mußt du dir das Pulver auf die Zunge streuen, gut einspeicheln und schlucken. Ehe du fünfmal den Namen Allahs ausgesprochen hast, bleibt nichts als dein nutzloser Körper in dem Gefängnis liegen.«

Ahimaaz nahm sich Pluderhosen, Kleid und Kopftuch der Tochter des Hauses, in dem sie logierten. Dann holte er einen Krug Wein aus dem Keller und entleerte das Säckchen hinein.

In der Schenke saßen die Männer beisammen, redeten, tranken Wein und spielten Tricktrack. Aber Mahoma und seine Mannen waren nicht da. Ahimaaz beschloß zu warten. Nach einer Weile sah er den Sohn des Wirtes Käse und Fladen ins Nachbarzimmer hinübertragen. Dort mußte Mahoma sein.

Als der Wirtssohn das Zimmer verlassen hatte, schlüpfte Ahimaaz hinein und stellte, schweigend und ohne den Blick zu heben, seinen Krug auf den Tisch.

»Ist der Wein ordentlich, Mädel?« fragte der einäugige, schwarzbärtige Mann, den er so gut in Erinnerung hatte.

Ahimaaz nickte, ging in eine Ecke und kauerte sich dort hin. Er wußte nicht, wie er mit Dshafar aus Nasran verfahren sollte. Dshafar war noch sehr jung, siebzehn vielleicht. Sollte er ihm sagen, sein Pferd draußen drehe durch und beiße in die Zügel, damit er hinausging und nachschaute? Doch da fiel Ahimaaz jener Kosakenjunge ein, und er verstand, daß er das nicht tun durfte. Dshafar hatte sich ihm gegenüber nichts zuschulden kommen lassen, trotzdem mußte er sterben, denn das war sein Schicksal.

Und Dshafar starb als erster. Kaum hatte er gemeinsam mit den anderen aus dem Krug getrunken, als er mit dem Gesicht auf die Tischplatte fiel.

Der zweite Räuber fing an zu lachen, doch aus dem Lachen wurde ein Röcheln.

»Ich krieg keine Luft!« sagte der dritte, faßte sich an die Brust und fiel um.

»Mahoma, was ist mit mir?« fragte der vierte mit schwerer Zunge, kroch von der Bank, krümmte sich zusammen und blieb so liegen.

Mahoma selbst saß da und sagte nichts. Sein Gesicht war so rot wie der in Pfützen über den Tisch verschüttete Wein.

Der einäugige Mahoma blickte auf seine sterbenden Kumpane, dann richtete er sein Auge auf Ahimaaz, der geduldig wartend in seiner Ecke kauerte.

»Wer bist du, Mädchen?« fragte er, die Worte kamen ihm nur schwer über die Zunge. »Warum hast du so helle Augen?«

»Ich bin kein Mädchen«, erwiderte Ahimaaz. »Ich bin Ahimaaz, Tetimas Sohn. Und du bist ein toter Mann.«

Mahoma fletschte die gelben Zähne, so als freute ihn diese Auskunft ungemein, zog langsam den Säbel mit dem goldenen Griff aus der Scheide und hatte ihn noch nicht ganz heraus, als er röchelnd auf den Lehmboden sackte. Ahimaaz stand auf, zog seinen Dolch unter dem Mädchenrock hervor und fuhr damit, in Mahomas starres Auge schauend, mit einer schnellen, flüssigen Bewegung, so wie der Onkel es ihn gelehrt hatte, über die Kehle des vor ihm Liegenden. Dann tauchte er die Finger in den heißen, pulsierenden Strom.


JEWGENIJA

1

Mit zwanzig war Ahimaaz Weide ein höflicher, schweigsamer Bursche, der älter aussah, als er war. Dem Publikum, das sich zur Genesung an den berühmten Solenowodsker Quellen einfand, wie auch der ansässigen Bevölkerung galt er als wohlerzogener Sproß einer begüterten Kaufmannsfamilie und Student an der Charkower Universität, der sich hier einer längeren Heilkur unterzog. Die Wissenden hingegen, die ihr Wissen ungern mit anderen teilten, sahen in Ahimaaz Weide einen soliden, ernst zu nehmenden Mann, dem gelang, was immer er anpackte. Sie nannten ihn, seiner Augen wegen, Axahir, das heißt: weißer Zauberer. Ahimaaz akzeptierte den Beinamen - sollten sie ihn für einen Zauberer halten. Wobei Zauberei keineswegs im Spiel war, alles hing ab von Berechnung, Kaltblütigkeit und Psychologie.

Den Studentenausweis der Kaiserlichen Universität Charkow hatte der Onkel für dreihundertfünfzig Rubel erworben - kein sehr hoher Preis. Das Reifezeugnis des Gymnasiums mit Wappensiegel und echten Unterschriften hatte ihn mehr gekostet. Kurz nach jenem Ereignis in Chanacha hatte Hassan seinen Neffen in das stille Städtchen Solenowodsk zur Schule geschickt, die Rechnungen für drei Jahre im voraus bezahlt und war in die Berge davongefahren. Ahimaaz wohnte in einem Pensionat mit anderen Jungen, deren Väter in entlegenen Garnisonen dienten oder Karawanen von West nach Ost, vom Schwarzen zum Kaspischen Meer, und von

Nord nach Süd, von Rostow nach Erzurum führten. Ahimaaz pflegte keinen Umgang mit seinen Alters gefährten - sie gingen ihn nichts an. Er wußte etwas, das sie nicht wußten und kaum je erfahren würden. Hieraus erwuchs gleich im ersten Jahr, als Ahimaaz in die Vorbereitungsklasse zum Gymnasium ging, eine Schwierigkeit. Ein stämmiger, breitschultriger Mitschüler namens Kikin, der das gesamte Pensionat tyrannisierte, hatte es auf den »Balten« abgesehen, und die anderen schlossen sich der Hetzjagd an. Da allein gegen alle kaum etwas auszurichten war, übte Ahimaaz sich in Langmut, doch davon wurde es nur noch ärger. Eines Abends fand er sein Kopfkissen mit Kuhmist bestrichen vor, und er begriff, daß etwas geschehen mußte. Ahimaaz wägte die in Frage kommenden Varianten gegeneinander ab.

Er hätte die Rückkehr des Onkels abwarten und ihn um Hilfe bitten können. Doch wann Hassan zurückkehrte, war ungewiß. Vor allem aber hätte Ahimaaz es sehr bedauert, wenn die Hochachtung, die nach dem Vorfall von Chanacha in den Augen des Onkels aufgeflammt war, wieder erloschen wäre.

Er hätte versuchen können, Kikin zu verprügeln, doch das versprach wenig Aussicht auf Erfolg: Kikin war älter und kräftiger als er und prügelte sich nie Mann gegen Mann.

Er hätte sich beim Aufseher beschweren können. Doch Kikins Vater war Oberst und Ahimaaz ein Niemand, Neffe eines Wilden aus den Bergen, der Pension und Schulgeld mit Goldmünzen aus einem Lederbeutel berappt hatte.

Der einfachste und beste Weg war ein anderer: Kikin sterben zu lassen. Ahimaaz strengte sein Gehirn an und ersann eine Möglichkeit, wie das sauber und akkurat zu bewerkstelligen war.

Während Kikin dem »Baltenbastard« Tritte verpaßte, Reißzwecken in den Kragen schüttete und mit dem Blasrohr gekaute Papierkügelchen auf ihn schoß, geduldete sich Ahimaaz, bis es Mai wurde. Im Mai brach der Sommer an, und die Zöglinge liefen zum Baden an die Kuma hinunter. Hier hatte Ahimaaz schon seit Anfang April, als das Wasser noch eisig war, Tauchen geübt. Bis zum Mai hatte er gelernt, mit offenen Augen unter Wasser zu schwimmen, hatte den Grund des Flusses gründlich untersucht, und es machte ihm keine Mühe, eine ganze Minute die Luft anzuhalten. Alles war vorbereitet.

Und die Sache lief so glatt, wie er es sich ausgemalt hatte. Es kam der Tag, da alle am Fluß waren. Ahimaaz tauchte, packte Kikin von unten am Bein und zog ihn mit einem Ruck unter Wasser. In der Hand hielt Ahimaaz einen Strick, dessen anderes Ende fest an einem Baumstamm hing, der mit Wasser vollgesogen war und darum schwer am Grund des Flusses lag. Von Hassan hatte er den Kabardinerknoten gelernt, den man in Sekundenschnelle knüpfte und den keiner aufbekam, der den Trick nicht kannte.

Eine Bewegung genügte, und der Knoten saß straff am Knöchel seines Feindes. Ahimaaz schwamm hinauf an die Oberfläche und kletterte ans Ufer. Er zählte bis fünfhundert, bevor er von neuem tauchte. Kikin lag am Grund, Mund und Augen offen. Ahimaaz, der in sich hineinhorchte, spürte nichts als eine gelassene Befriedigung über die gute Arbeit. Er löste den Knoten und tauchte wieder auf. Die Jungen waren dabei, sich gegenseitig zu bespritzen, und kreischten dabei. Kikin vermißten sie nicht so bald.

Nachdem diese Schwierigkeit gelöst war, wurde das Leben im Pensionat viel angenehmer. Ohne Kikin als Anstifter gab es keinen mehr, der auf den »Balten«

Jagd machte. Ahimaaz wurde von Klasse zu Klasse versetzt. Seine Leistungen waren weder besonders gut noch besonders schlecht. Er ahnte schon, daß all die Wissenschaften ihm im Leben kaum etwas nützen würden. Wenn Hassan sich sehen ließ, was selten genug geschah, nahm er Ahimaaz für ein, zwei Wochen mit in die Berge, um zu jagen und das Nachtlager unter dem Sternenhimmel aufzuschlagen.

Gegen Ende der sechsten Klasse entstand für Ahimaaz eine neue Schwierigkeit. Ein Stück weit vor der Stadt, drei Werst die Stawropoler Landstraße hinaus, gab es ein Freudenhaus, wohin abends die männlichen Kurgäste fuhren. Auch Ahimaaz, der im sechzehnten Lebensjahr in die Länge geschossen war und in den Schultern zugelegt hatte, von daher gut als Zwanzigjähriger durchgehen konnte, war dieser Gewohnheit verfallen. Das hier war das Wahre, nicht das Pauken altgriechischer Brocken aus der »llias«.

Einmal hatte Ahimaaz Pech. Unten im Gesellschaftsraum, wo die geschminkten Dirnen ihre Limonade tranken und darauf warteten, daß einer mit ihnen nach oben ging, stieß er auf den Inspektor seines Gymnasiums, Kollegienrat Tenetow - hier in Zivil und mit falschem Bart. Tenetow, dem ein Blick von Ahimaaz genügte, um zu wissen, daß er erkannt worden war, sagte zwar nichts, hegte jedoch von dem Tag an einen wilden Haß auf den blonden jungen Mann. Bald schon war klar, was der Inspektor im Schilde führte: ihn bei den Sommerexamen durchfallen zu lassen. Sitzenzubleiben war peinlich und öde obendrein. Ahimaaz überlegte, was er tun konnte.

Wäre es nicht Tenetow gewesen, sondern ein x-beliebiger anderer Lehrer, dann hätte Hassan ihn bestechen können. Tenetow hingegen nahm kein Geld an und war darauf sehr stolz. Wobei ihm der Verzicht gewiß nicht schwer fiel, denn vor zwei Jahren hatte der Kollegienrat eine Kaufmannswitwe geehelicht und einhundertvierzigtausend Rubel Mitgift eingeheimst, das beste Haus in der Stadt obendrein.

Das Verhältnis zu Tenetow zu bereinigen schien unmöglich: Der Inspektor brauchte Ahimaaz nur zu sehen und fing zu zittern an.

Ahimaaz ging alle Möglichkeiten durch und verfiel auf die sicherste.

In jenem Frühjahr wurde Solenowodsk von Räubern unsicher gemacht: üblen Typen, die sich an späte Passanten anschlichen und ihnen das Messer ins Herz rammten, um Uhren, Brieftaschen oder Brillantringe zu entwenden. Es hieß, die berüchtigte Fleischerbande aus Rostow gebe in der Stadt ein Gastspiel. Eines Abends, als der Inspektor, von Petrossows Gastwirtschaft kommend, auf dem Heimweg war, lauerte ihm Ahimaaz in einer dunklen, menschenleeren Straße auf und stieß ihm seinen Dolch ins Herz. Dann nahm er dem Toten die Uhr an goldener Kette sowie die Brieftasche ab. Uhr und Brieftasche warf er in den Fluß, das Geld - siebenundzwanzig Rubel - behielt er.

Hiermit glaubte er auch diese Schwierigkeit gelöst zu haben, doch es ging böse aus. Eine Bedienstete hatte aus dem nächstliegenden Haus mit angesehen, wie Ahimaaz den Dolch an einem Büschel Gras abwischte und sich dann eilig vom Tatort entfernte. Das hintertrug sie der Polizei, und Ahimaaz landete im Karzer.

Nur gut, daß Onkel Hassan zufällig in der Stadt war.

Als erstes drohte der Onkel der Bediensteten, er würde ihr Nase und Ohren abschneiden, worauf sie zum Kreispolizeichef lief und angab, sie hätte sich in dem Mann versehen. Alsdann suchte Hassan den Polizeichef persönlich auf, legte fünftausend Rubel in Silber auf den Tisch - alles, was der Schmuggel letzthin eingebracht hatte -, und der Arrestant kam frei.

Ahimaaz schämte sich. Als der Onkel ihn sich vornahm, konnte er ihm nicht in die Augen sehen. Schließlich beichtete er die ganze Wahrheit: über Kikin, über den Inspektor.

Nach langem Schweigen seufzte Hassan nur und sagte: »Allah führt ein jedes Geschöpf seiner Bestimmung zu. Genug gelernt, Junge, jetzt geht es ans Geschäft.« Und ein neues Leben begann.

2

Früher hatte Hassan seine aus der Türkei und Persien herübergeschmuggelte Ware an Hehler gegeben. Jetzt brachte er sie selbst an den Mann - in Jekaterinodar, Stawropol, Rostow und auf dem Jahrmarkt von Nishni Nowgorod. Sie fand guten Absatz, denn Hassan hielt die Preise niedrig. Der Handel wurde per Handschlag und mit einem kleinen Umtrunk besiegelt. Anschließend kam Ahimaaz zum Zuge. Er jagte dem Käufer hinterher, schlug ihn tot und brachte die Ware zurück - zum nächsten Verkauf.

Den meisten Erfolg hatten sie 1859 in Nishni Nowgorod. Ein und dieselbe Partie Persianer, zehn Ballen, verkauften sie dreimal. Das erste Mal für eintausenddreihundert (Ahimaaz fing den Kaufmann nebst Gehilfen auf einem Waldweg ab und erstach die beiden mit dem Dolch), das zweite Mal für eintausendeinhundert (der Handelsmann konnte gerade noch ach! sagen, da hatte sein Reisegefährte, ein freundlicher Student, ihm die zweischneidige Klinge schon in die Niere gestoßen), ein drittes Mal für eintausendfünfhundert (und im Gürtel des Armeniers fanden sich noch einmal knapp dreitausend - welch ein Fang!).

Beim Töten war Ahimaaz ganz ruhig; nur wenn der Tod nicht umgehend eintrat, haderte er mit sich. Doch das kam selten vor. Er hatte eine sichere Hand.

Dies ging drei Jahre so. In der Zeit nahm Fürst Barjatinski den Imam Schamil gefangen, wodurch der lange Kaukasus-Krieg sein Ende hatte. Onkel Hassan heiratete ein Mädchen aus den Bergen, das einem edlem Geschlecht entstammte, und nahm später noch eine zweite Frau von etwas ärmerer Abstammung dazu - die Papiere wiesen sie als seine Adoptivtochter aus. Er kaufte in Solenowodsk ein Haus mit großem Garten, durch den kreischende Pfauen spazierten. Hassan wurde dickleibig und fand Gefallen daran, auf der Veranda Champagner zu trinken und zu philosophieren. Die Schmuggelware aus dem Gebirge herunterzubringen war er inzwischen zu faul, sie wurde ihm von zuverlässiger Seite angeliefert. Mit diesen Leuten saß er lange beim Tee und stritt über die Preise. Kamen die Verhandlungen ins Stocken, ließ Hassan Ahimaaz rufen. Der brauchte nur einzutreten, die Hand höflich an die Stirn zu legen und den störrischen Gast wortlos mit seinen hellen, ruhigen Augen anzusehen: Das half.

Einmal zur Herbstzeit - ein Jahr, nachdem Rußlands Bauern von der Leibeigenschaft erlöst worden waren - kam Hassans alter Freund und Geschäftspartner Abylgasi zu Besuch. Er erzählte, es gebe da in Semigorsk einen zugezogenen Neuchristen mit Namen Lasar Medwedjew. Der war letztes Jahr hergekommen, um seine Leibschmerzen zu kurieren, und geblieben, weil es ihm gut gefiel. Er hatte geheiratet (die Braut ohne Mitgift, aber hübsch), ein Haus mit Säulenportal an den Hang gebaut und drei Quellen gekauft. Jetzt kurten alle Gäste nur noch bei Medwedjew, und außerdem hieß es, er expediere allwöchentlich zehntausend Flaschen Mineralwasser nach Sankt Petersburg und Moskau. Was indes am aller-interessantesten war: Dieser Lasar besaß ein eisernes Zimmer. Er traute nämlich den Banken nicht und zeigte sich darin als kluger Mann. Sein vieles Geld hortete er im Keller unter seinem Haus. Dort gab es eine Kammer, deren Wände ganz aus Eisen waren, dazu eine Tür, auf die man mit einer Kanone hätte schießen können, ohne sie zu löchern. In so eine Kammer einzudringen sei freilich schwer, sagte Abylgasi, weshalb er für seine Geschichte auch keinen Vorschuß verlange; er sei vielmehr einverstanden, die Rechnung später aufzumachen, und auch hierbei wolle er bescheiden sein: einen Zehner von jedem erbeuteten Rubel, nicht mehr. »Ein eisernes Zimmer ist eine harte Nuß«, sprach Hassan, gravitätisch nickend, in Wirklichkeit hatte er von einem solchen noch nie gehört. »Darum sollst du, wenn Allah mir gnädig ist, pro Rubel einen Fünfer kriegen, mein Freund.«

Anschließend rief er den Neffen zu sich und berichtete, was er vom alten Abylgasi erfahren hatte. »Fahr nach Semigorsk«, trug er ihm auf, »und sieh nach, was das für ein Zimmer ist.«

3

Schneller als erhofft bot sich Ahimaaz Gelegenheit, einen Blick auf das eiserne Zimmer zu werfen.

Angetan mit einem grauen Cutaway und einem Zylinder von gleicher Farbe, machte er Medwedjew seine Aufwartung. Zuvor hatte er ihm aus dem Hotel eine Visitenkarte überbringen lassen, auf die in goldenen Lettern gedruckt war: »Handelshaus Hassan Radajew« AFANASSIPETROWITSCH WELDE, Kompagnon Medwedjew ließ ausrichten, er habe vom Handelshaus des hochverehrten Hassan Radajew viel gehört und bitte um unverzüglichen Besuch. Ahimaaz begab sich also zu dem neuen, schönen Haus am Rand der Stadt, das über einem Steilhang gelegen und von einer hohen Steinmauer umgeben war. Es ließ eher an eine Festung als an ein Wohnhaus denken. Hier konnte man eine Belagerung aussitzen.

Der Eindruck verstärkte sich noch, als Ahimaaz durch das eichene Tor trat: Zwei mit Stutzen bewaffnete Wächter (die sogar uniformiert waren, nur die Schulterstücken fehlten) patrouillierten über den Hof.

Der Hausherr war kahlköpfig, mit kantigem Schädel, stattlichem Bauch und berechnenden schwarzen Augen. Er ließ den jungen Mann am Tisch Platz nehmen, bot Kaffee und eine Zigarre an. Nach zehn Minuten höflicher, betulicher Unterhaltung über Politik und die Wollpreise kam die Frage, womit man dem verehrten Herrn Radajew denn zu Diensten sein könne.

Ahimaaz schlug hierauf ein Geschäft vor, das er sich als Vorwand hatte einfallen lassen. Man solle doch den Mineralwasseraustausch zwischen Solenowodsk und Semigorsk in Schwung bringen, sagte er.

»Ihr Wasser heilt den Magen, unseres ist gut für die Nieren. Vielen Gästen ist an dem einen so gut wie an dem anderen gelegen. Und um den Leuten die beschwerlichen hundert Werst durchs Gebirge zu ersparen, könnte man in Solenowodsk ein Geschäft der Fa. Medwedjew eröffnen und in Semigorsk eine Filiale des Handelshauses Radajew. Zu Ihrem und unserem Vorteil.«

»Ein guter Gedanke«, lobte der Neuchrist Medwedjew. »Ein sehr guter sogar. Nur leider gibt es an der Strecke viele Wegelagerer. Wie soll ich meinen Gewinn von Solenowodsk sicher herüberbringen?«

»Wozu das denn? Man kann ihn doch zur Bank tragen.«

Medwedjew fuhr sich mit der Hand durch den lockigen Haarkranz. Er lächelte.

»Ich traue den Banken nicht, Herr Weide. Ich ziehe es vor, mein Geld im Haus zu haben.«

»Aber ist das nicht viel zu gefährlich? Fürchten Sie keinen Raubüberfall?« Ahimaaz wiegte mißbilligend den Kopf.

»Hier gibt es keinen Raubüberfall«, verkündete Medwedjew und zwinkerte dabei schlau. »Erstens habe ich Soldaten im Haus, ExKantonisten, die auf dem Hof rund um die Uhr Wache stehen. Und zweitens kann ich mich auf meinen Panzerraum verlassen. Da kommt außer mir keiner rein.«

Ahimaaz wollte gerade fragen, was das denn für ein Raum sei, da machte der Hausherr selbst den Vorschlag: »Wollen Sie vielleicht einen Blick darauf werfen?«

Während sie in den Keller hinabstiegen (es gab einen extra Eingang vom Hof her), erzählte Medwedjew, ein Ingenieur aus Stuttgart habe ihm die Schatzkammer gebaut. Mit einer acht Zoll dicken Stahltür. An der Tür ein Schloß mit achtstelliger Zahlenkombination. Die kenne nur er, Medwedjew, und ändere sie jeden Tag.

Sie kamen in den Vorraum, wo eine Petroleumlampe brannte. Ahimaaz sah die Stahlwand und die schmiedeeiserne, mit runden Nietenköpfen besetzte Tür.

»So eine kriegt niemand auf, nicht mal mit Sprengstoff«, prahlte der Hausherr. »Sogar der Stadthauptmann bewahrt seine Ersparnisse bei mir auf, auch der Polizeichef und die hiesigen Kaufleute. Ich lasse es mir gut bezahlen, aber das ist den Leuten egal. Hier liegt ihr Geld sicherer als auf jeder Bank.«

Ahimaaz nickte ehrfürchtig. Daß nicht nur Medwedjews Geld in dem eisernen Zimmer lagerte, war eine interessante Neuigkeit.

Und es folgte ein weiterer überraschender Vorschlag.

»Richten Sie Ihrem verehrten Onkel aus, Gott möge ihn segnen mit Gesundheit und geschäftlichem Wohlergehen, und er soll sich nicht sorgen. Ich bin noch nicht lange hier im Kaukasus, aber wen ich kennen muß, den kenne ich schon. Meine Hochachtung Herrn Radajew und besten Dank für die Aufmerksamkeit gegenüber meiner Person. Was den Wasseraustausch angeht, so ist das eine feine Idee. Stammt die von Ihnen?«

Gönnerhaft klopfte Medwedjew dem jungen Mann auf den Rücken und sprach eine Einladung aus: Donnerstags pflegte sich die bessere Gesellschaft von Semigorsk in seinem Haus zu versammeln.

Daß der Mann gerissen und noch dazu gut unterrichtet schien, war noch die geringste Schwierigkeit. Kompliziert wurde es erst, als Ahimaaz am darauffolgenden Donnerstag der Einladung in das Haus am Hang folgte, um die Anordnung der Räume zu studieren.

Vorerst sah sein Plan so aus: Man mußte nachts die Wache überwältigen, dem Hausherrn den Dolch an die Kehle setzen und sehen, was ihm mehr wert war: seine Schatzkammer oder sein Leben. Ein ausgesprochen simpler Plan, der Ahimaaz nicht sonderlich gefiel.

Erstens würde er nicht ohne Helfer auszuführen sein. Zweitens gab es Leute, denen Geld allemal über ihr eigenes Leben ging, und sein Instinkt sagte ihm, daß Lasar Medwedjew zu ihnen zählte.

Die Schar der Donnerstagsgäste war groß, und Ahimaaz durfte hoffen, zu etwas späterer Stunde, wenn alle bei Tisch saßen und zechten, sich unbemerkt entfernen und eine Besichtigung des Hauses vornehmen zu können. Doch dazu kam es nicht. Denn gleich zu Beginn des Abends ergab sich die schon erwähnte Komplikation.

Als der Hausherr dem Gast seine Frau vorstellte, fiel Ahimaaz zunächst nur auf, daß der alte Abylgasi nicht gelogen hatte. Sie war jung und ansehnlich: aschblondes Haar mit einem goldenen Schimmer, die Augen hübsch geschnitten. Jewgenija war

ihr Name. Doch gingen die Reize der Madame Medwedjewa Ahimaaz nichts an, weshalb er sich, nachdem die schmale, weiße Hand der Gattin geküßt war, schleunigst in die Tiefe des Salons begab und im hintersten Winkel postierte, nahe der Portiere, von wo er die ganze Gesellschaft ebenso gut im Blick hatte wie die Tür, die zu den verborgenen Gemächern führte.

Hier nun spürte die Hausherrin ihn auf. Nahe herantretend, fragte sie leise: »Bist du es, Lia?« Worauf sie sich selbst die Antwort gab: »Du bist es. Solche Augen hat nur einer.«

Ahimaaz schwieg, von einer seltsamen, nie zuvor empfundenen Starre erfaßt, während Jewgenija in hastigem, sich überstürzendem Flüsterton weitersprach:

»Was willst du hier? Mein Mann sagt, du seiest ein Gauner und Mörder und wolltest ihn ausrauben. Stimmt das? Du mußt nicht antworten, mir ist das gleich. Ich hab so lange auf dich gewartet! Irgendwann hab ich aufgehört zu warten und geheiratet, und jetzt bist du da. Holst du mich weg von hier? Bist du mir böse, daß ich die Geduld verloren habe? Du erinnerst dich doch an mich? An Shenja aus dem Waisenhaus?«

Plötzlich sah Ahimaaz klar und deutlich vor sich, woran er all die Jahre kein einziges Mal gedacht hatte: Wie Hassan ihn aus dem Skirowsker Heim geholt hatte und das dürre Mädchen wortlos hinter dem Pferd hergerannt war. »Lia, ich warte auf dich!« hatte sie, wenn er nicht irrte, zuletzt gerufen.

Dies war nun eine Schwierigkeit, die sich mit den erprobten Mitteln nicht aus der Welt schaffen ließ. Das merkwürdige Verhalten der Frau Medwedjewa wußte Ahimaaz nicht zu deuten. War das womöglich die Liebe, von der in den Romanen die Rede war? Er glaubte ihnen nicht und hatte nach dem Gymnasium keinen einzigen mehr angefaßt. Die Sache war heikel und unangenehm.

Ahimaaz verließ die Gesellschaft, ohne zu Jewgenija ein einziges Wort gesagt zu haben. Er schwang sich auf sein Pferd und ritt zurück nach Solenowodsk. Dem Onkel berichtete er von dem eisernen Zimmer und der Schwierigkeit, die sich aufgetan hatte. Hassan dachte nach und meinte: »Eine Frau, die ihren Mann verrät - das ist nicht gut. Doch die Winkelzüge des Schicksals zu beurteilen steht uns nicht an. Wir haben zu tun, was das Schicksal von uns will. Und das Schicksal will es, daß wir mit Hilfe von Medwedjews Frau in das eiserne Zimmer gelangen. Soviel steht fest.«

4

Den Weg hinauf zu Medwedjews Anwesen gingen Hassan und Ahimaaz zu Fuß, um die Wachleute nicht durch das Getrappel von Hufen hellhörig zu machen. Die Pferde hatten sie im Wäldchen unterhalb des Hangs stehen lassen. Unten im Tal leuchteten nur noch vereinzelte Lichter - Semigorsk schlief schon. Über den schwarzgrünen Himmel glitten durchscheinende Wolken, wodurch die Nacht von einer Minute auf die andere Minute aufhellte und wieder finster wurde.

Den Plan hatte Ahimaaz entworfen. Jewgenija würde auf ein ver einbartes Klopfzeichen die Gartenpforte öffnen. Sie würden sich durch den Garten zum Hof schleichen, die beiden Wächter unschädlich machen und in den Keller hinabsteigen. Jewgenija würde die Panzertür öffnen - der Gemahl hatte ihr gezeigt, wie das ging. Und die Zahlenkombination pflegte er auf einen Zettel zu schreiben, den er bei sich im Schlafzimmer hinter der Ikone versteckte. Er hatte Angst, die Kombination zu vergessen, denn dann hätte man das Steinfundament des eisernen Zimmers aufmeißeln müssen - anders kam man nicht hinein. Sie würden nicht alles einstecken, sondern nur, was sie auf einmal wegtragen konnten. Jewgenija würde er mitnehmen.

Während sie dabei gewesen waren, dies alles abzusprechen, hatte sie ihm plötzlich in die Augen gesehen und gefragt:

»Betrügst du mich auch nicht, Lia?«

Er hatte lange nicht gewußt, wie er es mit ihr halten sollte. Der Onkel gab keinen Rat. »Wenn der Moment der Entscheidung gekommen ist, wird dein Herz dir das Richtige sagen«, meinte er. Pferde hatten sie jedenfalls drei dabei. Eines für Hassan, eines für Ahimaaz und eines für die Beute. Der Neffe hatte zugesehen, wie Hassan den Fuchs, den Rappen und den Braunen aus dem Stall führte, und nichts dazu gesagt.

Jetzt schlichen sie lautlos die weiße Mauer entlang, und Ahimaaz überlegte, wie es sein mochte, wenn das Herz einem etwas sagte. Bislang schwieg es.

Die Pforte ging sofort auf; die Angeln waren geschmiert und knarrten nicht.

Dahinter stand Jewgenija in Burka und Papacha. Marschbereit.

»Du gehst hinter uns, Frau!« flüsterte Hassan, und sie rückte zur Seite, um die Männer durchzulassen.

Sechs ehemalige Soldaten hatte Medwedjew in Dienst genommen. Zu zweit schoben sie Wache und lösten einander alle vier Stunden ab.

Ahimaaz stellte sich hinter einen Apfelbaum und sah nach, was sich im Hof tat. Einer der Wächter saß, das Gewehr im Arm, auf dem Prellstein neben dem Tor und döste. Der andere schritt die Strecke vom Tor zum Haus gemessen auf und ab: dreißig Schritt hin, dreißig Schritt her.

Es war klar, daß die Wächter getötet werden mußten. Schon als Ahimaaz in Jewgenijas Bitte eingewilligt hatte, die zwei nur zu betäuben und zu fesseln, wußte er, daß dieses Versprechen nicht zu halten war.

Ahimaaz paßte den Moment ab, da der patrouillierende Wächter stehenblieb, um sich eine Pfeife anzuzünden, kam, vollkommen geräuschlos in seinen weichen Lederschuhen, von hinten gesprungen und hieb dem Mann den Schlagring knapp über das Ohr. So ein Schlagring ist unersetzlich, wenn es darum geht, sehr schnell zu töten. Besser als jedes Messer, das man aus der Wunde wieder herausziehen muß, womit man eine kostbare Sekunde verliert.

Der Soldat gab beim Sterben keinen Laut von sich, Ahimaaz fing den erschlaffenden Körper auf. Doch der zweite Wächter schlief einen leichten Schlaf, das Knirschen des berstenden Knochens weckte ihn, und sein Kopf fuhr herum.

Im Nu hatte Ahimaaz den Toten von sich gestoßen und war in drei Riesensätzen beim Tor. Der Soldat riß den schwarzen Rachen auf, doch für den Schrei war es zu spät. Von dem Schlag gegen die Schläfe kippte ihm der Kopf nach hinten und schlug dumpf gegen die Eichenbohlen.

Den einen Toten zerrte Ahimaaz in den Schatten, den anderen plazierte er so, wie er zuvor gesessen hatte.

Auf seinen Wink hin betraten Hassan und Jewgenija den vom Mondlicht erhellten Hof. Schweigend blickte die Frau auf die sitzende Leiche und umfaßte fröstelnd ihre Schultern. Man hörte ihre Zähne leise aufeinanderschlagen. Hier im Mondschein konnte Ahimaaz erkennen, daß sie unter dem Umhang eine Patronenweste trug und einen Dolch im Gürtel stecken hatte.

»Geh, Frau, schließ das eiserne Zimmer auf!« drängte Hassan.

Sie stiegen die Treppe zum Keller hinab. Jewgenija öffnete mit einem Schlüssel die Tür. Unten in dem quadratischen Vorraum, dessen eine Wand ganz aus Stahl war, zündete Jewgenija die Lampe an. Sie trat vor das Rad an der Panzertür und fing an, es erst nach rechts und dann wieder nach links zu drehen, zwischendurch sah sie auf einen Zettel. Kopfschüttelnd schaute Hassan ihr zu. In der Tür klickte es, Jewgenija zerrte, doch das stählerne Türblatt war zu schwer für sie.

Hassan schob die Frau beiseite, schnaubte kurz, und die Tür begann sich erst träge und dann immer geschwinder nach außen zu bewegen.

Ahimaaz nahm die Lampe und ging hinein. Der Raum war kleiner als erwartet: etwa zehn Schritt breit, fünfzehn Schritt tief. Er enthielt Truhen, Säckchen und Kanzleiordner in größerer Zahl.

Hassan öffnete eine Truhe und klappte sie gleich wieder zu - Silberbarren lagen darin. Sie waren zu schwer, um viel davon wegzutragen. In den Säckchen hingegen klimperten die Goldmünzen, und der Onkel schnalzte erfreut. Er fing an, sich die Säckchen unter das Hemd zu stopfen und, als dort nichts mehr hineinging, in den Umhang zu werfen.

Ahimaaz interessierte sich mehr für die Ordner. In ihnen fand er Aktien und Obligationen. Er wählte die aus, die viel gezeichnet und am höchsten bewertet waren. Aktien von Rothschild, Krupp und den Manufakturen der Gebr. Chludow, die mehr wert waren als alles Gold - doch Hassan war ein Mann von altem Schlag und hätte sich auf derlei nie und nimmer eingelassen.

Unter Ächzen wälzte der Onkel sich das schwere Bündel auf den Rücken, sah sich mit Bedauern um - da waren noch viele Säckchen übrig - und begab sich seufzend zur Tür. Ahimaaz trug einen dicken Packen Wertpapiere unter der Jacke. Jewgenija hatte nichts angerührt.

Als der Onkel die kurze Treppe zum Hof hinaufstieg, krachte eine Salve von Schüssen. Hassan fiel nach hinten um und kam kopfüber die Treppe wieder heruntergerutscht. Sein Gesicht trug die Züge eines Menschen, den der Tod überrascht hat. Aus dem Bündel, das aufgegangen war, regnete es glänzende, klingelnde Goldmünzen.

Ahimaaz ging nieder auf alle viere, kroch ein paar Stufen hinauf und spähte vorsichtig nach draußen. In der Hand hielt er einen amerikanischen Colt mit langem Lauf, in dessen Trommel sechs Patronen steckten.

Auf dem Hof war niemand. Der Gegner hatte sich auf der Veranda des Hauses verschanzt und war von unten nicht zu sehen. Doch auch Ahimaaz war vermutlich nicht sichtbar, da die Kellertreppe im tiefen Schatten lag.

»Einer von euch ist tot!« ertönte Lasar Medwedjews Stimme. »Wer ist es, Hassan oder Ahimaaz?«

Ahimaaz zielte in Richtung der Stimme, drückte aber nicht ab -er schoß ungern daneben.

»Hassan, es war Hassan!« rief der Neuchrist überzeugt. »Sie sind schlanker, Herr Weide. Kommen Sie raus, junger Mann. Sie sitzen in der Falle. Schon mal was von Elektrizität gehört? Wenn die Tür zum Panzerraum aufgeht, wird bei mir im Schlafzimmer Alarm ausgelöst. Wir sind hier zu viert - ich und drei von meinen Knappen. Der vierte ist zur Polizei unterwegs. Kommen Sie, wozu das Ganze in die Länge ziehen. Zu so später Stunde!«

Sie gaben noch eine Salve ab, wohl eher zur Einschüchterung. Die Kugeln schwirrten zwischen den Wänden der Kammer hin und her.

Jewgenija flüsterte ihm von hinten etwas zu.

»Ich gehe raus. Bei der Finsternis, in der Burka, erkennen sie mich nicht. Sie denken, du bist es. Sie kommen aus der Deckung, und du kannst sie alle erschießen.«

Ahimaaz überdachte den Vorschlag. Er hätte Jewgenija jetzt mitnehmen können - ein Pferd war frei geworden. Leider gab es keine Chance, zu den Pferden zu gelangen.

»Nein«, sagte er. »Die haben viel zuviel Angst vor mir und schießen gleich.«

»Nicht, wenn ich mit erhobenen Händen komme.«

Ohne zu zögern, trat sie über den liegenden Ahimaaz hinweg ins Freie, die Arme weit ausgebreitet, so als fürchtete sie, das Gleichgewicht zu verlieren. Sie war gerade einmal fünf Schritte gegangen, als kurz hintereinander mehrere Schüsse fielen.

Jewgenija fiel auf den Rücken. Von der dunklen Galerie kamen zögernd vier schwarze Schatten herunter. Wie ich es gesagt habe! dachte Ahimaaz. Sie schießen gleich.

Und er erschoß sie alle vier.

In späteren Jahren kam ihm Jewgenija nur noch selten in den Sinn. Wenn ihn zufällig etwas an sie erinnerte. Oder im Traum.

MAITRE LICOLE 1

1

Mit dreißig spielte Ahimaaz Weide gern Roulette. Nicht daß es ihm ums Geld gegangen wäre - das verdiente er sich auf andere Weise, und mehr, viel mehr, als er je hätte ausgeben können. Ihm gefiel es, den blinden Zufall zu überlisten und Herrschaft über die Willkür der Zahlen zu gewinnen. Die Roulettescheibe aus blitzendem Metall mit dem gemütlich klackenden Drehkreuz rotierte im polierten Mahagoni des Kessels nach Gesetzen, die nur sie selbst zu kennen schien; doch kluge Berechnung, Ausdauer und Selbstkontrolle machten sich hier ebenso bezahlt wie in jeder anderen Situation, die Ahimaaz je erlebt hatte, und das zugrunde liegende Gesetz schien dasselbe zu sein, das er schon aus Kindertagen kannte. Die Einheit des Lebens bei aller unendlichen Vielfalt seiner Formen -das war es, was Ahimaaz faszinierte. Jede neue Bestätigung dieser Wahrheit führte dazu, daß sich sein sonst so regelmäßiger Herzschlag eine Winzigkeit beschleunigte.

In seinem Leben gab es mitunter längere Phasen der Untätigkeit, da er gezwungen war, sich irgendeinen Zeitvertreib zu suchen. Die Engländer hatten hierfür eine vorzügliche Erfindung gemacht: Hobby hieß das. Ahimaaz hatte zwei solcher Hobbys - das Roulette und die Frauen. Bei den Frauen hielt er sich an die besten und echtesten - die professionellen nämlich. Sie waren unprätentiös und berechenbar, sie wußten, daß es Regeln gab, die zu befolgen waren. Auch Frauen waren grenzenlos vielfältig und doch allesamt auf jene allgemeingültige, gleichbleibende Weise Frau. Ahimaaz pflegte die teuersten über eine Pariser Agentur kommen zu lassen und buchte sie zumeist für einen ganzen Monat. War eine besonders gut, verlängerte er den Vertrag um einen weiteren Monat, nie jedoch mehr - dies war eine eiserne Regel.

Die letzten zwei Jahre hatte er in dem deutschen Kurort Roulettenburg gelebt, denn hier, in Europas fröhlichstem Städtchen, konnte er beiden Hobbys mühelos frönen. Roulettenburg ähnelte Solenowodsk: ein Kurbad voll träger, müßiggehender Menschen, keiner kannte den anderen und interessierte sich für ihn. Nur die Berge fehlten. Derselbe Eindruck von Endlichkeit, Kurzlebigkeit, Künstlichkeit drängte sich auf. Ahimaaz schien es, als wäre solch ein Kurort das sauber und akkurat im Maßstab 1:500 oder 1:1000 ausgeführte Modell des Lebens. Der Mensch ist fünfhundert oder, wenn er Glück hat, tausend Monate auf der Welt - nach Roulettenburg kam man für einen. Die Kurgastexistenz währte im Schnitt dreißig Tage, im selben Intervall wechselten hier die Generationen. Und in diese Zeit paßte alles hinein: die Freude der Ankunft, die Eingewöhnung,die ersten Anzeichen von Langeweile, der Kummer ob der bevorstehenden Rückkehr in eine andere, größere Welt. Es gab hier kurze Romanzen, heftige, doch flüchtige Leidenschaften, es gab vorübergehende Berühmtheiten und Sensationen auf Zeit. Ahimaaz selbst war

jedoch Stammgast in diesem Puppentheater. Er hatte sich eine Existenzdauer verschafft, die sich von der aller anderen unterschied.

Im Hotel »Kaiser«, wo die indischen Nabobs abstiegen, die amerikanischen Goldgrubenbesitzer und die inkognito reisenden russischen Großfürsten, bewohnte er eines der besten Zimmer. Nur Mittelsleute wußten, wo er zu finden war. Kam ein Auftrag, hielt man das Zimmer über Wochen oder, wenn die Sache sich hinzog, gar über Monate für ihn frei.

Das Leben war angenehm. Phasen der Anspannung wechselten mit Phasen der Zerstreuung, da das Auge sich am Grün des Spieltischs freuen durfte und das Ohr am gleichmäßigen Surren der Roulettescheibe. Rundum kochten die im Maßstab der Zeit konzentrierten Leidenschaften: Solide Herren wurden abwechselnd rot und blaß, Damen fielen in Ohnmacht, jemand schüttelte mit zitternden Händen die letzte Golddukate aus dem Portemonnaie. An diesem ergreifenden Spektakel konnte Ahimaaz sich nicht sattsehen. Selbst verlor er nie, denn er spielte mit System.

Sein System war so einfach und offensichtlich, daß man sich wundern mußte, wieso es nicht auch andere benutzten. Sie besaßen wohl einfach nicht die Geduld dafür, nicht die Ausdauer und nicht die Fähigkeit, ihre Emotionen im Zaum zu halten - all das, was Ahimaaz im Übermaß zur Verfügung hatte. Man mußte nur immer auf dieselbe Chance setzen und den Einsatz stetig verdoppeln. Hatte man genügend Geld, kam früher oder später alles zurück, was man verloren hatte, und immer noch etwas hinzu. Das war das ganze Geheimnis. Hierfür mußte man freilich nicht auf die einzelne Zahl setzen, sondern auf einen größeren Sektor. Ahimaaz belegte in aller Regel ein Dutzend.

Er trat an einen der Tische, wo in unbegrenzter Höhe gesetzt werden durfte, wartete, daß irgendein Dutzend sechsmal in Folge nicht erschien, und griff ins Spiel ein. Er begann mit einem Goldrubel. Gewann sein Dutzend nicht, setzte er zwei Rubel, dann vier, dann acht und immer so weiter, bis die Kugel endlich dort landete, wo sie hinsollte. Den Einsatz konnte Ahimaaz in jede beliebige Höhe treiben, Geld hatte er genug. Einmal, vergangenes Jahr kurz vor Weihnachten, verlor das Dutzend, das er belegt hielt, zwei-undzwanzigmal hintereinander - sechs im Vorlauf und sechzehn unter Einsatz. Doch Ahimaaz zweifelte keinen Moment lang am Erfolg. Jeder Fehlschlag konnte die Aussicht auf Gewinn nur erhöhen.

Während er damals einen Scheck nach dem anderen auf den Tisch warf, wobei die Anzahl der Nullen immerzu wuchs, kam ihm eine Episode aus seiner Amerikazeit in den Sinn.

Es war im Jahr 1866. Damals hatte er einen gewichtigen Auftrag aus Louisiana erhalten. Es galt, einen Kommissar der Bundesregierung aus dem Weg zu räumen, der die »Carpetbagger« daran hindern wollte, Konzessionen zu verteilen. »Carpettbagger« waren jene unternehmungslustigen politischen Abenteurer aus

dem Norden, die mit nur einer Reisetasche im besiegten Süden ankamen und im personengebundenen Pullman-Waggon von dort zurückkehrten.

Es war eine wirre Zeit und ein Menschenleben in Louisiana damals nicht viel wert. Doch für den Kommissar gab es gutes Geld, denn es war äußerst schwer, an ihn heranzukommen. Der Kommissar wußte, daß Jagd auf ihn gemacht wurde, und verhielt sich klug, indem er seine Residenz gar nicht erst verließ. Er schlief, aß und unterschrieb Papiere ausschließlich in den eigenen vier Wänden. Die Residenz wurde rund um die Uhr von blau uniformierten Soldaten bewacht.

Ahimaaz hatte sich in einem Hotel eingemietet, das in etwa dreihundert Schritt Entfernung von der Residenz lag - näher heranzukommen war ihm nicht gelungen. Von seinem Zimmer aus war das Fenster zu sehen, hinter dem der Kommissar sein Arbeitszimmer hatte. Morgens pünktlich um halb acht zog das Objekt die Vorhänge auf. Die Tätigkeit nahm drei Sekunden in Anspruch - in dieser Zeit ließ sich auf derart große Distanz nicht sicher zielen. Das Fenster war von einer breiten senkrechten Sprosse in zwei Hälften unterteilt, und ein zusätzliches Problem bestand darin, daß der Kommissar beim Zurückziehen der Gardine manchmal links neben der Sprosse und manchmal rechts davon stand. Ahimaaz hatte nur einen Schuß zur Verfügung - wenn der sein Ziel verfehlte, war die Sache verpatzt, eine zweite Chance würde sich nicht bieten. Deshalb mußte er auf Nummer Sicher gehen.

Es gab nur zwei Varianten: Sein Ziel konnte entweder rechts oder links auftauchen. Sagen wir: rechts! entschied Ahimaaz. Es war egal. Das langläufige Gewehr mit dem in einen Schraubstock gespannten Schaft wurde punktgenau auf Brusthöhe, sechs Zoll rechts neben der Sprosse visiert. Noch sicherer wären zwei Gewehre gewesen, eines für rechts und eines für links, doch dazu hätte er einen Assistenten gebraucht, und in jenen Jahren (wie auch jetzt noch, von Fällen äußerster Notwendigkeit abgesehen) zog er es vor, ohne Gehilfen zu arbeiten.

Die Munition war von besonderer Art: eine Sprengkugel, die aufplatzte wie eine Blütenknospe. Sie enthielt eine Leichengiftessenz. Es reichte, wenn eine winzige Menge davon in die Blutbahn gelangte; jede noch so leichte Verwundung hatte den Tod zur Folge.

Alles war bereit. Am ersten Morgen tauchte der Kommissar in der linken Hälfte auf. Am zweiten ebenfalls. Ahimaaz wurde nicht ungeduldig - er wußte, morgen, spätestens übermorgen würden die Vorhänge von rechts aufgezogen, und dann drückte er ab.

Doch der Kommissar schien in seinen Gewohnheiten wie ausgetauscht. Von dem Tag an gerechnet, da das Visier eingerichtet worden war, zog er die Vorhänge sechsmal hintereinander nicht von rechts, sondern von links auf.

Ahimaaz kam zu der Auffassung, daß sein Objekt eine Routine ausgebildet hatte, und lenkte das Visier auf sechs Zoll links von der Mitte um. Am Morgen des siebten Tages kam der Kommissar von rechts! Nicht anders am achten und am neunten.

Da verstand Ahimaaz, daß es beim Spiel mit dem Zufall vor allem eines zu beachten gab: nicht die Geduld zu verlieren. Er wartete also. Am elften Morgen kam der Kommissar von der richtigen Seite, und die Arbeit ward getan.

Und ebenso war es letztes Jahr kurz vor Weihnachten geschehen: Beim siebzehntenmal, als sein Einsatz auf fünfundsechzigtau-send angewachsen war, rollte die Kugel endlich an die richtige Stelle. Ahimaaz bekam knapp zweihunderttausend ausgezahlt. Das machte den Verlust sämtlicher vorhergehender Einsätze wett und bescherte noch einen kleinen Gewinn.

2

Jener Septembermorgen des Jahres 1872 begann wie üblich. Ahimaaz frühstückte mit Azalie. Das war eine schlanke, biegsame Chinesin mit erstaunlicher Stimme: hell wie ein Kristallglöckchen. In Wirklichkeit hatte sie natürlich einen anderen, chinesischen Namen, der aber, wie von der Agentur zu erfahren gewesen, »Azalie« bedeutete. Ahimaaz hatte sie auf Probe geschickt bekommen -sozusagen ein Warenmuster. Frauen aus Fernost gab es erst seit kurzem auf dem europäischen Markt. Der Preis lag um die Hälfte niedriger als sonst, und wenn Monsieur Weide das Mädchen vor der Zeit loswerden wollte, bekam er sein Geld zurück. Als Gegenleistung für diesen Bonus bat die Agentur den ausgewiesenen Kenner und Stammkunden um sein geschätztes Urteil, Azalies Fähigkeiten im speziellen und die perspektivischen Chancen orientalischer Ware im allgemeinen betreffend.

Ahimaaz war geneigt, Höchstnoten zu erteilen. Morgens, wenn Azalie, vor dem venezianischen Spiegel sitzend, ein Liedchen trällerte, zog sich in Ahimaaz' Brust etwas zusammen. Das war ihm durchaus nicht recht. Die Chinesin war einfach zu hübsch. Was, wenn er sich plötzlich an sie gewöhnte und nicht von ihr lassen mochte? Er hatte schon beschlossen, das Mädchen vor Ablauf der Frist zurückzugeben, doch würde er das Geld nicht zurückverlangen und eine ausgezeichnete Beurteilung geben, um dem Mädchen nicht die Karriere zu verbauen.

Um viertel nach zwei ging Ahimaaz ins Casino - auch dies wie jeden Tag. Er trug ein milchkakaofarbenes Jackett, karierte Pantalons und gelbe Handschuhe. Die Lakaien kamen auf ihn zugestürzt, nahmen Stöckchen und Zylinder entgegen. Herr Weide war in Roulettenburgs Spielhäusern wohlbekannt. Zunächst hatte man seine Manier zu spielen als unvermeidliches Übel hingenommen, mit der Zeit jedoch bemerkt, daß die beständige Verdoppelung des Einsatzes, wie der nicht sehr gesprächige blonde Mann mit den kalten hellen Augen sie praktizierte, die Tischnachbarn zum Hasard anstachelte. So wurde Ahimaaz in diesen Etablissements ein gern gesehener Gast.

Er trank seinen gewohnten Kaffee mit Likör und sah die Zeitungen durch. England und Rußland konnten sich in der Zollfrage nach wie vor nicht einigen. Frankreich hielt Reparationszahlungen zurück, weshalb Bismarck eine Protestnote nach Paris gesandt hatte. In Belgien stand der Prozeß gegen den Rattenfänger von Brüssel kurz bevor.

Nachdem die Zigarre aufgeraucht war, begab sich Ahimaaz an Tisch zwölf - hier waren die Einsätze nach oben offen.

Man spielte zu dritt; ein grauhaariger Herr saß nur dabei und ließ nervös den Deckel seiner goldenen Taschenuhr auf- und zuklappen. Als er Ahimaaz erblickte, saugten sich seine Augen an ihm fest. Instinkt und Erfahrung sagten Ahimaaz, daß dies ein Kunde war. Der nicht zufällig hier saß, sondern auf ihn wartete. Ahimaaz ließ sich jedoch nichts anmerken. Sollte er selber kommen.

Achteinhalb Minuten später stand sein erstes Dutzend fest: der-nier, 24 bis 36. Er setzte einen Friedrichsdor. Und gewann drei. Der Grauhaarige schaute immer noch herüber, sein Gesicht war blaß. Ahimaaz wartete wieder, diesmal elf Minuten, bevor er seine nächste Partie festlegte. Er setzte die Goldmünze auf premier- 1 bis 12. Die Dreizehn gewann. Beim nächsten Coup setzte er zwei. Zero-Spiel. Er erhöhte auf vier. Die Acht gewann. Zwölf Friedrichsdor Gewinn. Reingewinn: fünf. Es ging seinen Gang, keinerlei Überraschungen.

Da stand der Grauhaarige endlich auf und trat an ihn heran. »Herr Weide?« erkundigte er sich leise.

Ahimaaz nickte, ohne den Blick von der rotierenden Roulettescheibe zu wenden.

»Ich komme zu Ihnen auf Anraten des Baron de ...«

Er nannte den Namen eines Brüsseler Mittelsmannes.

»Ich hätte dringend etwas mit Ihnen zu bereden«, fuhr er in sichtlich wachsender Aufregung fort. »Es geht um ...«

»Wie wär's mit einem kleinen Spaziergang?« unterbrach ihn Ahimaaz und verstaute seinen Gewinn im Portemonnaie.

Der grauhaarige Herr entpuppte sich als Leon Fechtel, Inhaber des europaweit bekannten belgischen Bankhauses Fechtel & Fechtel. Der Bankier hatte ein ernsthaftes Problem.

»Haben Sie über den Rattenfänger von Brüssel gelesen?« fragte er, als sie sich auf einer Parkbank niedergelassen hatten.

Die Zeitungen waren voll davon. Der Triebtäter, der die kleinen Mädchen entführt hatte, war endlich gefaßt worden. Wie der »Petit Parisienne« schrieb, sei ein »Herr F.«, Besitzer einer Brüsseler Vorstadtvilla, von der Polizei verhaftet worden. Der Gärtner hatte gemeldet, nachts aus dem Keller des Hauses ersticktes Kindergeschrei vernommen zu haben. Die Polizei war diskret ins Haus eingedrungen, hatte eine Durchsuchung vorgenommen, im Keller eine Geheimtür entdeckt und dahinter, mit den Worten des Korrespondenten, »ein Bild des Grauens, das zu beschreiben kein Papier ertrüge«. Nichtsdestoweniger ließ der Korrespondent nur einen Absatz später eine solche Beschreibung in allen Details folgen. Die Polizei hatte in mehreren Eichenbottichen eingelegte Körperteile von sieben der in Brüssel und Umgebung während der letzten zwei Jahre verschollenen Mädchen entdeckt. Außerdem gab es eine noch ganz frische Leiche, die Spuren unbeschreiblicher Folterungen aufwies. Insgesamt waren vierzehn Mädchen im Alter von sechs bis dreizehn Jahren spurlos verschwunden. Ein paarmal war gesehen 144

worden, wie ein vornehm gekleideter Herr mit schwarzem Backenbart kleine Blumen- und Zigarettenhändlerinnen zu sich in die Kutsche lud. Und einmal hatte ein Zeuge gehört, wie der Backenbart das 11-jährige Blumenmädchen Lucille Lanout überredete, ihm den ganzen Korb nach Hause zu tragen, wofür er ihr sein elektrisches Klavier zu zeigen versprach, das ganz von allein die wunderschönsten Melodien spielte. Nach diesem Vorfall hieß das Monster in den Zeitungen nicht mehr »Blaubart«, es bekam seinen Namen in Anlehnung an jenen Rattenfänger aus dem Märchen, der die Kinder mit den Klängen seiner Zauberpfeife hinter sich herlockt.

Über den in Haft genommenen Herrn F. stand zu lesen, daß er der höheren Gesellschaft angehöre, ein typischer Vertreter der Jeunesse doree. Schwarzer Backenbart und elektrisches Klavier seien keine Erfindung gewesen. Das Motiv des Verbrechens liege auf der Hand, schrieb der »Evening Standard«: perverse Wollust im Geiste des Marquis de Sade. Ort und Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung standen bereits fest: Am 24. September sollte sie in der Kleinstadt Merlen eröffnet werden, eine halbe Droschkenstunde von der belgischen Hauptstadt entfernt.

»Über den Rattenfänger von Brüssel habe ich gelesen«, bestätigte Ahimaaz und drängte seinen in Schweigen versunkenen Gesprächspartner mit ungeduldigem Blick zur Eile. Der schrak auf, rang die rundlichen Hände, an deren Fingern etliche Ringe steckten, und rief klagend: »Herr F. ist Pierre Fechtel, mein einziger Sohn! Auf ihn wartet das Schafott! Sie müssen ihn retten!«

»Ich glaube, Sie sind über das Profil meiner Tätigkeit falsch informiert. Ich rette keine Leben, ich vernichte sie«, versetzte Ahimaaz mit dünnlippigem Lächeln.

»Ich habe gehört, Sie können Wunder vollbringen«, flüsterte der Bankier voller Inbrunst. »Wenn einer, dann Sie, heißt es. Ich flehe Sie an. Ich bezahle gut. Ich bin ein reicher Mann, Herr Weide. Überaus reich.«

Nach einer längeren Pause fragte Ahimaaz: »Sind Sie denn sicher, daß Sie einen solchen Sohn noch haben wollen?«

Die Antwort kam ohne Zögern; anscheinend hatte Fechtel senior sich diese Frage selbst schon gestellt.

»Einen anderen Sohn habe ich nicht und werde ich nie haben. Der Junge war immer schon leichtsinnig, aber er hat einen guten Kern. Sollte es mir gelingen, ihn aus dieser Geschichte herauszuholen, kriegt er einen Denkzettel fürs ganze Leben. Ich habe ihn im Gefängnis besucht. Er ist so verängstigt!«

Ahimaaz bat um Auskünfte über den bevorstehenden Prozeß.

Der »leichtsinnige« Alleinerbe würde von den zwei teuersten Anwälten verteidigt werden, die es gab. Die Taktik der Verteidigung baute auf den Nachweis der Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten. Jedoch bestand wenig Aussicht, daß die medizinischen Gutachter ein entsprechendes Verdikt lieferten - sie seien derart gegen den Jungen voreingenommen, beschwerte sich Monsieur Fechtel, daß nicht einmal die Aussicht auf ein »beispiellos hohes Honorar« sie hatte wanken lassen. Letzterer Umstand schien den Alten am allermeisten deprimiert zu haben.

Am ersten Verhandlungstag würden die Anwälte erklären müssen, ob ihr Mandant sich schuldig bekannte. Wenn ja, hatte der Richter das Urteil zu fällen; wenn nicht, oblag die Entscheidung den Geschworenen. Für den Fall, daß die psychiatrische Expertise die Schuldfähigkeit Pierre Fechtels feststellte, rieten die Anwälte, den ersteren Weg zu gehen.

Die Henkersknechte aus dem Justizministerium hatten nämlich, wie der untröstliche Vater hitzig erklärte, Merlen nicht etwa zufällig zum Gerichtsort erwählt - drei der vermißten Mädchen stammten von dort. Einen gerechten Prozeß würde es in Merlen nicht geben. Die ansässige Bevölkerung war bis zum äußersten aufgebracht. Rings um das Gerichtsgebäude brannten Nacht für Nacht Scheiterhaufen. Vorgestern hatte die Menge versucht, in das Gefängnis einzudringen und den Arrestanten zu lynchen - die Wache mußte verdreifacht werden.

Herr Fechtel hatte geheime Unterredungen mit dem Richter geführt, und der war ein vernünftiger Mann. Wenn das Urteil von ihm abhing, würde der Junge mit einer lebenslänglichen Haftstrafe davonkommen. Was aber wenig ändern würde. Denn die Voreingenommenheit der Öffentlichkeit gegen den Rattenfänger von Brüssel war so groß, daß der Staatsanwalt ein solches Urteil unter Garantie anfechten und der Fall von neuem aufgerollt werden würde.

»Meine einzige Hoffnung sind Sie, Herr Weide«, kam der Bankier zum Schluß. »Ich habe mich immer für einen Mann gehalten, dem nichts unmöglich ist. Aber in diesem Fall bin ich machtlos. Und dabei steht das Leben meines Sohnes auf dem Spiel.«

Neugierig blickte Ahimaaz dem Millionär in das hochrote Gesicht. Man sah, daß der Mann es nicht gewöhnt war, Gefühle zu zeigen. Jetzt zum Beispiel, im Moment höchster Erschütterung, da ihm eine Träne aus dem einen Auge rann, verschoben sich die dicken Lippen zu einem törichten Lächeln. Das war interessant: Die Mimik dieses Gesichts, ungeübt in jeglicher Expressivität, brachte die Grimasse der Trauer nicht zustande.

»Wieviel?« fragte Ahimaaz.

Fechteis Adamsapfel zuckte wie im Krampf.

»Wenn der Junge am Leben bleibt - eine halbe Million Franken ... Französische, nicht belgische!« beeilte er sich hinzuzufügen, als der Gesprächspartner stumm blieb.

Ahimaaz nickte, worauf in den Augen des Bankiers zwei irrwitzige Flämmchen aufzuckten. Dieselben Flämmchen hatte er in den Augen jener närrischen Menschen am Spieltisch gesehen, die ihr ganzes Geld auf die Null setzten. Dieses Flämmchen hieß: Laß ein Wunder geschehen. Nur mit dem Unterschied, daß es sich gewiß nicht um des Bankiers ganzes Geld handelte.

»Und sollten Sie es fertigbringen, meinem Pierre ...«, dem Bankier stockte die Stimme, »... nicht nur das Leben, sondern die Freiheit zu schenken, dann kriegen Sie die ganze Million.«

Ein solches Honorar war Ahimaaz nie zuvor angeboten worden. Gewohnheitshalber rechnete er die Summe erst in englische Pfund um (knapp dreißigtausend), dann in amerikanische Dollar (fünf-undsiebzigtausend) und schließlich in Rubel (über dreihunderttausend). Es war wirklich viel Geld.

»Sagen Sie Ihrem Sohn, er soll alle psychiatrischen Expertisen ablehnen, sich schuldig bekennen und das Urteil der Geschworenen verlangen. Und Ihre teuren Anwälte können Sie nach Hause schicken. Ich finde selber einen.«

3

Etienne Licole bedauerte nur eines: daß die Mutter diesen Tag nicht mehr erleben durfte. Wie sehr hatte sie davon geträumt, ihr Junge möge es zum Anwalt bringen und die schwarze Robe mit dem rechteckigen weißen Binder tragen. Die Studiengebühren für die Universität hatten ihre ganze Witwenpension aufgefressen; bei den Ärzten und Arzneien war sie hingegen geizig gewesen und darum im letzten Frühjahr verstorben. Etienne biß die Zähne zusammen, gönnte sich keine Müdigkeit. Tagsüber lief er in die Vorlesungen, nachts studierte er die Lehrbücher - und eines Tages hatte er tatsächlich das ersehnte Diplom mit dem königlichen Siegel in der Hand. Die Mutter hätte stolz auf ihren Sohn sein dürfen.

Die anderen Absolventen seines Jahrgangs, die sich wie er nun Advokaten nennen durften, luden ihn in ein Landgasthaus ein, wo sie die »Robe begießen« wollten, doch Etienne lehnte ab. Nicht nur, daß er kein Geld für Orgien hatte, er wollte an solch einem Tag lieber allein sein. Langsam schritt er die breite marmorne 146

Freitreppe vor dem Justizpalast hinab, wo die feierliche Zeremonie stattgefunden hatte. Die ganze Stadt mit ihren von Häubchen, Spitztürmchen und Statuen gekrönten Dächern lag ihm hier zu Füßen. Etienne blieb stehen und genoß den Anblick, der freundlich und einladend auf ihn wirkte. Brüssel schien den frischgebackenen Maitre Licole mit offenen Armen zu empfangen und ihm jede Menge Überraschungen zu verheißen - vor allem natürlich positive.

Daß ein Diplom noch nicht die höchste Erfüllung war, stand außer Frage. Ohne Beziehungen, ohne nützliche Bekanntschaften fand man nicht zu einer guten Klientel. Und eine eigene Kanzlei einzurichten fehlte ihm ohnehin das Geld. Fürs erste würde er bei Maitre Wiener oder Maitre van Helen als Gehilfe unterkommen müssen. Aber das war ja auch nicht ganz schlecht - ein gewisses Gehalt würden sie ihm schon zugestehen.

Etienne Licole preßte die Mappe, in der das Diplom mit dem roten Siegel lag, gegen seine Brust, hielt sein Gesicht in die warme Septembersonne und blinzelte vor Wonne.

In dieser törichten Pose traf Ahimaaz Weide ihn an.

Noch im Saal, während die langweiligen, aufgeblasenen Reden gehalten wurden, hatte er sich den Burschen ausgeguckt. Vom Typ her paßte er ideal: nett anzuschauen, doch kein Schönling. Schlank, mit schmalen Schultern und offenem, ehrlichem Blick. Als er nach vorn trat, den Eid zu leisten, zeigte sich, daß er auch die richtige Stimme hatte - volltönend, jungenhaft, zitternd vor Erregung. Und das Beste an ihm war, daß man sofort sah: Er war keines von diesen adligen Schnöselchen, sondern ein Plebejerkind, tüchtig und bescheiden.

Da die Zeremonie ewig kein Ende fand, nutzte Ahimaaz die Zeit, um ein paar Erkundigungen einzuholen, die die letzten Zweifel zerstreuten: Das Material war ideal. Was noch zu tun blieb, waren Bagatellen.

Leise trat er an den mageren Jungen heran und hüstelte.

Etienne zuckte zusammen, schlug die Augen auf und drehte sich um. Vor ihm stand, wie aus dem Boden gewachsen, ein Herr im Reisemantel, Spazierstock im Arm. Die Augen des Unbekannten blickten ernst und aufmerksam. Ihre Farbe war ungewöhnlich. Es war eigentlich überhaupt keine Farbe, ganz blaß und hell.

» Maitre Licole?« fragte der Mann mit einem leichten Akzent.

Es war das erste Mal, daß Etienne so angesprochen wurde, und es gefiel ihm.

Wie zu erwarten, ging erst einmal ein Leuchten über das Gesicht des Jungen, als er hörte, daß man ihm einen Fall anbot, um kurz darauf, als er den Namen des Mandanten hörte, in helles Entsetzen umzuschlagen. Solange er sich empörte, mit den Händen fuchtelte, behauptete, einen solchen Schuft, ein solches Scheusal niemals und um keinen Preis verteidigen zu wollen, ließ Ahimaaz ihn reden.

Erst als Licoles Reservoir an Entrüstung erschöpft war und er nuschelte: »So ein Fall ist viel zu groß für mich. Ich bin noch sehr unerfahren, müssen Sie wissen. Ich hab doch eben erst mein Diplom gemacht!« - da bequemte Ahimaaz sich zu einer Erwiderung.

»Heißt das, Sie wollen lieber erst mal zwanzig oder dreißig Jahre für ein Butterbrot arbeiten? Anderen Advokaten die Taschen füllen? Bevor Sie auf die Art die nötigen Centimes zusammenhaben, um sich eine eigene Praxis zu leisten, schreiben wir das Jahr 1900, und Sie sind ein kahlköpfiger, zahnloser, leberkranker Zausel, dem alle Lebenssäfte versiegt sind. Sie rinnen Ihnen durch die Finger, mein lieber Maitre - für ein paar jämmerliche Groschen. Was ich Ihnen anzubieten habe, ist etwas viel Größeres, und Sie kriegen es sofort. Mit ihren dreiundzwanzigjahren können Sie sich ordentlich Kapital und einen glänzenden Namen verschaffen. Und zwar selbst dann, wenn Sie den Prozeß verlieren sollten. Der Name zählt in Ihrem Berufsstand mehr als alles Geld. Zugegeben, Ihr Ruhm wird einen etwas skandalösen Beigeschmack haben, doch das ist besser, als ein Leben lang als Laufbursche dahinzudämmern. Geld werden Sie jedenfalls genug verdienen, um hinterher eine eigene Kanzlei zu eröffnen. Mag sein, daß viele Sie hassen werden. Doch es wird genug Leute geben, die den Mut eines jungen Advokaten, der der ganzen Gesellschaft die Stirn zu bieten wagt, gebührend zu würdigen wissen.«

Ahimaaz gab dem Grünschnabel ein Minütchen Zeit, das Gehörte zu überdenken. Dann ging er zum zweiten Teil der Attacke über, mit dem, wenn er die Zeichen richtig deutete, der Junge endgültig zu knacken war.

»Oder ist Ihnen einfach bloß bange? Habe ich Sie nicht vorhin den Eid aufsagen hören: >für Recht und Gerechtigkeit und jedermanns Anrecht auf gerichtliche Verteidigung zu bürgen, allen Anfechtungen und allem Druck zu widerstehen?< Wissen Sie, warum ich von allen Absolventen gerade Sie ausgesucht habe? Weil Sie der einzige waren, der diese Worte aus tiefstem Herzen gesprochen hat. Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck.«

Etienne sagte nichts. Er merkte nur voller Entsetzen, daß ein Strom ihn mitreißen wollte, dem sich zur Wehr zu setzen ganz unmöglich war.

»Und was die Hauptsache ist«, fuhr der Unbekannte, die Stimme deutlich senkend, fort, »Pierre Fechtel ist unschuldig. Er ist beileibe kein Rattenfänger, sondern Opfer unglücklicher Umstände und einer brutalen polizeilichen Verhörtaktik. Wenn Sie nicht einschreiten, wird ein Unschuldiger ans Schafott geliefert. Einfach werden Sie es nicht haben. Eine Flut von Beleidigungen wird über Sie hereinbrechen, keiner wird gern zugunsten eines >Monsters< aussagen wollen. Doch Sie werden nicht allein sein. An Ihrer Seite stehe ich. In Ihrem Schatten bleibend, werde ich Ihnen sozusagen Auge und Ohr sein. Ein paar Indizien habe ich schon zusammen. Wenn sie auch vielleicht noch nicht den vollständigen Beweis für Pierre Fechtels Unschuld liefern, so vermögen sie doch die An schuldigungen der Anklage heftigst in Zweifel zu ziehen. Und ich liefere Ihnen noch mehr.«

»Was sind das denn für Indizien?« fragte Etienne mit schwacher Stimme.

4

In den kleinen, für einhundert Personen vorgesehenen Saal des Merlener Stadtgerichts hatten sich mindestens dreihundert Besucher gezwängt, noch mehr Menschen drängten sich auf dem Korridor und draußen unter den Fenstern.

Das Erscheinen des Staatsanwalts Renan war mit donnerndem Applaus begrüßt worden. Als aber nun der Delinquent hereingeführt wurde, ein blasser Mann mit schmalen Lippen, engstehenden schwarzen Augen und vormals gepflegtem, jetzt zerzaustem und wildwucherndem Backenbart, trat erst einmal Totenstille ein, bevor ein solcher Sturm losging, daß dem Richter, Maitre Vicksen, die Glocke zerbrach, die er schwingen mußte, um die Anwesenden zur Ordnung zu mahnen.

Als nächstes rief der Richter die Verteidigung auf, und erst jetzt wurde man des schmächtigen jungen Mannes gewahr, dem die weite Anwaltsrobe sichtlich zu groß war. Abwechselnd rot und blaß werdend, stammelte Maitre Licole etwas, das man kaum verstand; dann aber, auf die unwirsche Frage des Richters, ob denn der Angeklagte sich schuldig bekenne, gellte die Stimme des jungen Anwalts plötzlich durch den Saal: »Nicht schuldig, Euer Ehren!«

Wieder wogte das Publikum in heller Entrüstung.

»Dabei sieht er doch wie ein anständiger Junge aus!« rief eine Frau.

Der Prozeß ging über drei Tage. Am ersten Tag wurden die Zeugen der Anklage gehört.

Zunächst die Polizeibeamten, die die Schreckenskammer entdeckt und den in Haft Genommenen verhört hatten. Den Worten des Kommissars zufolge habe Pierre Fechtel, am ganzen Leibe schlotternd, widersprüchliche Aussagen zu Protokoll gegeben, keine Erklärungen liefern können, doch für den Fall, daß sie die Finger von ihm ließen, viel Geld angeboten.

Der Gärtner, der der Polizei die verdächtigen Schreie angezeigt hatte, war nicht vor Gericht erschienen, doch man konnte gut auf ihn verzichten. Der Staatsanwalt rief Zeugen auf, die Fechtels losen Lebenswandel und seine Verderbtheit anschaulich zu schildern wußten. Immer habe er in den Bordellen nach den jüngsten und zartesten Mädchen verlangt. Eine Madame, Vorsteherin eines dieser Institute, berichtete, der Angeklagte habe ihre »Töchterlein« mit glühenden Ondulierzangen malträtiert, und die Armen hielten still, da der Schuft ihnen jedes Brandmal mit einem Goldfranken vergolt.

Stürmischer Beifall brach im Saal los, als der Mann, der gesehen hatte, wie die Kutsche mit dem Blumenmädchen Lucille Lanout davonfuhr (dessen Kopf sich später mit ausgestochenen Augen und abgeschnittener Nase im Bottich wiederfand), in Fechtel den Herrn erkannte, der dem Kind sein mechanisches Klavier in höchsten Tönen schmackhaft gemacht hatte.

Den Geschworenen wurden die Corpora delicti präsentiert: Foltergerätschaften sowie ein photographischer Apparat nebst Platten, die in der Geheimkammer sichergestellt worden waren. Es folgte der Zeugenauftritt des Monsieur Brülle, welcher Pierre Fechtel drei Jahre zuvor in der Kunst der Photographie unterwiesen hatte.

Schließlich wurde den Geschworenen ein Album mit photographischen Aufnahmen vorgelegt, das gleichfalls in der greulichen Kammer gefunden worden war. Publikum und Presse bekamen die Photographien nicht zu sehen, doch es reichte mitanzusehen, wie einer der Geschworenen in Ohnmacht fiel, ein anderer sich übergeben mußte. Währenddessen saß Advokat Licole wie ein braver Schüler über sein Heft gebeugt und trug alle Aussagen gewissenhaft ein. Als auch er sich die Bilder ansehen mußte, wurde er kreideweiß und schwankte auf seinem Stuhl.

»Schau's dir gut an, du Schlappschwanz!« rief es aus dem Publikum.

Am Abend, nach Schließung der Sitzung, gab es einen Zwischenfall: Als Licole den Saal verließ, trat die Mutter eines der ermordeten Mädchen auf ihn zu und spuckte ihm ins Gesicht.

Am zweiten Tag wurden die Zeugen von der Verteidigung befragt. Maitre Licole erkundigte sich bei den Polizeibeamten, ob sie den Delinquenten während des Verhörs angeschrien hätten. (»Nein, wir haben ihn geküßt!« lautete die sarkastische Erwiderung des Kommissars unter dem beifälligen Gelächter des Saales.)

Vom Zeugen der Entführung der Lucille Lanout wollte der Anwalt wissen, ob er dem Mann, mit dem das Blumenmädchen davongefahren war, ins Gesicht habe sehen können. Das nicht, antwortete der Zeuge, aber an den Backenbart erinnere er sich sehr genau.

Ferner interessierte sich Maitre Licole dafür, welcherart die von Pierre Fechtel in der Zeit seiner amateurphotographischen Versuche bei Monsieur Brülle gefertigten Aufnahmen gewesen waren. Wie sich herausstellte, ging es um Stilleben, Landschaften und neugeborene Kätzchen. (Diese Mitteilung wurde mit Pfiffen und Johlen quittiert, worauf der Richter die Hälfte des Publikums aus dem Saal wies.) Zuletzt verlangte der Anwalt, den Gärtner als Hauptzeugen der Anklage dem Gericht zwangsweise vorzuführen, worauf die Sitzung für eine Stunde unterbrochen wurde.

Während der Pause kam der Cure des Städtchens auf Licole zu und fragte ihn, ob er an Jesus Christus, unseren Herrn glaube. Licole erwiderte, jawohl, er glaube an ihn, und Christus habe Barmherzigkeit gegen jeden Sünder gepredigt.

Nach Wiederaufnahme der Sitzung verkündete ein Polizist, der Gärtner sei nicht da und schon drei Tage nicht gesehen worden. Der Anwalt dankte höflich und sagte, er habe keine weiteren Fragen an die Zeugen.

Nun schlug die große Stunde des Staatsanwalts. Er unterzog den Angeklagten einem glänzenden Verhör. Auf keine der Fragen vermochte Pierre Fechtel eine überzeugende Antwort zu geben. Die photographischen Aufnahmen, die man ihm vorlegte, betrachtete er lange, schluckte nur. Anschließend hatte er die Stirn zu behaupten, er sehe sie zum ersten Mal. Auf die Frage, ob der Photoapparat der Marke Weber & Söhne sein Eigentum sei, beriet er sich flüsternd mit seinem Anwalt und sagte, ja, der gehöre ihm, doch habe er schon vor einem Jahr jegliches Interesse an der Photographie verloren, den Apparat in die Dachkammer gestellt und seither nicht mehr gesehen. Die Frage, ob der Angeklagte den Eltern der Mädchen in die Augen sehen könne, wurde im Saal heftig beklatscht, doch auf Antrag der Verteidigung zurückgewiesen.

Als Etienne am Abend ins Hotel kam, fand er seine Sachen vor die Tür geworfen. Er litt Höllenqualen, während er, hochrot im Gesicht und auf allen vieren kriechend, seine gestopften Strümpfe und die zerknautschten Chemisetten mit Papierkragen aus dem Staub klaubte.

Eine Menschenmenge hatte sich eingefunden, die Szene zu genießen, und überhäufte den »Schlawiner« mit Flüchen. Als Etienne seine Sachen endlich in der neuen, eigens für die Reise gekauften Tasche verstaut hatte, baute sich der Schankwirt vor ihm auf und verpaßte ihm kurzerhand zwei Ohrfeigen. »Da hast du dein Zusatzhonorar!« - so der gebrüllte Kommentar.

Weil auch keines der übrigen drei Merlener Hotels gewillt war, Licole aufzunehmen, stellte der Bürgermeister ihm das Häuschen des Stationswärters, der letzten Monat in Pension gegangen war und noch keinen Nachfolger gefunden hatte, als Nachtlager zur Verfügung.

Am nächsten Morgen zierte die frisch geweißte Wand des Häuschens eine Inschrift in Kohle: Verrecke, du Hund!

Am dritten Tag wuchs Staatsanwalt Renan über sich hinaus. Er hielt ein hervorragendes Plädoyer, das von zehn Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags dauerte. Schluchzen und Zetern im Publikum wollten kein Ende nehmen. Auch die Geschworenen, solide Herrschaften, von denen gewiß keiner unter fünfhundert Franken Steuer pro Jahr berappte, saßen erschüttert und zu Tränen gerührt.

Der Verteidiger war blaß. Das Publikum konnte sehen, wie er sich einige Male beinahe bittend nach seinem Mandanten umblickte. Doch der saß da, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, das Gesicht hinter den Händen vergraben. Als der Staatsanwalt die Todesstrafe forderte, erhob sich das Publikum wie ein Mann von den Stühlen und skandierte: »Aufs Scha-fott! Aufs Scha-fott!« Fechtels Schultern zuckten im Krampf, man mußte ihm Riechsalz vorhalten.

Nach der Mittagspause, um vier Uhr nachmittags, bekam die Verteidigung das Wort. Licole konnte lange nicht anfangen - absichtlich wurde mit den Füßen gescharrt und mit den Stühlen geknarrt, lautes Schneuzen ertönte. Krebsrot vor Aufregung, wartete der Advokat, knüllte sein in Musterschülerschrift beschriebenes Blatt in den Händen.

Doch nachdem er zu reden begonnen hatte, schaute Etienne kein einziges Mal mehr auf dieses Blatt. Sein Plädoyer, das die Abendzeitungen abdruckten und in denkbar herabwürdigender Weise kommentierten, soll hier im Wortlaut folgen.

»Hohes Gericht, verehrte Herren Geschworene. Mein Mandant ist ein schwacher, sittenloser und verkommener Mensch. Doch nicht darüber soll hier gerichtet werden. Tatsache ist: Im Hause meines Mandanten, genauer, in einer geheimen Kellerkammer, von deren Existenz Pierre Fechtel nicht gewußt haben muß, wurde ein schreckliches Verbrechen verübt. Eine ganze Serie von Verbrechen. Die Frage ist nur: durch wen. (Zwischenruf: »Verzwickte Frage!« Gelächter im Saal.) Die Verteidigung hat hierzu eine eigene Version. Meiner Mutmaßung zufolge ist der Gärtner Jean Voiture, welcher die Polizei über die rätselhaften Schreie unterrichtete, in Wirklichkeit der gesuchte Mörder. Dieser Mann hegte einen Haß auf seinen Brotherrn, da der ihm wegen unmäßiger Zecherei das Gehalt gekürzt hatte. Es gibt Zeugen, die diesen Umstand bestätigen können und nötigenfalls vorzuladen wären.

Dieser Gärtner hat einen sonderbaren, querköpfigen Charakter. Vor fünf Jahren lief ihm die Frau davon, nahm die Kinder mit sich. Bekanntlich entwickelt sich bei Leuten vom Schlage eines Voiture nicht selten eine krankhafte Empfindlichkeit, einhergehend mit Aggressivität. Der Gärtner hat die Beschaffenheit des Hauses gut gekannt, und es war ihm ein leichtes, ohne Wissen des Hausherrn eine geheime Kammer einzurichten. Ebenso einfach war es, den Photoapparat, für den sich Monsieur Fechtel nicht mehr interessierte, aus der Dachkammer zu entwenden und sich mit seiner Funktion vertraut zu machen. Da Monsieur häufig außer Haus weilte, konnte der Gärtner sich seiner Kleidung bedienen, er konnte sich jenen falschen Backenbart ankleben, an dem sein Herr so leicht zu erkennen ist. Meinen Sie nicht auch, daß Pierre Fechtel sich dieses markanten Merkmals schnell entledigt hätte, nachdem er derart schwerer Verbrechen schuldig geworden wäre? Verstehen Sie mich recht, verehrte Herren Geschworene: Ich behaupte nicht, daß der Gärtner dies alles getan hat, sondern nur, daß er es getan haben könnte. Und eine Frage ist vor allem interessant. Warum ist der Gärtner, nachdem er der Ermittlung den entscheidenden Anstoß gab, so plötzlich verschwunden? Hierfür kann es nur eine Erklärung geben: Er mußte fürchten, daß seine tatsächliche Verwicklung in den Fall vor Gericht offenkundig werden und ihn von daher die gerechte Strafe ereilen könnte...«

Bis hierhin war Maitre Licoles Vortrag flüssig, ja, geradezu lebhaft gewesen, nun aber stockte er.

»Noch eines möchte ich an dieser Stelle sagen ... Vieles an der Geschichte ist im dunkeln geblieben. Ehrlich gesagt, bin ich mir selbst im unklaren, ob mein Mandant schuldig ist oder nicht. Doch solange auch nur der Schatten eines Zweifels an seiner Schuld besteht - und derer gibt es etliche, wie ich Ihnen soeben demonstrieren durfte -, solange bleibt es untersagt, den Beschuldigten ans Messer zu liefern. An der Universität hat man mich gelehrt, daß es besser ist, einen Schuldigen freizusprechen, als einen Unschuldigen zu verurteilen. Das ist alles, was ich zu sagen habe, meine Herren.«

Um zehn Minuten nach vier war das Plädoyer des Verteidigers beendet. Er ging zurück an seinen Platz und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Im Saal ertönte vereinzelt Gelächter, doch insgesamt hinterließ die Rede einen durchaus gemischten Eindruck. Der Gerichtsreporter des »Soir« hörte zufällig die Bemerkung des berühmten Anwalts Jan van Brewern zu einem neben ihm sitzenden Kollegen (und zitierte sie daraufhin natürlich):

»Im Grunde hat der Junge recht. Ich meine, vom höheren Standpunkt der Jurisprudenz aus gesehen. Aber am gegebenen Fall ändert das gar nichts.«

Der Richter betätigte sein Glöckchen, schüttelte mißbilligend den Kopf und bedachte den dilettantischen Verteidiger mit einem scheelen Blick.

»Ich war davon ausgegangen, daß Maitre Licoles Plädoyer den Rest der heutigen Sitzung und den Beginn des morgigen Tages in Anspruch nimmt, so daß ich jetzt, äh, in der peinlichen Lage bin ... Ich erkläre die heutige Sitzung für geschlossen. Mein Empfehlungswort an die Herren Geschworenen hören Sie morgen früh. Daran anschließend werden Sie, meine Herren, sich zur Urteilsfindung zurückziehen.«

Doch am nächsten Morgen fand keine Sitzung statt.

In der Nacht hatte es gebrannt. Das Stationswärterhäuschen war angezündet worden. Maitre Licole verbrannte bei lebendigem Leib, da die Tür von außen zugesperrt war. An der verrußten Außenwand stand der Spruch Verrecke, du Hund! noch immer zu lesen - niemand hatte sich bequemt, ihn zu tilgen. Zeugen für die Brandstiftung gab es keine.

Der Prozeß wurde für einige Tage ausgesetzt. In der öffentlichen Meinung ging ein feiner, doch unübersehbarer Sinneswandel vor. Die Zeitungen druckten die letzte Rede des Maitre Licole noch einmal ab, nunmehr ohne Gehässigkeiten, sondern mit anteilnehmenden Kommentaren hochgeschätzter Rechtskundler. Ergreifende Reportagen erschienen, die das kurze und entbehrungsreiche Leben eines Burschen aus armen Verhältnissen schilderten. Fünf Jahre hatte er an der Universität gebüffelt, um eine Woche Anwalt zu sein. Dazu gab es Porträtzeichnungen: Ein Jungengesicht blickte den Leser aus großen, ehrlichen Augen an.

Die Anwaltskammer veröffentlichte eine Deklaration zum Schutze der freien und objektiven Rechtsprechung, wider alle Erpressungsversuche einer aufgeheizten, vergeltungssüchtigen Öffentlichkeit.

Die abschließende Sitzung fand am Tag nach der Beisetzung statt.

Zunächst ehrten die im Saal Versammelten auf Vorschlag des Richters das Andenken Etienne Licoles mit einer Schweigeminute. Alle, auch die Eltern der getöteten Mädchen, erhoben sich von den Plätzen. Richter Vicksen mahnte die Geschworenen in seinem Empfehlungswort, sich keinem Druck von außen zu beugen, und erinnerte daran, daß einem Antrag auf Todesstrafe stattzugeben sei, wenn mindestens zwei Drittel der Beisitzer auf »schuldig« im Sinne der Anklage plädierten.

Die Geschworenen berieten geschlagene viereinhalb Stunden lang. Sieben der zwölf Geschworenen plädierten für »nicht schuldig« und forderten das Gericht auf, Pierre Fechtel wegen Mangels an Beweisen freizusprechen.

Der unangenehme Teil der Arbeit war sauber ausgeführt worden. Die Leiche des Gärtners lag in einer Grube mit ungelöschtem Kalk. Und was den jungen Advokaten anging, so starb er ohne Angst und Qualen: Ahimaaz tötete ihn im Schlaf, bevor er das Wärterhäuschen in Brand steckte.

»ZUR TREUE«

1

In seinem vierzigsten Lebensjahr spielte Ahimaaz Weide mit dem Gedanken, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen.

Nicht, daß er die Arbeit satt gehabt hätte - sie verschaffte ihm immer noch Befriedigung, brachte sein kaltes Blut ein wenig in Wallung. Auch war er bestimmt nicht schlechter in Form als früher, im Gegenteil, der Gipfel seiner Reife und Meisterschaft schien eben erreicht.

Der Grund war ein anderer. Die Arbeit hatte ihren Sinn eingebüßt.

Der eigentliche Vorgang des Tötens bereitete Ahimaaz kein Vergnügen - von jenen höchst seltenen Fällen abgesehen, wo persönliche Ambitionen eine Rolle spielten. Mit dem Töten verhielt es sich einfach. Ahimaaz war allein im Universum. Doch war er allseits umgeben von fremdem Leben in verschiedenster Form: Pflanzen, Tieren, Menschen. Dieses Leben war ständig in Bewegung: Es kam zur Welt, verwandelte sich, hörte auf. Seine Metamorphosen mitanzusehen war interessant; noch interessanter war es jedoch, einzugreifen. Wurde auf einem bestimmten Abschnitt des Universums alles Lebendige ausgemerzt, änderte sich davon im Ganzen wenig - schnell hatte die Natur in ihrer bewundernswürdigen Zähigkeit die entstandene Bresche gefüllt. Manchmal erschien das Leben Ahimaaz wie ein üppig sprießender Rasen, in den seine Sense eine Schicksalsschneise zog. Akkuratesse und Übersicht machten sich hier bezahlt: Kein störendes Hälmchen durfte stehenbleiben und keines zuviel durfte angeta 154

stet werden, damit die saubere, ebenmäßige Kontur nicht verlorenging. Wenn Ahimaaz zurückschaute, sah er nicht das gemähte Gras, sondern die ideale Kurve seines Weges.

Zweierlei hatte ihn bislang bei seiner Arbeit stimuliert: die Lösung zu finden war das eine, Geld zu verdienen das andere.

Ersteres konnte Ahimaaz mittlerweile nur noch wenig reizen -richtig knifflige Aufgaben, die zu lösen Spaß machte, gab es kaum mehr für ihn.

Doch auch letzteres verlor allmählich seinen Sinn.

Auf seinem Bankkonto in Zürich hatte er fast sieben Millionen Schweizer Franken liegen. Im Schließfach der Bering Bank in London lagerten Wertpapiere und Goldbarren für fünfundsiebzigtau-send Pfund Sterling.

Wieviel Geld braucht jemand, der weder Kunst noch Brillanten sammelt, weder ein Finanzimperium errichtet, noch von politischem Ehrgeiz besessen ist?

Ahimaaz' Ausgaben waren ziemlich konstant: zwei- bis dreihunderttausend Franken pro Jahr allgemeine Spesen zuzüglich einhunderttausend Unterhaltskosten für seine Villa. Die hatte er schon im vorletzten Jahr gekauft und vollständig abbezahlt, insgesamt zweieinhalb Millionen. Nicht gerade billig, doch mit vierzig will der Mensch sein eigenes Haus haben. Familie muß nicht sein, das ist eine Frage der Mentalität. Ein Haus muß sein.

Ahimaaz war mit seinem Obdach zufrieden. Das Haus entsprach voll und ganz dem Charakter seines Besitzers. Es war eine weiße Marmorvilla, nicht sehr groß, auf einem Steilfelsen über dem Genfer See klebend. Nach der einen Seite nichts als die leere Weite, nach der anderen ein Zypressenstreifen. Hinter dem Zypressenstreifen eine hohe Mauer, noch dahinter der schroffe Abhang.

Stundenlang konnte Ahimaaz auf der Veranda sitzen, die über der glatten Wasserfläche zu schweben schien, und hinausschauen auf den See und die fernen Berge. See und Berge waren ebenso Formen des Lebens, doch ohne das Gewimmel und Gewese, wie Fauna und Flora es an sich hatten. Diese Formen hier waren nur schwer anzutasten, auf sie hatte er keinen Zugriff, und darum respektierte er sie.

Zwischen den Zypressen auf seinem Grundstück schimmerte ein schmuckes kleines Gartenhaus mit runden Ecktürmchen. Dort wohnte Leila, seine Tscherkessin. Ahimaaz hatte sie vorigen Herbst aus Konstantinopel mitgebracht. Den monatlichen Bezug professionell arbeitender Frauen über die Pariser Agentur hatte er seit langem eingestellt - es war der Moment eingetreten, da er zwischen ihnen kaum noch einen Unterschied ausmachte. Sein Geschmack war zur Reife gekommen.

Eine Frau mußte schön sein, aber nicht puppenhaft, mit natürlicher Grazie, nicht allzu redselig, leidenschaftlich, ohne zudringlich zu werden, sie durfte die Nase nicht überall hineinstecken; vor allem aber mußte sie über jenen weiblichen Instinkt verfügen, mit dem sie die Launen und Wünsche eines Mannes unfehlbar erspürte. Leila war die nahezu ideale Frau. Den ganzen Tag konnte sie damit zubringen, ihr schwarzes Haar zu kämmen, zu singen und allein mit sich Tricktrack zu spielen. Nie schmollte sie, nie forderte sie Zuwendung. Außer ihrer Muttersprache verstand sie nur Türkisch und Tschetschenisch, weshalb Ahimaaz als einziger mit ihr sprechen konnte; dem Diener machte Leila sich durch Gesten verständlich. Verlangte es Ahimaaz nach Unterhaltung, wußte sie zahllose amüsante Histörchen aus dem Konstantinopeler Leben zu erzählen - früher hatte Leila im Harem eines Großwesirs gelebt.

In letzter Zeit nahm Ahimaaz nur noch wenig Aufträge an, zwei, drei pro Jahr: Sie mußten schon eine hübsche Stange Geld oder aber eine andere, besondere Form der Entlohnung einbringen. Vorigen März zum Beispiel erging ein Geheimauftrag der italienischen Regierung an ihn: den Anarchisten Gino Zappa, genannt der Schakal, aufzustöbern und zu liquidieren, der es auf das Leben von König Umberto abgesehen hatte. Ein Terrorist, der dem Vernehmen nach äußerst gefährlich und partout nicht zu fangen war.

Der Fall selbst war nicht weiter schwierig - Ahimaaz ließ den Schakal von Gehilfen ausfindig machen, worauf er nur noch nach Lugano reisen und einmal kurz auf den Abzug drücken mußte. Bemerkenswert daran war einzig das avisierte Honorar. Es bestand zum einen in einem italienischen Diplomatenpaß, ausgestellt auf Cavaliere Weide, zum anderen im Vorkaufsrecht für die Insel Santa Croce im Mare Tirreno. Hätte Ahimaaz das Recht in Anspruch genommen und dieses Eiland erworben, wäre ihm außer dem Titel eines Cavaliere di Santa Croce auch der Status der Exterritorialität zugefallen, der besonders verlockend war. Sein eigener Herr sein, seine eigene Polizei und sein eigener Richter? Nicht übel.

Aus Neugier fuhr Ahimaaz sich die Insel anschauen und war ganz bezaubert. Es gab dort nichts Sensationelles: nur Felsen, ein paar Olivenhaine, eine Bucht. Zu Fuß ließ sich die Insel in einer Stunde umrunden. Die letzten vierhundert Jahre hatte hier niemand mehr gewohnt, nur selten einmal legten Fischer an, um ihre Trinkwasservorräte aufzufüllen.

Die Grafenwürde reizte Ahimaaz mäßig, obwohl einem, wenn man in Europa unterwegs war, solch ein schillernder Titel mitunter nützlich sein konnte. Eine eigene Insel aber ...

Hier hätte er allein sein können mit sich, dem Himmel und dem Meer. Hier ließ sich eine eigene Welt erschaffen, die einzig ihm gehörte. Das war verführerisch.

Sich zur Ruhe setzen. Dahinsegeln, Bergziegen jagen, das Gefühl haben, daß die Zeit stillsteht und von der Ewigkeit nicht zu unterscheiden ist.

Genug der Abenteuer. Er war kein Junge mehr.

Und womöglich legte er sich Familie zu?

Er dachte nicht ernsthaft daran - es war mehr eine Freiübung des Geistes. Ahimaaz wußte, daß er nie Familie haben würde. Denn er wollte nicht, indem er sein Alleinsein aufgab, Angst vor dem Tod bekommen. So wie die anderen sie hatten.

Bis jetzt nämlich konnte der Tod ihn überhaupt nicht schrecken. Dies war das Fundament, auf dem das feste Bauwerk ruhte, welches Ahimaaz Weide hieß. Sollte ihm eines Tages die Pistole versagen, oder sein Opfer wäre einmal schneller und geschickter als er, würde Ahimaaz eben sterben - und das war alles. Es bedeutete nur, daß danach nichts mehr kam. Einer von den antiken Philosophen - Epikur, wenn er nicht irrte - hatte gesagt, was es dazu zu sagen gibt: Solange ich lebe, ist der Tod nicht da. Ist der Tod aber da, bin ich nicht mehr vorhanden.

Gesehen und erlebt hatte Ahimaaz zur Genüge. Nur die Liebe kannte er nicht, das hing mit seinem Beruf zusammen. Jegliche Anhänglichkeit schwächt, und Liebe machte einen gleich ganz schutzlos. Ahimaaz aber war unverletzbar. Einer, der sich vor nichts fürchtete, nichts und niemanden zu verlieren hatte, ließ sich nicht so leicht fangen.

Aber eine eigene Insel - darüber konnte man nachdenken.

Es gab nur ein Problem: die Finanzen. Das Vorkaufsrecht einzulösen kostete viel Geld; alle seine Vorräte bei den Banken von Zürich und London wären dabei draufgegangen. Und wie sollte er seine Grafschaft ausstatten? Schön, er konnte die Villa verkaufen - aber das reichte noch nicht. Es brauchte ein solideres Kapital.

Oder sollte er sich diese Phantasien aus dem Kopf schlagen?

Fest stand: Eine eigene Insel war mehr als ein eigener Felsen. Das Meer war mehr als ein See. Warum sich mit wenigem zufriedengeben, wenn einem mehr geboten wurde?

Mit derlei Gedanken war Ahimaaz beschäftigt, als er Besuch von dem Mann mit der Maske bekam.

2

Zunächst brachte Archibald, sein Haushofmeister, die Visitenkarte. Ein Stück weißer Karton mit Goldkrönchen, darunter in Frakturbuchstaben: Baron Eugenius von Steinitz.

Angehängt war eine Notiz auf deutsch: Baron von Steinitz bittet Herrn Weide für heute abend, zehn Uhr, um eine Audienz in vertraulicher Angelegenheit.

Ahimaaz fiel auf, daß das Blatt am oberen Rand beschnitten war. Offenbar wollte der Besucher nicht, daß Ahimaaz das Monogramm zu sehen bekam - wenn er also überhaupt ein »Herr von« war, dann bestimmt nicht von Steinitz.

Der Gast erschien pünktlich auf die Minute. Dieser Umstand sprach dafür, daß er tatsächlich Deutscher war. Der Baron hielt - in Anbetracht der sehr heiklen Angelegenheit, wie er sagte - sein Gesicht hinter einer samtenen Halbmaske verborgen, wofür er höflich um Entschuldigung bat. Äußerlich fand Ahimaaz an dem Baron nichts Bemerkenswertes: blondes Haar, akkurat gestutzte Koteletten, unruhige blaue Augen. Er trug Regenmantel, Zylinder und ein gestärktes Hemd mit weißer Fliege unter dem schwarzen Frack.

Sie setzten sich auf die Veranda. Unten blinkte im Mondlicht der See. Baron von Steinitz hatte kein Auge für den versöhnlichen Anblick dieser Landschaft, unverwandt schaute er durch die Schlitze seiner Operettenmaske auf Ahimaaz. Das Gespräch zu beginnen hatte er indes keine Eile. Die Beine übereinandergeschlagen, rauchte er eine Zigarre an.

All dies hatte Ahimaaz schon viele Male gesehen; gelassen wartete er darauf, daß sein Gast anzufangen geruhte.

»Ich komme zu Ihnen auf Monsieur du Vallets Empfehlung«, hob der Baron schließlich an. »Er bat mich, einen ergebensten Gruß zu bestellen, mit den Wünschen für bestes, nein, Moment... uneingeschränktes Wohlergehen.«

Ahimaaz quittierte den Namen seines Pariser Mittelsmannes und die Parole mit einem wortlosen Nicken.

»Ich komme in einer wichtigen und hochvertraulichen Angelegenheit«, teilte von Steinitz mit und senkte dabei die Stimme.

»Man pflegt mich ausschließlich in solcher Angelegenheit zu behelligen«, erwiderte Ahimaaz kühl.

Bis hierhin war das Gespräch auf deutsch geführt worden. Unversehens wechselte der Gast nun ins Russische. Er sprach fehlerfrei und ohne Akzent, nur sein L klang etwas zu weich.

»Zu erledigen ist dieser Auftrag in Rußland, in Moskau. Der Ausführende sollte ein Ausländer sein, der die Sprache und die Gepflogenheiten des Landes gut kennt. Sie sind für uns der ideale Mann. Wir haben Erkundigungen über Sie eingeholt.«

Erkundigungen eingeholt? Wir? Das gefiel Ahimaaz überhaupt nicht. Er war nahe daran, das Gespräch abzubrechen, ehe der Gast unnötig viel verriet, als er ihn sagen hörte: »Zur Ausführung dieser schwierigen und delikaten Angelegenheit erhalten Sie eine Million französische Franken Vorschuß. Nach Erfüllung der, hm, Ver- traglichkeit noch einmal eine Million Rubel.«

Das änderte die Sache. Die angebotene Summe konnte als krönender Schlußstein einer glänzenden beruflichen Karriere taugen. Die zauberhafte Kontur von Santa Croce erschien Ahimaaz vor Augen, wenn das Eiland am Horizont vor einem auftauchte: ein steifer Melonenhut, auf grünem Samt drapiert.

»Sie fungieren hier als Vermittler, mein Herr«, sagte er nüchtern und auf deutsch. »Mein Prinzip ist es, mit dem Auftraggeber direkt zu verhandeln. Meine Bedingungen sind die folgenden. Sie überweisen als erstes den Vorschuß auf mein Konto in Zürich. Anschließend treffe ich mich mit dem Auftraggeber an einem von ihm zu bestimmenden Ort, wo er mir die näheren Umstände des Falles schildert. Sollten diese mir aus irgendeinem Grund nicht zusagen, bekommen Sie die Hälfte des Vorschusses zurück.«

Entrüstet klatschte »Baron Eugenius von Steinitz« sich auf den Schenkel. (Am Ringfinger der gepflegten Hand blitzte ein altertümlich gefaßter Saphir.) Doch Ahimaaz war schon aufgestanden.

»Ich rede nur mit der Nummer eins. Oder Sie suchen sich einen anderen Akteur.«

3

Das Treffen mit dem Auftraggeber fand in Sankt Petersburg statt, in einer stillen kleinen Straße, wohin Ahimaaz in geschlossener Kutsche gebracht worden war. Das Gefährt, dessen Fenster dichtverhängt waren, hatte sich auf langen Umwegen dem Ziel genähert. Eine Vorsichtsmaßnahme, für die Ahimaaz nur ein Lächeln übrig hatte.

Er versuchte gar nicht erst, sich den Weg zu merken, wiewohl er die Geographie der russischen Hauptstadt aus dem Effeff beherrschte - Vorjahren hatte es hier einige denkwürdige Verträge zu erfüllen gegeben. Durch eine Ritze zu schielen oder Kurven zu zählen, bestand kein Anlaß. Ahimaaz hatte für seine Sicherheit vorgesorgt: Erstens war er ordentlich bewaffnet, und zweitens hatte er vier Gehilfen im Schlepp.

Bei der Einreise nach Rußland hatten sie im Nachbarwaggon gesessen, jetzt fuhren sie dem Phaeton in zwei Kaleschen hinterher. Sie waren Spezialisten ihres Fachs, und Ahimaaz konnte sicher sein, daß sie weder zu weit zurückbleiben noch unnötig auffallen würden.

Die Kutsche blieb stehen. Der schweigsame Kutscher, der Ahimaaz am Bahnhof in Empfang genommen hatte und, allein schon seiner straffen Offiziershaltung nach zu urteilen, bestimmt kein Kutscher war, öffnete den Schlag und bedeutete ihm zu folgen.

Auf der Straße keine Menschenseele. Vor ihnen ein freistehendes einstöckiges Gebäude. Ohne Prunk, doch gepflegt. Ungewöhnlich für die sommerliche Jahreszeit war nur, daß alle Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen waren. Einer davon bewegte sich. Noch einmal verzogen sich Ahimaaz' schmale Lippen zu einem flüchtigen Lächeln. Diese dilettantische Heimlichtuerei begann ihn zu amüsieren. Aristokraten, die Verschwörung spielten. Sein Begleiter führte ihn durch eine Flucht dunkler Zimmer. Vor dem letzten blieb er stehen und ließ Ahimaaz vorangehen. Kaum war er eingetreten, schlossen sich die Türflügel hinter ihm, er hörte einen Riegel zuschnappen.

Neugierig blickte Ahimaaz sich um. Ein interessantes Zimmer -vollkommen fensterlos. Ein kleiner runder Tisch und daneben zwei Sessel mit hohen Lehnen als die einzigen Möbelstücke. Wobei die Besichtigung des Zimmers dadurch erschwert war, daß nur eine einzige Kerze brannte, deren schwaches Licht nicht in die finsteren Ecken vordrang.

Ahimaaz wartete, bis die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, um mit geübtem Blick die Wände abzutasten. Es gab nichts Verdächtiges zu entdecken - keine Geheimluken, von wo aus man ihn hätte aufs Korn nehmen können, keine weiteren Türen. In der hinteren Ecke hoben sich die Umrisse eines weiteren Stuhls ab, das war alles.

Ahimaaz nahm Platz in einem der Sessel. Nach etwa fünf Minuten ging die Tür auf, herein kam ein hochgewachsener Mann. Der zweite Sessel blieb jedoch frei - der Mann durchquerte grußlos den Raum und setzte sich auf den Stuhl.

Es zeigte sich, daß der Auftraggeber nicht dumm war. Ein geschickter Schachzug: Ahimaaz war im Licht der Kerze gut zu sehen, von seinem Gesprächspartner, der im tiefen Dunkel saß, sah er das Gesicht nur in Umrissen.

Und im Unterschied zum »Baron von Steinitz« redete er nicht lange um den heißen Brei.

»Sie wollten mit der Nummer eins sprechen«, begann der Mann in der Ecke auf russisch. »Ich habe eingewilligt. Sehen Sie zu, daß Sie mich nicht enttäuschen, Herr Weide. Vorstellen werde ich mich nicht, für Sie bin ich Monsieur N. N.«

Der Ausdrucksweise nach ein Mann der gehobenen Gesellschaft. Der Stimme nach um die Vierzig, vielleicht auch jünger. Jedenfalls eine Stimme, die zu kommandieren gewohnt war; solche klingen immer älter. Die Manieren eines Mannes von Format. Wenn dies also eine aristokratische Verschwörung war, dann eine ernst zu nehmende.

»Bitte legen Sie dar, worum es geht«, sagte Ahimaaz.

Der Schatten nickte.

»Sie sprechen gut russisch«, sagte er. »Man hat mir gesagt, Sie seien früher einmal russischer Staatsangehöriger gewesen. Das erleichtert die Sache. Ich kann mir

überflüssige Erklärungen sparen. Jedenfalls muß ich Ihnen nicht sagen, wie bedeutsam die zu ermordende Person ist.«

Die Geradlinigkeit in der Ausdrucksweise fiel Ahimaaz angenehm auf. Keine Zweideutigkeiten. Kein »beseitigen«, »unschädlich machen«, »neutralisieren«.

Das Folgende kam Monsieur N. N. ebenso glatt und ohne Zögern über die Lippen: »Es geht um Michail Sobolew.«

»Den sogenannten Weißen General? Held der jüngsten Kriege, populärster Heerführer in der russischen Armee?«

»Genau. Generaladjutant Sobolew, Oberkommandierender des vierten Armeekorps«, bestätigte der Schatten leidenschaftslos.

»Bedaure, den Auftrag muß ich zurückweisen«, sagte Ahimaaz höflich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Die Wissenschaft von den Gesten spricht dieser Pose Ruhe und Entschlossenheit zu. Noch dazu kamen die Finger seiner rechten Hand an den Griff eines kleinen Revolvers zu liegen, für den es in seiner Weste eine spezielle Innentasche gab. Der Revolver trug den Namen »Velodog« und war eigens für Fahrradfahrer erfunden, denen streunende Hunde zur Last fielen. Vier Rundkopfgeschosse, zweiundzwanziger Kaliber. Ein Nippes, keine Frage, aber in Situationen wie dieser durchaus brauchbar.

Die Ablehnung eines Auftrages, nachdem der Name des Opfers gefallen war - dies war ein denkbar gefährlicher Moment. Für den Fall, daß es kompliziert wurde, gedachte Ahimaaz dem Auftraggeber eine Kugel in die Stirn zu pflanzen und in die finsterste Zimmerecke zu springen. Dort würde Ahimaaz nicht so leicht zu greifen sein.

Beim Eintritt ins Haus hatte es keine Leibesvisitation gegeben, so daß sein ganzes sonstiges Arsenal unangetastet geblieben war: Colt (eine Sonderanfertigung nach seinen Vorstellungen), Wurfmesser und spanisches Federmesser. Ungefähr zwei Minuten würde er für sich sorgen können, so viel Zeit hatten seine Leute, um auf die Schüsse hin zu Hilfe zu eilen. Darum also war Ahimaaz, bei aller Wachsamkeit, die Ruhe in Person.

»Sagen Sie bloß, Sie zählen auch zu Sobolews Anhängerschaft?« fragte der Auftraggeber in gereiztem Ton.

»Mit Sobolew habe ich nichts zu schaffen. Ich bin ein Anhänger des gesunden Menschenverstandes. Und der empfiehlt mir, mich nicht auf Aktionen einzulassen, die zwangsläufig die Liquidierung des Ausführenden, in diesem Falle also meiner Person, nach sich ziehen. Eine Aktion dieser Größenordnung darf keine Zeugen haben. Ich rate Ihnen, sich irgendeinen Neuling im Geschäft zu suchen. Ein profaner politischer Mord ist ja nicht so schwer zu bewerkstelligen.«

Ahimaaz war aufgestanden und bewegte sich, behutsam und allzeit schußbereit, in Richtung Tür.

»Setzen Sie sich.« Der Mann in der Ecke wies mit einer gebieterischen Geste auf den Sessel. »Einen Neuling kann ich nicht gebrauchen, ich brauche den besten Mann Ihrer Zunft. Der Fall ist nämlich äußerst schwierig zu bewerkstelligen, das werden Sie noch sehen. Fürs erste möchte ich Sie mit ein paar Tatsachen vertraut machen, die Ihren Argwohn zerstreuen dürften.«

Man spürte, daß Monsieur N. N. es nicht gewohnt war, Erläuterungen zu geben; er mußte sich zurückhalten, um nicht aus der Haut zu fahren.

»Es geht weder um einen politischen Mord noch um eine Verschwörung. Im Gegenteil. Der Verschwörer und Staatsverbrecher ist Sobolew, dem die Lorbeeren des berühmten Korsen keine Ruhe lassen. Unser Held plant einen Militärputsch, nicht mehr und nicht weniger. Beteiligt sind Offiziere seines Korps sowie alte Kampfgefährten, meistenteils Gardisten. Das eigentlich Gefährliche ist, daß Sobolew nicht nur bei der Armee, sondern in allen Schichten der Gesellschaft Popularität genießt. Wir, das heißt, Hof und Regierung, geben Anlaß zur Unzufriedenheit bei den einen, zu blankem Haß bei den anderen. Das Prestige des Herrscherhauses ist nach der peinlichen Hatz auf den Autokraten, die mit seiner Ermordung endete, rapide gesunken. Man hat den Gesalbten des Herrn zur Strecke gebracht wie einen Hasen zur Dackeljagd!«

Die Stimme des Auftraggebers hatte eine düstere Wucht angenommen, was dazu führte, daß hinter Ahimaaz' Rücken sofort die Tür in den Angeln knarrte. Der Mann, dem es einfiel, Hof und Regierung unter »wir« zu verbuchen, winkte unwirsch mit der weiß behandschuhten Hand, worauf die Tür sich wieder schloß. Der Zorn verschwand aus der Stimme, sie erlangte ihre Ruhe zurück.

»Der Plan der Verschwörer ist uns bekannt. Derzeit führt Sobolew militärische Manöver durch, deren eigentlicher Zweck es ist, den Umsturz zu proben. Anschließend wird er in Begleitung seiner Spießgesellen nach Moskau reisen, um dort, fernab von Petersburg, mit einigen der Gardegeneräle zusammenzutreffen, sich ihrer Unterstützung zu versichern und die endgültige Vorgehensweise zu entwickeln. Der Putsch soll in den ersten Julitagen während der Truppenschau in Zarskoje Selo vonstatten gehen. Sobolew beabsichtigt, die Mitglieder der Zarenfamilie >in vorläufige Obhut< zu nehmen - zu ihrem persönlichen Schutz und zur Rettung des Vaterlandes natürlich.«

In der Stimme schwang ein schwerer Sarkasmus.

»Das Vaterland wird als hochgefährdet deklariert, was die Errichtung einer Militärdiktatur unausweichlich macht. Und es gibt ernsthaften Grund zu der Annahme, daß dieses wahnwitzige Projekt in beträchtlichen Teilen der Armee, des Adels, des Kaufmannsstandes und sogar der Bauernschaft Unterstützung findet. Der Weiße General eignet sich für die Rolle des nationalen Erlösers einfach ideal!«

Monsieur N. N. war aufgestanden und schritt, mit den Fingern knackend, längs der Wand auf und ab. Dabei hielt er sich tunlichst im Schatten, sein Gesicht war nach wie vor nicht zu erkennen. Allenfalls glaubte Ahimaaz eine edel geschnittene Nase und üppige Koteletten ausgemacht zu haben.

»Sie sollten wissen, Herr Weide, daß Sie sich im gegebenen Fall keines Verbrechens schuldig machen, denn Sobolew ist von einem Gericht, dem die höchsten Würdenträger des Imperiums angehörten, zum Tode verurteilt worden. Siebzehn der zwanzig von höchster Seite bestellten Geschworenen haben für die Todesstrafe plädiert. Und der Zar hat das Urteil inzwischen bestätigt. Das Gericht trat in geheimer Sitzung zusammen, was seine Legitimität nicht beeinträchtigt. Jener Herr, den Sie für einen Vermittler hielten, war einer der Richter, die im Interesse der internationalen Sicherheit und des Friedens in Europa gehandelt haben. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, ist Sobolew Kopf der militanten Slawischen Partei. Wenn die die Macht in Rußland an sich risse, führte das unweigerlich zum Krieg mit Deutschland und Österreich-Ungarn.«

Der Staatsmann war stehengeblieben und schien seinem ungerührt zuhörenden Gegenüber ins Gesicht zu sehen.

»Darum müssen Sie um Ihr Leben nicht fürchten. Nicht für eine Bande von Verbrechern werden Sie arbeiten, sondern für die Machtspitze des Russischen Reiches. Nicht die Rolle eines Mörders, sondern die des Henkers fällt Ihnen zu. Sind diese Erklärungen für Sie ausreichend?«

»Fürs erste ja.« Ahimaaz legte die Hände auf den Tisch. Ein Schußwechsel stand wohl nicht zu befürchten. »Aber worin besteht die Schwierigkeit, von der Sie sprachen? Wieso kann man den General nicht einfach vergiften oder schlimmstenfalls erschießen?«

»Aha. Es scheint, Sie sind der Sache gewogen.« Monsieur N. N. nickte befriedigt und ließ sich auf den Stuhl fallen. »Ich darf also dazu kommen, Ihnen zu erklären, wozu wir einen so angesehenen Spezialisten benötigen. Zunächst sei festgestellt, daß man an Sobolew nicht ohne weiteres herankommt. Tag und Nacht ist er von einer Schar ihm fanatisch ergebener Adjutanten und Ordonnanzen umlagert. Davon abgesehen, kann man ihn unmöglich einfach so ins Jenseits befördern. Ganz Rußland würde auf die Barrikaden gehen. Sobolew muß eines natürlichen Todes sterben, ohne dunkle Umstände, ohne den Schatten eines Verdachts. Und damit noch nicht genug. Den Übeltäter mittels Gift zu töten hätten wir selbst noch zuwege gebracht. Doch die Verschwörung ist schon zu weit gediehen. Selbst der Tod ihres Anführers würde den Verschwörern kaum mehr Einhalt gebieten. Sie brächten die Sache zu Ende, und sei es, um das Vermächtnis ihres Idols zu erfüllen. Mag sein, daß sie ohne ihr Haupt zum Scheitern verurteilt sind, doch Rußland sänke ins blutige Chaos, und die Macht wäre endgültig kompromittiert. Im Vergleich mit Sobolews Garde erscheinen die Dekabristen von 1825 wie brave Buben. Lassen Sie mich nun die vor Ihnen stehende Aufgabe in ihrer ganzen Vertracktheit formulieren.«

Ein energischer Schwung des weißen Handschuhs zerteilte die Finsternis.

»Sobolew muß so sterben, daß die breite Öffentlichkeit den Todesfall auf tragische Umstände zurückführt und an ihm keinen Anstoß nimmt. Wir inszenieren ihm ein prächtiges Begräbnis, errichten ein Denkmal, benennen vielleicht irgendein Schiff nach ihm. Wir wollen unserem Rußland ja nicht den einzigen Nationalhelden rauben, den es noch hat. Zugleich aber müssen die Umstände von Sobolews Tod auf seine Mitverschwörer eine demoralisierende Wirkung haben, ihr Banner sozusagen fällen. In den Augen der Menge muß er ein Held bleiben, in den Augen der Verschwörer soll er dieser Aureole verlustig gehen. Eine Aufgabe, die man einem Anfänger nicht anvertrauen sollte, oder? Sagen Sie mir, ob sie überhaupt zu lösen ist.«

An dieser Stelle klang in der Stimme zum ersten Mal etwas wie Unsicherheit mit. »Wie und wann bekomme ich den Rest der Summe?« fragte Ahimaaz zurück. Monsieur N. N. ließ ein erleichtertes Seufzen hören.

»Wenn Sobolew nach Moskau reist, wird er die gesamte Barschaft des Komplotts bei sich tragen - eine runde Million Rubel. Die Spesen für einen solchen Umsturz sind beträchtlich. Wenn Sie Sobolew getötet haben, können Sie das Geld an sich nehmen. Dieser Teil der Aufgabe dürfte Ihnen leichtfallen, nehme ich an?«

»Heute haben wir nach hiesiger Rechnung den 21. Juni. Sie sagten, der Putsch sei für Anfang Juli geplant. Wann kommt Sobolew nach Moskau?«

»Morgen. Spätestens übermorgen. Und er will dort bis zum 27. bleiben. Anschließend reist er weiter nach Rjasan auf sein Gut, von da direkt nach Petersburg. Wir wissen, daß die Treffen mit den Generälen für den 25., 26. und 27. anberaumt sind. Dafür kommen extra aus Petersburg ... Nein, es ist besser, ich nenne keine überflüssigen Namen. Ohne Sobolew sind diese Leute harmlos. Nach und nach, ohne Aufsehen, werden wir sie in den Ruhestand abtreten lassen. Trotzdem wäre es gut, wenn sie gar nicht erst mit Sobolew zusammenträfen. Wir wollen vermeiden, daß verdiente Generäle sich durch den Umgang mit Hochverrätern beflecken.«

»Etwas zuviel der Gnade, unter den gegebenen Umständen.« Ahimaaz konnte sich die Bissigkeit nicht verkneifen. Die Aufgabe war kompliziert genug, man mußte den Zeitraum nicht noch zusätzlich einengen. »Sie wollen, daß ich die Sache bis zum 25. zum Abschluß bringe. Das heißt, Sie geben mir ganze drei Tage Zeit. Ein bißchen wenig. Ich tue mein Bestes. Versprechen kann ich nichts.«

Noch am selben Tag entlohnte Ahimaaz seine Gehilfen und entließ sie. Er brauchte sie nicht mehr.

Allein fuhr er mit dem Nachtzug nach Moskau.

4

Irgendwann einmal hatte Ahimaaz eine Klassifikation erstellt, nach der die nun anstehende Aufgabe dem vierten und höchsten Schwierigkeitsgrad zugehörte: verdeckter Mord an einer prominenten Person in kürzester Frist unter erschwerten Bedingungen.

Erschwernisse gab es drei.

Erstens: die vielköpfige, treu ergebene Leibwache.

Zweitens: die Vortäuschung eines natürlichen Todes.

Drittens: Der Tod sollte für die Öffentlichkeit schicklich, für Eingeweihte peinlich aussehen.

Eine interessante Aufgabe.

Ahimaaz machte es sich auf dem kleinen Samtsofa im Erste-Klasse-Abteil bequem. Erfreute sich auf die Knobelei und zweifelte nicht, daß sie zu einem Ergebnis führen würde. Zehn Stunden Fahrt sollten ausreichen dafür. Schlafen mußte er nicht unbedingt - notfalls kam er drei bis vier Tage ohne Schlaf aus. Das hatte er Onkel Hassan und seinem Training zu danken.

»Also, der Reihe nach«, gab er sich auf deutsch das Kommando.

Er zog das Dossier hervor, das der Auftraggeber ihm auf seine Bitte hin zur Verfügung gestellt hatte. Es enthielt eine umfassende Akte zu Sobolew, die offensichtlich seit langem geführt wurde: detaillierte Biographie, Dienstliste, besondere Vorlieben, Kontakte, alles dabei. Jedoch ganz ohne Auffälligkeiten, die man sich hätte zunutze machen können: Sobolew war kein Spieler, kein Opiumraucher, kein Quartalssäufer. In den Beurteilungen dominierte das Wort »vorzüglich«: vorzüglicher Reiter, vorzüglicher Schütze, vorzüglicher Billardspieler. Na schön.

Ahimaaz ging zur Rubrik Besondere Vorlieben über. Trinkt mäßig (bevorzugte Marke: Chäteau Yquem), raucht brasilianische Zigarren, mag russische Romanzen, am meisten die »Eberesche« (aus der Feder eines Herrn I. Surikow). Soso.

Intime Gewohnheiten. Leider eine einzige Enttäuschung. Weder invertiert noch pädophil, noch Gefolgsmann des Marquise de Sade. In früheren Zeiten zwar ein eifriger Schürzenjäger, doch seit zwei Jahren seiner Geliebten Jekaterina Golowina treu, einer Lehrerin am Minsker Mädchengymnasium. Vor etwa einem Monat soll er ihr eine Legalisierung des Verhältnisses angetragen haben, erhielt jedoch aus unbekannten Gründen eine Abfuhr, worauf die Verbindung zu Bruch ging. Aha, das konnte etwas sein.

Nachdenklich schaute Ahimaaz aus dem Abteilfenster. Dann nahm er sich das nächste Schriftstück vor. Namen und Beurteilungen der Offiziere aus Sobolews Gefolgschaft. Meistenteils gestandene Militärs. Auf Reisen pflegt General Sobolew sich von mindestens sieben, acht Mann begleiten zu lassen. Allein geht er nirgends hin. Das ist gar nicht schön. Noch weniger schön ist, daß alle Speisen, die der General zu sich nimmt, kontrolliert werden, und zwar gleich doppelt: von der Oberordonnanz, Jessaul Gukmassow, und vom Leibkammerdiener.

Um einen natürlichen und gänzlich unverdächtigen Tod vorzutäuschen, muß mit Gift gearbeitet werden. Ein Unglücksfall taugt nicht, der ist immer anrüchig.

Wie also dem Objekt das Gift verabreichen, an der Kontrolle vorbei? Wer steht Sobolew näher als Ordonnanz und Kammerdiener?

Anscheinend niemand. In Minsk hat er eine Liebschaft gehabt, ihr hätte er gewiß ohne Kontrolleure aus der Hand gegessen. Doch die Beziehung ist in die Brüche gegangen.

Halt! Der Gedanke geht in die richtige Richtung. Die Nähe eines Mannes gewinnt am ehesten eine Frau - getrost auch eine, die er erst seit kurzem kennt. Vorausgesetzt natürlich, zwischen ihnen ist etwas. Dann bleiben Adjutant und Kammerdiener außen vor.

Gut. Wann hat Sobolew mit seiner Geliebten Schluß gemacht? Vor einem Monat. Also dürfte der Liebeshunger inzwischen zugenommen haben. Während der Manöver war für Amouren keine Zeit, andernfalls stünde darüber etwas im Bericht. Sobolew ist ein rassiger Mann, in der Blüte seiner Jahre. Dabei, ein gefährliches Spiel zu spielen, von dem nicht gewiß ist, wie es für ihn ausgeht.

Ahimaaz' Augen verengten sich zu einem Spalt.

Ihm gegenüber saß eine Dame mit ihrem Söhnchen, einem kleinen Kadetten; mit gedämpfter Stimme bedrängte sie ihn, er solle sich ordentlich benehmen und nicht so zappeln.

»Sei nicht so unmanierlich, Serge, du siehst doch, der Herr arbeitet!« sagte die Dame auf französisch.

Der Junge sah zu dem blonden Mann im vornehmen grauen Anzug hinüber, der irgendwelche langweiligen Papiere auf den Knien ausgebreitet hatte und in einem fort die Lippen bewegte. Bestimmt ein Deutscher.

Jetzt warf der Fremde von unten her einen Blick herüber und kniff eines seiner farblosen Augen zusammen. Erschrocken senkte Serge den Blick.

Ahimaaz war zu einem Schluß gekommen. Der ruhmreiche Achilles hatte eine empfindliche Ferse, kaum sonderlich originell. Doch nicht auf knifflige Lösungen kam es an. Wozu das Pulver neu erfinden. Je einfacher, desto sicherer.

Das logische Gebäude entstand wie von selbst.

1) Der beste Lockvogel für einen kraftstrotzenden, seit längerem enthaltsamen Mann ist ein Frau.

2) Mit Hilfe dieser Frau ist das Objekt am einfachsten zu vergiften.

3) Unzucht gilt in Rußland als schändlich und erst recht unschicklich für einen Nationalhelden. Stirbt der Held nicht auf dem Feld der Ehre oder wenigstens im Lazarett, sondern haucht sein Leben in einem Sündenpfuhl aus, an der Seite einer Geliebten, besser noch einer Hure, dann ist das nach russischem Verständnis a) peinlich, b) komisch und c) einfach dumm. Dergleichen wird einem Helden nicht verziehen.

Das übrige besorgte seine Kamarilla. Die Adjutanten würden sich ein Bein ausreißen, um die verwerflichen Umstände, unter denen der Weiße General sein Leben

gelassen hatte, vor der Öffentlichkeit zu vertuschen. Bei den eigenen Leuten hingegen, im Kreise der Verschwörer, würde sich die Kunde rasend schnell verbreiten.

Dem Zaren führerlos entgegenzutreten war schwer genug - und erst recht, wenn anstelle der Ritterfahne ein beflecktes Laken am Mast wehte. Der Weiße General wäre in den Augen seiner Gefolgschaft kaum mehr so schneeweiß wie zuvor.

Na also! Die Strategie stand fest. Nun ging es an die technischen Details.

Zu den vielen nützlichen Dingen in Ahimaaz' Koffer gehörte ein brauchbarer Satz Präparate und Chemikalien. Darunter der Extrakt eines Farnwurzelsaftes aus dem Amazonasgebiet, der für den Fall das ideal Passende war. Zwei Tropfen der färb- und annähernd geschmacklosen Flüssigkeit genügten, damit ein nur geringfügig er 166

höhter Puls auch bei einem gesunden Menschen zu Atemstillstand und Herzmuskelriß führte. Dabei trat der Tod vollkommen unspektakulär ein, niemandem kam der Gedanke an eine Vergiftung. Und ohnehin waren die Spuren des Gifts schon nach zwei, drei Stunden nicht mehr auffindbar.

Das Mittel wirkte zuverlässig, Ahimaaz hatte es mehr als einmal erprobt. Das letzte Mal im vorvorigen Jahr, als es den Auftrag eines Londoner Tunichtguts auszuführen galt, der sich seines millionenschweren Onkels zu entledigen wünschte. Die Operation verlief glatt und auf erlesene Art. Der liebreizende Neffe veranstaltete zu Ehren seines teuren Verwandten ein Mittagessen, bei dem auch Ahimaaz unter den Gästen war. Der trank mit dem Alten zunächst ein Glas vom vergifteten Champagner, um dem Millionär dann im rechten Moment die Mordgelüste seines Neffen zu hintertragen. Der Alte lief rot an, faßte sich ans Herz und fiel um wie ein gefällter Baum. Vor den Augen Dutzender Zeugen trat der Tod ein. Beim Rückweg ins Hotel achtete Ahimaaz auf sein Schrittmaß, damit das Gift sich in aller Ruhe abbauen konnte.

Damals traf der Anschlag einen alten Mann mit angegriffener Gesundheit. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß bei einem jungen Mann im Vollbesitz seiner Kräfte die Wirkung des Präparates erst einsetzte, wenn der Puls sich auf 80-85 Schläge pro Minute erhöhte.

Die Frage stand demnach so: Würde das Blut in den Adern des tapferen Generals auf dem Höhepunkt der Leidenschaft derart in Wallung geraten?

Gewiß würde es das. Nicht umsonst spricht man von Liebesglut. Besonders, wenn das Wesen, dem sie gilt, betörend genug ist.

Blieb also eine Kleinigkeit: die passende Kokotte zu finden.

5

In Moskau nahm sich Ahimaaz instruktionsgemäß ein Zimmer im neuen, mondänen Hotel »Metropol« - als Kaufmann Nikolai Nikolajewitsch Klonow aus Rjasan.

Über eine Nummer, die er von Monsieur N.N. erhalten hatte, telefonierte er mit dessen Moskauer Stellvertreter, der sich mit »Herr Nemo« ansprechen ließ. Ahimaaz war davon abgekommen, sich über die törichten Decknamen lustig zu machen - daß nicht gescherzt wurde, wußte er inzwischen.

»Ja, bitte?« rasselte eine Stimme aus dem Hörer.

»Hier Klonow«, sprach Ahimaaz in den Apparat. »Ich hätte gern Herrn Nemo gesprochen.«

»Ja, bitte!« wiederholte die Stimme.

»Würden Sie bitte ausrichten, daß ich dringend eine Personenbeschreibung von Jekaterina Golowina benötige.«

Ahimaaz mußte den Namen von Sobolews Geliebter noch einmal nennen, dann hängte er ein.

Nun ja. Mit der Konspiration schien es bei den Thronwächtern nicht weit herzu sein. Ahimaaz ließ sich vom Kellner die Telefonliste geben und sah nach, welcher Teilnehmer unter Nummer 211 aufgeführt war. Hofrat Pjotr Parmenowitsch Churtinski, Vorsteher der Geheimkanzlei des Moskauer Generalgouverneurs. Nicht schlecht.

Zwei Stunden später brachte ein Kurier die versiegelte Depesche ins Hotel. Das Telegramm war nur kurz.

Blondes Haar, graublaue Augen, leichte Stupsnase, schlank bis hager, zweiÄrschin, vier Werschok groß, kleine Brüste, schmale Taille, Muttermal auf rechter Wange, Narbe am linken Knie von Reitunfall. N. N.

Muttermal und linkes Knie standen nicht zur Debatte. Hauptsache, der Typ war bestimmt: blond, klein und schlank.

»Hör mal, mein Freund ... wie heißt du eigentlich?«

Der erfahrene Hoteldiener wußte den vagen, beinahe verlegenen Blick, mit dem Nummer neunzehn ihn ansah, auch den Ton, mit dem er ihn ansprach, ohne weiteres zu deuten. Er nahm sein Lächeln zurück - zu viel Verständnis konnte den Gast nur noch mehr verunsichern - und entgegnete: »Timofej, gnädiger Herr. Irgendwelche Dienste gefällig?«

Nummer neunzehn (Kaufmann erster Gilde aus Rjasan, sagte das Register) zog Timofej von der Loge weg zum Fenster und steckte ihm einen Rubel zu.

»Die Zeit wird mir lang, mein Bester. Ich fühle mich einsam, brauchte irgendwie... Belebung.«

Der Kaufmann klapperte mit den weißblonden Wimpern, errötete gar ein wenig. Einen so zartfühlenden Gast hatten sie nicht alle Tage.

Der Hoteldiener breitete die Arme aus.

»Nichts leichter als das, gnä' Herr. Lustige Frauenzimmer hat Moskau im Überfluß zu bieten. Belieben Sie einige Adressen zu erfahren?«

»Nein, nein, keine Adressen. Ich brauchte etwas Besonderes, eine mit... Verständnis. Keine von den billigen«, ermannte sich der Rjasaner, seine Wünsche zu äußern. »Solche gibt es auch.« Und schon begann Timofej sie an den Fingern aufzuzählen:

»In der >Grotte< tritt die Silberne Warja auf - ein schnuckeliges Frauenzimmer, die geht nicht mit jedem. Dann gibt es Mademoiselle Carmencita, eine wirklich sehr moderne Person, mit ihr verabredet man sich per Telephon. In der >Alpenrose< singt

Mademoiselle Wanda, ein Fräulein von Format. In der Französischen Operette gibt es zwei Tänzerinnen, Lisette und Anisette, wirklich sehr beliebt. Kommen wir zu den Schauspielerinnen ... «

Der Neunzehner wurde munter.

»O ja, eine Schauspielerin, das wäre was für mich! Aber eine

nach meinem Geschmack, Timofej. Dicke, mußt du wissen, mag ich gar nicht leiden. Lieber eine schlanke, mit schmaler Taille, mittelgroß. Und blond muß sie sein!« Der Kellner dachte nach.

»Dann ist die Wanda aus der >Rose< die Richtige für Sie«, entschied er. »Blond und mager. Und hat Erfolg bei den Herren. Die anderen sind alle etwas kräftiger gebaut. Nicht zu ändern, gnä' Herr, so ist nun mal die Mode.«

»Erzähl mir mehr über diese Wanda.«

»Eine Deutsche. Edle Manieren. Die weiß, was sie wert ist. Beste Adresse - in einer Suite vom >Anglija<, Eingang separat. Sie kann es sich leisten bei ihren Preisen: fünfhundert Rubel pro Schäferstündchen. Und sie ist wählerisch, läßt nur die an sich ran, die ihr behagen.«

»Fünfhundert Rubel? Oho!« Der Kaufmann schien sich für Wanda zu erwärmen.

»Und wo kann ich sie mir anschauen, diese Wanda? Was ist das denn für ein Lokal, die >Alpenrose

Der Kellner deutete zum Fenster hinaus.

»Das ist ganz hier in der Nähe, in der Sofijka. Sie singt dort so ziemlich jeden Abend. Das Restaurant ist nicht die Welt, wirklich kein Vergleich mit dem unseren oder dem Slawischen Basan. Meistenteils verkehren dort Deutsche, mit Verlaub. Russen gehen nur hin, um Wanda zu sehen. Und wer ernsthaftere Absichten hegt, engagiert sie.« »Wie stellt man das an?«

»Nun, da gibt es manches zu beachten«, breitete Timofej mit Vergnügen sein Wissen aus. »Zuerst bittet man sie zu sich an den Tisch. Aber nicht einfach so, dann kommt sie nicht. Sie müssen ein Sträußchen Veilchen in einen Hunderter einschlagen und auf die Bühne schicken. Dann werden Sie von Mademoiselle aus der Ferne inspiziert. Wenn Sie ihr nicht auf Anhieb zusagen, kommt der Hunderter zurück. Kommt er nicht, heißt das, sie erscheint in Kürze selbst. Was aber nur die halbe Miete ist. Es kann auch sein, sie kommt und setzt sich, schwatzt mit Ihnen über dies und das und tritt am Ende doch den Rückzug an. Dann bleibt der Hunderter bei ihr, sie hat ja ihre Zeit mit Ihnen vergeudet. Es heißt, mit den Hundert-Rubel-Körben verdient sie mehr als mit den Fünfhundertern. So einen Stand hat sie, die liebe Wanda.«

Am Abend saß Ahimaaz in der »Alpenrose«, schlürfte den süffigen Rheinwein und nahm die Sängerin in Augenschein. Fürwahr eine Schönheit, diese Deutsche. Sie glich einer Bacchantin. Das Gesicht hatte durchaus nichts Deutsches an sich - es war frech, übermütig, die grünen Augen mit einem Schimmer von geschmolzenem Silber. Ahimaaz kannte diesen besonderen Glanz, den man nur bei den edelsten

Exemplaren des weiblichen Geschlechts findet. Nicht der prallen Lippen und nicht des zierlichen Näschens wegen wurden die Männer schwach, es war dieses schillernde Silber; der trügerische Glanz blendete sie, brachte sie um den Verstand. Und erst die Stimme! Ahimaaz als ein kenntnisreicher Verehrer weiblicher Schönheit wußte, daß die Stimme den halben Reiz einer Frau ausmacht. Wenn sie so aus tiefer Brust kommt, noch dazu ein wenig aufgerauht von Heiserkeit, wie von Reif belegt oder, im Gegenteil, vom Feuer ausgeglüht - das ist gefährlich. Dann ist es besser, sich wie Odysseus an den Mast zu binden, sonst geht man unter. Nein, dieser Sirene würde der wackere General gewiß nicht widerstehen.

Allzu eilig mußte Ahimaaz es allerdings nicht haben. Heute war erst Dienstag, Sobolew kam am Donnerstag. Er hatte also Zeit, sich Mademoiselle Wanda genauer anzusehen.

Zweimal hatte man an diesem Abend schon mit Blumen um sie geworben. Die einen gingen sofort und unangetastet retour an den Absender, einen feisten Kaufmann im himbeerroten Gehrock, der das Lokal daraufhin polternden Schrittes und lästerlich fluchend verließ.

Das zweite Sträußchen kam von einem Gardeoberst mit Schmiß über der Wange. Die Sängerin schnupperte an den Veilchen und ließ die Banknote in ihrem Spitzenärmel verschwinden, doch an des Gardisten Tisch kam sie erst nach einer ganzen Weile und hielt sich dort nicht lange auf. Ahimaaz konnte nicht hören, worüber die zwei redeten; das Gespräch endete, indem Wanda, den Kopf in den Nacken geworfen, in Lachen ausbrach, dem Oberst ihren Fächer gegen den Arm schlug und ging. Der Gardist zuckte tiefsinnig die Achseln mit den güldenen Epauletten und sandte Wanda nach einiger Zeit noch einen Strauß, den diese jedoch gleich zurückgehen ließ.

Dann aber winkte ein rotbäckiger Blonder von gewiß viel weniger einnehmendem Äußeren als der abgewiesene Offizier die stolze Schönheit lässig mit dem Finger heran, und sie ließ nicht auf sich warten, kam sofort an seinen Tisch. Träge warf der Blonde ein paar Worte hin und klopfte mit seinen kurzen, rotbehaarten Fingern auf das Tischtuch; sie hörte schweigend zu, ohne ein Lächeln, nickte zweimal kurz. Ahimaaz fragte sich, ob das womöglich ihr Zuhälter war. Er sah nicht danach aus.

Um Mitternacht, als Wanda aus dem Seiteneingang des Lokals trat (Ahimaaz hatte draußen Posten bezogen), war es jedenfalls kein anderer als dieser Rotbäckige, der in seiner Kutsche auf Wanda wartete, und tatsächlich stieg sie ein und fuhr mit ihm davon. Ahimaaz folgte ihnen in einem Einsitzer, den er in weiser Voraussicht im »Metropol« gemietet hatte. Sie fuhren über den Kusnezki Most und bogen in die Petrowka ein. Vor einem großen Eckhaus - »Anglija« stand auf dem elektrisch beleuchteten Aushängeschild - stiegen Wanda und ihr Begleiter aus und schickten den Kutscher weg. Zu dieser späten Stunde konnte das nur bedeuten, daß der unsympathische Kavalier bei ihr die Nacht zu verbringen gedachte. Wer war er - ihr Geliebter? Einen allzu glücklichen Eindruck machte Wanda nicht.

»Herr Nemo« würde noch ein paar Auskünfte erteilen müssen.

Um kein Risiko einzugehen und nicht unnötig Zeit zu verlieren, wickelte Ahimaaz seine Veilchen nicht in einen Hunderter, sondern fädelte sie durch einen Smaragdring, den er tagsüber auf dem Kusnezki Most erworben hatte. Geld konnte eine Frau vielleicht verschmähen, ein solches Schmuckstück niemals.

Der Trick funktionierte natürlich. Neugierig besah sich Wanda das Geschenk, mit gleicher Neugier hielt sie Ausschau nach dem Schenkenden. Ahimaaz deutete eine Verbeugung an. Er war in englischem Smoking und weißer Fliege mit Brillantnadel gekommen. Etwas zwischen britischem Lord und neuzeitlichem Unternehmer - die neue kosmopolitische Schicht, die in Rußland ebenso wie in Europa mehr und mehr den Ton angab.

Der unverfrorene Blonde von gestern, über den Ahimaaz inzwischen manches Bemerkenswerte in Erfahrung gebracht hatte, war nicht im Saal.

Als Wanda ihr Lied zu Ende gesungen hatte, kam sie herunter, setzte sich ihm gegenüber und schaute ihn unverwandt an. Auf einmal sagte sie: »Was für klare Augen Sie haben. Wie zwei Bergseen.«

Von diesen Worten zog sich Ahimaaz unversehens das Herz zusammen. Eine verschwommene Erinnerung tat sich auf in ihm, von der Art, wie die Franzosen sie Deja-vu nennen. Er zog die Stirn kraus. Auf derlei Unsinn durfte er nichts geben. Ein Ahimaaz Weide ließ sich von weiblicher List nicht um den Finger wickeln.

»Nikolai Klonow, Kaufmann erster Gilde, Vorsitzender der Rjasaner Handelsgesellschaft«, stellte er sich vor.

»Nanu?« wunderte sich die grünäugige Grazie. »Wie ein Kaufmann sehen Sie gar nicht aus. Eher wie ein Seemann. Oder ein Räuber.«

Sie lachte rauh, und Ahimaaz geriet zum zweiten Mal aus der Fassung. Daß er wie ein Räuber aussah, hatte ihm noch nie jemand gesagt. Durchschnittlich und gesittet mußte er aussehen - das war die unabdingbare Grundlage seines Berufes.

Und die Sängerin hatte noch mehr Erstaunliches auf Lager.

»Ihre Aussprache klingt auch nicht gerade wie Rjasan«, fügte sie schalkhaft an. »Sie sind nicht zufällig Ausländer?«

In der Tat hatte Ahimaaz' Russisch einen leisen, fast unmerklichen Akzent, einen der Sprache nicht eigenen metallischen Klang, der ihm aus der Kindheit verblieben war - um ihn herauszuhören, brauchte es allerdings ein überdurchschnittlich feines Gehör. Daß eine Deutsche darauf kam, grenzte an ein Wunder.

»Ich habe eine Zeitlang in Zürich gelebt«, sagte er. »Dort hat unsere Kompanie eine Filiale. Leinen und Kattun aus Rußland.«

»Aha. Und was will der Schweizer Kommerzienrat aus Rjasan von mir?« fuhr die Dame unbekümmert fort. »Ein Kommerzchen anbahnen, schätze ich mal? Richtig geraten?«

Ahimaaz gewann die Ruhe zurück. Die Sängerin trieb ihr kokettes Spiel mit ihm, das war alles.

»Vollkommen richtig!« sagte er so ernst und selbstsicher, wie er mit Frauen dieser Sorte zu sprechen pflegte. »Ich hätte Ihnen ein konfidentielles Geschäftsangebot zu unterbreiten.«

Sie lachte und zeigte dabei ihre ebenmäßigen kleinen weißen Zähne.

»Ach ja? Sie drücken sich gewählt aus, Monsieur Klonow. Die Angebote, die ich bekomme, sind ja meistens ziemlich konfidentiell.«

Daran nun konnte sich Ahimaaz sehr gut erinnern: Gleiches, noch dazu mit fast denselben Worten, hatte er vor einer Woche dem vorgeblichen Baron von Steinitz geantwortet. Unwillkürlich mußte Ahimaaz lächeln, wurde jedoch im nächsten Moment wieder ernst.

»Es geht nicht um das, was Sie denken, Verehrteste. Die Rjasaner Handelsgesellschaft, der vorzustehen ich die Ehre habe, hat mich beauftragt, einem verdienstvollen und angesehenen Bürger aus unserer Gegend ein teures und außergewöhnliches Geschenk zu machen. Zwar habe ich bei der Auswahl des Geschenks freie Hand, trage jedoch die Verantwortung dafür, daß es besagten Bürger höchlichst erfreut. Denn bei uns in Rjasan wird dieser Mann geliebt und hoch geachtet. Unser Wunsch ist es, das Geschenk diskret und unaufdringlich zu entbieten. Sagen wir, anonym. Er soll nicht erfahren, daß die Kaufmannschaft seiner Heimatstadt dafür gesammelt hat. Ich habe lange nachgedacht, womit dem Glücklichen, dem das Schicksal allzeit und in jeder Beziehung hold gewesen ist, überhaupt noch eine Freude zu bereiten wäre. Doch nun habe ich Sie gesehen und weiß - eine Frau wie Sie wäre für ihn das größte Geschenk.«

Wer hätte es gedacht: Wanda wurde rot.

»Wie können Sie es wagen!« fauchte sie, und ihre Augen sprühten Blitze. »Ich bin kein Ding, das zu verschenken wäre!«

»Nicht Sie, Mademoiselle, nur Ihre Zeit und Ihre hohe Kunst und Meisterschaft!« versetzte Ahimaaz trocken. »Oder haben Sie mich auf die falsche Fährte gelockt und bieten Ihre Zeit und Ihre Kunst gar nicht feil?«

Haßerfüllt sah sie ihn an.

»Ist Ihnen klar, Herr Kaufmann erster Gilde, daß ein Wort von mir genügt, um Sie in hohem Bogen rauszuwerfen?« Ahimaaz' Lippen lächelten.

»Mich hat noch keiner irgendwo rausgeworfen, Verehrteste. Glauben Sie mir, das ist völlig ausgeschlossen.«

Er beugte sich nach vorn und sagte, der Sängerin tief in die vor Wut funkelnden Augen blickend:

»Kurtisane ist man ganz oder gar nicht, Mademoiselle. Wir sollten eine ehrliche Geschäftsbeziehung eingehen: Leistung gegen Geld. Oder wollen Sie behaupten, daß Sie Ihr Gewerbe zum Vergnügen betreiben?«

Das Funkeln erlosch, und der große, sinnliche Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln.

»Von wegen Vergnügen ... Bestellen Sie Champagner, los. Ich trinke ausschließlich Champagner, müssen Sie wissen, anders ruiniert man sich in meinem ... Gewerbe. Singen werde ich heute sowieso nicht mehr.«

Wanda gab dem Kellner einen Wink, worauf der, augenscheinlich über ihre Vorlieben im Bilde, eine Flasche Clicquot brachte.

»Sie haben recht, Herr Philosoph: Ein bißchen Hure sein zu wollen ist Selbstbetrug.« Sie trank ihr Glas in einem Zug leer, erlaubte aber nicht, es neu zu füllen. Alles verlief nach Plan. Nur eines beunruhigte Ahimaaz: daß er, der von Wanda Auserwählte, nun von allen Seiten mit schrägen Blicken bedacht wurde. Aber das tat nichts. Wenn er das Lokal nachher allein verließ, würde man ihn als den Verlierer des Tages ansehen und gleich wieder vergessen.

»Es passiert selten, daß einer so mit mir redet«, sagte die Sängerin.

Von dem Champagner war ihr Blick nicht klar, sondern traurig geworden.

»Die meisten kriechen vor mir. Anfangs. Hinterher duzen Sie mich und wollen mich zu ihrer Maitresse machen. Können Sie sich vorstellen, was ich will?«

»Ja. Geld. Und die Freiheit, die man dafür bekommt«, erwiderte Ahimaaz beinahe zerstreut; er war mit den Gedanken schon beim nächsten Schachzug.

Verblüfft starrte Wanda ihn an.

»Woher wissen Sie das?«

»Weil es mir selber so geht«, entgegnete er knapp. »Wieviel brauchen Sie denn, um sich am Ende frei zu fühlen?« Wanda seufzte.

»Hunderttausend. Die Rechnung hab ich vor langer Zeit aufgemacht, damals schon, als ich Dummchen mich noch mit Musikstunden über Wasser halten wollte ... Egal. Ich hab lange in Armut gelebt, beinahe am Bettelstab. Bis ich zwanzig war. Dann hab ich mir gesagt: Schluß damit. Ich will reich werden und frei. Das war vor drei Jahren.«

»Und, wie steht es damit?«

»Noch einmal drei Jahre, dann bin ich es.«

»Fünfzigtausend haben Sie also schon?« fragte Ahimaaz lächelnd. Die Sängerin gefiel ihm außerordentlich.

»Exakt!« Sie lachte, nun schon ohne Hohn und Bitterkeit, mit demselben Übermut, mit dem sie ihre Pariser Chansonetten vortrug. Das gefiel ihm genauso: daß sie nicht in Selbstmitleid ertrank.

»Ich könnte Ihnen Ihren Galeerendienst um mindestens ein halbes Jahr verkürzen«, sagte er, während er mit dem silbernen Gäbelchen in einer Auster stocherte. »Die Sammlung unserer Gesellschaft hat zehntausend Rubel ergeben.«

Dem Ausdruck in Wandas Gesicht konnte Ahimaaz entnehmen, daß sie noch nicht in der Stimmung war, kaltblütig abzuwägen, ihn vielmehr im nächsten Augenblick mitsamt seinen Zehntausend zum Teufel jagen würde. Darum beeilte er sich anzufügen: »Lehnen Sie bloß nicht ab, Mademoiselle Wanda, Sie würden es bereuen. Ich habe Ihnen ja noch gar nicht gesagt, um welchen Mann es eigentlich geht. Er ist eine Persönlichkeit. Nicht wenige Damen der feinen Gesellschaft träumen davon, eine Nacht mit ihm zu verbringen, und sie würden es sich einiges kosten lassen.«

Dies war erst einmal genug, damit sie nicht aufstand und ging. Die Frau war noch nicht geboren, deren Stolz größer gewesen wäre als ihre Neugier.

Zornig sah ihn Wanda von unten her an. Doch lange hielt sie es nicht aus.

»Sagen Sie schon, wer es ist!« fauchte sie ihn an. »Was spannt mich dieser Rjasaner Drachen auf die Folter!«

»Es geht um General Sobolew. Gutsbesitzer in Rjasan und ein Achilles auf den Schlachtfeldern der Nation«, eröffnete Ahimaaz mit wichtiger Miene. »Ihn will ich Ihnen schmackhaft machen, keinen schmerbäuchigen Kaufmannssack. Seinetwegen werden Sie eines schönen Tages in Freiheit noch Ihre Memoiren schreiben. Zehntausend Rubel und einen Achilles als Draufgabe - kein übles Geschäft, finde ich.«

Man konnte es der Sängerin an der Nase ansehen, daß sie mit sich rang.

»Und da wäre noch etwas, das ich Ihnen anbiete«, sagte Ahimaaz - sehr leise nun, beinahe flüsternd. »Ich könnte Sie ein für allemal von der Gesellschaft dieses Herrn Knabe erlösen. Falls Ihnen daran gelegen ist, versteht sich.«

Wanda war zusammengezuckt.

»Wer bist du wirklich, Nikolai Klonow?« fragte sie erschrocken. »Doch kein Kaufmann?«

»Ein Kaufmann, nichts sonst.« Ahimaaz schnipste mit den Fingern nach der Rechnung. »In Leinen, Kattun und Segeltuch. Über meine Informiertheit müssen Sie sich nicht wundern. Die Gesellschaft hat mir einen wichtigen Auftrag anvertraut, und in Geschäftsdingen bin ich nun mal gründlich.«

»Darum hast du gestern so gestarrt, als ich bei Knabe am Tisch saß!« stieß sie unerwartet hervor.

Sie paßt auf! dachte Ahimaaz und wußte einstweilen nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Auch, daß sie ihn inzwischen duzte - das wollte überlegt sein. Sollte er auf Vertraulichkeit setzen oder auf Distanz?

»Und wie willst du es anstellen, daß du mich von ihm erlöst?« konnte Wanda sich die Frage nicht verkneifen. »Du weiß ja nicht mal, wer er ist.«

Im nächsten Moment schien sie sich selbst den Mund zu verbieten.

»Und überhaupt! Woher willst du wissen, daß ich von ihm erlöst werden will?«

»Es steht ganz bei Ihnen, Mademoiselle», sagte Ahimaaz achselzuckend. Distanz schien ihm in diesem Fall doch der effektivere Weg zu sein. »Sagen Sie, was Sie von meinem Angebot halten. Nehmen Sie es an?«

»Von mir aus«, sagte sie seufzend. »Irgendwie habe ich das Gefühl, ich werd dich sowieso nicht los.« Ahimaaz nickte.

»Sie sind eine sehr kluge Frau, Mademoiselle. Ich bitte Sie, morgen abend nicht aufzutreten. Seien Sie ab fünf Uhr zu Hause. Ich komme vorbei, und wir besprechen die Einzelheiten. Und es wäre schön, Sie allein anzutreffen.«

»Darauf können Sie sich verlassen.« Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu, den er nicht zu deuten wußte.

»Betrügst du mich auch nicht, mein Lieber?« fragte sie plötzlich.

Weniger die Worte als die Betonung, mit der sie gesagt wurden, kamen Ahimaaz im selben Moment so vertraut vor, daß ihm das Herz stillzustehen drohte.

Und da fiel es ihm ein.

Es war kein Deja-vu. Genau die gleiche Frage hatte ihm Jewgenija gestellt - vor zwanzigjahren, am Abend vor dem Einbruch ins eiserne Zimmer. Und sie war es auch gewesen, die, als die kleine Shenja, im Waisenhaus zu Skirowsk von seinen klaren Augen gesprochen hatte.

Ahimaaz riß sich den steifen Hemdkragen auf - das Atmen fiel ihm irgendwie schwer.

»Mein Kaufmannswort«, sagte er fest. »Bis morgen also, Mademoiselle.»

Im Hotel erwartete Ahimaaz ein Kurier mit Nachricht aus Sankt Petersburg. Betreffende Person hat Urlaub angetreten. Per Zug nach Moskau unterwegs. Ankunft morgen nachmittag, fünf Uhr. Reservierung Hotel »Dusseaux«, Teatralny Projesd, Zimmer Ng47. Sieben Offiziere Begleitung plus Kammerdiener. Ledernes Portefeuille enthält Ihr Honorar. Erstes Treffen (General Ganezki, Oberkommandierender des Militärbezirks St. Petersburg) angesetzt für Freitag, zehn Uhr. Ich darf daran erinnern, daß dieses Treffen unerwünscht ist. N. N.

Am 24. Juni, einem Donnerstag, wandelte Ahimaaz, gekleidet in einen gestreiften Einreiher, mit einem Canotier auf dem pomadeglänzenden Scheitel, vom frühen Morgen an durch das Vestibül des »Dusseaux«. Mit dem Chefportier, dem Türhüter und dem Pagen, der in dem für den hohen Gast vorgesehenen Appartement Dienst tat, hatte er bereits Kontakt aufgenommen. Zwei Handreichungen waren hierbei nützlich gewesen: die von Herrn Nemo bereitgestellte Visitenkarte eines Korrespondenten der »Moskauer Regierungsnachrichten« zum einen, ein üppiges Trinkgeld (an den Portier erging ein Viertelrubel, zehn Kopeken bekam der Türhüter und drei der Page) zum anderen. Letztgenannter Dreier erwies sich als die einträglichste Investition, denn der Page führte den Reporter heimlich nach N-47. Während Ahimaaz sein oh! und ah! über die luxuriöse Ausstattung kundtat, stellte er fest, nach welcher Seite die Fenster gingen (nämlich auf den Hof, zur Roshdestwenka hin, was gut war), und bemerkte den in die Schlafzimmerwand eingelassenen Tresor. Auch dies ein günstiger Umstand - so mußte er auf der Suche nach dem Geld nicht erst lange herumwühlen. Daß das Portefeuille in dem Tresor seinen Platz finden würde, war klar, und mit dem Schloß (ein denkbar simples der belgischen Marke van Lippen) würde er keine Not haben: Fünf Minuten Handarbeit, und man war drin. Zum Dank für die Gefälligkeit gab der Korrespondent

der »Regierungsnachrichten« dem Diener noch einen Fünfer drauf, allerdings so ungeschickt, daß die Münze zu Boden fiel und unter den Diwan rollte. Ahimaaz nutzte die Gelegenheit, während der Junge auf allen vieren war, den Riegel eines Fensterflügels zu präparieren: Er drehte ihn so, daß er das Fenster gerade noch geschlossen hielt. Ein Stoß von außen, und das Fenster würde aufgehen.

Um halb sechs stand Ahimaaz, den Notizblock des Reporters gezückt, im Pulk der Gaffer und Korrespondenten vor dem Hoteleingang und wohnte der Ankunft des Prominenten bei. Als Sobolew in seiner weißen Uniform aus der Kutsche stieg, wurden einzelne Hurrarufe in der Menge laut; ein bitterböser Blick des Generals und inbrünstiges Abwinken seiner Adjutanten bewirkten jedoch, daß die Ovation abflaute, ehe sie sich ganz entfaltet hatte.

Ahimaaz fand, daß der Weiße General erstaunlich viel Ähnlichkeit mit einem Wels hatte: die wulstige Stirn, die etwas glupschenden Augen, der hängende Schnauzer und die breit auslaufenden Koteletten, die ein wenig an Kiemen denken ließen.

Doch der Vergleich hinkte, denn ein Wels ist träge und gutmütig, der hier aber schaute mit einem so stählernen Blick in die Runde, daß Ahimaaz ihn sofort in die Kategorie der großen Meeresraubfische einordnete. Ein Hammerhai, im mindesten. Als Lotsenfisch vorneweg kam ein wackerer Jessaul geschwommen, der mit grimmigen Schwüngen seiner weißen Handschuhe einen Keil in die Menge trieb. Die Flanken des Generals wurden von je drei Offizieren gedeckt. Der Kammerdiener beschloß die Prozession, kehrte jedoch nach Erreichen der Pforte wieder zur Kutsche zurück, um mit dem Ausladen des Gepäcks zu beginnen.

Schnell hatte Ahimaaz das große und anscheinend recht schwere Portefeuille aus Kalbsleder in Sobolews Hand bemerkt. Wenn das nicht komisch war: Das Objekt führte das Honorar für seine Hinrichtung mit sich.

Die Korrespondenten drängten ihrem Helden ins Vestibül nach - in der Hoffnung, die eine oder andere Frage anzubringen, das eine oder andere Detail zu erhaschen.

Nicht so Ahimaaz. Gemächlich schlenderte er zum Kammerdiener und hüstelte taktvoll, wie um ihn von seiner Gegenwart in Kenntnis zu setzen. Und er preschte mit seinen Fragen nicht vor, wartete vielmehr, bis er auffiel.

Der Kammerdiener, ein schlaffer Greis mit ewig gerunzelten schlohweißen Brauen (Ahimaaz kannte seinen gesamten Lebenslauf, seine Vorlieben und Schwächen, wußte gar von seiner Veranlagung zu einem kräftigen Morgenkater), äugte mißmutig nach dem Geck im Strohhut, würdigte aber zugleich dessen diskretes Benehmen, indem er sich gnädig ein wenig in seine Richtung drehte. »Korrespondent der >Moskauer Regierungsnachrichten<«, ergriff Ahimaaz die gebotene Chance unverzüglich beim Schopf. »Ich mag Seine Hochwohlgeboren nicht mit lästigen Fragen inkommodieren, möchte die Moskauer aber trotzdem gern wissen lassen, mit welchen Vorhaben der Weiße General sich angelegentlich seines Besuchs in unserer altehrwürdigen Metropole trägt? Wer könnte es besser wissen als Sie, Anton Lukitsch!«

»Wissen schon, nur nicht jedem auf die Nase binden«, entgegnete der Kammerdiener schroff, doch man sah, daß er sich geschmeichelt fühlte.

Ahimaaz klappte den Notizblock auf und zeigte damit seine Bereitschaft an, jedes kostbare Wort des Herrn Kammerdiener ehrfürchtig niederzuschreiben. Lukitsch straffte sich zu voller Würde und begann in erhabener Rhetorik: »Für den heutigen Tag ist Erholung anberaumt. Seine Hochwohlgeboren sind nach den Manövern und der Eisenbahnreise rechtschaffen ermüdet. Keinerlei Visiten, keine Abendempfänge und, Gott bewahre, striktestes Zutrittsverbot für die Journaille. Auch Grußadressen und Deputationen vorzulassen ist untersagt. Das Abendessen wünschen Seine Hochwohlgeboren um halb zehn in der Restauration des Hauses einzunehmen.

Wenn Sie ihn zu Gesicht bekommen wollen, sollten Sie sich schleunigst einen Tisch sichern. Aber ja keine Fragen! Hübsch von weitem spionisieren!«

Die Hand fromm an die Brust gelegt, erkundigte Ahimaaz sich honigsüß: »Und wie gedenken Seine Hochwohlgeboren den ferneren Abend zu verbringen?«

Der Kammerdiener verzog das Gesicht.

»Das ist nicht mein Bier - und Eures schon gar nicht.«

Ausgezeichnet! dachte Ahimaaz. Wie es aussieht, gedenkt man erst morgen zur Sache zu kommen, für den Abend scheint tatsächlich »Erholung anberaumt« zu sein. Kommt uns sehr entgegen.

Nun mußte er nur noch Wanda instruieren.

Sie hatte Wort gehalten, wartete auf ihn in ihrer Wohnung und war allein. Zuerst blickte sie Ahimaaz seltsam gespannt entgegen, so als erwartete sie von ihm etwas; als der Gast jedoch sogleich vom Geschäftlichen zu sprechen anhob, schien ihr Interesse zu erlahmen.

»Wir waren doch schon überein«, bemerkte sie lässig. »Wozu die Sache noch auseinanderposamentieren? Ich verstehe mein Handwerk, lieber Nikolai.«

Ahimaaz musterte die Einrichtung des Zimmers, das offenbar Wohnzimmer und Boudoir in einem war. Alles, wie man es sich wünschte: Blumen, Kerzen, Früchtekorb. Sich selbst hatte die Sängerin ausreichend mit Champagner versorgt, aber auch die Flasche Chäteau Yquem nicht vergessen, die zu besorgen er ihr am Vorabend aufgetragen hatte.

In dem tief ausgeschnittenen bourdeauxroten Kleid mit geschnürter Taille und aufreizender Tournüre sah Wanda verführerisch, geradezu betörend aus. Und dennoch: Durfte man sicher sein, daß der Fisch anbiß?

Wenn Ahimaaz sich nicht sehr verrechnete, würde er es tun.

Erstens konnte kein normal veranlagter, gesunder Mann Wandas sanftem Ansturm widerstehen.

Zweitens war Sobolew, wenn die Informationen stimmten (und bisher hatte Monsieur N.N. ihn nicht enttäuscht), ein normal veranlagter Mann und noch dazu seit mindestens einem Monat keusch.

Und drittens war Mademoiselle Wanda vom selben Typ wie die verflossene Minsker Liebschaft des Generals. Ihr hatte er einen Antrag gemacht, war abgewiesen und später gar sitzengelassen worden.

Der Sprengsatz war gelegt. Um ganz sicher zu gehen, mußte Ahimaaz noch für den Funken sorgen.

»Was grübelst du, Nikolai? Fürchtest du, ich könnte deinem Landsmann nicht gefallen?« fragte Wanda, dem Anschein nach provozierend, doch er hörte einen verhohlenen Unterton von tatsächlicher Unruhe heraus. Jede noch so hinreißende Schönheit, jede eingefleischte Verführerin bedarf der immer wieder neuen Bestätigung ihrer Unwiderstehlichkeit. Am Herzen einer jeden Femme fatale nagt ein Wurm, der raunt ihr zu: Was, wenn deine Reize plötzlich verflogen sind, deine Zauber gebrochen?

Eine Frau will, je nach Charakter, entweder immerzu hören, daß sie die liebste, holdeste und schönste ist, oder aber ihre Unwiderstehlichkeit bei jeder Gelegenheit unter Beweis stellen. Wanda, davon war Ahimaaz überzeugt, gehörte der letzteren Kategorie an.

»Ich habe ihn heute gesehen«, sagte er seufzend und betrachtete die Sängerin wie im Zweifel. »Tatsächlich fürchte ich, offen gestanden, mich in der Wahl des Geschenks vergriffen zu haben. Bei uns in Rjasan steht der General im Ruf eines Verführers, aber dafür schien er mir heute viel zu ernst zu sein. Wenn nun plötzlich nichts daraus wird? Der General für unser schönes Geschenk gar kein Interesse zeigt?«

»Das soll nicht deine Sorge sein!« verkündete Wanda mit blitzenden Augen. »Du mußt nur die Rechnung bezahlen. Hast du das Geld dabei?«

Schweigend legte er das Bündel auf den Tisch. Wanda nahm es und tat so, als zählte sie nach.

»Gleich die ganzen Zehntausend? Allerhand ...«

Sanft tippte sie Ahimaaz den Finger gegen die Nase.

»Keine Bange, Nikolai. Ihr Männer seid ein einfach gestricktes Völkchen. Dein Held entkommt mir schon nicht. Mag er eigentlich Musik? Dort im >Dusseaux< haben sie, glaube ich, einen Stutzflügel im Restaurant stehen.«

Genau! dachte Ahimaaz. Das ist der Funke.

»Doch, doch. Romanzen vor allem. Die >Eberesche< ist sein Lieblingslied. Kennen Sie es?«

Wanda überlegte und schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich habe kaum russische Lieder im Repertoire, mehr europäische. Aber das macht nichts, ich finde es gleich.«

Sie nahm ihr Liederbuch vom Klavier, blätterte und wurde tatsächlich fündig.

»Ist es das hier?«

Ihre Finger glitten über die Tasten, erst summte sie ohne Worte, dann sang sie halblaut mit:

Eberesche, darfst nicht hin zum Ahorn gehen! Mußt alleine bleiben, wiegen dich im Wind.

»Mein Gott, was für ein gefühliger Kram. Helden sind doch ein sentimentales Publikum.« Sie blickte Ahimaaz von der Seite an. »Du kannst jetzt gehen. Der General von Rjasan wird sich das Geschenk schnappen und mit beiden Händen festhalten, verlaß dich drauf.«

Ahimaaz ging noch nicht.

»Es schickt sich nicht, daß eine Dame ohne Begleitung ins Restaurant kommt. Wie machen wir das?« Gequält rollte Wanda mit den Augen.

»Nikolai, ich mische mich nicht in dein Segeltuchgeschäft, also misch du dich nicht in mein Metier.«

Er stand noch ein Weilchen da und lauschte dieser tiefen, lasziven Stimme, wie sie danach lechzte, sich an den Ahorn anzuschmiegen. Dann drehte er sich leise um und ging zur Tür.

Das Spiel brach ab.

»Tut es dir nicht leid, mich einem anderen zu überlassen, Nikolai?« fragte Wanda in seinem Rücken.

Ahimaaz wandte sich um. Doch sie winkte schon ab. »Nein, nein, schon gut. Geh nur! Geschäft ist Geschäft.«

8

Das Restaurant des Hotels »Dusseaux« war voll besetzt, doch dank dem Portier, den Ahimaaz sich beizeiten geneigt gemacht hatte, war für den Herrn Reporter ein Tisch in günstigster Position reserviert: ganz in einer Ecke, von wo aus er den gesamten Saal im Blick hatte. Zwanzig Minuten vor neun kamen zuerst drei Offiziere, dann der General und als Nachhut noch einmal vier Offiziere sporenklirrend hereinmarschiert. Die übrigen Gäste, vom Maitre d'hötel peinlichst instruiert, dem General nur nicht mit Aufmerksamkeitsbekundungen zur Last zu fallen, benahmen sich 178

diskret und taten so, als seien sie bloß zum Abendessen hier und nicht etwa, um den berühmten Mann aus der Nähe zu sehen.

Sobolew griff nach der Weinkarte, vermißte dort seinen Chäteau Yquem und befahl, ihn aus der Weinhandlung Löwe zu besorgen. Seine Begleitung hielt sich an Sekt und Kognak.

Die Herren Offiziere sprachen in gedämpfter Lautstärke, ein paarmal erscholl einhelliges Gelächter, aus dem sich der satte Generalsbariton deutlich hervorhob. Allem Anschein nach waren die Verschwörer bei bester Laune, was Ahimaaz nur recht sein konnte.

Um fünf nach neun - der Chäteau Yquem war bereits eingetroffen und entkorkt - ging die Flügeltür des Restaurants auf wie von einem Zauberwind, und Wanda stand auf der Schwelle, reglos, in malerischer Pose: ein schlanker, biegsamer Körper im Vorwärtsdrang. Das Gesicht gerötet, die großen Augen leuchtend wie Mitternachtssterne. Das Türklappen hatte alle Anwesenden im Saal aufmerken

lassen, und nun saßen auch sie reglos da, wie verzaubert von dem großartigen Anblick. Der ruhmreiche General, die Gabel mit einem marinierten Reizker knapp vor dem Mund, schien überhaupt versteinert.

Wanda dehnte den Moment nur eben so lange, wie die Anwesenden im Saal brauchten, den Effekt zu verarbeiten. Gerade wollten sie sich wieder über ihre Teller beugen, da rief die wunderbare Erscheinung in klingendem Ton: »Da ist ja unser Held!« und kam mit klappernden Absätzen in den Saal geflogen.

Die rote Seide rauschte, die Straußenfeder auf der breiten Hutkrempe wippte. Erschrocken schlug der Maitre d'hotel die Hände zusammen (Pauken und Trompeten waren strengstens untersagt!), doch der Schreck war ganz umsonst: Sobolew schien überhaupt nicht unangenehm berührt. Er wischte sich mit der Serviette das Fett von den Lippen und erhob sich galant.

»Was sitzen Sie noch auf Ihren Stühlen, meine Herren, statt dem Ruhmesblatt

unserer russischen Nation Ehre zu erweisen?« rief die ungestüme Patriotin in den Saal - nicht gewillt, die Initiative aus der Hand zu geben. »Es lebe der General!«

Auf diese Gelegenheit schienen die Gäste nur gewartet zu haben. Alles sprang auf, applaudierte, und das Hurra donnerte so enthusiastisch, daß der Kronleuchter an der Decke ins Schwanken geriet.

Der General errötete auf symphatische Weise und verbeugte sich nach allen Seiten. Obwohl ganz Europa ihn kannte und ganz Rußland ihn vergötterte, schien er sich an Begeisterungsstürme noch immer nicht gewöhnt zu haben.

Entschlossen ging die schöne Frau mit ausgebreiteten Armen auf den Helden zu: »Erlauben Sie mir einen Kuß! Im Namen aller Moskauerinnen!«

Und schon hielt sie ihn kräftig beim Hals gepackt und drückte ihm nach alter russischer Sitte drei Küsse direkt auf den Mund.

Die Röte in Sobolews Gesicht nahm noch zu.

»Gukmassow, setz dich da hinüber!« sagte er, den schwarzbärtigen Jessaul an die Schulter tippend, und wies sodann auf den frei gewordenen Stuhl.

»Erweisen Sie uns die Ehre, Madam!«

»Aber nicht doch!« rief die bezaubernde blonde Frau erschrocken. »Das steht mir nicht zu! Wenn Sie gestatten, setze ich mich ans Klavier und singe Ihnen eines meiner Lieblingslieder.«

Worauf sie so vehement wie zuvor auf den mitten im Saal stehenden weißen Flügel zurauschte.

Ahimaaz fand Wandas Vorgehensweise allzu geradlinig, ja grob, doch es war zu erkennen, daß sie, vollkommen von sich überzeugt, sehr gut wußte, was sie tat. Er durfte froh sein, eine Meisterin ihres Fachs gefunden zu haben. Und als nun die tiefe, leicht rauchige Stimme durch den Saal klang, von der es einem schon bei den ersten Takten das Herz zusammenzog, da verflogen seine letzte Zweifel:

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Eberesche, feine, was macht dich erglühen? Warum streckst du deine Arme übern Zaun?

Ahimaaz stand auf und ging leise hinaus. Niemand beachtete ihn - alle waren ganz Ohr.

Als nächstes mußte er sich in Wandas Appartement schleichen und die Flasche Chateau Yquem austauschen.

9

Die Operation lief reibungslos bis zur Eintönigkeit. Geduld war das einzige, was noch aufzubringen war.

Um viertel nach zwölf hielten drei Kaleschen vordem »Anglija«: das Objekt und Wanda in der vorderen, dahinter die Offiziere -alle sieben.

Ahimaaz (diesmal in der Rolle eines Privatdozenten, mit angeklebtem Bart und Brille) hatte ein Doppelzimmer bezogen, das nach beiden Seiten Fenster hatte: sowohl zur Straße als auch zum Hof hin, wo der Seitenflügel lag. Das Licht hatte er gelöscht, damit seine Silhouette nicht auffiel.

Alles, was recht war: Der General wurde gut bewacht. Kaum waren Sobolew und seine Begleiterin in Wandas Wohnung verschwunden, befleißigten sich die Offiziere, die Lustbarkeit ihres Vorgesetzten zu behüten: Einer verblieb auf der Straße, neben dem Hoteleingang, ein zweiter spazierte im Innenhof auf und ab, ein dritter verschwand im Seitenflügel - er bezog wohl in Wandas Vorzimmer Posten. Die vier übrigen begaben sich zum Büfett. Vermutlich die spätere Wachablösung. Dreiundzwanzig Minuten vor eins ging in Wandas Wohnung das Licht aus. Nurmehr ein gedämpfter roter Schein zeichnete sich auf der Gardine ab. Ahimaaz nickte anerkennend: Die Sängerin verfuhr nach allen Regeln der Liebeskunst.

Kurz darauf näherte sich der auf dem Hof Wache haltende Offizier nach einem verstohlenen Blick in die Runde dem rotglimmenden Fenster und stellte sich auf die Zehenspitzen - schien sich jedoch im nächsten Moment dessen zu schämen, sprang zurück und nahm, ein betont munteres Liedchen pfeifend, seinen Gang über das Hofpflaster wieder auf.

Ahimaaz wandte den Blick nicht vom Minutenzeiger seiner Uhr. Konnte es sein, daß der Weiße General, dessen Kaltblütigkeit im Kampf legendär war, unter keinen Umständen den Kopf verlor und daß sein Puls auch im Überschwang der Leidenschaft gleichblieb? Kaum vorstellbar, da allen Gesetzen der Physiologie zuwiderlaufend. Und wie hatten ihn im Restaurant allein Wandas Küsse erglühen lassen! Hier aber würde es mit Küssen allein nicht sein Bewenden haben.

Eher schon ließ sich befürchten, daß er den Chateau Yquem aus irgendeinem Grund verschmäht hatte. Aber das widersprach wiederum der Psychologie. Sofern nämlich die Liebenden sich einander nicht sofort in die Arme geworfen hatten - und bis zum Erlöschen des Lichts im Boudoir waren gute zwanzig Minuten verstrichen -, mußten sie die Zeit mit irgend etwas überbrücken. Ein Glas vom überraschend

vorgefundenen Lieblingswein bot sich geradezu an. Und außerdem: Trank er ihn heute nicht, so trank er ihn morgen. Oder übermorgen. Bis zum 27. wollte Sobolew in Moskau bleiben. Und daß er von nun an nicht in des »Dusseaux« nächtigen würde, sondern hier, stand außer Frage. Der Rjasaner Handelsgesellschaft war es eine Ehre, ihrem Landsmann dieses Abonnement zu finanzieren. Monsieur N. N. würde großzügig für die Spesen aufkommen.

Um fünf nach zwei hörte Ahimaaz den gedämpften Schrei einer Frau, kurz darauf noch einen, lauter und anhaltender - die Frau rief etwas, das nicht zu verstehen war. In den Offizier auf dem Hof kam Bewegung, er stürzte in den Seitenflügel hinein. Nach einer Minute ging in den Parterrefenstern das Licht an, Schatten huschten hinter der Gardine. Finis.

Den Weg zurück zum »Dusseaux« ging Ahimaaz, Stöckchen schwingend und ohne Eile. Er hatte genug Zeit. In geruhsamem Schritt brauchte man dorthin sieben Minuten - zweimal war er bei Tag die Strecke gegangen, um sich den kürzesten Weg einzuprägen, und hatte die Zeit dabei gestoppt. Bis die erste Panik sich gelegt hatte, alle Wiederbelebungsversuche gescheitert waren, bis man sich durchgerungen hatte, einen Arzt ins »Anglija« zu rufen oder den General der Schicklichkeit halber doch erst ins »Dusseaux« zu schaffen, würde mindestens eine Stunde vergangen sein.

Etwas anderes beschäftigte ihn: Er wußte nicht, was er nun mit Wanda anfangen sollte. Die elementaren Hygienevorschriften verlangten, den Ort des Geschehens nach erfolgter Operation zu säubern. Polizeiliche Ermittlungen und gerichtliche Untersuchungen standen zwar nicht zu befürchten - dem würden die Offiziere einen Riegel vorzuschieben wissen, auch Monsieur N.N. würde das Seinige tun. Und daß Wanda etwas von dem Flaschentausch ahnte, war kaum anzunehmen. Dennoch: Wenn der Name des edlen Rjasaner Spenders irgendwie ans Tageslicht käme, wenn sich herausstellte, daß der echte Nikolai Klonow seinen heimischen Kornspeicher keinen Tag verlassen hatte, dann wären Komplikationen unausbleiblich. Vorsicht konnte nicht schaden.

Ahimaaz zog die Stirn kraus. Fürwahr, dieser Beruf hatte auch seine Schattenseiten. Mit derlei unfrohen wie unvermeidlichen Gedanken im Kopf bog er von der Sofijka in den Hausflur ein, durch den man günstiger weise direkt auf den Hinterhof des »Dusseaux« und bis unter die Fenster von Sobolews Appartement gelangte.

Nach einem prüfenden Blick über die dunkle Fensterfront (alle Hotelgäste schliefen längst) rückte Ahimaaz die zuvor bereitgestellte Kiste an die Hauswand. Ein sanfter Stoß gegen das Schlafzimmerfenster ließ es mit einem kaum hörbaren Scharren des Riegels nach innen aufgehen. Fünf Sekunden später stand Ahimaaz im Zimmer.

Er drückte ein paarmal hintereinander den Bügel seiner Taschenlampe, und sie gab Licht. Der Strahl war schwach, doch ausreichend, um den Tresor zu finden.

Ahimaaz steckte den Dietrich in das Schlüsselloch und begann ihn gleichmäßig und auf methodische Weise hin- und herzudrehen. Bei Einbrüchen fühlte er sich als Dilettant, doch hatte er in seiner langen Laufbahn manchen Kniff dazugelernt. Nach reichlich drei Minuten klickte es - das war die erste von drei Nasen. Für die restlichen zwei benötigte er weniger Zeit - zwei Minuten ungefähr.

Knarrend ging das stählerne Türchen auf.

Ahimaaz fuhr mit der Hand hinein, ertastete irgendwelche Papiere. Er leuchtete mit der Taschenlampe: Es waren Listen mit Namen, Skizzen. Monsieur N.N. hätte sich wahrscheinlich gefreut, diese Papiere in die Hand zu bekommen, doch Dokumentendiebstahl war im Vertrag nicht vorgesehen.

Und die Papiere interessierten Ahimaaz in diesem Moment wenig.

Das Portefeuille war nicht im Tresor. Damit hatte er nicht gerechnet.

10

Den Freitag verbrachte Ahimaaz, auf dem Bett liegend, in konzentriertem Nachdenken. Aus Erfahrung wußte er: Geriet man in einen Hinterhalt, gab man besser nicht dem ersten Fluchtreflex nach, sondern blieb, wo man war - so reglos und starr wie die Kobra, wenn sie zum tödlichen Vorstoß ansetzt. Vorausgesetzt, die Umstände erlaubten eine solche Atempause. Im gegebenen Fall war dem so, denn die wichtigsten Vorsichtsmaßnahmen waren getroffen. Noch letzte Nacht war Ahimaaz aus dem »Metropol« in die schäbige »Herberge zur Treue« umgezogen, kurz die »Treue« genannt. Von den dreckigen, verwinkelten Seitenstraßen der Pokrowka war es nur ein Katzensprung bis zur Chitrowka - dem Ort, wo es das Portefeuille nunmehr zu suchen galt.

Beim Auszug aus dem »Metropol« hatte Ahimaaz auf eine Droschke verzichtet. Lange war er kreuz und quer durch die bereits wieder heller werdende Nacht gelaufen und hatte geprüft, ob ihn nicht jemand verfolgte. In der »Treue« mietete er sich unter anderem Namen ein.

Das Zimmer war schmutzig und finster, jedoch günstig gelegen, mit separatem Eingang und guter Einsicht auf den Hof.

Nunmehr konnte er das Geschehene in aller Ruhe überdenken.

Trotz gründlicher Suche hatte er das Portefeuille letzte Nacht in Sobolews Appartement nicht gefunden. Dafür hatte er auf dem Fensterbrett des hintersten, fest verriegelten Schlafzimmerfensters ein Klümpchen Schmutz entdeckt. Sofort war sein Blick nach oben gegangen - die Lüftungsklappe war nur angelehnt. Jemand war vor kurzem dort ausgestiegen.

Ahimaaz starrte auf die Lüftungsklappe, dachte nach und zog seine Schlüsse.

Dann wischte er den Schmutz vom Fensterbrett und verriegelte das Fenster, durch das er hereingekommen war.

Er verließ das Zimmer durch die Tür, die er mit dem Dietrich von außen wieder verschloß.

Im Vestibül war es still und finster, nur am Pult des Nachtpförtners blakte eine Kerze. Der Pförtner selbst döste; die dunkle Gestalt, die aus der Sobolew-Suite geschlichen kam und vorbeihuschte, entging seiner Aufmerksamkeit. Als das Glöckchen schellte, schrak der Portier auf, doch da war der Gast bereits draußen. Herrje, man kommt nicht zum Schlafen! dachte der Pförtner, hielt sich die Hand vor den gähnenden Mund und ging, den Riegel vorzuschieben.

Während Ahimaaz geschwind in Richtung »Metropol« lief, überlegte er, wie er weiter verfahren sollte. Der Morgen graute - Ende Juni sind die Nächte kurz.

Eine Kalesche kam um die Ecke gebogen. Ahimaaz erkannte die Silhouette von Sobolews Ordonnanz, dem Jessaul. Mit beiden Händen stützte er eine neben ihm sitzende weiße Gestalt. Ein zweiter Offizier hielt von der anderen Seite dagegen. Willenlos pendelte der Kopf des weiß bekleideten Mannes mit den klappernden Hufen im Takt. Zwei weitere Kaleschen folgten.

Wie sie ihn wohl am Portier vorbeibugsieren? fragte sich Ahimaaz zerstreut. Irgend etwas würde ihnen gewiß einfallen. Militärs sind findige Leute.

Der kürzeste Weg zum »Metropol« führte über einen Hof - schon einige Male war Ahimaaz ihn in den letzten achtundvierzig Stunden gegangen.

Als er diesmal durch den dunklen Torbogen trat und die Steinplatten dumpf unter seinen Füßen klangen, hatte er plötzlich das Gefühl, daß jemand in der Nähe war. Er hatte ihn weder gesehen, noch gehört, nur gespürt mit jenem entlegenen Sinn, der ihm schon manchmal das Leben gerettet hatte. Vielleicht, daß die Haut in seinem Nacken eine Bewegung wahrgenommen hatte, einen winzigen Lufthauch. Es konnte eine vorbeihuschende Katze gewesen sein oder eine Ratte, die zum nächsten Kehrichthaufen unterwegs war. Ahimaaz scheute sich in solchen Momenten nie, seinem Instinkt nachzugeben, auch wenn er sich damit vor sich selbst zum Gespött machte. Kurzerhand tat er einen Sprung zur Seite.

Es war wie ein kleiner, von oben nach unten wehender Zugwind, der seine Wange streifte. Aus dem Augenwinkel sah Ahimaaz, wie knapp neben seinem Ohr eine matt schimmernde Stahlklinge die Luft zerschnitt. Mit routiniert schnellem Griff zog er seine »Velo-dog« und schoß, ohne zu zielen.

Es folgte ein gepreßter Aufschrei, ein Schatten wischte zur Seite.

Mit zwei Sprüngen hatte Ahimaaz den Fliehenden eingeholt. Ein kurzer, schneller Schlag mit dem Spazierstock streckte ihn nieder.

Ahimaaz richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf den vor ihm liegenden Mann. Ein grobes Gesicht, tierische Grimasse. Schwarzes Blut sickerte aus dem struppigen, schmierigen Haarschopf. Die kurzen, kräftigen Finger, die der Mann gegen die Hüfte gepreßt hielt, waren gleichfalls naß von Blut.

Die Kleidung verriet den Russen: seitlich geknöpftes Hemd mit Stehkragen, Tuchweste, halbsamtene Hosen, dreckige Stiefel. Am Boden lag ein Beil mit ungewöhnlich kurzem Heft.

Ahimaaz beugte sich tiefer, leuchtete mitten in das Gesicht. Staunende Augen mit unnatürlich geweiteten Pupillen glänzten auf.

Aus Richtung Neglinny Projesd erscholl ein Pfiff, vom Teatralny ein zweiter. Die Zeit drängte.

Er ging in die Hocke, packte den Liegenden mit zwei Fingern unterhalb des Jochbeins und drückte zu. Mit der anderen Hand schleuderte er das Beil beiseite. »Wer schickt dich?«

»Ich bin arm dran, mein Herr ... das ist alles«, röchelte der Verwundete.

»Vergebung... «

Ahimaaz drückte den Daumen tiefer - dorthin, wo der Gesichtsnerv lag. Er sah eine Weile zu, wie der Mann sich vor Schmerz krümmte, ehe er seine Frage wiederholte: »Wer?«

»Laß laß mich, Scharbe«, stöhnte der Mann, während seine Absätze gegen das Pflaster schlugen. »Ich sterbe doch ...«

184

»Wer?« fragte Ahimaaz zum dritten Mal und drückte ihm einen Finger auf das Auge. Mit einem neuerlichen Stöhnen brach aus dem Mund des Sterbenden ein Blutschwall hervor.

»Mischa«, gluckste die Stimme kaum noch vernehmlich. »Der Kleine Mischa ... laß mich ... aah!«

»Welcher Mischa?« fragte Ahimaaz und verstärkte den Druck.

Das war ein Fehler. Mit dem glücklosen Mörder ging es ohnehin zu Ende. Das Stöhnen war in ein Rasseln übergegangen, das Blut kam in Strömen über den Bart geflossen. Der Mann würde ganz sicher kein Wort mehr herausbringen. Ahimaaz richtete sich auf. Die Trillerpfeife des Schutzmanns war schon ganz nah.

Gegen Mittag waren alle Varianten erwogen, eine Entscheidung war getroffen. Ahimaaz war bestohlen worden, und man hatte ihn umzubringen versucht. Gab es zwischen beidem einen Zusammenhang? Davon war auszugehen. Der Mann, der ihm auf dem Hof aufgelauert hatte, mußte genau gewußt haben, wann Ahimaaz hier vorbeikommen würde.

Also mußte ihm erstens jemand gefolgt sein, als er gestern die Route abgegangen war, und dies immerhin so geschickt, daß er nichts bemerkt hatte; zweitens mußte jemand im Bilde darüber sein, womit Ahimaaz letzte Nacht beschäftigt gewesen war; drittens hatte der Portefeuilledieb gewußt, daß Sobolew nicht in sein Zimmer zurückkehren würde - warum hätte er sonst den Tresor wieder so sorgfältig verschließen und durch die Lüftungsklappe klettern müssen? Der General hätte den Verlust so oder so bemerkt.

Frage: Wer konnte sowohl von der Operation Sobolew als auch von dem Portefeuille wissen?

Antwort: nur Monsieur N.N. und seine Leute.

Wäre es nur darum gegangen, Ahimaaz aus dem Weg zu räumen: Es hätte ihn geärgert, doch er hätte Verständnis dafür gehabt.

Geärgert hätte es ihn, weil er, ein Professional der Spitzenklasse, die Situation falsch eingeschätzt, sich verrechnet und zugelassen hatte, daß man ihm eine Falle stellte. Verstanden hätte er es, weil man bei einer derart hoch angebundenen und heiklen Sache natürlich darauf bedacht sein mußte, den Akteur aus dem Verkehr zu ziehen. Er selbst hätte an Stelle seiner Auftraggeber nicht anders gehandelt. Das Schwurgericht von des Zaren Gnaden konnte eine Erfindung sein. Klug ersonnen, zugegeben - so daß selbst der erfahrene Herr Weide sie ihnen abgekauft hatte. Jedenfalls wäre das alles einleuchtend und nicht einmal verwunderlich gewesen. Nur das Verschwinden des Portefeuilles paßte nicht dazu.

Monsieur N.N. - ein Geldschrankknacker? Lächerlich. Greift sich die Million und läßt das Archiv der Verschwörer liegen? Undenkbar. Erst recht die Vorstellung, daß diese nächtliche Haudraufvisage auch nur das Geringste mit N.N. oder »Baron von Steinitz« zu tun haben konnte.

»Scharbe« hatte der Typ ihn genannt. Wenn er nicht irrte, war dies im Verbrecherjargon das Ärgste und Verächtlichste, was sich über einen Menschen sagen ließ - kein Dieb und kein Räuber wurde so angesprochen, sondern der brave Spießbürger.

Ein Subjekt aus der kriminellen Unterwelt also? Einer aus der Chitrowka?

Rede und Gebaren konnten darauf schließen lassen. Bei N.N. hingegen hatte selbst der Kutscher die Manieren eines Offiziers. Etwas paßte hier nicht zusammen.

Da es Ahimaaz für eine schlüssige Analyse an Informationen mangelte, suchte er die Sache vom anderen Ende zu packen.

Solange die Gegebenheiten im Dunkel lagen, sollte er vielleicht erst einmal das Ziel ins Auge fassen. Was war zu tun?

Erstens waren die Spuren der Operation zu tilgen.

Zweitens mußte er das Portefeuille finden.

Drittens galt es, sich diejenigen vorzuknöpfen, die mit Ahimaaz Weide ein unredliches Spiel spielten.

Und zwar in eben dieser Reihenfolge. Zuerst ging es um die eigene Verteidigung, dann um die Rückgewinnung von Eigentum. Schließlich die Rache zum Dessert. Letztere war süß, und sie war nötig: Es ging ums Prinzip, um die Ethik seines Berufsstandes.

Praktisch daraus abzuleiten war die folgende Vorgehensweise:

Erstens mußte er Wanda beseitigen. Unschön, aber nicht zu vermeiden.

Zweitens hatte er sich mit dem rätselhaften Kleinen Mischa zu befassen.

Drittens würde er über selbigen Mischa an sein Dessert gelangen. Irgendwer im Umkreis von Monsieur N.N. pflegte sonderbare Bekanntschaften.

Nun, da sein Plan feststand, drehte Ahimaaz sich auf die Seite und war im nächsten Moment eingeschlafen.

Die Erledigung von Punkt eins war für den Abend vorgesehen.

11

Es gelang ihm, unbemerkt in Wandas Wohnung einzudringen. Wie erwartet, war die Sängerin noch nicht aus der »Alpenrose« zurück. Zwischen Boudoir und Diele befand sich eine kleine Garderobe, die mit Kleidern vollgehängt und mit Hut- und Schuhschachteln zugestellt war. Eine Tür führte von dort ins Boudoir, eine zweite in die Diele - es konnte nicht günstiger sein.

Falls Wanda allein nach Hause kam, war das Ganze schnell und reibungslos zu erledigen. Sie würde zum Umkleiden die Garderobe öffnen und im nächsten Moment tot sein, nicht einmal Zeit haben zu erschrecken. Todesangst und Schmerzen wollte Ahimaaz ihr unbedingt ersparen.

Er überlegte, was angemessener war: einen Unglücksfall oder einen Selbstmord vorzutäuschen. Er wählte den Selbstmord. Für eine Dame der Halbwelt ließen sich genügend Gründe denken, um Hand an sich zu legen.

Die Aufgabe wurde dadurch erleichtert, daß Wanda nicht die Dienste eines Zimmermädchens in Anspruch nahm. Wer von Kind an gewohnt ist, für sich selbst zu sorgen, läßt sich ungern bedienen - das wußte er aus eigener Erfahrung. Auf Santa Croce würde die Dienerschaft getrennt von ihm wohnen, er plante ein extra Gebäude in einigem Abstand zur gräflichen Wohnstatt. Wenn er sie doch einmal benötigte, konnte er sie rufen.

Und wenn Wanda nun nicht allein nach Hause kam?

Dann würde es eben ein Doppelselbstmord sein. Das war gerade in Mode.

Ahimaaz hörte, wie sich der Schlüssel im Türschloß drehte. Schwerelose Schritte.

Sie war allein.

Bei der Erinnerung an den Klang ihrer Stimme, als sie ihn gefragt hatte: »Betrügst du mich auch nicht, mein Lieber?« verzog sich sein Gesicht. Im selben Moment ging die Tür vom Boudoir her einen Spalt auf, und eine schmale Frauenhand nahm den chinesischen Seidenmantel mit aufgesticktem Drachen vom Haken.

Der Moment war verpaßt. Ahimaaz sah durch den Spalt. Wanda stand vor dem Spiegel, hatte das Kleid noch nicht abgelegt, hielt den Kittel in der Hand.

Drei lautlose Schritte, und die Sache wäre getan. Sie würde die hinterrücks aus dem Boden gewachsene Gestalt nicht einmal richtig im Spiegel zu sehen bekommen.

Behutsam schob Ahimaaz die Tür auf und prallte im selben Moment zurück: Soeben hatte die elektrische Klingel angeschlagen.

Wanda ging hinaus in die Diele, wechselte mit irgendwem ein paar Worte und erschien im nächsten Augenblick wieder mit einem Kärtchen in der Hand, das sie aufmerksam betrachtete. Eine Visitenkarte?

Sie stand jetzt Ahimaaz halb zugewandt, und er konnte ein Zucken in ihrem Gesicht sehen. Kurz darauf klingelte es erneut.

Auch diesmal erfuhr er nicht, was in der Diele gesprochen wurde, die Tür nach dort war geschlossen. Doch es dauerte nicht lange, bis Wanda mit ihrem späten Gast das

Boudoir betrat, so daß Ahimaaz jetzt nicht nur alles hören, sondern auch sehen konnte.

Und an dieser Stelle bereitete ihm das Schicksal eine faustdicke Überraschung.

Kaum war der Besucher, ein schlanker junger Mann in modischem Gehrock, in den Lichtkegel der Stehlampe getreten, als Ahimaaz das Gesicht erkannte. Zwar hatte es sich inzwischen deutlich verändert, die jugendliche Weichheit der Konturen verloren - doch es gab keinen Zweifel: Er war es. Ahimaaz pflegte die Physiognomie seiner Objekte in Erinnerung zu behalten, vergaß nicht die geringsten Einzelheiten - bei diesem schon gar nicht.

Die Geschichte lag lange zurück. Sie fiel in jene interessante Zeit, da Ahimaaz bei der Organisation »Asasel« fest unter Vertrag stand. Diese Herrschaften wußten durchaus, was sie wollten, und sie zahlten höchste Honorare, doch es waren Romantiker. Was zum Beispiel sollte die strikte Anweisung bezwecken, vor Ausführung jedweder Operation das Wort »Asasel« auszusprechen? Sentimentalitäten. Wobei Ahimaaz der skurrilen Forderung stets nachgekommen war. Vertrag ist Vertrag.

Den schwarzhaarigen Schönling von damals wiederzusehen war für Ahimaaz keine Freude. Vor allem, weil er immer noch munter auf Erden wandelte. In Ahimaaz' Laufbahn waren nur ganze drei Aktionen mißglückt, und nun stand die leibhaftige Erinnerung an einen dieser Fälle vor ihm. Eigentlich hatte er wenig Grund zum Hadern: Drei Fehlschläge in zwanzig Berufsjahren - das ergab eine sehr passable Quote. Doch seine Stimmung, ohnehin nicht die beste, war jetzt endgültig verdorben.

Wie hatte dieser Milchbart noch mal geheißen?

Irgend etwas mit »F«.

»Auf Ihrer Karte, Herr Fandorin, steht: Ich weiß alles. Was alles? Wer sind Sie überhaupt?« fragte Wanda ihn ungehalten.

Genau. Fandorin, so hieß er. Erast Fandorin. Nanu? Mittlerweile Beamter im besonderen Auftrag des Generalgouverneurs?

Andächtig lauschte Ahimaaz dem im Zimmer stattfindenden Gespräch der beiden und versuchte zu verstehen, was diese unvorhergesehene Begegnung zu bedeuten hatte. So viel wußte er: Derlei geschieht nicht zufällig, es war ein Zeichen. Ein gutes oder ein schlechtes?

Ahimaaz war ein gründlicher Mensch, und es drängte ihn, den Schwarzschopf zu töten, auch wenn die vertragliche Frist längst abgelaufen war und der Erdboden die damaligen Auftraggeber verschluckt zu haben schien. Eine Arbeit halbfertig liegenzulassen ist einfach nicht schön. Andererseits war es kein Zeichen von Professionalität, sich von Gefühlen hinreißen zu lassen. Sollte dieser Herr Fandorin seiner Wege gehen. Schließlich hatte der Mann ihm damals - vor sechs Jahren! - persönlich nichts getan.

Dann aber gab der Beamte dem Gespräch eine gefährliche Wendung, indem er auf den Chateau Yquem zu sprechen kam, wodurch Ahimaaz schon wieder bereit war, seinen Entschluß zu revidieren. Herr Fandorin durfte diese Wohnung nicht lebend verlassen. Allerdings setzte Wanda ihn in Erstaunen: Mit keiner Silbe ging sie auf den Rjasaner Kaufmann ein und dessen erstaunliche Kenntnis der Gewohnheiten des seligen Herrn Generals. Schnell brachte sie die Rede auf anderes. Was hieß denn das nun wieder?

Wenig später empfahl sich der junge Mann.

Wanda saß am Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben. Sie jetzt zu töten wäre kinderleicht gewesen, doch Ahimaaz zögerte.

Wozu sollte es gut sein? Sie hatte dem Verhör widerstanden, hatte dichtgehalten. Und wenn die Staatsdiener so helle waren, die dilettantischen Konspirationsversuche der Getreuen Sobolews zu durchschauen und Mademoiselle Wanda zu verdächtigen, dann rührte er sie besser erst einmal nicht an. Ein plötzlicher Selbstmord der Zeugin konnte den Verdacht nur bestärken.

Wütend warf Ahimaaz den Kopf zurück. Teufel noch mal! Er mußte sich nicht selbst belügen, das verstieß gegen seine Regeln. Es waren Ausflüchte, die er gebrauchte, um Wanda zu verschonen. Nein, gerade jetzt ließ sich der Selbstmord dieser Frau, der unfreiwilligen Verursacherin einer nationalen Tragödie, am einfachsten erklären: Reue, nervliche Zerrüttung, Angst vor möglichen Folgen. Genug gezögert, an die Arbeit!

Es klingelte erneut. Bei Mademoiselle Wanda gab man sich heute die Klinke in die Hand.

Und auch der nächste Besucher gehörte zu Ahimaaz' Bekannten - allerdings nicht aus grauer Vorzeit, sondern aus diesen Tagen. Der deutsche Spion Hans-Georg Knabe war gekommen.

Schon seine ersten Worte ließen Ahimaaz aus allen Wolken fallen.

»Sie sind unfolgsam, Fräulein Tolle ...«

Das war nun wirklich allerhand. Ahimaaz wollte seinen Ohren nicht trauen. Was denn für ein Präparat? Wie bitte? Wanda hatte den Auftrag gehabt, Sobolew zu vergiften?

«... Gott hält die Hand über unser deutsches Vaterland.«

Es war ein Witz! Oder etwa doch ein riesiger Zufall, den man sich zunutze machen konnte?

Kaum hatte die Tür sich hinter dem Deutschen geschlossen, trat Ahimaaz aus seinem Versteck. Wanda, ins Zimmer zurückkehrend, nahm nicht gleich wahr, daß da jemand in der Ecke stand. Als sie ihn sah, fuhr ihre Hand ans Herz, und sie schrie leise auf.

»Sagen Sie bloß, Sie sind eine deutsche Agentin?« fragte Ahimaaz, ehrlich interessiert - bereit, ihr den Mund zuzuhalten, falls es ihr einfallen würde, Krach zu schlagen. »Sie haben mich fein zum Narren gehalten!«

»Nikolai!« Wanda schlug sich die Hand vor den Mund. »Hast du gelauscht? Wer bist du? Wer ... wer sind Sie?« stammelte sie.

Ungeduldig schüttelte er den Kopf, wie um eine Fliege zu verscheuchen.

»Wo ist das Präparat?«

»Wie sind Sie denn hier hereingekommen?« murmelte sie. »Was haben Sie hier zu suchen?«

Seine Frage hatte sie anscheinend gar nicht gehört.

Ahimaaz faßte Wanda bei den Schultern und drückte sie auf einen Stuhl. Sie sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an, in denen zwei winzige Lampenschirme leuchteten.

»Wir führen ein seltsames Gespräch, Mademoiselle«, sagte er, während er sich ihr gegenübersetzte. »Nur Fragen und keinerlei Antworten. Einer muß anfangen. Meinetwegen bin ich das. Sie haben mir drei Fragen gestellt: Wer ich bin, wie ich hier hereingekommen bin und was ich hier zu suchen habe. Die will ich beantworten. Ich bin Nikolai Klonow. Hereingekommen durch die Tür. Und was ich hier zu suchen habe, müßten Sie sich eigentlich denken können. Ich hatte Sie engagiert, um unserem glorreichen Landsmann Michail Sobolew eine Freude zu bereiten, und er hat nicht nur wenig Freude gehabt, er hat dafür mit dem Leben bezahlt. Soll es damit sein Bewenden haben? Das wäre nicht die 189

korrekte, nicht die kaufmännische Art. Ganz abgesehen von dem verausgabten Geld.«

»Sie kriegen es zurück!« sagte Wanda schnell und sprang auf.

Ahimaaz hielt sie zurück.

»Jetzt geht es nicht mehr nur ums liebe Geld«, sagte er. »Ich habe mir die Zeit vertrieben und ein bißchen zugehört, was Sie mit Ihren Gästen zu besprechen hatten. Und darum weiß ich nun, woher der Wind weht. Mit diesem Herrn Knabe stecken Sie offenbar unter einer Decke - und was für einer! Ich habe das dringende Bedürfnis zu erfahren, Mademoiselle, was Sie unserem Nationalhelden angetan haben!«

»Nichts! Das kann ich beschwören!« Sie fegte zum Nachtschränkchen, kramte darin. »Hier ist die Ampulle, die ich von Knabe bekommen habe. Sie ist unversehrt, sehen Sie? An fremder Leute Spiel beteilige ich mich nicht!«

Tränen rollten ihr über das Gesicht, doch ihr Blick war nicht flehend, hatte überhaupt nichts Erbärmliches. Eine außerordentliche Frau, das mußte man sagen. Sie ließ sich nicht gehen, auch wenn sie böse in der Klemme steckte: die russische Polizei auf der einen, der deutsche Geheimdienst auf der anderen Seite. Und als dritter er, Ahimaaz Weide, der ihr übler mitspielen würde als Polizei und Geheimdienst zusammengenommen. Wovon sie freilich nichts ahnte. Er blickte in ihr angespanntes Gesicht. Ahnte sie womöglich doch etwas?

Ahimaaz schüttelte die Ampulle, hielt sie gegen das Licht, roch am Verschluß. Höchstwahrscheinlich ordinäres Zyankali.

»Seien Sie aufrichtig, Mademoiselle, erzählen Sie mir alles. Seit wann stehen Sie mit dem deutschen Geheimdienst in Verbindung? Was hat Knabe Ihnen aufgetragen?« Mit Wanda ging eine nicht ganz einsichtige Veränderung vor. Sie hatte aufgehört zu zittern, die Tränen trockneten, und in ihr Gesicht trat ein eigentümlicher Ausdruck, der Ahimaaz gestern abend schon einmal an ihr aufgefallen war: als sie gefragt hatte, ob es ihm nicht leid tue, sie einem anderen zu überlassen.

Sie rückte näher, setzte sich auf die Lehne seines Sessels, legte ihm die Hand auf die Schulter. Ihre Stimme war leiser geworden, sie klang müde.

»Ja doch. Ich erzähl dir alles, Nikolai. Restlos alles. Knabe ist ein deutscher Spion. Er kommt seit drei Jahren zu mir. Anfangs war ich noch dumm, wollte so viel wie möglich Geld scheffeln, und er war spendabel. Er war nicht an Liebe interessiert, sondern an Informationen. Wie du weißt, gehen bei mir die verschiedensten Männer ein und aus: Unter, Ober, König, Daus, bis in die höchsten Chargen. Dein Sobolew zum Beispiel. Und im Bett löst sich den Männern gern einmal die Zunge.«

Sie fuhr Ahimaaz mit dem Finger über die Wange.

»Dir würde das wahrscheinlich nie passieren. Aber solche wie dich gibt es selten.

Hast du geglaubt, ich hätte die fünfzigtausend mit Liebe allein verdient? Nein, dafür bin ich viel zu wählerisch, mir muß einer gefallen. Es kam natürlich vor, daß Knabe mich gezielt mit jemandem verkuppelt hat. So wie du mit deinem Sobolew. Ich hab mich auf die Hinterbeine gestellt, aber es hat nichts genützt, er hat mich in die Enge getrieben. Zuerst mit Flötentönen. Von wegen, was haben Sie denn in Rußland verloren, mein Fräulein, Sie sind doch Deutsche, Ihre Heimat liegt anderswo, und Deutschland wird sich für Ihre Dienste erkenntlich zeigen, Sie werden dort in Sicherheit leben können, hier bleiben Sie Kokotte auf Lebenszeit, gleich ob Sie Geld haben oder nicht, in Deutschland hingegen wird keiner von Ihrem Vorleben erfahren. Sobald Sie es wünschen, organisieren wir Ihnen ein Leben in Ehren und Wohlergehen ... Später hat er dann andere Saiten aufgezogen. Er könnte mich am langen Arm verhungern lassen, hat er gesagt, und daß ich mir die deutsche Staatsbürgerschaft gefälligst erst verdienen müßte. Diese dämliche Staatsbürgerschaft kann mir den Buckel runterrutschen, aber ich komme nicht mehr los von denen. Es ist wie eine Schlinge um den Hals. Der bringt es fertig und erschlägt mich, das kostet ihn gar nichts. Als abschreckendes Beispiel. Ich bin ja nicht die einzige, die für ihn arbeitet.«

Wanda schauderte es, doch im nächsten Moment schüttelte sie schon wieder übermütig ihr frisiertes Haupt.

»Als er vorgestern erfuhr, daß Sobolew kommt - ich dummes Luder hab's ihm selbst erzählt, wollte mich wohl brüsten - da wurde er nicht wieder. Sobolew sei der Erzfeind aller Deutschen, fing er an und hat von irgendeinem Militärputsch gefaselt. >Wenn man Sobolew nicht aus der Welt schaffe, hat er gesagt, >bedeutet das einen großen Krieg!< und Deutschland wäre dafür noch nicht gerüstet. >lch zerbrech mir

den Kopf, wie ich diesem Skythen das Handwerk lege, und plötzlich dieser Zufall!

Das ist die Vorsehung!< Und dann brachte er das Fläschchen mit dem Gift. Er hat mir das Blaue vom Himmel versprochen, aber ich wollte nicht. Da fing er an zu drohen. Ergebärdete sich wie rasend. Ich mochte mich nicht mit ihm zanken und hab es ihm versprochen. Aber ich habe Sobolew das Gift nicht gegeben, Ehrenwort! Er ist von allein gestorben, an Herzschlag. Glaub mir, Nikolai. Ich bin ein mieses Stück, eine zynische Hexe, eine Hure - aber eine Mörderin bin ich nicht.«

Jetzt war in ihren grünen Augen ein Flehen zu erkennen - doch von Erniedrigung keine Spur. Eine stolze Frau. Leider durfte sie nicht am Leben bleiben.

Ahimaaz seufzte und legte ihr die rechte Hand an den entblößten Hals. Der Daumen lag an der Schlagader, der Mittelfinger am vierten Halswirbel, unterhalb der Schädelbasis. Nun mußte er nur noch kräftig zudrücken, und diese klaren Augen, die ihn zutraulich von unten her anblickten, würden trübe werden und erlöschen.

Und da geschah das Unerwartete. Wanda packte Ahimaaz ihrerseits beim Hals, zog ihn zu sich heran und preßte ihre heiße Wange an seine Stirn.

»Bist du es, auf den ich so lange gewartet habe?« flüsterte sie. Ahimaaz sah auf ihren zarten weißen Hals. Ihm widerfuhr etwas Seltsames.

12

Als er im Morgengrauen ging, schlief Wanda fest, den Mund auf kindliche Art leicht geöffnet.

Eine Minute lang hatte Ahimaaz dagestanden, über sie gebeugt, und in der linken Brusthälfte dieses seltsame Ziehen gespürt. Dann war er leise gegangen.

Sie hält dicht! dachte er, während er auf die Petrowka hinaustrat. Wenn sie Fandorin gestern nichts erzählt hatte, würde sie es jetzt noch viel weniger tun. Es gab keinen Grund, sie zu töten.

Doch seine Gefühle waren in Aufruhr. Die Arbeit mit persönlichen Dingen zu vermischen ging nicht an. Solches hätte er sich früher nie gestattet.

Und Jewgenija? gemahnte ihn eine Stimme von da, wo auch das alarmierende Ziehen herkam.

Es war wohl wirklich an der Zeit, sich zur Ruhe zu setzen.

Was letzte Nacht geschehen war, durfte sich nicht wiederholen. Zu Wanda keinerlei Kontakt mehr.

Gab es irgend jemanden, der einen gewissen Kaufmann Klonow, bis gestern im »Metropol« einquartiert, mit der Sängerin des Restaurants »Alpenrose« in Verbindung bringen konnte? Nein. Oder doch: Timofej, der Hoteldiener aus dem »Metropol«. Es war wenig wahrscheinlich, doch Ahimaaz durfte kein Risiko mehr eingehen. Die Sache kostete ihn nicht viel Zeit, und es war sicherer so.

Aha! wisperte die Stimme, der Diener muß sterben, damit Wanda am Leben bleiben darf!

Egal. Dieser deutsche Spion war jedenfalls ein Glücksfall. Herr Fandorin mußte gestern abend auf ihn gestoßen sein, nachdem er Wandas Wohnung verlassen hatte. Tüchtig und aufgeweckt, wie dieser Detektiv war, mußte er sich für den späten Besucher interessiert haben. Und daß die russischen Behörden über den wahren Charakter von Herrn Knabes Tätigkeit gut unterrichtet waren, durfte man annehmen. Offizier eines ausländischen Geheimdienstes - das war nicht irgendwer.

Ein Manöver bot sich an, das hervorragend geeignet war, die polizeilichen Ermittlungen in seichteres Fahrwasser zu lenken.

Und das, ohne Wanda erdrosseln zu müssen! fügte die innere Stimme spitz und gnadenlos hinzu.

Ahimaaz bezog auf dem Dachboden eines Hauses gegenüber von Knabes Wohnung Quartier. Ein geeigneter Ort, um die Fenster im zweiten Stock, wo der Spion residierte, gut einsehen zu können.

Es wurde ein heißer Tag, was Ahimaaz gelegen kam. Zwar hatte sich das Dach, unter dem er hockte, schon gegen acht Uhr morgens so aufgeheizt, daß die Luft in der Kammer schwül wurde, doch kleineren Inkommoditäten gegenüber war Ahimaaz nicht empfindlich. Dafür standen Knabes Fenster sperrangelweit offen. Somit konnte er dessen Verrichtungen, seine Gänge von Zimmer zu Zimmer wie auf dem Präsentierteller verfolgen: Erst rasierte Knabe sich vor dem Spiegel, dann trank er Kaffee, blätterte in den Zeitungen, strich dort mit dem Bleistift etwas an. Nach den munteren Bewegungen und dem Gesichtsausdruck zu urteilen (die Beobachtung erfolgte mit einem zwölffach vergrößernden Binokel), schien der Herr bei vorzüglicher Laune zu sein.

Ein paar Minuten nach zehn trat er unten aus dem Hauseingang und lief in Richtung Petrowskije Worota. Ahimaaz hängte sich an seine Fersen. Dem Äußeren nach durfte man ihn für einen Kontoristen oder Kaufmannsgehilfen halten: Mütze mit rissigem Lackschirm, langer Gehrock aus rustikalem Gewebe, graues Ziegenbärtchen.

Energisch die Arme schwenkend, hatte Knabe in kaum mehr als einer Viertelstunde das Postamt erreicht. Im Inneren des Gebäudes erlaubte sich Ahimaaz, die Distanz etwas zu verringern, und als der Spion zum Telegraphenschalter trat, stellte er sich hinter ihm an.

Fröhlich grüßte Herr Knabe den Schalterbeamten, der offensichtlich nicht zum ersten Mal Telegramme von ihm entgegennahm, und reichte einen Zettel über den Tresen.

»Nach Berlin, Kompagnie Kerbl & Schmidt, wie üblich. Börsendaten. Nur seien Sie so nett, Pantelejmon Kusmitsch«, fügte der Deutsche lächelnd hinzu, »und lassen es nicht wieder Serdjuk telegraphieren. Er hatte beim letzten Mal einen Zahlendreher dabei, den mir meine Vorgesetzten verübelt haben. Nichts für ungut! Geben Sie's Semjonow, der macht es besser.«

»Jawohl, Iwan Jegoritsch«, entgegnete der Beamte in ebenso aufgeräumtem Ton. »Wird gemacht.«

»Ich rechne mit einer baldigen Antwort, drum schaue ich nachher noch mal vorbei«, sagte der Spion und begab sich, den hinter ihm stehenden Ahimaaz mit einem Blick streifend, zum Ausgang.

Knabes Gang war jetzt ein anderer: In gemütlichem Spazierschritt, ein flottes Liedlein pfeifend, lief er das Trottoir entlang. Ein Mal nur vergewisserte er sich auf routinierte Weise, ob ihm auch niemand folgte. Wohl eher aus Gewohnheit - es sah nicht so aus, als vermutete er eine Überwachung.

Dabei wurde er tatsächlich überwacht, und das nicht ungeschickt. Auch Ahimaaz war es nicht sogleich aufgefallen. Nur daß der Fabrikarbeiter auf der anderen Straßenseite etwas zu konzentriert die Auslagen der noblen Geschäfte beäugte, die seinem Geldbeutel gewiß nicht entsprachen. Es war klar, daß er im Spiegel der Schaufensterscheibe seine Beobachtungen anstellte. Und etwa fünfzig Schritt hinter ihnen fuhr im Schildkrötentempo eine Droschke. Ein Passant wollte einsteigen und wurde abgewiesen, einem zweiten erging es kurze Zeit später ebenso. Für eine Droschke recht sonderbar.

Anscheinend hatte Herr Fandorin die gestrige Nacht nicht untätig verbracht. Ahimaaz ergriff Vorsichtsmaßnahmen, um nicht aufzufallen. Er lief in einen Hausflur, riß sich kurzerhand den Bart vom Kinn, setzte sich eine Brille mit Fenstergläsern auf die Nase, warf die Mütze weg und wendete den Gehrock. Das Innenfutter des Rocks war mehr als ungewöhnlich: eine Beamtenuniform mit abgetrennten Litzen kam zum Vorschein. Als Kontorist war er in den Flur hineingelaufen, als Beamter im Ruhestand kam er zehn Sekunden später wieder heraus.

Weit war Knabe nicht gekommen. Er stand unschlüssig vor der verspiegelten Tür einer französischen Konditorei, ging schließlich hinein.

Ahimaaz folgte ihm.

Mit Appetit verzehrte der Geheimdienstoffizier eine Creme brule und trank Selterswasser dazu. Unversehens saß plötzlich ein junger Mann im Sommeranzug mit etwas sehr flinken Augen am Nachbartisch. Das Gesicht hinter einer Modezeitschrift versteckend, spähte er angestrengt über deren Rand hinweg. Die Droschke von vorhin parkte auch schon am Straßenrand. Der Arbeiter war allerdings verschwunden. Herrn Knabe wurde ordentlich auf die Pelle gerückt. Aber das störte nicht, es war eher gut. Wenn sie ihn nur nicht verhafteten. Womit aber nicht zu rechnen war - was hätte die Beschattung dann für einen Sinn gehabt. Sie wollten seine Mittelsmänner herausfinden. Leider hatte Knabe keine Mittelsmänner, sonst hätte er nach Berlin nicht vom öffentlichen Amt aus telegraphieren müssen.

Der Spion blieb längere Zeit in der Konditorei sitzen. Auf den Eisbecher folgten Kakao und Marzipan, dann bestellte er ein Tuttifrutti. Sein Appetit war nicht zu zähmen. Der junge Spitzel wurde von einem älteren abgelöst. Anstelle der einen Droschke fuhr draußen die nächste vor, die ebenso unlustig schien, Fahrgäste aufzunehmen.

Als Ahimaaz glaubte, lange genug vor den Augen der Polizei herumgesessen zu haben, gab er sich einen Ruck und verließ das Lokal als erster. Er ging zum Postamt zurück und wartete dort. Unterwegs hatte er seinen sozialen Status um einiges niedriger gehängt: Der Rock war abgelegt, die Brille fehlte, über dem aus der Hose hängenden Hemd trug er einen Riemen und auf dem Kopf ein schlichtes Käppchen. Als Knabe im Eingang erschien, stand Ahimaaz unmittelbar neben dem Telegraphenschalter und führte, inbrünstig die Lippen bewegend, ungelenk den Stift über das Formular.

»Hör mal, guter Mann«, fragte er den Beamten, »ist das auch ganz bestimmt morgen dort?«

»Nicht morgen, sondern heute. Wie oft soll ich dir das noch sagen!« kam die Antwort von oben herab. »Und schreib nicht so viel, das ist kein Liebesbrief. Sonst mußt du hinterher betteln gehen. Iwan Jegorytsch, für Sie ist ein Telegramm gekommen!« Während Ahimaaz so tat, als schielte er erbost nach dem rotbäckigen Deutschen, sah er in Wirklichkeit auf das Papier, das eben über den Tresen gereicht wurde. Wenig Text und sonst nur Zahlenreihen - das sah tatsächlich aus wie Börsendaten. Nun ja. In Berlin schienen sie ein grobes Handwerk zu pflegen. Oder sie unterschätzten die russische Gendarmerie.

Knabe sah flüchtig auf die Depesche und steckte sie ein. Sie war natürlich chiffriert. Bestimmt ging er jetzt nach Hause, um sie zu entschlüsseln.

Ahimaaz brach die Verfolgung ab und kehrte zu seinem Dachbodenausguck zurück. Knabe war schon zu Hause - er hatte offenbar eine Droschke genommen. (Am Ende gar die nämliche?) Jetzt saß er am Tisch und hantierte mit irgendeinem Buch, übertrug etwas auf einen Zettel.

Dann aber wurde es interessant. In Knabes Bewegungen kam Hektik. Einige Male wischte er sich nervös den Schweiß von der Stirn. Feuerte das Buch auf den Boden, faßte sich mit den Händen an den Kopf. Sprang auf und fegte durch das Zimmer. Las wieder in seinen Notizen. Die eingegangene Nachricht schien nicht eben erfreulich zu sein.

In der Folge wurde es noch interessanter. Der Spion verschwand in der Tiefe der Wohnung und kam mit einem Revolver in der Hand zurück. Er nahm vor dem Spiegel Platz. Dreimal setzte er sich den Revolveran die Schläfe, einmal schob er sich den Lauf in den Mund.

Kopfschüttelnd sah Ahimaaz zu. Wie wunderbar sich alles fügte. Geradezu märchenhaft. Nun komm schon, erschieß dich.

Was mochten sie ihm aus Berlin telegraphiert haben? Eigentlich konnte man es sich denken. Der Vorstoß des Geheimdienstoffiziers hatte, gelinde gesagt, keine Billigung gefunden. Der Mann, der sich für den Mörder des General Sobolew hielt, hatte seine Karriere unwiderruflich verpfuscht.

Aber Hans-Georg Knabe erschoß sich nicht. Er ließ die Hand mit dem Revolver sinken. Nahm wieder seinen Gang durch das Zimmer auf. Den Revolver steckte er ein. Wie schade.

Was in der Wohnung drüben weiter geschah, konnte Ahimaaz nicht mehr verfolgen, denn Knabe schloß die Fenster.

Runde drei Stunden mußte Ahimaaz mit den über die Scheiben tanzenden Sonnenkringeln vorliebnehmen. Ab und an spähte er nach dem Spitzel, der sich unten die Füße in den Bauch stand. Dabei malte er sich aus, wie das Schloß aussehen sollte, das demnächst aus dem höchsten Felsen von Santa Croce wachsen würde. Es sollte Ähnlichkeit mit einem Turm haben, am liebsten so einem, wie sie über den Frieden der kaukasischen Bergdörfer wachen. Aber auf der oberen Plattform sollte sich unbedingt ein Garten ausbreiten. Palmen mußte er natürlich in Kübel pflanzen, aber für die kleineren Sträucher ließ sich eine Grasnarbe aufbringen

Ahimaaz war eben dabei, das Problem der Bewässerung seiner hängenden Gärten zu durchdenken, als Knabe aus dem Hauseingang kam. Zuerst sah man den Spitzel munter werden, er sprang von der Tür zurück und versteckte sich hinter der Hausecke, Sekunden später erschien der Deutsche selbst. Er blieb vor der Tür stehen und schien auf etwas zu warten. Worauf, klärte sich bald.

Ein offener Einsitzer kam, von einem Falben gezogen, aus der Hofeinfahrt gerollt. Der Knecht sprang vom Bock, übergab die Zügel an Knabe, welcher gewandt in das Gefährt hüpfte, und der Falbe setzte sich munter in Trab.

Das war Pech. Knabe entzog sich der Beobachtung, ihm zu folgen war nicht möglich. Ahimaaz setzte sein Fernglas an und sah gerade noch, wie der Spion sich einen roten Bart anklebte. Was hatte er denn nun wieder vor?

Der Polizeispitzel unten schien immerhin gelassen zu bleiben. Er blickte der Kutsche nach, notierte etwas in sein Büchlein und ging davon. Anscheinend wußte er, wohin Knabe sich aufgemacht hatte und zu welchem Zweck.

Einerlei. Der Spion war mit leeren Händen losgefahren und würde demnach wiederkommen. Es war an der Zeit, die Operation vorzubereiten.

Fünf Minuten später stand Ahimaaz in Knabes Wohnung. In aller Ruhe schaute er sich um. Er stieß auf zwei Geheimfächer. In einem fand sich ein kleines chemisches Laboratorium: Geheimtinten, Gifte, ein ganzer Ballon Nitroglyzerin. (Beabsichtigte da einer, den Kreml in die Luft zu sprengen?) In dem anderen lagerten mehrere Revolver sowie Geld - grob geschätzt an die dreißigtausend - und ein Buch mit logarithmischen Tafeln. Das mußte die Entschlüsselungstabelle sein.

Ahimaaz rührte den Inhalt der Geheimfächer nicht an. Sollten die Gendarmen damit glücklich werden. Die entschlüsselte Depesche hatte Knabe bedauerlicherweise verbrannt - im Waschbecken fanden sich Spuren von Asche.

Ungünstig war, daß die Wohnung keinen Dienstbotenaufgang hatte. Das Flurfenster ging auf einen flacheren Anbau hinaus. Ahimaaz kletterte nach draußen, spazierte über das dröhnende Dachblech und überzeugte sich, daß man von hier aus nicht weiterkam. Das Fallrohr der Rinne war verrostet und würde dem Abstieg nicht standhalten. Nun gut.

Er setzte sich ans Fenster und richtete sich auf eine längere Wartepause ein. Irgendwann zwischen neun und zehn - ein langer Sommertag ging allmählich zur Neige - kam die bekannte Kutsche um die Ecke geschossen. Der Falbe im gestreckten Galopp, Schaumfetzen verstreuend, Knabe im Stehen lenkend und verzweifelt die Peitsche schwingend.

Eine Verfolgungsjagd?

Ahimaaz konnte keine Verfolger hören.

Vor dem Haus ließ der Spion die Zügel fahren und stürzte in den Eingang. Es war soweit.

Ahimaaz ging hinter dem Garderobenständer im Flur in Stellung - den Platz hatte er sich vorhin mit Sorgfalt ausgesucht. In der Hand ein spitzes Küchenmesser.

Die Wohnung war präpariert: um und um gewühlt, die Schränke entleert, sogar das Federbett aufgeschlitzt. Ein mit grober Hand fingierter Raubüberfall. Herr Fandorin sollte den Eindruck gewinnen, als wäre Herr Knabe von den eigenen Leuten umgebracht worden, die wiederum nicht sehr geschickt ein normales Kriminalverbrechen vorgetäuscht hatten.

Die Tat selbst war Sekundensache.

Das Türschloß schnappte, Knabe kam ein paar Schritte in den dunklen Flur gelaufen und starb, ohne zu begreifen, was geschah.

Bevor Ahimaaz ins Treppenhaus trat, sah er sich gewissenhaft um. Es gab keine Spuren.

Plötzlich klappte unten die Tür, Stimmen wurden laut. Dann kam jemand die Treppe heraufgerannt. Das war nicht gut.

Ahimaaz eilte zurück in die Wohnung. Die Tür klappte lauter als nötig zu.

Er hatte höchstens noch fünfzehn Sekunden Zeit.

Er öffnete das Fenster am Ende des Flurs und sprang zurück hinter den Kleiderständer.

Buchstäblich im nächsten Augenblick kam ein Mann in die Wohnung gestürzt, angezogen wie ein Krämer. In seiner Hand steckte ein Revolver, Marke Herstal Agent - ein feines Maschinchen, Ahimaaz hatte früher selbst so eines in Benutzung gehabt. Der »Krämer« stoppte über dem reglosen Körper und fegte sodann erwartungsgemäß in die Zimmer hinein, kletterte endlich auch aus dem Fenster auf das Dach.

Im Treppenhaus war es still. Lautlos schlüpfte Ahimaaz aus der Wohnung.

Nun mußte er nur noch den Hoteldiener ins Jenseits befördern, und Punkt eins seines Planes konnte abgehakt werden.

13

Bevor er an die Ausführung des zweiten Punktes ging, war ein wenig Nachdenken angebracht.

Also lag Ahimaaz die Nacht über auf seinem Bett in der »Treue«, starrte zur Decke und überlegte.

Die Spurenbeseitigung war abgeschlossen, der Hoteldiener erledigt. Die Polizei mußte er nicht fürchten - mit der Verfolgung der »deutschen Spur« hatte die fürs erste genug zu tun.

Der rechte Augenblick, um das gestohlene Honorar aufzutreiben.

Es stand die Frage an, wie man jenen Ganoven mit Namen Kleiner Mischa ausfindig machte. Was wußte er über ihn?

Daß er der Anführer einer Bande war - denn anders hätte er nicht zuerst eine Rotte Schnüffler und später einen Mörder auf ihn ansetzen können.

Mehr war vorläufig nicht bekannt.

Nun zu dem Geldschrankknacker, der sich das Portefeuille angeeignet hatte. Was ließ sich über ihn sagen? Ein normaler Erwachsener kam durch keine Lüftungsklappe. Also ein Kind? Nein. Ein Kind hätte den Tresor wohl kaum so versiert aufbekommen, hierzu brauchte es Erfahrung. Und es war durchaus saubere Arbeit geleistet worden: keine eingeschlagenen Scheiben, keine Einbruchspuren. Der Dieb hatte den Tresor sogar hinter sich verschlossen. Demnach kein Kind, sondern ein kleinwüchsiger Mann. Warum also nicht der Kleine Mischa? Es lag nahe, daß er und der Einbrecher dieselbe Person waren. Das Portefeuille befand sich in seinen Händen.

Gesucht wurde also ein gewitztes und gewandtes Männlein mit Spitznamen Kleiner Mischa, das Tresore zu knacken verstand und eine Bande anführte, mit der nicht zu scherzen war.

Das war doch schon etwas.

Ein solch herausragender Spezialist konnte in der Chitrowka nicht unbekannt sein. Aber gerade darum würde er Mühe haben, an ihn heranzukommen. Sich als Spießgeselle auszugeben war zwecklos - dafür mußte man die Gepflogenheiten kennen, den Jargon, die Etikette. Aussichtsreicher war es, die »Scharbe« zu spielen. Eine, die sich der Dienste eines Geldschrankexperten zu bedienen wünschte.

Warum nicht zum Beispiel einen Kaufmannsgehilfen, der davon träumt, dem Tresor seines Chefs einen heimlichen Besuch abzustatten.

Am Sonntagmorgen, bevor er sich auf den Weg in die Chitrowka machte, konnte Ahimaaz der Versuchung nicht widerstehen und schaute an der Mjasnizkaja vorbei, um sich die Begräbnisprozession anzuschauen. Ein erhebender Anblick. Nie zuvor in den vielen Jahren seiner Laufbahn hatte eine seiner Aktionen einen derartigen Effekt erzielt.

Inmitten der schmerzbewegten, Kreuze schlagenden Menge stehend, fühlte Ahimaaz sich als Hauptakteur dieser grandiosen Aufführung, als ihr unsichtbares Zentrum.

Es war ein ungewöhnlich starkes, berauschendes Gefühl.

Gleich hinter dem Katafalk ritt gravitätisch ein General auf schwarzer Stute einher. Eitel und aufgeblasen. Überzeugt, die größte Nummer in diesem Spektakel zu sein. Dabei war er ebenso eine Marionette wie all die anderen. Der Strippenzieher stand bescheiden auf dem Trottoir, untergetaucht in einem Meer von Gesichtern.

Niemand kannte ihn, niemand gönnte ihm einen Blick. Doch das Bewußtsein seiner Einzigartigkeit verursachte einen Rausch, wie kein Wein ihn hätte erzeugen können. »Das ist Kirill, der Bruder des Zaren«, sagte jemand über den General zu Pferde.

»Was für ein Mann!«

Plötzlich wurde einer der Wachleute in der Absperrung zur Seite gestoßen, eine Frau im schwarzen Kopftuch kam aus der Menge gesprungen und stürzte auf den Katafalk zu.

»Warum gingst du von uns, unser aller Vater!« wehklagte sie und vergrub ihr Gesicht in den roten Samt.

Von dem gellenden Schrei scheute die Rappstute des Großfürsten, ging mit geblähten Nüstern auf die Hinterbeine.

Einer der Adjutanten wollte hinzuspringen, um das in Panik geratene Pferd an die Kandare zu nehmen, da wurde ihm durch Kirills dröhnende, herrische Stimme Einhalt geboten: »Zurück, Nepljuew! Misch dich nicht ein! Ich mach das selbst!«

Der Großfürst hielt sich mühelos im Sattel und hatte das Pferd im Handumdrehen besänftigt. Nervös schnaubend, tänzelte es ein wenig zur Seite, bevor es in die Ordnung des Zuges zurückkehrte. Das hysterische Klageweib wurde in die Menge zurückgeführt, womit der kleine Zwischenfall beendet war. Währenddessen hatte Ahimaaz' Stimmung sich gewandelt. Das Gefühl, der Puppenführer in einem großen Marionettentheater zu sein, war vorbei.

Jene Stimme, die dem Adjutanten Einhalt geboten hatte, kannte er gut. Einmal gehört, vergaß man sie nicht wieder.

Parbleu! Was für ein unerwartetes Zusammentreffen, Monsieur N.N.!

Nachdenklich sah Ahimaaz der majestätischen Gestalt in der Paradeuniform der Kavalleriegarde hinterher. Da war er, der Maestro, der die Fäden tatsächlich in der Hand hielt. Und er, Cavaliere Weide, Graf von Santa Croce in spe, war nur ein Requisit, nicht mehr. Auch recht.

Den ganzen restlichen Tag brachte er in der Chitrowka zu. Selbst hierher drang das Geläut der unzähligen Totenglocken, doch wer hier verkehrte, hatte mit der »sauberen« Stadt, die um irgendeinen General trauerte, nichts am Hut. Hier wuselte, wie in einem Tropfen Schmutzwasser unter dem Mikroskop, ein verborgenes Leben ganz eigener Art.

Ahimaaz, als Kaufmannsgehilfe verkleidet, war schon zweimal angefallen worden, und dreimal hatte man ihm heimlich in die Tasche zu greifen versucht, einmal sogar mit Erfolg: Ohne daß er es merkte, hatte ihm einer den Mantel aufgeschlitzt und die

Geldbörse hervorgezogen. Das eingebüßte Geld war nicht der Rede wert, doch die Fingerfertigkeit beeindruckte ihn.

Die Suche nach dem Geldschrankknacker wollte lange nicht vorankommen. Zumeist ergab sich mit den Leuten erst gar kein Gespräch, und wenn doch, so schlugen sie den Falschen vor: mal einen Kirjucha, mal einen, der sich Tiftler nannte, und mal einen gewissen Kolscha mit Beinamen Gymnasiast. Es war schon nach vier, als endlich einmal der Name des Kleinen Mischa fiel.

Und das kam so. Ahimaaz saß im »Sibir«, einer Schenke, von der es hieß, daß hier die etwas besser betuchten Halsabschneider und Berufsbettler zusammenkamen; er fand ins Gespräch mit einem Strauchdieb, von dem er sich etwas versprach. Seine Augen schauten mit dem fahrigen Blick, wie ihn nur Diebe und Hehler an sich haben. Ahimaaz spendierte seinem Gesprächspartner den Fusel und mimte vor ihm den arglistigen, nur leider etwas beschränkten Ladendiener in einer Galanteriewarenhandlung auf der Twerskaja. Als er die Rede darauf brachte, daß der Ladeninhaber haufenweise Geld im Tresor liegen habe - es brauche nur einen kundigen Mann, der einem zeige, wie man das Schloß aufkriegt, dann ließen sich locker zwei, drei Hunderter pro Woche abzweigen, und keiner bekomme es mit -, da fingen die Augen des Schnorrers an seinem Tisch zu blitzen an: Hier schien ihm ein Fisch von selbst ins Netz zu hüpfen.

»Das ist ein Fall für Mischa«, sagte der Experte überzeugt. »Der macht dir das akkurat.«

Ahimaaz tat, als zweifelte er.

»Hat der Mann denn Ahnung? Kein Pfuscher?«

Der Typ sah ihn verächtlich an.

»Wer soll ein Pfuscher sein? Der Kleine Mischa? Eher bist du selber einer! Paß auf, Bruder, komm einfach heute abend in der >Galeere< vorbei, da sitzen dem Mischa seine Jungs und zechen. Ich geh schon mal hin und geb Bescheid. Dann können sie dich ordentlich empfangen.«

Und die Augen des Lumpenkerls blitzten in heller Vorfreude auf eine satte Provision - dafür, daß er dem Kleinen Mischa einen Sonntagsbraten vor die Nase setzte.

Gegen Abend kehrte Ahimaaz in die »Galeere« ein. Nicht mehr Ladendiener, sondern blinder Bettelmann: in Lumpen gehüllt, mit Bastschuhen an den Füßen und grauem Star. Er hatte sich Häutchen aus Kalbsblase unter die Lider geschoben, durch die man alles wie im Nebel sah, doch der Eindruck war verblüffend echt. Ahimaaz wußte aus Erfahrung, daß Blinde nirgendwo Verdacht erregten, keiner beachtete sie. Wenn sie sich nicht rührten, wurden sie von ihrer Umgebung nach kurzer Zeit ganz übersehen.

Also rührte er sich nicht. Gab sich auch wenig Mühe, herumzuschauen, horchte um so genauer hin. Am anderen Ende des Raumes saß unverkennbar eine Handvoll

Banditen beisammen. Vielleicht waren es die aus Mischas Bande, doch ein auffällig schmaler, flinker war nicht dabei.

Als es hinter den trüben kleinen Kellerfensterscheiben dunkel wurde, ging es richtig los.

Auf die nach ihm eingetroffenen Gäste hatte Ahimaaz zunächst kaum geachtet. Erst kamen zwei: ein Trödler und ein krummbeiniger Kirgise im schmierigen Kittel. Kurz darauf noch ein Buckliger. Daß es sich um Kriminalpolizisten handeln könnte, wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Die Moskauer Polizei arbeitete nicht schlecht, das mußte man ihr lassen. Und trotzdem waren die Ganoven den getarnten Detektiven irgendwie auf die Schliche gekommen.

Alles ging sehr schnell. Eben noch war es still und friedlich gewesen, im nächsten Moment lagen zwei - der Trödler und der Kirgise - leblos hingestreckt, der Bucklige hing ohnmächtig über dem Tisch, während einer der Banditen sich am Boden wälzte und unausgesetzt, mit gräßlicher, wie gekünstelt anmutender Stimme brüllte, er halte es nicht aus.

Bald darauf erschien der Mann, auf den Ahimaaz gewartet hatte. Ein Stutzer mit schnellen, eckigen Bewegungen, europäisch gekleidet, nur daß die Hosen in auf Hochglanz gewienerten Chromlederstiefeln steckten. Diesen Verbrechertyp kannte Ahimaaz gut, er gehörte für ihn in die Kategorie der »Frettchen«: kleine Räuber, die einem gefährlich werden konnten. Daß dieser Mischa in der Moskauer Unterwelt eine solche Autorität erlangt hatte, war indes erstaunlich. Aus »Frettchen« pflegten bestenfalls Provokateure und Doppelagenten zu werden.

Aber es würde sich bald herausstellen, was der hier für ein Bürschlein war.

Die toten Polizisten wurden nach nebenan bugsiert, auch den betäubten buckligen Alten schleifte man weg.

Mischa und seine tollkühne Bande nahmen wieder Platz und begannen zu tafeln.

Das Wimmern und Stöhnen des Mannes, der ihnen zu Füßen lag, hörte irgendwann auf, was jedoch keinen kümmerte. Erst nach einer halben Stunde fiel es den Banditen plötzlich ein, das Glas »auf den Seelenfrieden von Semjon Trumm« zu heben, der Kleine Mischa hielt mit dünner Stimme eine herzergreifende Rede, in der Ahimaaz jedes zweite Wort fremd war. Den Toten nannte der Redner ehrfürchtig einen »strammen Macker«, was bei den Umsitzenden einverständiges Kopfnicken hervorrief. Die Andacht währte indes nicht lange. Trumm wurde an den Beinen dorthin geschleift, wo schon die toten Polizisten lagen, und das Gelage nahm seinen Fortgang, als wäre nichts geschehen.

Ahimaaz spitzte die Ohren, damit ihm von den Gesprächen der Ganoven kein Wort entging. Er zweifelte immer weniger daran, daß außer Mischa keiner von der erbeuteten Million wußte. Anscheinend hatte er die Sache im Alleingang durchgezogen, ganz ohne die lieben Kameraden.

Aber nun hatte er ausgespielt. Es galt nur noch den geeigneten Moment für ein Gespräch unter vier Augen abzupassen.

Gegen Morgen, als die Schenke sich geleert hatte, stand Mischa plötzlich auf. »Genug Stroh gedroschen«, verkündete er lauthals. »Macht, was ihr wollt, ich kriech zur Fiska untern Rock. Aber vorher müssen wir uns noch mit dem Bullen abgeben.«

Grölend verzog sich die ganze Bande hinter den Tresen und von da in die Tiefen des Kellers.

Ahimaaz blickte sich um. Der Wirt schnarchte seit langem hinter einer Bretterwand, nur zwei Gäste saßen noch da, Mann und Weib, die sich bis zur Besinnungslosigkeit hatten vollaufen lassen. Der Moment war günstig.

Hinter dem Tresen lag ein finsterer Gang. In seiner Tiefe zeichnete sich ein schwach erhelltes Viereck auf dem Fußboden ab. Von dort waren gedämpfte Stimmen zu hören. Der Weinkeller?

Ahimaaz zog sich das Häutchen vom einen Auge. Vorsichtig spähte er hinab. Alle fünf Banditen waren unten.

Fünf waren zuviel. Er mußte noch warten, bis sie den falschen Buckligen erledigt hatten. Anschließend, wenn sie heraufgekrochen kamen, konnte er sie still und leise, einen nach dem anderen, umlegen.

Doch es kam anders.

Der Geheimpolizist erwies sich als fixes Bürschchen. Eine solch artistische Gewandtheit war Ahimaaz noch nicht begegnet. In Sekundenschnelle hatte der »Bucklige« die ganze Bande erledigt. Ohne aufzustehen, warf er erst den einen, dann den anderen Arm nach vorn, und zwei der Ganoven faßten sich an die Gurgel. Hatte er Messer nach ihnen geworfen, oder was? Den beiden anderen zertrümmerte der Polizist den Schädel mit einem besonders originellen Instrumentarium: Knüppel, die an Ketten hingen. Man traute seinen Augen nicht, wie einfach und wirkungsvoll. Noch mehr Respekt nötigte ihm ab, wie versiert der »Bucklige« den Kleinen Mischa verhörte. Ahimaaz erfuhr alles, was er wissen mußte. Er zog sich in den Schatten zurück. Dann folgte er dem Detektiv und seinem Gefangenen lautlos durch das dunkle Labyrinth.

Sie kamen vor eine Tür, die beiden traten ein, kurze Zeit später knallten drinnen Schüsse. Wer von beiden hatte getroffen? Ahimaaz glaubte nicht, daß es Mischa war. Und in diesem Fall war es nicht geraten, dem behenden Polizisten vor die Mündung zu laufen. Lieber lauerte er ihm auf dem Korridor auf... Nein, hier war es zu dunkel. Es konnte passieren, daß man nicht genau, nicht tödlich genau traf.

Ahimaaz kehrte in den Schankraum zurück und streckte sich auf einer Bank aus. Sekunden später tauchte der fleißige Geheimpolizist wieder auf, und was das Schönste war: Er hatte das Portefeuille dabei. Sollte Ahimaaz jetzt schießen, sollte er noch warten? Der »Bucklige« hielt den Revolver im Anschlag. Seine Reaktionsschnelligkeit hatte er unter Beweis gestellt, er würde auf die kleinste

Bewegung hin abdrücken. Ahimaaz kniff das von dem Häutchen befreite Auge zusammen. War das nicht der Herstal-Revolver von gestern? Stand vor ihm etwa jener »Krämer«, der bei Knabe aufgetaucht war?

Die Ereignisse überschlugen sich. Erst verhaftete der Polizist den Wirt, dann fand er seine Leute wieder, von denen einer, der Kirgise, gar nicht tot war.

Bemerkenswert war, daß der »Bucklige«, während er dem Asiaten mit einem Handtuch den geschundenen Kopf verband, japanisch mit ihm redete. Jetzt schlug es dreizehn: ein Japaner in der Chitrowka! Den rollenden Klang dieser Sprache hatte Ahimaaz im Ohr, seit er vor drei Jahren einen Auftrag in Hongkong auszuführen hatte. »Masa« nannte der Geheimpolizist seinen Japaner.

Jetzt, da der verkleidete Detektiv nicht mehr diesen schütteren Greisenton markierte, kam Ahimaaz die Stimme bekannt vor. Er hörte genauer hin - Herr Fandorin, keine Frage! Ein tüchtiger junger Mann, alles, was recht war! So einen traf man selten.

Und Ahimaaz entschied, daß das Risiko einzugehen nicht lohnte. Bei solchen Subjekten mußte man doppelt vorsichtig sein. Zumal der Detektiv nach wie vor auf der Hut war: Immer noch schössen seine Blicke in alle Richtungen, und der Herstal steckte griffbereit.

Zu dritt - Fandorin, der Japaner und der gefesselte Wirt - verließen sie nun die Schenke. Ahimaaz sah ihnen durch eines der staubigen Fensterchen nach. Das Portefeuille fest in Händen, begab sich der Detektiv auf die Suche nach einem Fuhrwerk, während der Japaner zur Bewachung des Arrestanten zurückblieb. Einmal nur versuchte der Wirt zu entkommen - schon hatte der kleine, kernige Mann den kräftigen Tataren mit wütendem Zischen und einer kurzen Bewegung zu Boden geworfen.

Dem Portefeuille mußte Ahimaaz wohl oder übel noch ein Weilchen hinterherlaufen. Irgendwann würde dieser Herr Fandorin schon einmal müde werden. Einstweilen konnte er nachsehen, ob sein Schuldner, der Kleine Mischa, wirklich tot war.

Eilig lief Ahimaaz durch den finsteren Gang und zog die angelehnte Tür auf. Eine Schlafkammer, funzliges Licht. Keiner schien da zu sein.

Er trat an das zerwühlte Bett, betastete es. Es war noch warm.

Da ertönte aus der Ecke ein leises Stöhnen. Ahimaaz fuhr herum und sah eine gekrümmte Gestalt. Der Kleine Mischa kauerte auf der Erde und hielt sich mit beiden Händen den Bauch. Er hob die feuchtglänzenden Augen, sein Mund war weinerlich verzerrt, und wieder drang dieses wimmernde, klägliche Stöhnen daraus hervor.

»Bruder, ich bin's, Mischa... Ich bin verwundet... Hilf mir... Wer bist du, Bruder?« Ahimaaz ließ sein spanisches Messer aufschnappen, beugte sich nach vorn und zog es dem Sitzenden über die Kehle. Damit Ruhe eintrat. Und außerdem war man nun quitt.

Im Laufschritt kehrte er zurück in den Schankraum und legte sich auf die Bank. Hufgetrappel auf der Straße, knarrende Räder. Fandorin kam hereingerannt, diesmal ohne das Portefeuille. Er verschwand in dem dunklen Gang - noch einer, der sich um den Kleinen Mischa Sorgen machte. Aber wo hatte er das Portefeuille? Dem Japaner überlassen?

Ahimaaz riß die Füße von der Bank.

Nein, zu spät.

Er streckte sich wieder aus. In ihm stieg Wut hoch. Doch er durfte der Erregung nicht nachgeben - so beging man nur Fehler.

Jetzt tauchte Fandorin wieder aus dem Kellerlabyrinth hervor: gehetzter Gesichtsausdruck, mit dem Herstal in alle Richtungen zielend.

Flüchtig ging sein Blick über den Blinden, ehe er nach draußen stürzte.

»Fahr schon! In die Malaja Nikitskaja, zur Gendarmerie!« drang sein Ruf von der Straße herein.

Ahimaaz riß sich das Häutchen vom zweiten Auge. Eile war angesagt.

14

Vor der Gendarmerieverwaltung fuhr Ahimaaz mit eleganter Kutsche vor, aus der er noch im Fahren absprang.

»Zwei von uns haben eben einen Arrestanten eingeliefert, wo sind die hin?« überfiel er den Wachhabenden.

Die naßforsche, anmaßende Arteines in Lumpen gehüllten Mannes mit herrischem Glanz in den Augen setzte den Gendarmen nicht in Erstaunen.

»Die sind flott hinauf zu Seiner Exzellenz. Vor nicht mal zwei Minuten. Und der Arrestant ist in der Wachstube, wird gerade eingetragen.«

»Der Arrestant ist mir egal!« fuhr der verkleidete Mann ihn an. »Ich brauche Fandorin. Bei Seiner Exzellenz ist er, sagst du?« »Jawohl. Die Treppe hoch, den Flur nach links.«

»Das weiß ich selber!«

Ahimaaz fegte durch das Vestibül die wenigen Stufen hinauf ins Hochparterre. Erst warf er einen Blick nach rechts - am entfernten Ende des Korridors schimmerte eine helle Tür, hinter der es klirrte. Ein Fechtsaal. Von dort drohte keine Gefahr.

Er ging nach links. Der breite Korridor war leer, nur hie und da kamen emsige Beamte in Uniform oder Zivil aus einem der Zimmer geschnürt, um gleich wieder in einer benachbarten Tür zu verschwinden.

Und nun hielt Ahimaaz vor freudiger Überraschung inne: Nach der langen Kette von Mißgeschicken und dummen Zufällen schien Fortuna ihm endlich gnädig werden zu wollen. Vor einer Tür mit der Aufschrift Empfangszimmer saß der Japaner und hielt das Portefeuille auf dem Schoß.

Vermutlich war Fandorin dabei, seinem Vorgesetzten die Ereignisse der Nacht zu rapportieren. Warum er wohl das Portefeuille nicht mit hineingenommen hatte? Vielleicht wollte er glänzen und hob sich den Knalleffekt für zuletzt auf. In der Nacht war allerhand passiert, der Detektiv würde mit seinem Rapport ein Weilchen zu tun haben, Ahimaaz hatte also ein paar Minuten Zeit.

Gemütlich hingehen. Einen Messerstich unter das Schlüsselbein setzen. Das Portefeuille schnappen und das Haus auf demselben Wege verlassen, auf dem er hereingekommen war. Eine Kleinigkeit.

Ahimaaz sah sich den Japaner genauer an. Der starrte konzentriert vor sich hin, hielt das Portefeuille mit beiden Händen fest und wirkte wie eine gespannte Feder. In Hongkong hatte Ahimaaz sich einen Eindruck verschafft, wie kunstvoll die Japaner den Kampf ohne Waffen auszuüben verstanden. Kein Meister im englischen Faustkampf oder im französischen Ringkampf kam dagegen an. Und den tatarischen Kneipenwirt, einen Hünen, hatte dieser kleine Japaner mit einem Ruck zu Boden geworfen. Wirklich eine Kleinigkeit?

Bloß kein Risiko. Das geringste Handgemenge, ein Poltern nur, und schon würde es einen Auflauf geben. Er brauchte eine Idee. Die Zeit lief.

Er machte kehrt und lief eilends in die Richtung, von wo er die Rapiere hatte klirren hören. Öffnete die Tür mit dem Schild Turnsaal für Offiziere und sah vor sich ein Dutzend Gestalten in Masken und weißen Fechtanzügen. Diese Musketiere hatten ihm noch gefehlt.

Ah, dort war die Tür zur Garderobe.

Er warf Lumpen und Bastschuhe von sich und nahm irgendeine Uniform vom Haken, nur bei den Stiefeln achtete er auf die Größe - das war wichtig. Schneller, schneller. Während er den Korridor in geschäftigem Trab zurücklief, fiel sein Blick auf ein Türschild: Poststelle.

Ein Beamter saß hinter dem Tresen und sortierte Umschläge.

»Ist Post für Hauptmann Pewzow da?«

Es war der erstbeste Name, der Ahimaaz in den Sinn kam.

»Nein.«

»Würden Sie bitte gründlich nachschauen!«

Achselzuckend steckte der Beamte die Nase in sein Kontorbuch, raschelte mit den Seiten.

Ahimaaz griff verstohlen nach einem Brief mit amtlichem Siegel, der auf dem Tresen lag, und schob ihn sich unter die Manschette.

»Lassen Sie, es eilt ja nicht. Ich komme später wieder.«

Mit festen Schritten näherte er sich nun dem Japaner, baute sich vor ihm auf und salutierte.

»Herr Masa?«

Der Japaner sprang vom Stuhl und tat einen tiefen Diener.

»Herr Fandorin schickt mich zu Ihnen. Fandorin, Sie verstehen?«

Eine noch tiefere Verbeugung war die Antwort. Der Japaner schien auf russisch nur Bahnhof zu verstehen. Um so besser!

»Hier ist die schriftliche Verfügung, Ihnen das Portefeuille abzunehmen.«

Ahimaaz streckte den Brief nach vorn und wies zugleich auf das Portefeuille.

Der Japaner zögerte. Ahimaaz wartete, zählte die Sekunden. In der linken Hand hinter seinem Rücken steckte das Messer. Noch fünf Sekunden, und er mußte zustechen. Er durfte nicht länger warten.

Fünf, vier, drei, zwei...

Der Japaner verbeugte sich noch einmal und reichte ihm das Portefeuille. Den Brief nahm er mit beiden Händen entgegen und legte ihn sich gegen die Stirn. Anscheinend war ihm der Tod noch nicht beschieden.

Ahimaaz salutierte, machte auf dem Absatz kehrt und betrat das Empfangszimmer. Er konnte das Haus nicht durch den Korridor verlassen - das mußte dem Japaner merkwürdig vorkommen.

Das Empfangszimmer war geräumig. Geradeaus ging es in das Kabinett des Chefs - dort mußte man Fandorin vermuten. Links war ein Fenster. Rechts eine Tür mit dem Schild Geheimkontor.

Der Adjutant drückte sich vor der Tür zum Chefzimmer herum, was Ahimaaz nur recht war. Er tat eine beschwichtigende Geste und lenkte seine Schritte kurz entschlossen durch die rechte Tür. Wieder hatte er Glück - Fortuna lief zu großer Form auf. Denn hinter der Tür lag kein Kabinett, wo er aufs neue hätte improvisieren müssen, sondern nur ein kleiner Gang, von dem Fenster auf den Hof hinausgingen. Adieu, die Herren Gendarmen.

Ahimaaz Weide ging zum dritten und letzten Punkt seines Programms über.

Vor den Diensträumen im Amtssitz des Generalgouverneurs erschien ein schneidiger Gendarmeriehauptmann und fragte den Adlatus streng, wo der Hofrat Churtinski sein Kabinett habe. Ein pralles Portefeuille schwenkend, schritt er sodann in die gewiesene Richtung.

Churtinski empfing den »Eilkurier aus Petersburg« mit einem Lächeln gekünstelter Liebenswürdigkeit. Ahimaaz lächelte auch, doch ohne jegliche Heuchelei, er freute sich wirklich - lange genug hatte er auf diese Begegnung gewartet.

»Grüß Gott, Kanaille«, sagte er und blickte Herrn Nemo, Monsieur N.N.s bösem Knecht, in die glanzlosen grauen Augen. »Ich bin Klonow. Das ist Sobolews Portefeuille. Und das hier dein Tod.«

Bei diesen Worten ließ er sein Messer klicken.

Des Hofrats Gesicht wurde aschfahl. Seine Augen waren auf einmal tiefschwarz - die geweiteten Pupillen hatten die Iris ganz verschlungen.

»Ich will Ihnen alles erklären«, hauchte der Chef der Geheimkanzlei tonlos. »Bitte töten Sie mich nicht!«

»Wenn ich das wollte, lägest du längst mit aufgeschlitzter Kehle unterm Tisch. Ich will etwas anderes von dir!«

Ahimaaz hatte die Stimme erhoben, man sollte die eiskalte Wut heraushören.

»Was Sie belieben. Nur um Himmels willen nicht so laut!« zischte Churtinski.

Er steckte den Kopf zur Tür hinaus und befahl seinem Sekretär, niemanden vorzulassen. Dann wisperte er: »Hören Sie, ich kann Ihnen erklären, wieso ...«

»Erklär das dem Großfürsten, Judas!« schnitt Ahimaaz ihm das Wort ab. »Setz dich hin und schreibe! Los!« Er fuchtelte mit dem Messer so wild, daß Churtinski entsetzt zurückwich.

»Gut, gut. Was soll ich denn schreiben?«

»Die Wahrheit.«

Ahimaaz stellte sich hinter dem Rücken des zitternden Beamten auf.

Zaghaft schaute der Hofrat sich um - die Augen nicht mehr schwarz, sondern grau und matt wie zuvor. Anscheinend hatte Herr Nemo, das Schlitzohr, schon wieder eine Idee, wie er sich herauswinden konnte.

»Schreib! Ich, Pjotr Churtinski, bekenne, aus Habgier ein Verbrechen gegen meine Pflicht und Schuldigkeit sowie Verrat an demjenigen begangen zu haben, dem treu zu dienen und in seinem anspruchsvollen Werk allmöglichst behilflich zu sein ich geschworen habe. Gott ist mein Richter. Eurer Kaiserlichen Hoheit erkläre ich hiermit...«

Churtinski hatte eben das Wort »Richter« zu Papier gebracht, da brach ihm Ahimaaz mit einem Handkantenschlag die Halswirbel.

Er hängte den Leichnam an die Kordel, die vom Oberfenster herabhing. Befriedigt schaute er ihm in das staunende Gesicht. Ahimaaz Weide zum Narren zu halten war ein undankbares Geschäft.

Amen. Mehr gab es für ihn in Moskau nicht zu tun.

Vom Postamt sandte Ahimaaz, immer noch in Gendarmenuniform, ein Telegramm an die Adresse, unter der Monsieur N. N. im Notfall zu erreichen war. Wie in den Zeitungen stand, hatte Großfürst Kirill schon gestern die Rückreise nach Sankt Petersburg angetreten.

Das Telegramm war folgenden Inhalts:

Auftrag abgeschlossen, Honorar erhalten. Partner Nemo der Unlauterkeit überführt. Schwierigkeiten mit Herrn Fandorin von der Moskauer Filiale. Unterstützung Ihrerseits erbeten. Klonow.

Nach kurzem Zögern gab er seine Adresse in der »Treue« als Absender an. Ein Risiko war natürlich dabei, doch es hielt sich in Grenzen. Jetzt, wo er wußte, wer N. N. war, schien ihm ein doppeltes Spiel kaum mehr wahrscheinlich. Eine so hochrangige Person hatte andere Möglichkeiten.

Und Unterstützung benötigte er vom Großfürsten in der Tat. Die Operation war beendet. Einen Rattenschwanz polizeilicher Ermittlungen quer durch Europa hinter sich herzuziehen - das war das letzte, was der künftige Graf von Santa Croce gebrauchen konnte. Herr Fandorin war etwas über die Maßen scharfsinnig und schnell. Dem konnte ein bißchen Räson nicht schaden.

Als nächstes fuhr Ahimaaz zum Brjansker Bahnhof und kaufte sich eine Fahrkarte für den Pariser Zug. Morgen früh acht Uhr würde Ahimaaz Weide der Stadt den Rücken kehren, in der er seinen letzten Auftrag erfüllt hatte. Eine glänzende Laufbahn hatte ihren angemessenen Abschluß bekommen.

Er bekam plötzlich Lust, sich selbst ein Geschenk zu machen. Ein freier Mann, noch dazu jenseits beruflicher Pflichten, durfte sich ein paar Schwächen leisten.

Er schrieb einen Brief.

Sei morgen früh um sechs in der »Herberge zur Treue«, Chochlowski Pereulok. Zimmer sieben, Eingang vom Hof. Klopfzeichen: zweimal, dreimal, zweimal. Möchte dir vor meiner Abreise ade sagen. Nikolai.

Er gab den Brief am Bahnhof auf, bei der städtischen Post. Frau Tolle persönlich.

Hotel Anglija, Petrowka, Ecke Stoleschnikow hatte er als Adresse auf den Umschlag geschrieben.

Es war kein Problem. Sämtliche Spuren waren getilgt. Selbst mochte er sich im »Anglija« freilich nicht sehen lassen - möglicherweise wurde Wanda ja noch beschattet. Im übrigen würde Monsieur N.N. dafür sorgen, daß die Beschattung baldigst aufgehoben und die Ermittlungen eingestellt wurden.

Er wollte Wanda ein Abschiedsgeschenk machen: jene leidigen fünfzigtausend, die ihr noch fehlten, um sich frei zu fühlen und zu leben, wie es ihr gefiel.

Und vielleicht... sollte er ein neues Rendezvous verabreden? In einem neuen, freien Leben?

Jene Stimme, die sich vor einiger Zeit in Ahimaaz' linker Brusthälfte eingenistet hatte und bisher mit geschäftlichen Erwägungen abzuwürgen gewesen war, schien nun vollends über die Stränge zu schlagen.

»Wozu Abschied?« flüsterte sie. »Graf von Santa Croce, das ist etwas anderes als Ahimaaz Weide. Es gibt keinen Grund für Seine Hoheit, einsam zu bleiben.«

Der Stimme wurde umgehend das Wort verboten. Dennoch fuhr Ahimaaz noch einmal zum Bahnhofsschalter, gab seine Fahrkarte zurück und buchte ein Abteil für zwei Personen. Auf die hundertzwanzig Rubel kam es nicht an. Ein Abteil für sich allein zu haben war ohnehin angenehmer.

»Ha-ha!« kommentierte die Stimme.

Morgen früh, wenn wir uns sehen, werde ich es entscheiden! sagte sich Ahimaaz. Entweder sie kriegt die fünfzigtausend, oder sie fährt mit.

Und plötzlich erinnerte er sich: Das hatte es schon einmal gegeben. Vor zwanzigjahren, mit Jewgenija. Nur hatte er damals, als die Entscheidung anstand, kein Pferd für sie dabei. Diesmal war das Pferd gesattelt.

Den Rest des Tages konnte Ahimaaz an nichts anderes denken. Abends lag er schlaflos in seinem Bett, was er nicht von sich kannte.

Am Ende verwirrten sich die Gedanken und wurden von einer Flut zusammenhangloser, flüchtiger Bilder beiseite geschoben. Wanda stand vor ihm, ihr Gesicht begann zu flimmern und sich auf seltsame Weise zu verwandeln, bis auf einmal das von Jewgenija daraus geworden war. Merkwürdig: Er hatte immer

angenommen, daß deren Gesichtszüge seit langem aus seinem Gedächtnis ausradiert waren. Zärtlich schaute Wanda-Jewgenija ihn an und sprach:

»Was für klare Augen du hast, Lia! Wie Wasser so klar.«

Von einem leisen Klopfen an die Tür fuhr Ahimaaz, noch halb im

Schlaf, ruckartig auf und zerrte den Revolver unterm Kopfkissen hervor. Vor dem Fenster graute der Morgen.

Erneutes Klopfen - in schneller Folge, ohne Pausen dazwischen.

Lautlos auftretend, schlich Ahimaaz die drei Stufen zur Tür hinunter.

»Herr Klonow!« ertönte eine Stimme. »Eildepesche für Sie! Von Monsieur N.N.!« Ahimaaz öffnete, die Hand mit dem Revolver hinter dem Rücken.

Vor ihm stand ein hochgewachsener Mann im Regenmantel. Das Gesicht unter dem länglichen Schirm seines Tschakos war nicht zu erkennen, nur die martialisch gezwirbelten Schnurrbartenden schauten hervor. Nachdem er den Brief übergeben hatte, trat der Bote wortlos zurück und verschwand im fahlen Morgengrauen.

Herr Weide, die Ermittlungen sind eingestellt, doch gibt es eine kleine Komplikation. Kollegienassessor Fandorin hat, eigenmächtig handelnd, Ihren Aufenthaltsort in Erfahrung gebracht und beabsichtigt, Sie in Haft zu nehmen. Der Moskauer Polizeipräsident bat uns um Genehmigung dieser Aktion. Wir befahlen, die Aktion abzublasen, den Kollegienassessor hiervon jedoch nicht in Kenntnis zu setzen. Fandorin wird heute morgen sechs Uhr bei Ihnen erscheinen. Er kommt allein, nicht ahnend, daß eine polizeiliche Rückendeckung unterbleibt. Der Mann gefährdet mit seinem Vorgehen den Erfolg unserer Aktion. Verfahren Sie mit ihm nach Belieben.

Ich danke für die gut ausgeführte Arbeit. N. N.

Ahimaaz' Gefühle waren gespalten. Er fühlte sich gehoben und niedergeschmettert zugleich.

Das Hochgefühl ließ sich leicht verstehen. Fandorin zu töten war ein hübscher Schlußstrich unter seine Karriere. Der Sache dienend, eine alte Rechnung begleichend. Der letzte Schliff.

Sich mit dem anderen Gefühl auszukennen war schwieriger.

Woher hatte Fandorin die Adresse? Doch wohl nicht von N.N. Und außerdem war der Zeitpunkt - sechs Uhr - für Wanda bestimmt gewesen. Hatte sie ihn verraten? Das änderte alles.

Er sah auf die Uhr. Halb fünf. Zur Vorbereitung blieb mehr als genug Zeit. Es war kein besonderes Wagnis, alle Umstände sprachen für Ahimaaz, doch Herr Fandorin war ein ernst zu nehmender Widersacher, Leichtsinn unangebracht.

Und ein besonderes Moment kam auch diesmal hinzu. Jemanden umzulegen, der nicht mit einem Angriff rechnete, hätte keine Mühe bereitet. Doch mußte Fandorin vorher beichten, woher er die Adresse wußte.

Wenn sie nur nicht von Wanda kam.

Nichts war Ahimaaz jetzt wichtiger als das.

Um halb sechs bezog er seinen Posten am Fenster, hinter der Gardine.

Um drei Minuten nach sechs betrat ein Mann in affigem cremefarbenem Jackett und modisch enganliegenden Hosen den Hof, der von mildem Morgenlicht überflutet war. Diesmal hatte Ahimaaz Gelegenheit, die Gesichtszüge seines alten Bekannten in allen Einzelheiten zu studieren. Ein energisches, kluges Gesicht, es gefiel ihm.

Dies war ein würdiger Gegner. Nur mit seinen Verbündeten hatte er wenig Glück.

Vor der Tür stehend, atmete Fandorin tief ein. Blähte komisch die Backen, gab die Luft in kleinen Stößen wieder von sich. Was war das denn - eine Freiübung?

Jetzt hob er die Hand und klopfte leise.

Erst zweimal, dann dreimal, dann zweimal.


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