Teil I

Erstes Kapitel

»Du siehst doch ein, dass sie sterben muss?«

Die Worte wehten hinaus in die stille Nacht, schienen einen Moment in der Luft zu verharren und dann in der Dunkelheit hinunter zum Toten Meer weiterzuziehen.

Hercule Poirot, die Hand schon am Fenstergriff, hielt stirnrunzelnd inne. Dann machte er energisch das Fenster zu, um die schädliche Nachtluft auszusperren. Hercule Poirot war in dem Glauben erzogen worden, dass man die Luft von draußen am besten draußen ließ und dass insbesondere Nachtluft der Gesundheit höchst abträglich war.

Er lächelte nachsichtig, während er penibel die Vorhänge zuzog und sich zu Bett begab.

»Du siehst doch ein, dass sie sterben muss?«

Merkwürdige Worte, die Hercule Poirot, seines Zeichens Privatdetektiv, da zufällig an seinem ersten Abend in Jerusalem belauschte.

»Dass ich aber auch immer und überall an Verbrechen erinnert werden muss!«, murmelte er bei sich.

Er schmunzelte, da ihm eine Anekdote einfiel, die er einmal über den Romancier Anthony Trollope gehört hatte. Auf einer Atlantiküberquerung hatte Trollope zwei Mitreisende belauscht, die sich gerade über die jüngste Folge eines Romans von ihm unterhielten, der damals in Fortsetzungen erschien.

»Nicht übel«, hatte der eine Mann erklärt. »Aber er sollte endlich dieses grässliche alte Weib um die Ecke bringen.«

Woraufhin sich der Romancier mit einem breiten Lächeln zu ihnen umgedreht und gesagt hatte: »Meine Herren, ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Ich werde der Dame unverzüglich den Garaus machen!«

Hercule Poirot fragte sich, was wohl der Anlass für die Worte gewesen war, die er soeben mit angehört hatte. Vielleicht die Zusammenarbeit an einem Theaterstück oder Buch.

Noch immer lächelnd dachte er: »Man könnte sich eines Tages an diese Worte erinnern und ihnen eine finsterere Bedeutung beimessen.«

Er entsann sich, dass eine seltsame Nervosität in der Stimme mitgeschwungen hatte — eine Art Zittern, das von starker emotionaler Anspannung zeugte. Die Stimme eines Mannes, eines ziemlich jungen...

Als Hercule Poirot die Nachttischlampe ausknipste, dachte er bei sich: Ich würde diese Stimme jederzeit wieder erkennen...

Die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt und die Köpfe dicht beieinander, starrten Raymond und Carol Boynton in das nächtliche blaue Dunkel hinaus. Raymond wiederholte nervös seine Frage: »Du siehst doch ein, dass sie sterben muss?«

Carol Boynton machte eine kleine Bewegung. Sie sagte, und ihre Stimme klang tief und rau: »Es ist schrecklich.«

»Nicht schrecklicher, als es jetzt ist!«

»Wahrscheinlich nicht.«

»So kann es nicht weitergehen«, sagte Raymond heftig. »Es kann so nicht weitergehen. Wir müssen etwas unternehmen. Uns bleibt nichts anderes übrig.«

»Und wenn wir einfach weggehen würden?«, fragte Carol. Sie merkte selbst, wie wenig überzeugend ihre Stimme klang.

»Das können wir nicht.« Raymonds Stimme war hohl und mutlos. »Du weißt genau, dass das unmöglich ist, Carol.«

Die junge Frau erschauerte. »Ich weiß, Ray. Ich weiß.«

Er lachte plötzlich kurz und bitter auf.

»Die Leute würden sagen, dass wir verrückt sind — nicht einfach auf und davon zu gehen.«

Carol sagte langsam: »Vielleicht sind wir

- tatsächlich verrückt!«

»Allerdings! Ja, ich glaube, das sind wir wirklich. Oder werden es jedenfalls bald sein. Manche Leute würden sogar sagen, dass wir es bereits sind - stehen da und planen kaltblütig und in aller Ruhe, unsere eigene Mutter umzubringen!«

Carol sagte scharf: »Sie ist nicht unsere leibliche Mutter!«

»Nein, das ist wahr.«

Beide schwiegen. Schließlich sagte Raymond, nun in ruhigem und sachlichem Ton: »Dann stimmst du mir zu, Carol?«

Carol erwiderte mit fester Stimme: »Ich glaube, sie muss sterben - ja.«

Dann brach es plötzlich aus ihr heraus: »Sie ist wahnsinnig. Ich bin ganz sicher, dass sie wahnsinnig ist. Wenn sie normal wäre, könnte sie uns doch nie und nimmer derart quälen. Seit Jahren sagen wir uns: So kann es nicht weitergehen! — Aber es ist so weitergegangen! Immer wieder sagen wir uns: Irgendwann muss sie ja sterben.

- Aber sie ist nicht gestorben! Ich glaube, sie stirbt nie, wenn wir.«

»Wenn wir sie nicht umbringen«, ergänzte Raymond ruhig.

»Ja.«

Carols Hände auf dem Fensterbrett ballten sich zu Fäusten.

Ihr Bruder sprach mit beherrschter, sachlicher Stimme weiter, in der nur ein leichtes Zittern die heftige innere Erregung verriet: »Du siehst also ein, warum es einer von uns beiden sein muss? Lennox scheidet aus, weil er auf Nadine Rücksicht nehmen muss. Und Jinny können wir nicht hineinziehen.«

Carol erschauerte.

»Arme Jinny. Ich habe solche Angst, dass sie.«

»Ich weiß. Es wird immer schlimmer, stimmt’s? Und darum muss schleunigst etwas geschehen - bevor sie völlig durchdreht.«

Carol richtete sich plötzlich auf und strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn.

»Ray«, sagte sie, »du bist dir doch ganz sicher, dass es nicht wirklich unrecht ist?«

Wiederum mit gewollt leidenschaftsloser Stimme erwiderte er: »Ja. Für mich ist das so, wie wenn man einen tollwütigen Hund tötet - etwas, das nur Schaden anrichtet und dem Einhalt geboten werden muss. Es ist die einzige Möglichkeit, der Sache ein Ende zu machen.«

Carol sagte leise: »Aber wir - wir würden trotzdem dafür auf den elektrischen Stuhl kommen. Ich meine, wie sollen wir irgendjemandem klarmachen, was sie für ein Mensch ist? Es würde einfach zu abwegig klingen. Irgendwie ist das alles doch nur Einbildung!«

Raymond sagte: »Niemand wird uns verdächtigen. Ich habe einen Plan. Ich habe alles genau durchdacht. Keiner wird uns etwas anhaben können.«

Carol drehte sich abrupt zu ihm um.

»Ray, du - du hast dich irgendwie verändert. Irgendetwas ist mit dir passiert. Wer oder was hat dir das alles in den Kopf gesetzt?«

»Wie kommst du darauf, dass ich mich verändert habe?«

Er wandte den Kopf ab und starrte hinaus in die Nacht.

»Weil es so ist. War es die junge Frau im Zug, Ray?«

»Nein, natürlich nicht - wieso auch? Red nicht solchen Unsinn, Carol. Sprechen wir lieber wieder über - über - «

»Über deinen Plan? Bist du sicher, dass der Plan - gut ist?«

»Ja. Ich glaube schon. Natürlich müssen wir die passende Gelegenheit abwarten. Und dann, wenn alles gut geht, werden wir frei sein - wir alle.«

»Frei?« Carol seufzte leise. Sie sah hinauf zu den Sternen. Dann wurde sie plötzlich von einem Weinkrampf geschüttelt.

»Carol, was hast du?«

Schluchzend stieß sie hervor: »Alles ist so wunderschön - die Nacht und der Himmel und die Sterne. Wenn wir doch nur ein Teil davon sein könnten! Wenn wir doch nur wie andere Menschen sein könnten und nicht so, wie wir sind - so sonderbar und verdreht und irgendwie nicht normal.«

»Alles wird gut werden - wenn sie erst tot ist!«

»Bist du ganz sicher? Ist es dafür nicht schon zu spät? Werden wir nicht immer sonderbar und anders sein?«

»Nein, ganz bestimmt nicht!«

»Wer weiß.«

»Carol, wenn du lieber - «

Sie stieß seinen tröstenden Arm weg.

»Nein, ich bin dabei - ich stehe auf deiner Seite! Schon allein wegen der anderen - vor allem wegen Jinny. Wir müssen Jinny retten!«

Nach einer Weile sagte Raymond: »Dann

- ziehen wir die Sache also durch?«

»Ja!«

»Gut. Mein Plan sieht folgendermaßen aus.«

Er beugte sich dicht zu ihr.

Zweites Kapitel

Miss Sarah King, Doktor der Medizin, stand im Lesezimmer des Hotels Solomon in Jerusalem und blätterte in den auf einem Tisch ausliegenden Zeitungen und Zeitschriften. Ihre Stirn war gerunzelt, und sie schien in Gedanken woanders zu sein.

Der hoch gewachsene Franzose mittleren Alters, der den Raum von der Halle her betrat, beobachtete sie eine Weile, bevor er zum anderen Ende des Tisches schlenderte. Als sich ihre Blicke trafen, neigte Sarah lächelnd den Kopf, da sie ihn wieder erkannte. Der Mann war ihr bei der Abreise aus Kairo behilflich gewesen und hatte einen ihrer Koffer getragen, als kein Gepäckträger verfügbar zu sein schien.

»Nun, wie gefällt Ihnen Jerusalem?«, fragte Dr. Gerard, nachdem sie sich begrüßt hatten.

»In mancher Beziehung ist die Stadt grässlich«, sagte Sarah und fügte hinzu: »Religion ist schon etwas Merkwürdiges!«

Der Franzose schien amüsiert zu sein.

»Ich weiß, was Sie meinen.« Sein Englisch war nahezu perfekt. »Alle erdenklichen Sekten, die miteinander streiten und sich gegenseitig bekriegen!«

»Und dazu die scheußlichen Sachen, die sie hier gebaut haben!«, sagte Sarah.

»O ja!«

Sarah seufzte. »Man hat mich heute aus einer Kirche gewiesen, weil ich ein ärmelloses Kleid anhatte«, sagte sie kleinlaut. »Anscheinend gefallen dem Allmächtigen meine Arme nicht, obwohl er sie doch selbst geschaffen hat.«

Dr. Gerard lachte. Dann sagte er: »Ich wollte mir gerade einen Kaffee bestellen. Sie leisten mir doch Gesellschaft, Miss - ?«

»King. Sarah King.«

»Und ich bin - Sie gestatten.« Er überreichte schwungvoll seine Visitenkarte. Als Sarah sie las, weiteten sich ihre Augen vor ehrfürchtiger Bewunderung.

»Dr. Theodore Gerard? Oh! Ich freue mich ja so, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe selbstverständlich alle Ihre Bücher gelesen. Ihre Ansichten über Schizophrenie sind wahnsinnig interessant.«

»Wieso selbstverständlich?« Gerard zog fragend die Augenbrauen hoch.

Sarah erklärte es ihm leicht befangen. »Weil ich - nun, weil ich selbst Ärztin bin. Ich habe gerade mein Examen gemacht.«

»Ah! Ich verstehe.«

Dr. Gerard bestellte Kaffee, und sie nahmen in einer Ecke des Salons Platz. Das Interesse des Franzosen galt nicht so sehr Sarahs medizinischen Fähigkeiten, sondern vielmehr ihrem schwarzen Haar, das in dichten Wellen herabfiel, und dem wundervoll geschwungenen roten Mund. Die ehrfürchtige Scheu, mit der sie ihn betrachtete, amüsierte ihn.

»Bleiben Sie länger hier?«, fragte er, um ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Nur ein paar Tage. Danach will ich nach Petra fahren.«

»Ah! Daran habe ich auch schon gedacht, falls es nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Ich muss nämlich am vierzehnten in Paris sein.«

»Man braucht dafür etwa eine Woche, glaube ich. Zwei Tage für die Hinreise, zwei Tage am Ort und zwei weitere Tage für die Rückreise.«

»Ich werde gleich morgen Vormittag zum Reisebüro gehen und mich erkundigen, ob sich etwas arrangieren lässt.«

Eine Gruppe von Gästen betrat den Salon und nahm Platz. Sarah beobachtete sie interessiert. Sie senkte die Stimme.

»Die Leute, die gerade hereingekommen sind - haben Sie die nicht auch schon im Zug gesehen? Sie sind gleichzeitig mit uns aus Kairo abgereist.«

Dr. Gerard klemmte sein Monokel ein und blickte zu der besagten Gruppe hinüber. »Amerikaner?«

Sarah nickte.

»Ja. Eine amerikanische Familie. Aber eine - ziemlich ungewöhnliche, würde ich sagen.«

»Ungewöhnlich? In welcher Beziehung?«

»Sehen Sie sie sich doch an. Insbesondere die alte Frau.«

Dr. Gerard kam der Aufforderung nach. Sein scharfer geschulter Blick glitt rasch von Gesicht zu Gesicht.

Als Erstes fiel ihm ein großer, ziemlich schlaksiger Mann auf, Alter etwa dreißig. Sein Gesicht war sympathisch, aber etwas zu weich, und er wirkte seltsam abwesend. Dann waren da zwei gut aussehende junge Leute. Der Bursche hatte ein geradezu griechisches Profil. »Auch bei ihm scheint etwas nicht zu stimmen«, dachte Dr. Gerard. »Ja - ein klarer Fall von hochgradiger Nervosität.« Das Mädchen war offensichtlich seine Schwester, da eine große Ähnlichkeit vorlag, und auch sie befand sich in einem Zustand höchster Erregtheit. Dann war da noch ein weiteres Mädchen, jünger als die anderen, mit rotblonden Haaren, die sich wie ein Heiligenschein abhoben. Ihre Hände waren ständig in Bewegung, rissen und zerrten an dem Taschentuch, das sie auf dem Schoß hielt. Und eine Frau, jung, ruhig, dunkelhaarig, mit hellem Teint und dem sanften Gesicht einer Madonna von Luini. An ihr war nun überhaupt nichts Hektisches! Und im Zentrum der Gruppe -Großer Gott!, dachte Dr. Gerard mit dem ehrlichen Abscheu des typischen Franzosen. »Was für ein entsetzliches Weib!« Alt und fett und aufgedunsen saß sie regungslos im Kreis ihrer Familie - ein hässlicher alter Buddha, eine fette Spinne in ihrem Netz!

An Sarah gewandt sagte er: »La maman ist nicht gerade eine Schönheit, wie?«, und zuckte die Schultern.

»Sie hat so etwas - etwas Unheimliches, finden Sie nicht auch?«, meinte Sarah.

Dr. Gerard musterte die Frau erneut. Diesmal mit dem Auge des Arztes, nicht des Ästheten.

»Wassersucht. Kardiale Hydropsie«, setzte er im Fachjargon hinzu.

»Ja, sicher, das auch.« Sarah tat den medizinischen Aspekt als unwesentlich ab. »Aber das Verhalten der anderen ihr gegenüber ist irgendwie merkwürdig, finden Sie nicht?«

»Wissen Sie, wer die Leute sind?«

»Sie heißen Boynton. Mutter, verheirateter Sohn mit Frau, ein jüngerer Sohn und zwei jüngere Töchter.«

Dr. Gerard murmelte: »La famille Boynton auf Weltreise.«

»Eine merkwürdige Art, die Welt zu sehen. Sie reden nie mit anderen. Und alle scheinen nur das zu tun, was die alte Frau sagt!«

»Sie ist der Typ der Matriarchin«, sagte Gerard nachdenklich.

»Sie ist ein ausgemachter Tyrann, wenn Sie mich fragen«, sagte Sarah.

Dr. Gerard bemerkte achselzuckend, dass in Amerika die Frau das Heft in der Hand habe - wie ja allgemein bekannt sei.

»Ja, sicher, aber es ist nicht nur das«, beharrte Sarah. »Sie ist - sie hat alle so unter ihrer Fuchtel - hält alle so an der Kandare, dass - dass es geradezu pervers ist!«

»Zu viel Macht zu haben bekommt Frauen nicht«, stimmte Gerard, plötzlich ernst geworden, zu und schüttelte den Kopf.

»Es ist schwer für eine Frau, ihre Macht nicht zu missbrauchen.« Gerard sah sie schnell von der Seite an. Sie beobachtete die Boyntons - oder vielmehr ein bestimmtes Mitglied der Familie. Der Franzose in Dr. Gerard musste verständnisvoll lächeln. Aha! Das war es also!

Er erkundigte sich zögernd: »Sie haben mit ihnen gesprochen?«

»Ja - zumindest mit einem von ihnen.«

»Mit dem jungen Mann - dem jüngeren Sohn?«

»Ja. Im Zug von El-Kantara hierher. Er stand im Gang. Da habe ich ihn angesprochen. «

Sarahs Einstellung gegenüber dem Leben war offen und unbefangen. Sie interessierte sich für Menschen und war von Natur aus freundlich, wenn auch ungeduldig.

»Warum haben Sie ihn angesprochen?«, fragte Gerard.

Sarah zuckte mit den Schultern.

»Wieso nicht? Ich spreche oft Leute an, wenn ich auf Reisen bin. Menschen interessieren mich eben - was sie tun und denken und fühlen.«

»Sie legen sie gewissermaßen unter das Mikroskop.«

»So könnte man es nennen«, räumte die junge Frau ein.

»Und welchen Eindruck hatten Sie in diesem Fall?«

»Tja«, sagte sie zögernd, »es war schon etwas seltsam. Zunächst einmal wurde der junge Mann rot bis über beide Ohren.«

»Ist das so verwunderlich?«, fragte Gerard trocken.

Sarah lachte.

»Sie meinen, er könnte mich für ein leichtes Mädchen gehalten haben, das ihm schamlos Avancen machte? O nein, das glaube ich nicht. Männer erkennen dergleichen doch auf den ersten Blick, habe ich Recht?«

Sie sah ihn geradeheraus fragend an. Dr. Gerard nickte bejahend.

»Ich hatte das Gefühl«, sagte Sarah langsam und mit leicht gerunzelter Stirn, »dass er - wie soll ich es ausdrücken -aufgeregt und entsetzt zugleich war. Unverhältnismäßig aufgeregt - und gleichzeitig geradezu lächerlich ängstlich. Das ist doch merkwürdig, finden Sie nicht? Ich hatte Amerikaner bisher immer für außergewöhnlich selbstsicher gehalten. Ein zwanzigjähriger Amerikaner kennt sich auf der Welt bei weitem besser aus und hat viel mehr savoir-faire als, sagen wir, ein Engländer dieses Alters. Und der bewusste junge Mann ist bestimmt über zwanzig.«

»Dreiundzwanzig oder vierundzwanzig, würde ich sagen.«

»So alt?«

»Meiner Schätzung nach, ja.«

»Vielleicht haben Sie Recht. Aber er kommt mir irgendwie furchtbar jung vor.«

»Mental nicht dem Alter entsprechend entwickelt. Der kindliche Faktor dominiert noch.«

»Dann habe ich also Recht? Dass er irgendwie nicht ganz normal ist, meine ich?«

Dr. Gerard zuckte mit den Schultern und musste unwillkürlich über den ernsten Ton der Frage lächeln.

»Verehrte junge Dame, wer von uns ist schon ganz normal? Aber ich gebe zu, dass es sich hier vermutlich um eine Neurose handelt.«

»Die bestimmt irgendwie mit dieser grässlichen alten Frau zusammenhängt.«

»Sie scheinen sie nicht sehr zu mögen«, sagte Gerard und sah Sarah eigenartig an.

»Stimmt genau. Sie hat so einen - ja, einen bösen Blick.«

Gerard murmelte: »Den haben viele Mütter, wenn ihre Söhne sich zu faszinierenden jungen Damen hingezogen fühlen.«

Sarah zuckte ungehalten mit den Schultern. Franzosen waren doch alle gleich, dachte sie, immer nur Sex im Kopf!

Obwohl sie, als gewissenhafte Psychologin, natürlich zugeben musste, dass bei den meisten Phänomenen unterschwellig stets auch eine sexuelle Komponente im Spiel war. Sarahs Gedanken folgten vertrauten psychologischen Bahnen.

Doch dann wurde sie jäh aus ihren Betrachtungen gerissen. Raymond Boynton hatte sich erhoben und ging auf den Tisch mit den Zeitschriften zu. Er wählte eine aus. Als er auf dem Rückweg an Sarahs Sessel vorbeikam, blickte sie auf und sprach ihn an.

»Haben Sie heute schon fleißig Sehenswürdigkeiten besucht?«

Sie sprach aufs Geratewohl, da es ihr im Grunde nur darum ging, wie ihre Worte aufgenommen wurden.

Raymond zögerte, wurde rot, scheute wie ein nervöses Pferd und sah ängstlich zum Mittelpunkt seiner versammelten Familie hinüber. Er stammelte: »Oh - o ja

- äh, sicher, natürlich. Ich.«

Dann eilte er so abrupt, als hätte man ihm die Sporen gegeben, mit der Zeitschrift in der ausgestreckten Hand zu seiner Familie zurück.

Die groteske Buddha-Figur hielt ihre fette Hand nach der Zeitschrift auf, doch als sie sie entgegennahm, ruhten ihre Augen, wie Dr. Gerard bemerkte, auf dem Gesicht des jungen Mannes. Sie gab eine Art Grunzen von sich, das sich keinesfalls nach Dank anhörte. Ihr Kopf drehte sich kaum merklich zur Seite. Dr. Gerard sah, wie sie Sarah scharf musterte. Ihr Gesicht war absolut ausdruckslos, ohne jede Gefühlsregung. Es war unmöglich zu sagen, was im Kopf dieser Frau vorging.

Sarah schaute auf ihre Uhr und stieß einen leisen Schrei aus.

»Es ist ja viel später, als ich dachte!« Sie stand auf. »Vielen Dank für die Einladung zum Kaffee, Dr. Gerard. Ich muss noch Briefe schreiben.«

Er erhob sich und nahm ihre Hand.

»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder«, sagte er.

»Ganz bestimmt! Vielleicht kommen Sie ja mit nach Petra?«

»Ich werde es auf alle Fälle versuchen.«

Sarah lächelte ihm zu und ging. Ihr Weg führte sie am Tisch der Boyntons vorbei.

Dr. Gerard, der ihr nachsah, bemerkte, dass Mrs. Boyntons Augen wieder zu ihrem Sohn wanderten und dass sich ihre Blicke trafen. Als Sarah vorbeiging, drehte Raymond leicht den Kopf - nicht zu ihr hin, sondern von ihr weg. Es war eine langsame, widerwillige Bewegung, die den Eindruck vermittelte, die alte Mrs. Boynton hätte an einem unsichtbaren Draht gezogen.

Sarah King bemerkte den ausweichenden Blick, und sie war noch jung und unbefangen genug, um sich darüber zu ärgern. Sie hatten sich im schwankenden Gang des Schlafwagens so nett unterhalten. Sie hatten ihre Eindrücke von Ägypten ausgetauscht, hatten über die komische Sprache der Eselstreiber und Straßenhändler gelacht. Sarah hatte geschildert, wie ein Kamelführer, der sie erwartungsvoll und unverschämt gefragt hatte: »Du englisch Lady oder amerikanisch?«, zur Antwort bekommen hatte: »Nein, Chinesin.« Und welches Vergnügen es ihr bereitet hatte, als der Mann sie daraufhin völlig entgeistert anstarrte. Der junge Boynton hatte wie ein netter, eifriger Schuljunge auf sie gewirkt -tatsächlich hatte sein Eifer etwas Rührendes gehabt. Und nun war er, ohne jeden ersichtlichen Grund, auf einmal linkisch, flegelhaft - ja geradezu ungezogen.

In Zukunft kann er mir gestohlen bleiben, sagte sich Sarah empört.

Denn obwohl Sarah nicht über Gebühr eingebildet war, hatte sie doch eine ziemlich hohe Meinung von sich. Sie wusste genau, dass sie auf das andere Geschlecht ausgesprochen anziehend wirkte, und sie gehörte nicht zu denen, die sich eine Brüskierung stillschweigend gefallen lassen!

Vielleicht war sie doch eine Spur zu freundlich zu dem jungen Mann gewesen, aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen hatte er ihr Leid getan.

Aber nun stand eindeutig fest, dass er nichts weiter als ein ungezogener, hochnäsiger, flegelhafter junger Amerikaner war!

Statt die erwähnten Briefe zu schreiben, nahm Sarah King an ihrem Frisiertisch Platz, kämmte sich das Haar aus der Stirn, blickte in zwei aufgebrachte haselnussbraune Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickten, und nahm ihr derzeitiges Leben unter die Lupe.

Sie hatte gerade eine schwierige seelische Krise durchgemacht. Einen Monat zuvor hatte sie ihre Verlobung mit einem vier Jahre älteren Arzt gelöst. Sie hatten sich sehr zueinander hingezogen gefühlt, waren sich aber vom Temperament her zu ähnlich gewesen. Meinungsverschiedenheiten und Streitereien waren an der Tagesordnung gewesen. Sarah besaß ein zu herrisches Naturell, um den selbstverständlichen Autoritätsanspruch eines anderen einfach hinzunehmen. Wie so viele temperamentvolle Frauen glaubte Sarah, dass sie Stärke bewunderte. Sie hatte sich immer eingeredet, dass sie beherrscht werden wollte. Als sie dann einen Mann kennen lernte, der sie beherrschen konnte, stellte sie fest, dass ihr das ganz und gar nicht behagte! Die Verlobung aufzulösen war sehr schmerzlich für sie gewesen, aber sie war scharfsichtig genug, um einzusehen, dass Gefühle allein keine ausreichende Basis waren, um darauf ihr Lebensglück aufzubauen. Um schneller darüber hinwegzukommen, hatte sie sich ganz bewusst eine interessante Auslandsreise gegönnt, bevor sie allen Ernstes ins Berufsleben eintrat.

Sarahs Gedanken kehrten aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück.

Ich bin gespannt, dachte sie, ob mir Dr. Gerard erlaubt, mit ihm über seine Arbeit zu sprechen. Er hat wirklich Hervorragendes geleistet. Ich hoffe nur, dass er mich ernst nimmt. Vielleicht klappt es - falls er nach Petra mitkommt.

Dann dachte sie wieder an den merkwürdigen ungehobelten jungen Amerikaner.

Für sie bestand nicht der geringste Zweifel, dass die Anwesenheit seiner Familie ihn zu der seltsamen Reaktion veranlasst hatte, aber sie verachtete ihn trotzdem ein klein wenig. Derart unter der Fuchtel der eigenen Familie zu stehen war doch wirklich grotesk - insbesondere für einen Mann!

Und doch.

Sie wurde von einem eigenartigen Gefühl beschlichen. Irgendetwas an der ganzen Sache konnte einfach nicht normal sein!

Plötzlich sagte sie laut: »Der junge Mann muss gerettet werden! Dafür werde ich sorgen!«

Drittes Kapitel

Nachdem Sarah den Salon verlassen hatte, blieb Dr. Gerard noch einige Minuten an seinem Platz sitzen. Dann ging er gemächlich zu den ausliegenden Zeitungen hinüber, griff nach der neuesten Ausgabe von Le Matin und schlenderte damit zu einem Sessel in der Nähe der Boyntons. Seine Neugierde war geweckt.

Zunächst hatte er sich über das Interesse der jungen Engländerin an der amerikanischen Familie amüsiert und haarscharf den Schluss gezogen, dass dies auf ihr Interesse an einem bestimmten Mitglied der Familie zurückzuführen war. Doch nun erregte etwas Ungewöhnliches an dieser Familie das tiefer gehende, unparteiischere Interesse des Wissenschaftlers in ihm. Er spürte, dass er es hier mit einem psychologisch interessanten Fall zu tun hatte.

Hinter seiner Zeitung versteckt, nahm er die Gruppe diskret in Augenschein. Zunächst den jungen Mann, für den sich die attraktive Engländerin so offenkundig interessierte. Ja, dachte Gerard, eindeutig der Typ, der von Natur aus anziehend auf sie wirken musste. Sarah King war eine starke Persönlichkeit - sie besaß innere Ausgeglichenheit, einen klaren Verstand und einen eisernen Willen. Den jungen Mann schätzte Dr. Gerard als sensibel, scharfsichtig, unsicher und leicht beeinflussbar ein. Dem sachkundigen Blick des Arztes entging nicht, dass der junge Mann sich in einem Zustand höchster nervlicher Anspannung befand. Dr. Gerard fragte sich, warum. Es war ihm ein Rätsel. Aus welchem Grund sollte ein junger Mann, der sich allem Anschein nach bester Gesundheit erfreute, der doch angeblich zum Vergnügen im Ausland war, in einer Verfassung sein, die auf einen unmittelbar bevorstehenden N ervenzusammenbruch schließen ließ?

Der Arzt wandte seine Aufmerksamkeit den anderen Mitgliedern der Familie zu. Das junge Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren war offensichtlich Raymonds Schwester. Die beiden waren sich vom Typ her sehr ähnlich - zartgliedrig, gut gewachsen, aristokratische Gesichtszüge. Sie hatten die gleichen schmalen, wohlgeformten Hände, die gleiche klare Kinnlinie und Kopfhaltung, den gleichen langen, schlanken Hals. Aber auch das Mädchen war nervös. Sie machte ständig unwillkürliche fahrige Bewegungen, und unter ihren unnatürlich glänzenden Augen lagen tiefe Schatten. Wenn sie sprach, klang ihre Stimme hektisch und eine Spur atemlos. Sie war wachsam - auf der Hut - unfähig, sich zu entspannen.

»Und sie hat Angst«, schloss Dr. Gerard. »Ja, sie hat Angst!«

Er schnappte Gesprächsfetzen auf, Bruchstücke einer ganz alltäglichen, normalen Unterhaltung.

»Wollen wir nicht Salomos Ställe besuchen?« - »Wird das Mutter auch nicht zu viel werden?« - »Und morgen Vormittag vielleicht die Klagemauer?« - »Und natürlich den Tempel - vielmehr die OmarMoschee, wie er jetzt heißt. Warum eigentlich?« - »Weil er in eine moslemische Moschee umgewandelt wurde, Lennox, darum.«

Die üblichen, ganz alltäglichen Touristengespräche. Und doch hatte Dr. Gerard das merkwürdige Gefühl, dass die aufgeschnappten Gesprächsfetzen allesamt etwas Irrationales hatten. Sie waren Tarnung - eine Maske für etwas, das dahinter wogte und brodelte, zu abgründig und formlos, um es in Worte zu fassen. Wieder warf er, im Schutze von Le Matin, einen verstohlenen Blick hinüber.

Lennox? Das musste der ältere Bruder sein. Eine gewisse Ähnlichkeit mit seinen Geschwistern war nicht zu verkennen, aber es bestand ein wesentlicher Unterschied: Lennox war nicht so unruhig wie die anderen. Dr. Gerard kam zu dem Schluss, dass er ein stabileres Nervenkostüm besaß. Aber auch er hatte etwas Merkwürdiges. Er wies keinerlei Anzeichen körperlicher Angespanntheit auf, wie dies bei seinen Geschwistern der Fall war. Er saß gelöst da, schlaff. Verwirrt ging Gerard seine Erinnerungen an Patienten durch, die er so in Krankensälen hatte sitzen sehen, und dachte: Er ist erschöpft — ja, erschöpft vom langen Leiden. Der Blick in seinen Augen -dieser Blick eines verletzten Hundes oder eines kranken Pferdes - stummes kreatürliches Erdulden. Merkwürdig, sehr merkwürdig. Körperlich scheint bei ihm alles in Ordnung zu sein. Dennoch besteht kein Zweifel, dass er in letzter Zeit viel gelitten hat - und zwar seelisch. Jetzt leidet er nicht mehr, er erträgt nur noch stumm, wartet - vermutlich darauf, dass das Schicksal erneut zuschlägt. Aber in welcher Form? Bilde ich mir das alles nur ein? Nein, dieser Mann wartet auf etwas, auf das nahende Ende. So liegen Krebspatienten im Bett und warten, dankbar dafür, dass ein Medikament ihre Schmerzen ein wenig lindert.

Lennox Boynton stand auf und hob das Wollknäuel auf, das der alten Dame heruntergefallen war.

»Bitte, Mutter.«

»Danke.«

Was strickte sie da eigentlich, diese monströse phlegmatische alte Frau? Irgendetwas Dickes und Grobes. Gerard dachte: »Fäustlinge für Armenhäusler!« Er musste über seine eigene Phantasie lächeln.

Er wandte seine Aufmerksamkeit dem jüngsten Mitglied der Gruppe zu, dem Mädchen mit den rotblonden Haaren. Sie war etwa neunzehn. Ihre Haut besaß die wundervolle Reinheit, die so oft mit roten Haaren einhergeht. Ihr Gesicht war sehr schön, wenn auch viel zu schmal. Sie saß da und lächelte vor sich hin - lächelte ins Leere. Ein eigenartiges Lächeln. Es war so weit weg vom Hotel Solomon, von Jerusalem. Es erinnerte Dr. Gerard an etwas. Dann fiel es ihm schlagartig ein. Es war das seltsame überirdische Lächeln, das auf den Lippen der Karyatiden auf der Akropolis in Athen liegt. Der Zauber dieses Lächelns, die absolute Regungslosigkeit des jungen Mädchens gaben ihm einen kleinen Stich.

Doch dann fiel sein Blick auf ihre Hände, und es traf ihn wie ein Schock. Für die anderen Familienmitglieder waren sie durch den Tisch verdeckt, aber Dr. Gerard konnte sie von seinem Platz aus deutlich sehen. Die Hände lagen auf dem Schoß des jungen Mädchens und zupften - zupften und rissen ein zartes Taschentuch in winzige Fetzen.

Gerard war zutiefst bestürzt. Das abwesende, gedankenverlorene Lächeln, der absolut reglose Körper - und die geschäftigen, zerstörerischen Hände.

Viertes Kapitel

Plötzlich war ein gedehntes asthmatisches Keuchen zu hören, und die monströse strickende Frau sagte: »Ginevra, du bist müde. Du solltest zu Bett gehen.«

Das Mädchen zuckte zusammen, die Finger hielten in ihrem mechanischen Zupfen inne. »Ich bin noch nicht müde, Mutter.«

Gerard registrierte anerkennend, wie melodisch die Stimme war. Sie besaß jenen lieblichen, singenden Klang, der selbst den alltäglichsten Bemerkungen einen Zauber verleiht.

»Doch, das bist du. Ich merke es dir immer an. Ich glaube nicht, dass du morgen irgendwelche Sehenswürdigkeiten besichtigen kannst.«

»Aber das kann ich ganz bestimmt! Mir fehlt nichts.«

Mit dumpfer, rauer Stimme - einer beinahe krächzenden Stimme - sagte ihre Mutter: »O doch. Du wirst wieder krank werden.«

»Nein, ganz bestimmt nicht!«

Das Mädchen begann heftig zu zittern.

Eine sanfte, leise Stimme sagte: »Ich gehe mit dir nach oben, Jinny.«

Die ruhige junge Frau mit den großen, nachdenklichen grauen Augen und der adretten dunklen Haarrolle erhob sich.

Die alte Mrs. Boynton sagte: »Nein. Sie geht allein nach oben.«

Das Mädchen rief verzweifelt: »Aber ich möchte, dass Nadine mitkommt!«

»Dann begleite ich dich natürlich.« Die junge Frau trat einen Schritt vor.

Die alte Frau sagte: »Das Kind zieht es vor, allein hinaufzugehen - nicht wahr, Jinny?«

Es trat Stille ein. Dann sagte Ginevra Boynton mit einer Stimme, die plötzlich ausdruckslos und hohl war: »Ja, ich möchte lieber allein gehen. Vielen Dank, Nadine.«

Sie entfernte sich, eine große, eckige Gestalt, die sich erstaunlich anmutig bewegte.

Dr. Gerard ließ die Zeitung sinken und gestattete sich einen langen Blick auf die alte Mrs. Boynton. Sie sah ihrer Tochter nach, und auf ihrem aufgeschwemmten Gesicht zeichnete sich ein sonderbares Lächeln ab, der Hauch einer Karikatur des reizenden überirdischen Lächelns, das noch vor wenigen Augenblicken das Antlitz des Mädchens verklärt hatte.

Dann wanderten die Augen der alten Frau zu Nadine, die wieder Platz genommen hatte. Sie sah auf und begegnete dem Blick ihrer Schwiegermutter. Ihr Gesichtsausdruck blieb absolut gleichmütig, doch der Blick der alten Frau war voller Bosheit.

Dr. Gerard dachte: Was für eine unsägliche alte Tyrannin!

Und dann waren die Augen der alten Frau plötzlich direkt auf ihn geheftet, so daß er jäh den Atem anhielt. Kleine glühende schwarze Augen starrten ihn an, die etwas ausstrahlten, eine Energie, eine starke Kraft, eine Woge hinterlistiger Bösartigkeit. Dr. Gerard wusste um die Macht der Persönlichkeit. Er erkannte, dass es sich hier nicht um eine verwöhnte, tyrannische Kranke handelte, die ihren Launen und Marotten freien Lauf ließ.

Diese alte Frau war eine starke Kraft. In der Bösartigkeit ihres starren Blickes spürte er eine Ähnlichkeit mit der Wirkung, die eine Kobra auslöst. Mrs. Boynton mochte alt, leidend, für Krankheiten anfällig sein, aber sie war keinesfalls machtlos. Sie war eine Frau, die wusste, was Macht war, die ihr Leben lang Macht ausgeübt und nie auch nur einen Moment an ihrer eigenen Stärke gezweifelt hatte. Dr. Gerard hatte einmal eine Frau kennen gelernt, die außerordentlich gefährliche und spektakuläre Dressurnummern mit Tigern vorführte. Die großen geschmeidigen Raubkatzen waren auf ihre Plätze geschlichen und hatten ihre entwürdigenden und demütigenden Kunststücke gezeigt. In ihren Augen und in ihrem leisen Fauchen lag Hass, erbitterter, fanatischer Hass, aber sie hatten gehorcht, sich geduckt. Die besagte Frau war jung gewesen, eine arrogante dunkelhaarige Schönheit, aber sie hatte den gleichen Blick gehabt.

Une dompteuse, sagte Dr. Gerard bei sich.

Und nun verstand er, was unter der harmlosen Unterhaltung der Familie gebrodelt hatte. Es war Hass - ein dunkler, reißender Strom von Hass.

Er dachte: Die meisten Leute würden mir eine blühende Phantasie bescheinigen! Da genießt eine ganz gewöhnliche, nette amerikanische Familie ihren Aufenthalt in Palästina - und ich spinne mir eine finstere Geschichte zusammen!

Dann musterte er neugierig die stille junge Frau namens Nadine. Sie trug einen Ehering, und während er sie betrachtete, sah er, wie sie dem hellhaarigen, schlaksigen Lennox einen viel sagenden Blick zuwarf. Da verstand er.

Die beiden waren miteinander verheiratet. Aber es war eher der Blick einer Mutter als der einer Ehefrau - ein wahrhaft mütterlicher Bück, fürsorglich, besorgt. Und ihm wurde noch etwas klar. Er erkannte, dass Nadine Boynton die Einzige in der Familie war, die nicht im Banne ihrer Schwiegermutter stand. Sie mochte die alte Frau nicht besonders mögen, aber sie hatte keine Angst vor ihr. Ihre Macht konnte Nadine nichts anhaben.

Sie war unglücklich, in großer Sorge um ihren Mann, aber sie war frei.

Dr. Gerard sagte bei sich: Das ist alles höchst interessant.

Fünftes Kapitel

Dr. Gerards düstere Überlegungen wurden abrupt durch etwas ganz Alltägliches unterbrochen.

Ein Mann betrat den Salon, entdeckte die Boyntons und ging auf sie zu. Es war ein sympathischer Amerikaner mittleren Alters und vom Typ her durch und durch konventionell. Er war sorgfältig gekleidet, hatte ein schmales glatt rasiertes Gesicht und eine bedächtige, angenehme, wenn auch etwas eintönige Stimme.

»Ich habe Sie schon überall gesucht«, sagte er.

Akribisch schüttelte er der ganzen Familie die Hand. »Und wie fühlen Sie sich heute, Mrs. Boynton? Nicht zu müde von der Bahnfahrt?«

Beinahe huldvoll stieß die alte Dame pfeifend hervor: »Nein, danke der Nachfrage. Aber Sie wissen ja, dass es um meine Gesundheit nie gut bestellt ist.«

»Gewiss. Wirklich bedauerlich, wirklich sehr bedauerlich.«

»Aber es geht mir zumindest nicht schlechter.«

Mit einem bedächtigen heimtückischen Lächeln fügte sie hinzu: »Die gute Nadine kümmert sich hingebungsvoll um mich, nicht wahr, Nadine?«

»Ich tue mein Bestes.« Nadines Stimme war ausdruckslos.

»Na, das glaube ich Ihnen aufs Wort!«, sagte der Fremde jovial. »Also, Lennox, was halten Sie von der Stadt König Davids?«

»Ach, ich weiß nicht recht.«

Lennox’ Ton war apathisch, desinteressiert.

»Finden sie wohl etwas enttäuschend, wie? Ich muss gestehen, dass es mir zunächst auch so ging. Aber vielleicht haben Sie nur noch nicht viel davon gesehen?«

Carol Boynton sagte: »Wegen Mutter können wir nicht allzuviel unternehmen.«

Mrs. Boynton erläuterte: »Zwei Stunden am Tag sind das Äußerste, was ich mir an Besichtigungen zumuten kann.«

Der Fremde sagte herzlich: »Ich finde es großartig, dass Sie überhaupt so viel schaffen, Mrs. Boynton!«

Mrs. Boynton ließ ein bedächtiges, pfeifendes Glucksen hören, das beinahe hämisch klang.

»Ich gebe meinem Körper eben nicht nach! Das, worauf es ankommt, ist der Geist! Jawohl, der Geist...«

Ihre Stimme erstarb. Gerard sah, wie Raymond Boynton nervös zuckte und sich dann erkundigte: »Waren Sie schon an der Klagemauer, Mr. Cope?«

»Aber ja, das war eine der ersten Stätten, die ich besucht habe. Ich hoffe, Jerusalem in einigen Tagen abgehakt zu haben, und lasse mir bei Cooks gerade eine Rundreise zusammenstellen, damit ich alles vom Heiligen Land sehe - Bethlehem, Nazareth, Tiberias, See Genezareth. Das wird sicher ungeheuer interessant. Dann natürlich Gerasa, ein hochinteressanter Ruinenkomplex - aus der Römerzeit, wissen Sie. Und ich möchte mir unbedingt Petra anschauen, die rosarote Stadt, soll ein höchst bemerkenswertes Naturwunder sein, wie man so hört - und ohne den üblichen Touristenrummel -, aber man braucht eine knappe Woche, um hin- und zurückzukommen und alles gründlich zu besichtigen.«

Carol sagte: »Ich würde zu gern hinfahren. Es muss wunderbar sein!«

»Also ich würde sagen, dass sich ein Besuch dort eindeutig lohnt - jawohl, eindeutig.« Mr. Cope hielt inne, warf rasch einen leicht zweifelnden Blick auf Mrs. Boynton und fuhr dann mit einer Stimme fort, die für den lauschenden Franzosen auffallend unsicher klang: »Ich überlege gerade, ob ich nicht einige von Ihnen dazu bewegen könnte mitzukommen. Mir ist natürlich klar, dass es für Sie zu viel wäre, Mrs. Boynton, und natürlich wird der eine oder andere aus Ihrer Familie bei Ihnen bleiben wollen, aber wenn Sie Ihre Truppe sozusagen teilen würden.«

Er hielt inne. Gerard hörte das gleichmäßige Klappern von Mrs. Boyntons Stricknadeln. Dann sagte sie: »Ich glaube nicht, dass wir das möchten. Wir bleiben gern zusammen.« Sie sah auf. »Oder was meint ihr, Kinder?«

In ihrer Stimme lag ein merkwürdiger Ton. Die Antworten kamen auf der Stelle. »Nein, Mutter.«

»O nein!«

»Nein, auf gar keinen Fall!«

Mrs. Boynton lächelte wieder auf diese merkwürdige Art und sagte: »Da sehen Sie es - sie wollen mich nicht allein lassen. Und wie steht es mit dir, Nadine? Du sagst ja gar nichts.«

»Nein, danke, Mutter. Es sei denn, dass Lennox fahren möchte.«

Mrs. Boynton drehte den Kopf langsam nach ihrem Sohn um.

»Nun, Lennox, was ist? Warum fahrt ihr beiden nicht mit? Nadine scheint viel daran zu liegen.«

Lennox fuhr zusammen, blickte auf. »Ich - äh - nein, ich - ich glaube, wir bleiben lieber alle beieinander.«

Mr. Cope sagte fröhlich: »Also das nenne ich wirklich eine mustergültige Familie!« Doch in der Fröhlichkeit schwang ein hohler und gezwungener Unterton mit.

»Wir bleiben eben gerne unter uns«, sagte Mrs. Boynton. Sie begann ihr Wollknäuel aufzurollen. »Ach, Raymond, wer war übrigens die junge Frau, die dich vorhin angesprochen hat?«

Raymond schreckte nervös zusammen. Er wurde rot und dann blass.

»Ich - ich weiß nicht, wie sie heißt. Sie -sie war im gleichen Zug wie wir.«

Mrs. Boynton begann sich langsam aus ihrem Sessel zu wuchten.

»Ich glaube nicht, dass wir viel mit ihr zu tun haben werden«, sagte sie.

Nadine stand auf und half der alten Frau beim Aufstehen. Sie ging dabei so sachkundig und geschickt vor, dass es Gerards Aufmerksamkeit erregte.

»Schlafenszeit«, sagte Mrs. Boynton. »Gute Nacht, Mr. Cope.«

»Gute Nacht, Mrs. Boynton. Gute Nacht, Mrs. Lennox.«

Die kleine Prozession entfernte sich. Es schien keinem der jüngeren Familienmitglieder in den Sinn zu kommen, noch zu bleiben. Mr. Cope stand da und sah ihnen nach. Auf seinem Gesicht lag ein sonderbarer Ausdruck.

Wie Dr. Gerard aus Erfahrung wusste, sind Amerikaner von Natur aus umgängliche Menschen. Sie sind nicht so ängstlich und misstrauisch, wie Engländer es auf Reisen sind. Für einen Mann mit Dr. Gerards Taktgefühl war es daher nicht weiter schwierig, Mr. Copes Bekanntschaft zu machen. Der Amerikaner war allein und, wie die meisten seiner Landsleute, bereit, umgänglich und aufgeschlossen zu sein. Dr. Gerard zückte wieder seine Visitenkarte.

Mr. Jefferson Cope war gebührend beeindruckt, als er den Namen las.

»Dr. Gerard! Waren Sie nicht erst kürzlich in den Staaten?«

»Im letzten Herbst. Ich habe in Harvard Vorlesungen gehalten.«

»Natürlich! Sie sind eine der namhaftesten Persönlichkeiten auf Ihrem Gebiet, Dr. Gerard. Und in Paris dürften Sie der führende Vertreter Ihres Fachs sein.«

»Sie sind wirklich zu gütig, mein Lieber! Ich muss mich dagegen verwahren.«

»Aber ganz und gar nicht! Es ist mir eine große Ehre, Sie kennen zu lernen. Im Moment sind ja eine ganze Reihe bekannter Leute in Jerusalem. Zum einen Sie selbst, dann Lord Welldon und Sir Gabriel Steinbaum, der Finanzmagnat. Außerdem der bekannte alte englische Archäologe Sir Manders Stone. Und Lady Westholme, eine prominente englische Politikerin. Und natürlich der berühmte belgische Privatdetektiv Hercule Poirot.«

»Der kleine Hercule Poirot? Der ist hier?«

»Ich habe seinen Namen in der hiesigen Zeitung gelesen und dass er erst vor kurzem eingetroffen ist. Alle Welt scheint derzeit im Solomon zu logieren. Ein wirklich erstklassiges Haus, muss ich sagen. Und sehr geschmackvoll eingerichtet.«

Mr. Jefferson Cope unterhielt sich offensichtlich prächtig. Dr. Gerard war ein Mann, der sehr viel Charme entfalten konnte, wenn er es darauf anlegte. Und so begaben sich die beiden Herren schon nach kurzer Zeit in die Bar.

Nach einigen Highballs sagte Gerard: »Sagen Sie, war das eine typische amerikanische Familie, mit der Sie vorhin sprachen?«

Jefferson Cope nippte nachdenklich an seinem Drink. Dann sagte er: »Eigentlich nicht. Nein, absolut typisch würde ich sie nicht nennen.«

»Nein? Sie scheinen alle sehr aneinander zu hängen.«

Mr. Cope sagte bedächtig: »Sie meinen, weil alles um die alte Dame zu kreisen scheint? Das stimmt allerdings. Sie ist ja auch eine ganz erstaunliche alte Dame.«

»Tatsächlich? «

Mr. Cope ließ sich nicht lange bitten. Gerards kleine Ermunterung genügte völlig.

»Ich will gerne zugeben, Dr. Gerard, dass mir diese Familie in letzter Zeit ziemlich viel im Kopf herumgeht. Ich habe lange über sie nachgedacht. Offen gesagt würde es mir gut tun, wenn ich mit Ihnen darüber reden könnte. Natürlich nur, wenn es Sie nicht langweilt!«

Dr. Gerard wies diesen Gedanken weit von sich. Mr. Jefferson Cope sprach bedächtig weiter, und auf seinem Gesicht zeichnete sich eine gewisse Ratlosigkeit ab.

»Ich will Ihnen gleich sagen, dass ich ein bisschen besorgt bin. Mrs. Boynton ist nämlich eine alte Freundin von mir. Nicht die alte Mrs. Boynton, sondern die junge, die Frau von Lennox Boynton.«

»Ah, Sie meinen die reizende dunkelhaarige junge Dame.«

»Genau. Nadine Boynton. Nadine ist ein wunderbarer Mensch, Dr. Gerard. Ich kannte sie schon vor ihrer Heirat. Sie arbeitete damals im Krankenhaus, war in der Ausbildung zur Krankenschwester. Irgendwann verbrachte sie dann ihren Urlaub bei den Boyntons und heiratete Lennox.«

»Tatsächlich? «

Mr. Jefferson Cope nippte wieder an seinem Highball und fuhr fort: »Ich würde Ihnen gerne ein bisschen mehr über den Hintergrund der Familie Boynton erzählen, Dr. Gerard.«

»Ja? Das würde mich sehr interessieren. «

»Wissen Sie, der verstorbene Eimer Boynton, ein ziemlich bekannter Mann und ein sehr liebenswürdiger Mensch, war zweimal verheiratet. Seine erste Frau starb, als Carol und Raymond noch ganz klein waren. Wie man hört, soll die zweite Mrs. Boynton eine gut aussehende Frau gewesen sein, als er sie heiratete, wenn auch nicht mehr gerade jung. Schwer vorstellbar, dass sie mal gut ausgesehen haben soll, wenn man sie jetzt so sieht, aber ich habe es aus zuverlässiger Quelle. Jedenfalls hielt ihr Mann große Stücke auf sie und verließ sich fast in allem auf ihr Urteil. Vor seinem Tod war er jahrelang leidend, und in der Zeit hatte sie praktisch das Heft in der Hand. Sie ist sehr tüchtig und hat eine gute Nase für geschäftliche Dinge. Und dazu sehr gewissenhaft. Nach Eimers Tod widmete sie sich ganz und gar den Kindern. Eins davon ist von ihr -Ginevra, das hübsche rothaarige Mädchen, aber ein bisschen zart. Nun, wie gesagt, Mrs. Boynton widmete sich nur noch ihrer Familie. Sie kapselte sich einfach vollkommen von der Welt ab. Ich weiß ja nicht, wie Sie darüber denken, Dr. Gerard, aber ich halte das nicht unbedingt für sehr vernünftig.«

»Ich stimme Ihnen zu. Auf die geistige Entwicklung junger Menschen wirkt sich dergleichen sehr negativ aus.«

»Genau, Sie haben es auf den Punkt gebracht. Mrs. Boynton schirmte die Kinder von ihrer Umwelt ab und ließ sie nie mit Außenstehenden in Berührung kommen. Das Resultat ist, dass alle - nun ja, irgendwie verstört sind. Verschreckt, wenn Sie wissen, was ich meine. Können sich mit niemand anfreunden. Und das ist schlecht.«

»Sehr schlecht sogar.«

»Ich bezweifle ja nicht, dass Mrs. Boynton es gut meinte. Aber sie hat es mit der Fürsorge übertrieben.«

»Leben alle noch zu Hause?«, fragte der Arzt.

»Ja.«

»Und die Söhne arbeiten nicht?«

»O nein. Eimer Boynton war ein reicher Mann. Er hinterließ sein gesamtes Vermögen Mrs. Boynton auf Lebenszeit -aber es galt natürlich als ausgemacht, dass das Geld für den Lebensunterhalt der Familie ganz allgemein ist.«

»Das heißt, dass alle finanziell von ihr abhängig sind?«

»So ist es. Und sie hat alle darin bestärkt, zu Hause zu bleiben und sich nicht nach einer Arbeit umzusehen. Das mag vielleicht in Ordnung sein, Geld ist ja genug vorhanden, keiner von ihnen muss arbeiten, aber ich finde, dass Arbeit zumindest für einen Mann eine sehr bekömmliche Arznei ist. Und da ist noch etwas: Keiner von ihnen hat irgendwelche Hobbies. Sie spielen nicht Golf. Sie gehören keinem Club an. Sie gehen weder zu Tanzveranstaltungen noch unternehmen sie sonst etwas mit anderen jungen Leuten. Sie leben in einem riesigen Kasten mitten auf dem Land, meilenweit vom nächsten Ort entfernt. Ich sage Ihnen, Dr. Gerard, mir scheint das völlig falsch zu sein.«

»Ich stimme Ihnen zu«, sagte Dr. Gerard.

»Keiner von ihnen hat auch nur das geringste gesellschaftliche Bewusstsein. Keinerlei Gemeinsinn - ja, genau das fehlt ihnen! Sie mögen ja ein harmonisches Familienleben führen, aber alle miteinander sind völlig in sich selbst versunken.«

»War nie die Rede davon, dass der eine oder andere von ihnen auf eigenen Füßen stehen wollte?«

»Nicht, dass ich wüsste. Sie hocken einfach nur rum.«

»Geben Sie die Schuld daran den Kindern oder Mrs. Boynton?«

Jefferson Cope rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.

»Na ja, in gewisser Hinsicht glaube ich schon, dass mehr oder weniger sie dafür verantwortlich ist. Die Art, wie sie sie erzogen hat, war nicht richtig. Trotzdem, wenn ein Bursche erwachsen wird, dann liegt es an ihm, eigene Wege zu gehen. Ein junger Mann sollte nicht dauernd am Rockzipfel seiner Mutter hängen. Er sollte aus eigenem Antrieb unabhängig sein wollen.«

Dr. Gerard sagte nachdenklich: »Vielleicht ist das nicht möglich.«

»Warum nicht?«

»Weil es Mittel und Wege gibt, Mr. Cope, einen Baum am Wachsen zu hindern.«

Cope starrte ihn an. »Aber sie sind alle gesund und munter, Dr. Gerard!«

»Der Geist kann ebenso in der Entwicklung gehemmt werden und verkümmern wie der Körper.«

»Auch geistig ist bei ihnen alles in Ordnung.«

Jefferson Cope fuhr fort: »Nein, Dr. Gerard, glauben Sie mir, jeder Mensch hat sein Schicksal selbst in der Hand. Ein Mann mit Selbstachtung geht seinen eigenen Weg und fängt etwas mit seinem Leben an. Er hockt nicht bloß rum und dreht Däumchen. Vor so einem Mann kann eine Frau doch keine Achtung haben.«

Gerard sah ihn einen Moment lang merkwürdig an. Dann sagte er: »Beziehen sich Ihre Worte insbesondere auf Mr. Lennox Boynton?«

»Ja, ich dachte dabei tatsächlich an Lennox. Raymond ist ja fast noch ein Kind. Aber Lennox wird bald dreißig. Höchste Zeit, dass er zeigt, was in ihm steckt.«

»Für seine Frau ist das vermutlich nicht leicht.«

»Ganz bestimmt nicht! Nadine ist ein feiner Mensch. Ich bewundere sie mehr, als ich sagen kann. Sie hat sich noch nie auch nur mit einem Wort beklagt. Aber sie ist nicht glücklich, Dr. Gerard! Unglücklicher als sie kann man gar nicht sein.«

Gerard nickte zustimmend. »Ja, damit könnten Sie Recht haben.«

»Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, Dr. Gerard, aber ich finde, dass alles seine Grenzen hat und dass sich eine Frau nicht mit allem abfinden muss! Wenn ich Nadine wäre, würde ich das Lennox mal unmissverständlich klarmachen. Entweder er reißt sich zusammen und zeigt, aus welchem Holz er geschnitzt ist, oder.«

»Oder aber sie sollte ihn verlassen, wollen Sie sagen?«

»Sie muss auch an sich selbst denken, Dr. Gerard. Wenn Lennox sie nicht so zu schätzen weiß, wie sie es verdient - nun, andere Männer wüssten es.«

»Beispielsweise - Sie selbst?«

Der Amerikaner wurde rot. Dann sah er den anderen mit einer Art stiller Würde offen an.

»Ja«, sagte er. »Ich schäme mich meiner Gefühle für Nadine nicht. Ich habe große Achtung vor ihr und bin ihr aufrichtig zugetan. Ich will nur, dass sie glücklich ist. Wenn sie mit Lennox glücklich wäre, würde ich mich zurückziehen und von der Bildfläche verschwinden.«

»Aber?«

»Aber so wie die Dinge liegen, halte ich mich in Bereitschaft! Wenn sie mich braucht, werde ich da sein!«

»Der Ritter ohne Furcht und Tadel«, murmelte Gerard.

»Wie bitte?«

»Mein lieber Freund, Ritterlichkeit findet man heutzutage nur noch bei Ihnen in Amerika! Sie sind es zufrieden, der Dame Ihres Herzens auch ohne Aussicht auf Belohnung zu dienen! Höchst bewundernswert, in der Tat! Was genau hoffen Sie, für die Dame tun zu können?«

»Ich will einfach zur Stelle zu sein, wenn sie mich braucht.«

»Und wie, wenn ich fragen darf, verhält sich die alte Mrs. Boynton Ihnen gegenüber?«

Jefferson Cope sagte bedächtig: »Ich bin mir nie ganz klar über sie. Wie ich schon sagte, hält sie nichts davon, Kontakte mit Außenstehenden zu haben. Aber bei mir ist es anders. Zu mir ist sie immer sehr freundlich und behandelt mich fast wie ein Familienmitglied.«

»Das heißt, sie billigt Ihre Freundschaft mit der jungen Mrs. Boynton?«

»Ja.«

Dr. Gerard zuckte die Schultern. »Ist das nicht etwas merkwürdig?«

Jefferson Cope erwiderte förmlich: »Ich darf Ihnen versichern, Dr. Gerard, dass diese Freundschaft nicht im Entferntesten ungehörig ist. Sie ist rein platonisch.«

»Ich bitte Sie, mein Lieber, davon bin ich überzeugt! Dennoch wiederhole ich, dass es sonderbar ist seitens Mrs. Boyntons, diese Freundschaft zu ermutigen. Mrs. Boynton interessiert mich - sie interessiert mich sogar sehr, Mr. Cope.«

»Sie ist wirklich eine erstaunliche Frau. Sie hat sehr viel Charakterstärke - und eine ausgeprägte Persönlichkeit. Wie gesagt, Eimer Boynton vertraute ihr vollkommen. «

»So sehr, dass er bereit war, ihr seine Kinder in finanzieller Hinsicht auf Gedeih und Verderb auszuliefern. In meinem Land, Mr. Cope, wäre dergleichen von Rechts wegen unmöglich.«

Mr. Cope stand auf. »Wir Amerikaner«, sagte er, »glauben nun einmal fest an absolute Freiheit.«

Dr. Gerard erhob sich ebenfalls. Mr. Copes Worte machten keinen Eindruck auf ihn. Er hatte sie schon früher gehört, von Menschen unterschiedlichster Nationalität. Die Illusion, Freiheit sei das Vorrecht des jeweils eigenen Volkes, ist ziemlich weit verbreitet.

Dr. Gerard war klüger. Er wusste, dass kein Volk, kein Staat und kein Mensch wahrhaft frei zu nennen ist. Aber er wusste auch, dass es unterschiedliche Grade der Unfreiheit gibt.

Nachdenklich und neugierig zugleich ging er hinauf in sein Zimmer.

Sechstes Kapitel

Sarah King stand auf dem Tempelberg, dem Haram esh-Sharif. Hinter ihr lag der Felsendom. Das helle Plätschern der Brunnen drang an ihr Ohr. Grüppchen von Touristen gingen vorbei, ohne den Frieden der orientalischen Atmosphäre zu stören.

Seltsam, dachte Sarah, dass einst ein Jebusiter diesen felsigen Hügel als Tenne benutzt und dass David ihn für 50 Silberschekel gekauft und dort einen Altar errichtet hatte. Und jetzt war hier das Stimmengewirr der Besucher aus aller Herren Länder zu vernehmen.

Sie drehte sich um und betrachtete die Moschee, die sich nun über dem Heiligtum erhob, und fragte sich, ob Salomos Tempel auch nur halb so schön gewesen sein konnte.

Schritte waren zu hören, und eine kleine Gruppe trat aus der Moschee ins Freie. Es waren die Boyntons, begleitet von einem geschwätzigen Dragoman. Mrs. Boynton wurde von Lennox und Raymond gestützt. Dahinter kamen Nadine und Mr. Cope. Den Abschluss bildete Carol. Als sie weitergingen, entdeckte letztere Sarah.

Sie zögerte, machte dann, einem plötzlichen Entschluss folgend, kehrt und lief rasch und geräuschlos über den Platz.

»Verzeihen Sie«, sagte sie atemlos. »Ich muss - ich wollte - ich muss mit Ihnen reden.«

»Ja?«, sagte Sarah.

Carol zitterte heftig. Ihr Gesicht war sehr blass.

»Es geht um - um meinen Bruder. Als Sie ihn gestern Abend ansprachen, müssen Sie ihn für - für sehr unhöflich gehalten haben. Aber das war nicht seine Absicht. Er

- er konnte nur nicht anders. Bitte glauben Sie mir!«

Für Sarah hatte Carols Auftritt etwas Absurdes. Er beleidigte nicht nur ihren Stolz, sondern auch ihren guten Geschmack. Wie kam eine wildfremde Person dazu, auf sie loszustürmen und eine lächerliche Entschuldigung für ihren flegelhaften Bruder vorzubringen?

Sie hatte schon eine spontane Bemerkung auf den Lippen, doch dann schwang ihre Stimmung plötzlich um.

Hier schien ein besonderer Fall vorzuliegen. Das junge Mädchen meinte es todernst. Die Neigung, die Sarah veranlasst hatte, den Arztberuf zu ergreifen, machte sie hellhörig für die Not des Mädchens. Ihr Instinkt sagte ihr, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

Aufmunternd sagte sie: »Wollen Sie mir nicht Näheres erzählen?«

»Er hat im Zug mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?«, begann Carol.

Sarah nickte. »Ja. Genau gesagt habe ich ihn angesprochen.«

»Das dachte ich mir. Anders herum hätte ich es mir auch kaum vorstellen können. Aber, wissen Sie, gestern Abend hatte Ray einfach Angst - «

Sie brach ab.

»Angst?«

Carols blasses Gesicht rötete sich.

»Ach, das klingt bestimmt absurd - oder verrückt. Meine Mutter ist nämlich - also, es geht ihr nicht besonders - und sie mag es nicht, wenn wir uns mit anderen Leuten anfreunden. Aber - aber ich weiß, dass -dass Ray Sie gerne besser kennen lernen würde.«

Sarahs Neugierde war geweckt. Bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr Carol fort: »Ich - was ich da sage, klingt bestimmt sehr komisch, aber wir sind eine - eine ziemlich eigenartige Familie.« Sie blickte sich schnell um - voller Angst.

»Ich - ich muss gehen«, murmelte sie. »Die anderen könnten etwas merken.«

Sarah fasste einen Entschluss.

»Warum bleiben Sie nicht noch ein bisschen«, sagte sie, »wenn Sie das möchten? Wir können doch gemeinsam zum Hotel zurückgehen.«

»O nein!« Carol wich zurück. »Das - das kann ich nicht.«

»Warum denn nicht?«, fragte Sarah.

»Das kann ich auf gar keinen Fall! Meine Mutter wäre -wäre sicher - «

Ruhig und deutlich sagte Sarah: »Ich weiß, dass es Eltern manchmal furchtbar schwer fällt zu begreifen, dass ihre Kinder erwachsen sind. Sie wollen deren Leben unbedingt auch weiterhin bestimmen. Aber, wissen Sie, es ist ein Fehler, nachzugeben. Man muss für seine Rechte eintreten!«

Carol sagte leise: »Sie verstehen nicht -Sie haben ja keine Ahnung.«

Sie rang nervös die Hände.

»Manchmal«, fuhr Sarah fort, »gibt man nach, weil man keinen Streit haben will. Auseinandersetzungen sind unangenehm, aber ich finde, dass die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, es alle Mal wert ist, dass man um sie kämpft.«

»Freiheit?« Carol starrte sie entgeistert an. »Von uns ist keiner jemals frei gewesen. Und wir werden es auch nie sein.«

»So ein Unsinn!«, sagte Sarah bestimmt.

Carol beugte sich vor und berührte ihren Arm.

»Hören Sie. Ich will versuchen, es Ihnen begreiflich zu machen. Vor ihrer Ehe war meine Mutter - meine Stiefmutter, genauer gesagt - Aufseherin in einem Gefängnis. Mein Vater war der Direktor und heiratete sie. Und daran hat sich nie etwas geändert. Sie war auch weiterhin Aufseherin - unsere Aufseherin. Und darum leben wir wie - wie im Gefängnis!«

Sie blickte sich abermals hastig um.

»Sie haben etwas gemerkt. Ich - ich muss gehen.«

Sarah hielt ihren Arm fest, als sie fortlaufen wollte.

»Warten Sie. Wir sollten uns irgendwo treffen und miteinander reden.«

»Das geht nicht. Das kann ich nicht.«

»O doch!«, sagte Sarah gebieterisch. »Kommen Sie heute Abend vor dem Zubettgehen zu mir. Zimmer 319. Nicht vergessen: 319.«

Sie ließ Carols Arm los, die daraufhin ihrer Familie nacheilte.

Sarah blickte ihr lange nach. Plötzlich merkte sie, dass Dr. Gerard neben ihr stand.

»Guten Morgen, Miss King. Wie ich sehe, haben Sie sich mit Miss Carol Boynton unterhalten. «

»Ja. Ein höchst merkwürdiges Gespräch. Ich muss es Ihnen erzählen.«

Sie wiederholte den wesentlichen Inhalt ihrer Unterhaltung mit dem jungen Mädchen. Einen entscheidenden Punkt griff Gerard sofort auf.

»Aufseherin in einem Gefängnis war das alte Nilpferd? Das könnte durchaus von Bedeutung sein.«

»Sie meinen, dass das der Grund für ihr tyrannisches Verhalten ist?«, sagte Sarah. »Dass es ihr aufgrund ihrer früheren Tätigkeit zur Gewohnheit wurde?«

Gerard schüttelte den Kopf.

»Nein, das hieße, die Sache aus dem falschen Blickwinkel betrachten. Wir haben es hier mit einem starken inneren Zwang zu tun. Sie liebt die Tyrannei nicht, weil sie Gefängnisaufseherin war. Sagen wir lieber, sie wurde Gefängnisaufseherin, weil sie die Tyrannei liebt. Nach meiner Theorie war es das heimliche Verlangen, Macht über andere Menschen auszuüben, das sie veranlasste, diesen Beruf zu ergreifen.«

Mit ernster Miene fuhr er fort: »So viele seltsame Dinge sind tief im Unterbewusstsein begraben. Die Gier nach Macht, der Drang, andere zu quälen, das triebhafte Verlangen, zu zerstören und zu vernichten - das ganze Erbe unseres kollektiven Unbewussten. All das liegt hier vor, Miss King, Grausamkeit und Zerstörungswut und Gier. Wir halten sie hinter verschlossenen Türen und verdrängen sie aus unserem Bewusstsein, aber manchmal - manchmal sind sie übermächtig.«

Sarah erschauerte. »Ich weiß.«

»Es begegnet uns heutzutage überall - in Parteiprogrammen, in der politischen Führung der Staaten. Eine Reaktion gegen humanitäre Prinzipien, gegen Mitleid, gegen Nächstenliebe. Manchmal klingen die Programme gut - ein kluges System, eine wohltätige Regierung, aber gewaltsam aufoktroyiert und basierend auf einem Fundament aus Grausamkeit und Furcht. Sie stoßen die Türen auf, diese Apostel der Gewalt, sie lassen Nachsicht walten gegenüber der alten Barbarei, der alten Lust nach Grausamkeit um ihrer selbst willen! Gewiss, es ist nicht leicht - der Mensch ist ein sehr fein ausbalanciertes Geschöpf. Und er will vor allem eins -überleben. Zu schnell vorzugehen ist ebenso fatal, wie zurückzubleiben. Er muss überleben! Vielleicht muss er sich dazu etwas von der alten Barbarei bewahren, aber er darf sie nie - und zwar unter gar keinen Umständen - zu seinem Abgott machen!«

Nach einer Weile sagte Sarah: »Glauben Sie, dass die alte Mrs. Boynton eine Sadistin ist?«

»Dessen bin ich mir fast sicher. Ich glaube, es bereitet ihr Vergnügen, andere zu quälen - seelisch zu quälen, wohlgemerkt, nicht körperlich. Das kommt sehr viel seltener vor, und es ist sehr viel schwieriger, damit umzugehen. Sie genießt es, andere in ihrer Gewalt zu haben, und sie genießt es, sie leiden zu lassen.«

»Das ist ja abscheulich!«, sagte Sarah.

Gerard erzählte ihr von seinem Gespräch mit Jefferson Cope.

»Er durchschaut also nicht, was da vor sich geht?«, erkundigte sie sich zögernd.

»Wie sollte er? Er ist kein Psychologe.«

»Stimmt. Er denkt nicht in so grässlichen Kategorien wie wir!«

»Genau. Er denkt wie ein netter, rechtschaffener, empfindsamer, normaler Amerikaner. Er glaubt an das Gute statt an das Böse. Er sieht zwar, dass mit dem Familienleben der Boyntons etwas nicht in Ordnung ist, aber er unterstellt Mrs. Boynton übertriebene Liebe und Fürsorge statt gezielte Böswilligkeit.«

»Das würde sie sicher amüsieren«, sagte Sarah.

»Ganz bestimmt sogar!«

»Wieso lassen sie sich das eigentlich gefallen?«, sagte Sarah ungehalten. »Sie könnten doch weggehen.«

Gerard schüttelte den Kopf. »Nein, da irren Sie sich. Das können sie nicht. Ist Ihnen das alte Experiment mit dem Hahn bekannt? Man malt einen Kreidestrich auf den Boden und drückt den Hahn mit dem Schnabel darauf. Der Hahn glaubt, dort angebunden zu sein. Er kann den Kopf nicht heben. Genau so geht es diesen unglücklichen jungen Menschen. Sie dürfen nicht vergessen, dass diese Frau auf sie eingewirkt hat, seit sie Kinder waren. Und ihre Dominanz war geistiger Natur. Sie hat sie so hypnotisiert, dass sie überzeugt sind, ihr immer gehorchen zu müssen. Oh, ich weiß, die meisten Leute würden sagen, dass das Unsinn ist - aber Sie und ich wissen es besser. Sie hat sie glauben gemacht, dass die totale Abhängigkeit von ihr eine unabänderliche Tatsache ist. Sie sind schon so lange in ihrem Gefängnis, dass sie es gar nicht merken würden, wenn das Gefängnistor plötzlich offen wäre! Einer von ihnen zumindest will überhaupt nicht mehr frei sein! Und alle hätten Angst vor der Freiheit.«

Sarah fragte nüchtern: »Und was passiert, wenn sie stirbt?«

Gerard zuckte mit den Schultern.

»Das kommt darauf an. Nämlich, wie bald dieser Fall eintritt. Wenn er jetzt einträte, dann wäre es, glaube ich, noch nicht zu spät. Der zweite Sohn und die ältere Tochter sind noch jung und beeinflussbar. Aus ihnen könnten, meiner Meinung nach, ganz normale Menschen werden. Bei Lennox ist es möglicherweise bereits zu spät. Er wirkt auf mich wie ein Mann, der alle Hoffnung aufgegeben hat, der lebt und duldet wie eine stumme Kreatur.«

»Aber seine Frau hätte doch etwas dagegen unternehmen müssen!«, sagte Sarah aufgebracht. »Sie hätte ihn mit Gewalt herausholen müssen!«

»Wer weiß? Vielleicht hat sie es versucht - und ist gescheitert.«

»Glauben Sie, dass auch sie unter dem Bann der alten Frau steht?«

Gerard schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich glaube vielmehr, dass die alte Dame keine Macht über sie hat und dass sie sie eben deshalb erbittert hasst. Achten Sie einmal auf ihre Augen.«

Sarah runzelte die Stirn. »Ich werde einfach nicht schlau aus ihr - der jungen Mrs. Boynton, meine ich. Durchschaut sie, was da abläuft?«

»Ich glaube, sie hat eine ziemlich klare Vorstellung davon.«

»Hm«, sagte Sarah. »Eigentlich sollte man die Alte umbringen! Ich persönlich würde Arsen im Frühstückstee verordnen.«

Dann sagte sie unvermittelt: »Was ist mit der jüngsten Tochter - dem rothaarigen Mädchen mit diesem faszinierenden abwesenden Lächeln?«

Gerard runzelte die Stirn. »Da bin ich mir nicht sicher. Sie hat etwas Sonderbares. Aber Ginevra Boynton ist schließlich die leibliche Tochter der alten Dame.«

»Stimmt. Bei ihr müsste der Fall anders liegen - oder nicht?«

Gerard sagte nachdenklich: »Ich glaube nicht, dass die Gier nach Macht und der Drang, andere zu quälen - wenn sie von einem Menschen erst einmal Besitz ergriffen haben -, irgendjemanden verschonen, nicht einmal die, die einem lieb und teuer sind.«

Er schwieg eine Weile und sagte dann: »Sind Sie Christin, Mademoiselle?«

Sarah sagte langsam: »Ich weiß nicht recht. Früher dachte ich immer, ich sei gar nichts. Aber jetzt. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich habe das Gefühl, ich meine, wenn ich all das hier wegwischen könnte« - sie machte eine heftige Handbewegung -, »die ganzen Kirchen und die Sekten und die sich befehdenden Religionen, dann - dann könnte ich vielleicht die friedvolle Gestalt Christi auf einem Esel in Jerusalem einziehen sehen - und an Ihn glauben.«

Dr. Gerard sagte ernst: »Ich glaube vor allem an einen Grundsatz des Christentums - sich zu begnügen mit dem, was man hat. Ich bin Arzt und weiß, dass Ehrgeiz - der Wunsch, Erfolg zu haben, Macht zu besitzen - die Ursache der meisten psychischen Störungen ist. Wenn dieser Ehrgeiz befriedigt wird, sind Arroganz, Gewalttätigkeit und letztendlich Überdruss die Folge. Und wenn er unerfüllt bleibt, wenn das triebhafte Verlangen nicht befriedigt wird - dann müssen Sie nur in die Irrenanstalten gehen, um die Folgen zu sehen! Sie sind voll von Menschen, die es nicht ertragen konnten, mittelmäßig, unbedeutend, erfolglos zu sein, und Fluchtwege aus der Realität gesucht und gefunden haben, um für immer vom eigentlichen Leben abgeschnitten zu sein.«

Sarah sagte unvermittelt: »Zu schade, dass die alte Mrs. Boynton nicht auch in einer Anstalt ist.«

Gerard schüttelte den Kopf.

»Nein, ihr Platz ist nicht unter den Gescheiterten. Es ist viel schlimmer. Denn sie hat ihr Ziel erreicht! Sie hat ihren Traum verwirklicht!«

Sarah erschauerte.

Dann rief sie heftig aus: »So etwas dürfte es einfach nicht geben!«

Siebtes Kapitel

Sarah war gespannt, ob Carol Boynton die Verabredung am späten Abend einhalten würde.

Alles in allem bezweifelte sie es eher. Sie befürchtete, dass Carol ihre halbvertraulichen Mitteilungen vom Vormittag bereuen und sich anders besinnen könnte.

Dennoch richtete sie sich darauf ein, schlüpfte in einen blauen Satinmorgenmantel und holte ihren kleinen Spirituskocher heraus und setzte Teewasser auf.

Gerade als sie dachte, dass Carol nicht mehr kommen würde (es war schon nach ein Uhr), und zu Bett gehen wollte, klopfte es. Sie machte die Tür auf und trat rasch zurück, um Carol hereinzulassen.

Carol sagte atemlos: »Ich hatte Angst, Sie könnten schon zu Bett gegangen sein.«

Sarah war darauf bedacht, sich sachlich zu geben.

»O nein, ich habe auf Sie gewartet. Sie trinken doch eine Tasse Tee, nicht? Echter Lapsang Souchong.«

Sie brachte ihr eine Tasse. Carols Verhalten war nervös und unsicher gewesen. Doch nachdem sie die Tasse und einen Keks angenommen hatte, wurde sie ruhiger.

»Das ist richtig gemütlich«, sagte Sarah lächelnd.

Carol schien etwas überrascht zu sein.

»Ja«, sagte sie zweifelnd. »Ja, ich glaube schon.«

»Es erinnert mich an die nächtlichen Gelage, die wir früher im Internat veranstaltet haben«, fuhr Sarah fort. »Sie waren wohl nie auf einer Schule?«

Carol schüttelte den Kopf.

»Nein, wir waren immer zu Hause. Wir hatten Hauslehrerinnen - mehrere Hauslehrerinnen. Sie blieben nie lange.«

»Waren Sie noch nie weg von daheim?«

»Nein. Wir haben immer im gleichen Haus gelebt. Das ist das erste Mal, dass ich verreise.«

Sarah sagte beiläufig: »Dann muss das ein großes Abenteuer für Sie sein.«

»O ja! Es ist - es ist alles wie ein Traum.«

»Was hat Ihre - Ihre Stiefmutter zu dieser Auslandsreise veranlasst?«

Bei der Erwähnung von Mrs. Boynton war Carol zusammengezuckt. Sarah sagte rasch: »Wissen Sie, ich bin Ärztin. Ich habe gerade mein Examen gemacht. Ihre Mutter, vielmehr Ihre Stiefmutter, interessiert mich - als Fall, meine ich. Für mich ist sie nämlich eindeutig ein pathologischer Fall.«

Carol starrte sie an. Offensichtlich war das ein völlig neuer Gedanke für sie. Sarah hatte nicht von ungefähr gesprochen. Ihr war klar, dass Mrs. Boynton für ihre Familie eine Art mächtiger, abstoßender Götze war, der alles überschattete. Sarah hatte die feste Absicht, ihr ein wenig von ihrer Angst einflößenden Wirkung zu nehmen.

»Ja«, sagte sie. »Menschen können unter - unter krankhafter Herrschsucht leiden. Sie werden tyrannisch und bestehen darauf, dass alles genau so gemacht wird, wie sie sagen, und es ist immer äußerst schwierig, mit solchen Menschen zurechtzukommen. «

Carol stellte ihre Tasse ab.

»Ach«, rief sie, »ich bin ja so froh, dass ich mit Ihnen reden kann! Ich glaube nämlich, dass Ray und ich schon - na ja, richtig komisch geworden sind. Wir steigern uns schon in alles Mögliche hinein.«

»Es tut immer gut, mit einem Unbeteiligten zu sprechen«, sagte Sarah. »Innerhalb der eigenen Familie ist man meist zu gefühlsbetont.« Dann fragte sie beiläufig: »Wenn Sie so unglücklich sind -haben Sie dann nie daran gedacht, von zu Hause wegzugehen?«

Carol sah sie entsetzt an. »O nein! Wie könnten wir? Ich, ich meine, Mutter würde es nie erlauben.«

»Aber sie könnte Sie nicht daran hindern«, sagte Sarah sanft. »Sie sind doch volljährig.«

»Ich bin dreiundzwanzig.«

»Eben.«

»Trotzdem kann ich es nicht - ich meine, ich wüsste gar nicht, wo ich hingehen und was ich tun sollte.«

Ihre Stimme klang bestürzt.

»Wissen Sie«, sagte sie, »wir haben kein Geld.«

»Haben Sie keine Freunde, zu denen Sie gehen könnten?«

»Freunde?« Carol schüttelte den Kopf. »O nein, wir kennen niemanden!«

»Hat keiner von Ihnen je daran gedacht, sich selbstständig zu machen?«

»Nein. Ich glaube nicht. Das - das könnten wir nicht.«

Sarah wechselte das Thema. Die Bestürzung des jungen Mädchens erregte ihr Mitleid.

Sie sagte: »Mögen Sie Ihre Stiefmutter?«

Carol schüttelte langsam den Kopf. Mit ängstlicher Stimme flüsterte sie: »Ich hasse sie. Und Ray hasst sie auch. Wir -wir haben uns oft gewünscht, dass sie tot wäre.«

Sarah wechselte erneut das Thema.

»Erzählen Sie mir etwas über Ihren älteren Bruder.«

»Über Lennox? Ich weiß nicht, was mit Lennox los ist. Er spricht kaum noch. Er ist immer wie in Trance. Nadine macht sich schreckliche Sorgen um ihn.«

»Sie haben Ihre Schwägerin gern, nicht?«

»Ja. Nadine ist anders. Sie ist immer freundlich. Aber sie ist sehr unglücklich.«

»Wegen Ihres Bruders?«

»Ja.«

»Sind die beiden schon lange verheiratet?«

»Vier Jahre.«

»Und sie haben immer bei Ihnen zu Hause gewohnt?«

»Ja.«

»Gefällt das Ihrer Schwägerin?«, fragte Sarah.

»Nein.«

Nach einer Weile sagte Carol: »Vor etwas über vier Jahren gab es einen furchtbaren Krach. Ich sagte Ihnen ja bereits, dass keiner von uns daheim das Haus verlässt. Ich meine, wir gehen natürlich in den Garten und so, aber das ist alles. Nur Lennox hat sich manchmal nachts aus dem Haus geschlichen. Er ging nach Fountain Springs - zu einer Tanzveranstaltung. Mutter war furchtbar wütend, als sie dahinter kam. Es war schrecklich! Bald darauf hat sie dann Nadine eingeladen. Nadine ist eine entfernte Verwandte meines Vaters. Sie war sehr arm und ließ sich damals zur Krankenschwester ausbilden. Sie kam und blieb einen Monat bei uns. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie aufregend es war, jemanden zu Besuch zu haben! Und sie und Lennox verliebten sich ineinander. Und Mutter meinte, dass es das Beste wäre, wenn sie schnell heiraten und weiter bei uns wohnen würden.«

»Und Nadine war damit einverstanden?«

Carol zögerte. »Ich glaube nicht, dass sie große Lust dazu hatte, aber sie hatte auch nicht direkt etwas dagegen. Später wollte sie dann weg - zusammen mit Lennox natürlich.«

»Aber daraus wurde nichts?«

»Nein. Mutter wollte nichts davon wissen.«

Carol schwieg einen Moment und sagte dann: »Ich glaube, dass - dass sie Nadine inzwischen nicht mehr mag. Nadine ist -eigenartig. Man weiß nie, was sie denkt. Sie versucht Jinny zu helfen, und das passt Mutter nicht.«

»Jinny ist Ihre jüngere Schwester?«

»Ja. Ihr richtiger Name ist Ginevra.«

»Ist sie - auch unglücklich?«

Carol schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Jinny ist seit einiger Zeit ziemlich sonderbar. Ich verstehe sie nicht. Wissen Sie, sie war schon immer sehr zart - und -und Mutter macht ein ziemliches Getue darum - was alles nur noch schlimmer macht. Aber in letzter Zeit ist Jinny wirklich sonderbar. Sie - manchmal jagt sie mir direkt Angst ein. Sie weiß bisweilen gar nicht, was sie tut.«

»War sie schon bei einem Arzt?«

»Nein. Nadine hat es ihr geraten, aber Mutter war strikt dagegen. Und da ist Jinny ganz hysterisch geworden und hat geschrien und gesagt, dass sie auf keinen Fall zum Arzt geht. Aber ich mache mir Sorgen um sie.«

Dann stand Carol plötzlich auf.

»Ich möchte Sie nicht länger aufhalten. Sie wollen sicher zu Bett gehen. Es - es war sehr nett von Ihnen, dass ich herkommen und mit Ihnen reden durfte. Sie müssen uns für eine sehr merkwürdige Familie halten.«

»Ach, jeder Mensch ist irgendwie merkwürdig«, sagte Sarah leichthin. »Kommen Sie doch wieder. Sie dürfen auch gern Ihren Bruder mitbringen.«

»Wirklich?«

»Aber ja! Und dann stecken wir die Köpfe zusammen und hecken etwas aus. Ich möchte auch, dass Sie einen Freund von mir kennen lernen, einen Dr. Gerard, einen sehr sympathischen Franzosen.«

Carols Wangen färbten sich.

»Ach, das hört sich herrlich an! Wenn nur Mutter nichts davon erfährt.«

Sarah verbiss sich ihre ursprüngliche Antwort und sagte stattdessen: »Warum sollte sie? Sagen wir, morgen um die gleiche Zeit?«

»O ja! Es könnte nämlich sein, dass wir übermorgen wegfahren.«

»Dann bleibt es definitiv bei morgen Abend. Gute Nacht.«

»Gute Nacht - und vielen Dank.«

Carol ging hinaus und huschte leise durch den Korridor. Ihr Zimmer lag eine Etage höher. Als sie dort ankam und die Tür aufmachte, blieb sie vor Schreck auf der Schwelle stehen. In einem Sessel neben dem Kamin saß Mrs. Boynton, in einen grellroten wollenen Morgenrock gehüllt.

Carols Lippen entfuhr ein spitzer Schrei.

Zwei schwarze Augen sahen sie bohrend an. »Wo bist du gewesen, Carol?«

»Ich - ich - «

»Wo warst du?«, fragte die leise, raue Stimme mit dem eigentümlichen drohenden Unterton, der Carols Herz jedes Mal vor unerklärlicher Angst schneller schlagen ließ.

»Bei Miss King - bei Sarah King.«

»Bei der jungen Frau, die gestern Abend Raymond angesprochen hat?«

»Ja, Mutter.«

»Hast du vor, dich wieder mit ihr zu treffen?«

Carols Lippen bewegten sich lautlos. Sie nickte bejahend. Furcht erfasste sie, eine mächtige, entsetzliche Woge der Furcht.

»Wann?«

»Morgen Abend.«

»Du wirst nicht hingehen. Verstanden?«

»Ja, Mutter.«

»Versprochen?«

»Ja. Ja.«

Mrs. Boynton begann sich aus ihrem Sessel zu hieven. Carol trat automatisch näher und half ihr. Mrs. Boynton ging langsam, auf ihren Stock gestützt, zur Tür. Dort blieb sie stehen und drehte sich noch einmal nach dem verstörten jungen Mädchen um.

»Du wirst nichts mehr mit dieser Miss King zu tun haben. Hast du mich verstanden?«

»Ja, Mutter.«

»Dann wiederhole es.«

»Ich werde nichts mehr mit ihr zu tun haben.«

»Gut.«

Mrs. Boynton verließ das Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.

Carol ging mit steifen Bewegungen hinüber zum Bett. Ihr war übel, ihr ganzer Körper kam ihr hölzern und fremd vor. Sie ließ sich auf das Bett fallen und wurde plötzlich von heftigem Schluchzen geschüttelt. Ihr war gewesen, als hätte sich ein Blick vor ihr aufgetan - ein Panorama voller Sonnenschein und Bäumen und Blumen.

Doch nun hatten sich die schwarzen Mauern um sie herum wieder geschlossen.

Achtes Kapitel

»Kann ich Sie einen Moment sprechen?«

Nadine Boynton drehte sich überrascht um und blickte in die dunklen, eifrigen Augen einer ihr völlig unbekannten jungen Frau.

»Gewiss. Natürlich.«

Aber noch während sie sprach, warf sie, fast unbewusst, einen kurzen nervösen Blick über die Schulter.

»Mein Name ist Sarah King«, fuhr die andere fort.

»Und Sie wünschen?«

»Mrs. Boynton, ich möchte Ihnen etwas sagen, was Ihnen sicher sehr seltsam vorkommt. Ich habe mich neulich abends ziemlich lange mit Ihrer Schwägerin unterhalten. «

Über Nadine Boyntons ruhiges Gesicht schien ein leiser Schatten zu huschen.

»Sie haben mit Ginevra gesprochen?«

»Nein, nicht mit Ginevra - mit Carol.«

Der Schatten verschwand. »Ach so - mit Carol.«

Nadine Boynton schien erfreut, aber auch etwas erstaunt zu sein. »Wie haben Sie denn das geschafft?«

»Sie kam auf mein Zimmer«, sagte Sarah, »spät nachts.«

Sie sah, wie sich die nachgezogenen Augenbrauen leicht nach oben bewegten. Verlegen fuhr sie fort: »Sie finden das bestimmt sehr merkwürdig.«

»Nein«, sagte Nadine Boynton. »Es freut mich. Es freut mich sogar sehr. Es ist schön, dass Carol jemanden hat, mit dem sie reden kann.«

»Wir - wir haben uns sehr gut verstanden.« Sarah bemühte sich, ihre Worte sorgfältig zu wählen. »So gut, dass wir uns für den Abend darauf wieder verabredet haben.«

»Und?«

»Aber Carol kam nicht.«

»Sie kam nicht?«

Nadines Stimme klang kühl, nachdenklich. Ihr Gesicht, das so ruhig und sanft war, verriet Sarah nichts.

»Nein. Gestern begegneten wir uns in der Hotelhalle. Ich sprach sie an, aber sie sagte kein Wort. Sah mich nur kurz an, wandte den Blick ab und eilte weiter.«

»Ich verstehe.«

Das Gespräch stockte. Es fiel Sarah schwer weiterzusprechen. Schließlich sagte Nadine Boynton: »Das - tut mir sehr Leid. Carol ist - ziemlich ängstlich und scheu.«

Wieder Schweigen. Sarah nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Wissen Sie, Mrs. Boynton, ich bin Ärztin. Und ich glaube -ich glaube, dass es für Ihre Schwägerin gut wäre, wenn sie - sich nicht zu sehr von anderen Menschen abkapseln würde.«

Nadine Boynton sah Sarah nachdenklich an. »Ich verstehe. Sie sind also Ärztin. Das ist natürlich etwas anderes.«

»Dann verstehen Sie, wovon ich spreche?«, sagte Sarah eindringlich.

Nadine neigte den Kopf. Sie war noch immer gedankenvoll.

»Sie haben natürlich vollkommen Recht«, sagte sie nach einer Weile. »Aber es ist nicht so einfach. Meine Schwiegermutter ist bei schlechter Gesundheit und sie hat eine, ich möchte sagen, krankhafte Abneigung dagegen, Außenstehende in den Kreis ihrer Familie vordringen zu lassen.«

»Aber Carol ist eine erwachsene Frau!«, sagte Sarah rebellisch.

Nadine Boynton schüttelte den Kopf.

»O nein«, sagte sie. »Körperlich vielleicht, aber nicht geistig. Das müssen Sie doch bemerkt haben, als Sie mit ihr sprachen. In einer kritischen Situation wird sie immer wie ein verängstigtes Kind reagieren.«

»Glauben Sie, dass das der Grund war? Glauben Sie, dass sie - Angst bekam?«

»Ich könnte mir vorstellen, dass meine Schwiegermutter darauf bestand, dass Carol nichts mehr mit Ihnen zu tun hat, Miss King.«

»Und Carol gehorchte?«

Nadine Boynton sagte ruhig: »Können Sie sich wirklich etwas anderes bei ihr vorstellen?«

Die Blicke der beiden Frauen trafen sich. Sarah spürte, dass sie und Nadine sich hinter der Maske konventioneller Worte verstanden. Sie hatte das Gefühl, dass die andere die Situation richtig einschätzte, aber offensichtlich nicht bereit war, darüber zu sprechen.

Sarah ließ den Mut sinken. Neulich abends hatte sie das Gefühl gehabt, dass die Schlacht schon halb gewonnen sei. Sie hatte geglaubt, Carol bei weiteren heimlichen Treffen zur Auflehnung anstacheln zu können - sie und natürlich auch Raymond. (Um ganz ehrlich zu sein: Hatte sie dabei nicht die ganze Zeit in Wahrheit Raymond im Sinn gehabt?) Und nun war sie gleich im ersten Gefecht schmählich von dem unförmigen Koloss mit den bösen, schadenfrohen Augen besiegt worden. Carol hatte sich kampflos geschlagen gegeben.

»Aber das ist doch völlig falsch!«, rief Sarah aus.

Nadine sagte nichts. Ihr Schweigen traf Sarah wie eine eiskalte Hand, die sich auf ihr Herz legte. Sie dachte: Diese Frau weiß viel besser als ich, wie hoffnungslos alles ist. Sie muss damit leben!

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und die alte Mrs. Boynton trat heraus. Sie ging auf ihren Stock gelehnt, während Raymond sie auf der anderen Seite stützte.

Sarah zuckte leicht zusammen. Sie sah, wie die Augen der alten Frau von ihr zu Nadine und wieder zurück wanderten. Sie war darauf gefasst gewesen, Abneigung in diesen Augen zu lesen, ja sogar Hass. Aber sie war nicht auf das gefasst, was sie tatsächlich in ihnen sah - triumphierendes und boshaftes Vergnügen. Sarah wandte sich ab. Nadine ging zu den beiden hinüber.

»Da bist du ja, Nadine«, sagte Mrs. Boynton. »Ich werde mich einen Moment setzen und ausruhen, bevor ich ausgehe.«

Die beiden halfen ihr auf einen Stuhl mit hoher Rückenlehne. Nadine setzte sich neben sie.

»Mit wem hast du dich eben unterhalten, Nadine?«

»Mit einer Miss King.«

»Ach, ja. Das junge Ding, das neulich abends mit Raymond sprach. Nun, Ray, warum gehst du nicht hin und redest mit ihr? Sie steht drüben am Schreibtisch.«

Der Mund der alten Frau verzog sich zu einem breiten boshaften Lächeln, während sie Raymond betrachtete. Der junge Mann wurde rot. Er wandte das Gesicht ab und murmelte etwas.

»Was sagtest du gerade, mein Sohn?«

»Dass ich nicht mit ihr reden will.«

»Nun, das dachte ich mir. Du wirst nicht mit ihr reden. Du könntest es gar nicht, selbst wenn du es noch so sehr wolltest!«

Sie hustete plötzlich. Es klang pfeifend und keuchend.

»Ich genieße diese Reise sehr, Nadine«, sagte sie. »Ich hätte sie mir um nichts auf der Welt entgehen lassen.«

»Tatsächlich?« Nadines Stimme war ausdruckslos.

»Ray.«

»Ja, Mutter?«

»Hol mir einen Bogen Briefpapier - von dem Tisch dort drüben in der Ecke.«

Raymond gehorchte. Nadine hob den Kopf. Sie beobachtete jedoch nicht den jungen Mann, sondern die alte Frau. Mrs. Boynton hatte sich vorgebeugt, und ihre Nasenflügel bebten vor freudiger Erregung. Ray ging dicht an Sarah vorbei. Sie blickte auf, und auf ihrem Gesicht erschien ein erwartungsvoller Ausdruck. Er verschwand sofort, als Raymond an ihr vorbeihuschte, etwas Briefpapier aus der Mappe nahm und wieder zurückging.

Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, als er bei seiner Mutter ankam, und sein Gesicht war leichenblass.

Mrs. Boynton, die ihn scharf beobachtete, sagte ganz leise: »Aha.«

Dann sah sie, dass Nadines Blick auf ihr ruhte. Der Ausdruck, der darin lag, ließ sie vor jähem Zorn blinzeln.

»Wo ist denn unser Mr. Cope heute Morgen?«, fragte sie.

Nadine schlug die Augen nieder. Mit ihrer sanften, ausdruckslosen Stimme erwiderte sie: »Das weiß ich nicht. Ich habe ihn noch nicht gesehen.«

»Ich mag ihn«, sagte Mrs. Boynton. »Ich mag ihn sogar sehr. Wir sollten ihn viel öfter bei uns haben. Das würde dir doch gefallen, stimmt’s?«

»Ja«, sagte Nadine. »Ich habe ihn auch sehr gern.«

»Was ist eigentlich in letzter Zeit mit Lennox los? Er kommt mir sehr still und teilnahmslos vor. Zwischen euch ist doch alles in Ordnung, oder?«

»Aber ja. Was sollte schon sein?«

»Keine Ahnung. Auch zwischen Eheleuten gibt es gelegentlich Spannungen. Vielleicht wärt ihr glücklicher, wenn ihr euer eigenes Heim hättet?«

Nadine gab keine Antwort.

»Nun, was meinst du dazu? Gefällt dir die Idee?«

Nadine schüttelte den Kopf. Lächelnd sagte sie: »Ich glaube nicht, dass sie dir gefallen würde, Mutter.«

Mrs. Boyntons Augenlider zuckten. Dann sagte sie scharf und giftig: »Du warst schon immer gegen mich, Nadine.«

Die junge Frau erwiderte ruhig: »Es tut mir Leid, wenn du das so siehst.«

Die alte Frau nahm ihren Stock fester in die Hand. Ihr rotes Gesicht schien noch eine Spur dunkler zu werden.

In verändertem Ton sagte sie: »Ich habe meine Tropfen vergessen. Geh und hol sie mir, Nadine.«

»Natürlich.«

Nadine stand auf und ging durch die Halle zum Fahrstuhl. Mrs. Boynton blickte ihr nach. Raymond saß schlaff in seinem Sessel und starrte mit glasigen Augen unglücklich vor sich hin.

Nadine fuhr nach oben. Sie ging durch den Korridor und betrat das Wohnzimmer ihrer Suite. Lennox saß am Fenster. Er hatte ein Buch in der Hand, doch er las nicht. Als Nadine hereinkam, richtete er sich auf. »Hallo, Nadine.«

»Ich will nur Mutters Tropfen holen. Sie hat sie vergessen.«

Sie ging in Mrs. Boyntons Schlafzimmer. Aus einem Fläschchen auf dem Waschtisch maß sie sorgfältig die exakte Menge in ein kleines Medizinglas ab, das sie dann mit Wasser auffüllte. Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, hielt sie inne.

»Lennox.«

Es dauerte ein Weilchen, ehe er antwortete. Es war, als müsste das Wort einen langen Weg zurücklegen.

Dann sagte er: »Entschuldige. Was gibt’s?«

Nadine Boynton stellte das Glas behutsam auf dem Tisch ab. Dann ging sie hinüber zu Lennox.

»Lennox, draußen scheint die Sonne -dort draußen, vor dem Fenster! Dort wartet das Leben! Es ist so schön. Wir könnten mittendrin sein - statt es von hier drinnen durch das Fenster zu betrachten.«

Wieder gab er geraume Zeit keine Antwort. Dann sagte er: »Entschuldige. Möchtest du ausgehen?«

»Ja«, erwiderte sie rasch, »ich möchte hinausgehen - mit dir! Hinaus in den Sonnenschein, hinaus ins Leben! Und mit dir zusammen leben!«

Er kauerte sich tiefer in den Sessel. In seinen Augen lag ein ruheloser, gehetzter Blick.

»Nadine, mein Schatz - müssen wir schon wieder davon anfangen?«

»Ja, das müssen wir. Lass uns fortgehen und irgendwo unser eigenes Leben führen.«

»Wie denn? Wir haben doch kein Geld.«

»Dann gehen wir eben arbeiten.«

»Wie denn? Was können wir denn? Ich habe nichts gelernt. Und es gibt Tausende von Arbeitslosen - qualifizierte Leute, gut ausgebildete Leute. Nein, wir würden es nie schaffen.«

»Dann verdiene ich eben für uns beide.«

»Mein liebes Kind, du hast ja nicht einmal deine Ausbildung abgeschlossen. Es ist hoffnungslos - und unmöglich.«

»Nein, hoffnungslos und unmöglich ist nur unser derzeitiges Leben.«

»Du weißt nicht, was du da redest. Mutter ist sehr gut zu uns. Sie gibt uns alles, was wir uns nur wünschen können.«

»Außer Freiheit. Lennox, gib dir einen Ruck! Lass uns weggehen - noch heute!«

»Du bist ja verrückt, Nadine.«

»Nein, ganz und gar nicht. Ich bin absolut bei klarem Verstand. Ich möchte mein eigenes Leben führen, mit dir, draußen im Sonnenschein - nicht erdrückt vom Schatten einer alten Frau, die ein Tyrann ist und der es Vergnügen bereitet, andere unglücklich zu machen.«

»Mutter mag ja etwas autoritär sein, aber - «

»Deine Mutter ist wahnsinnig! Sie ist geisteskrank! «

»Das ist nicht wahr«, sagte er ruhig. »Sie ist eine bemerkenswert tüchtige Geschäftsfrau. «

»Das ja - vielleicht.«

»Und dir muss auch klar sein, dass sie nicht ewig leben kann. Sie wird alt, und sie ist in schlechter körperlicher Verfassung. Nach ihrem Tod wird das Vermögen meines Vaters zu gleichen Teilen unter uns Kindern aufgeteilt. Sie hat uns das Testament selbst vorgelesen, wie du weißt.«

»Wenn sie stirbt«, sagte Nadine, »ist es vielleicht zu spät.«

»Zu spät wofür?«

»Zu spät, um glücklich zu werden.«

Lennox wiederholte leise: »Zu spät, um glücklich zu werden.«

Plötzlich erschauerte er. Nadine trat näher zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter.

»Lennox, ich liebe dich. Hier geht es um einen Kampf zwischen deiner Mutter und mir. Auf wessen Seite stehst du - auf ihrer oder meiner?«

»Auf deiner! Auf deiner natürlich!«

»Dann tu, um was ich dich bitte.«

»Das kann ich nicht!«

»Doch, du kannst es. Überleg doch mal, Lennox, wir könnten Kinder haben.«

»Mutter möchte ja, dass wir Kinder haben. Sie hat es selbst gesagt.«

»Ich weiß, aber ich werde keine Kinder in die Welt setzen, die so aufwachsen müssen, wie ihr aufgewachsen seid. Euch kann eure Mutter beeinflussen, aber über mich hat sie keine Macht.«

Lennox sagte leise: »Du machst sie manchmal wütend. Das ist sehr unklug, Nadine.«

»Sie ist bloß wütend, weil sie weiß, dass sie keinen Einfluss auf mich hat und mir nicht vorschreiben kann, was ich zu denken habe!«

»Ich weiß ja, dass du immer höflich und freundlich zu ihr bist. Du bist wunderbar. Du bist zu gut für mich. Bist es immer gewesen. Als du sagtest, dass du mich heiraten würdest, konnte ich mein Glück kaum fassen.«

Nadine sagte leise: »Es war falsch von mir, dich zu heiraten.«

»Ja, es war falsch.« Lennox’ Stimme klang hoffnungslos.

»Du verstehst nicht, was ich meine. Ich will damit sagen, wenn ich damals fortgegangen wäre und dich gebeten hätte, mit mir zu kommen, dann hättest du es getan. Ja, ich glaube, du wärst mitgekommen. Aber ich war damals noch zu jung, um deine Mutter zu durchschauen und zu begreifen, worauf sie aus war.«

Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Du weigerst dich also, mit mir wegzugehen? Nun, ich kann dich nicht dazu zwingen. Aber mir steht es frei zu gehen! Und ich glaube - ich glaube, ich werde tatsächlich fortgehen.«

Lennox starrte sie ungläubig an. Zum ersten Mal antwortete er, ohne zu zögern, als hätte der träge Strom seiner Gedanken endlich schneller zu fließen begonnen. »Aber - aber - das kannst du nicht«, stammelte er. »Mutter - Mutter würde es nie zulassen.«

»Sie kann mich nicht daran hindern.«

»Aber du hast kein Geld.«

»Ich kann arbeiten, borgen, betteln oder stehlen. Versteh doch endlich, Lennox: Deine Mutter hat keine Macht über mich! Ich kann gehen oder bleiben, ganz wie es mir beliebt.

Und allmählich glaube ich, dass ich dieses Leben lange genug ertragen habe.«

»Nadine - verlass mich nicht! Bitte verlass mich nicht!«

Sie sah ihn nachdenklich an, ruhig, mit unergründlicher Miene.

»Verlass mich nicht, Nadine.«

Er sprach wie ein Kind. Sie wandte das Gesicht ab, damit er nicht die jähe Qual in ihren Augen sah.

Sie kniete neben ihm nieder.

»Dann komm mit. Geh mit mir fort! Du kannst es. Du musst es nur wollen!«

Er wich vor ihr zurück.

»Ich kann nicht. Ich kann es einfach nicht. Begreif das doch. Gott steh mir bei -ich habe nicht den Mut dazu...«

Neuntes Kapitel

Dr. Gerard betrat die Räume des Reisebüros Castle und sah dort Sarah King am Tresen stehen.

Sie blickte auf. »Oh, guten Morgen! Ich mache gerade den Ausflug nach Petra perfekt. Wie ich höre, fahren Sie nun doch mit.«

»Ja, ich konnte es so einrichten.«

»Wie schön.«

»Werden wir eine große Gruppe sein?«

»Wie man mir sagte, sind außer Ihnen und mir nur noch zwei Damen dabei. Also gerade ein Wagen voll.«

»Das wird bestimmt sehr nett«, sagte Gerard mit einer kleinen Verbeugung und widmete sich dann seinen Angelegenheiten.

Als Sarah das Reisebüro verließ, schloss er sich, mit seiner Post in der Hand, ihr wieder an. Es war ein klarer, sonniger Tag, und die Luft war ausgesprochen frisch.

»Was gibt es Neues von unseren Freunden, den Boyntons?«, erkundigte sich Dr. Gerard. »Ich war in Nazareth und Bethlehem und einigen anderen Orten -ein dreitägiger Ausflug.«

Langsam und fast widerstrebend berichtete Sarah von ihren fruchtlosen Bemühungen, Kontakt herzustellen.

»Jedenfalls hatte ich keinen Erfolg«, sagte sie abschließend. »Und heute reisen sie ab.«

»Wohin fahren sie?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Ärgerlich fuhr sie fort: »Ich habe das dumme Gefühl, dass ich mich ziemlich zum Narren gemacht habe.«

»In welcher Hinsicht?«

»Mich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. «

Gerard zuckte die Schultern. »Das ist Ansichtssache.«

»Sie meinen, ob man sich einmischen soll oder nicht?«

»Ja.«

»Tun Sie es?«

Der Franzose schien amüsiert zu sein. »Sie meinen, ob ich die Angewohnheit habe, mich mit den Problemen anderer Leute zu befassen? Um ganz ehrlich zu sein: Nein.«

»Dann halten Sie es also für falsch, dass ich versucht habe, mich einzumischen?«

»Nein, o nein, Sie missverstehen mich.« Gerard sprach schnell und mit Nachdruck weiter. »Für mich ist es eine rein akademische Frage, ob man - wenn man sieht, dass Unrecht geschieht - versuchen sollte, etwas dagegen zu unternehmen. Das eigene Eingreifen kann von Nutzen sein -aber es kann auch unermesslichen Schaden anrichten! Es lassen sich hierzu keine festen Regeln aufstellen. Manche Leute haben eine Begabung dafür, sich einzumischen - sie machen ihre Sache gut! Andere gehen dabei plump vor und sollten besser die Finger davon lassen! Aber es ist auch eine Frage des Alters. Junge Menschen besitzen den Mut ihrer Ideale und Überzeugungen - ihre Wertvorstellungen sind eher theoretischer als praktischer Art. Sie wissen noch nicht aus eigener Erfahrung, dass Theorie und Praxis zweierlei Dinge sind! Wenn man an sich selbst und an die Rechtmäßigkeit seines Tuns glaubt, kann man oft Dinge erreichen, die den Einsatz wirklich lohnen. Nebenbei bemerkt, richtet man dabei aber auch oft sehr viel Schaden an. Ein älterer Mensch dagegen besitzt Erfahrung. Er hat festgestellt, dass es in den meisten Fällen mehr schadet als nützt, wenn man versucht, sich einzumischen - und darum unterlässt er es klugerweise! Das Resultat ist praktisch das gleiche: Der engagierte junge Mensch richtet nicht nur Schaden an, sondern tut auch Gutes, und der vorsichtig gewordene ältere Mensch tut keins von beiden.«

»Was Sie da sagen, ist nicht gerade hilfreich«, wandte Sarah ein.

»Kann ein Mensch einem anderen denn überhaupt helfen? Aber es ist Ihr Problem, nicht meines.«

»Heißt das, dass Sie im Fall der Boyntons nichts unternehmen werden?«

»Genau. Ich hätte keinerlei Aussichten auf Erfolg.«

»Dann habe ich wohl auch keine.«

»Bei Ihnen könnte es sich anders verhalten.«

»Wieso?«

»Weil Sie über besondere Voraussetzungen verfügen. Die Zugkraft Ihrer Jugend und Ihres Geschlechts.«

»Meines Geschlechts? Ach so.«

»Darauf läuft es letzten Endes immer hinaus, habe ich Recht? Bei dem jungen Mädchen hatten Sie kein Glück. Das bedeutet nicht, dass es Ihnen bei dem Bruder ebenso ergehen muss. Was Sie mir vorhin erzählt haben - von dem, was Carol Boynton Ihnen sagte -, zeigt deutlich, von welcher Seite Mrs. Boyntons Herrschsucht Gefahr droht. Der älteste Sohn, Lennox, widersetzte sich ihr im Überschwang des frühen Mannesalters. Er schlich sich aus dem Haus, ging tanzen. Das Verlangen nach einer Gefährtin war stärker als der hypnotische Bann. Aber die alte Frau wusste um die Macht des Geschlechtstriebs. Bei ihrem Beruf wird sie oft genug damit konfrontiert gewesen sein. Und so fand sie eine raffinierte Lösung: holte ein hübsches, aber mittelloses junges Mädchen ins Haus, begünstigte eine Heirat - und erwarb dadurch einen weiteren Sklaven.«

Sarah schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass die junge Mrs. Boynton ihre Sklavin ist.«

Gerard stimmte ihr zu.

»Nein, vermutlich nicht. Ich glaube, dass die alte Mrs. Boynton Nadines Willenskraft und Charakterstärke unterschätzte, weil sie ruhig und fügsam war. Nadine Boynton war damals noch zu jung und unerfahren, um die Situation richtig einzuschätzen. Inzwischen kennt sie sie genau, aber jetzt ist es zu spät.«

»Glauben Sie, dass sie die Hoffnung aufgegeben hat?«

Dr. Gerard schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Falls sie Pläne hat, dann weiß bestimmt niemand davon. Es gibt da gewisse Möglichkeiten, was Mr. Cope betrifft. Der Mensch ist von Natur aus eifersüchtig -und Eifersucht ist ein starker Antrieb. Lennox Boynton könnte noch aus der Lethargie zu reißen sein, in der er zu versinken droht.«

»Und Sie meinen« - Sarah bemühte sich bewusst um einen sachlichen und geschäftsmäßigen Ton -, »dass eine Chance besteht, dass ich bei Raymond etwas ausrichten könnte?«

»Ja.«

Sarah seufzte. »Ich hätte es ja versuchen können. Aber jetzt ist es sowieso zu spät. Im Übrigen ist mir ohnehin nicht ganz wohl dabei.«

Gerard schien amüsiert zu sein. »Weil Sie Engländerin sind! Die Engländer haben Komplexe, was das Sexuelle betrifft. Sie halten es für >nicht salonfähig <.«

Sarahs indignierte Reaktion beeindruckte ihn nicht.

»Aber es ist so! Ich weiß, dass Sie sehr modern sind, dass Sie in aller Öffentlichkeit die ungehörigsten Wörter benutzen, die Sie im Lexikon finden können, dass Sie nüchtern und absolut ungeniert sind! Tout de même behaupte ich, dass Sie sich nicht von Ihrer Mutter und Ihrer Großmutter unterscheiden. Sie sind noch immer die züchtig errötende englische Miss, auch wenn sie nicht mehr erröten!«

»Ich habe noch nie einen solchen Unsinn gehört!«

Mit einem verschmitzten Zwinkern und völlig ungerührt fügte Dr. Gerard hinzu: »Und Sie sehen dabei entzückend aus.«

Diesmal war Sarah sprachlos.

Dr. Gerard zog eilends den Hut. »Ich will mich lieber verabschieden«, sagte er, »bevor Sie Zeit haben, alles auszusprechen, was Ihnen jetzt im Kopf herumgeht.« Er verzog sich rasch ins Hotel.

Sarah folgte ihm langsam.

Vor dem Hotel herrschte ziemlich viel Betrieb. Mehrere mit Gepäck beladene Autos waren im Begriff abzufahren. Lennox und Nadine Boynton standen mit Mr. Cope neben einer schweren Limousine und überwachten die Vorbereitungen zur Abreise. Ein dicker Dragoman redete in einem kaum verständlichen Kauderwelsch auf Carol ein.

Sarah ging wortlos an ihnen vorbei und betrat das Hotel.

Mrs. Boynton saß, in einen dicken Mantel gehüllt, aufbruchbereit in einem Sessel. Als Sarah sie betrachtete, merkte sie, wie ihre Gefühle gegenüber der alten Frau plötzlich umschlugen. Sie hatte Mrs. Boynton für eine finstere Macht gehalten, für die Verkörperung heimtückischer Böswilligkeit.

Auf einmal sah sie in der alten Frau nur noch eine bemitleidenswerte, armselige Figur. Mit einer solchen Machtgier geboren zu sein, einem solchen Verlangen, andere zu beherrschen - und dann nichts weiter als ein kleiner Haustyrann zu werden! Wenn doch ihre Kinder sie so sehen könnten, wie Sarah sie in diesem Moment sah - ein Gegenstand des Mitleids, eine dumme, bösartige, armselige, sich aufspielende alte Frau. Sarah ging spontan zu ihr hinüber.

»Auf Wiedersehen, Mrs. Boynton«, sagte sie. »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.«

Die alte Dame blickte auf. In ihren Augen kämpften Feindseligkeit und Empörung miteinander.

»Sie hatten es darauf angelegt, unhöflich zu mir zu sein«, sagte Sarah. (Sie fragte sich, ob sie verrückt geworden war, was in aller Welt sie dazu brachte, so zu reden.)

»Sie haben versucht, Ihren Sohn und Ihre Tochter daran zu hindern, sich mit mir anzufreunden. Finden Sie nicht, dass das ausgesprochen albern und kindisch ist? Sie stellen sich gern als eine Art Ungeheuer dar, aber wissen Sie, im Grunde sind Sie lediglich bemitleidenswert und ziemlich lächerlich. Wenn ich Sie wäre, würde ich mit dem albernen Theater aufhören. Ich nehme an, dass ich mich mit meiner Offenheit bei Ihnen sehr unbeliebt mache, aber ich meine es ernst - und hoffe, dass etwas davon hängen bleibt. Sie könnten noch viel Freude am Leben haben. Es ist nämlich wirklich viel besser, freundlich und nett zu sein. Sie müssen es nur einmal versuchen.«

Sie hielt inne.

Mrs. Boynton war wie zur Salzsäule erstarrt. Schließlich fuhr sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, ihr Mund öffnete sich - aber ihr fehlten noch immer die Worte.

»Nur zu!«, sagte Sarah aufmunternd. »Sprechen Sie es aus! Es ist mir egal, was Sie sagen. Aber denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe.«

Endlich fand Mrs. Boynton die Sprache wieder - und ihre leise, raue, aber durchdringende Stimme. Ihr Basiliskenblick ruhte nicht auf Sarah, sondern seltsamerweise auf einem Punkt hinter ihr. Sie schien ihre Worte nicht an Sarah zu richten, sondern an einen vertrauten Geist.

»Ich vergesse nichts«, sagte sie. »Merken Sie sich das gut. Ich vergesse niemals etwas - keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht...«

Die Worte selbst hatten nicht viel zu besagen, aber die Gehässigkeit, mit der sie ausgesprochen wurden, ließ Sarah einen Schritt zurückweichen. Und dann lachte Mrs. Boynton - lachte auf eine ganz widerwärtige Weise.

Sarah zuckte die Schultern und sagte: »Sie tun mir Leid.«

Sie wandte sich ab und ging zum Fahrstuhl, wo sie beinahe mit Raymond Boynton zusammengestoßen wäre. Einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte sie schnell: »Auf Wiedersehen. Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Reise. Vielleicht begegnen wir uns einmal wieder.« Sie schenkte ihm ein warmes, freundliches Lächeln und ging rasch weiter.

Raymond stand wie versteinert da. Er war so in Gedanken versunken, dass der kleine Mann mit dem großen Schnurrbart, der den Lift verlassen wollte, mehrmals »Pardon!« sagen musste.

Endlich hörte ihn Raymond und trat zur Seite.

»Entschuldigung«, sagte er. »Ich war mit meinen Gedanken woanders.«

Carol kam auf ihn zu.

»Ray, würdest du bitte Jinny holen? Sie ist noch mal auf ihr Zimmer gegangen. Wir können j etzt fahren. «

»Klar. Ich sage ihr, dass sie gleich herunterkommen soll.«

Raymond nahm den Lift.

Hercule Poirot stand da und sah ihm mit leicht gerunzelter Stirn nach, den Kopf wie lauschend schief gelegt.

Dann nickte er zustimmend vor sich hin. Auf dem Weg durch die Halle warf er einen langen Blick auf Carol, die sich zu ihrer Mutter gesetzt hatte.

Dann winkte er dem Oberkellner, der gerade vorbeiging.

»Pardon. Könnten Sie mir sagen, wie die Herrschaften von drüben heißen?«

»Ihr Name ist Boynton, Monsieur. Sie sind Amerikaner.«

»Vielen Dank«, sagte Hercule Poirot.

In der dritten Etage kamen Dr. Gerard, der sich auf dem Weg zu seinem Zimmer befand, Raymond Boynton und Ginevra entgegen, die zum Fahrstuhl gingen. Gerade als sie im Begriff waren einzusteigen, sagte Ginevra: »Warte bitte einen Moment im Lift auf mich, Ray.«

Sie lief zurück, bog um eine Ecke und holte Dr. Gerard ein. »Bitte - ich muss Sie sprechen.«

Gerard sah sie erstaunt an.

Das Mädchen trat dicht an ihn heran und packte seinen Arm.

»Sie wollen mich wegbringen! Vielleicht sogar töten. Ich gehöre gar nicht zu ihnen, müssen Sie wissen. Mein richtiger Name ist gar nicht Boynton.«

Sie sprach hastig weiter, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.

»Ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Ich bin - ich bin nämlich königlichen Geblüts! Wirklich! Und darum

- darum bin ich überall von Feinden umringt. Sie wollen mich vergiften - mir alles Mögliche antun. Wenn Sie mir helfen könnten zu fliehen, dann - «

Sie brach ab, da Schritte zu hören waren.

»Jinny?«

Sie machte eine erschrockene Bewegung, die sie sehr schön aussehen ließ, legte den Finger an die Lippen, warf Gerard einen flehenden Blick zu und lief zum Fahrstuhl.

»Ich komme, Ray.«

Dr. Gerard ging mit verdutzter Miene weiter. Dann schüttelte er langsam den Kopf und runzelte die Stirn.

Zehntes Kapitel

Es war der Morgen des Aufbruchs nach Petra.

Als Sarah herunterkam, sah sie eine große, herrische Frau mit Pferdegesicht vor dem Eingang stehen, die ihr schon früher im Hotel aufgefallen war und die lautstark gegen die Größe des Wagens protestierte.

»Ausgeschlossen! Auf gar keinen Fall! Der soll für vier Personen sein? Und einen Dragoman? Da brauchen wir selbstverständlich eine wesentlich größere Limousine. Sie bringen diesen Wagen auf der Stelle zurück und beschaffen einen adäquateren ! «

Vergebens erhob der Vertreter der Firma Castle die Stimme, um alles zu erklären. Dass dies genau der Wagentyp sei, der immer zur Verfügung gestellt werde. Dass das wirklich ein sehr komfortabler Wagen sei. Dass ein größerer Wagen für Wüstenfahrten ungeeignet sei. Doch die stattliche Frau ging, metaphorisch gesprochen, über ihn hinweg wie eine Dampfwalze.

Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit Sarah zu.

»Miss King? Ich bin Lady Westholme. Sie stimmen mir doch zu, dass dieser Wagen absolut unzumutbar ist?«

»Tja«, sagte Sarah vorsichtig, »ich muss zugeben, dass ein größerer tatsächlich komfortabler wäre.«

Der junge Mann von der Firma Castle murmelte, dass ein größerer Wagen nur gegen Aufpreis zu haben sei.

»In Ihrem Preis«, sagte Lady Westholme bestimmt, »ist alles eingeschlossen, und ich weigere mich ganz entschieden, einen Aufschlag zu bezahlen. In Ihrem Prospekt steht klipp und klar: >in bequemer Limousine<. Und Sie werden die Bedingungen des Vertrags erfüllen.«

Der junge Mann von der Firma Castle gab sich geschlagen, murmelte etwas davon, dass er sehen werde, was sich machen lasse, und verzog sich.

Lady Westholme sah Sarah an, ein triumphierendes Lächeln im wettergegerbten Gesicht, die breiten roten Pferdenüstern frohlockend gebläht.

Lady Westholme war eine prominente Persönlichkeit im politischen Leben Englands. Als Lord Westholme, ein Angehöriger des britischen Hochadels, ein Mann von mittlerem Alter und schlichter Gemütsart, dessen einzige Interessen im Leben Jagen, Schießen und Fischen waren, eines Tages von einer Reise in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, befand sich unter den Passagieren an Bord auch eine Mrs. Vansittart. Kurz darauf wurde aus Mrs. Vansittart Lady Westholme. Die Verbindung wurde oft als anschaulicher Beweis für die Gefahren einer Schiffsreise angeführt. Die neue Lady Westholme trug nur noch Tweed und derbe Schuhe, züchtete Hunde, drangsalierte die Dorfbewohner und drängte ihren Gatten erbarmungslos, ein öffentliches Amt anzustreben. Als jedoch selbst sie einsehen musste, dass die Politik nicht Lord Westholmes Sache war und es auch nie sein würde, gestattete sie ihm gnädig, sich wieder seinen sportlichen Aktivitäten zuzuwenden, und kandidierte selbst für das Parlament. Nachdem sie mit deutlicher Mehrheit gewählt worden war, stürzte sich Lady Westholme mit Feuereifer in die Politik, wo sie sich insbesondere in den parlamentarischen Fragestunden hervortat. Schon bald erschienen die ersten Karikaturen von ihr (immer ein untrügliches Zeichen für Erfolg). Als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens trat sie ein für die altmodischen Werte der Familie, für die Verbesserung der Stellung der Frau und war eine glühende Verfechterin des Völkerbundes. Sie hatte entschiedene Ansichten in puncto Landwirtschaft, Wohnungsbau und was die Sanierung von Elendsvierteln betraf. Sie flößte allgemein Respekt ein und machte sich fast überall unbeliebt! Jedermann ging davon aus, dass sie Unterstaatssekretärin werden würde, wenn ihre Partei wieder ans Ruder kam. Im Augenblick waren allerdings (aufgrund eines Zerwürfnisses der Koalitionsregierung aus Labour und Konservativen) wider Erwarten die Liberalen an der Macht.

Lady Westholme blickte mit grimmiger Befriedigung dem abfahrenden Wagen nach. »Männer glauben immer, sie könnten sich bei Frauen alles erlauben«, sagte sie.

Sarah dachte, dass ein Mann, der glaubte, sich bei Lady Westholme Freiheiten herausnehmen zu können, eine gehörige Portion Mut besitzen musste! Sie stellte Dr. Gerard vor, der gerade aus dem Hotel gekommen war.

»Ihr Name ist mir natürlich bekannt«, sagte Lady Westholme und schüttelte ihm die Hand. »Ich sprach neulich in Paris mit Professor Chantereau. Ich befasse mich in letzter Zeit nämlich eingehend mit dem Problem der Behandlung mittelloser Geisteskranker. Sehr eingehend sogar. Wollen wir nicht hineingehen und drinnen warten, bis ein besserer Wagen gebracht wird?«

Eine unscheinbare kleine Frau mittleren Alters mit grauen Haarsträhnen, die sich in der Nähe aufgehalten hatte, erwies sich als Miss Amabel Pierce, das vierte Mitglied der Reisegesellschaft. Auch sie wurde unter Lady Westholmes fürsorglichen Fittichen in die Halle expediert.

»Sind Sie berufstätig, Miss King?«

»Ja. Ich bin Ärztin.«

»Gut«, sagte Lady Westholme beifällig und etwas gönnerhaft. »Wenn sich auf der Welt etwas ändern soll, dann nur durch den tätigen Einsatz von Frauen, das können Sie mir glauben!«

Sarah, der ihr eigenes Geschlecht zum ersten Mal ein gewisses Unbehagen verursachte, folgte Lady Westholme gehorsam zu einer Sitzgruppe.

Während sie dort saßen und warteten, unterrichtete Lady Westholme alle davon, dass sie die Einladung, während ihres Aufenthaltes in Jerusalem beim Hochkommissar zu logieren, abgelehnt hatte. »Ich wollte mich nicht durch offizielle Verpflichtungen einengen lassen. Ich wollte mir selbst ein Bild machen.«

»Wovon?«, erkundigte sich Sarah.

Woraufhin Lady Westholme ihr auseinander setzte, dass sie im Solomon abgestiegen war, um tun und lassen zu können, was sie wollte. Ergänzend fügte sie hinzu, dass sie dem Hoteldirektor bereits mehrere Vorschläge bezüglich einer kompetenteren Führung des Hauses unterbreitet habe.

»Immer effizient sein«, sagte Lady Westholme, »das ist meine Devise!«

Sie schien es in der Tat zu sein. Schon eine Viertelstunde später fuhr ein großer und äußerst bequemer Wagen vor, und zu gegebener Zeit - nachdem Lady Westholme exakte Anweisungen gegeben hatte, wie das Gepäck zu verstauen war -brach die Gesellschaft auf.

Am Toten Meer wurde das erste Mal Halt gemacht. Zu Mittag aßen sie in Jericho. Danach war Lady Westholme, mit dem Baedeker bewaffnet, zusammen mit Miss Pierce, dem Doktor und dem beleibten Dragoman zu einem Rundgang durch das alte Jericho aufgebrochen, während Sarah im Garten des Hotels geblieben war.

Sie hatte leichte Kopfschmerzen und wollte allein sein. Tiefe Niedergeschlagenheit hatte sich ihrer bemächtigt -eine Niedergeschlagenheit, die sie sich nicht erklären konnte. Sie war auf einmal lustlos und desinteressiert, wollte nichts besichtigen, fühlte sich von ihren Mitreisenden angeödet. In diesem Augenblick wünschte sie nur, sie hätte sich nie auf diesen Abstecher nach Petra eingelassen. Der Ausflug würde sehr kostspielig werden, und sie war überzeugt, dass sie ihn nicht genießen würde! Lady Westholmes dröhnende Stimme, das ununterbrochene Geschnatter von Miss Pierce und das antizionistische Lamento des Dragomans strapazierten ihre Nerven schon jetzt über Gebühr. Fast ebenso sehr missfiel ihr Dr. Gerards amüsierte Miene, als wüsste er ganz genau, was in ihr vorging.

Sie fragte sich, wo die Boyntons jetzt wohl waren. Vielleicht waren sie nach Syrien weitergefahren, waren in Baalbek oder in Damaskus. Und Raymond — was er wohl gerade machte? Seltsam, wie deutlich sie sein Gesicht vor sich sah — den Eifer, die Schüchternheit, die nervöse Spannung, die darin lagen.

Ach, zum Teufel! Wozu noch an Leute denken, die ihr wahrscheinlich nie mehr über den Weg laufen würden? Die Szene mit der alten Frau - was war bloß in sie gefahren, auf die alte Dame loszumarschieren und eine Menge Unsinn vom Stapel zu lassen! Bestimmt hatten auch andere Leute etwas davon mitbekommen. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Lady Westholme sich in der Nähe aufgehalten hatte. Sarah versuchte sich darauf zu besinnen, was genau sie zu Mrs. Boynton gesagt hatte. Irgendetwas, das völlig abstrus und hysterisch geklungen haben musste. Gütiger Himmel, sich derart zum Narren zu machen! Aber eigentlich war es ja nicht ihre Schuld, sondern die von Mrs. Boynton. Die Frau hatte etwas an sich, das einen zum Äußersten trieb.

Dr. Gerard kam in den Garten, ließ sich auf einen Stuhl fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Puh! Man sollte das Weib vergiften!«, verkündete er.

Sarah schreckte hoch.

»Mrs. Boynton?«

»Wieso Mrs. Boynton? Nein, ich spreche von dieser Lady Westholme! Ich finde es einfach unglaublich, dass sie seit Jahren verheiratet ist und dass ihr Herr Gemahl es nicht schon längst getan hat! Was ist das nur für ein Mann?«

Sarah lachte.

»Nun, er ist einer von denen, die nur Jagen und Fischen im Kopf haben«, erwiderte sie.

»Psychologisch gesehen absolut verständlich! Er lässt seinen wilden Drang zu töten an der so genannten niederen Kreatur aus.«

»Angeblich ist er sehr stolz auf die Aktivitäten seiner Frau.«

Der Franzose meinte trocken: »Weil sie ihre häufige Abwesenheit von zu Hause erfordern. Das kann ich gut verstehen.«

Dann fuhr er fort: »Sagten Sie gerade Mrs. Boynton? Zweifellos wäre es eine ausgezeichnete Idee, auch diese Dame zu vergiften. Unbestreitbar die einfachste Lösung für die Probleme ihrer Familie! Man sollte überhaupt eine ganze Reihe von Frauen vergiften. Nämlich alle, die alt und hässlich geworden sind.«

Er schnitt eine viel sagende Grimasse.

Sarah rief lachend aus: »Ach, ihr Franzosen! Eine Frau, die nicht jung und attraktiv ist, existiert für euch einfach nicht!«

Gerard zuckte mit den Schultern.

»Wir sind in dieser Hinsicht nur ehrlicher, das ist alles. Stehen etwa Engländer in der U-Bahn oder im Zug wegen einer hässlichen Frau auf? O nein!«

»Das Leben ist schon deprimierend«, sagte Sarah und seufzte.

»Sie haben keinen Grund zu seufzen, Mademoiselle.«

»Ach, ich bin heute einfach schlecht gelaunt.«

»V erständlich. «

»Was heißt hier >verständlich

»Sie könnten die Ursache leicht herausfinden, wenn Sie Ihre innere Verfassung ehrlich analysieren würden.«

»Ich glaube, dass mir unsere Mitreisenden aufs Gemüt schlagen«, sagte Sarah. »Es klingt bestimmt schrecklich, aber ich hasse Frauen! Wenn sie albern und unbedarft sind wie Miss Pierce, machen sie mich rasend — und wenn sie so effizient sind wie Lady Westholme, regen sie mich noch viel mehr auf.«

»Meiner Meinung nach ist es unvermeidlich, dass Ihnen die beiden Damen auf die Nerven gehen. Lady Westholme ist wie geschaffen für das Leben, das sie führt; sie ist rundum glücklich und zufrieden, und sie hat Erfolg. Miss Pierce war viele Jahre als Gouvernante tätig und hat plötzlich ein bisschen Geld geerbt, das ihr erlaubt, sich den größten Wunsch ihres Lebens zu erfüllen und zu reisen. Bis jetzt hat das Reisen alle ihre Erwartungen erfüllt. Aber da Ihnen gerade ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde und Sie nicht bekommen haben, was Sie wollten, ärgern Sie sich natürlich über Leute, die im Leben mehr erreicht haben als Sie.«

»Wahrscheinlich haben Sie Recht«, sagte Sarah trübsinnig. »Im Gedankenlesen scheinen Sie geradezu unverschämt gut zu sein. Ich versuche mir immer wieder etwas vorzumachen, und Sie hindern mich daran.«

In dem Moment kamen die anderen zurück. Der Erschöpfteste von den dreien schien der Führer zu sein. Er war ziemlich kleinlaut und gab auf der Fahrt nach Amman kaum Erklärungen von sich. Er erwähnte nicht einmal die Juden. Wofür alle zutiefst dankbar waren. Seine wortreichen und fanatischen Schilderungen ihrer Schandtaten hatten seit der Abfahrt in Jerusalem viel dazu beigetragen, jedermanns Nerven über Gebühr zu strapazieren.

Die kurvenreiche Straße schlängelte sich nun vom Jordantal bergauf, wo vereinzelte Oleanderbüsche ihre rosafarbenen Blüten entfalteten.

Sie erreichten Amman am späten Nachmittag und gingen, nach einer kurzen Besichtigung des griechisch-römischen Theaters, früh zu Bett. Sie wollten am nächsten Morgen beizeiten aufbrechen, da man für die Fahrt durch die Wüste nach Ma’an einen ganzen Tag brauchte.

Kurz nach acht Uhr fuhren sie los. Alle schienen ziemlich wortkarg zu sein. Der Tag war drückend heiß, und als sie gegen Mittag anhielten, um Picknick zu machen, herrschte eine wahrhaft brütende Hitze. Der Zwang, den ganzen heißen Tag lang mit drei anderen auf engstem Raum eingepfercht zu sein, stellte alle auf eine harte Probe.

Lady Westholme und Dr. Gerard hatten eine leicht gereizte Auseinandersetzung über den Völkerbund. Lady Westholme war eine glühende Verfechterin des Völkerbundes, wohingegen es dem Franzosen gefiel, gehörig über besagte Institution zu lästern. Nachdem die Haltung des Völkerbundes gegenüber Abessinien und Spanien ausgiebig erörtert worden war, kamen sie auf den litauischen Grenzkonflikt zu sprechen, von dem Sarah noch nie etwas gehört hatte, und danach auf die Maßnahmen besagten Völkerbundes, Drogenbanden das Handwerk zu legen.

»Sie müssen doch zugeben, dass da hervorragende Arbeit geleistet wird. Ungeheuer wichtige Arbeit!«, fauchte Lady Westholme.

Dr. Gerard zuckte mit den Schultern. »Mag sein. Aber auch mit einem ungeheuren finanziellen Aufwand!«

»Die Sache ist äußerst ernst. Das Betäubungsmittelgesetz besagt, dass.« Der Disput ging weiter.

Miss Pierce zwitscherte, an Sarah gewandt: »Es ist wirklich hochinteressant, mit Lady Westholme zu reisen.«

»Ach ja?«, sagte Sarah bissig, doch Miss Pierce schien den scharfen Ton nicht zu bemerken und plapperte munter weiter.

»Ich habe ihren Namen schon so oft in der Zeitung gesehen. Es ist einfach fabelhaft, dass Frauen in die Politik gehen und dort ihren Mann stehen. Ich bin immer so froh, wenn eine Frau etwas erreicht.«

»Warum?«, fragte Sarah hitzig.

Miss Pierce blieb der Mund offen stehen, und sie stammelte: »Oh, weil — ich meine — weil es — nun ja — weil es eben so schön ist, wenn Frauen etwas bewirken können!«

»Da bin ich anderer Meinung«, sagte Sarah. »Es ist schön, wenn ein Mensch ein lohnenswertes Ziel erreicht! Ganz gleich, ob das ein Mann oder eine Frau ist. Warum sollte das Geschlecht eine Rolle spielen?«

»Nun ja, gewiss.«, sagte Miss Pierce. »Ich muss zugeben — wenn man es natürlich so betrachtet.«

Aber ihr schien dabei nicht ganz wohl zu sein. Sarah sagte in freundlicherem Ton: »Es tut mir Leid, aber ich hasse nun einmal dieses Unterscheiden zwischen Mann und Frau. >Die moderne Frau hat eine durch und durch praktische Lebenseinstellung. < So in der Art. Aber das stimmt überhaupt nicht! Es gibt Frauen, die praktisch veranlagt sind, und andere, die es nicht sind. Es gibt Männer, die gefühlsbetont und verworren sind, und andere, die klar und logisch denken. Es ist alles nur eine Frage des Verstandes. Das Geschlecht spielt nur dort eine Rolle, wo es direkt um Sex geht.«

Bei dem Wort »Sex« errötete Miss Pierce ein wenig und wechselte geschickt das Thema.

»Man kann nicht umhin, sich nach ein klein wenig Schatten zu sehnen«, murmelte sie. »Dennoch finde ich, dass diese Leere etwas Wundervolles hat, meinen Sie nicht auch?«

Sarah nickte.

Ja, dachte sie, die Leere war tatsächlich wunderbar. Heilend und friedvoll. Keine Menschen, die einen mit ihren langweiligen zwischenmenschlichen Beziehungen nervten. Keine brennenden persönlichen Probleme! Erst jetzt hatte sie endlich das Gefühl, von den Boyntons frei zu sein. Befreit von dem seltsamen, unwiderstehlichen Drang, sich in das Leben von Leuten einzumischen, deren Welt die ihre nicht im Entferntesten berührte. Sie fühlte sich getröstet und mit sich selbst im Reinen. Hier war Einsamkeit, Leere, Weite. Und Frieden.

Nur, dass man eben nicht allein war, um es auch genießen zu können! Lady Westholme und Dr. Gerard hatten das Thema Rauschgift abgeschlossen und disputierten nun über arglose junge Frauen, die mittels übler Machenschaften in argentinische Nachtlokale verschleppt wurden. Dr. Gerard hatte während des ganzen Gesprächs eine Leichtfertigkeit an den Tag gelegt, die Lady Westholme, die wie alle waschechten Politiker keinerlei Sinn für Humor besaß, nur bedauerlich finden konnte.

»Wir jetzt fahren, ja?«, verkündete der Dragoman, dessen Kopf ein Fes zierte, und begann wieder über die Schandtaten der Juden zu lamentieren.

Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichten sie schließlich Ma’an. Merkwürdige Männer mit wilden Gesichtern umringten den Wagen. Nach kurzem Aufenthalt ging die Fahrt weiter.

Bei der Betrachtung der ebenen Wüstenlandschaft fragte sich Sarah, wo hier eigentlich die Felsenstadt Petra liegen sollte. Rundum konnte man meilenweit sehen, doch da war nichts! Nirgendwo Berge, nicht einmal Hügel. Waren sie denn immer noch so weit vom Ziel ihrer Reise entfernt?

Sie erreichten das Dorf Wadi Musa, wo die Straße endete und man den Wagen zurücklassen musste. Dort warteten Pferde auf sie — klapprige, abgemagerte Tiere. Miss Pierce machte die Unzulänglichkeit ihres gestreiften Waschkleides sehr zu schaffen. Lady Westholme hatte sich vernünftigerweise für Breecheshosen entschieden, die ihre Figur zwar alles andere als vorteilhaft unterstrichen, aber zumindest praktisch waren.

Die Pferde wurden auf einem abschüssigen, mit Geröll bedeckten Pfad aus dem Dorf geführt. Das Gelände senkte sich, und die Pferde trotteten im Zickzack bergab. Es war kurz vor Sonnenuntergang.

Sarah war von der langen, heißen Autofahrt erschöpft. Sie fühlte sich wie betäubt. Der Ritt hatte etwas Unwirkliches. Als sie später daran zurückdachte, kam es ihr vor, als hätte sich der Schlund der Hölle vor ihren Füßen aufgetan. Der Weg wand sich hinab — hinab in die Tiefe. Um sie herum ragten Felsformationen auf — und es ging noch immer hinab, hinab ins Innere der Erde, durch ein Labyrinth roter Felswände, die sich nun zu beiden Seiten auftürmten. Sarah glaubte, ersticken zu müssen — erdrückt zu werden von der immer enger werdenden Schlucht.

Sie dachte benommen: Hinab in das Tal des Todes — hinab in das Tal des Todes.

Weiter und weiter. Es wurde dunkel — das kräftige Rot der Felswände verblasste — und immer weiter auf dem gewundenen Pfad, eingesperrt, verschwunden im Inneren der Erde.

Sie dachte: »Phantastisch und unglaublich. eine tote Stadt.«

Und wieder gingen ihr die Worte »das Tal des Todes« im Kopf herum.

Dann wurden Laternen angezündet. Die Pferde schoben sich durch die gewundenen engen Gänge. Plötzlich wichen die Felswände zurück, und sie traten in ein weites Tal hinaus. In der Ferne waren Lichter zu erkennen.

»Das ist Camp!«, sagte der Führer.

Die Pferde beschleunigten ihre Schritte — nicht sehr, denn dafür waren sie zu unterernährt und mutlos, aber sie ließen immerhin eine Spur von Begeisterung erkennen. Der Weg führte nun an einem ausgetrockneten Wadi entlang. Die Lichter kamen näher.

Sie konnten eine Gruppe von Zelten ausmachen und weiter oben, direkt am Fuß einer steilen Felswand, eine weitere Reihe. Und Höhlen, die in den Fels gehauen worden waren.

Sie waren am Ziel. Beduinische Diener kamen gelaufen.

Sarah starrte zu einer der Höhlen hinauf. Eine Gestalt zeichnete sich dort ab. Was mochte das sein? Ein Idol? Ein mächtiges kauerndes Götzenbild?

Nein, es war nur der flackernde Lichtschein, der die Figur so bedrohlich wirken ließ. Aber es musste irgendein Idol sein, was dort so regungslos verharrte und brütend herabblickte.

Und dann machte Sarahs Herz plötzlich einen Satz, und sie wusste, was dort saß.

Verflogen war das Gefühl von Ruhe und Frieden, von Ungebundenheit, das die Wüste ihr gegeben hatte. Sie war aus der Freiheit in die Gefangenschaft zurückgeführt worden. Sie war in dieses dunkle gewundene Tal hinuntergeritten, und hier saß, wie die Hohepriesterin eines vergessenen Kultes, wie ein monströser aufgedunsener weiblicher Buddha — Mrs. Boynton.

Elftes Kapitel

Mrs. Boynton war hier, hier in Petra!

Sarah gab mechanisch Antwort auf die Fragen, die man ihr stellte. Ob sie gleich zu Abend essen wolle — es sei alles bereit — oder ob sie sich erst frisch machen wolle? Ob sie lieber im Zelt oder in einer Höhle zu schlafen wünsche?

Die letzte Frage beantwortete sie, ohne zu zögern. Im Zelt. Der Gedanke an eine Höhle ließ sie zusammenzucken, und sie sah wieder die monströse kauernde Gestalt vor sich. (Wieso hatte man das Gefühl, dass diese Frau kaum menschliche Züge an sich hatte?)

Dann folgte sie einem der einheimischen Diener. Er trug khakifarbene Reithosen, die an mehreren Stellen geflickt waren, schlampige Wickelgamaschen und ein zerschlissenes Herrenjackett, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Dazu die Kefije, die traditionelle Kopfbedeckung der Beduinen, deren auch den Nacken bedeckende Fülle von einer eng um den Kopf geschlungenen schwarzen Seidenschnur zusammengehalten wurde. Sarah bewunderte den leichten, schwingenden Gang des Mannes, die selbstbewusste stolze Kopfhaltung. Geschmacklos und billig wirkten nur die europäischen Teile seiner Kleidung. Sie dachte: Zivilisation ist auch nicht das Wahre — nein, ganz und gar nicht! Wenn wir nicht so zivilisiert wären, gäbe es keine Mrs. Boynton! Bei den Wilden hätte man sie schon längst abgemurkst und verspeist!

Leicht belustigt gestand sie sich ein, dass sie übermüdet und gereizt war. Aber nachdem sie sich mit heißem Wasser gewaschen und etwas Puder aufgetragen hatte, war sie wieder sie selbst — beherrscht, ausgeglichen und von ihrer panikartigen Reaktion vorhin peinlich berührt.

Sie kämmte ihr dichtes schwarzes Haar und betrachtete sich dann im flackernden Licht einer kleinen Öllampe von allen Seiten in einem höchst unzulänglichen Spiegel.

Dann schlug sie die Plane am Eingang zurück und trat hinaus in die Nacht, um zu dem weiter unten gelegenen großen Gemeinschaftszelt zu gehen.

»Sie — hier?«

Es klang wie ein leiser Aufschrei, verblüfft, ungläubig.

Sie drehte sich um und blickte direkt in Raymond Boyntons Augen. Wie fassungslos sie sie ansahen! Aber da war noch etwas anderes, etwas, das Sarah sprachlos und beklommen machte. Eine unglaubliche Freude. als hätte der junge Mann einen Blick ins Paradies getan, so verwundert, benommen, dankbar, demütig! Ein Blick, den Sarah nie im Leben vergessen würde. Wie ein Verdammter, der aufschaut und das Paradies erspäht.

Er sagte noch einmal: »Sie?«

Der leise, bebende Ton seiner Stimme rührte etwas in ihr an. Er drehte ihr das Herz im Leibe um. Er machte sie scheu, ängstlich, demütig — und erfüllte sie doch jäh mit stolzer Freude.

Sie sagte nur ein einziges Wort: »Ja.«

Er kam näher, noch immer wie betäubt, wollte es noch immer nicht glauben.

Dann griff er plötzlich nach ihrer Hand.

»Sie sind es wirklich«, sagte er. »Sie sind hier! Zuerst dachte ich, Sie seien ein Geist — weil ich ständig an Sie denken muss.« Er hielt inne und sagte dann: »Ich liebe Sie nämlich. Ich liebe Sie seit dem Augenblick, als ich Sie im Zug das erste Mal sah. Das weiß ich jetzt. Und ich möchte, dass Sie es wissen, damit Sie — damit Sie wissen, dass nicht ich es bin — dass es nicht mein wahres Ich ist, das sich — das sich wie ein Schuft benimmt. Sehen Sie, selbst jetzt kann ich nichts versprechen. Ich könnte — mir ist alles zuzutrauen! Es könnte sein, dass ich grußlos an Ihnen vorbeigehe oder Sie keines Blickes würdige, aber Sie sollen wissen, dass das nicht ich bin — dass dafür nicht mein wahres Ich verantwortlich ist. Es sind nur meine schwachen Nerven. Sie lassen mich oft im Stich. Wenn sie sagt, dass ich das und das tun soll — dann tu ich es! Dann kann ich einfach nicht anders! Bitte haben Sie Verständnis dafür. Verachten Sie mich, wenn Sie wollen — «

Sarah fiel ihm ins Wort. Leise und unerwartet sanft sagte sie: »Ich werde Sie deshalb nicht verachten.«

»Aber ich habe Ihre Verachtung verdient! Ich bin — unfähig, mich wie ein Mann zu benehmen.«

Teils war es die Erinnerung an Dr. Gerards Worte, mehr aber noch Sarahs eigenes Wissen und ihre Zuversicht, die ihre Antwort bestimmten und ihrer sanften Stimme einen Beiklang von Autorität und Überzeugungskraft verliehen. »Jetzt können Sie es.«

»Meinen Sie?« Es klang versonnen. »Vielleicht.«

»Jetzt haben Sie den Mut dazu. Das weiß ich.« Er richtete sich auf, warf den Kopf in den Nacken. »Mut? Ja, man muss nur den Mut aufbringen!« Plötzlich beugte er sich vor und berührte ihre Hand mit den Lippen. Gleich darauf war er gegangen.

Zwölftes Kapitel

Sarah ging hinunter zum Gemeinschaftszelt. Sie fand dort ihre drei Mitreisenden vor, die am Tisch saßen und aßen. Der Führer berichtete ihnen gerade, dass sich noch eine weitere Gruppe in Petra aufhielt.

»Sie kommen vor zwei Tage. Gehen Tag nach morgen. Amerikaner. Mutter sehr dick, sehr schwer herbringen! Träger tragen in Stuhl — sagen, sehr schwere Arbeit — viel heiß — ja.«

Sarah musste plötzlich laut lachen. So betrachtet hatte die ganze Sache durchaus auch ihre komischen Seiten!

Der beleibte Dragoman sah sie dankbar an. Er hatte es wirklich nicht leicht. Lady Westholme hatte ihn im Laufe des Tages dreimal anhand des Baedekers widerlegt, und jetzt hatte sie etwas an dem Bett auszusetzen, in dem sie nächtigen sollte. Er war daher dankbar, dass wenigstens ein Mitglied seiner Gruppe unerklärlicherweise gute Laune zu haben schien.

»Genau!«, sagte Lady Westholme. »Ich glaube, diese Leute waren auch im Solomon. Ich habe die Mutter gleich wieder erkannt, als wir hier eintrafen. Ich glaube mich zu erinnern, dass Sie im Hotel mit ihr gesprochen haben, Miss King.«

Sarah errötete schuldbewusst und konnte nur hoffen, dass Lady Westholme nicht allzu viel von dem bewussten Gespräch mit angehört hatte.

Sie fragte sich gequält, was um alles in der Welt damals nur in sie gefahren war.

Lady Westholme war unterdessen zu einem Urteil gelangt und verkündete: »Völlig uninteressante Leute. Sehr provinziell.«

Miss Pierce brachte kriecherisch eifrige Zustimmung zum Ausdruck, woraufhin Lady Westholme zu einer ausführlichen Schilderung diverser interessanter und prominenter Amerikaner ansetzte, denen sie in letzter Zeit begegnet war.

Da es für die Jahreszeit ungewöhnlich heiß war, wurde beschlossen, am nächsten Tag zeitig aufzubrechen.

Um sechs Uhr früh versammelten sich die vier zum Frühstück. Von den Boyntons war nichts zu sehen. Nachdem Lady Westholme sich höchst kritisch über das nicht vorhandene Obst geäußert hatte, begnügten sie sich mit Tee, Dosenmilch, in Fett schwimmenden Spiegeleiern und versalzenen Speckstreifen.

Danach machte man sich auf den Weg, auf dem Lady Westholme und Dr. Gerard — Letzterer mit deutlich weniger Begeisterung — die exakte Bedeutung von Vitaminen in der täglichen Kost sowie die richtige Ernährung der Arbeiterklasse erörterten.

Dann waren plötzlich Rufe aus der Richtung des Camps zu hören, und so blieb man stehen, um auf den Mann zu warten, der ihnen nachgeeilt kam. Es war Mr. Jefferson Cope, dessen sympathisches Gesicht von der Anstrengung des schnellen Laufens gerötet war.

»Entschuldigen Sie, aber wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich Ihnen heute Vormittag gerne anschließen. Guten Morgen, Miss King. Was für eine Überraschung, Sie und Dr. Gerard hier zu treffen! Na, was sagen Sie dazu?«

Er deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf die phantastischen roten Felsformationen, die sich rundherum ausdehnten.

»Es ist wunderschön und ein klein wenig Angst einflößend«, sagte Sarah. »Ich dachte immer, es wäre romantisch und verträumt — von wegen >die rosarote Stadt< und so. Aber es ist sehr viel realer, so real wie — wie ein rohes Beefsteak.«

»Und hat auch fast die gleiche Farbe«, pflichtete ihr Mr. Cope bei.

»Aber es ist wirklich großartig«, gab Sarah zu.

Es begann bergauf zu gehen. Die Gruppe wurde von zwei Beduinen geführt, hoch gewachsenen Männern von ungezwungener Körperhaltung, die in ihren Nagelschuhen gelassen und absolut trittsicher den abschüssigen Hang hinaufstiegen. Schon bald traten die ersten Schwierigkeiten auf. Sarah und Dr. Gerard waren beide schwindelfrei. Aber sowohl Mr. Cope als auch Lady Westholme wurde es doch etwas mulmig, und die arme Miss Pierce musste über die steileren Stellen geradezu getragen werden, während sie mit geschlossenen Augen und ganz grün im Gesicht unablässig vor sich hin jammerte: »Ich konnte noch nie nach unten schauen. Noch nie — schon als Kind nicht!«

Einmal äußerte sie die Absicht umzukehren, aber als sie zurückblickte und das Gefälle sah, wurde sie nur noch grüner und kam notgedrungen zu dem Schluss, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als weiterzugehen.

Dr. Gerard beruhigte und ermutigte sie. Er ging unmittelbar hinter ihr und hielt, wie eine Art Geländer, einen Stock zwischen sie und den gähnenden Abgrund. Miss Pierce musste zugeben, dass diese vorgetäuschte Sicherheit viel dazu beitrug, ihre Höhenangst zu überwinden.

Schwer atmend fragte Sarah den Dragoman, Mahmoud, dem trotz seiner Leibesfülle keinerlei Anzeichen von Erschöpfung anzumerken waren: »Haben Sie nie Probleme, wenn Sie Leute hier heraufführen? Zum Beispiel ältere Menschen?«

»Immer. Immer wir haben Problem«, bestätigte Mahmoud in aller Gemütsruhe.

»Nehmen Sie denn jeden mit?«

Mahmoud zog die schweren Schultern hoch. »Sie wollen hinauf. Sie haben bezahlt Geld, zu sehen viele Sachen. Darum sie wollen sehen alles. Die Beduinen sind sehr geschickt, sehr sicher auf Füßen. Sie bringen immer hinauf.«

Endlich erreichten sie den Gipfel. Sarah holte tief Luft.

Um sie herum und unter ihnen dehnten sich die blutroten Felsen aus — eine fremdartige und unglaubliche Landschaft, die absolut einmalig war. Hier oben, in der herrlichen reinen Morgenluft, standen sie wie Götter, die eine verachtenswerte Welt betrachten — eine Welt voll brodelnder Gewalt.

Dies war, wie der Führer ihnen erklärte, der »Opferplatz« — der »heilige Bezirk«. Er zeigte ihnen die Rinne, die in den glatten Boden zu ihren Füßen gehauen war.

Sarah entfernte sich von den anderen, von den oberflächlichen Phrasen, die dem Dragoman so flott über die Lippen kamen. Sie setzte sich auf einen Felsblock, schob mit beiden Händen ihr dichtes schwarzes Haar zurück und blickte hinunter auf die Welt, die zu ihren Füßen lag. Plötzlich merkte sie, dass jemand neben ihr stand. Dr. Gerard sagte: »Hier oben begreift man, wie zutreffend die Versuchung durch den Teufel im Neuen Testament ist. Der Teufel führte Jesus auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt. >Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest.< Wie groß muss da erst die Versuchung sein, ein Gott mit realer Macht zu werden.«

Sarah stimmte ihm zu, aber sie war so offensichtlich in Gedanken woanders, dass Gerard sie leicht erstaunt musterte.

»Sie grübeln über etwas nach«, stellte er fest.

»Allerdings.« Sie sah ihn mit leicht verwirrter Miene an. »Es war eine wunderbare Idee, hier oben eine Opferstätte zu errichten. Ich glaube nämlich, dass manchmal tatsächlich ein Opfer erforderlich ist... Ich will damit sagen, dass man auch zu viel Achtung vor dem Leben haben kann. Der Tod ist gar nicht so wichtig, wie wir tun.«

»Wenn das Ihre Meinung ist, Miss King, dann haben Sie den Beruf verfehlt. Für uns

Ärzte ist und bleibt der Tod immer der Feind.«

Sarah erschauerte. »Sie haben vermutlich Recht. Trotzdem kann der Tod auch Probleme lösen. Er kann sogar ein erfüllteres Leben zur Folge haben.«

»>Es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn dass das ganze Volk verderbe!<«, zitierte Dr. Gerard mit ernster Stimme.

Sarah sah ihn bestürzt an.

»Ich wollte damit nicht sagen, dass — « Sie brach ab, da Jefferson Cope auf sie zukam.

»Also, das ist wirklich ein ganz erstaunlicher Ort«, verkündete er. »Wirklich erstaunlich. Ich bin froh, dass ich mir das nicht habe entgehen lassen. Mrs. Boynton ist gewiss eine höchst bemerkenswerte Frau — ihren Mumm und ihre Entschlossenheit, hierher zu kommen, kann man nur bewundern —, aber ich muss gestehen, dass es nicht gerade einfach ist, mit ihr zu reisen. Ihre Gesundheit ist nicht die beste, was verständlicherweise wohl der Grund dafür ist, dass sie wenig Rücksicht auf die Gefühle anderer nimmt, aber es scheint ihr einfach nicht in den Sinn zu kommen, dass ihre Familie gelegentlich mal gerne etwas ohne sie unternehmen würde. Sie ist es so gewöhnt, alle ständig um sich zu haben, dass sie gar nicht auf den Gedanken kommt, dass — «

Mr. Cope brach ab. Auf seinem freundlichen, sympathischen Gesicht zeichneten sich Verwirrung und Unbehagen ab.

»Wissen Sie«, sagte er, »ich habe da etwas über Mrs. Boynton erfahren, das mir ziemlich zu schaffen macht.«

Während Sarah wieder ihren eigenen Gedanken nachhing und Mr. Copes Stimme nur angenehm wie das beruhigende Plätschern eines fernen Baches an ihr Ohr drang, reagierte Dr. Gerard sofort: »Ach ja? Was denn?«

»Ich hörte es von einer Dame, mit der ich im Hotel in Tiberias ins Gespräch kam. Es ging dabei um ein Dienstmädchen, das bei Mrs. Boynton angestellt war. Das Mädchen soll — sie war wohl — «

Mr. Cope hielt inne, warf feinfühlig einen Blick auf Sarah und senkte die Stimme. »Sie hat ein Kind erwartet. Die alte Dame kam anscheinend dahinter, war aber offenbar sehr nett zu der jungen Frau. Aber ein paar Wochen, bevor das Kind geboren wurde, hat sie sie hinausgeworfen. «

Dr. Gerard zog die Augenbrauen hoch. »Sieh an«, sagte er nachdenklich.

»Die Dame, die es mir erzählt hat, schien sich ihrer Sache absolut sicher zu sein. Ich weiß ja nicht, ob Sie mir zustimmen, aber ich finde ein solches Verhalten grausam und herzlos. Ich verstehe nicht, wie — «

Dr. Gerard unterbrach ihn.

»Sie sollten es aber versuchen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass Mrs. Boynton ihre diebische Freude daran hatte.«

Mr. Cope sah ihn schockiert an.

»Nein, Sir«, sagte er entschieden. »Das glaube ich einfach nicht. So etwas ist absolut unvorstellbar.«

Mit ruhiger Stimme zitierte Dr. Gerard: »Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschieht unter der Sonne; und siehe, da waren Tränen derer, so Unrecht litten, und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, dass sie keinen Tröster haben konnten. Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben hatten; und besser denn alle beide ist, der noch nicht ist und des Bösen nicht innewird, das unter der Sonne geschieht.«

Er brach ab und sagte: »Sehen Sie, mein Lieber, ich beschäftige mich seit Jahren mit den seltsamen Dingen, die in der menschlichen Psyche vorgehen. Es nützt nichts, nur die schönere Seite des Lebens zu betrachten. Unter der Wohlanständigkeit und den Konventionen des täglichen Lebens liegt ein gewaltiges Reservoir seltsamer Dinge. Da gibt es beispielsweise so etwas wie die Lust, Grausamkeiten um ihrer selbst willen zu begehen. Aber wenn Sie auf sie stoßen, dann verbirgt sich dahinter noch etwas anderes. Das triebhafte und Mitleid erregende Verlangen nach Anerkennung. Wenn dieses Verlangen nicht befriedigt wird, wenn der betreffende Mensch aufgrund seiner Persönlichkeit unfähig ist, die Anerkennung zu finden, die er braucht, dann greift er zu anderen Mitteln — denn er muss Eindruck machen, er muss Erfolg haben —, was wiederum unzählige Perversionen zur Folge hat. Der Hang zur Grausamkeit lässt sich ebenso kultivieren wie jeder andere, er kann von einem Menschen Besitz ergreifen — «

Mr. Cope hüstelte. »Ich glaube, dass Sie da doch etwas übertreiben, Dr. Gerard. Also die Luft hier oben ist wirklich herrlich.«

Er zog sich zurück. Gerard musste lächeln. Er warf einen Blick auf Sarah. Ihre Stirn war gerunzelt, und in ihrem Gesicht zeichnete sich jugendliche Entschlossenheit ab. Gerard fand, dass sie aussah wie eine junge Richterin, die im Begriff ist, das Urteil zu verkünden.

Er drehte sich um, da Miss Pierce auf unsicheren Beinen auf ihn zugetrippelt kam.

»Wir wollen wieder hinunter«, plapperte sie aufgeregt. »Du meine Güte, das schaffe ich bestimmt nie und nimmer, aber der Führer sagt, dass wir eine andere Route nehmen, die viel leichter ist. Ich will es hoffen, denn ich konnte schon als Kind nicht in die Tiefe schauen.«

Der Abstieg führte an einem Wasserfall entlang. Der Weg war zwar mit Geröll bedeckt, so dass man aufpassen musste, dass man sich nicht den Knöchel verstauchte, aber er bot immerhin keine Schwindel erregenden Ausblicke.

Kurz nach zwei Uhr nachmittags traf die Gruppe müde, aber in guter Stimmung und mit einem Bärenhunger im Camp ein.

An dem großen Tisch im Gemeinschaftszelt saß die Familie Boynton. Sie war gerade mit dem Mittagessen fertig.

Lady Westholme ließ sich dazu herab, einige huldvolle Worte an sie zu richten.

»Ein höchst interessanter Vormittag«, sagte sie. »Petra ist in der Tat ein wunderschönes Fleckchen Erde.«

Carol, an die die Worte gerichtet zu sein schienen, warf rasch einen Blick auf ihre Mutter, murmelte: »O ja — ja, das ist es«, und verstummte wieder.

Nachdem Lady Westholme dem Anstand somit Genüge getan hatte, konnte sie sich getrost ihrem Essen widmen.

Während die vier aßen, wurden die Pläne für den Nachmittag erörtert.

»Ich glaube, ich werde mich heute Nachmittag vor allen Dingen ausruhen«, sagte Miss Pierce. »Man darf sich auf keinen Fall zu viel zumuten.«

»Ich werde losziehen und die Umgebung erkunden«, sagte Sarah. »Und Sie, Dr. Gerard?«

»Ich werde Sie begleiten.«

Mrs. Boynton ließ mit so lautem Geklapper ihren Löffel fallen, dass alle zusammenfuhren.

»Ich glaube«, sagte Lady Westholme, »dass ich Ihrem Beispiel folgen werde, Miss Pierce. Ich werde ein halbes Stündchen lesen, mich dann hinlegen und mindestens eine Stunde schlafen. Danach vielleicht ein kleiner Spaziergang.«

Mühsam, und mit Lennox’ Hilfe, erhob sich die alte Mrs. Boynton langsam von ihrem Stuhl. Sie blieb einen Moment stehen und sagte dann in überraschend liebenswürdigem Ton: »Ihr solltet heute Nachmittag alle einen Spaziergang machen.«

Es war geradezu grotesk, die verblüfften Gesichter ihrer Angehörigen zu beobachten.

»Und was ist mit dir, Mutter?«

»Ich brauche euch nicht. Ich bin gerne allein, wenn ich lese. Jinny bleibt besser hier. Sie wird sich hinlegen und schlafen.«

»Aber ich bin nicht müde, Mutter! Ich möchte auch mitgehen!«

»Du bist müde. Und du hast Kopfschmerzen. Du musst auf deine Gesundheit achten. Geh und leg dich hin. Ich weiß schließlich, was gut für dich ist.«

»Ich — ich — «

Jinny hatte den Kopf in den Nacken geworfen und sah ihre Mutter rebellisch an. Dann schlug sie die Augen nieder, verlor den Mut.

»Dummes Kind«, sagte Mrs. Boynton. »Geh in dein Zelt!«

Sie humpelte schwerfällig hinaus, und die anderen folgten ihr.

»Du meine Güte«, sagte Miss Pierce. »Was sind das nur für Leute! Und diese befremdliche Gesichtsfarbe — der Mutter, meine ich. Richtig violett. Wahrscheinlich das Herz. Die Hitze macht ihr bestimmt zu schaffen.«

Sarah dachte: »Sie gibt ihnen heute Nachmittag frei. Sie weiß, dass Raymond mit mir zusammen sein möchte. Warum tut sie das? Was steckt dahinter?«

Diese Frage beschäftigte sie auch nach dem Mittagessen noch, als sie in ihr Zelt ging und ein frisches Leinenkleid anzog. Aus ihren Gefühlen für Raymond war seit dem Vorabend leidenschaftliche und beschützende Zuneigung geworden. Das also war Liebe — diese Qualen, die man für einen anderen litt, dieser brennende Wunsch, dem geliebten Wesen um jeden Preis Kummer zu ersparen. Ja, sie liebte Raymond Boynton. Und es war genau umgekehrt wie bei dem heiligen Georg und dem Drachen. Hier war sie der Retter und Raymond das wehrlose Opfer.

Und Mrs. Boynton war der Drache. Ein Drache, dessen plötzliche Liebenswürdigkeit für die misstrauische Sarah etwas entschieden Finsteres hatte.

Es war ungefähr Viertel nach drei, als Sarah wieder zum Gemeinschaftszelt hinunterschlenderte.

Lady Westholme saß auf einem Stuhl. Trotz der großen Hitze trug sie noch immer ihren strapazierfähigen Rock aus HarrisTweed. Auf ihrem Schoß lag der Bericht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Dr. Gerard unterhielt sich mit Miss Pierce, die vor ihrem Zelt stand und ein Buch in der Hand hielt, das »Sehnsucht nach Liebe« hieß und auf dem Klappentext als ein spannender Roman über die Irrungen und Wirrungen einer großen Leidenschaft beschrieben wurde.

»Ich halte es nicht für klug, sich unmittelbar nach dem Mittagessen hinzulegen«, erklärte Miss Pierce. »Wegen der Verdauung, wissen Sie. Und im Schatten des Zeltes ist es geradezu angenehm kühl. Du meine Güte, ist das nicht ziemlich unvernünftig von der alten Dame, dort oben in der prallen Sonne zu sitzen?«

Alle blickten zu dem Felsvorsprung hinauf. Mrs. Boynton saß wie am Vorabend reglos wie ein Buddha vor dem Eingang ihrer Höhle. Außer ihr war niemand zu sehen. Alle im Camp Beschäftigten schliefen. Nur etwas weiter weg war eine kleine Gruppe unterwegs, die talaufwärts ging.

»Die liebe Mama scheint ihnen ausnahmsweise zu erlauben, sich einmal allein zu vergnügen«, sagte Dr. Gerard. »Oder ist das nur eine weitere Gemeinheit von ihr?«

»Genau das habe ich mich gerade auch gefragt«, sagte Sarah.

»Dass wir immer gleich das Schlimmste annehmen müssen! Kommen Sie, schließen wir uns den Ausreißern an.«

Sie überließen Miss Pierce ihrer aufregenden Lektüre und machten sich auf den Weg. Kurz hinter der Biegung des Tales holten sie die Gruppe ein, die ziemlich langsam ging. Ausnahmsweise wirkten die Boyntons glücklich und unbekümmert.

Schon bald unterhielten sich alle — Lennox und Nadine, Carol und Raymond, der glücklich lächelnde Mr. Cope sowie die beiden Neuankömmlinge, Sarah und Dr. Gerard — sehr lebhaft, und es wurde viel gelacht.

Übermütige Ausgelassenheit machte sich breit. Jeder hatte das Gefühl, dass ihnen ein seltenes Vergnügen vergönnt war, eine rare Freude, die es voll auszukosten galt. Sarah und Raymond sonderten sich nicht ab. Sarah ging vielmehr neben Carol und Lennox, während dicht hinter ihnen Dr. Gerard mit Raymond plauderte. Nadine und Jefferson Cope folgten in geringem Abstand.

Leider wurde die unbeschwerte Stimmung durch den Franzosen getrübt. Er war schon seit einiger Zeit ziemlich einsilbig gewesen. Nun blieb er plötzlich stehen.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung. Aber ich fürchte, ich muss umkehren.«

Sarah musterte ihn. »Sind Sie krank?«

Er nickte. »Ja. Ich habe schon seit dem Mittagessen Fieberanfälle.«

Sarah betrachtete ihn eingehender. »Malaria?«

»Ja. Ich gehe zurück und nehme Chinin. Hoffentlich ist es kein allzu schlimmer Anfall. Ein Andenken an einen Aufenthalt im Kongo.«

»Soll ich mitkommen?«, fragte Sarah.

»Aber nein! Ich habe alles Nötige in meiner Reiseapotheke. Wirklich zu ärgerlich! Lassen Sie sich durch mich bitte nicht stören.«

Er ging mit schnellen Schritten in Richtung des Camps davon.

Sarah sah ihm einen Moment unschlüssig nach, doch dann blickte sie in Raymonds Augen, lächelte ihn an, und der Franzose war vergessen.

Eine Zeit lang gingen alle sechs — Carol, Sarah, Lennox, Mr. Cope, Nadine und Raymond — gemeinsam weiter.

Dann hatten Sarah und Raymond sich auf einmal abgesetzt. Sie gingen allein weiter, kletterten Felsen hinauf, folgten schmalen Vorsprüngen und ließen sich schließlich an einem schattigen Plätzchen nieder.

Geraume Zeit schwiegen beide, bis Raymond sagte: »Wie heißen Sie eigentlich? Ich kenne nur Ihren Nachnamen. Aber wie heißen Sie mit Vornamen?«

»Sarah.«

»Sarah. Darf ich Sie Sarah nennen?«

»Natürlich.«

»Sarah, würden Sie mir ein bisschen etwas über sich erzählen?«

An die Felsen zurückgelehnt, begann sie zu erzählen, von ihrem Leben daheim in Yorkshire, von ihren Hunden und der Tante, die sie aufgezogen hatte.

Dann war Raymond an der Reihe, der, etwas zusammenhanglos, von seinem eigenen Leben berichtete.

Danach herrschte lange Schweigen. Wie zufällig fanden sich ihre Hände. So saßen sie da, wie Kinder, Hand in Hand, beide seltsam ruhig und zufrieden.

Die Sonne stand schon tief, als Raymond sich aufraffte. — »Ich muss jetzt gehen«, sagte er. »Nein, bleiben Sie noch. Ich möchte allein zurückgehen. Ich habe noch etwas zu erledigen. Wenn es getan ist, wenn ich mir bewiesen habe, dass ich kein Feigling bin, dann — dann — werde ich mich nicht scheuen, zu Ihnen zu kommen und Sie um Ihre Hilfe zu bitten. Denn dann werde ich Hilfe brauchen, wahrscheinlich werde ich mir sogar Geld von Ihnen leihen müssen.«

Sarah lächelte ihn an. »Ich bin froh, dass Sie so praktisch denken. Sie können auf mich zählen.«

»Aber zuerst muss ich noch etwas alleine erledigen.«

»Was denn?«

Raymond Boyntons jungenhaftes Gesicht wurde plötzlich hart, und er sagte: »Ich muss beweisen, dass ich Mumm habe. Jetzt oder nie.«

Dann machte er abrupt kehrt und ging.

Sarah lehnte sich wieder an den Felsen und sah der sich entfernenden Gestalt nach. Raymonds Worte hatten sie irgendwie beunruhigt. Er hatte so angespannt gewirkt — so schrecklich ernst und erregt. Einen Moment lang wünschte sie, sie wäre mit ihm gegangen.

Doch dann tadelte sie sich scharf. Raymond wollte das, was er vorhatte, allein durchstehen, wollte seinen neu gewonnenen Mut unter Beweis stellen. Das war sein gutes Recht.

Aber sie betete von ganzem Herzen darum, dass ihn dieser Mut nicht im Stich ließ.

Die Sonne ging schon unter, als Sarah wieder in Sichtweite des Camps kam. Beim Weitergehen konnte sie im Dämmerlicht die starren Umrisse von Mrs. Boynton ausmachen, die noch immer vor dem Eingang ihrer Höhle saß. Der Anblick der bedrohlichen, regungslosen Gestalt ließ Sarah erschauern.

Sie eilte auf dem unterhalb des Felsens entlangführenden Pfad vorbei und betrat das hell erleuchtete Gemeinschaftszelt.

Lady Westholme, einen Strang Wolle um den Hals gehängt, strickte an einem marineblauen Pullover. Miss Pierce bestickte einen Tischläufer mit anämischen blauen Vergissmeinnicht und wurde dabei über die einzige vernünftige Reform des Scheidungsrechts aufgeklärt.

Die Diener kamen und gingen und bereiteten alles für das Abendessen vor. Die Boyntons saßen in Segeltuchstühlen am anderen Ende des Gemeinschaftszeltes und lasen. Mahmoud erschien, wohlbeleibt und würdevoll, und beklagte sich bitterlich. Sei sehr schöner Ausflug nach Teestunde geplant gewesen, aber niemand da. Jetzt ganzes Programm durcheinander. Nicht mehr sehen können sehr interessante nabatäische Architektur.

Sarah sagte rasch, dass es ihnen auch so sehr gut gefallen habe.

Sie ging in ihr Zelt, um sich vor dem Abendessen frisch zu machen. Auf dem Rückweg blieb sie vor Dr. Gerards Zelt stehen und rief leise: »Dr. Gerard?«

Es kam keine Antwort. Sie schob die Plane vor dem Eingang beiseite und spähte hinein. Der Arzt lag regungslos auf dem Bett. Sarah zog sich geräuschlos zurück und hoffte, dass er schlief.

Ein Diener kam ihr entgegen und deutete auf das Gemeinschaftszelt. Offenbar war das Essen fertig. Sie schlenderte wieder hinunter. Bis auf Dr. Gerard und Mrs. Boynton waren alle anderen bereits um den Tisch versammelt. Ein Diener wurde losgeschickt, um der alten Dame Bescheid zu sagen, dass das Essen fertig war. Dann entstand draußen plötzlich Unruhe. Zwei erschrockene Diener stürzten herein und redeten aufgeregt in Arabisch auf den Dragoman ein.

Mahmoud blickte sich verwirrt um und ging hinaus. Sarah folgte ihm impulsiv.

»Was ist passiert?«

»Die alte Dame«, erwiderte Mahmoud. »Abdul sagt, sie krank — bewegt sich nicht.«

»Ich komme mit.«

Sarah machte sich sofort auf den Weg. Sie kletterte hinter Mahmoud den Abhang hinauf und folgte dem schmalen Pfad, bis sie zu der hockenden Gestalt kam, fasste nach der aufgedunsenen Hand, suchte den Puls, beugte sich vor.

Als sie sich wieder aufrichtete, war sie sehr blass.

Sie ging zurück zum Gemeinschaftszelt. Am Eingang blieb sie kurz stehen und blickte zu der Gruppe am hinteren Ende des Tisches hinüber. Als sie sprach, klang ihre Stimme sogar für sie selbst barsch und unnatürlich.

»Es tut mir sehr Leid«, sagte sie und zwang sich, ihre Worte an das Oberhaupt der Familie, an Lennox, zu richten. »Ihre Mutter ist tot, Mr. Boynton.«

Und wie aus weiter Ferne beobachtete sie die Gesichter der fünf Menschen, für die diese Nachricht die Freiheit bedeutete.

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