Teil II

Erstes Kapitel

Colonel Carbury lächelte seinem Gast über den Tisch hinweg zu und erhob das Glas. »Also dann, auf das Verbrechen!«

Hercule Poirots Augen funkelten angesichts dieses passenden Trinkspruchs.

Er war mit einem Empfehlungsschreiben von Colonel Race zu Colonel Carbury nach Amman gekommen.

Carbury war neugierig gewesen, den weltberühmten Meisterdetektiv kennen zu lernen, dessen Fähigkeiten sein alter Freund und Geheimdienstkollege in den höchsten Tönen gepriesen hatte.

»Eine zwingende psychologische Schlussfolgerung, wie man sie besser nicht finden kann!«, hatte Race bezüglich der Aufklärung des Mordfalls Shaitana geschrieben.

»Wir müssen Ihnen möglichst viel von der Umgebung zeigen«, sagte Carbury und zwirbelte seinen struppigen grau melierten Schnurrbart. Er war ein nachlässig gekleideter, untersetzter Mann mittlerer Größe mit Halbglatze und ausdruckslosen, sanften blauen Augen. Er sah überhaupt nicht wie ein Offizier aus. Er sah nicht einmal besonders hell aus. Und er entsprach in keiner Hinsicht dem, was man sich unter einem strengen Vorgesetzten vorstellt. Dennoch war er ein mächtiger Mann in Transjordanien.

»Da wäre zum Beispiel Gerasa«, sagte er. »Interessiert Sie so was?«

»Ich interessiere mich für alles!«

»Ja«, sagte Carbury. »Das ist die einzig richtige Einstellung im Leben.« Er hielt inne.

»Sagen Sie«, fuhr er fort, »stellen Sie gelegentlich fest, dass Ihr ganz spezieller Beruf Sie immer wieder einholt?«

»Pardon?«

»Anders herum gefragt: Passiert es Ihnen, dass Sie irgendwo hinkommen, um Urlaub vom Verbrechen zu machen — und plötzlich tauchen überall Leichen auf?«

»Dergleichen ist schon vorgekommen; mehr als einmal.«

»Hm«, murmelte Colonel Carbury und wirkte noch geistesabwesender als sonst.

Dann gab er sich einen Ruck. »Ich habe da nämlich eine Leiche, bei der mir nicht ganz wohl ist«, sagte er.

»Tatsächlich? «

»Ja. Hier in Amman. Eine alte Amerikanerin. Fuhr mit ihrer Familie nach Petra. Strapaziöse Reise, ungewöhnlich heiß für die Jahreszeit, hatte Herzprobleme, die alte Frau, die Reise war wohl doch ein bisschen anstrengender, als sie sich das vorgestellt hatte, übermäßige Belastung für ihr Herz — und da ist sie hops gegangen!«

»Hier — in Amman?«

»Nein, unten in Petra. Die Leiche wurde heute hergebracht.«

»Ah!«

»Alles ganz normal. Absolut möglich. So was passiert ja alle Tage. Nur dass.«

»Ja? Nur dass?«

Colonel Carbury kratzte sich den fast kahlen Schädel.

»Ich habe das dumme Gefühl«, sagte er, »dass ihre Familie sie abgemurkst hat!«

»Aha! Und wie kommen Sie darauf?«

Colonel Carbury beantwortete Poirots Frage nicht direkt.

»Unangenehme Person, wie es scheint. Kein großer Verlust. Ganz allgemein scheint jeder froh zu sein, dass sie das Zeitliche gesegnet hat. Wird extrem schwierig werden, etwas nachzuweisen, solange die Familie zusammenhält und notfalls lügt wie gedruckt. Man will ja keine Unannehmlichkeiten — oder internationale Verwicklungen. Das Einfachste wäre, die Finger davon zu lassen! Habe im Grunde ja nichts in der Hand. Ich kannte da mal einen Arzt. Der hat mir erzählt, dass er bei Todesfällen oft misstrauisch ist — dass da Patienten vor ihrer Zeit ins Jenseits befördert wurden. Und der sagte, dass man am besten den Mund hält, wenn man nicht verdammt gute Anhaltspunkte hat! Weil es sonst bloß Stunk gibt, nichts nachzuweisen ist und ein anständiger und gewissenhafter Mediziner bloß in Verruf gerät. So was in der Richtung. Trotzdem.« Er kratzte sich wieder den Kopf. »Ich bin nun mal ein ordentlicher Mensch«, setzte er wider Erwarten hinzu.

Colonel Carburys Krawattenknoten hing unter dem linken Ohr, seine Socken warfen Falten, sein Jackett war schmuddelig und abgewetzt. Dennoch lächelte Hercule Poirot nicht. Er hatte die methodische Arbeitsweise von Colonel Carburys Verstand genau erkannt, seine logische Auflistung der Fakten, seine sorgfältig geordneten Eindrücke.

»Ja. Ich bin ein ordentlicher Mensch«, sagte Carbury. Er machte eine vage Handbewegung. »Kann Unordnung nun mal nicht leiden. Wenn wo Unklarheit herrscht, muss ich sie einfach beseitigen. Verstehen Sie das?«

Hercule Poirot nickte ernst. Er konnte das gut verstehen.

»Es gab keinen Arzt dort unten?«, fragte er.

»Doch, zwei sogar. Einer davon lag allerdings mit Malaria im Bett. Bei dem anderen handelt es sich um eine junge Frau — hat gerade erst ihr Medizinstudium abgeschlossen. Scheint aber ihr Handwerk zu verstehen. Der Tod selbst war nicht weiter ungewöhnlich. Die alte Frau hatte ein schwaches Herz. Hatte schon seit Jahren Herzmittel genommen. Also nicht sonderlich überraschend, dass sie plötzlich den Löffel wegschmeißt.«

»Was beunruhigt Sie dann, mein Freund?«, fragte Poirot sanft.

Colonel Carburys blaue Augen blickten ihn gequält an.

»Schon mal von einem Franzosen namens Gerard gehört? Theodore Gerard?«

»Gewiss. Eine Kapazität auf seinem Gebiet.«

»Klapsmühlen«, bestätigte Colonel Carbury. »Wenn man sich mit vier Jahren in die Putzfrau verknallt, hält man sich mit achtunddreißig für den Erzbischof von Canterbury. Ich habe zwar nie kapiert, wieso und warum, aber diese Psychofritzen können es sehr überzeugend erklären.«

»Dr. Gerard ist zweifellos eine Autorität, was bestimmte Formen schwerer Psychosen betrifft«, pflichtete Poirot lächelnd bei. »Ist er — äh — sind seine — gehen seine Ansichten über den Vorfall in Petra in diese Richtung?«

Colonel Carbury schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, nein. Wenn dem so wäre, würde ich mir ja keine Sorgen machen! Nicht, dass ich überhaupt nichts davon halte. Es sind nur einfach Dinge, die ich nicht verstehe — so wie bei einem meiner Beduinen, der mitten in der Wüste aus dem Auto steigen kann, mit der Hand über den Boden fährt und Ihnen fast auf die Meile genau sagt, wo Sie sind. Das hat nichts mit Zauberei zu tun, aber mir kommt es so vor. Nein, Dr. Gerards Aussage ist eindeutig. Nur nackte Tatsachen. Falls es Sie interessiert — und es interessiert Sie doch, oder?«

»Aber ja!«

»Großartig. Dann rufe ich kurz an und lasse Gerard holen, damit Sie alles von ihm selbst hören können.«

Nachdem der Colonel einen Burschen losgeschickt hatte, sagte Poirot: »Wer sind die Angehörigen der Toten?«

»Sie heißen Boynton. Zwei Söhne, einer davon verheiratet. Seine Frau sieht ausgesprochen gut aus — ruhiger, vernünftiger Typ. Und zwei Töchter. Beide ziemlich hübsch, aber auf ganz unterschiedliche Art. Die jüngere ist ein bisschen überdreht — könnte aber auch der Schock sein.«

»Boynton«, sagte Poirot. Er runzelte die Stirn. »Das ist merkwürdig — sehr merkwürdig. «

Carbury sah ihn fragend an. Aber da Poirot nichts weiter sagte, fuhr er fort: »Scheint ziemlich klar zu sein, dass die Mutter ein Drachen war. Musste hinten und vorne bedient werden und ließ alle um sich herumscharwenzeln. Und sie hatte den Daumen auf dem Geldbeutel. Keiner von der Familie besaß auch nur einen Penny.«

»Ah! Wirklich sehr interessant. Weiß man, wem sie ihr Geld hinterlassen hat?«

»Genau die Frage habe ich auch gestellt — ganz nebenbei, versteht sich. Es wird zu gleichen Teilen unter den Kindern aufgeteilt.«

Poirot nickte bedächtig. Dann fragte er: »Sie sind also der Meinung, dass alle unter einer Decke stecken?«

»Keine Ahnung. Genau da liegt ja der Haken! Ob die Sache gemeinsam geplant und ausgeführt wurde oder ob einer allein diesen glänzenden Einfall hatte — das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht ist das Ganze auch nur ein Windei! Kurz und gut, es läuft auf Folgendes hinaus: Ich hätte gern Ihre Meinung als Fachmann gehört. Ah, da kommt Gerard.«

Zweites Kapitel

Der Franzose kam mit schnellen, aber keineswegs hastigen Schritten herein. Während er Colonel Carbury die Hand schüttelte, warf er einen scharfen, neugierigen Blick auf Poirot. Carbury sagte: »Das ist Monsieur Hercule Poirot. Ist gerade bei mir zu Besuch. Habe mit ihm über die Angelegenheit unten in Petra gesprochen.«

»Ach ja?« Gerards flinke Augen musterten Poirot von Kopf bis Fuß. »Die Sache interessiert Sie?«

Hercule Poirot hob beide Hände hoch. »Das Interesse für das eigene metier ist leider unheilbar.«

»Stimmt«, sagte Gerard.

»Etwas zu trinken?«, fragte Carbury.

Er schenkte einen Whisky Soda ein und setzte ihn Gerard vor. Er hielt die Karaffe fragend hoch, doch Poirot schüttelte den Kopf. Colonel Carbury stellte sie ab und rückte seinen Stuhl etwas näher.

»Also«, sagte er, »wo waren wir?«

»Wie ich höre«, sagte Poirot zu Gerard, »hat Colonel Carbury gewisse Vorbehalte.«

Gerard machte eine viel sagende Handbewegung.

»Und das«, sagte er, »ist allein meine Schuld! Dabei könnte ich durchaus Unrecht haben. Bitte vergessen Sie nicht, Colonel Carbury, dass ich Unrecht haben könnte.«

Carbury grunzte nur.

»Geben Sie Poirot die Fakten«, sagte er.

Dr. Gerard begann mit einer knappen Zusammenfassung der Ereignisse, die der Reise nach Petra vorausgegangen waren. Er skizzierte kurz die einzelnen Mitglieder der Familie Boynton und beschrieb den Zustand emotionaler Anspannung, in dem sich alle befunden hatten.

Poirot hörte aufmerksam zu.

Dann schilderte Gerard die Ereignisse des ersten Tages in Petra und erläuterte, weshalb er ins Lager zurückgekehrt war.

»Ich hatte einen schweren Malariaanfall — Malaria cerebralis«, erklärte er. »Ich beschloss daher, mir intravenös Chinin zu injizieren. Das ist die übliche Behandlungsmethode.«

Poirot nickte zustimmend.

»Das Fieber war schon ziemlich hoch. Ich wankte geradezu in mein Zelt. Zuerst konnte ich nirgendwo meine Reiseapotheke finden, irgendjemand hatte sie an einen anderen Platz gestellt. Als ich sie dann gefunden hatte, konnte ich nirgends meine Spritze finden. Ich suchte eine Weile, gab es dann auf und nahm oral eine hohe Dosis Chinin ein und warf mich aufs Bett.«

Gerard hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Mrs. Boyntons Tod wurde erst nach Sonnenuntergang entdeckt. Aufgrund der Art und Weise, wie sie dasaß und wie der Stuhl ihren Körper stützte, hatte sich an ihrer Haltung nichts verändert, und so bemerkte man erst, als einer der Boys sie um halb sieben zum Abendessen holen wollte, dass etwas nicht stimmte.«

Er schilderte detailliert die Lage der Höhle und die Entfernung zwischen Höhle und Gemeinschaftszelt.

»Miss King, die ausgebildete Ärztin ist, untersuchte die Tote. Sie wollte mich nicht stören, da sie wusste, dass ich Fieber hatte. Außerdem konnte man ohnehin nichts mehr tun. Mrs. Boynton war tot — und das schon seit einiger Zeit.«

Poirot murmelte: »Wie lange genau?«

Gerard sagte langsam: »Ich glaube nicht, dass Miss King dieser Frage besondere Aufmerksamkeit schenkte. Sie hielt sie, meiner Meinung nach, nicht für wichtig.«

»Kann man wenigstens mit Bestimmtheit sagen, wann sie zuletzt lebend gesehen wurde?«, fragte Poirot.

Colonel Carbury räusperte sich und griff nach einem amtlich aussehenden Schriftstück.

»Lady Westholme und Miss Pierce sprachen kurz nach vier Uhr nachmittags mit Mrs. Boynton. Lennox Boynton sprach gegen halb fünf mit seiner Mutter. Etwa fünf Minuten später hatte Mrs. Lennox Boynton ein längeres Gespräch mit ihr. Auch Carol Boynton wechselte einige Worte mit ihrer Mutter, kann aber nicht genau sagen, wann — nach Aussagen anderer scheint das etwa zehn Minuten nach fünf gewesen zu sein. Jefferson Cope, ein amerikanischer Freund der Familie, der mit Lady Westholme und Miss Pierce ins Camp zurückkam, sah, dass sie schlief. Er sprach sie also nicht an. Das war ungefähr zwanzig Minuten vor sechs. Der Letzte, der sie lebend gesehen hat, scheint Raymond Boynton gewesen zu sein, der jüngere Sohn. Er kam etwa zehn Minuten vor sechs von einem Spaziergang zurück und sprach mit ihr. Entdeckt wurde die Leiche um halb sieben, als ein Diener die alte Dame zum Essen holen sollte.«

»Und nachdem Mr. Raymond Boynton mit ihr gesprochen hatte, kam bis halb sieben niemand in ihre Nähe?«, erkundigte sich Poirot.

»Angeblich nicht.«

»Aber es könnte jemand zu ihr gegangen sein?«, hakte Poirot nach.

»Das glaube ich kaum. Ab kurz vor sechs waren ständig Diener im Camp unterwegs, und die Gäste gingen zwischen den Zelten hin und her. Wir haben keinen gefunden, der jemand zu ihr gehen sah.«

»Dann war Raymond Boynton definitiv der Letzte, der seine Mutter lebend sah?«, fragte Poirot.

Dr. Gerard und Colonel Carbury wechselten einen raschen Blick. Colonel Carbury trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

»Genau da fängt die Sache an, kompliziert zu werden«, sagte er. »Fahren Sie fort, Gerard. Sie waren schließlich vor Ort.«

»Wie ich bereits erwähnte, sah Sarah King, als sie Mrs. Boynton untersuchte, keine Veranlassung, die exakte Todeszeit festzustellen. Sie sagte lediglich, Mrs. Boynton sei >schon einige Zeit< tot gewesen, aber als ich am Tag darauf aus persönlichen Gründen versuchte, alles etwas genauer einzugrenzen und zufällig erwähnte, dass Mrs. Boynton kurz vor sechs zuletzt lebend gesehen worden sei, und zwar von ihrem Sohn Raymond, sagte Miss King zu meiner großen Überraschung schlankweg, dass das ausgeschlossen sei — dass Mrs. Boynton zu der Zeit bereits tot gewesen sein müsse.«

Poirot zog die Augenbrauen hoch. »Eigenartig. Höchst eigenartig. Und was hat Monsieur Raymond Boynton dazu zu sagen?«

Colonel Carbury antwortete prompt. »Er schwört, dass seine Mutter da noch am Leben war. Er ging zu ihr und sagte: >Ich bin wieder da. Hattest du einen angenehmen Nachmittag?<, oder etwas in der Art. Er sagt, sie habe nur gemurmelt: >Ja, durchaus<, woraufhin er in sein Zelt ging.«

Poirot runzelte verwirrt die Stirn.

»Sonderbar«, sagte er. »Höchst sonderbar. Sagen Sie, wurde es zu der Zeit bereits dunkel?«

»Die Sonne ging gerade unter.«

»Sonderbar«, sagte Poirot noch einmal. »Und Sie, Dr. Gerard, wann sahen Sie die Tote?«

»Erst am nächsten Morgen. Um neun, um genau zu sein.«

»Und wann, schätzen Sie, war der Tod eingetreten?«

Der Franzose zuckte mit den Schultern. »So lange danach lässt sich das kaum mit Bestimmtheit sagen. Man muss immer einen Spielraum von mehreren Stunden einkalkulieren. Wenn ich unter Eid aussagen müsste, könnte ich nur sagen, dass sie mit Sicherheit seit zwölf Stunden tot war, aber nicht länger als achtzehn. Sie sehen, das hilft uns nicht weiter.«

»Fahren Sie fort, Gerard«, sagte Colonel Carbury. »Erzählen Sie ihm den Rest der Geschichte.«

»Als ich morgens aufstand«, sagte Dr. Gerard, »war meine Spritze wieder da. Sie lag hinter einigen Fläschchen auf meinem T oilettentisch.«

Er beugte sich vor.

»Sie werden vielleicht sagen, dass ich sie am Vortag schlicht übersehen hatte. Mir war furchtbar elend, ich hatte Fieber und Schüttelfrost, und wie oft sucht man etwas, das die ganze Zeit da ist, und findet es trotzdem nicht! Ich kann nur sagen, dass ich absolut sicher bin, dass die Spritze am Tag davor nicht da war.«

»Aber das ist noch nicht alles«, sagte Carbury.

»Nein. Ich sollte noch zwei weitere Dinge erwähnen, die wichtig sein könnten. Am Handgelenk der Toten befand sich ein kleiner Einstich — wie von einer subkutan verabreichten Injektion. Die Tochter behauptet allerdings, dass er von einem gewöhnlichen Nadelstich stammt — «

Poirot machte eine Bewegung. »Welche Tochter?«

»Carol Boynton.«

»Ah. Bitte fahren Sie fort.«

»Und ein letzter Punkt. Als ich zufällig in meine Reiseapotheke sah, bemerkte ich, dass mein Vorrat an Digitoxin stark abgenommen hatte.«

»Digitoxin«, sagte Poirot, »ist ein giftiges Herzmittel, nicht wahr?«

»Ja. Es wird aus Digitalis purpurea gewonnen, dem gewöhnlichen Roten Fingerhut. Er besitzt vier aktive Grundbestandteile: Digitalin, Digitonin, Digitalein und Digitoxin. Von diesen gilt Digitoxin als giftigster Wirkstoff der Digitalis-Blätter. Versuche haben gezeigt, dass es sechs- bis zehnmal stärker ist als Digitalin oder Digitalein. In Frankreich ist es zugelassen — aber es steht nicht in der offiziellen englischen Arzneimittelliste.«

»Und was bewirkt eine hohe Dosis Digitoxin?«

Dr. Gerard sagte sehr ernst: »Eine hohe Dosis Digitoxin, die durch intravenöse Injektion direkt in den Blutkreislauf gelangt, führt zum sofortigen Tod durch Herzlähmung. Man schätzt, dass vier Milligramm für einen erwachsenen Mann tödlich sind.«

»Und Mrs. Boynton war bereits herzkrank?«

»Ja. Genau gesagt nahm sie sogar ein Medikament, das Digitalin enthält.«

»Das«, erklärte Poirot, »ist wirklich sehr interessant.«

»Wollen Sie damit sagen«, fragte Colonel Carbury, »dass ihr Tod auf eine Überdosis ihrer eigenen Medizin zurückzuführen sein könnte?«

»Ja — das wäre möglich. Aber ich dachte dabei noch an etwas anderes.«

»In gewissem Sinn«, sagte Dr. Gerard, »könnte man Digitalin als ein kumulativ wirkendes Arzneimittel bezeichnen. Und was den Obduktionsbefund betrifft, so können die Wirkstoffe von Digitalis töten, ohne Spuren zu hinterlassen.«

Poirot nickte langsam zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

»Ja, das ist raffiniert — sehr raffiniert. Es ist also praktisch unmöglich, es vor Gericht nachzuweisen. Nun, meine Herren, eines kann ich Ihnen versichern: Falls es sich hier um Mord handelt, dann um einen ganz raffinierten! Die Spritze wird zurückgelegt, das Gift, das benutzt wird, ist ein Gift, das das Opfer schon des Längeren einnahm — genügend Möglichkeiten, dass ein Irrtum oder ein Unfall vorliegt. O ja, hier war ein kluger Kopf am Werk. Dahinter steckt Überlegung — Sorgfalt — Genialität.«

Er saß ein Weilchen schweigend da, dann hob er den Kopf. »Etwas ist mir allerdings ein Rätsel.«

»Und das wäre?«

»Der Diebstahl der Spritze.«

»Sie wurde entwendet«, sagte Dr. Gerard rasch.

»Entwendet — und zurückgebracht?«

»Ja.«

»Seltsam«, sagte Poirot. »Sehr seltsam. Alles andere passt vortrefflich zusammen.«

Colonel Carbury sah ihn neugierig an.

»Nun?«, sagte er dann. »Wie lautet Ihr fachmännisches Urteil? War es Mord — oder war es kein Mord?«

Poirot hielt abwehrend die Hand hoch.

»Geduld. So weit sind wir noch nicht. Man muss noch weitere Indizien in Erwägung ziehen.«

»Was denn für Indizien? Sie kennen doch schon alle.«

»Ah, aber hier handelt es sich um ein Indiz, das ich, Hercule Poirot, beisteuere.«

Er nickte nachdrücklich und lächelte ein wenig über die erstaunten Gesichter der beiden anderen.

»Ja, es ist kurios, das. Dass ich, dem Sie die Geschichte erzählen, meinerseits in der Lage bin, ein Indiz zu liefern, von dem Sie nichts wissen. Es war so. Im Hotel Solomon gehe ich eines Abends zum Fenster, um mich zu vergewissern, dass es geschlossen ist — «

»Geschlossen — oder offen?«, fragte Carbury.

»Geschlossen«, sagte Poirot bestimmt. »Es war offen, also gehe ich natürlich, es zu schließen. Aber bevor ich das mache, als meine Hand schon auf dem Griff liegt, höre ich eine Stimme — eine angenehme Stimme, leise und deutlich, die vor Erregung ein wenig zittert. Ich sage zu mir, das ist eine Stimme, die ich wieder erkennen werde. Und was sagt sie, diese Stimme? Sie sagt die Worte: >Du siehst doch ein, dass sie muss?<«

»Naturellement«, fuhr er fort, »denke ich in diesem Moment nicht, dass die Worte sich auf einen Mord aus Fleisch und Blut beziehen. Ich halte sie für die Worte eines Schriftstellers oder vielleicht eines Bühnenautors. Aber jetzt — bin ich mir nicht mehr so sicher. Das heißt, ich bin sicher, dass es sich anders verhielt.«

Wieder hielt er kurz inne, bevor er weitersprach: »Messieurs, so viel kann ich Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen sagen: Diese Worte wurden gesprochen von einem jungen Mann, den ich später in der Hotelhalle sah und der, wie man mir auf meine Nachfrage mitteilte, ein junger Mann namens Raymond Boynton war.«

Drittes Kapitel

»Raymond Boynton sagte das?«, rief der Franzose verblüfft aus.

»Halten Sie das für unwahrscheinlich — psychologisch gesehen?«, erkundigte sich Poirot ruhig.

Gerard schüttelte den Kopf. »Nein, das würde ich nicht behaupten. Ich bin nur überrascht. Ich will damit sagen, dass ich überrascht bin, weil Raymond Boynton sich geradezu als Verdächtiger anbot.«

Colonel Carbury seufzte. Der Seufzer schien zu besagen, man möge ihn mit diesem Psychokram verschonen.

»Fragt sich nur«, knurrte er, »wie es jetzt weitergehen soll.«

Gerard zuckte mit den Schultern. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie unternehmen können«, bekannte er. »Die vorhandenen Indizien sind ohne Beweiskraft. Selbst wenn Sie überzeugt sind, dass es Mord war, wird es schwierig sein, ihn nachzuweisen. «

»Ich verstehe«, sagte Colonel Carbury. »Wir haben zwar den Verdacht, dass es Mord war, aber wir lehnen uns gemütlich zurück und drehen Däumchen! Das geht mir gegen den Strich!« Wie zur Erklärung fügte er den merkwürdigen Satz hinzu, den er schon einmal gesagt hatte: »Ich bin nun mal ein ordentlicher Mensch.«

»Ich weiß. Ich weiß.« Poirot nickte mitfühlend. »Sie möchten sich Klarheit verschaffen. Sie möchten definitiv und ganz genau wissen, was geschehen ist und wie es geschah. Und Sie, Dr. Gerard? Sie haben gesagt, dass man nichts unternehmen kann — dass das vorliegende Material keine Beweiskraft hat? Das trifft vermutlich zu. Aber sind Sie damit zufrieden, die Sache auf sich beruhen zu lassen?«

»Sie war ein übles Subjekt«, sagte Gerard bedächtig. »Außerdem wäre sie vermutlich bald gestorben — in einer Woche, einem Monat, einem Jahr.«

»Sie sind also zufrieden?«, hakte Poirot nach.

»Es besteht nicht der geringste Zweifel«, fuhr Gerard fort, »dass ihr Tod — wie soll ich mich ausdrücken — ein Segen für die Allgemeinheit ist. Er hat ihren Familienangehörigen die Freiheit geschenkt. Sie haben jetzt die Möglichkeit, sich zu entfalten — sie besitzen alle, wie ich meine, einen guten Charakter und Verstand. Sie werden — endlich — nützliche Mitglieder der Gesellschaft sein! Wie ich es sehe, hat der Tod von Mrs. Boynton nur Positives zur Folge.«

Poirot fragte zum dritten Mal: »Sie sind also zufrieden?«

»Nein.« Gerard schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch. »Ich bin nicht >zufrieden<, wie Sie sich auszudrücken belieben! Es liegt in meiner Natur, Leben zu erhalten — nicht den Tod zu beschleunigen! Auch wenn mir mein Verstand noch so oft sagt, dass der Tod dieser Frau eine gute Sache war, lehnt sich unbewusst alles in mir dagegen auf! Es ist nicht recht, Gentlemen, dass ein Mensch stirbt, bevor seine Zeit gekommen ist.«

Poirot lächelte und lehnte sich zurück, zufrieden mit der Antwort, die er auf sein hartnäckiges Nachfragen erhalten hatte.

Colonel Carbury stellte nüchtern fest: »Der Mann hat was gegen Mord! Mit Recht! Geht mir genauso.«

Er stand auf und schenkte sich einen großen Whisky Soda ein. Die Gläser seiner Gäste waren noch voll.

»Und jetzt«, sagte er, wieder zum Thema kommend, »wollen wir mal Nägel mit Köpfen machen. Was können wir in dieser Sache unternehmen? Dass sie uns nicht gefällt, steht fest! Aber wir werden uns vielleicht wohl oder übel damit abfinden müssen. Es hat keinen Zweck, einen Riesenwirbel zu veranstalten, wenn wir keine hieb- und stichfesten Beweise auf den Tisch legen können.«

Gerard beugte sich vor. »Was meinen Sie, Monsieur Poirot? Sie sind schließlich der Experte.«

Poirot ließ sich mit der Antwort Zeit. Pedantisch rückte er den einen oder anderen Aschenbecher zurecht und schob die benutzten Streichhölzer zu einem Häufchen zusammen. Dann sagte er: »Sie möchten natürlich gerne wissen, Colonel Carbury, wer Mrs. Boynton getötet hat, nicht wahr? Das heißt, falls sie getötet wurde und nicht eines natürlichen Todes starb. Exakt wie und wann sie getötet wurde — also die ganze Wahrheit?«

»Richtig. Genau das.« Carburys Ton war ruhig und sachlich.

Hercule Poirot sagte langsam: »Ich wüsste nicht, was Sie daran hindern sollte!«

Dr. Gerard blickte ungläubig drein. Colonel Carbury sah Poirot interessiert an.

»Ach was!«, sagte er. »Tatsächlich? Ist ja hochinteressant. Und wie wollen Sie das anstellen?«

»Durch methodische Auswertung der Indizien, durch exakte Schlussfolgerungen.«

»Meinen Segen haben Sie«, sagte Colonel Carbury.

»Und mittels sorgfältiger Prüfung der psychologischen Aspekte.«

»Dr. Gerard wird sich freuen, das zu hören«, sagte Carbury. »Und Sie glauben, wenn Sie die Indizien geprüft und Ihre Schlüsse gezogen haben und nebenher ein bisschen Psychologie angewandt haben, dass Sie dann — Simsalabim! — das Kaninchen aus dem Zylinder zaubern können?«

»Ich wäre höchst überrascht, wenn mir selbiges nicht gelänge«, sagte Poirot ruhig.

Colonel Carbury starrte ihn über das Whiskyglas hinweg an. Einen Moment lang waren seine ausdruckslosen Augen ganz und gar nicht ausdruckslos, sondern abschätzend und taxierend.

Er stellte sein Glas ab und brummte: »Was meinen Sie dazu, Dr. Gerard?«

»Ich muss gestehen, dass ich skeptisch bin, was den Erfolg betrifft. Obwohl ich natürlich weiß, dass Monsieur Poirot große geistige Fähigkeiten besitzt.«

»Ja, ich bin eine Naturbegabung«, sagte der kleine Mann. Er lächelte bescheiden.

Colonel Carbury wandte das Gesicht ab und hüstelte.

Poirot sagte: »Als Erstes müssen wir klären, ob dies ein von mehreren Personen gemeinsam begangener Mord ist, also ob er von der Familie Boynton als Ganzes geplant und ausgeführt wurde — oder ob es sich um die Tat eines einzelnen Familienmitglieds handelt. Im zweiten Fall ist zu klären, wer von ihnen am ehesten als Täter in Frage kommt.«

Dr. Gerard sagte: »Da wäre Ihre eigene Aussage. Man müsste wohl als Erstes Raymond Boynton in Betracht ziehen.«

»Ich stimme Ihnen zu«, sagte Poirot. »Die Bemerkung, die ich zufällig hörte, und die Diskrepanz zwischen seiner Aussage und dem, was die junge Ärztin sagt, machen ihn eindeutig zum Hauptverdächtigen. «

»Er war der Letzte«, fuhr er fort, »der Mrs. Boynton lebend sah. Das behauptet er jedenfalls. Sarah King widerspricht ihm in diesem Punkt. Sagen Sie, Dr. Gerard, gibt es — äh — Sie wissen, was ich meine — eine, sagen wir, gewisse tendresse zwischen den beiden?«

Der Franzose nickte. »Ganz zweifellos.«

»Aha! Ist diese junge Dame brünett, trägt das Haar aus der Stirn nach hinten gekämmt — so — und hat sie große braune Augen und ein entschiedenes Auftreten?«

Dr. Gerard schien überrascht zu sein, »ja, das beschreibt sie sehr gut.«

»Ich glaube, ich habe sie schon gesehen — im Hotel Solomon. Sie sprach mit diesem Raymond Boynton, und danach blieb er wie in Trance, versperrte den Ausgang aus dem Fahrstuhl. Dreimal musste ich sagen >Pardon!<, bevor er mich hörte und aus dem Weg ging.«

Er hing eine Weile seinen Gedanken nach und sagte dann: »Wir werden Miss Sarah Kings medizinischen Befund für den Anfang also mit gewissen Vorbehalten zur Kenntnis nehmen. Sie ist befangen.« Er schwieg und fuhr dann fort: »Sagen Sie, Dr. Gerard, glauben Sie, dass Raymond Boynton von der Veranlagung her fähig ist, ohne weiteres einen Mord zu begehen?«

Gerard antwortete langsam: »Sie meinen, einen vorsätzlichen, geplanten Mord? Ja, das halte ich für möglich — aber nur in einem Zustand größter emotionaler Anspannung. «

»Und war dies der Fall?«

»Unbedingt. Diese Reise ins Ausland steigerte zweifellos die nervliche und psychische Anspannung, unter der alle standen. Der Gegensatz zwischen ihrem eigenen Leben und dem anderer Menschen wurde ihnen bewusster. Und bei Raymond Boynton.«

»Ja?«

»Bei ihm wurde die Sache noch dadurch kompliziert, dass er sich stark zu Sarah King hingezogen fühlte.«

»Und das hätte ihm ein weiteres Motiv gegeben? Und einen zusätzlichen Antrieb?«

»So ist es.«

Colonel Carbury hüstelte. »Wenn ich mal unterbrechen darf. Dieser Satz, den Sie da gehört haben — du siehst doch ein, dass sie sterben muss? —, der muss doch an irgendwen gerichtet gewesen sein.«

»Ein wichtiger Punkt«, sagte Poirot. »Er war mir keineswegs entgangen. Alors, mit wem sprach Raymond Boynton? Zweifellos mit einem Mitglied seiner Familie. Aber mit welchem? Können Sie uns etwas über die psychische Verfassung der anderen Familienmitglieder sagen, Dr. Gerard?«

Gerard antwortete unverzüglich: »Carol Boynton war in einem ganz ähnlichen Zustand wie Raymond, würde ich sagen — in einem Zustand der Auflehnung, verbunden mit einer hochgradigen nervösen Erregung, aber in ihrem Fall ohne die zusätzliche Belastung durch eine sexuelle Komponente. Lennox Boynton hatte das Stadium der Auflehnung bereits hinter sich. Er war in Apathie versunken. Ich glaube, es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Seine Reaktion auf seine Umwelt bestand darin, sich mehr und mehr in sich selbst zurückzuziehen. Er ist extrem introvertiert.«

»Und seine Frau?«

»Seine Frau war zwar müde geworden und unglücklich, ließ aber keine Anzeichen einer psychischen Störung erkennen. Ich glaube, sie stand kurz vor einer Entscheidung. «

»Was für einer Entscheidung?«

»Ob sie ihren Mann verlassen sollte oder nicht.«

Er berichtete von seinem Gespräch mit Jefferson Cope. Poirot nickte verständnisvoll.

»Was ist mit dem jüngeren Mädchen — Ginevra, wenn ich mich nicht irre?«

Das Gesicht des Franzosen wurde ernst. Er sagte: »Meiner Meinung nach ist sie psychisch in einem äußerst gefährlichen Zustand. Sie zeigt bereits die ersten Anzeichen von Schizophrenie. Da sie die in ihrem Leben herrschende Unterdrückung nicht ertragen kann, flüchtet sie sich in eine Traumwelt. Sie leidet an Verfolgungswahn im fortgeschrittenen Stadium — das heißt, sie behauptet, königlichen Geblüts zu sein, in Gefahr zu schweben, von Feinden umringt zu sein und so weiter — das Übliche!«

»Und das ist — gefährlich?«

»Sehr gefährlich sogar. Es ist häufig der Beginn eines zwanghaften Tötungsdrangs. Der Kranke tötet nicht aus Mordgier, sondern aus Notwehr. Er tötet, um nicht selbst getötet zu werden. Aus der Sicht des Patienten ist das absolut rational.«

»Sie glauben also, Ginevra Boynton könnte ihre Mutter getötet haben?«

»Ja. Aber ich bezweifle, dass sie über das Wissen oder die Zielstrebigkeit verfügt, einen Mord in der Form auszuführen, wie er hier begangen wurde. Die Vorgehensweise dieser Art manisch-depressiver Patienten ist im Allgemeinen sehr direkt und durchschaubar. Und ich bin mir fast sicher, dass Ginevra Boynton eine spektakulärere Methode gewählt hätte.«

»Aber man muss sie als Täter in Betracht ziehen?«, hakte Poirot nach.

»Ja«, räumte Gerard ein.

»Und danach — nachdem die Tat begangen war? Glauben Sie, dass die ganze Familie weiß, wer sie begangen hat?«

»Sie wissen es!«, sagte Colonel Carbury unvermittelt. »Wenn mir jemals ein Grüppchen untergekommen ist, das etwas zu verbergen hatte — dann diese Familie! Die machen uns doch alle was vor!«

»Wir werden sie dazu bringen, uns zu sagen, was dahinter steckt«, erwiderte Poirot.

»Daumenschrauben?«, meinte Colonel Carbury.

»Nein.« Poirot schüttelte den Kopf. »Nur eine ganz normale Unterhaltung. Im Großen und Ganzen erzählen einem die Leute nämlich die Wahrheit. Weil es das Einfachste ist! Weil es weniger anstrengend für die Phantasie ist! Man kann einmal zu einer Lüge greifen, zweimal oder dreimal, sogar viermal — aber man kann nicht immer lügen. Und darum kommt die Wahrheit stets ans Licht.«

»Da ist was dran«, räumte Carbury ein.

Dann sagte er geradeheraus: »Sie werden also mit ihnen reden, wie Sie sagen. Heißt das, dass Sie die Sache übernehmen? «

Poirot deutete eine Verbeugung an. Dann sagte er: »Lassen Sie uns etwas klarstellen. Sie wollen die Wahrheit wissen, und ich verpflichte mich, sie Ihnen zu liefern. Aber vergessen Sie eines nicht: Selbst wenn wir die Wahrheit herausgefunden haben, wird es vielleicht keine Beweise geben. Das heißt, keine Beweise, die vor Gericht Bestand hätten. Sie verstehen, was ich meine?«

»Vollkommen«, sagte Carbury. »Sie sorgen dafür, dass ich erfahre, was wirklich passiert ist, und dann liegt es bei mir zu entscheiden, ob ein Verfahren eingeleitet wird oder nicht — unter Berücksichtigung der internationalen Aspekte. Auf jeden Fall wird die Sache aufgeklärt. Keine Unklarheiten. Kann Unklarheiten nicht ausstehen.«

Poirot lächelte.

»Und noch etwas«, sagte Carbury. »Ich kann Ihnen nicht viel Zeit geben. Kann die Leute ja nicht ewig hier behalten.«

Poirot sagte ruhig: »Sie können sie vierundzwanzig Stunden festhalten. Morgen Abend werden Sie die Wahrheit wissen.«

Colonel Carbury sah ihn scharf an. »Ganz schön selbstsicher, wie?«

»Ich kenne meine Fähigkeiten«, murmelte Poirot.

Colonel Carbury, von dieser zutiefst unenglischen Äußerung peinlich berührt, wandte den Blick ab und zupfte an seinem struppigen Schnurrbart herum.

»Tja«, brummte er, »es liegt an Ihnen.«

»Wenn Sie das schaffen, mein Freund«, sagte Dr. Gerard, »dann sind Sie in der Tat ein Genie!«

Viertes Kapitel

Sarah King musterte Hercule Poirot lange und eingehend. Sie besah sich den eiförmigen Kopf, den mächtigen Schnurrbart, die stutzerhafte Kleidung und das verdächtig tiefe Schwarz der Haare. Ein zweifelnder Ausdruck schlich sich in ihre Augen.

»Nun, Mademoiselle, sind Sie zufrieden?«

Sarah errötete, als sie Poirots amüsiertem ironischen Blick begegnete.

»Verzeihen Sie«, sagte sie verlegen.

»Du tout! Um ein Wort zu benutzen, das ich erst kürzlich gelernt habe: Sie haben mich beaugapfelt, habe ich Recht?«

Sarah lächelte schwach. »Nun, Sie können das Gleiche gern auch bei mir machen«, sagte sie.

»Aber gewiss. Ich habe es nicht versäumt, dies bereits zu tun.«

Sie sah ihn scharf an. Der Ton, in dem er das sagte, irritierte sie. Doch Poirot zwirbelte nur selbstgefällig seinen Schnurrbart, und Sarah dachte (schon zum zweiten Mal): Der Mann ist ein Schaumschläger!

Nachdem ihre Selbstsicherheit wiederhergestellt war, setzte sie sich etwas aufrechter hin und sagte leicht fragend: »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, wozu diese Unterredung dienen soll.«

»Der gute Dr. Gerard hat es Ihnen nicht erklärt?«

Sarah runzelte die Stirn. »Ich begreife Dr. Gerard nicht. Er scheint zu glauben, dass — «

»Etwas ist faul im Staate Dänemark«, zitierte Poirot. »Sie sehen, ich kenne Ihren Shakespeare.«

Sarah tat Shakespeare mit einer Handbewegung ab.

»Wozu soll der ganze Wirbel eigentlich gut sein?«, wollte sie wissen.

»»Eh bien, man will dieser Sache doch auf den Grund gehen, habe ich Recht?«

»Sprechen Sie von Mrs. Boyntons Tod?«

»Ja.«

»Ist das nicht ein bisschen viel Tamtam um gar nichts? Gewiss, Sie sind Fachmann auf diesem Gebiet, Monsieur Poirot. Da ist es ganz normal, dass Sie — «

»Dass ich ein Verbrechen wittere, wann immer ich einen Vorwand dafür finden kann?«

»Nun ja — so ähnlich.«

»Sie selbst hegen keine Zweifel, was Mrs. Boyntons Tod betrifft?«

Sarah zuckte mit den Schultern.

»Monsieur Poirot, wenn Sie in Petra gewesen wären, dann wüssten Sie, dass die Reise dorthin eine ziemliche Strapaze gewesen sein muss für eine alte Frau, deren Herz nicht das beste war.«

»Für Sie scheint der Fall also absolut klar zu sein?«

»Aber ja! Ich begreife nicht, was Dr. Gerard eigentlich bezweckt. Er war ja nicht einmal dabei. Er lag mit Fieber im Bett. Selbstverständlich würde ich mich jederzeit seiner größeren medizinischen Erfahrung beugen — aber in diesem Fall hat er doch überhaupt nichts in der Hand. Man kann ja in Jerusalem eine Obduktion durchführen lassen, falls man mit meinem Befund nicht zufrieden ist.«

Poirot schwieg einen Moment und sagte dann: »Es gibt einen Tatbestand, den Sie noch nicht kennen. Dr. Gerard hat ihn Ihnen gegenüber nicht erwähnt.«

»Und der wäre?«, wollte Sarah wissen.

»In Dr. Gerards Reiseapotheke fehlt ein gewisses Medikament — Digitoxin.«

»Oh!« Sarah erfasste sofort, was dieser neue Aspekt bedeutete. Nicht minder schnell stürzte sie sich auf den einzigen schwachen Punkt.

»Ist Dr. Gerard da absolut sicher?«

Poirot zuckte mit den Schultern. »Ein Arzt ist, wie Sie wissen werden, Mademoiselle, im Allgemeinen sehr vorsichtig mit seinen Aussagen.«

»Ja, natürlich. Das versteht sich von selbst. Aber Dr. Gerard hatte zu der Zeit einen Malariaanfall.«

»Das ist natürlich richtig.«

»Hat er eine Ahnung, wann das Medikament entwendet worden sein könnte?«

»Er hatte Veranlassung, am Abend seiner Ankunft in Petra in seine Reiseapotheke zu sehen. Er brauchte Phenacetin — weil er starke Kopfschmerzen hatte. Er ist sich fast sicher, dass noch alle Medikamente vorhanden waren, als er das Phenacetin am nächsten Morgen wieder in die Tasche legte und diese zumachte.«

»Fast sicher«, sagte Sarah.

Poirot zuckte mit den Schultern. »Ja, es besteht ein gewisser Zweifel! Der Zweifel, den jeder Mensch, der ehrlich ist, haben würde.«

Sarah nickte. »Ich weiß, was Sie meinen. Man wird immer misstrauisch, wenn sich jemand einer Sache allzu sicher ist. Trotzdem, Monsieur Poirot, es ist kein eindeutiger Beweis. Ich habe das Gefühl, dass.« Sie brach ab. Poirot sprach den Satz für sie zu Ende.

»Sie haben das Gefühl, dass Ermittlungen meinerseits unklug wären.«

Sarah sah ihm fest in die Augen. »Offen gesagt, ja. Sind Sie ganz sicher, Monsieur Poirot, dass es sich hier nicht lediglich um ein Vergnügen zu Lasten anderer handelt?«

Poirot lächelte. »Dass das Privatleben einer Familie gestört und behelligt wird, nur damit Hercule Poirot zu seiner Zerstreuung ein wenig Detektiv spielen kann?«

»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten — aber ist dieser Gedanke denn so abwegig?«

»Sie stehen also auf der Seite der Familie Boynton, Mademoiselle?«

»Ja, ich glaube schon. Sie haben alle sehr viel mitgemacht. Sie — sie sollten nicht noch mehr durchmachen müssen.«

»Und la maman? Sie war unangenehm, tyrannisch, ekelhaft und darum entschieden besser tot als lebendig, nest-ce pas?«

»Wenn Sie es so ausdrücken — « Sarah hielt errötend inne und fuhr dann fort: »Ich gebe zu, dass man dergleichen nicht in Betracht ziehen sollte.«

»Aber man tut es trotzdem! Das heißt, Sie tun es, Mademoiselle! Nicht ich — ich tue es nicht! Für mich spielt das keine Rolle. Das Opfer mag ein wahrer Heiliger sein oder aber ein infames Ungeheuer. Es berührt mich nicht. Der Sachverhalt ist der gleiche. Ein Leben wurde genommen! Ich betone es noch einmal: Ich kann Mord nicht billigen.«

»Mord?« Sarah zog scharf die Luft ein. »Aber was für Beweise gibt es dafür? Doch nur extrem fadenscheinige! Selbst Dr. Gerard ist sich seiner Sache nicht sicher!«

Poirot sagte ruhig: »Es gibt noch andere Indizien, Mademoiselle.«

»Und die wären?« Ihre Stimme klang schneidend.

»»Der Einstich einer Injektionsnadel am Handgelenk der Toten. Und noch etwas — eine Bemerkung, die ich in Jerusalem mit anhörte, in einer klaren, stillen Nacht, als ich mein Schlafzimmerfenster schließen wollte. Soll ich Ihnen den genauen Wortlaut verraten, Miss King? Nun denn. Ich hörte Mr. Raymond Boynton sagen: >Du siehst doch ein, dass sie sterben muß!<«

Er bemerkte, dass alle Farbe aus Sarahs Gesicht wich.

Sie sagte: »Das haben Sie gehört?«

»Ja.«

Die junge Frau starrte wie versteinert vor sich hin.

Schließlich sagte sie: »Ausgerechnet Sie mussten das hören!«

Poirot nickte. »Ja, ausgerechnet ich. Dergleichen kommt vor. Verstehen Sie jetzt, warum ich meine, dass eine Untersuchung erforderlich ist?«

Sarah sagte leise: »Ich glaube, Sie haben Recht.«

»Ah! Und werden Sie mir helfen?«

»Selbstverständlich.«

Es klang sachlich, emotionslos. Sie blickte Poirot kühl in die Augen.

Poirot deutete eine Verbeugung an. »Ich danke Ihnen, Mademoiselle. Dann möchte ich Sie jetzt bitten, mir in Ihren eigenen Worten exakt alle Ereignisse des bewussten Tages zu schildern, an die Sie sich erinnern.«

Sarah dachte kurz nach.

»Lassen Sie mich überlegen. Vormittags haben wir einen Ausflug gemacht. Von den Boyntons war keiner dabei. Ich sah sie erst beim Mittagessen. Sie waren gerade fertig, als wir zurückkamen. Mrs. Boynton schien ungewöhnlich gut aufgelegt zu sein.«

»Sie war gewöhnlich nicht besonders freundlich, wie ich höre.«

»Das können Sie laut sagen!«, bestätigte Sarah und verzog das Gesicht.

Dann schilderte sie, wie Mrs. Boynton ihrer Familie für den Nachmittag freigegeben hatte.

»Auch das war ungewöhnlich?«

»O ja! Normalerweise wollte sie immer alle um sich haben.«

»Glauben Sie, dass sie vielleicht plötzlich Gewissensbisse hatte — dass sie hatte, wie sagt man — un bon moment?«

»Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, sagte Sarah unverblümt.

»Was dachten Sie dann?«

»Ich war perplex. Ich hatte den Verdacht, dass es so eine Art Katz-und-Maus-Spiel war.«

»Würden Sie das bitte erläutern, Mademoiselle?«

»Es macht der Katze Spaß, die gefangene Maus loszulassen und sie dann wieder einzufangen. Mrs. Boynton besaß eine ähnliche Mentalität. Ich dachte, dass sie eine neue Gemeinheit im Schilde führt.«

»Und was geschah dann, Mademoiselle?«

»Die Bonytons machten einen Spaziergang. «

»Alle?«

»Nein. Die Jüngste, Ginevra, musste im Camp bleiben. Sie sollte sich hinlegen.«

»War das auch ihr eigener Wunsch?«

»Nein. Aber darauf kam es nicht an. Sie hatte zu gehorchen. Die anderen brachen auf. Dr. Gerard und ich schlossen uns ihnen an.«

»Wann war das?«

»Gegen halb vier.«

»Wo war Mrs. Boynton zu der Zeit?«

»Nadine — die junge Mrs. Boynton — hatte es ihr auf einem Stuhl draußen vor ihrer Höhle bequem gemacht.«

»Fahren Sie fort.«

»Hinter der Biegung holten Dr. Gerard und ich die anderen ein. Wir gingen alle zusammen weiter. Nach einiger Zeit kehrte Dr. Gerard dann um. Er hatte sich offenbar schon eine ganze Weile nicht wohl gefühlt. Ich sah, dass er Fieber hatte. Ich bot an, ihn zu begleiten, aber er wollte nichts davon hören.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»So gegen vier, würde ich sagen.«

»Und die anderen?«

»Wir gingen weiter.«

»Alle zusammen?«

»Zuerst ja. Dann trennten wir uns.« Sarah sprach rasch weiter, als ahnte sie die nächste Frage schon. »Nadine Boynton und Mr. Cope gingen in die eine Richtung, und Carol, Lennox, Raymond und ich gingen in eine andere.«

»Und so setzten Sie Ihren Weg fort?«

»Nun ja — nicht ganz. Raymond Boynton und ich verließen die anderen. Wir setzten uns auf eine Felsplatte und bewunderten die wildromantische Landschaft. Dann ging er zurück, während ich noch einige Zeit blieb. Als ich auf die Uhr schaute, war es kurz vor halb sechs, und mir wurde klar, dass ich mich auf den Heimweg machen musste. Ich kam gegen sechs im Camp an. Die Sonne ging gerade unter.«

»Kamen Sie unterwegs an Mrs. Boynton vorbei?«

»Ich sah nur, dass sie noch immer droben auf ihrem Stuhl saß.«

»Und das kam Ihnen nicht merkwürdig vor — dass sie sich nicht von der Stelle gerührt hatte?«

»Nein, weil ich sie schon am Vorabend bei unserer Ankunft dort hatte sitzen sehen.«

»Ich verstehe. Continuez.«

»Ich ging ins Gemeinschaftszelt. Außer Dr. Gerard waren schon alle da. Ich machte mich frisch und kam dann zurück ins Gemeinschaftszelt. Das Abendessen wurde aufgetragen, und einer der Diener ging los, um Mrs. Boynton zu holen. Er kam zurückgerannt und sagte, dass sie krank sei. Ich ging sofort zu ihr. Sie saß noch genau so auf ihrem Stuhl wie vorher, aber als ich sie anfasste, merkte ich, dass sie tot war.«

»Für Sie bestand kein Zweifel, dass sie eines natürlichen Todes gestorben war?«

»Nicht der geringste. Ich hatte gehört, dass sie ein Herzleiden hatte, aber genau welches war mir nicht bekannt.«

»Sie dachten lediglich, sie sei in ihrem Stuhl sitzend gestorben?«

»Ja.«

»Ohne um Hilfe zu rufen?«

»Ja. Das ist nichts Außergewöhnliches. Sie konnte ohne weiteres im Schlaf gestorben sein. Es ist durchaus denkbar, dass sie eingenickt war. Außerdem schliefen alle im Camp sowieso fast den ganzen Nachmittag. Niemand hätte sie gehört, es sei denn, sie hätte sehr laut gerufen.«

»Konnten Sie feststellen, wie lange sie schon tot war?«

»Nun, darüber habe ich nicht weiter nachgedacht. Sie war auf jeden Fall schon einige Zeit tot.«

»Was verstehen Sie unter >schon einige Zeit

»Nun, mindestens eine Stunde. Vielleicht auch länger. Die von den Felsen zurückstrahlende Wärme hätte ein rasches Erkalten der Leiche verhindert.«

»Mindestens eine Stunde? Ist Ihnen bekannt, Mademoiselle King, dass Raymond Boynton nur eine gute halbe Stunde früher mit seiner Mutter sprach und dass sie da lebte und wohlauf war?«

Sie wich seinem Blick aus und schüttelte dann den Kopf. »Er muss sich irren. Es muss früher gewesen sein.«

»Nein, Mademoiselle, es war nicht früher.«

Sie sah ihn wieder geradeheraus an. Poirot fiel erneut der energische Zug um ihren Mund auf.

»Nun«, sagte Sarah, »ich bin noch jung und habe nicht viel Erfahrung mit Leichen, aber ich weiß genug, um mir in einem Punkt ganz sicher zu sein. Mrs. Boynton war schon mindestens eine Stunde tot, als ich ihre Leiche untersuchte!«

»Das«, sagte Hercule Poirot, »ist Ihre Version, und Sie werden sich nicht davon abbringen lassen! Würden Sie mir dann erklären, warum Mr. Boynton aussagen sollte, dass seine Mutter noch lebte, wenn sie in Wahrheit bereits tot war?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Sarah. »Wahrscheinlich deshalb, weil die ganze Familie kein besonders gutes Zeitgefühl hat. Sie sind ja alle ziemlich fahrig.«

»Wie oft, Mademoiselle, hatten Sie Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen?«

Sarah runzelte die Stirn und dachte einen Moment nach.

»Das kann ich Ihnen genau sagen«, erklärte sie. »Auf der Bahnfahrt nach Jerusalem unterhielt ich mich im Gang des Schlafwagens mit Raymond Boynton. Mit Carol Boynton habe ich zweimal gesprochen — einmal vor der Omar-Moschee und einmal spät nachts in meinem Hotelzimmer. Einen Tag später hatte ich vormittags ein Gespräch mit Mrs. Lennox Boynton. Das ist alles — bis zum Nachmittag des Tages, an dem Mrs. Boynton starb, als wir alle gemeinsam einen Spaziergang machten.«

»Sie haben nie mit Mrs. Boynton selbst gesprochen?«

Sarah wurde vor Verlegenheit rot.

»Doch. An dem Tag, als sie Jerusalem verließ, wechselte ich einige Worte mit ihr.« Sie hielt inne und stieß dann hervor: »Ehrlich gesagt, habe ich mich komplett zum Narren gemacht.«

»Ach ja?«

Poirots Ton ließ Sarah keine andere Wahl, als steif und widerwillig den Inhalt des Gesprächs zu wiederholen.

Poirot schien Genaueres wissen zu wollen und nahm sie ins Kreuzverhör.

»Die Mentalität von Mrs. Boynton — sie ist sehr wichtig in diesem Fall«, sagte er. »Und Sie sind eine Außenstehende, eine unvoreingenommene Beobachterin. Ihr Eindruck von ihr ist daher sehr wichtig.«

Sarah gab keine Antwort. Sie fühlte sich jedes Mal peinlich berührt, wenn sie an die Szene denken musste.

»Ich danke Ihnen, Mademoiselle«, sagte Poirot. »Ich werde jetzt mit den anderen Zeugen sprechen.«

Sarah stand auf. »Verzeihen Sie, Monsieur Poirot, aber wenn ich einen Vorschlag machen dürfte —?«

»Nur zu! Nur zu!«

»Warum warten Sie damit nicht, bis die Obduktion stattgefunden hat und Sie genau wissen, ob Ihr Verdacht gerechtfertigt ist oder nicht? Mir kommt das Ganze so vor, als würde man das Pferd am Schwanz aufzäumen.«

Poirot machte eine bombastische Handbewegung. »Das ist eben die Methode von Hercule Poirot«, verkündete er.

Sarah presste die Lippen zusammen und verließ das Zimmer.

Fünftes Kapitel

Lady Westholme betrat das Zimmer mit der Bestimmtheit eines Ozeandampfers, der in den Hafen einläuft.

Miss Amabel Pierce, ein undefinierbareres Wasserfahrzeug, folgte in ihrem Kielwasser und ließ sich auf einem bescheideneren Stuhl etwas hinter ihr nieder.

»Selbstverständlich, Monsieur Poirot«, dröhnte Lady Westholme, »wird es mir ein Vergnügen sein, Sie mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu unterstützen. Ich habe stets die Meinung vertreten, dass in Angelegenheiten dieser Art jedermann aufgerufen ist, seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachzukommen und — «

Nachdem Lady Westholmes staatsbürgerliche Pflichten mehrere Minuten die Szene beherrscht hatten, gelang es Poirot mit List und Tücke, seine erste Frage zu stellen.

»Meine Erinnerung an den fraglichen Nachmittag ist lückenlos«, erwiderte Lady Westholme. »Miss Pierce und ich werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Sie zu unterstützen.«

»O ja!«, seufzte Miss Pierce geradezu verzückt. »Wirklich zu tragisch, nicht wahr? Tot — einfach so — von jetzt auf nachher!«

»Wenn Sie mir bitte exakt schildern würden, was an dem bewussten Nachmittag geschah?«

»Selbstverständlich«, sagte Lady Westholme. »Nachdem wir zu Mittag gegessen hatten, beschloss ich, eine kurze Siesta zu halten. Der Ausflug am Vormittag war doch etwas anstrengend gewesen. Nicht, dass ich richtig müde gewesen wäre — das bin ich so gut wie nie. Im Grunde weiß ich gar nicht, was Müdigkeit ist. Wie oft muss man bei öffentlichen Anlässen, egal wie man sich eigentlich fühlt, seine — «

Wieder gelang es Poirot, eine Bemerkung einzuwerfen.

»Wie gesagt, ich war für eine Siesta. Miss Pierce stimmte mir zu.«

»O ja!«, seufzte Miss Pierce. »Ich war nämlich schrecklich müde nach diesem Vormittag. Der Aufstieg war ja so gefährlich — sehr interessant zwar, aber sehr strapaziös. Ich habe nun einmal leider keine so kräftige Konstitution wie Lady Westholme.«

»Müdigkeit«, sagte Lady Westholme, »kann man ebenso überwinden wie alles andere auch. Ich habe es mir zum Prinzip gemacht, meinen körperlichen Bedürfnissen niemals nachzugeben.«

»Nach dem Mittagessen«, sagte Poirot, »begaben Sie, meine Damen, sich also in Ihre Zelte?«

»Ja.«

»Und Mrs. Boynton saß zu diesem Zeitpunkt vor ihrer Höhle?«

»Ihre Schwiegertochter machte es ihr dort bequem, bevor sie selbst wegging.«

»Sie konnten sie beide sehen?«

»O ja!«, sagte Miss Pierce. »Sie war genau gegenüber, wissen Sie — nur ein bisschen weiter weg und ein wenig höher natürlich.«

Lady Westholme sah sich zu näheren Erläuterungen veranlasst: »Die Höhlen gingen auf einen Felsvorsprung. Unterhalb des Felsvorsprungs standen einige Zelte. Dann kam ein kleines Wadi, und auf der anderen Seite des Wadis befanden sich das Gemeinschaftszelt und weitere Zelte. Miss Pierce und ich hatten die Zelte neben dem Gemeinschaftszelt. Ihres stand auf der rechten Seite des Gemeinschaftszeltes und meines auf der linken. Unsere Zelteingänge lagen in Richtung des Felsvorsprungs, der aber natürlich ein Stück entfernt war.«

»Knapp zweihundert Meter, wie man mir sagte.«

»Schon möglich.«

»Ich habe hier einen Lageplan«, sagte Poirot, »der mit Hilfe des Dragomans Mahmoud angefertigt wurde.«

Lady Westholme bemerkte, dass der Plan in diesem Falle vermutlich hinten und vorne nicht stimmte!

»Der Mann nimmt es mit der Wahrheit nicht sehr genau. Ich habe seine Erklärungen anhand des Baedekers überprüft. In mehreren Fällen waren seine Informationen absolut irreführend.«

»Diesem Lageplan zufolge«, sagte Poirot, »wurde die Höhle neben Mrs. Boynton von ihrem Sohn Lennox und seiner Frau bewohnt. Raymond, Carol und Ginevra Boynton hatten Zelte direkt unterhalb, aber etwas weiter rechts — also fast genau gegenüber vom Gemeinschaftszelt. Rechts von Ginevra Boyntons Zelt war das Zelt von Dr. Gerard und neben diesem das von Miss King. Auf der anderen Seite des Wadis — zur Linken des Gemeinschaftszeltes — standen die Zelte von Ihnen und Mr. Cope. Miss Pierce wohnte, wie Sie sagten, rechts vom Gemeinschaftszelt. Ist das richtig?«

Lady Westholme gab widerwillig zu, dass es sich ihres Wissens so verhielt.

»Ich danke Ihnen. Das wäre also geklärt. Bitte fahren Sie fort, Lady Westholme.«

Lady Westholme bedachte ihn mit einem huldvollen Lächeln und kam der Aufforderung nach: »Gegen Viertel vor vier schlenderte ich zum Zelt von Miss Pierce, um nachzusehen, ob sie schon wach war und Lust zu einem kleinen Spaziergang hatte. Sie saß vor ihrem Zelt und las. Wir verabredeten, uns in einer halben Stunde zu treffen, wenn es nicht mehr so heiß war. Ich ging zurück in mein Zelt und las etwa fünfundzwanzig Minuten. Dann ging ich wieder zu Miss Pierce. Sie war bereit, und so brachen wir auf. Im Camp schien alles zu schlafen — es war kein Mensch unterwegs —, und als ich Mrs. Boynton allein dort oben sitzen sah, sagte ich zu Miss Pierce, dass wir sie fragen sollten, ob sie etwas benötigte, bevor wir gingen.«

»Ja, genau so war es. Sehr rücksichtsvoll von Ihnen, wie ich fand«, murmelte Miss Pierce.

»Ich hielt es nur für meine Pflicht«, sagte Lady Westholme mit grandioser Selbstzufriedenheit.

»Und dann so unhöflich zu reagieren!«, rief Miss Pierce aus.

Poirot sah die Damen fragend an.

»Unser Weg führte direkt unter dem Felsvorsprung entlang«, erläuterte Lady Westholme, »und so rief ich zu ihr hinauf, dass wir einen Spaziergang machen wollten und ob wir vorher etwas für sie tun könnten. Sie werden es nicht glauben, Monsieur Poirot, aber die einzige Antwort darauf war ein Grunzen! Ein Grunzen! Sie sah uns nur an, als ob wir — als ob wir der Abschaum der Menschheit wären!«

»Unerhört so etwas!«, sagte Miss Pierce mit rotem Gesicht.

»Ich muss gestehen«, sagte Lady Westholme, ihrerseits leicht errötend, »dass ich daraufhin eine etwas unchristliche Bemerkung machte.«

»Die durchaus angebracht war, wie ich finde«, sagte Miss Pierce. »Durchaus — unter diesen Umständen.«

»Und was war das für eine Bemerkung?«, fragte Poirot.

»Ich sagte zu Miss Pierce, dass Mrs. Boynton vielleicht trinkt! Ihr Benehmen war ja auch wirklich höchst sonderbar. Schon die ganze Zeit über. Ich hielt es für möglich, dass daran der Alkohol schuld war. Übermäßiger Alkoholgenuss ist ein Übel, das, wie ich sehr wohl weiß — «

Poirot verstand es, das Gespräch geschickt vom Thema Alkohol abzulenken.

»War ihr Benehmen an dem bewussten Tag besonders auffällig gewesen? Zum Beispiel beim Mittagessen?«

»N-nein«, sagte Lady Westholme zögernd. »Nein, ich würde sagen, dass ihr Benehmen da ziemlich normal war — für eine Amerikanerin ihres Schlages, meine ich«, fügte sie herablassend hinzu.

»Sie hat doch diesen Diener so beschimpft«, sagte Miss Pierce.

»Welchen?«

»Kurz bevor wir aufbrachen.«

»Ach ja, ich erinnere mich, sie schien tatsächlich sehr aufgebracht über ihn zu sein! Gewiss«, fuhr Lady Westholme fort, »Diener um sich zu haben, die kein Wort Englisch verstehen, ist höchst enervierend, aber ich sage immer, wenn man auf Reisen ist, muss man nun einmal Zugeständnisse machen.«

»Welcher Diener war das?«, fragte Poirot.

»Einer von den Beduinen, die im Camp beschäftigt sind. Er ging zu ihr hinauf — ich nehme an, dass er ihr etwas hatte holen sollen und vermutlich das Falsche brachte. Ich weiß natürlich nicht, um was es ging, aber auf jeden Fall war sie sehr wütend. Der arme Mann verzog sich, so schnell er nur konnte, und sie drohte ihm mit ihrem Stock und schimpfte hinter ihm her.«

»Mit welchen Worten?«

»Wir waren zu weit weg, um etwas zu verstehen. Ich selbst konnte jedenfalls nichts Genaues hören. Sie etwa, Miss Pierce?«

»Nein, ich auch nicht. Ich denke, sie hatte ihn beauftragt, etwas aus dem Zelt ihrer jüngsten Tochter zu holen — vielleicht war sie aber auch wütend auf ihn, weil er in das Zelt ihrer Tochter gegangen war. Genaueres kann ich leider nicht sagen.«

»Wie sah der Mann aus?«

Miss Pierce, an die die Frage gerichtet war, schüttelte hilflos den Kopf. »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Er war zu weit weg. Für mich sehen diese Araber ohnehin alle gleich aus.«

»Er war größer als der Durchschnitt«, sagte Lady Westholme, »und trug die landesübliche Kopfbedeckung. Er hatte zerrissene und geflickte Breeches an — eine wahre Schande, kann ich nur sagen —, und seine Gamaschen waren sehr schlampig gewickelt. Ein höchst unordentlicher Aufzug! Diesen Leuten fehlt die Disziplin!«

»Würden Sie den Mann unter den Dienern des Camps wieder erkennen?«

»Das bezweifle ich. Sein Gesicht konnten wir ja nicht sehen, dafür war er zu weit weg. Und wie Miss Pierce bereits sagte, sehen diese Araber doch alle gleich aus.«

»Ich frage mich«, sagte Poirot nachdenklich, »was er getan hat, um Mrs. Boynton so wütend zu machen?«

»Manchmal stellen diese Burschen die Geduld auf eine harte Probe«, sagte Lady Westholme. »Einer von ihnen nahm meine Schuhe mit, obwohl ich ihm klipp und klar erklärt hatte — sogar mit Gebärden —, dass ich es vorziehe, meine Schuhe selbst zu putzen.«

»Dies trifft auch auf mich zu«, sagte Poirot, momentan von seiner Befragung abgelenkt. »Ich habe stets mein kleines Schuhputzetui bei mir. Und immer ein Staubtuch.«

»Genau wie ich.« Lady Westholme klang geradezu menschlich.

»Denn diese Araber entfernen nicht den Staub von persönlichen Gegenständen.«

»Nie! Was bedeutet, dass man alles drei-bis viermal am Tag selbst abstauben muß.«

»Aber es lohnt sich.«

»Ja, in der Tat. Ich kann Schmutz nicht ausstehen!« Lady Westholme sah richtiggehend kampfbereit aus.

Hitzig fügte sie hinzu: »Und diese Fliegen — in den Bazaren! Grässlich!«

»Gewiss, gewiss«, sagte Poirot mit leicht schuldbewusster Miene. »Nun, wir werden diesen Mann in Bälde fragen, was es war, das Mrs. Boynton aufbrachte. Würden Sie Ihren Bericht bitte fortsetzen?«

»Wir schlenderten langsam weiter«, sagte Lady Westholme. »Und dann begegneten wir Dr. Gerard. Er kam uns entgegengewankt und sah sehr schlecht aus. Ich wusste gleich, dass er Fieber hatte.«

»Er zitterte«, warf Miss Pierce ein. »Zitterte am ganzen Leib.«

»Ich sah sofort, dass er einen Malariaanfall hatte«, sagte Lady Westholme. »Ich bot an, mit ihm zurückzugehen und ihm Chinin zu bringen, aber er sagte, er habe selbst welches dabei.«

»Der arme Mann«, sagte Miss Pierce. »Es berührt einen immer ganz seltsam, wenn man sieht, dass ein Arzt krank ist. Das scheint einem doch irgendwie verkehrt zu sein.«

»Wir schlenderten weiter«, fuhr Lady Westholme fort. »Und dann setzten wir uns auf einen Felsblock.«

»Nun ja«, murmelte Miss Pierce, »man war ja noch müde — von der Anstrengung am Vormittag, dem Aufstieg — «

»Ich kenne keine Müdigkeit!«, sagte Lady Westholme mit Nachdruck. »Aber es bestand kein Grund, noch weiter zu gehen. Wir hatten dort nämlich einen sehr schönen Blick auf die umliegende Landschaft.«

»Waren Sie in Sichtweite des Camps?«

»Ja, wir hatten es direkt vor uns.«

»Richtig romantisch«, murmelte Miss Pierce. »Ein Zeltlager inmitten einer rosaroten Steinwüste.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf.

»Das Camp könnte wesentlich besser geführt sein«, sagte Lady Westholme. Ihre Pferdenüstern blähten sich. »Ich werde diesbezüglich ein ernstes Wörtchen mit der Firma Castle zu reden haben. Ich glaube nämlich nicht, dass das Trinkwasser sowohl abgekocht als auch gefiltert ist, wie sich das gehört. Und das werde ich den Leuten auch klarmachen.«

Poirot hüstelte und lenkte das Gespräch schleunigst vom Thema Trinkwasser ab.

»Sahen Sie auch andere Mitglieder der Gruppe?«, erkundigte er sich.

»Ja. Der ältere Mr. Boynton und seine Frau kamen auf dem Rückweg ins Camp an uns vorbei.«

» Gemeinsam? «

»Nein. Zuerst kam Mr. Boynton. Er sah aus, als hätte er einen kleinen Sonnenstich. Er ging nämlich so, als wäre ihm etwas schwindelig. «

»Ja, ja, der Nacken!«, sagte Miss Pierce. »Man muss immer auf den Nacken achten! Ich selbst binde mir stets ein schweres Seidentuch um.«

»Was tat Mr. Lennox Boynton nach seiner Rückkehr ins Camp?«, fragte Poirot.

Diesmal gelang es Miss Pierce, Lady Westholme mit der Antwort zuvorzukommen.

»Er ging als Erstes hinauf zu seiner Mutter, blieb aber nicht lange bei ihr.«

»Wie lange?«

»Nur ein bis zwei Minuten.«

»Kaum länger als eine Minute, würde ich sagen«, erklärte Lady Westholme. »Danach ging er in seine Höhle und anschließend hinunter ins Gemeinschaftszelt.«

»Und seine Frau?«

»Die kam etwa eine Viertelstunde später vorbei. Sie blieb kurz stehen und unterhielt sich mit uns — sehr höflich.«

»Ich glaube, sie ist sehr nett«, sagte Miss Pierce. »Wirklich sehr nett.«

»Sie ist nicht so unmöglich wie der Rest der Familie«, räumte Lady Westholme ein.

»Sie verfolgten, wie sie ins Camp zurückkehrte? «

»Ja. Sie ging hinauf zu ihrer Schwiegermutter und sprach mit ihr. Dann ging sie in ihre eigene Höhle und holte einen Stuhl, setzte sich zu ihrer Schwiegermutter und unterhielt sich eine Weile mit ihr — etwa zehn Minuten, würde ich sagen.«

»Und dann?«

»Dann brachte sie den Stuhl wieder in die Höhle und ging hinunter ins Gemeinschaftszelt, wo ihr Mann war.«

»Was geschah dann?«

»Dann kam dieser merkwürdige Amerikaner vorbei«, sagte Lady Westholme. »Cope, wenn ich mich nicht irre. Er erzählte uns, dass gleich hinter der nächsten Biegung ein sehr gutes Beispiel für die minderwertige Architektur der Nabatäerzeit zu finden sei, das wir uns nicht entgehen lassen dürften, wie er meinte. Also gingen wir hin. Mr. Cope hatte einen recht interessanten Artikel über Petra und die Nabatäer dabei.«

»Wirklich hochinteressant«, verkündete Miss Pierce.

»Wir schlenderten zurück zum Camp«, fuhr Lady Westholme fort, »da es bereits knapp zwanzig Minuten vor sechs war. Es wurde schon richtig kühl.«

»Und Mrs. Boynton saß immer noch so da, wie Sie sie verlassen hatten?«

»Ja.«

»Sprachen Sie mit ihr?«

»Nein. Offen gestanden habe ich keine Notiz von ihr genommen.«

»Was taten Sie dann?«

»Ich ging in mein Zelt, wechselte die Schuhe und holte mein Päckchen chinesischen Tee. Dann ging ich ins Gemeinschaftszelt. Dort fand ich den Dragoman vor und gab ihm Anweisung, mit dem Tee, den ich mitgebracht hatte, für Miss Pierce und mich Tee zu kochen und dafür zu sorgen, dass das Wasser, mit dem er zubereitet wurde, auch wirklich kochte. Er sagte, dass in einer halben Stunde das Abendessen serviert werde — die Boys deckten bereits den Tisch —, aber ich erklärte ihm, dass das ohne Belang sei.«

»Es geht doch nichts über eine Tasse Tee, wie ich immer sage«, murmelte Miss Pierce etwas zusammenhanglos.

»War sonst noch jemand im Zelt?«

»Aber ja. Mr. und Mrs. Lennox Boynton saßen am anderen Ende und lasen. Und Carol Boynton war ebenfalls da.«

»Und Mr. Cope?«

»Er schloss sich uns beim Tee an«, sagte Miss Pierce. »Obgleich er meinte, dass Teetrinken keine amerikanische Gepflogenheit sei.«

Lady Westholme räusperte sich. »Ich begann schon zu befürchten, dass Mr. Cope lästig werden könnte, dass er sich womöglich wie eine Klette an mich hängen würde. Es ist häufig nicht leicht, sich die Leute vom Leib zu halten, wenn man auf Reisen ist. Ich stelle immer wieder fest, dass sich so mancher einiges herausnimmt. Insbesondere Amerikaner haben in dieser Hinsicht oft wenig Gespür.«

»Ich bin überzeugt, Lady Westholme«, murmelte Poirot verbindlich, »dass Sie jederzeit fähig sind, mit Situationen dieser Art fertig zu werden. Wenn Reisebekanntschaften ihren Zweck erfüllt haben, verstehen Sie es zweifellos geschickt, sie fallen zu lassen.«

»Ich glaube tatsächlich, dass ich fast mit jeder Situation fertig werde«, sagte Lady Westholme selbstzufrieden.

Das ironische Funkeln in Poirots Augen entging ihr völlig.

»Wenn Sie so freundlich wären, nun die weiteren Ereignisse jenes Tages zu schildern?«

»Selbstverständlich. Soweit ich mich erinnere, kamen kurz darauf Raymond Boynton und die rothaarige Boynton-Tochter ins Zelt. Miss King traf als Letzte ein. Da wollte man bereits das Abendessen servieren. Der Dragoman schickte einen der Diener los, um der alten Mrs. Boynton Bescheid zu sagen. Der Mann kam mit einem seiner Kollegen ziemlich aufgeregt zurückgerannt und sagte dem Dragoman etwas auf Arabisch. Es hieß, dass Mrs. Boynton krank sei. Miss King bot ihre Dienste an. Dann ging sie mit dem Dragoman weg. Sie kam zurück und informierte Mrs. Boyntons Familie.«

»Und das völlig abrupt«, warf Miss Pierce ein. »Platzte einfach damit heraus! Ich persönlich finde, dass man das schonender hätte tun müssen.«

»Und wie nahm Mrs. Boyntons Familie die Nachricht auf?«, fragte Poirot.

Ausnahmsweise schienen sowohl Lady Westholme als auch Miss Pierce um eine Antwort verlegen zu sein. Schließlich sagte Erstere mit einer Stimme, die ihre übliche Selbstsicherheit vermissen ließ: »Tja — also — das ist schwer zu sagen. Sie — sie waren alle ziemlich sprachlos.«

»Erschüttert«, sagte Miss Pierce. Es klang eher wie eine Vermutung als wie eine Tatsache.

»Sie gingen alle mit Miss King hinaus«, sagte Lady Westholme. »Miss Pierce und ich besaßen so viel Taktgefühl, zu bleiben, wo wir waren.«

In den Augen von Miss Pierce erschien plötzlich ein leicht wehmütiger Ausdruck.

»Ich verabscheue penetrante Neugier!«, fuhr Lady Westholme fort.

Der wehmütige Blick wurde ausgeprägter. Es war klar, dass Miss Pierce nichts anderes übrig geblieben war, als penetrante Neugier ebenfalls zu hassen!

»Etwas später«, sagte Lady Westholme abschließend, »kamen der Dragoman und Miss King zurück. Ich schlug vor, das Abendessen für uns vier sofort zu servieren, damit die Boyntons später allein und ohne die peinliche Anwesenheit von Fremden essen konnten. Mein Vorschlug wurde angenommen, und unmittelbar nach dem Essen zog ich mich in mein Zelt zurück. Miss King und Miss Pierce folgten meinem Beispiel. Mr. Cope blieb meines Wissens im Gemeinschaftszelt, da er ein Freund der Familie ist und ihnen vermutlich beistehen wollte. Das ist alles, was ich weiß, Monsieur Poirot.«

»Nachdem Miss King die Familie informiert hatte, verließen da alle Boyntons mit ihr das Gemeinschaftszelt?«

»Ja - das heißt, nein. Jetzt, wo Sie es erwähnen, glaube ich mich zu entsinnen, dass das rothaarige Mädchen nicht mitging. Vielleicht erinnern Sie sich, Miss Pierce?«

»Ja, ich glaube — ich bin sicher, dass sie blieb.«

Poirot fragte: »Und was machte sie?«

Lady Westholme starrte ihn verständnislos an. »Was sie machte, Monsieur Poirot? Sie machte gar nichts, soweit ich mich erinnern kann.«

»Ich meine, nähte sie oder las sie? Wirkte sie verstört? Sagte sie etwas?«

»Tja, also wirklich.« Lady Westholme runzelte die Stirn. »Sie — nun ja — sie saß einfach da, wenn ich mich recht erinnere.«

»Sie spielte mit ihren Fingern herum«, sagte Miss Pierce plötzlich. »Ich entsinne mich, dass mir das auffiel. Armes Ding, dachte ich noch, das zeigt, dass die Sache sie doch sehr mitnimmt! Ihrem Gesicht war nämlich überhaupt nichts anzumerken, wissen Sie — nur ihre Hände waren ständig in Bewegung.«

»Ich erinnere mich«, fuhr Miss Pierce im Plauderton fort, »wie ich einmal eine Pfundnote zerriss — genau so, ohne zu wissen, was ich tat. >Soll ich den nächsten Zug nehmen und zu ihr fahren?<, dachte ich. Es ging um eine Großtante von mir, die plötzlich erkrankt war. >Oder soll ich nicht fahren?< Ich konnte mich einfach nicht entscheiden, weder so noch so, und dann blickte ich nach unten und merkte, dass ich statt des Telegramms eine Pfundnote -eine Pfundnote! - in winzige Stücke riss!«

Miss Pierce hielt dramatisch inne.

Lady Westholme, die es nicht billigen konnte, dass ihr Trabant plötzlich ins Rampenlicht drängte, sagte frostig: »Haben Sie noch weitere Fragen, Monsieur Poirot?«

Poirot, der in Gedanken versunken gewesen war, kam mit einem Ruck zu sich. »Nein — nein, keine. Sie waren sehr präzise — sehr exakt.«

»Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis«, stellte Lady Westholme mit Befriedigung fest.

»Eine letzte kleine Bitte noch, Lady Westholme«, sagte Poirot. »Bitte bleiben Sie so, wie Sie jetzt sitzen, und drehen Sie sich nicht um. Wären Sie wohl so freundlich, mir zu beschreiben, was Miss Pierce heute trägt — natürlich nur, wenn Miss Pierce nichts dagegen einzuwenden hat?«

»O nein! Ganz und gar nicht!«, zwitscherte Miss Pierce.

»Also wirklich, Monsieur Poirot! Und was ist der Zweck dieser Übung?«

»Bitte tun Sie, um was ich Sie gebeten habe, Madame.«

Lady Westholme zuckte mit den Schultern und sagte dann ziemlich unwirsch: »Miss Pierce trägt ein braun und weiß gestreiftes Baumwollkleid und dazu einen sudanesischen Gürtel aus rotem, blauem und beigem Leder. Sie trägt beige Seidenstrümpfe und Spangenschuhe aus braunem Glanzleder. Im linken Strumpf hat sie eine Laufmasche. Sie trägt eine Halskette aus Karneolen und eine aus leuchtend königsblauen Glasperlen — und eine Brosche mit einem Schmetterling aus Perlen darauf. Am Ringfinger der rechten Hand trägt sie einen Ring mit einer Skarabäus-Imitation. Auf dem Kopf hat sie einen breitkrempigen Sonnenhut aus rosa und braunem Filz.« Sie hielt inne — wie um ihre Kompetenz zu unterstreichen.

»Noch weitere Fragen?«, erkundigte sie sich kühl.

Poirot breitete viel sagend die Hände aus.

»Sie haben meine volle Bewunderung, Madame. Ihre Beobachtungsgabe ist unübertrefflich. «

»Mir entgeht selten etwas.«

Lady Westholme erhob sich, nickte andeutungsweise und verließ das Zimmer.

Als Miss Pierce, mit einem verlegenen Blick auf ihr linkes Bein, ihr folgen wollte, sagte Poirot: »Einen kleinen Moment bitte, Mademoiselle.«

»Ja?« Miss Pierce blickte mit leicht besorgter Miene auf.

Poirot beugte sich vertraulich vor.

»Sehen Sie den Blumenstrauß dort auf dem Tisch?«

»Ja«, sagte Miss Pierce erstaunt.

»Und haben Sie bemerkt, nachdem Sie ins Zimmer kamen, dass ich ein- oder zweimal niesen musste?«

»Ja?«

»Bemerkten Sie, ob ich kurz davor an den Blumen gerochen hatte?«

»Tja — also — nein — das weiß ich wirklich nicht.«

»Aber Sie erinnern sich, dass ich niesen musste?«

»O ja, daran erinnere ich mich!«

»Nun, egal, es ist nicht weiter wichtig. Ich habe mich nur gefragt, ob diese Blumen vielleicht Heuschnupfen verursachen. Egal!«

»Heuschnupfen?«, rief Miss Pierce. »Ich entsinne mich, dass eine Cousine von mir wahnsinnig darunter zu leiden hatte! Sie sagte immer, wenn man sich täglich Boraxlösung in die Nase sprüht, dann — «

Nur mit Mühe gelang es Poirot, weitere Ausführungen bezüglich der Behandlung des Heuschnupfens besagter Cousine zu unterbinden und Miss Pierce loszuwerden. Er machte die Tür hinter ihr zu und kehrte mit gerunzelter Stirn ins Zimmer zurück.

»Aber ich habe überhaupt nicht geniest«, murmelte er. »So viel zu diesem Thema. Nein, ich habe nicht geniest.«

Sechstes Kapitel

Lennox Boynton kam mit schnellen, resoluten Schritten ins Zimmer. Wäre Dr. Gerard anwesend gewesen, so hätte er gestaunt, welche Veränderung in dem Mann vorgegangen war. Die Apathie war verschwunden. Sein Auftreten wirkte sicher — obwohl er ganz offenkundig nervös war. Seine Augen waren ständig in Bewegung, schweiften unruhig im Zimmer herum.

»Guten Morgen, Mr. Boynton.«, Poirot erhob sich und machte eine förmliche Verbeugung, die Lennox etwas steif erwiderte. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir diese Unterredung gewähren.«

Lennox Boynton sagte ziemlich verunsichert: »Äh — Colonel Carbury meinte, dass es sinnvoll wäre — empfahl mir — irgendwelche Formalitäten, wie er sagte.«

»Bitte nehmen Sie Platz, Monsieur Boynton.«

Lennox setzte sich auf den Stuhl, auf dem noch vor kurzem Lady Westholme gesessen hatte. Poirot fuhr im Plauderton fort: »Das muss ein großer Schock für Sie gewesen sein, nest-ce pas?«

»Ja, natürlich. Nun, nein, vielleicht doch nicht... Wir wussten ja, dass Mutter ein schwaches Herz hatte.«

»War es unter diesen Umständen klug, ihr zu erlauben, eine so strapaziöse Reise auf sich zu nehmen?«

Lennox Boynton blickte auf. Seine Antwort entbehrte nicht einer gewissen melancholischen Würde.

»Meine Mutter, Monsieur — äh — Poirot, traf ihre eigenen Entscheidungen. Wenn sie sich zu etwas entschlossen hatte, war es zwecklos, sie davon abbringen zu wollen.«

Bei den letzten Worten zog er scharf die Luft ein. Sein Gesicht wurde plötzlich sehr blass.

»Ich weiß sehr wohl«, räumte Poirot ein, »dass ältere Damen gelegentlich höchst eigensinnig sind.«

Lennox sagte gereizt: »Was soll das Ganze eigentlich? Das möchte ich jetzt wirklich wissen! Wieso gibt es da auf einmal irgendwelche Formalitäten?«

»Es ist Ihnen vielleicht nicht bekannt, Mr. Boynton, aber in Fällen eines plötzlichen und ungeklärten Todes sind zwangsläufig gewisse Formalitäten zu beachten.«

Lennox sagte scharf: »Was meinen Sie mit >ungeklärt

Poirot zuckte mit den Schultern. »Es stellt sich immer die Frage: War es ein natürlicher Tod — oder könnte es vielleicht Selbstmord gewesen sein?«

»Selbstmord?« Lennox Boynton starrte Poirot entgeistert an.

Poirot sagte leichthin: »Sie wissen das selbstverständlich am besten. Colonel Carbury tappt natürlich im Dunkeln. Aber er muss entscheiden, ob er eine Untersuchung anordnen soll oder nicht — eine Obduktion und ähnliche Dinge. Da ich zufällig gerade hier war und da ich in derlei Dingen große Erfahrung besitze, schlug er mir vor, Nachforschungen anzustellen und ihn zu beraten in dieser Angelegenheit. Natürlich möchte er Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, wenn es sich vermeiden lässt.«

Lennox Boynton sagte ärgerlich: »Ich werde unserem Konsul in Jerusalem telegrafieren.«

Poirot sagte verbindlich: »Das ist selbstverständlich Ihr gutes Recht.«

Beide schwiegen. Schließlich breitete Poirot die Hände aus und sagte: »Wenn Sie meine Fragen nicht beantworten wollen — «

»Nein, nein«, sagte Lennox Boynton rasch. »Ich — mir kommt das alles nur — völlig überflüssig vor.«

»Ich verstehe. Ich verstehe vollkommen. Aber die Sache ist sehr einfach. Reine Routine, wie man so sagt. Alors, an dem Tag, an dem Ihre Mutter starb, verließen Sie nachmittags das Camp in Petra und machten einen Spaziergang. Ist das richtig?«

»Ja. Wir machten alle einen Spaziergang — mit Ausnahme meiner Mutter und meiner jüngsten Schwester.«

»Ihre Mutter saß zu dieser Zeit vor ihrer Höhle?«

»Ja, direkt vor dem Eingang. Dort saß sie jeden Nachmittag.«

»Gut. Wann brachen Sie auf?«

»Kurz nach drei, glaube ich.«

»Und wann kehrten Sie von Ihrem Spaziergang zurück?«

»Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen — gegen vier, vielleicht auch gegen fünf.«

»Also ein bis zwei Stunden, nachdem Sie aufgebrochen waren?«

»Ja — so ungefähr, würde ich sagen.«

»Kamen Sie auf dem Rückweg an jemand vorbei?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ob Sie auf dem Rückweg an jemand vorbeikamen. Zum Beispiel an zwei Damen, die auf einem Stein saßen.«

»Keine Ahnung. Schon möglich.«

»Vielleicht waren Sie zu sehr in Ihre Gedanken vertieft, um sie zu bemerken?«

»Ja, das könnte sein.«

»Sprachen Sie mit Ihrer Mutter, als Sie wieder im Camp waren?«

»Ja — ja, allerdings.«

»Sie klagte nicht darüber, dass sie sich unwohl fühlte?«

»Nein — nein, es schien alles in Ordnung zu sein.«

»Darf ich fragen, worüber Sie beide sprachen?«

Lennox zögerte einen Moment. »Sie meinte, ich sei ziemlich bald zurückgekommen. Ich bejahte es.« Er hielt abermals inne, versuchte sich zu besinnen. »Ich sagte, dass es sehr heiß sei. Sie — sie fragte mich nach der Uhrzeit, sagte, ihre Armbanduhr sei stehen geblieben. Ich nahm ihr die Uhr ab, zog sie auf, stellte sie und band sie ihr wieder um.«

Poirot warf freundlich ein: »Und wie spät war es da?«

»Wie?«, sagte Lennox.

»Wie spät war es, als Sie die Armbanduhr stellten?«

»Ach so. Es war fünfundzwanzig Minuten vor fünf.«

»Dann wissen Sie doch ganz genau, wann Sie ins Camp zurückkehrten«, sagte Poirot freundlich.

Lennox wurde rot. »Natürlich! Wie dumm von mir! Sie müssen entschuldigen, Monsieur Poirot, aber in meinem Kopf geht alles drunter und drüber. Die ganze Aufregung — «

»Oh, das ist nur verständlich«, fiel ihm Poirot ins Wort, »absolut verständlich! Es ist alles in höchstem Maße beunruhigend! Und was geschah dann?«

»Ich fragte meine Mutter, ob ich ihr etwas bringen sollte. Etwas zu trinken — Tee, Kaffee oder so. Sie sagte, nein. Daraufhin ging ich ins Gemeinschaftszelt. Von den Dienern war nichts zu sehen, aber ich fand eine Flasche Sodawasser und trank sie aus. Ich war sehr durstig. Ich habe mich hingesetzt und einige alte Ausgaben der Saturday Evening Post gelesen. Dabei muss ich wohl eingenickt sein.«

»Ihre Frau kam ebenfalls ins Gemeinschaftszelt? «

»Ja, sie kam kurz nach mir.«

»Und Sie haben Ihre Mutter nicht lebend wieder gesehen?«

»Nein.«

»Sie schien nicht erregt oder aufgebracht zu sein, als Sie mit ihr sprachen?«

»Nein, sie war so wie immer.«

»Sie erwähnte nicht, dass sie mit einem der Diener Ärger oder Unannehmlichkeiten gehabt hatte?«

Lennox starrte ihn verblüfft an. »Nein, mit keinem Wort.«

»Und das ist alles, was Sie mir sagen können?«

»Leider, ja.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Boynton.«

Poirot neigte den Kopf zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war. Lennox schien nur ungern zu gehen. An der Tür blieb er zögernd stehen. »Äh — war das alles?«

»Gewiss. Vielleicht wären Sie so freundlich, Ihre Frau zu bitten, zu mir zu kommen?«

Lennox ging langsam hinaus. Poirot notierte auf seinem Block: L.B. 16.35 Uhr.

Siebtes Kapitel

Poirot betrachtete interessiert die hoch gewachsene, würdevolle junge Frau, die das Zimmer betrat. Er stand auf und verbeugte sich höflich vor ihr. »Mrs. Lennox Boynton? Hercule Poirot, zu Ihren Diensten.«

Nadine Boynton nahm Platz. Ihre nachdenklichen Augen ruhten auf Poirots Gesicht.

»Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, Madame, dass ich Sie in Ihrer Trauer belästigen muss.«

Ihre Augen sahen ihn unverwandt an. Sie antwortete nicht sofort. Ihr Blick blieb ruhig und ernst. Schließlich seufzte sie und sagte: »Ich halte es für das Beste, Ihnen gegenüber völlig offen zu sein, Monsieur Poirot.«

»Ganz Ihrer Meinung, Madame.«

»Sie entschuldigen sich, weil Sie mich in meiner Trauer zu belästigen glauben. Doch da ist keine Trauer, Monsieur Poirot, und es ist müßig, so zu tun, als würde ich trauern. Ich mochte meine Schwiegermutter nicht, und ich kann nicht guten Gewissens behaupten, dass ich ihren Tod bedauere.«

»Ich danke Ihnen, Madame, dass Sie so offen sprechen.«

»Trauer«, fuhr Nadine fort, »kann ich nicht vortäuschen, aber ich muss gestehen, dass ich etwas anderes empfinde — nämlich Gewissensbisse.«

»Gewissensbisse?« Poirot zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Ja. Denn ich bin diejenige, die ihren Tod verschuldet hat. Und deswegen mache ich mir bittere Vorwürfe.«

»Was sagen Sie da, Madame?«

»Ich sagte, dass ich am Tod meiner Schwiegermutter schuld bin. Ich handelte, wie ich glaubte, in bester Absicht — aber die Folgen waren tragisch. Im Grunde genommen habe ich sie getötet.«

Poirot lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Hätten Sie wohl die Güte, Madame, Ihre Worte näher zu erläutern?«

Nadine neigte den Kopf. »Ja. Genau das wollte ich ohnehin. Meine erste Reaktion war natürlich, meine Privatangelegenheiten für mich zu behalten, aber ich sehe ein, dass es an der Zeit ist, lieber alles zu sagen. Ich bin sicher, Monsieur Poirot, dass Sie schon oft vertrauliche Mitteilungen auch intimer Art erhalten haben.«

»In der Tat.«

»Dann will ich Ihnen geradeheraus erzählen, wie es war. Meine Ehe, Monsieur Poirot, ist nicht besonders glücklich. Die Schuld daran liegt nicht allein bei meinem Mann — seine Mutter hatte immer einen sehr ungünstigen Einfluss auf ihn —, aber seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass ich dieses Leben nicht länger ertragen kann.«

Sie hielt inne und fuhr dann fort: »Am Nachmittag des Tages, an dem meine Schwiegermutter starb, kam ich zu einem Entschluss. Ich habe einen Freund — einen sehr guten Freund. Er hat mich mehr als nur einmal gebeten, sein Leben mit ihm zu teilen. An diesem Nachmittag nahm ich seinen Antrag an.« — »Sie beschlossen, Ihren Mann zu verlassen?«

»Ja.«

»Sprechen Sie weiter, Madame.«

Nadine fuhr mit leiser Stimme fort: »Nachdem mein Entschluss feststand, wollte ich — wollte ich ihn so schnell wie möglich in die Tat umsetzen. Ich ging allein zurück ins Camp. Meine Schwiegermutter saß noch immer vor ihrer Höhle, es war niemand in der Nähe, und so beschloss ich, ihr meine Entscheidung auf der Stelle mit zuteilen. Ich holte mir einen Stuhl, setzte mich zu ihr und teilte ihr ohne große Vorrede mit, was ich beschlossen hatte.«

»War sie überrascht?«

»Ja, ich fürchte, es war ein großer Schock für sie. Sie war überrascht und wütend zugleich — sehr wütend. Sie — sie geriet richtiggehend in Rage! Daraufhin weigerte ich mich, weiter mit ihr darüber zu reden. Ich stand auf und ging.« Ihre Stimme wurde noch leiser. »Ich — ich habe sie nicht lebend wieder gesehen.«

Poirot nickte bedächtig. »Ich verstehe.« Nach einer Weile sagte er: »Und Sie glauben, ihr Tod war die Folge dieses Schocks?«

»Dessen bin ich mir fast sicher. Sehen Sie, mit der Reise nach Petra hatte sie sich ohnehin schon zu viel zugemutet. Den Rest besorgten meine Mitteilung und ihr Wutanfall. Und ich fühle mich auch deshalb schuldig, weil ich eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Kranken habe und daher, mehr als jeder andere, hätte wissen müssen, dass so etwas passieren konnte.«

Poirot schwieg geraume Zeit und sagte dann: »Was genau taten Sie, nachdem Sie sie verlassen hatten?«

»Ich trug den Stuhl, den ich aus meiner Höhle geholt hatte, wieder hinein und ging hinunter ins Gemeinschaftszelt, wo mein Mann war.«

Poirot beobachtete sie scharf, als er fragte: »Erzählten sie auch ihm von Ihrem Entschluss? Oder hatten Sie ihn bereits informiert?«

Nadine zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde lang. »Ich sagte es ihm erst unten im Zelt.«

»Und wie nahm er es auf?« Sie antwortete leise: »Er war sehr bestürzt.«

»Bat er Sie, Ihren Entschluss zu überdenken?« Sie schüttelte den Kopf. »Er — er sagte nicht viel. Wissen Sie, wir wussten beide schon seit einiger Zeit, dass es vielleicht dazu kommen würde.«

»Verzeihen Sie, wenn ich das frage«, sagte Poirot, »aber der andere Mann ist Mr. Jefferson Cope, nicht wahr?«

Sie senkte den Kopf. »Ja.«

Nach längerem Schweigen fragte Poirot in unverändertem Ton: »Besitzen Sie eine Spritze für subkutane Injektionen?«

»Ja — das heißt, nein.«

Poirots Augenbrauen wanderten nach oben.

Sie erläuterte es näher: »In meiner Reiseapotheke befindet sich unter anderem auch eine alte Spritze, aber die Tasche ist in unserem großen Gepäck, das wir in Jerusalem gelassen haben.«

»Ich verstehe.«

Beide schwiegen, bis Nadine beklommen sagte: »Warum fragen Sie mich das, Monsieur Poirot?«

Er gab keine Antwort darauf, sondern stellte seinerseits eine Frage: »Soviel ich weiß, nahm Mrs. Boynton ein Medikament ein, das Digitalis enthielt?«

»Ja.«

Poirot bemerkte, dass sie inzwischen auf der Hut war.

»Wegen ihres Herzleidens?«

»Ja.«

»Könnte man sagen, daß Digitalis ein kumulatives Arzneimittel ist?«

»Ich glaube, ja. Aber ich kenne mich mit diesen Dingen nicht aus.«

»Wenn Mrs. Boynton eine große Überdosis Digitalis eingenommen hätte — «

Sie fiel ihm sofort und mit großer Bestimmtheit ins Wort.

»Ausgeschlossen. Sie war immer sehr vorsichtig. Genau wie ich, wenn ich das Medikament für sie zurechtmachte.«

»Das bewusste Fläschchen könnte eine zu starke Dosis enthalten haben. Ein Versehen des Apothekers, der die Medizin zusammenstellte? «

»Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich«, erwiderte sie ruhig.

»Nun, nach der Analyse des Flascheninhalts werden wir Genaueres wissen.«

Nadine sagte: »Das Fläschchen wurde leider zerbrochen.«

Poirot musterte sie plötzlich sehr aufmerksam.

»Tatsächlich? Wer hat es zerbrochen?«

»Das weiß ich nicht genau. Vermutlich einer der Diener. Als die Leiche meiner Schwiegermutter in ihre Höhle gebracht wurde, herrschte ein ziemliches Durcheinander, und das Licht war sehr schlecht. Dabei fiel ein Tisch um.«

Poirot sah sie geraume Zeit unverwandt an.

»Das«, sagte er schließlich, »ist sehr interessant.«

Nadine Boynton rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.

»Wollen Sie damit andeuten, dass meine Schwiegermutter nicht an einem Schock starb, sondern an einer Überdosis Digitalis?«, sagte sie und fügte hinzu: »Das erscheint mir höchst unwahrscheinlich.«

Poirot beugte sich vor. »Auch dann, wenn ich Ihnen verrate, dass Dr. Gerard, der französische Arzt, der sich im Camp aufhielt, eine beträchtliche Menge eines Digitoxin-Präparates aus seiner Reiseapotheke vermisst?«

Ihr Gesicht wurde aschfahl. Poirot sah, wie sich ihre Hand auf dem Tisch verkrampfte. Sie blickte zu Boden. Sie saß absolut still da. Wie eine aus Stein gemeißelte Madonna.

»Nun, Madame«, sagte Poirot schließlich, »was haben Sie dazu zu sagen?«

Die Sekunden verstrichen, doch Nadine Boynton sagte nichts. Erst nach zwei Minuten hob sie endlich den Kopf, und Poirot erschrak, als er den Ausdruck in ihren Augen sah.

»Monsieur Poirot, ich habe meine Schwiegermutter nicht getötet. Das wissen Sie genau! Sie lebte und war wohlauf, als ich sie verließ. Das können mehrere Personen bezeugen! Und da ich dieses Verbrechen nicht begangen habe, kann ich mir erlauben, an Sie zu appellieren. Warum müssen Sie sich einmischen? Wenn ich Ihnen bei allem, was mir heilig ist, schwöre, dass hier nur der Gerechtigkeit Genüge getan wurde und nichts weiter — werden Sie Ihre Ermittlungen dann einstellen? Es hat schon so viel Leid gegeben — mehr als Sie ahnen. Und jetzt, wo es endlich vorbei ist und die Chance besteht, glücklich zu werden, jetzt wollen Sie das alles zerstören?«

Poirot setzte sich sehr gerade auf. In seinen Augen funkelte es gefährlich.

»Damit wir uns richtig verstehen, Madame: Was genau verlangen Sie von mir?«

»Ich versichere Ihnen, dass meine Schwiegermutter eines natürlichen Todes starb, und bitte Sie, diesen Sachverhalt zu akzeptieren.«

»Lassen Sie uns das klarstellen. Sie glauben, dass Ihre Schwiegermutter vorsätzlich getötet wurde, und bitten mich, einen Mord gutzuheißen!«

»Ich bitte Sie, Mitleid zu haben!«

»Ja — mit jemand, der selbst kein Mitleid hatte!«

»Sie verstehen nicht — es war nicht so.«

»Haben Sie das Verbrechen selbst begangen, Madame, dass Sie das so genau wissen?«

Nadine schüttelte den Kopf. Sie verriet keinerlei Anzeichen von Schuldbewusstsein. »Nein«, sagte sie ruhig. »Sie lebte noch, als ich sie verließ.«

»Und dann? Was geschah dann? Sie wissen es — oder Sie vermuten es?«

Nadine sagte heftig: »Monsieur Poirot, ich habe gehört, dass Sie damals bei dem Mord im Orientexpress die offizielle Version dessen, was sich ereignet hatte, akzeptiert haben.«

Poirot sah sie neugierig an. »Darf ich fragen, wer Ihnen das erzählt hat?«

»Trifft es zu?«

Er sagte langsam: »Das war ein — anderer Fall.«

»Nein. Der Fall war nicht anders! Der Mann, der getötet wurde, war ein schlechter Mensch« — sie senkte die Stimme —, »genau wie sie...«

Poirot sagte: »Der moralische Charakter des Opfers hat nichts damit zu tun! Ein Mensch, der sich das Recht anmaßt, Selbstjustiz zu üben, und einem anderen das Leben nimmt, muss aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen werden! Das sagt Ihnen Hercule Poirot!«

»Wie hart Sie doch sind!«

»Madame, in mancher Hinsicht bin ich unerbittlich. Ich werde niemals einen Mord gutheißen! Das ist das letzte Wort von Hercule Poirot.«

Sie stand auf. In ihren dunklen Augen loderte plötzlich ein Feuer.

»Dann nur zu! Ruinieren Sie das Leben unschuldiger Menschen! Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«

»Ich glaube, dass Sie mir noch sehr viel zu sagen haben, Madame.«

»Nein, nichts.«

»O doch, Madame! Was geschah, nachdem Sie Ihre Schwiegermutter verlassen hatten? Während Sie und Ihr Gatte sich im Gemeinschaftszelt aufhielten?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen?«

»Sie wissen es — oder Sie vermuten es.«

Sie blickte ihm fest in die Augen. »Ich weiß gar nichts, Monsieur Poirot.«

Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.

Achtes Kapitel

Nachdem Poirot auf seinem Notizblock »N.B. 16.40«, notiert hatte, ging er zur Tür und rief den Burschen, den ihm Colonel Carbury zur Verfügung gestellt hatte, einen intelligenten Mann mit guten Englischkenntnissen. Er bat ihn, Miss Carol Boynton zu holen.

Als sie eintrat, betrachtete Poirot die junge Frau mit einigem Interesse — das kastanienbraune Haar, die Haltung des Kopfes auf dem schlanken Hals, die nervöse Rastlosigkeit der wohlgeformten Hände.

Er sagte: »Setzen Sie sich, Mademoiselle.«

Sie nahm gehorsam Platz. Ihr Gesicht war blass und ausdruckslos. Poirot sprach ihr zunächst automatisch sein Beileid aus, das die junge Frau ohne sichtbare Regung entgegennahm.

»Und nun, Mademoiselle, würden Sie mir erzählen, wie Sie den Nachmittag des fraglichen Tages verbrachten?«

Ihre Antwort kam so prompt, dass der Verdacht nahe lag, dass diese zuvor einstudiert worden war.

»Nach dem Mittagessen machten wir alle einen Spaziergang. Ich kehrte ins Camp zurück — «

Poirot unterbrach sie. »Einen kleinen Moment. Waren Sie bis dahin alle zusammen?«

»Nein. Ich war die meiste Zeit mit meinem Bruder Raymond und Miss King zusammen. Dann ging ich allein weiter.«

»Vielen Dank. Sie sagten, dass Sie ins Camp zurückkehrten. Um welche Uhrzeit war das?«

»Ich glaube, es war ziemlich genau zehn Minuten nach fünf.«

Poirot notierte sich »C.B. 17.10«.

»Und was taten Sie dann?«

»Meine Mutter saß noch dort, wo sie gesessen hatte, als wir aufbrachen. Ich ging hinauf und sprach mit ihr und ging dann hinunter in mein Zelt.«

»Können Sie sich genau erinnern, worüber Sie miteinander sprachen?«

»Ich sagte nur, dass es sehr heiß sei und dass ich mich hinlegen werde. Meine Mutter meinte, sie würde bleiben, wo sie war. Das war alles.«

»Schien sie Ihnen in irgendeiner Weise anders als sonst zu sein?«

»Nein. Das heißt.«

Sie verstummte unsicher und starrte Poirot sinnend an.

»Von mir dürfen Sie die Antwort nicht erwarten, Mademoiselle«, sagte Poirot ruhig.

»Ich habe nur überlegt. Damals habe ich nicht weiter darauf geachtet, aber wenn ich j etzt zurückdenke .«

»Ja?«

»Es stimmt«, sagte Carol langsam, »sie hatte eine komische Farbe — ihr Gesicht war sehr rot — viel röter als sonst.«

»Sie könnte vielleicht einen Schock bekommen haben?«, suggerierte Poirot.

»Einen Schock?« Sie sah ihn verständnislos an.

»Ja, sie könnte, sagen wir, mit einem der arabischen Diener Ärger gehabt haben.«

»Oh!« Ihre Miene hellte sich auf. »Ja — das wäre möglich.«

»Sie erwähnte nicht, dass etwas in dieser Art vorgefallen war?«

»N-nein. Nein, nichts dergleichen.«

Poirot fuhr fort: »Und was taten Sie dann, Mademoiselle?«

»Ich ging in mein Zelt und legte mich ungefähr eine halbe Stunde hin. Dann ging ich hinunter ins Gemeinschaftszelt. Mein Bruder und seine Frau waren dort und lasen.«

»Und was machten Sie?«

»Oh, ich hatte etwas zu nähen. Und danach las ich eine Zeitschrift.«

»Sprachen Sie auf dem Weg zum Gemeinschaftszelt nochmals mit Ihrer Mutter?«

»Nein. Ich ging auf direktem Wege hinunter. Ich glaube, ich habe nicht einmal zu ihr hinaufgesehen.«

»Und dann?«

»Ich blieb im Gemeinschaftszelt bis — bis Miss King uns mitteilte, dass sie tot war.«

»Und das ist alles, was Sie wissen, Mademoiselle?«

»Ja.«

Poirot beugte sich vor. Noch immer im leichten Plauderton sagte er: »Und was fühlten Sie, Mademoiselle?«

»Was ich fühlte?«

»Ja, als Sie hörten, dass Ihre Mutter — pardon, Ihre Stiefmutter, nicht wahr? Nun, was fühlten Sie, als Sie hörten, dass sie tot war?«

Sie starrte ihn an.

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen!«

»Ich glaube, Sie verstehen mich sehr gut.«

Sie blickte zu Boden. Dann sagte sie unsicher: »Es war — ein großer Schock.«

»Tatsächlich? «

Das Blut schoss ihr in die Wangen. Sie starrte Poirot hilflos an. Er sah, dass plötzlich Angst in ihren Augen lag.

»War es wirklich ein so großer Schock, Mademoiselle? Erinnern Sie sich an ein gewisses Gespräch, das Sie mit Ihrem Bruder eines Abends in Jerusalem führten?«

Der Schuss traf ins Schwarze. Poirot erkannte es daran, wie abermals alle Farbe aus Carols Wangen wich.

»Sie wissen davon?«, flüsterte sie.

»Ja.«

»Aber wieso — woher?«

»Ein Teil Ihres Gespräches wurde belauscht.«

»Oh!« Carol Boynton schlug die Hände vors Gesicht. Ihr Schluchzen erschütterte den Tisch.

Hercule Poirot wartete eine Minute und sagte dann ruhig: »Sie planten gemeinsam den Tod Ihrer Mutter.«

Carol stieß schluchzend hervor: »Wir waren verrückt — völlig verrückt — an dem Abend!«

»Vielleicht.«

»Sie können sich unmöglich vorstellen, in was für einer Verfassung wir waren!« Sie setzte sich auf und strich sich das Haar aus der Stirn. »Es klingt ja auch zu abwegig. Daheim in Amerika war es nicht so schlimm — aber diese Reise hat es uns deutlich vor Augen geführt.«

»»Was hat Ihnen die Reise vor Augen geführt?« Seine Stimme war gütig, mitfühlend geworden.

»Dass wir anders sind als — als andere Leute! Wir — wir wussten nicht mehr ein und aus. Schon wegen Jinny.«

»Wer ist Jinny?«

»Meine Schwester. Sie kennen sie nicht. Sie wurde schon richtig sonderbar. Und Mutter machte alles nur noch schlimmer. Sie schien gar nicht zu merken, was los war. Wir hatten Angst, Ray und ich, dass Jinny total verrückt werden würde! Und wir wussten, dass Nadine das auch dachte, und das machte uns noch mehr Angst, weil Nadine sich doch mit Krankheiten und solchen Dingen auskennt.«

»Ja, und?«

»An dem Abend in Jerusalem war das Maß irgendwie voll! Ray war wie von Sinnen. Er und ich hatten uns so in die Sache hineingesteigert, dass es — ja, dass es uns das einzig Richtige zu sein schien, etwas zu unternehmen! Mutter — Mutter war nicht normal! Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, aber es kann einem absolut richtig vorkommen, ja geradezu edel — jemanden zu töten!«

Poirot nickte bedächtig. »Ja, das hat bekanntlich schon mancher gedacht. Die Geschichte beweist es.«

»Ray und ich dachten das auch — an dem Abend.« Sie schlug mit der Hand auf den Tisch. »Aber wir haben wirklich nichts unternommen! Ganz bestimmt nicht! Bei Tageslicht erschien uns die ganze Sache absurd, melodramatisch — und verwerflich, ja, das auch. Glauben Sie mir, Monsieur Poirot, Mutter starb wirklich eines natürlichen Todes, sie starb an Herzversagen. Ray und ich hatten nichts damit zu tun.«

Poirot sagte ruhig: »Schwören Sie mir, Mademoiselle, so wahr Sie das ewige Leben zu erlangen hoffen, dass Mrs. Boyntons Tod nicht durch Ihre Hand herbeigeführt wurde?«

Carol blickte auf. Ihre Stimme klang ruhig und tief.

»Ich schwöre«, sagte sie, »so wahr ich auf das ewige Leben hoffe, dass ich ihr nie etwas zuleide getan habe.«

Poirot lehnte sich zurück.

»Das«, sagte er, »wäre also geklärt.«

Beide schwiegen. Poirot strich sich nachdenklich den prachtvollen Schnurrbart. Dann sagte er: »Wie sah Ihr Plan eigentlich aus?«

»Welcher Plan?«

»Nun, Sie und Ihr Bruder müssen doch einen Plan gehabt haben.«

Im Geiste zählte er die Sekunden, bis die Antwort kam. Eins, zwei, drei.

»Wir hatten keinen Plan«, sagte Carol schließlich. »So weit kam es gar nicht.«

Hercule Poirot stand auf.

»Das ist alles, Mademoiselle. Wären Sie so freundlich, Ihren Bruder zu mir zu schicken?«

Carol erhob sich ebenfalls. Sie blieb einen Moment unschlüssig stehen.

»Monsieur Poirot, Sie — Sie glauben mir doch?«

»Habe ich gesagt«, fragte Poirot, »dass ich Ihnen nicht glaube?«

»Nein, aber — « Sie brach ab.

Er sagte: »Würden Sie jetzt Ihren Bruder bitten hereinzukommen?«

»Ja.«

Sie ging langsam zur Tür. Dort blieb sie stehen, drehte sich plötzlich um und rief heftig aus: »Ich habe die Wahrheit gesagt — die Wahrheit!«

Hercule Poirot gab keine Antwort.

Carol Boynton verließ langsam das Zimmer.

Neuntes Kapitel

Als Raymond Boynton ins Zimmer trat, fiel Poirot sofort die Ähnlichkeit zwischen Bruder und Schwester auf.

Raymond Boyntons Gesicht war ernst und unbewegt. Er schien weder nervös noch ängstlich zu sein. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, sah Poirot fest an und sagte: »Nun?«

Poirot fragte freundlich: »Ihre Schwester hat mit Ihnen gesprochen?«

Raymond nickte. »Ja, als sie mir sagte, dass ich zu Ihnen kommen soll. Mir ist natürlich klar, daß Ihr Verdacht durchaus gerechtfertigt ist. Wenn unser Gespräch an jenem Abend belauscht wurde, dann muss die Tatsache, dass meine Stiefmutter ziemlich unerwartet starb, wohl oder übel Verdacht erregen. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass das bewusste Gespräch — nur einer momentanen Verrücktheit entsprang. Wir standen an dem Abend unter einer unerträglichen nervlichen Anspannung. Diese phantastische Idee, meine Stiefmutter umzubringen, das war doch nur — wie soll ich es ausdrücken — damit wollten wir doch nur irgendwie Dampf ablassen!«

Hercule Poirot nickte langsam und bedächtig.

»Das«, sagte er, »ist eine Möglichkeit.«

»Am nächsten Morgen kam uns das Ganze natürlich ziemlich — abwegig vor. Ich schwöre Ihnen, Monsieur Poirot, dass ich nie wieder daran gedacht habe!«

Poirot erwiderte nichts.

Raymond sagte schnell: »O ja, ich weiß, so etwas kann man leicht behaupten. Ich erwarte ja nicht, dass Sie mir bloß auf mein Wort hin glauben. Aber sehen Sie sich die Fakten an. Ich habe kurz vor sechs mit meiner Mutter gesprochen. Und da war sie noch gesund und munter. Dann ging ich in mein Zelt, um mich frisch zu machen, und anschließend zu den anderen ins Gemeinschaftszelt. Und das haben sowohl Carol als auch ich danach nicht mehr verlassen. Alle konnten uns dort sehen. Begreifen Sie doch, Monsieur Poirot, dass meine Mutter eines natürlichen Todes starb — an Herzversagen —, anders kann es nicht gewesen sein! Es waren doch Diener in der Nähe, ein ständiges Kommen und Gehen. Etwas anderes ist völlig absurd.«

»Wissen Sie eigentlich, Mr. Boynton«, fragte Poirot ruhig, »was Miss King aussagt? Sie sagt, als sie die Leiche um halb sieben untersuchte, war der Tod mindestens eineinhalb Stunden und vermutlich sogar zwei Stunden früher eingetreten.«

Raymond starrte ihn an. Er war wie vor den Kopf geschlagen.

»Das hat Sarah gesagt?«, stieß er hervor.

Poirot nickte. »Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Aber — das ist unmöglich!«

»So lautet Miss Kings Aussage. Und nun kommen Sie und erzählen mir, dass vierzig Minuten bevor Miss King die Leiche untersuchte, Ihre Mutter noch gesund und munter war.«

»Aber so war es!«, sagte Raymond.

»Nehmen Sie sich in Acht, Mr. Boynton.«

»Sarah muss sich irren! Sie muss irgendeinen Faktor nicht berücksichtigt haben. Dass die Felsen die Hitze zurückstrahlen — was weiß ich. Ich versichere Ihnen, Monsieur Poirot, dass meine Mutter kurz vor sechs noch lebte und dass ich mit ihr sprach.«

Poirots Gesichtsausdruck verriet nichts.

Raymond beugte sich eindringlich vor.

»Monsieur Poirot, ich weiß, was Sie denken müssen, aber betrachten Sie die Sache objektiv. Sie sind voreingenommen. Das liegt vermutlich in der Natur der Sache. Sie leben in einer Welt des Verbrechens. Bei einem plötzlichen Tod denken Sie automatisch sofort an ein Verbrechen! Begreifen Sie denn nicht, dass Sie alles aus einem ganz bestimmten Blickwinkel betrachten? Jeden Tag sterben Menschen — insbesondere Menschen, die ein schwaches Herz haben —, und nichts daran ist in irgendeiner Weise rätselhaft.«

Poirot seufzte. »Sie wollen mich also mein Handwerk lehren, wie?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ich glaube, dass Sie voreingenommen sind — wegen diesem verhängnisvollen Gespräch. Am Tod meiner Mutter ist nichts, das Verdacht erregen könnte, abgesehen von dieser unglückseligen hysterischen Unterhaltung zwischen Carol und mir.«

Poirot schüttelte den Kopf. »Sie irren sich«, sagte er. »Das ist nicht alles. Da ist noch das Gift, das aus Dr. Gerards Reiseapotheke entwendet wurde.«

»Gift?« Ray sah ihn entgeistert an. » Gift? « Er schob seinen Stuhl etwas zurück. Er schien wie vor den Kopf geschlagen. »Sie denken, es könnte Gift gewesen sein?«

Poirot ließ ihn eine Weile darüber nachdenken. Dann sagte er ruhig, fast desinteressiert: »Sie hatten einen anderen Plan, wie?«

»Ja, natürlich«, antwortete Raymond mechanisch. »Darum ist — das ändert natürlich alles. Ich — ich kann keinen — klaren Gedanken fassen.«

»Wie sah Ihr Plan aus?«

»Unser Plan? Wir wollten — « Raymond hielt abrupt inne. Seine Augen wurden wachsam, er war plötzlich auf der Hut.

»Ich glaube«, sagte er, »ich werde jetzt nichts mehr sagen.«

»Ganz wie Sie wünschen«, sagte Poirot.

Er verfolgte, wie der junge Mann das Zimmer verließ.

Er griff nach seinem Notizblock und machte fein säuberlich die letzte Eintragung: »R.B. 17.55?«

Dann nahm er ein großes Blatt Papier und begann zu schreiben. Als er fertig war, lehnte er sich mit schief gelegtem Kopf zurück und sann über die Aufstellung nach. Sie lautete wie folgt:

15.05 (ca.): Die Boyntons und Jefferson Cope verlassen das Camp.

15.15 (ca.): Dr. Gerard und Sarah King verlassen das Camp.

16.15: Lady Westholme und Miss Pierce verlassen das Camp.

16.20 (ca.): Dr. Gerard kommt zurück ins Camp.

16.35: Lennox Boynton kommt zurück ins Camp.

16.40: Nadine Boynton kommt zurück ins Camp und spricht mit Mrs. Boynton.

16.50 (ca.): Nadine Boynton verlässt ihre Schwiegermutter und geht ins Gemeinschaftszelt.

17.10: Carol Boynton kommt zurück ins Camp.

17.40: Lady Westholme, Miss Pierce und Mr. Jefferson Cope kommen zurück ins Camp.

1750: Raymond Boynton kommt zurück ins Camp.

18.00: Sarah King kommt zurück ins Camp.

18.30: Die Tote wird entdeckt.

Zehntes Kapitel

»Interessant«, sagte Hercule Poirot. Er faltete das Blatt zusammen, ging zur Tür und gab Anweisung, Mahmoud zu ihm zu bringen. Der beleibte Dragoman war wortreich wie immer und überschüttete Poirot mit einem wahren Redeschwall.

»Immer, immer ich bin schuld. Wenn etwas passiert, sagen immer, meine Schuld. Immer alles meine Schuld. Wenn Lady Ellen sich verstaucht Knöchel, wenn heruntergekommen von Opferplatz, ich bin schuld — obwohl sie gehen mit hohe Absätze und sie mindestens sechzig Jahre alt, vielleicht siebzig. Ach, mein Leben nichts als Elend! Und dann Elend und Machenschaften von Juden gegen uns — «

Endlich gelang es Poirot, den Redefluss zu bremsen und eine Frage zu stellen.

»Halb sechs Uhr, Sie sagen? Nein, ich nicht denke, dass da Diener waren unterwegs. Müssen wissen, Mittagessen ist spät — zwei Uhr. Und dann alles aufräumen. Nach Mittagessen alle schlafen ganze Nachmittag. Ja, weil Amerikaner sie nicht trinken Tee. Um halb vier Uhr wir alle schon schlafen. Um fünf Uhr, ich komme heraus, weil ich bin Tüchtigkeit in Person — ich immer, immer sorgen für Wohlergehen von Ladys und Gentlemen, wo ich diene — und ich weiß, englische Ladys wünschen Tee zu die Zeit. Aber niemand da. Alle fort, spazieren gehen. Für mich das ist sehr gut — besser als andere Tage. Ich kann gehen wieder schlafen. Ein Viertel vor sechs fängt Ärger an. Große englische Lady — sehr feine Dame — kommen zurück, wollen Tee, aber Boys schon decken Tisch für Abendessen. Sie macht großes Theater — sagt, Wasser muss kochen, ich selbst muss sorgen dafür. Ach, mein gnädiger Herr, was für ein Leben! Was für ein Leben — was für ein Leben! Ich machen alles, was ich kann — aber immer ich bin schuld — ich — «

Poirot sprach ihn auf die vorgebrachte Anschuldigung an. »Da wäre noch eine Kleinigkeit. Die tote Dame hatte sich über einen der Boys geärgert. Wissen Sie, über welchen und aus welchem Grund?«

Mahmoud hob beide Hände gen Himmel.

»Ich soll wissen? Warum ich? Alte Dame nicht sich beschweren bei mir.«

»Könnten Sie es herausfinden?«

»Nein, mein gnädiger Herr, das nicht möglich. So etwas Boys nie zugeben. Alte Dame sich geärgert, Sie sagen? Dann Boys bestimmt nichts verraten. Abdul sagen, war Mohammed, und Mohammed sagen, war Aziz, und Aziz sagen, war Aissa und so weiter. Sie alle sehr dumme Beduinen — verstehen nichts.«

Er holte Luft und fuhr fort: »Aber ich, ich habe Vorzug von Missionsschule. Ich kann aufsagen Keats, Shelley — Sie wollen hören? Iadadoveandasweedovedied’ — ««

Poirot zuckte zusammen. Obwohl Englisch nicht seine Muttersprache war, kannte er dieses Gedicht gut genug, um bei Mahmouds eigenwilliger Aussprache körperliche Schmerzen zu empfinden.

»Hervorragend!«, sagte er schnell. »Hervorragend! Ich werde Sie ganz gewiss allen meinen Freunden empfehlen.«

Er schaffte es mit List und Tücke, den redseligen Dragoman loszuwerden. Dann ging er mit seiner Liste zu Colonel Carbury, den er in seinem Büro antraf.

Carbury rückte seinen Krawattenknoten etwas schiefer und fragte: »Gibt’s was Neues?«

Poirot sagte: »Wollen Sie meine Theorie hören?«

»Wenns sein muss«, sagte Colonel Carbury und seufzte. Schließlich hatte er sich im Laufe seines Lebens schon so manche Theorie anhören müssen.

»Meine Theorie sagt, die Kriminologie ist die einfachste Wissenschaft von der Welt! Man muss Kriminelle nur reden lassen — früher oder später verraten sie Ihnen alles.«

»Ich erinnere mich, Sie schon einmal etwas Ähnliches sagen gehört zu haben. Und wer hat Ihnen etwas verraten?«

»Jeder.« Poirot schilderte kurz die Unterredungen, die er an diesem Vormittag geführt hatte.

»Hm«, brummte Carbury. »Na schön, Sie haben offenbar den einen oder anderen Fingerzeig bekommen. Nur schade, dass jeder in eine andere Richtung zu deuten scheint. Das Einzige, was mich interessiert, ist, ob wir etwas in der Hand haben.«

»Nein.«

Carbury seufzte abermals. »Das habe ich befürchtet.«

»Aber vor Einbruch der Dunkelheit«, sagte Poirot, »werden Sie die Wahrheit haben!«

»Naja, mehr hatten Sie mir auch nicht versprochen«, sagte Colonel Carbury. »Und ich habe stark bezweifelt, dass Sie es schaffen würden! Sind Sie Ihrer Sache sicher?«

»Absolut sicher.«

»Muss ein schönes Gefühl sein«, meinte Colonel Carbury. Falls seine Augen ironisch funkelten, so schien Poirot nichts davon zu bemerken. Er holte seine Liste hervor.

»Sauber«, sagte Colonel Carbury beifällig und beugte sich über sie.

Ein oder zwei Minuten später sagte er: »Wissen Sie, was ich glaube?«

»Ich wäre entzückt, wenn Sie es mir verraten würden.«

»Der junge Raymond Boynton ist aus dem Schneider.«

»Ah! Meinen Sie?«

»Ja. Ist doch sonnenklar, was er dachte. Wir hätten es eigentlich von Anfang an wissen müssen. Weil er, genau wie in Kriminalromanen, der Hauptverdächtige ist. Da Sie ihn praktisch haben sagen hören, dass er die alte Dame um die Ecke bringen will, hätten wir eigentlich wissen müssen, dass er unschuldig ist!«

»Sie lesen Kriminalromane?«

»Stapelweise«, sagte Colonel Carbury. Fast wie ein kleiner Junge setzte er sehnsüchtig hinzu: »Sie könnten es wohl nicht so machen wie die Detektive in den Büchern? Eine Liste der wesentlichen Fakten zusammenstellen — Dinge, die scheinbar nichts zu bedeuten haben, in Wahrheit aber furchtbar wichtig sind? So was in der Art eben.«

»Ah!«, sagte Poirot freundlich. »Diese Art von Kriminalromanen gefällt Ihnen also besonders? Aber gern, es wird mir ein Vergnügen sein.«

Er griff nach einem Blatt Papier und schrieb schnell und fein säuberlich:


Entscheidende Fakten

Mrs. Boynton nahm ein Medikament, das Digitalis enthielt.

Dr. Gerard vermisste eine Inj ektionsspritze.

Es machte Mrs. Boynton Spaß, ihre Familie daran zu hindern, mit anderen Menschen zusammen zu sein.

Mrs. Boynton ermunterte ihre Familie an dem besagten Nachmittag, einen Spaziergang zu machen und sie allein zu lassen.

Mrs. Boynton war eine Sadistin.

Die Entfernung zwischen dem Gemeinschaftszelt und der Stelle, wo Mrs. Boynton saß, beträgt (circa) 200 Meter.

Mr. Lennox Boynton sagte zunächst aus, er wisse nicht, wann er ins Camp zurückgekommen sei, gab später jedoch zu, die Armbanduhr seiner Mutter gestellt zu haben.

Das Zelt von Dr. Gerard stand direkt neben dem von Miss Ginevra Boynton.

Um 18.30 Uhr, als das Abendessen fertig war, wurde ein Diener zu Mrs. Boynton geschickt, um sie zu holen.

Nachdem der Colonel die Aufstellung gelesen hatte, war er hoch zufrieden.


»Kolossal!«, sagte er. »Genau das, was ich haben wollte! Sie haben es ziemlich schwer gemacht — und scheinbar belanglos — exakt so, wie es sein muss! Im Übrigen scheinen Sie mir ein oder zwei wichtige Fakten ausgelassen zu haben. Aber damit wollen Sie wohl jemand auf den Leim führen, stimmt’s?«

Poirots Augen blitzten kurz auf, doch er gab keine Antwort.

»Zum Beispiel Punkt zwei«, sagte Colonel Carbury versuchsweise. »Dr. Gerard vermisste eine Injektionsspritze. Richtig. Aber er vermisste auch eine konzentrierte Lösung Digitalis oder wie das Zeug heißt.«

»Letzteres«, sagte Poirot, »ist nicht in der gleichen Weise von Bedeutung wie das Fehlen der Spritze.«

»Hervorragend!«, sagte Colonel Carbury und strahlte über das ganze Gesicht. »Denn das kapiere ich nun überhaupt nicht. Für meine Begriffe ist das Digitalis nämlich viel wichtiger als die Spritze! Und wieso taucht eigentlich immer wieder ein Diener auf? Der Diener, der ihr sagen soll, dass das Abendessen fertig ist — und dann der Diener, dem sie nachmittags mit dem Stock gedroht hat? Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, dass einer meiner geistig minderbemittelten Wüstensöhne sie um die Ecke gebracht hat? Denn das«, fügte Colonel Carbury in strengem Ton hinzu, »das wäre gemogelt.«

Poirot lächelte, gab jedoch keine Antwort. Als er Carburys Büro verließ, murmelte er vor sich hin: »Unglaublich! Diese Engländer werden doch nie erwachsen!«

Elftes Kapitel

Sarah King saß auf der Kuppe eines Hügels und riss zerstreut wilde Blumen ab. Dr. Gerard saß neben ihr auf einem groben Steinmäuerchen.

Plötzlich sagte sie heftig: »Warum mussten Sie die ganze Sache ins Rollen bringen? Wenn Sie nicht gewesen wären —«

Dr. Gerard sagte langsam: »Sie meinen, ich hätte schweigen sollen?«

»Ja.«

»Obwohl ich wusste, was ich wusste?«

»»Gewusst haben Sie gar nichts«, sagte Sarah.

Der Franzose seufzte. »Sie täuschen sich. Aber ich gebe zu, dass man nie absolut sicher sein kann.«

»Doch, das kann man«, sagte Sarah kompromisslos.

Der Franzose zuckte mit den Schultern. »Sie vielleicht!«

»Sie hatten Fieber«, sagte Sarah, »hohes Fieber, Da konnten Sie doch nicht klar denken! Die Spritze war vermutlich die ganze Zeit da. Und was das Digitoxin anbelangt, könnten Sie sich geirrt haben, oder einer der Diener könnte sich an Ihrer Tasche zu schaffen gemacht haben.«

Gerard sagte zynisch: »Keine Sorge, meine Liebe! Die Indizien sind aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Beweiskraft. Sie werden sehen, Ihre Freunde, die Boyntons, kommen ungestraft davon!«

»Das will ich ja gar nicht«, sagte Sarah hitzig.

Er schüttelte den Kopf. »Sie sind unlogisch!«

»Sie waren doch derjenige«, verkündete Sarah, »der sich damals in Jerusalem des Langen und Breiten darüber ausließ, dass man sich nicht einmischen soll! Und was tun Sie?«

»Ich habe mich nicht eingemischt. Ich habe lediglich gesagt, was ich weiß!«

»Und ich sage, dass Sie es nicht wissen. O Gott, jetzt geht das schon wieder los! Wir argumentieren mal wieder im Kreis.«

Gerard sagte sanft: »Es tut mir Leid, Miss King.«

Sarah fuhr mit leiser Stimme fort: »Im Grunde sind sie gar nicht frei — keiner von ihnen! Denn sie ist immer noch da! Selbst über den Tod hinaus lässt sie sie nicht los. Sie hatte etwas — etwas Grauenerregendes an sich — und obwohl sie tot ist, ist sie noch genauso Grauen erregend wie zu Lebzeiten. Ich glaube — ja, ich glaube tatsächlich, dass sie das alles richtig genießt!«

Sie ballte die Hände zu Fäusten. Dann sagte sie in völlig anderem Ton, mit ganz normaler Stimme: »Da kommt der kleine Mann den Hügel herauf.«

Dr. Gerard drehte sich um. »Ah! Ich glaube, er ist auf der Suche nach uns.«

»Ist er eigentlich so töricht, wie er aussieht?«, fragte Sarah.

Dr. Gerard sagte ernst: »Der Mann ist alles andere als ein Tor.«

»Das habe ich befürchtet«, sagte Sarah King.

Mit düsteren Blicken verfolgte sie Hercule Poirots Weg bergauf.

Als er bei ihnen ankam, stieß er ein lautes »Uff« aus und wischte sich die Stirn ab. Dann blickte er betrübt hinunter auf seine Lackschuhe.

»Helas!«, sagte er. »Dieses steinige Land! Meine armen Schuhe.«

»Sie können sich ja Lady Westholmes Schuhputzutensilien ausleihen«, sagte Sarah unfreundlich. »Und ihr Staubtuch. Die Dame reist doch mit einem kompletten Haushalt durch die Gegend.«

»Das wird aber nicht die Kratzer entfernen, Mademoiselle.« Poirot schüttelte betrübt den Kopf.

»Wahrscheinlich nicht. Warum in aller Welt tragen Sie in so einem Land aber auch solche Schuhe?«

Poirot neigte den Kopf leicht zur Seite. »Ich lege Wert darauf, stets soigne zu sein«, sagte er.

»Darauf würde ich in der Wüste lieber verzichten«, sagte Sarah.

»Frauen sehen in der Wüste nicht sehr vorteilhaft aus«, sagte Dr. Gerard verträumt. »Bei Miss King hier ist das anders — sie ist immer adrett und gut gekleidet. Aber diese Lady Westholme mit ihren dicken Jacken und Röcken und diesen entsetzlich unkleidsamen Reithosen und Reitstiefeln — quelle horreur de femme! Und die arme Miss Pierce — ihre Kleider schlaff wie welke Kohlblätter, und all diese Ketten, die ständig klimpern! Sogar die junge Mrs. Boynton, die eine gut aussehende Frau ist, ist nicht das, was man chic nennt. Ihre Garderobe ist sehr uninteressant. «

Sarah sagte ungehalten: »Ich glaube kaum, dass Monsieur Poirot hier heraufgeklettert ist, um sich über Damenbekleidung zu unterhalten!«

»Das ist wahr«, sagte Poirot. »Ich kam, um Dr. Gerard zu konsultieren. Seine Meinung wird für mich sehr nützlich sein. Ihre natürlich auch, Mademoiselle — Sie sind jung und in der Psychologie auf dem neuesten Stand. Sehen Sie, ich möchte alles wissen, was Sie mir über Mrs. Boynton erzählen können.«

»Wissen Sie das nicht längst in- und auswendig?«, fragte Sarah.

»Nein. Ich habe das Gefühl — mehr als nur das Gefühl —, die Überzeugung, dass die psychische Ausstattung von Mrs. Boynton in diesem Fall sehr wichtig ist. Menschen wie sie sind Dr. Gerard zweifellos vertraut.«

»Aus meiner Sicht war sie in der Tat ein interessantes Studienobjekt«, sagte der Arzt.

»Erzählen Sie mir mehr.«

Dr. Gerard war durchaus nicht abgeneigt. Er schilderte sein eigenes Interesse an der Familie Boynton, seine Unterhaltung mit Jefferson Cope und dass dieser die Situation völlig falsch einschätzte.

»Er reagiert also gefühlsmäßig«, sagte Poirot.

»Oh, unbedingt! Er hat Ideale — die im Grunde auf einer tiefen instinktiven Trägheit basieren. Von allen Menschen immer nur das Beste annehmen und die Welt als einen angenehmen Ort betrachten — das ist zweifellos der leichteste Weg im Leben! Jefferson Cope hat folglich überhaupt keine Vorstellung davon, wie die Menschen wirklich sind.«

»Das kann manchmal gefährlich sein«, sagte Poirot.

Dr. Gerard fuhr fort: »Er beharrte darauf, das, was ich >das Boynton’sche Problem< nennen möchte, als einen Fall von fehlgeleiteter Fürsorge zu betrachten. Von dem unterschwelligen Hass, der Auflehnung, der Unterdrückung und dem seelischen Schmerz hatte er so gut wie keine Ahnung.«

»Das ist stupid, so etwas«, bemerkte Poirot.

»Gleichviel«, fuhr Dr. Gerard fort, »selbst der absichtlich begriffsstutzigste sentimentale Optimist kann nicht vollkommen blind sein. Ich glaube, dass Mr. Jefferson Cope auf der Reise nach Petra die Augen geöffnet wurden.«

Und er schilderte die Unterhaltung, die er am Morgen des Tages, an dem Mrs. Boynton starb, mit dem Amerikaner gehabt hatte.

»Eine interessante Geschichte, diese Sache mit dem Dienstmädchen«, sagte Poirot nachdenklich. »Sie wirft Licht auf die Methoden der alten Frau.«

Gerard sagte: »Das war überhaupt ein sehr denkwürdiger Morgen! Sie waren noch nie in Petra, Monsieur Poirot. Wenn Sie hinfahren, müssen Sie unbedingt zur Opferstätte hinaufsteigen. Sie hat eine — wie soll ich sagen — eine besondere Atmosphäre!« Er beschrieb detailliert, was sie dort erlebt hatten, und fügte ergänzend hinzu: »Mademoiselle saß wie eine junge Richterin dort oben und sprach davon, einen zu opfern, um viele zu retten. Erinnern Sie sich, Miss King?«

Sarah erschauerte. »Hören Sie bloß auf! Ich will nichts mehr von dem Tag hören.«

»Gewiss, gewiss«, sagte Poirot. »Sprechen wir lieber über Ereignisse, die weiter zurückliegen. Mich, Dr. Gerard, interessiert Ihre Beschreibung der Mentalität von Mrs. Boynton. Sehen Sie, ich verstehe nicht recht, warum diese Frau, die ihre Familie vollkommen unterjocht hat, warum sie diese Auslandsreise unternimmt, wo die Gefahr besteht, dass es zu Kontakten mit Außenstehenden kommt und dass ihre Autorität geschwächt wird.«

Dr. Gerard beugte sich aufgeregt vor.

»Aber genau das ist der springende Punkt, mon vieux! Alte Damen sind überall auf der Welt gleich. Sie fangen an, sich zu langweilen! Wenn sie gerne Patiencen legen, haben sie irgendwann die Patience satt, die sie zu gut kennen. Sie wollen eine neue Patience lernen. Und genau so ist es bei einer alten Dame, deren Zeitvertreib — so unglaublich das klingen mag — es ist, andere Menschen zu beherrschen und zu quälen! Mrs. Boynton war gewissermaßen une dompteuse — sie hatte ihre Tiger gezähmt. Vielleicht war es noch ein wenig aufregend, als die Kinder heranwuchsen. Lennox’ Heirat mit Nadine war ein Abenteuer. Aber dann war plötzlich alles schal. Lennox ist so in Melancholie versunken, dass es praktisch unmöglich ist, ihn zu verletzen oder zu peinigen. Raymond und Carol lassen keinerlei Anzeichen von Rebellion erkennen. Ginevra — ah, la pauvre Ginevra —, sie bietet, aus der Sicht ihrer Mutter, am allerwenigsten Zerstreuung. Denn Ginevra hat einen Ausweg gefunden! Sie flüchtet aus der Realität in eine Traumwelt. Je mehr ihre Mutter sie reizt, desto leichter fällt es ihr, sich das prickelnde Gefühl zu verschaffen, eine verfolgte Heldin zu sein! Aus Mrs. Boyntons Sicht ist das alles sterbenslangweilig. Sie muss daher, genau wie Alexander, neue Welten erobern. Und so plant sie eine Reise ins Ausland. Weil dort die Gefahr besteht, dass ihre gezähmten Bestien rebellieren, weil es dort Gelegenheiten geben wird, ihnen ganz neue Qualen zuzufügen! Es klingt absurd, ich weiß, aber so war es! Sie wollte einen neuen Nervenkitzel ! «

Poirot holte tief Luft. »Ein perfekter Plan. Ja, ich verstehe genau, was Sie meinen. So war es. Es passt alles zusammen. Sie wollte gefährlich leben, la maman Boynton — und sie bezahlte den Preis dafür!«

Sarah beugte sich vor. Ihr blasses, intelligentes Gesicht war sehr ernst geworden. »Wollen Sie damit sagen, dass sie ihre Opfer zu weit trieb und — und dass diese sich gegen sie wandten — oder jedenfalls einer von ihnen?«

Poirot nickte zustimmend.

Mit leicht atemloser Stimme sagte Sarah: »Welcher von ihnen?«

Poirot sah sie an, blickte auf ihre Hände, die krampfhaft die wild wachsenden Blumen umklammerten, in das blasse und starre Gesicht.

Er antwortete nicht sofort — und blieb vor einer Antwort bewahrt, da genau in diesem Moment Dr. Gerard seine Schulter berührte und sagte: »Sehen Sie, da.«

Ein junges Mädchen kam den Hügel herauf. Sie bewegte sich mit einer seltsamen rhythmischen Anmut, die den Betrachter an etwas Unwirkliches denken ließ. Ihr rotblondes Haar leuchtete im Sonnenschein, und um ihren schönen Mund spielte ein eigenartiges, geheimnisvolles Lächeln. Poirot hielt den Atem an.

»Wie schön sie ist«, sagte er. »Wie wunderschön und anrührend. So müsste man die Ophelia spielen — wie eine junge Göttin, die sich in eine andere Welt verirrt hat, glücklich, den Fesseln menschlicher Freuden und Leiden entronnen zu sein.«

»Ja. Ja, Sie haben Recht«, sagte Gerard. »Ein Gesicht, von dem man träumt, nicht wahr? Bei mir war dies tatsächlich der Fall. In meinen Fieberträumen öffnete ich die Augen und sah dieses Gesicht — dieses süße, überirdische Lächeln. Es war ein schöner Traum. Ich bedauerte es, dass ich aufwachte.«

Dann sagte er in seinem üblichen Ton: »Das ist Ginevra Boynton.«

Zwölftes Kapitel

Kurz darauf hatte das junge Mädchen sie erreicht.

Dr. Gerard übernahm die Vorstellung.

»Miss Boynton, das ist Monsieur Hercule Poirot.«

»Oh.« Sie sah ihn unsicher an. Ihre Finger verflochten sich, bewegten sich rastlos. Die verzauberte Nymphe war aus ihrer Zauberwelt zurückgekehrt. Sie war nur noch ein ganz normales, linkisches junges Mädchen, ein wenig nervös und befangen.

Poirot sagte: »Was für ein glücklicher Zufall, Sie hier zu treffen, Mademoiselle. Ich wollte Sie bereits im Hotel aufsuchen.«

»Wirklich?«

Ihr Lächeln war leer. Ihre Finger begannen am Gürtel ihres Kleides herumzuzupfen. Poirot sagte freundlich: »Würden Sie einige Schritte mit mir gehen?«

Sie folgte ihm gehorsam, fügte sich seiner Laune.

Bald darauf sagte sie, ziemlich unvermittelt, mit sonderbarer, hastiger Stimme: »Sie sind — Sie sind doch Privatdetektiv, oder?«

»Ja, Mademoiselle.«

»Ein berühmter Privatdetektiv?«

»Der beste Privatdetektiv auf der Welt«, sagte Poirot im Brustton der Überzeugung, die reine Wahrheit zu konstatieren, nicht mehr und nicht weniger.

»Sie sind hergekommen, um mich zu beschützen?«, hauchte Ginevra Boynton.

Poirot strich sich nachdenklich über den Schnurrbart. Dann sagte er: »Sind Sie denn in Gefahr, Mademoiselle?«

»Ja! Aber ja!« Sie blickte sich rasch und argwöhnisch um. »Ich habe es Dr. Gerard schon in Jerusalem gesagt. Er war sehr geschickt. Er ließ sich nichts anmerken. Aber er folgte mir — an diesen schrecklichen Ort mit den roten Felsen.« Sie erschauerte. »Sie wollten mich dort töten. Ich muss ständig auf der Hut sein.«

Poirot nickte freundlich und nachsichtig.

Ginevra Boynton sagte: »Er ist sehr nett — und gütig. Er ist in mich verliebt!«

»Ja?«

»O ja! Er sagt im Schlaf meinen Namen.« Ihre Stimme wurde weich, und auf ihrem Gesicht lag wieder dieser Ausdruck bebender, überirdischer Schönheit. »Ich sah ihn — wie er dort lag, sich hin und her warf — und meinen Namen sagte. Ich bin leise wieder weggeschlichen.« Sie hielt inne. »Ich dachte, dass vielleicht er nach Ihnen geschickt hat? Ich habe nämlich furchtbar viele Feinde. Sie sind überall. Manchmal sind sie sogar verkleidet.«

»Ja, ja«, sagte Poirot freundlich. »Aber hier sind Sie sicher — Ihre ganze Familie ist bei Ihnen.«

Sie richtete sich stolz auf.

»Das ist nicht meine Familie! Ich habe mit diesen Leuten nichts zu schaffen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer ich wirklich bin — das ist ein großes Geheimnis. Aber Sie würden staunen, wenn Sie es wüssten.«

Poirot sagte sanft: »War der Tod Ihrer Mutter ein großer Schock für Sie, Mademoiselle?«

Ginevra stampfte mit dem Fuß auf. »Ich habe es Ihnen doch gesagt — sie war nicht meine Mutter! Meine Feinde haben sie bezahlt, damit sie so tat und aufpasste, dass ich nicht davonlief!«

»Wo waren Sie an dem Nachmittag, als sie starb?«

»Ich war im Zelt. Es war dort sehr heiß, aber ich wagte nicht, es zu verlassen. Sonst hätten sie mich vielleicht erwischt.« Ein Schauer überlief sie. »Einer von ihnen — hat in mein Zelt geschaut. Er war verkleidet, aber ich erkannte ihn. Ich stellte mich schlafend. Der Scheich hatte ihn geschickt. Der Scheich wollte mich natürlich entführen lassen.«

Poirot schwieg eine Weile, während sie weitergingen, und sagte dann: »Sie sind sehr hübsch, diese Geschichten, die Sie sich erzählen.«

Ginevra Boynton blieb stehen. Sie funkelte Poirot an. »Sie sind wahr. Sie sind alle wahr!« Wieder stampfte sie zornig mit dem Fuß auf.

»Ja«, sagte Poirot, »sie sind zweifellos gut erfunden.«

»Aber sie sind wahr — wahr!«, rief sie aus.

Dann machte sie wütend kehrt und rannte den Hügel hinunter. Poirot sah ihr nach. Nach ein bis zwei Minuten hörte er dicht hinter sich eine Stimme fragen: »Was haben Sie zu ihr gesagt?«

Poirot drehte sich zu Dr. Gerard um, der leicht außer Atem stehen geblieben war. Weiter hinten kam Sarah, aber in gemächlicherem Tempo.

Poirot beantwortete Gerards Frage: »Ich sagte zu ihr, dass sie sich ein paar hübsche Geschichten ausgedacht hat.«

Der Arzt nickte nachdenklich. »Und darüber war sie wütend? Das ist ein gutes Zeichen. Denn das beweist, dass sie noch nicht ganz über die Schwelle getreten ist. Sie weiß noch, dass es nicht die Wahrheit ist! Ich werde sie heilen.«

»Ah, Sie denken an eine Behandlung?«

»Ja. Ich habe die Sache mit der jungen Mrs. Boynton und ihrem Mann besprochen. Ginevra wird nach Paris kommen und sich in eine meiner Kliniken begeben. Danach wird sie sich für die Bühne ausbilden lassen.«

»Die Bühne?«

»Ja, als Schauspielerin könnte sie großen Erfolg haben. Und das ist genau das, was sie braucht — was sie haben muss! Sie besitzt viele wesentliche Charakterzüge ihrer Mutter.«

»Nein!«, rief Sarah entsetzt.

»Ihnen erscheint das unmöglich, aber bestimmte grundlegende Wesensmerkmale sind die gleichen. Beide besitzen von Natur aus ein starkes Geltungsbedürfnis; beide wollen mit ihrer Persönlichkeit beeindrucken! Das arme Kind wurde auf Schritt und Tritt eingeengt und unterdrückt; man gab ihr keine Möglichkeit, ihren ehrgeizigen Ambitionen nachzugehen, ihre Lebensfreude zu zeigen, ihre lebhafte schwärmerische Persönlichkeit auszudrücken.« Er lachte auf. »Nous allons changer tout ça!«

Dann machte er eine kleine Verbeugung und sagte: »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?«, und eilte dem jungen Mädchen den Hügel hinunter nach.

Sarah sagte: »Dr. Gerard ist mit Leib und Seele Arzt.«

»Das habe ich bemerkt«, sagte Poirot.

»Trotzdem«, sagte sie stirnrunzelnd, »finde ich es unerträglich, dass er sie mit dieser grässlichen alten Frau vergleicht — obwohl ich ja selbst einmal Mitleid mit Mrs. Boynton hatte.«

»Wann war das, Mademoiselle?«

»Damals in Jerusalem. Ich habe Ihnen davon erzählt. Ich hatte auf einmal das Gefühl, als ob ich alles missverstanden hätte. Kennen Sie dieses Gefühl, das einen manchmal überkommt, wenn man einen Moment lang alles aus einem anderen Blickwinkel sieht? Ich war richtig in Fahrt, bin zu ihr gegangen und habe mich total zum Narren gemacht!«

»O nein — das können Sie gar nicht!«

Wie immer, wenn sie an die Szene mit Mrs. Boynton denken musste, wurde Sarah puterrot.

»Ich fühlte mich richtiggehend erhaben, als ob ich eine Mission zu erfüllen hätte! Und als mich Lady Westholme dann später leicht schief ansah und sagte, sie hätte mich mit Mrs. Boynton sprechen sehen, dachte ich, dass sie vielleicht alles mit angehört hatte, und kam mir endgültig wie ein kompletter Idiot vor.«

Poirot fragte: »Was genau hat die alte Mrs. Boynton zu Ihnen gesagt? Können Sie sich an ihre genauen Worte erinnern?«

»Ich glaube schon. Sie haben nämlich einen ziemlichen Eindruck bei mir hinterlassen. >Ich vergesse nichts<, sagte sie. >Merken Sie sich das gut. Ich vergesse niemals etwas — keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht.<« Sarah erschauerte. »Sie sagte es so bösartig — und ohne mich dabei auch nur anzusehen. Mir ist — mir ist, als könnte ich sie jetzt noch hören.«

Poirot sagte freundlich: »Und das hat einen solchen Eindruck auf Sie gemacht?«

»Ja. Ich lasse mich nicht so leicht ins Bockshorn jagen — aber manchmal träume ich von ihr, wie sie genau diese Worte sagt, und sehe ihr böses, hämisches, triumphierendes Gesicht. Grässlich!« Ein Schauer überlief sie. Dann sagte sie plötzlich geradeheraus: »Monsieur Poirot, vielleicht sollte ich Sie das nicht fragen, aber sind Sie in dieser Angelegenheit zu einem Schluss gekommen? Haben Sie etwas Entscheidendes herausgefunden?«

»Ja.«

Er sah, wie ihre Lippen zitterten, als sie fragte: »Was?«

»Ich habe herausgefunden, mit wem Raymond Boynton an jenem Abend in Jerusalem sprach. Er sprach mit seiner Schwester Carol.«

»Mit Carol — natürlich!« Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: »Haben Sie ihm gesagt — haben Sie ihn gefragt — «

Es war zwecklos. Sie konnte nicht weitersprechen. Poirot sah sie ernst und mitfühlend an. Dann sagte er ruhig: »Ist das — so wichtig für Sie, Mademoiselle?«

»Wichtiger als alles!«, sagte Sarah. Sie straffte die Schultern. »Ich muss es einfach wissen.«

Poirot sagte ruhig: »Er versicherte mir, dass es ein hysterischer Ausbruch war — mehr nicht! Dass er und seine Schwester sehr aufgewühlt waren. Er sagte mir, dass die Idee, bei Tageslicht besehen, beiden phantastisch erschien.«

»Ich verstehe.«

Poirot sagte sanft: »Miss Sarah, wollen Sie mir nicht sagen, wovor Sie Angst haben?«

Sarah wandte ihm ihr blasses, verzweifeltes Gesicht zu.

»An dem Nachmittag — waren wir zusammen. Und als er ging, sagte er — dass er etwas unternehmen werde — jetzt gleich, solange er noch den Mut dazu habe. Ich dachte, dass er nur — dass er es ihr nur sagen wollte. Aber angenommen, er wollte.«

Ihre Stimme erstarb. Sie stand wie erstarrt da und rang nach Fassung.

Dreizehntes Kapitel

Nadine Boynton trat aus dem Hotel. Als sie unsicher zögerte, eilte ein wartender Mann herbei.

Mr. Jefferson Cope war unverzüglich an der Seite seiner Herzensdame. »Wollen wir diesen Weg nehmen? Ich glaube, es ist der angenehmste.«

Nadine willigte stumm ein.

So gingen sie dahin, und Mr. Cope redete. Die Worte kamen leicht, wenn auch etwas monoton über seine Lippen. Es steht nicht fest, ob er bemerkte, dass Nadine nicht zuhörte. Als sie auf den steinigen, mit Blumen bewachsenen Hügel abbogen, unterbrach sie ihn.

»Entschuldige, Jefferson. Ich muss mit dir reden.«

Ihr Gesicht war blass geworden.

»Gewiss, natürlich, Liebes. Ganz, wie du willst, aber bitte quäle dich nicht.«

Sie sagte: »Du bist viel klüger, als ich dachte. Du weißt bereits, was ich dir sagen will, nicht wahr?«

»Es ist nun einmal eine Tatsache«, sagte Mr. Cope, »dass gewisse Dinge alles verändern. Mir ist vollkommen klar, dass unter den gegenwärtigen Umständen bestimmte Entscheidungen noch einmal überdacht werden müssen.« Er seufzte. »Du musst tun, was du für richtig hältst, Nadine, und was dir dein Gefühl befiehlt.«

Ehrlich bewegt sagte sie: »Du bist so gut, Jefferson. So geduldig! Und ich habe dich so schlecht behandelt. Ich war richtiggehend gemein zu dir.«

»Jetzt hör mal zu, Nadine. Lass uns eines klarstellen. Ich habe immer gewusst, wo meine Grenzen liegen, was dich betrifft. Ich liebe dich und schätze dich, seit ich dich kenne. Ich will nur, dass du glücklich bist. Mehr habe ich nie gewollt. Mit ansehen zu müssen, dass du unglücklich bist, hat mich fast wahnsinnig gemacht. Und ich sage ganz offen, dass ich Lennox die Schuld daran gegeben habe. Ich hatte das Gefühl, dass er es nicht verdiente, dich zu behalten, wenn ihm dein Glück nicht ein klein wenig mehr bedeutete, als dies der Fall zu sein schien.«

Mr. Cope holte tief Luft und fuhr fort: »Aber ich gebe zu, dass ich, nachdem ich euch nach Petra begleitet hatte, den Eindruck gewann, dass es vielleicht doch nicht nur Lennox’ Schuld war, wie ich gedacht hatte. Er war nicht eigennützig, was dich betraf, sondern eher viel zu uneigennützig, was seine Mutter anging. Ich will über Tote ja nichts Schlechtes sagen, aber ich glaube, dass deine Schwiegermutter eine ungewöhnlich schwierige Frau war.«

»Ja, das kann man wohl sagen«, murmelte Nadine.

»Auf jeden Fall«, fuhr Mr. Cope fort, »bist du gestern zu mir gekommen und hast gesagt, dass du dich endgültig entschieden hättest, Lennox zu verlassen. Ich begrüßte deinen Entschluss. Das war doch kein Leben, was du da führtest. Und du warst ganz ehrlich zu mir. Du hast nicht so getan, als ob du mehr als nur Zuneigung für mich empfindest. Nun, mir genügte das. Alles, was ich wollte, war, für dich sorgen zu dürfen und dir das zu bieten, was du verdient hast. Ich muss zugeben, das war einer der glücklichsten Nachmittage in meinem Leben.«

»Es tut mir Leid!«, rief Nadine aus. »Es tut mir so Leid!«

»Dazu besteht kein Grund, weil ich schon die ganze Zeit das komische Gefühl hatte, dass alles nur ein Traum war. Ich spürte, dass ich damit rechnen musste, dass du es dir bis zum nächsten Morgen anders überlegt haben könntest. Nun, die Lage hat sich grundlegend geändert. Du und Lennox könnt jetzt euer eigenes Leben führen.«

Nadine sagte leise: »Ja. Ich kann Lennox nicht verlassen. Bitte verzeih mir.«

»Da gibt es ist nichts zu verzeihen«, erklärte Mr. Cope. »Du und ich werden einfach wieder gute alte Freunde sein und den bewussten Nachmittag vergessen.«

Nadine legte sanft die Hand auf seinen Arm. »Danke, lieber Jefferson. Ich muss jetzt zu Lennox.«

Sie drehte sich um und ging. Mr. Cope setzte seinen Weg allein fort.

Nadine fand Lennox im griechischrömischen Theater. Er saß ganz oben und war so in Gedanken versunken, dass er sie erst richtig bemerkte, als sie sich atemlos neben ihm niederließ.

»Lennox.«

»Nadine.« Er drehte sich halb zu ihr um.

»Wir hatten noch keine Gelegenheit, miteinander zu reden«, sagte sie. »Aber du weißt, dass ich dich nicht verlassen werde, oder?«

Ernst erwiderte er: »Hattest du das denn tatsächlich vor, Nadine?«

Sie nickte. »Ja. Ich hatte das Gefühl, dass mir nichts anderes übrig blieb. Ich hoffte, dass — dass du mich zurückhalten würdest. Der arme Jefferson! Ich war ja so gemein zu ihm.«

Lennox lachte plötzlich laut auf. »Nein, das ist nicht wahr. Ein Mensch, der so selbstlos ist wie Cope, muss Gelegenheit bekommen, seinem Edelmut freien Lauf zu lassen! Und du hattest Recht, Nadine. Als du mir sagtest, dass du mit ihm fortgehen willst, hast du mir den Schock meines Lebens versetzt! Weißt du, ich glaube allen Ernstes, dass ich in letzter Zeit auf dem besten Wege war, den Verstand zu verlieren. Warum zum Teufel habe ich meiner Mutter nicht ins Gesicht gelacht und bin mit dir fortgegangen, als du mich darum gebeten hast?«

»Weil du es nicht konntest, Liebster«, sagte sie sanft. »Weil es unmöglich war.«

Lennox sagte sinnend: »Mutter war schon ein verdammt merkwürdiger Mensch. Ich glaube, sie hatte uns alle irgendwie hypnotisiert.«

»So ist es.«

Lennox sann geraume Zeit nach. Dann sagte er: »Als du es mir an dem Nachmittag sagtest, war ich wie vor den Kopf geschlagen! Ich ging völlig benommen zurück, und dann ging mir plötzlich auf, was ich doch für ein verdammter Idiot gewesen bin! Und mir wurde klar, dass es nur eins gab, wenn ich dich nicht verlieren wollte.«

Er spürte, wie sie erstarrte. Seine Stimme wurde härter. »Ich ging hin und — «

»Sprich nicht weiter.«

Er sah sie rasch an. »Ich ging hin und — debattierte mit ihr.« Er sprach in völlig verändertem Ton — bedächtig und fast ausdruckslos. »Ich sagte ihr, dass ich zwischen ihr und dir wählen musste — und dass ich mich für dich entschieden hatte.«

Beide schwiegen.

Fast selbstbewusst fügte er hinzu: »Ja, genau das habe ich ihr gesagt.«

Vierzehntes Kapitel

Auf dem Rückweg begegnete Poirot zwei Personen. Die erste war Mr. Jefferson Cope.

»Monsieur Hercule Poirot? Mein Name ist Jefferson Cope.«

Die beiden Männer schüttelten sich in aller Form die Hand.

Mr. Cope, der sich Poirot anschloss, sagte im Weitergehen: »Ich habe erst jetzt erfahren, dass Sie quasi routinemäßig den Tod meiner alten Freundin Mrs. Boynton untersuchen. Eine böse Geschichte. Die alte Dame hätte nie und nimmer eine so beschwerliche Reise unternehmen dürfen, so viel steht fest. Aber sie war dickköpfig, Monsieur Poirot. Sie ließ sich von niemandem dreinreden. Sie war ein richtiger Haustyrann — hatte vermutlich zu lange immer ihren Willen durchgesetzt. Und was sie sagte, wurde ohne Widerrede gemacht. Ja, Sir, genau so war es.«

Mr. Cope schwieg eine Weile.

»Monsieur Poirot, ich wollte Ihnen eigentlich nur sagen, dass ich ein alter Freund der Familie bin. Klar, dass alle ziemlich durcheinander sind wegen dieser Geschichte und dass sie verständlicherweise nervös und gereizt sind. Wenn also irgendwelche Dinge zu erledigen sind — irgendwelche Formalitäten, Vorkehrungen für die Beisetzung, die Überführung der Leiche nach Jerusalem —, also da würde ich ihnen gerne so viel wie möglich abnehmen. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn etwas zu tun ist.«

»Ich bin sicher, die Familie wird Ihr Angebot zu schätzen wissen«, sagte Poirot und fügte dann hinzu: »Soviel ich weiß, sind Sie ein besonderer Freund der jungen Mrs. Boynton.«

Mr. Jefferson Cope errötete ein klein wenig.

»Na ja, dazu gibt es nicht viel zu sagen, Monsieur Poirot. Wie ich höre, hatten Sie heute Vormittag eine Unterredung mit Mrs. Lennox Boynton, und sie hat Ihnen gegenüber bestimmt angedeutet, wie die Dinge zwischen uns stehen, aber das ist jetzt alles vorbei. Mrs. Boynton ist eine sehr feine Frau, und sie meint, dass es ihre vordringliche Pflicht ist, ihrem Mann angesichts dieses schmerzlichen Verlustes beizustehen.«

Er schwieg. Poirot quittierte seine Worte mit einem leichten Neigen des Kopfes und sagte dann: »Es ist der Wunsch von Colonel Carbury, einen exakten Bericht über den Nachmittag von Mrs. Boyntons Tod zu erhalten. Können Sie mir den Verlauf des bewussten Nachmittags schildern?«

»Aber gern! Nach dem Lunch und einer kurzen Ruhepause brachen wir zu einer zwanglosen Erkundungstour auf. Und zwar ohne diesen unmöglichen Dragoman. Der Mann dreht völlig durch, wenn er auf das Thema Juden kommt. In dieser Hinsicht ist er meiner Meinung nach nicht zurechnungsfähig. Wie gesagt, wir brachen auf. Und auf diesem Spaziergang kam es zu der Unterredung mit Nadine. Danach wollte sie mit ihrem Mann allein sein, um die Sache mit ihm zu besprechen. Ich ging allein weiter, arbeitete mich in einem Bogen zum Camp zurück. Etwa auf halbem Wege traf ich auf die beiden englischen Ladys, die am Vormittag mit uns auf der Exkursion gewesen waren — eine von ihnen ist, glaube ich, eine englische Adelige, stimmt’s?«

Poirot sagte, dass dies der Fall sei.

»Ja, eine feine Frau, mit scharfem Verstand und sehr gebildet. Die andere schien mir ein bisschen schwach auf der Brust zu sein — sie war halb tot vor Erschöpfung. Für eine ältere Dame war die Exkursion am Vormittag sehr anstrengend gewesen, vor allem wenn sie die Höhe nicht verträgt. Na ja, wie gesagt, ich traf also die beiden Damen und konnte ihnen gewisse Auskünfte geben. Wir gingen zusammen ein bisschen herum und kamen gegen sechs ins Camp zurück. Lady Westholme bestand darauf, Tee zu trinken, und ich hatte das Vergnügen, eine Tasse mittrinken zu dürfen — der Tee war ziemlich dünn, schmeckte aber ganz interessant. Dann deckten die Boys den Tisch fürs Abendessen, und einer sollte die alte Dame holen, die aber, wie er feststellte, tot in ihrem Stuhl saß.«

»Sahen Sie sie auf dem Rückweg ins Camp?«

»Ich sah, dass sie dort saß — nachmittags und abends war das ihr üblicher Platz, aber ich schenkte ihr keine besondere Aufmerksamkeit. Ich erläuterte Lady Westholme nämlich gerade die Gründe unseres Konjunkturrückgangs. Außerdem musste ich ein Auge auf Miss Pierce haben. Sie war so müde, dass sie ständig mit dem Fuß umknickte.«

»Vielen Dank, Mr. Cope. Darf ich so indiskret sein und fragen, ob Mrs. Boynton möglicherweise ein großes Vermögen hinterlassen hat?«

»Ein ganz beträchtliches sogar. Das heißt, genau genommen ist es gar nicht ihres. Sie hatte nur das Nutzungsrecht auf Lebenszeit, und nach ihrem Tod wird es unter den Kindern des verstorbenen Eimer Boynton aufgeteilt. Ja, sie werden jetzt alle ziemlich wohlhabend sein.«

»Geld«, murmelte Poirot, »spielt immer eine große Rolle. Wie viele Verbrechen wurden schon wegen Geld begangen.«

Mr. Cope sah ihn leicht bestürzt an.

»Da mögen Sie wohl Recht haben«, gab er zu.

Poirot lächelte liebenswürdig und sagte: »Aber es gibt so viele Motive für einen Mord, nicht wahr? Ich danke Ihnen, Mr. Cope, für Ihre freundliche Kooperation.«

»Gern geschehen, keine Frage«, sagte Mr. Cope. »Ist das Miss King, die dort oben sitzt? Ich glaube, ich werde mal zu ihr gehen und mich ein bisschen mit ihr unterhalten. «

Poirot setzte seinen Weg den Hügel hinunter fort.

Nach einer Weile begegnete er Miss Pierce, die ihm entgegengeflattert kam und ihn atemlos begrüßte: »Oh, Monsieur Poirot, ich bin ja so froh, Sie zu treffen. Ich habe mich mit diesem höchst sonderbaren jungen Mädchen unterhalten — der jüngsten Tochter, wissen Sie. Sie hat ja so merkwürdige Sachen gesagt — von Feinden und von einem Scheich, der sie entführen will, und dass sie überall von Spionen umgeben ist. Wirklich, es klang höchst romantisch! Lady Westholme sagt, dass das alles Unsinn ist und dass sie einmal ein rothaariges Küchenmädchen hatte, das auch solche Lügen erzählte, aber manchmal denke ich, dass Lady Westholme doch ein wenig zu streng ist. Und es könnte doch ohne weiteres wahr sein, nicht wahr, Monsieur Poirot? Vor Jahren las ich, dass eine der Zarentöchter gar nicht in der Revolution in Russland umkam, sondern heimlich nach Amerika flüchten konnte. Die Großfürstin Tatjana, wenn ich mich nicht irre. Wenn das stimmt, dann könnte das junge Mädchen doch ihre Tochter sein, nicht wahr? Sie hat in der Tat etwas von königlichem Blut angedeutet — und sie hat ja auch etwas Slawisches, finden Sie nicht? Besonders die Wangenknochen. Wäre das nicht furchtbar aufregend?«

Poirot sagte leicht salbungsvoll: »Es gibt wahrlich viele seltsame Dinge im Leben.«

»Ich habe heute Vormittag gar nicht richtig mitbekommen, wer Sie sind«, sagte Miss Pierce und presste die Hände zusammen. »Dabei sind Sie doch dieser ungemein berühmte Privatdetektiv! Ich habe alles über den ABC-Fall gelesen. War das aufregend! Ich hatte damals nämlich eine Stelle als Gouvernante in der Nähe von Doncaster.«

Poirot murmelte etwas. Miss Pierce fuhr mit wachsender Erregung fort: »Und darum hatte ich das Gefühl — dass ich mich geirrt hatte — heute Vormittag. Man muss doch immer alles sagen, nicht wahr? Selbst die kleinste Kleinigkeit, und mag sie einem auch noch so unwichtig erscheinen. Denn wenn Sie sich mit dieser Sache befassen, dann muss die arme Mrs. Boynton ermordet worden sein! Das ist mir jetzt klar! Es wäre doch möglich, dass Mr. Mah Mut — ich kann mir seinen Namen einfach nicht merken —, also der Dragoman —, ich meine, er könnte doch ein bolschewistischer Agent sein? Oder Miss King vielleicht? Ich glaube, dass heutzutage viele wohlerzogene junge Mädchen aus gutem Hause zu diesen schrecklichen Kommunisten gehören! Und darum habe ich mich gefragt, ob ich es Ihnen nicht vielleicht doch sagen sollte — denn, wissen Sie, es war schon ziemlich merkwürdig, wenn man es richtig bedenkt.«

»Ganz recht«, sagte Poirot. »Und darum werden Sie mir jetzt alles erzählen.«

»Nun, eigentlich ist es ja nichts weiter. Nur dass ich am Morgen nach der Entdeckung des tragischen Ereignisses ziemlich früh auf den Beinen war und aus meinem Zelt schaute, um den Sonnenaufgang zu sehen — nur dass es natürlich gar nicht Sonnenaufgang war, weil die Sonne bestimmt schon eine Stunde früher aufgegangen war. Jedenfalls war es noch sehr früh und — «

»Ja, ja. Und was sahen Sie da?«

»Das ist ja das Komische — obwohl es mir damals nichts Besonderes zu sein schien. Es war nur so, dass ich sah, wie die Boynton-Tochter aus ihrem Zelt kam und etwas in das Wadi warf — da ist zwar weiter nichts dabei, aber es glitzerte in der Sonne! Als es durch die Luft flog. Es glitzerte, wissen Sie?«

»Welche Boynton-Tochter war das?«

»Ich glaube, es war die, die Carol heißt — ein hübsches junges Ding — hat große Ähnlichkeit mit ihrem Bruder — die beiden könnten Zwillinge sein. Aber es könnte natürlich auch die Jüngste gewesen sein. Die Sonne schien mir in die Augen, und da konnte ich sie nicht genau sehen. Allerdings glaube ich nicht, dass das Haar rot war — eher bronzefarben. Ich finde diesen bronzenen Kupferton ja so attraktiv! Bei roten Haaren muss ich nämlich immer an Karotten denken!« Sie kicherte.

»Und sie warf einen glitzernden Gegenstand weg?«, sagte Poirot.

»Ja. Und wie ich bereits sagte, habe ich mir damals natürlich nichts weiter dabei gedacht. Aber als ich später am Wadi entlangging, war Miss King dort. Und zwischen all den Dingen, die da nun wirklich nicht hingehörten — sogar Blechbüchsen lagen da! —, sah ich etwas aus Metall schimmern — eine Art Dose, nicht direkt quadratisch, eher länglich oder so, wenn Sie verstehen, was ich meine — «

»Ja, ja, ich verstehe vollkommen. Etwa so lang?«

»Genau! Was sind Sie doch für ein kluger Mann! Und da dachte ich bei mir: >Die hat wahrscheinlich die kleine Boynton weggeworfen, und dabei ist das so eine hübsche kleine Dose.< Und da habe ich sie aus purer Neugier aufgehoben und geöffnet. Innen lag eine Spritze — mit genau so einer hatten sie mich in den Arm gepiekst, als ich mich gegen Typhus impfen ließ. Komisch, dachte ich noch, so etwas einfach wegzuwerfen, weil sie nämlich gar nicht kaputt zu sein schien. Aber noch während ich darüber nachdachte, sprach mich von hinten Miss King an. Ich hatte sie gar nicht kommen hören. Und sie sagte: >Oh, vielen Dank — die gehört mir. Ich habe sie schon gesucht.< Also gab ich sie ihr, und sie ging damit zurück ins Camp.«

Miss Pierce hielt kurz inne und fuhr dann hastig fort: »Bestimmt hat das überhaupt nichts zu besagen — aber ein wenig seltsam fand ich es doch, dass Carol Boynton eine Spritze von Miss King weggeworfen hatte. Ich meine, es war irgendwie merkwürdig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Obwohl es natürlich bestimmt eine sehr gute Erklärung dafür gibt.«

Sie hielt inne und sah Poirot erwartungsvoll an.

Sein Gesicht war ernst. »Ich danke Ihnen, Mademoiselle. Was Sie mir mitgeteilt haben, mag, für sich betrachtet, nicht von Belang sein, aber so viel kann ich Ihnen versichern: Damit ist mein Fall komplett! Jetzt ist alles klar und logisch.«

»Ach, wirklich?« Miss Pierce errötete vor Freude wie ein kleines Kind.

Poirot begleitete sie zurück zum Hotel.

Als er wieder in seinem Zimmer war, fügte er seinem Memorandum einen weiteren Punkt hinzu: 10. — »Ich vergesse nichts. Merken Sie sich das gut. Ich vergesse niemals etwas...«

»»Mais oui«, sagte er. »Jetzt ist alles klar!«

Fünfzehntes Kapitel

»Meine Vorbereitungen sind komplett«, sagte Hercule Poirot.

Mit einem kleinen Seufzer trat er einige Schritte zurück und betrachtete die Vorkehrungen, die er in einem unbewohnten Zimmer des Hotels getroffen hatte.

Colonel Carbury, höchst unelegant an das Bett gelehnt, das an die Wand geschoben worden war, paffte lächelnd seine Pfeife. »Sie sind schon ein komischer Kauz, Poirot«, sagte er. »Mögen es gern dramatisch, was?«

»Nun, vielleicht ist es so«, räumte der kleine Privatdetektiv ein. »Aber es geschieht gewiss nicht nur zu meiner persönlichen Befriedigung. Wer eine Komödie spielen will, muss zuerst für die richtige Kulisse sorgen.«

»Ist das Ganze denn eine Komödie?«

»Selbst wenn es eine Tragödie ist — das decor muss stimmen, unbedingt!«

Colonel Carbury sah ihn neugierig an.

»Na ja«, sagte er, »es ist schließlich Ihre Sache. Ich weiß zwar nicht, worauf Sie hinauswollen, aber mir scheint, dass Sie irgendetwas herausgefunden haben.«

»Ich werde die Ehre haben, Ihnen das zu präsentieren, worum Sie mich gebeten haben — die Wahrheit!«

»Meinen Sie, dass es für eine Verurteilung reicht?«

»Das, mein Freund, habe ich Ihnen nicht versprochen. «

»Stimmt. Ist vielleicht auch besser so. Wir werden ja sehen.«

»Meine Beweisführung ist hauptsächlich psychologischer Natur«, sagte Poirot.

Colonel Carbury seufzte. »Das habe ich befürchtet.«

»Aber sie wird Sie überzeugen«, versicherte ihm Poirot. »O ja, sie wird Sie überzeugen. Die Wahrheit, wie ich immer wieder feststelle, ist merkwürdig und wunderbar.«

»Manchmal«, sagte Colonel Carbury, »ist sie aber auch verdammt unangenehm.«

»Nein, o nein.« Poirot sprach mit großem Ernst. »Sie sehen das aus einem zu persönlichen Blickwinkel. Betrachten Sie die Sache abstrakt, aus der Distanz. Dann ist die absolute Logik der Ereignisse faszinierend und methodisch.«

»Ich werd mir Mühe geben«, sagte der Colonel.

Poirot warf einen Blick auf seine Taschenuhr, ein richtiges Monstrum von einer Uhr.

»Die gehörte einmal meinem Großvater.«

»Hab ich mir fast gedacht.«

»Es ist Zeit, mit unserer kleinen Vorstellung zu beginnen«, sagte Poirot. »Sie, mon Colonel, werden hier sitzen, hinter dem Tisch, in einer offiziellen Position.«

»Na schön«, brummte Carbury. »Soll ich womöglich auch meine Uniform anziehen?«

»Nein, nicht nötig. Ich werde lediglich Ihre Krawatte zurechtrücken, wenn Sie gestatten.« Er setzte seine Worte in die Tat um. Colonel Carbury grinste, nahm auf dem ihm zugewiesenen Stuhl Platz und hatte schon im nächsten Moment den Krawattenknoten unbewusst wieder unter sein linkes Ohr geschoben.

»Hier«, sagte Poirot, während er die Anordnung der Stühle leicht veränderte, »platzieren wir la famille Boynton.«

»Und hier«, fuhr er fort, »werden wir die drei Außenstehenden platzieren, die so großen Anteil nehmen an diesem Fall. Dr. Gerard, von dessen Aussage die Anklage abhängt. Miss Sarah King, die zweierlei Interessen an dem Fall hat, ein persönliches und eines als Leichenbeschauer. Und Mr. Jefferson Cope, der mit den Boyntons auf freundschaftlichem Fuße steht und daher zweifellos befangen zu nennen ist.«

Er brach ab. »Aha! Sie kommen.«

Er machte die Tür auf, um alle hereinzulassen.

Lennox Boynton und seine Frau traten als Erste ein. Ihnen folgten Raymond und Carol. Dann kam Ginevra, allein, ein leises, versonnenes Lächeln auf den Lippen. Dr. Gerard und Sarah King bildeten die Nachhut. Mr. Jefferson Cope traf mit einigen Minuten Verspätung ein, wofür er sich entschuldigte.

Nachdem auch er Platz genommen hatte, trat Poirot vor.

»Mesdames et Messieurs«, sagte er, »dies ist eine rein informelle Zusammenkunft. Sie ergibt sich aufgrund meiner zufälligen Anwesenheit in Amman. Colonel Carbury erwies mir die Ehre, mich zu konsultieren und — «

Poirot wurde unterbrochen, und zwar von jemandem, von dem er das offenbar nicht erwartet hatte. Denn Lennox Boynton sagte unvermittelt und streitlustig: »Warum? Warum zum Teufel sollte er ausgerechnet Sie in dieser Sache einschalten?«

Poirot machte eine anmutige Handbewegung.

»Ich werde oft bei plötzlichen Todesfällen hinzugezogen.«

»Die Ärzte schicken also jedes Mal nach Ihnen«, sagte Lennox Boynton, »wenn jemand an Herzversagen stirbt?«

Poirot erwiderte freundlich:

»Herzversagen ist ein so vager und unwissenschaftlicher Begriff.«

Colonel Carbury räusperte sich, was sehr amtlich klang, und sagte in amtlichem Ton: »Ich will mal was klarstellen. Da wird mir ein Todesfall gemeldet. Ganz normaler Vorfall. Außergewöhnlich heißes Wetter, strapaziöse Reise für eine ältere Dame in schlechter körperlicher Verfassung. So weit ist alles klar. Aber dann kommt Dr. Gerard zu mir und macht eine Aussage.«

Er warf Poirot einen fragenden Blick zu. Poirot nickte.

»Dr. Gerard ist ein hochangesehener Arzt von internationalem Ruf. Einer Aussage von ihm wird zwangsläufig Beachtung geschenkt. Und Dr. Gerard sagt Folgendes aus: Am Morgen nach Mrs. Boyntons Tod bemerkte er, dass in seinem Arztkoffer eine bestimmte Menge eines hochwirksamen Herzmittels fehlte. Am Nachmittag davor hatte er festgestellt, dass eine Spritze verschwunden war. Welche während der Nacht zurückgebracht wurde. Letzter Punkt: Am Handgelenk der Toten befand sich ein Einstich, wie ihn eine Spritze hinterlässt.«

Colonel Carbury machte eine Pause.

»Unter diesen Umständen hielt ich es für die Pflicht der zuständigen Behörden, den Fall zu untersuchen. Monsieur Hercule Poirot war mein Gast und bot mir anerkennenswerterweise seine speziellen Dienste an. Ich gab ihm freie Hand, alle Ermittlungen anzustellen, die er für richtig hielt. Und jetzt sind wir hier, um uns seinen Bericht anzuhören.«

Es herrschte Stille. Man hätte, wie es so schön heißt, eine Stecknadel zu Boden fallen hören können, so still war es. Im Zimmer nebenan fiel tatsächlich etwas zu Boden, vermutlich ein Schuh. Es klang, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

Poirot warf einen schnellen Blick auf die dreiköpfige Gruppe zu seiner Rechten und wandte seine Aufmerksamkeit dann den fünf Personen zu, die dicht beisammen zu seiner Linken saßen — fünf Menschen mit angsterfüllten Augen.

Poirot sagte ruhig: »Als Colonel Carbury mir von der Sache erzählte, äußerte ich meine sachkundige Meinung. Ich sagte ihm, dass es vielleicht nicht möglich sein würde, Beweise zu liefern — Beweise, die bei Gericht zulässig wären. Aber ich erklärte ihm unmissverständlich, dass ich überzeugt war, die Wahrheit herauszufinden — allein durch die Befragung der betroffenen Personen. Denn ich darf Ihnen versichern, mes amis: Wenn man in einem Verbrechen ermittelt, muss man den oder die Schuldigen nur reden lassen — am Ende erzählen sie einem immer, was man wissen will!« Er hielt kurz inne.

»Und obwohl Sie alle mich in diesem Fall angelogen haben, haben Sie mir auch unwillentlich die Wahrheit gesagt.«

Er hörte, wie rechts von ihm jemand leise seufzte und das knarzende Geräusch eines Stuhls, doch er drehte sich nicht danach um. Sein Blick blieb auf die Boyntons gerichtet.

»Als Erstes untersuchte ich die Möglichkeit, dass Mrs. Boynton eines natürlichen Todes gestorben war — und ich verwarf sie. Das fehlende Medikament, die Injektionsspritze und vor allem das Verhalten der Familie der Toten — alles überzeugte mich, dass diese Vermutung nicht aufrechtzuerhalten war.

Nicht nur, dass Mrs. Boynton kaltblütig ermordet wurde — jedes Mitglied ihrer Familie war sich dieser Tatsache auch bewusst! Alle miteinander verhielten sich wie Schuldige.

Aber es gibt unterschiedliche Grade von Schuld. Ich prüfte das Beweismaterial sorgfältig im Hinblick darauf, ob der Mord — ja, denn es war Mord — von der Familie der alten Dame gemeinschaftlich und vorsätzlich begangen worden war.

Ich darf sagen, es gab ein überwältigendes Motiv. Jeder von ihnen profitierte von ihrem Tod — sowohl in finanzieller Hinsicht, denn sie erlangten dadurch finanzielle Unabhängigkeit und kamen in den Genuss eines sehr beträchtlichen Vermögens, als auch in dem Sinn, dass sie befreit wurden von einer Tyrannei, die geradezu unerträglich geworden war.

Lassen Sie mich fortfahren. Ich kam zu dem Schluss — und das fast unverzüglich —, dass die Theorie eines gemeinschaftlichen Vorgehens nicht stichhaltig war. Die Aussagen der Familie Boynton stimmten nicht nahtlos überein, und man hatte sich keine plausiblen Alibis zurechtgelegt. Die Indizien schienen eher darauf hinzudeuten, dass ein einzelnes oder vielleicht zwei Mitglieder der Familie in geheimem Einverständnis gehandelt hatten und dass die anderen die Tat deckten. Als Nächstes überlegte ich, welche Person oder Personen speziell in Frage kamen. Ich muss gestehen, hierbei war ich geneigt, voreingenommen zu sein aufgrund eines Indizes, das nur mir bekannt war.«

Hercule Poirot berichtete von dem Gespräch, das er in Jerusalem mit angehört hatte.

»Das deutete natürlich stark daraufhin, dass in diesem Fall Mr. Raymond Boynton die treibende Kraft war. Ich studierte die Familie und kam zu dem Schluss, dass der Empfänger seiner vertraulichen Mitteilungen an diesem Abend höchstwahrscheinlich seine Schwester Carol war. Beide ähneln sich sehr in Aussehen und Naturell, und es besteht gewiss eine sehr enge und innige Beziehung zwischen ihnen. Darüber hinaus besitzen sie das nervöse, rebellische Temperament, das die Voraussetzung ist für das Konzept eines solchen Vorhabens. Dass ihr Motiv zum Teil uneigennützig war — sie wollten die ganze Familie befreien und insbesondere ihre jüngere Schwester — , machte die Planung der Tat nur noch plausibler.« Poirot hielt einen Moment inne.

Raymond Boynton öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders. Seine Augen blickten Poirot unverwandt mit einem Ausdruck dumpfer Verzweiflung an.

»Bevor ich näher darauf eingehe, was gegen Raymond Boynton spricht, möchte ich Ihnen eine Liste mit entscheidenden Fakten vorlesen, die ich aufstellte und heute Nachmittag Colonel Carbury vorlegte.


ENTSCHEIDENDE FAKTEN

Mrs. Boynton nahm ein Medikament, das Digitalis enthielt.

Dr. Gerard vermisste eine Inj ektionsspritze.

Es machte Mrs. Boynton Spaß, ihre Familie daran zu hindern, mit anderen Menschen zusammen zu sein.

Mrs. Boynton ermunterte ihre Familie an dem besagten Nachmittag, einen Spaziergang zu machen und sie allein zu lassen.

Mrs. Boynton war eine Sadistin.

Die Entfernung zwischen dem Gemeinschaftszelt und der Stelle, wo Mrs. Boynton saß, beträgt (circa) 200 Meter.

Mr. Lennox Boynton sagte zunächst aus, er wisse nicht, wann er ins Camp zurückgekommen sei, gab später je doch zu, die Armbanduhr seiner Mutter gestellt zu haben.

Das Zelt von Dr. Gerard stand direkt neben dem von Miss Ginevra Boynton.

Um 18.30 Uhr, als das Abendessen fertig war, wurde ein Diener zu Mrs. Boynton geschickt, um sie zu holen.

10. Mrs. Boynton benutzte in Jerusalem die Worte: >Ich vergesse nichts. Merken Sie sich das gut! Ich vergesse niemals etwas.<


Obwohl ich diese Punkte einzeln aufgelistet habe, lassen sie sich gelegentlich paarweise zusammenfassen. Das ist zum Beispiel bei den beiden ersten der Fall. Mrs. Boynton nahm ein Medikament, das Digitalis enthielt. Dr. Gerard vermisste eine Injektionsspritze. Diese beiden Punkte waren das Erste, was mir bei diesem Fall auffiel, und ich darf Ihnen versichern, dass ich sie höchst erstaunlich fand — und sehr widersprüchlich. Sie verstehen nicht, was ich meine? Egal. Ich werde noch darauf zurückkommen. Es sei hier nur so viel gesagt, dass ich bemerkte, dass diese beiden Punkte dringend einer zufrieden stellenden Erklärung bedurften.

Ich will mit meinen Überlegungen zu der Möglichkeit von Raymond Boyntons Schuld fortfahren. Die Fakten sind folgende: Er wurde belauscht, als er die Möglichkeit erörterte, Mrs. Boynton ums Leben zu bringen. Er befand sich in einem Zustand großer nervöser Erregung. Er hatte — Mademoiselle wird mir verzeihen«, er verbeugte sich wie zur Entschuldigung vor Sarah, »gerade einen Moment heftiger Gemütsbewegung durchlebt. Das heißt, er hatte sich verliebt. Der Überschwang seiner Gefühle könnte ihn zu ganz unterschiedlichen Handlungen veranlasst haben. Vielleicht ist er nun milder und nachsichtiger gegenüber der Welt im Allgemeinen, einschließlich seiner Stiefmutter — vielleicht hat er endlich den Mut, ihr die Stirn zu bieten und ihren Einfluss abzuschütteln. Aber vielleicht erhielt er auch den letzten Anstoß, sein verbrecherisches Vorhaben von der Theorie in die Praxis umzusetzen. Das ist die Psychologie! Wenden wir uns nun den Fakten zu.

Raymond Boynton verließ das Camp etwa Viertel nach drei mit den anderen. Mrs. Boynton war zu der Zeit erklärtermaßen wohlauf. Bald darauf hatten Raymond und Sarah King ihr kleines tête-a-tête. Dann verließ er Miss King. Wie er sagt, kehrte er zehn Minuten vor sechs ins Camp zurück. Er ging hinauf zu seiner Mutter, wechselte einige Worte mit ihr, ging dann in sein Zelt und anschließend hinunter in das Gemeinschaftszelt. Er sagt aus, dass Mrs. Boynton zehn Minuten vor sechs gesund und munter war.

Aber nun kommen wir zu einem Sachverhalt, der dieser Aussage diametral widerspricht. Um halb sieben wurde Mrs. Boyntons Tod von einem Diener entdeckt. Miss King, die ausgebildete Ärztin ist, untersuchte die Leiche, und sie schwört, dass der Tod — obwohl sie nicht speziell auf den Zeitpunkt seines Eintritts achtete — eindeutig und unbestreitbar mindestens eine Stunde vor sechs Uhr stattgefunden hatte, wahrscheinlich sogar schon wesentlich früher.

Sie sehen, wir haben es hier mit zwei widersprüchlichen Aussagen zu tun. Wenn wir die Möglichkeit beiseite lassen, dass Miss King einen Fehler gemacht hat — «

»Ich mache keine Fehler«, fiel ihm Sarah ins Wort. »Und wenn ich einen gemacht hätte, würde ich es zugeben.«

Ihre Stimme klang hart und entschieden.

Poirot deutete eine höfliche Verbeugung an.

»Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten — entweder Miss King lügt oder Mr. Boynton lügt! Betrachten wir die Gründe, die Raymond Boynton haben könnte, die Unwahrheit zu sagen. Nehmen wir an, Miss King hat sich nicht geirrt und nicht vorsätzlich gelogen. Wie hat es sich dann abgespielt? Raymond Boynton kommt zurück ins Camp, sieht seine Mutter vor ihrer Höhle sitzen, geht zu ihr und stellt fest, dass sie tot ist. Was macht er daraufhin? Ruft er Hilfe herbei? Unterrichtet er unverzüglich das ganze Camp? Nein, er wartet ein oder zwei Minuten, begibt sich dann in sein Zelt, geht in das Gemeinschaftszelt zu seiner Familie und sagt nichts. Ein solches Verhalten ist doch höchst kurios, nicht wahr?«

Raymond sagte in nervösem, scharfem Ton: »Es wäre sogar absolut idiotisch. Schon das allein müsste Ihnen beweisen, dass meine Mutter noch gesund und munter war, genau wie ich sagte. Miss King war aufgeregt und durcheinander und muss sich geirrt haben.«

»Es erhebt sich die Frage«, fuhr Poirot ungerührt fort, »ob es möglicherweise einen Grund gibt für ein solches Verhalten. Auf den ersten Blick scheint es, dass Raymond Boynton nicht der Täter sein kann, weil zu dem einzigen Zeitpunkt, zu dem er an jenem Nachmittag nachweislich seine Mutter aufsuchte, diese bereits seit geraumer Zeit tot war. Wenn wir also annehmen, dass Raymond Boynton unschuldig ist, wie können wir dann sein Verhalten erklären?

Ich behaupte: Unter der Voraussetzung, dass er unschuldig ist, können wir es! Denn ich erinnere mich an die Worte, die ich zufällig hörte. >Du siehst doch ein, dass sie sterben muß!< Er kommt zurück von seinem Spaziergang und findet sie tot vor, und sein schuldbewusster Geist denkt sofort an eine ganz bestimmte Möglichkeit. Der Plan wurde ausgeführt — nicht von ihm, sondern von seiner Mitwisserin. Tout simplement, er hat den Verdacht, dass seine Schwester Carol die Tat begangen hat.«

»Das ist eine Lüge«, sagte Raymond leise mit zitternder Stimme.

»Betrachten wir nun die Möglichkeit«, fuhr Poirot fort, »dass Carol Boynton die Mörderin ist. Welche Indizien sprechen gegen sie? Sie hat das gleiche reizbare Temperament — die Art von Temperament, die in einer solchen Tat vielleicht etwas Heroisches sieht. Es war sie, mit der Raymond Boynton an jenem Abend in Jerusalem sprach. Carol Boynton kehrte zehn Minuten nach fünf ins Camp zurück. Ihrer eigenen Aussage zufolge ging sie hinauf zu ihrer Mutter und sprach mit ihr. Aber niemand hat sie dort gesehen. Das Camp war verlassen — die Boys schliefen. Lady Westholme, Miss Pierce und Mr. Cope erkundeten Höhlen außer Sichtweite des Camps. Niemand kann Carol Boyntons Aussage bezeugen. Der Zeitpunkt würde sehr wohl passen. Die Tatsachen sprechen also für eine Täterschaft von Carol Boynton.« Er hielt inne. Carol hatte den Kopf gehoben. Ihre Augen blickten Poirot unverwandt und bekümmert an.

»Es gibt noch einen weiteren Punkt. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, wurde Carol Boynton dabei beobachtet, wie sie etwas in das Wadi warf. Es besteht Grund zu der Annahme, dass dieses Etwas eine Spritze war.«

»Comment?« Dr. Gerard blickte überrascht auf. »Aber meine Spritze wurde zurückgebracht. Ja, ja, ich habe sie wieder!«

Poirot nickte nachdrücklich.

»Gewiss, gewiss. Diese zweite Spritze — sie ist sehr merkwürdig, sehr interessant. Man hat mir zu verstehen gegeben, dass diese Spritze Miss King gehörte. Ist das richtig?«

Sarah zögerte den Bruchteil einer Sekunde.

Carol war schneller. »Es war nicht Miss Kings Spritze«, sagte sie. »Es war meine.«

»Dann geben Sie zu, sie weggeworfen zu haben, Mademoiselle?«

Sie zauderte kaum merklich: »Ja, natürlich. Warum sollte ich es nicht zugeben?«

»Carol!« Es war Nadine. Sie beugte sich vor und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen besorgt an. »Carol. Ich verstehe das nicht.«

Carol drehte sich um und sah sie an. Ihr Blick hatte etwas Feindseliges.

»Was gibt es da zu verstehen? Ich habe eine alte Spritze weggeworfen. Das Gift — habe ich nicht angerührt.«

Sarah mischte sich ein: »Was Miss Pierce Ihnen erzählt hat, ist die Wahrheit, Monsieur Poirot. Es war meine Spritze.«

Poirot lächelte.

»Sie ist sehr verwirrend, diese Sache mit der Spritze — dennoch glaube ich, dass sie sich erklären lässt. Alors, wir haben somit triftige Gründe für zwei Dinge — triftige Gründe für die Unschuld von Raymond Boynton und triftige Gründe für die Schuld seiner Schwester Carol. Aber ich, ich bin immer sehr gewissenhaft und unparteiisch. Ich betrachte stets beide Seiten. Untersuchen wir nun, was sich ereignete, falls Carol Boynton unschuldig ist.

Sie kehrt zurück ins Camp, sie geht hinauf zu ihrer Stiefmutter und stellt fest, dass sie — sagen wir — tot ist. Was ist das Erste, was sie denkt? Sie muss annehmen, dass ihr Bruder Raymond sie getötet hat. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Also sagt sie nichts. Und bald darauf, etwa eine Stunde später, kommt Raymond Boynton zurück, und da er angeblich mit seiner Mutter gesprochen hat, sagt er kein Wort davon, dass etwas nicht stimmt. Meinen Sie nicht, dass Carol Boyntons Verdacht daraufhin zur Gewissheit wird? Vielleicht geht sie in sein Zelt und findet dort eine Spritze. Und dann hat sie den Beweis! Sie nimmt die Spritze unverzüglich an sich und versteckt sie. Am nächsten Morgen wirft sie sie in aller Frühe weg, so weit sie kann.

Es gibt noch einen weiteren Hinweis, dass Carol Boynton unschuldig ist. Als ich sie befrage, versichert sie mir, dass sie und ihr Bruder nie ernsthaft vorhatten, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Ich bitte sie, es mir zu schwören — und sie schwört auf der Stelle und mit feierlichem Ernst, dass sie nichts mit diesem Verbrechen zu tun hat! Ja, so drückt sie sich aus. Sie schwört nicht, dass sie und ihr Bruder unschuldig sind. Sie schwört nur für sich selbst — und denkt, dass ich dem Pronomen keine besondere Beachtung schenken werde.

Eh bien, das sind die Gründe, die für die Unschuld von Carol Boynton sprechen. Und nun gehen wir etwas zurück und befassen uns nicht mit der Unschuld, sondern mit der möglichen Täterschaft von Raymond. Nehmen wir einmal an, dass Carol die Wahrheit sagt, dass Mrs. Boynton um zehn Minuten nach fünf tatsächlich noch lebte. Unter welchen Umständen kann Raymond dann der Täter sein? Wir können unterstellen, dass er seine Mutter zehn Minuten vor sechs tötete, als er hinaufging, um mit ihr zu sprechen. Gewiss, es waren Boys im Camp unterwegs, aber es dämmerte bereits. Es wäre also möglich gewesen. Aber das würde bedeuten, dass Miss King gelogen hat. Vergessen Sie nicht, dass sie nur fünf Minuten nach Raymond ins Camp zurückkehrte. Sie sieht von weitem, wie er zu seiner Mutter geht. Als diese später tot aufgefenden wird, begreift Miss King, dass Raymond sie getötet hat, und um ihn zu retten, lügt sie — wohl wissend, dass Dr. Gerard mit Fieber zu Bett liegt und sie nicht der Lüge überführen kann!«

»Ich habe nicht gelogen!«, sagte Sarah bestimmt.

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Wie gesagt, Miss King erreichte das Camp einige Minuten nach Raymond. Falls Raymond Boynton seine Mutter tatsächlich lebend antraf, dann könnte Miss King die tödliche Injektion verabreicht haben. Sie war überzeugt, dass Mrs. Boynton ein durch und durch böser Mensch war. Sie könnte sich als die Vollstreckerin einer gerechten Strafe betrachtet haben. Das würde auch erklären, warum sie bezüglich der Todeszeit gelogen hat.«

Sarah war sehr blass geworden. Mit leiser, ruhiger Stimme sagte sie: »Es ist wahr, ich habe davon gesprochen, dass die Umstände es erfordern können, dass einer stirbt, um viele zu retten. Die Opferstätte hatte mich auf diesen Gedanken gebracht. Aber ich kann beschwören, dass ich dieser widerwärtigen alten Frau nie etwas zuleide getan habe — dass mir ein solcher Gedanke nie und nimmer in den Sinn gekommen wäre!«

»Und doch steht fest«, sagte Poirot sanft, »dass einer von Ihnen beiden lügt.«

Raymond Boynton rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Dann rief er ungestüm aus: »Sie haben gewonnen, Monsieur Poirot! Der Lügner bin ich! Mutter war bereits tot, als ich zu ihr hinaufging. Ich war — wie vor den Kopf geschlagen. Ich wollte klare Verhältnisse schaffen, verstehen Sie? Ihr sagen, dass ich von jetzt an mein eigener Herr bin. Ich war wirklich fest entschlossen, wissen Sie. Und dann war sie — tot! Ihre Hand war so kalt und schlaff. Und ich dachte — genau das, was Sie sagten. Ich dachte, dass vielleicht Carol. Sie hatte doch diesen Einstich am Handgelenk — «

Poirot unterbrach ihn: »Das ist der einzige Punkt, über den ich nicht vollständig informiert bin. Was war die Methode, die Sie anzuwenden gedachten? Sie hatten doch einen Plan — und dieser hatte etwas mit einer Spritze zu tun. So viel weiß ich. Wenn ich Ihnen glauben soll, müssen Sie mir jetzt auch den Rest erzählen.«

Raymond sagte hastig: »Ich hatte es in einem Buch gelesen — einem englischen Kriminalroman. Man nimmt eine Spritze, die mit Luft gefüllt ist, und sticht damit zu, das ist alles. Es klang sehr wissenschaftlich. Ich — ich dachte, dass wir es so machen würden.«

»Ah«, sagte Poirot. »Ich verstehe. Und Sie kauften eine Spritze?«

»Nein. Genau gesagt habe ich mir die von Nadine besorgt.«

Poirot warf einen raschen Blick auf die junge Frau. »Die Spritze, die sich in Ihrem Gepäck in Jerusalem befindet?«, erkundigte er sich.

Nadine Boyntons Wangen röteten sich.

»Ich — ich wusste nicht genau, wo sie abgeblieben war«, murmelte sie.

»Sie sind sehr schlagfertig, Madame«, sagte Poirot leise.

Sechzehntes Kapitel

Es entstand eine Pause. Dann räusperte sich Poirot, was leicht affektiert klang, und fuhr fort: »Damit haben wir das Rätsel der zweiten Spritze gelöst. Diese gehörte Mrs. Lennox Boynton, wurde vor der Abreise aus Jerusalem von Raymond Boynton an sich gebracht, wurde nach der Entdeckung der Leiche von Mrs. Boynton von Carol an sich genommen, wurde von ihr weggeworfen, von Miss Pierce gefunden und von Miss King als die ihre erklärt. Ich nehme an, sie befindet sich noch immer in Miss Kings Besitz.«

»So ist es«, sagte Sarah.

»Folglich haben Sie, als Sie vorhin sagten, sie gehöre Ihnen, etwas getan, was sie angeblich nicht tun — Sie haben gelogen.«

»Das ist etwas anderes«, sagte Sarah ruhig. »Hier geht es nicht um eine — eine berufliche Lüge.«

Gerard nickte beifällig.

»Ja, das ist ein Argument, in der Tat. Ich verstehe Sie vollkommen, Mademoiselle.«

»Danke«, sagte Sarah.

Wieder räusperte sich Poirot.

»Wenden wir uns nun der Zeittabelle zu. Alors:

15.05 (ca.): Die Boyntons und Jefferson Cope verlassen das Camp.

15.15 (ca.): Dr. Gerard und Sarah King verlassen das Camp.

16.15: Lady Westholme und Miss Pierce verlassen das Camp.

16.20 (ca.): Dr. Gerard kommt zurück ins Camp.

16.35: Lennox Boynton kommt zurück ins Camp.

16.40: Nadine Boynton kommt zurück ins Camp und spricht mit Mrs. Boynton.

16.50 (ca.): Nadine Boynton verlässt ihre Schwiegermutter und geht ins Gemeinschaftszelt.

17.10: Carol Boynton kommt zurück ins Camp.

17.40: Lady Westholme, Miss Pierce und Mr. Jefferson Cope kommen zurück ins Camp.

17.50: Raymond Boynton kommt zurück ins Camp.

18.00: Sarah King kommt zurück ins Camp.

18.30: Die Tote wird entdeckt.

Sie werden bemerken, dass es eine Lücke von zwanzig Minuten gibt zwischen 16.50 Uhr, als Nadine Boynton ihre Schwiegermutter verließ, und 17.10 Uhr, als Carol zurückkam. Wenn Carol also die Wahrheit sagt, dann muss Mrs. Boynton in diesen zwanzig Minuten ermordet worden sein.

Aber wer könnte sie getötet haben? Miss King und Raymond Boynton waren zu der Zeit zusammen. Mr. Cope, der allerdings kein erkennbares Motiv für die Tat hat, besitzt ein Alibi. Er hielt sich bei Lady Westholme und Miss Pierce auf. Lennox Boynton war mit seiner Frau im Gemeinschaftszelt. Dr. Gerard lag stöhnend mit Fieber in seinem Zelt. Das Camp ist verlassen, die Boys schlafen. Der Moment für ein Verbrechen ist günstig! Gab es eine Person, die es hätte verüben können?«

Sein Blick wanderte nachdenklich zu Ginevra Boynton.

»Es gab tatsächlich eine solche Person. Ginevra Boynton war den ganzen Nachmittag in ihrem Zelt. Das wurde uns jedenfalls gesagt — aber es besteht Grund zu der Annahme, dass sie sich nicht die ganze Zeit in ihrem Zelt aufhielt. Ginevra Boynton machte eine sehr aufschlussreiche Bemerkung. Sie sagte, dass Dr. Gerard im Fieber ihren Namen sprach. Und Dr. Gerard hat uns erzählt, dass er in seinen Fieberträumen Ginevra Boyntons Gesicht sah. Aber das war kein Traum! Es war tatsächlich sie, die er neben seinem Bett stehen sah. Er hielt es für einen Fieberwahn — aber es war Realität. Ginevra war in Dr. Gerards Zelt, Ist es nicht möglich, dass sie gekommen war, um die Spritze zurückzubringen, nachdem sie sie benutzt hatte?«

Ginevra Boynton hob den Kopf mit dem Kranz aus rotblondem Haar. Ihre schönen großen Augen, die noch ausdrucksloser als sonst waren, starrten Poirot an. Sie wirkte wie eine entrückte Heilige.

»»Ah, ça non!«, rief Dr. Gerard aus.

»Ist es psychologisch denn so unmöglich?«, erkundigte sich Poirot.

Der Franzose blickte zu Boden.

Nadine Boynton sagte scharf: »Ausgeschlossen!«

Poirot sah sie schnell an. »Ausgeschlossen, Madame?«

»Ja.« Sie hielt inne, biss sich auf die Lippen und fuhr dann fort: »Ich werde mir eine derart schändliche Beschuldigung meiner Schwägerin nicht anhören. Wir — wir alle wissen, dass das völlig unmöglich ist.«

Ginevra bewegte sich auf ihrem Stuhl. Ihr Mund entspannte sich zu einem Lächeln — dem anrührenden, unschuldigen, halb unbewussten Lächeln eines noch sehr jungen Mädchens. Nadine sagte noch einmal: »Völlig unmöglich!«

Ihr sanftes Gesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck angenommen. Der Blick, mit dem sie Poirot ansah, war hart und unnachgiebig.

Poirot deutete eine leichte Verbeugung an.

»Madame ist sehr intelligent«, sagte er.

»Was wollen Sie damit sagen, Monsieur Poirot?«, fragte Nadine ruhig.

»Ich will damit sagen, Madame, dass ich gleich bemerkt habe, dass Sie ein >helles Köpfchen< sind, wie man so schön sagt.«

»Sie schmeicheln mir.«

»Ich glaube nicht. Sie haben die Situation die ganze Zeit ruhig und im Ganzen gesehen. Nach außen hin blieben Sie mit Ihrer Schwiegermutter auf gutem Fuß, weil Sie das für das Beste hielten, aber in Ihrem Inneren haben Sie über sie gerichtet und sie verurteilt. Ich glaube, Sie erkannten schon vor geraumer Zeit, dass die einzige Chance Ihres Mannes, glücklich zu werden, darin bestand, sich von seiner Familie frei zu machen — seinen eigenen Weg zu gehen, auch wenn dieses Leben Mühsal und Entbehrung bedeutete. Sie waren bereit, jedes Risiko einzugehen, und Sie versuchten alles, um ihn dazu zu bringen, diesen Weg einzuschlagen. Aber Sie scheiterten, Madame. Lennox Boynton besaß nicht mehr den Willen, frei zu sein. Er war es zufrieden, in Apathie und Melancholie zu versinken.

Ich habe jedoch nicht den geringsten Zweifel, Madame, dass Sie Ihren Gatten lieben. Ihr Entschluss, ihn zu verlassen, wurde nicht durch eine größere Liebe zu einem anderen Mann ausgelöst. Es war wohl eher ein verzweifelter Versuch, die letzte Karte, auf die Sie Ihre Hoffnung setzten. Eine Frau in Ihrer Situation konnte nur drei Dinge tun. Sie konnte es mit Bitten versuchen. Das fruchtete nichts, wie ich bereits sagte. Sie konnte ihrem Mann drohen, ihn zu verlassen. Aber es ist möglich, dass selbst diese Drohung ihre Wirkung bei Lennox Boynton verfehlt hätte, dass sie ihn nur noch elender machen, jedoch nicht veranlassen würde, sich aufzulehnen. Aber es gab noch einen letzten, verzweifelten Schritt. Sie konnten mit einem anderen Mann fortgehen. Eifersucht und Besitztrieb gehören zu den am tiefsten verwurzelten Instinkten des Menschen. Sie bewiesen Ihre Klugheit, indem Sie versuchten, an diesen wilden Urinstinkt zu appellieren. Wenn Lennox Boynton Sie widerspruchslos zu einem anderen Mann gehen ließ — dann war ihm in der Tat nicht mehr zu helfen, dann konnten Sie ebenso gut versuchen, mit einem anderen ein neues Leben zu beginnen.

Aber nehmen wir einmal an, dass selbst dieses letzte, desperate Mittel versagte. Ihr Mann war schrecklich bestürzt über Ihren Entschluss, aber er reagierte trotzdem nicht so, wie Sie gehofft hatten und wie ein primitiver Mensch reagiert hätte, nämlich mit einem Ausbruch von Besitzgier. Gab es überhaupt etwas, um Ihren Mann vor dem rapide fortschreitenden geistigen Verfall zu retten? Es gab nur eins. Wenn seine Stiefmutter tot wäre, dann wäre es vielleicht noch nicht zu spät. Dann könnte es ihm gelingen, als freier Mann ein neues Leben anzufangen, seine Selbstständigkeit und Männlichkeit wiederzugewinnen.«

Poirot schwieg einen Moment und sagte dann noch einmal: »Wenn seine Stiefmutter tot wäre.«

Nadines Augen waren noch immer auf Poirot gerichtet. Mit unbewegter, ruhiger Stimme sagte sie: »Sie wollen damit andeuten, dass ich mithalf, ihren Tod herbeizuführen? Aber das können Sie nicht, Monsieur, Poirot. Nachdem ich Mrs. Boynton meine bevorstehende Abreise mitgeteilt hatte, ging ich direkt ins Gemeinschaftszelt zu Lennox. Und ich habe das Zelt erst wieder verlassen, nachdem meine Schwiegermutter tot aufgefunden worden war. Ich mag in gewissem Sinn an ihrem Tod schuld sein, weil ich ihr einen Schock versetzte — was wiederum bedeuten würde, dass sie eines natürlichen Todes starb. Wenn sie aber, wie Sie behaupten, vorsätzlich ermordet wurde — wofür Sie bislang keine Beweise haben und auch nicht haben können, bevor eine Autopsie stattgefunden hat —, dann hatte ich jedenfalls keine Gelegenheit, die Tat zu begehen.«

»Sie haben also«, sagte Poirot, »das Gemeinschaftszelt nicht mehr verlassen, bis Ihre Schwiegermutter tot aufgefunden wurde. Das haben Sie gerade gesagt. Und das, Mrs. Boynton, war einer der Punkte, die ich an diesem Fall merkwürdig fand.«

»Wie meinen Sie das?«

»Er steht hier auf meiner Liste. Punkt neun. Um halb sieben, als das Abendessen fertig war, wurde ein Diener geschickt, um Mrs. Boynton Bescheid zu sagen.«

»Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen«, warf Raymond ein.

»Ich auch nicht«, sagte Carol.

Poirot blickte vom einen zum anderen.

»Nein? Ein Diener wurde geschickt — warum ein Diener? Waren Sie, Sie alle hier, in der Regel nicht immer höchst beflissen und besorgt um die alte Dame? Geleitete sie nicht stets der eine oder andere von Ihnen zu den Mahlzeiten? Sie war gebrechlich. Sie hatte Probleme, sich ohne fremde Hilfe vom Stuhl zu erheben. Immer war der eine oder andere von Ihnen an ihrer Seite. Ich behaupte daher, dass es die natürlichste Sache von der Welt gewesen wäre, wenn jemand von der Familie sich zu ihr begeben und ihr geholfen hätte, als das Abendessen fertig war. Aber keiner von Ihnen machte Anstalten, sie zu holen. Sie alle saßen da wie gelähmt, beobachteten einander und wunderten sich vielleicht, warum niemand zu ihr ging.«

Nadine sagte scharf: »Das ist doch völlig absurd, Monsieur Poirot! Wir waren alle müde an dem Abend. Ich gebe zu, wir hätten selbst gehen müssen, aber an dem Abend taten wir es nun einmal nicht!«

»Genau das meine ich — an dem bewussten Abend! Sie, Madame, kümmerten sich vielleicht mehr um sie als jeder andere. Sie hielten es für Ihre selbstverständliche Pflicht. Doch an diesem Abend boten Sie nicht an, sie holen zu gehen. Warum nicht? Genau das fragte ich mich — warum nicht? Und ich will Ihnen die Antwort verraten: Weil Sie sehr wohl wussten, dass sie tot war...

Nein, sagen Sie jetzt nichts, Madame.« Poirot hob abwehrend die Hand. »Sie werden mir jetzt zuhören — mir, Hercule Poirot! Es gab Zeugen für Ihr Gespräch mit Ihrer Schwiegermutter. Zeugen, die Sie sehen, aber nicht hören konnten! Lady Westholme und Miss Pierce waren zu weit weg. Die beiden Damen sahen, wie Sie sich anscheinend mit Ihrer Schwiegermutter unterhielten, aber welche Beweise haben wir, dass es sich tatsächlich so verhielt? Ich möchte Ihnen eine kleine Theorie vortragen. Sie haben Verstand, Madame. Wenn Sie in Ihrer ruhigen und überlegten Art etwas beschließen — sagen wir die Beseitigung der Mutter Ihres Mannes —, dann führen Sie es mit Umsicht und nach der entsprechenden Vorbereitung aus. Sie haben Zugang zu Dr. Gerards Zelt, während dieser an der morgendlichen Exkursion teilnimmt. Sie sind ziemlich sicher, dass Sie ein geeignetes Arzneimittel finden werden. Ihre Ausbildung als Krankenschwester hilft Ihnen dabei. Sie wählen Digitoxin, ein Medikament, das die alte Dame einnimmt — und Sie nehmen seine Injektionsspritze an sich, denn Ihre eigene ist zu Ihrem Ärger verschwunden. Sie hoffen, die Spritze zurückbringen zu können, bevor der Doktor ihr Fehlen bemerkt.

Bevor Sie mit der Ausführung Ihres Plans beginnen, unternehmen Sie einen letzten Versuch, Ihren Mann zum Handeln zu veranlassen. Sie teilen ihm Ihre Absicht mit, Jefferson Cope zu heiraten. Obwohl Ihr Mann äußerst bestürzt ist, reagiert er nicht so, wie Sie gehofft hatten — Sie sind also gezwungen, Ihren Mordplan in die Tat umzusetzen. Sie gehen zurück ins Camp und wechseln im Vorbeigehen einige freundliche Worte mit Lady Westholme und Miss Pierce. Sie gehen hinauf, wo Ihre Schwiegermutter sitzt. Die Spritze mit dem Medikament haben Sie bei sich. Es ist nicht schwer, ihr Handgelenk zu packen und — als Krankenschwester haben Sie schließlich Übung darin — die Spritze zu verabreichen. Bevor Ihre Schwiegermutter begreift, was Sie tun, ist alles vorbei. Die anderen Leute weiter unten im Tal sehen nur, dass Sie mit ihr reden, sich über sie beugen. Dann holen Sie ganz bewusst einen Stuhl, setzen sich zu ihr und plaudern offenbar einige Minuten mit ihr. Der Tod muss fast augenblicklich eingetreten sein. Sie reden mit einer Toten, aber wer würde das erraten? Dann bringen Sie den Stuhl zurück und gehen hinunter ins Gemeinschaftszelt, wo Sie Ihren Mann lesend vorfinden. Und Sie sind sehr darauf bedacht, das Zelt nicht wieder zu verlassen! Sie sind überzeugt, dass man Mrs. Boyntons Tod auf Herzversagen zurückführen wird. Und die Todesursache wird ja tatsächlich Herzversagen sein. Nur in einem Punkt geht Ihr Plan schief. Sie können die Spritze nicht in Dr. Gerards Zelt zurückbringen, weil der gute Doktor mit einem Malariaanfall darniederliegt und — was Sie nicht wissen können — die Spritze bereits vermisst hat. Das, Madame, war der schwache Punkt eines ansonsten perfekten Verbrechens.«

Einen Moment lang herrschte Stille — Totenstille. Dann sprang Lennox Boynton auf und schrie: »Nein! Das ist eine verdammte Lüge! Nadine hat nichts damit zu tun. Sie hätte es gar nicht tun können. Meine Mutter — meine Mutter war bereits tot.«

»Ah!« Poirot bedachte ihn mit einem freundlichen Blick. »Dann haben also Sie sie getötet, Mr. Boynton.«

Wieder herrschte Schweigen — bis Lennox sich auf seinen Stuhl fallen ließ und zitternd die Hände vors Gesicht schlug.

»Ja — es stimmt. Ich habe sie getötet.«

»Sie entwendeten das Digitoxin aus Dr. Gerards Zelt?«

»Ja.«

»Wann?«

»Als — wie Sie sagten, am Vormittag.«

»Und die Spritze?«

»Die Spritze? Die auch.«

»Warum haben Sie sie getötet?«

»Das fragen Sie noch?«

»Ja, das frage ich Sie, Mr. Boynton.«

»Aber das wissen Sie doch — meine Frau wollte mich verlassen, mit Cope.«

»Gewiss, aber das erfuhren Sie erst am Nachmittag. «

Lennox starrte ihn an. »Ja, als wir den Spaziergang machten.«

»Dennoch nahmen Sie das Gift und die Spritze bereits am Vormittag an sich — bevor Sie es erfuhren?«

»Warum, zum Teufel, quälen Sie mich mit Ihren Fragen?« Er hielt inne und fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn. »Kommt es denn darauf noch an?«

»Darauf kommt es sehr wohl an. Ich gebe Ihnen den guten Rat, Mr. Boynton, mir die Wahrheit zu sagen.«

»Die Wahrheit?« Lennox stierte ihn an.

»Das sagte ich — die Wahrheit.«

»Bei Gott, Sie sollen sie hören«, sagte Lennox unvermittelt. »Aber ich weiß nicht, ob Sie mir glauben werden.« Er holte tief Luft. »Als ich Nadine an dem Nachmittag verließ, war ich am Boden zerstört. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass sie mich wegen eines anderen verlassen würde. Ich war — wie von Sinnen! Ich hatte das Gefühl, betrunken zu sein oder eine schwere Krankheit hinter mir zu haben.«

Poirot nickte und sagte: »Ich erinnere mich, was Lady Westholme über Ihren Gang sagte, als Sie bei ihr vorbeikamen. Darum wusste ich, dass Ihre Frau nicht die Wahrheit sprach, als sie erklärte, sie hätte es Ihnen erst nach Ihrer Rückkehr ins Camp gesagt. Fahren Sie fort, Mr. Boynton.«

»Ich wusste kaum, was ich tat... Aber auf dem Weg ins Camp schien mein Kopf wieder klarer zu werden. Mir ging schlagartig auf, dass ich alles nur mir selbst zuzuschreiben hatte! Ich war ein jämmerlicher Waschlappen gewesen! Ich hätte meiner Stiefmutter die Stirn bieten müssen und schon Vorjahren weggehen sollen. Und mir kam der Gedanke, dass es vielleicht trotz allem noch nicht zu spät war. Da saß sie, diese teuflische alte Frau, hockte wie ein abscheulicher Götze vor der roten Felswand. Ich ging geradewegs zu ihr, um die Sache mit ihr auszufechten. Ich wollte ihr klipp und klar meine Meinung sagen und dass ich weggehen würde. Ich hatte die verrückte Vorstellung, noch am gleichen Abend verschwinden zu können — mit Nadine fortzugehen und noch vor Einbruch der Nacht bis nach Ma’an zu kommen.«

»Oh, Lennox, Liebster.« Es klang wie ein gedehnter leiser Seufzer.

»Und dann«, fuhr Lennox fort, »mein Gott, ich war wie vom Blitz gerührt! Sie war tot. Saß da — und war tot! Ich — ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war wie betäubt, benommen — alles, was ich ihr ins Gesicht hatte schreien wollen, ballte sich in mir zusammen, wurde zu Blei. Ich kann es nicht erklären. Zu Stein — ja, als würde alles in mir zu Stein. Dann tat ich etwas ganz Mechanisches — ich nahm ihre Armbanduhr — sie lag auf ihrem Schoß — und band sie ihr um — um das schrecklich schlaffe tote Handgelenk.«

Er erschauerte. »O Gott, es war furchtbar! Dann wankte ich hinunter ins Gemeinschaftszelt. Ich hätte jemand rufen müssen, ich weiß — aber ich konnte es nicht. Ich saß einfach da, blätterte in einer Zeitschrift — und wartete.«

Er brach ab.

»Sie werden mir nicht glauben, Monsieur Poirot! Wie könnten Sie auch? Warum habe ich keine Hilfe geholt? Warum Nadine nichts davon gesagt? Ich weiß es nicht.«

Dr. Gerard räusperte sich.

»Ihre Erklärung ist absolut plausibel, Mr. Boynton«, sagte er. »Sie befanden sich in einem Zustand höchster nervlicher Anspannung. Zwei schwere seelische Erschütterungen so kurz hintereinander genügten völlig, um Sie in den Zustand zu versetzen, den Sie uns geschildert haben. Es handelt sich dabei um die so genannte Weißenhalter’sche Reaktion — illustriert am Beispiel eines Vogels, der mit dem Kopf gegen eine Fensterscheibe stößt. Selbst nachdem er sich erholt hat, vermeidet er instinktiv jede Bewegung, um seinen Nervenzentren Zeit zu geben, sich zu erholen — ich kann mich auf Englisch nicht richtig ausdrücken, aber ich will damit Folgendes sagen: Sie hätten gar nicht anders handeln können. Entschlossenes Handeln jedweder Art wäre Ihrerseits absolut unmöglich gewesen! Sie befanden sich in einem Stadium geistiger Lähmung.«

An Poirot gewandt setzte er hinzu: »Ich versichere Ihnen, mon ami, dass es sich so verhält.«

»Oh, daran zweifle ich nicht«, sagte Poirot. »Es gibt da einen kleinen Punkt, der mir bereits aufgefallen war — die Tatsache, dass Mr. Boynton seiner Stiefmutter die Armbanduhr wieder umgebunden hat. Dafür kann es zwei Erklärungen geben. Es könnte eine Tarnung für die eigentliche Tat gewesen sein, oder es hätte von Nadine Boynton beobachtet und falsch verstanden werden können. Sie kehrte nur fünf Minuten nach ihrem Mann zurück. Sie muss es also gesehen haben. Als sie zu ihrer Schwiegermutter kam und sie tot vorfand mit einem Einstich am Handgelenk, musste sie zwangsläufig den voreiligen Schluss ziehen, dass ihr Mann die Tat begangen hatte — dass ihr

Entschluss, ihn zu verlassen, eine andere als die von ihr erhoffte Reaktion bei ihm hervorgerufen hatte. Kurzum, Nadine Boynton glaubte, dass sie ihren Mann veranlasst hatte, einen Mord zu begehen.«

Er sah Nadine an. »Ist es nicht so, Madame?«

Sie senkte den Kopf. Dann fragte sie: »Hatten Sie mich tatsächlich im Verdacht, Monsieur Poirot?«

»Sie kamen als Täter in Frage, Madame.«

Sie beugte sich vor.

»Und was geschah nun wirklich, Monsieur Poirot?«

Siebzehntes Kapitel

»Was wirklich geschah?«, wiederholte Poirot.

Er griff hinter sich, zog einen Stuhl heran und setzte sich. Er war auf einmal umgänglich, ungezwungen.

»Das ist die große Frage, nicht wahr? Denn das Digitoxin wurde entwendet — die Spritze war verschwunden — am Handgelenk der Toten war der Einstich einer Spritze zu sehen.

Es ist richtig, dass wir in einigen Tagen definitiv wissen werden, ob Mrs. Boynton an einer Überdosis Digitalis starb oder nicht — die Autopsie wird es uns sagen. Aber dann könnte es zu spät sein! Es wäre besser, die Wahrheit heute Abend herauszufinden — solange der Mörder noch hier unter uns ist.«

Nadine hob abrupt den Kopf.

»Heißt das, dass Sie immer noch glauben — dass einer von uns — einer hier im Zimmer.« Ihre Stimme erstarb.

Poirot nickte bedächtig vor sich hin.

»Ich habe Colonel Carbury die Wahrheit versprochen. Und nun, nachdem wir alles aus dem Weg geräumt haben, stehen wir wieder dort, wo ich schon angelangt war, als ich eine Liste der Fakten niederschrieb und mich umgehend mit zwei eklatanten Widersprüchen konfrontiert sah.«

Zum ersten Mal mischte sich Colonel Carbury ein. »Wie wär’s, wenn Sie das näher erläutern würden?«, schlug er vor.

»Ich bin im Begriff, es zu tun«, sagte Poirot würdevoll. »Wir werden uns noch einmal die beiden ersten Punkte auf meiner Liste vornehmen. Mrs. Boynton nahm ein Medikament, das Digitalis enthielt, und Dr. Gerard vermisste eine Injektionsspritze. Betrachten wir diese beiden Fakten und stellen wir sie der unbestreitbaren Tatsache gegenüber — die mir sofort ins Auge sprang —, dass die Reaktion der Familie Boynton unverkennbar schuldbewusst war. Man sollte daher meinen, dass nur jemand aus der Familie das Verbrechen begangen haben konnte! Aber genau die beiden Punkte, die ich erwähnte, sprechen gegen diese Theorie. Sie müssen wissen, eine konzentrierte Lösung Digitalis zu verwenden — das ist ein raffinierter Schachzug, o ja, denn Mrs. Boynton nahm dieses Medikament ohnehin ein. Aber was würde jemand aus ihrer Familie damit tun? Darauf gibt es nur eine vernünftige Antwort. Er würde es in ihr Medizinfläschchen tun! Genau das würde jeder, aber auch jeder, der einen Funken Verstand besitzt und Zugang zu dem Medikament hatte, mit Sicherheit tun!

Früher oder später nimmt Mrs. Boynton ihre Medizin und stirbt — und selbst wenn das Digitoxin in dem Fläschchen entdeckt wird, lässt es sich leicht auf ein Versehen des Apothekers zurückführen, der die Medizin zusammenstellte. Auf jeden Fall kann man nichts beweisen!

Warum dann der Diebstahl der Inj ektionsspritze ?

Dafür kann es nur zwei Erklärungen geben. Entweder Dr. Gerard übersah die Spritze und sie wurde gar nicht gestohlen, oder aber die Spritze wurde entwendet, weil der Mörder keinen Zugang zu dem Medikament hatte — und das heißt, der Mörder war nicht ein Mitglied der Familie Boynton. Die beiden ersten Punkte meiner Liste deuten ganz entschieden darauf hin, dass das Verbrechen von einem Außenstehenden verübt wurde!

Ich erkannte das sofort — aber wie gesagt, ich war irritiert, weil die Familie Boynton so offenkundige Anzeichen von schlechtem Gewissen erkennen ließ. War es möglich, dass die Familie trotz ihres Schuldbewusstseins dennoch unschuldig war? Ich machte mich daran, es zu beweisen — nicht die Schuld, sondern die Unschuld dieser Menschen!

So viel wissen wir jetzt. Der Mord wurde von einem Außenstehenden begangen — das heißt, von einer Person, die Mrs. Boynton nicht nahe genug stand, um in ihr Zelt gehen zu können oder sich an ihrem Medizinfläschchen zu schaffen zu machen.«

Er schwieg einen Moment.

»In diesem Raum befinden sich drei Personen, die, rein technisch, Außenstehende sind, mit diesem Fall aber in engem Zusammenhang stehen.

Mr. Cope, mit dem wir uns als Erstes beschäftigen wollen, ist seit längerem mit der Familie Boynton befreundet. Können wir bei ihm ein Motiv und eine Gelegenheit für die Tat erkennen? Anscheinend nicht. Mrs. Boyntons Tod hatte negative Auswirkungen für ihn — denn er zerstörte gewisse Hoffnungen, die Mr. Cope sich gemacht hatte. Sofern sein Motiv nicht das geradezu fanatische Verlangen war, anderen eine Wohltat zu erweisen, liegt bei ihm kein erkennbarer Grund vor, warum er Mrs. Boyntons Tod gewünscht haben sollte. Es sei denn, es gibt ein Motiv, von dem wir nichts ahnen. Wir wissen schließlich nicht exakt, welcher Art Mr. Copes Beziehung zu der Familie Boynton war.«

»Das, Monsieur Poirot«, sagte Mr. Cope würdevoll, »erscheint mir doch ein bisschen an den Haaren herbeigezogen. Sie sollten nicht vergessen, dass ich überhaupt keine Gelegenheit hatte, diese Tat zu begehen, und außerdem vertrete ich sehr entschiedene Ansichten, was die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens betrifft.«

»Ihre Position scheint tatsächlich unangreifbar zu sein«, sagte Poirot mit großem Ernst. »In einem Roman würde Sie das sehr verdächtig machen.«

Er drehte sich etwas auf dem Stuhl herum. »Und nun zu Miss King. Miss King hatte durchaus ein Motiv, sie verfügt über die erforderlichen medizinischen Kenntnisse und sie besitzt Charakterstärke und Entschlossenheit. Aber da sie das Camp vor halb vier mit den anderen verließ und erst um sechs Uhr zurückkam, fällt es mir schwer zu sehen, wann sie die Gelegenheit dazu gehabt haben könnte.

Wenden wir uns nun Dr. Gerard zu. Hier müssen wir in Betracht ziehen, wann der Mord tatsächlich begangen wurde. Laut Mr. Lennox Boyntons letzter Aussage war seine Mutter um 16.35 Uhr tot. Laut Lady Westholme und Miss Pierce war sie um 16.15 Uhr noch am Leben, als die beiden Damen zu ihrem Spaziergang aufbrachen. Dazwischen klafft eine Lücke von exakt zwanzig Minuten. Als die beiden Damen sich vom Camp entfernten, kam ihnen Dr. Gerard entgegen, der ins Camp zurückging. Aber niemand kann sagen, was Dr. Gerard tat, als er das Camp erreichte, denn die beiden Damen gingen in die entgegengesetzte Richtung und wandten ihm den Rücken zu. Es ist daher absolut möglich, dass Dr. Gerard das Verbrechen verübte. Als Arzt konnte er ohne weiteres die Symptome einer Malaria simulieren. Und ich wage zu behaupten, dass es ein mögliches Motiv gibt. Dr. Gerard wünschte vielleicht eine bestimmte Person zu retten, deren Verstand in Gefahr war — was vielleicht ein größerer Verlust ist als der Verlust des Lebens. Oder er dachte, dass es sich lohnt, dafür ein altes und verbrauchtes Leben zu opfern!«

»Das ist doch absurd!«, sagte Dr. Gerard.

Poirot sprach weiter, ohne von ihm Notiz zu nehmen.

»Aber wenn es so wäre, warum wies Gerard dann auf die Möglichkeit hin, dass etwas faul sein könnte? Ohne seine Aussage gegenüber Colonel Carbury, so viel steht fest, wäre Mrs. Boyntons Tod auf natürliche Ursachen zurückgeführt worden. Es war Dr. Gerard, der als Erster die Möglichkeit eines Mordes andeutete.

Und das, mes amis«, sagte Poirot, »ist wider alle Vernunft!«

»Scheint mir auch so«, sagte Colonel Carbury unwirsch.

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Poirot. »Mrs. Lennox Boynton verneinte vorhin ganz entschieden die Möglichkeit, dass ihre jüngere Schwägerin dieser Tat schuldig sein könnte. Die Entschiedenheit ihres Einspruchs basierte auf der Tatsache, dass sie wusste, dass ihre Schwiegermutter zu der Zeit bereits tot war. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Ginevra Boynton sich den ganzen Nachmittag im Camp aufhielt. Und es gab einen Moment — den Moment, als Lady Westholme und Miss Pierce das Camp verließen und bevor Dr. Gerard ins Camp zurückkam. «

Ginevra machte eine Bewegung. Sie beugte sich vor und sah Poirot mit einem sonderbaren, unschuldigen, verwirrten Blick an.

»Ich? Ich soll es getan haben?«

Im nächsten Augenblick war sie, mit einer schnellen und unglaublich schönen Bewegung, vom Stuhl aufgesprungen, quer durch das Zimmer zu Dr. Gerard geeilt und neben ihm auf die Knie gesunken. Sie klammerte sich an ihn und sah flehentlich zu ihm auf.

»Nein, o nein! Das dürfen Sie nicht zulassen! Sie wollen mich nur wieder einsperren! Es ist nicht wahr! Ich habe nichts getan! Das sind alles meine Feinde — sie wollen mich ins Gefängnis stecken — damit ich nichts sage! Sie müssen mir helfen. Nur Sie können mir helfen!«

»Ruhig, Kind, ganz ruhig.« Der Arzt tätschelte ihr begütigend den Kopf. Dann wandte er sich an Poirot: »Was Sie da sagen, ist völliger Unsinn. Absurd!«

»Verfolgungswahn?«, fragte Poirot leise.

»Ja. Aber sie hätte nie und nimmer so methodisch vorgehen können. Sie hätte ein dramatischeres Mittel gewählt, verstehen Sie? Einen Dolch — irgendetwas Extravagantes, Spektakuläres —, aber niemals diese kaltblütige, besonnene Logik! Ich versichere Ihnen, meine Freunde, es ist so. Dieses Verbrechen war wohl durchdacht — geplant von einem kühlen Verstand.«

Poirot lächelte. Dann verbeugte er sich unvermittelt. »Je suis entierement de votre avis«, sagte er verbindlich.

Achtzehntes Kapitel

»Machen wir weiter«, sagte Hercule Poirot, »wir sind noch nicht am Ende angelangt! Dr. Gerard hat die Psychologie angesprochen. Darum wollen wir nun die psychologische Seite dieses Falles untersuchen. Wir haben die Fakten ermittelt, wir haben den zeitlichen Ablauf der Ereignisse festgelegt, wir haben das Beweismaterial gehört. Bleibt noch — die Psychologie. Und der wichtigste psychologische Aspekt betrifft die Tote selbst — denn die Persönlichkeit von Mrs. Boynton ist in diesem Fall von ausschlaggebender Bedeutung.

Nehmen wir Punkt drei und vier meiner Liste der Fakten. Es machte Mrs. Boynton Spaß, ihre Familie daran zu hindern, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Mrs. Boynton ermunterte ihre Familie an dem besagten Nachmittag, einen Spaziergang zu machen und sie allein zu lassen.

Aber diese beiden Punkte widersprechen sich eklatant! Warum sollte sich Mrs. Boynton ausgerechnet an diesem Nachmittag so völlig wider ihre Natur verhalten? Hatte sie plötzlich ein weiches Herz — den Drang, gütig zu sein? Das erscheint mir, nach allem, was ich gehört habe, höchst unwahrscheinlich! Es muss also einen Grund dafür gegeben haben. Aber welchen?

Betrachten wir den Charakter von Mrs. Boynton etwas genauer. Es gibt sehr unterschiedliche Aussagen über sie. Sie war eine tyrannische, rücksichtslose alte Frau — sie war eine Sadistin — sie war die Verkörperung des Bösen — sie war wahnsinnig. Welche dieser Meinungen ist die richtige?

Ich persönlich glaube, dass Sarah King der Wahrheit am nächsten kam, als sie in Jerusalem aufgrund einer jähen Eingebung die alte Dame plötzlich als ein höchst bedauernswertes Wesen sah. Und nicht nur bedauernswert, sondern auch bedeutungslos!

Versetzen wir uns, sofern wir das können, in den Geisteszustand von Mrs. Boynton. Eine Frau, geboren mit einem ungeheuren Ehrgeiz, mit dem Drang, andere zu beherrschen und ihnen ihren Willen aufzuzwingen. Weder sublimierte sie ihr intensives Verlangen nach Macht, noch versuchte sie es im Zaum zu halten. Nein, Mesdames et Messieurs — sie kultivierte es! Aber letzten Endes — hören Sie gut zu! —, auf was lief es letzten Endes hinaus? Sie war gar keine so große Macht! Sie wurde nicht gefürchtet und gehasst weit und breit! Sie war der kleine Haustyrann einer isolierten Familie! Und wie Dr. Gerard mir sagte, begann sie sich zu langweilen — wie das bei jeder alten Dame und ihrem Zeitvertreib irgendwann der Fall ist. Und so versuchte sie, ihre Aktivitäten auszuweiten und sich einen neuen Kitzel zu verschaffen, indem sie ihre Dominanz anfechtbarer machte! Aber das führte zu einem völlig anderen Resultat! Auf dieser Auslandsreise wurde ihr zum ersten Mal bewusst, wie völlig unbedeutend sie war!

Und damit kommen wir direkt zu Punkt zehn — den Worten, die sie in Jerusalem zu Sarah King sagte. Denn, sehen Sie, Sarah King hatte den Finger auf die Wahrheit gelegt. Sie hatte die jämmerliche Bedeutungslosigkeit von Mrs. Boyntons Leben klar und schonungslos enthüllt! Und nun achten Sie einmal darauf, was ihre genauen Worte zu Miss King waren. Miss King zufolge sprach Mrs. Boynton >so bösartig — und ohne mich dabei auch nur anzusehe<. Und ihre genauen Worte waren: >Ich vergesse niemals etwas — keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht. <

Diese Worte hinterließen bei Miss King einen starken Eindruck. Die außergewöhnliche Heftigkeit und der raue, laute Ton, in dem sie gesagt wurden, beeindruckten sie so sehr, dass sie die außerordentliche Bedeutung dieser Worte überhaupt nicht erfasste!

Sie erkennen die wahre Bedeutung dieser Worte?« Er wartete einen Moment. »Offenbar nicht. Aber, mes amis, merken Sie denn nicht, dass diese Worte auf keinen Fall eine vernünftige Antwort waren auf das, was Miss King gerade gesagt hatte? >Ich vergesse niemals etwas — keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht.< Das ergibt doch keinen Sinn! Wenn sie gesagt hätte: >Ich vergesse niemals eine Unverschämtheit< oder etwas Ähnliches. Aber nein, sie spricht von einem Gesicht.

Das muss einem doch ins Auge springen!«, rief Poirot aus und klatschte in die Hände.

»Diese Worte, die sich scheinbar an Miss King richteten, waren überhaupt nicht für Miss King bestimmt! Sie galten einer anderen Person, jemandem, der hinter Miss King stand.«

Er hielt inne und beobachtete die Mienen seiner Zuhörer.

»Ja, es springt einem ins Auge! Ich sage Ihnen, das war ein psychologischer Moment im Leben von Mrs. Boynton! Sie war durch eine intelligente junge Frau mit ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit konfrontiert worden! Sie wurde von blinder Wut erfasst — und in diesem Moment erkannte sie jemanden, ein Gesicht aus der Vergangenheit — ein Opfer, das ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war!

Wir sind also wieder bei dem Außenstehenden angelangt. Und jetzt erkennen wir die wahre Bedeutung von Mrs. Boyntons unerwarteter Freundlichkeit an dem besagten Nachmittag. Sie wollte ihre Familie loswerden, weil sie — um es salopp auszudrücken — jemanden in die Pfanne hauen wollte! Sie wollte freie Bahn haben für eine Unterredung mit einem neuen Opfer.

Betrachten wir die Ereignisse jenes Nachmittags aus diesem neuen Blickwinkel! Die Familie Boynton geht weg. Mrs. Boynton sitzt oben vor ihrer Höhle. Prüfen wir nun sorgfältig die Aussagen von Lady Westholme und Miss Pierce. Letztere ist keine zuverlässige Zeugin, sie ist unaufmerksam und leicht zu beeinflussen. Lady Westholme dagegen ist eine akribische Beobachterin und weiß genau, was sie gesehen hat. Beide Damen stimmen in einem Punkt überein! Ein Araber, einer der Diener, geht zu Mrs. Boynton, verärgert sie aus irgendeinem Grund und zieht sich eilends zurück. Lady Westholme sagt unmissverständlich aus, dass der Diener vorher im Zelt von Ginevra Boynton war, aber Sie werden sich erinnern, dass Dr. Gerards Zelt direkt neben dem von Ginevra stand. Es ist daher durchaus möglich, dass der Araber in Dr. Gerards Zelt ging.«

»Wollen Sie allen Ernstes behaupten«, warf Colonel Carbury ein, »dass einer von meinen Beduinen mit einer Spritze auf die alte Dame losgegangen ist? Das ist doch grotesk!«

»Geduld, Colonel Carbury, ich war noch nicht fertig. Einigen wir uns darauf, dass der Araber aus dem Zelt von Dr. Gerard gekommen sein könnte, nicht aus dem von Ginevra Boynton. Aber wie geht es weiter? Die beiden Damen sind sich einig, dass sie sein Gesicht nicht deutlich genug sahen, um ihn identifizieren zu können, und dass sie nicht hörten, was gesprochen wurde. Nun, das ist verständlich. Die Entfernung zwischen dem Gemeinschaftszelt und dem Felsvorsprung beträgt etwa zweihundert Meter. Lady Westholme konnte jedoch eine genaue Beschreibung des Mannes geben, detailliert seine abgerissenen Breeches schildern und wie schlampig seine Gamaschen gewickelt waren.«

Poirot beugte sich vor. »Und das, meine Freunde, war wirklich sehr merkwürdig! Denn wenn sie weder sein Gesicht sehen noch hören konnte, was gesprochen wurde, dann konnte sie unmöglich den Zustand seiner Breeches und seiner Wickelgamaschen erkennen! Nicht auf zweihundert Meter!

Das war ein Fehler, verstehen Sie? Es brachte mich nämlich auf eine seltsame Idee. Warum legte sie solches Gewicht auf die zerrissenen Breeches und die schlampigen Wickelgamaschen? Vielleicht deshalb, weil die Breeches nicht zerrissen und die Gamaschen nicht vorhanden waren? Lady Westholme und Miss Pierce sahen beide den Mann — aber von da, wo sie saßen, konnte keine die andere sehen. Das beweist die Tatsache, dass Lady Westholme nachsehen ging, ob Miss Pierce wach war, und feststellte, dass sie vor dem Eingang ihres Zeltes saß.«

»Großer Gott!«, sagte Colonel Carbury und setzte sich ruckartig auf. »Wollen Sie damit sagen, dass —?«

»Ich will damit Folgendes sagen. Nachdem Lady Westholme sich vergewissert hatte, was Miss Pierce machte — die einzige Zeugin, die möglicherweise wach war —, ging sie zurück in ihr Zelt, zog Reithosen, Stiefel und einen khakifarbenen Mantel an, machte sich aus ihrem karierten Staubtuch und einem Strang Wolle eine arabische Kopfbedeckung zurecht und ging, solchermaßen gewandet, dreist in Dr. Gerards Zelt, kramte in seiner Reiseapotheke, wählte das passende Medikament, nahm die Spritze, füllte sie und ging dreist hinauf zu ihrem Opfer.

Mrs. Boynton war vielleicht eingenickt. Lady Westholme handelte schnell. Sie griff nach ihrem Handgelenk und injizierte das Gift. Mrs. Boynton stieß einen erstickten Schrei aus, versuchte aufzustehen, sank zurück. Der >Araber< lief allem Anschein nach beschämt und bestürzt davon. Mrs. Boynton drohte ihm mit dem Stock, versuchte aufzustehen, fiel in ihren Stuhl zurück.

Fünf Minuten später begibt sich Lady Westholme zu Miss Pierce und berichtet ihr von dem Vorfall, dessen Zeugin sie soeben gewesen ist, und prägt Miss Pierce so ihre eigene Version ein. Dann machen die beiden einen Spaziergang, bleiben unterhalb des Felsvorsprungs kurz stehen, wo Lady Westholme der alten Dame etwas zuruft. Sie bekommt keine Antwort — denn Mrs. Boynton ist tot —, aber sie sagt zu Miss Pierce: >Wie unhöflich, einfach nur zu grunzen!< Miss Pierce nimmt ihre Worte für bare Münze, denn sie hat oft gehört, wie Mrs. Boynton eine Bemerkung mit einem Grunzen quittierte. Sie wird notfalls besten Gewissens schwören, das Grunzen tatsächlich gehört zu haben. Lady Westholme hat oft genug mit Frauen wie Miss Pierce in Ausschüssen gesessen, um ganz genau zu wissen, welchen Eindruck ihre eigene bedeutende Stellung und ihre dominierende Persönlichkeit auf solche Frauen machen. Der einzige Punkt ihres Planes, der nicht klappte, war das Zurücklegen der Spritze. Dr. Gerards vorzeitige Rückkehr machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie hoffte, dass er das Fehlen der Spritze nicht bemerkt hatte oder denken würde, er hätte sie übersehen, und so brachte sie sie während der Nacht zurück.«

Er schwieg.

»Aber warum?«, fragte Sarah. »Warum sollte Lady Westholme die alte Mrs. Boynton umbringen wollen?«

»Haben Sie mir nicht erzählt, dass Lady Westholme sich ganz in Ihrer Nähe aufhielt, als Sie in Jerusalem mit Mrs.

Boynton sprachen? Mrs. Boyntons Worte waren an Lady Westholme gerichtet. >Ich vergesse niemals etwaskeine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht.< Nehmen Sie diese Worte und die Tatsache, dass Mrs. Boynton früher Aufseherin in einem Gefängnis war, und Sie bekommen eine ziemlich gute Vorstellung von der Wahrheit. Lord Westholme lernte seine Frau auf der Rückreise aus Amerika kennen. Lady Westholme war vor ihrer Ehe eine Kriminelle gewesen und hatte eine Gefängnisstrafe verbüßt.

Sie sehen das schreckliche Dilemma, in dem sie sich befand? Ihre Karriere, ihre Ambitionen, ihre gesellschaftliche Position — alles stand auf dem Spiel! Welcher Art das Verbrechen war, für das sie eine Haftstrafe verbüßte, wissen wir nicht, werden es jedoch bald erfahren. Aber es muss etwas gewesen sein, das ihre politische Karriere mit einem Schlag beendet hätte, wenn es bekannt geworden wäre. Und bedenken Sie, Mrs. Boynton war keine gewöhnliche Erpresserin! Sie wollte kein Geld. Sie wollte sich damit amüsieren, ihr Opfer eine Zeit lang zu quälen, und dann spektakulär und genüsslich die Wahrheit enthüllen! Nein, solange Mrs. Boynton lebte, war Lady Westholme nicht sicher. Sie folgte Mrs. Boyntons Anweisungen, sich in Petra mit ihr zu treffen. Ich fand es von Anfang an seltsam, dass eine Frau, die so von ihrer eigenen Bedeutung überzeugt ist wie Lady Westholme, es vorgezogen haben sollte, als einfache Touristin zu reisen. Aber im Stillen sann sie zweifellos über Mittel und Wege nach, um Mrs. Boynton zu ermorden. Sie sah ihre Chance und ergriff sie mutig beim Schopf. Sie machte nur zwei kleine Fehler. Der eine war, dass sie ein wenig zu viel sagte — die Beschreibung der zerrissenen Breeches, die als Erstes meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Der andere war, dass sie Dr. Gerards Zelt verwechselte und zuerst in das blickte, in dem Ginevra im Halbschlaf lag. Daher die Geschichte des jungen Mädchens — halb Einbildung, halb Wahrheit — von einem verkleideten Scheich. Sie stellte es verkehrt herum dar, gehorchte ihrem Instinkt, die Wahrheit zu verdrehen und dramatischer zu machen, doch für mich war dieser Hinweis bezeichnend.«

Er hielt wieder kurz inne.

»Aber wir werden bald Genaueres wissen. Ich verschaffte mir heute Lady Westholmes Fingerabdrücke, ohne dass sie es bemerkte. Wenn diese an das Gefängnis geschickt werden, in dem Mrs. Boynton früher Aufseherin war, und man sie dort mit den Abdrücken in den Akten vergleicht, werden wir die Wahrheit bald erfahren.«

Er brach ab.

In der plötzlichen Stille war ein lauter Knall zu hören.

»Was war das?«, fragte Dr. Gerard.

»Hörte sich an wie ein Schuss«, sagte Colonel Carbury und sprang auf. »Gleich nebenan. Wessen Zimmer ist das eigentlich?«

Poirot sagte leise: »Ich habe das Gefühl — es ist das Zimmer von Lady Westholme.«

Epilog

Auszug aus dem Evening Shout:

Mit großem Bedauern geben wir bekannt, dass Lady Westholme, Mitglied des englischen Parlaments, infolge eines tragischen Unfalls ums Leben kam. Lady Westholme, die gern in ferne Länder reiste, hatte stets einen kleinen Revolver bei sich. Beim Reinigen der Waffe löste sich unglücklicherweise ein Schuss. Lady Westholme war auf der Stelle tot. Unser aufrichtiges Mitgefühl gilt Lord Westholme.

An einem warmen Juniabend fünf Jahre später saßen Sarah Boynton und ihr Mann im Parkett eines Londoner Theaters. Es gab >Hamlet<. Sarah griff nach Raymonds Arm, als Ophelia auf der Bühne die Worte sprach:

Wie erkenn ich dein Treulieb

Vor den andern nun?

An dem Muschelhut und Stab

Und den Sandelschuh’n.

Er ist lange tot und hin,

Tot und hin, Fräulein!

Ihm zu Häupten ein Rasen grün,

Ihm zu Füßen ein Stein.

Oh!

Sarah hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Diese zerbrechliche, umnachtete Schönheit, dieses liebreizende überirdische Lächeln eines Wesens, das Kummer und Leid hinter sich gelassen hat und in Gefilden schwebt, wo nur die flüchtige Illusion noch Wahrheit war.

»Sie ist wunderschön.«, sagte Sarah bei sich.

Die betörende, melodiöse Stimme, die schon immer diesen wundervollen Klang gehabt hatte, war nun zu einem perfekten Instrument geworden, diszipliniert und moduliert.

Als der Vorhang nach dem ersten Akt fiel, sagte Sarah aus voller Überzeugung: »Jinny ist eine großartige Schauspielerin! Einfach großartig!«

Nach der Vorstellung traf man sich im Savoy zum Souper. Ginevra, lächelnd und versonnen, wandte sich dem bärtigen Mann an ihrer Seite zu: »Ich war doch gut, Theodore, oder?«

»Du warst wunderbar, chérie.«

Auf ihren Lippen zeichnete sich ein glückliches Lächeln ab. »Du hast immer an mich geglaubt«, murmelte sie. »Du hast immer gewusst, dass etwas in mir steckt — dass ich die Menschen mitreißen kann.«

An einem Tisch in der Nähe saß der Hamlet des Abends und sagte düster: »Sie ist furchtbar manieriert! Dergleichen gefällt den Leuten natürlich, zunächst jedenfalls, aber ich kann nur sagen, das ist nicht Shakespeare. Habt ihr gesehen, wie sie mir meinen Abgang ruiniert hat?«

Nadine, die Ginevra gegenübersaß, bemerkte: »Ist es nicht aufregend, in London zu sein und mitzuerleben, wie Jinny die Ophelia spielt und wie berühmt sie ist?«

Ginevra sagte leise: »Es war sehr nett von euch, extra herüberzukommen.«

»Ein richtiges Familientreffen«, sagte Nadine und blickte lächelnd in die Runde. Dann sagte sie zu Lennox: »Meinst du nicht, dass die Kinder in die Nachmittagsvorstellung gehen könnten? Sie sind doch alt genug dafür und sie möchten so gern Tante Jinny auf der Bühne sehen!«

Lennox, ein ganz normaler, gelöst wirkender Lennox mit humorvollen Augen, erhob das Glas.

»Auf das junge Paar! Auf Mr. und Mrs. Cope!«

Jefferson Cope und Carol erwiderten den Toast.

»Der ungetreue Verehrer!«, sagte Carol lachend. »Jeff, du solltest lieber auf deine erste große Liebe trinken, die dir schließlich genau gegenüber sitzt.«

»Jeff wird ja richtig rot!«, sagte Raymond fröhlich. »Er lässt sich nicht gern an die alten Zeiten erinnern.«

Sein Gesicht verdüsterte sich plötzlich.

Sarah fasste nach seiner Hand, und die Düsterkeit verschwand.

Raymond sah sie an und grinste. »Mir kommt alles vor wie ein böser Traum.«

Eine adrette Gestalt blieb an ihrem Tisch stehen. Hercule Poirot, tadellos und elegant gekleidet, den Schnurrbart stolz gezwirbelt, verbeugte sich würdevoll.

»Mademoiselle«, sagte er zu Ginevra, »mes hommages. Sie waren hervorragend!«

Alle begrüßten ihn herzlich, machten neben Sarah einen Platz für ihn frei.

Poirot strahlte in die Runde, und als sich alle wieder unterhielten, beugte er sich zu Sarah und sagte leise: »»Eh bien, es scheint alles gut zu laufen für la famille Boynton!«

»Das haben wir nur Ihnen zu verdanken!«, sagte Sarah.

»Er beginnt berühmt zu werden, Ihr Gatte. Ich las heute eine ausgezeichnete Besprechung seines letzten Buches.«

»Es ist wirklich gut — auch wenn ich das selber sage! Wussten Sie, dass Carol und Jefferson Cope endlich geheiratet haben? Und Lennox und Nadine haben zwei entzückende Kinder — zwei süße Bengel, wie Raymond immer sagt. Und Jinny — ich glaube, Jinny ist ein Genie.«

Sie betrachtete über den Tisch hinweg das wunderschöne Gesicht, umrahmt von dem rotgoldenen Haar, und zuckte plötzlich zusammen.

Einen Moment lang war ihr Gesicht sehr ernst. Dann hob sie langsam das Glas an die Lippen.

»Sie trinken auf jemanden, Madame?«, erkundigte sich Poirot.

Langsam sagte Sarah: »Ich musste auf einmal — an sie denken. Als ich eben Jinny ansah, fiel mir zum ersten Mal — die Ähnlichkeit auf. Sie gleichen sich tatsächlich — nur dass bei Jinny alles hell ist, während bei ihr nur Dunkelheit war.«

Auf der anderen Seite sagte Ginevra unvermittelt: »Arme Mutter. Sie war wirklich sonderbar. Jetzt, wo wir alle so glücklich sind — tut sie mir irgendwie Leid. Sie hat nicht bekommen, was sie sich vom Leben erwartet hatte. Das muss schlimm für sie gewesen sein.«

Fast übergangslos begann sie leise mit bebender Stimme einige Zeilen aus »Cymbeline« zu sprechen, während die anderen wie verzaubert der Musik ihrer Worte lauschten:

Fürchte nicht mehr Sonnenglut

Noch des Winters grimmen Hohn!

Jetzt dein irdisch Treiben ruht,

Heim gehst, nahmst den Tageslohn.

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