Sie ist weg!
Ich kann es nicht fassen. Ich habe aufgepaßt wie ein Luchs. Ich dachte, es würde ihr nicht möglich sein, einen Schritt zu tun, ohne daß ich es weiß. Sie ist eine raffiniertere Person, als ich dachte. Und ich bin, die ganze Zeit natürlich schon, in einer höchst schwierigen Situation. Wie soll man einen Menschen wirklich rund um die Uhr bewachen, wenn man ganz allein ist? Irgendwann muß man schlafen, muß man sich ausruhen. Einen solchen Moment hat sie genutzt, und ich habe es zuerst nicht einmal bemerkt. Gut möglich, daß sie schon zwei Tage weg war, ehe ich es mitbekommen konnte. Es macht mich rasend, rasend, rasend! Ich mußte mich übergeben, als mir klar wurde, daß der Faden zwischen uns abgerissen ist. Natürlich werde ich sie finden, das ist sicher. Ich habe auch Anna wiedergefunden, damals. Aber Anna war dümmer als Leona. Ich wußte, sie würde irgendwann nach Hause flüchten, und genau das tat sie. Hätte sie sich nicht ausrechnen können, daß ich sie dort aufspüren würde? Nein, offensichtlich nicht. Wie eine Maus ist sie brav in die Falle gehuscht.
Ich wußte gleich, daß Leona nicht zu ihrer Familie gegangen ist, aber sicherheitshalber habe ich dort nachgesehen. Warum müssen diese verdammten Menschen in einer solchen Einöde leben? Ich habe Stunden gebraucht, bis ich da war, mit Zug und Bus und jeweils langen Wartezeiten an Bahnhof und Haltestellen. Ein Glück, daß es warm ist, ich hätte mir sonst den Tod holen können. Ich brauchte dringend ein Auto! Kaufen kann ich keines, dann haben sie mich sofort. Mit einem gestohlenen Auto auch. Die Fahndung macht alles schwieriger. Viel schwieriger, als es bei Anna war. Da hat niemand nach mir gesucht. Ich konnte mich frei bewegen, offen meinen Namen nennen — auch wenn ich ihn, vorsichtshalber, bei dieser blöden Lisa nicht benutzt habe.
Aber ich schweife ab. Ich verwirre mich. Ich verwirre mich? Kann man das so sagen? Egal. Ich will keinen Literaturwettbewerb gewinnen, ich will etwas aufschreiben, damit ich nicht daran ersticke. Danach werde ich es wegwerfen. In einen Abfallkorb am Wegrand oder in einen Bach, der jetzt im Frühling eilig plätschernd dahinfließt. Nichts von alldem ist für die Nachwelt bestimmt. Es dient meiner Erleichterung und dem Ordnen meiner Gedanken. Ich habe das Gefühl, ich verliere den Boden unter den Füßen. Ich muß unbedingt klar, sachlich und logisch in meinem Denken und Handeln bleiben.
Ich fuhr also hinaus nach Lauberg, vor vier Tagen war das. Bin ja nur einmal dort gewesen, letztes Jahr an Weihnachten. Ich dachte damals das gleiche wie diesmal: Familienidylle pur, und nichts davon ist echt.
Im Frühling haben sie das Paradies dort, zugegeben. Der Garten blüht, daß man sich nicht satt sehen kann. Und daß man übrigens auch schwer hineinsehen kann. Auf der anderen Seite tarnen all die Büsche gut. Niemand bemerkte mich, als ich dort herumschlich.
Mama Elisabeth machte sich an den Blumenbeeten zu schaffen. Hat eindeutig einen grünen Daumen, die Frau, aber das ist mir schon im Winter aufgefallen, an dem ganzen Zeug, das in ihrem Wohnzimmer blüht. Eigentlich gefällt mir das. Wäre diese lauschige Familie echt, dann wäre sie die Familie, die ich mir immer gewünscht habe. Mit einer Frau mit gebärfreudigem Becken und grünem Daumen. Elisabeth ist der Typ Urmutter schlechthin. Manchmal frage ich mich, ob wir Männer in Wahrheit lebenslang nach einer Mutter suchen, viel mehr als nach einer Frau, die wir vögeln können. Als ich Elisabeth da in ihrer ganzen Fülligkeit im Garten knien und in
der Erde graben sah, kam mir der Gedanke, daß dies der Traum vom Glück sein könnte: In den Armen einer Mutter versinken, ihren Atem spüren und ihren Herzschlag. Auf einmal war mir ganz klar, daß ich dies immer bei Leona zu finden gehofft hatte: Geborgenheit. Genau wie zuvor bei Anna. Beide Frauen haben nie in erster Linie sexuelles Verlangen in mir geweckt, obwohl ich sie erotisch fand und gerne mit ihnen ins Bett ging. Aber noch lieber lag ich einfach in Leonas Armen. Ganz still, ganz fern von allem. Ich träumte, wie es sich anfühlen müßte, wenn sie mich mit ihren langen Haaren zudeckte. Es ist unverzeihlich, daß sie sich die Haare hat abschneiden lassen. Unverzeihlich!
Leonas Vater spielte auf dem Rasen Fußball mit Felix, seinem kleinen Enkel. Dem Kind von Carolin und Ben. Letzterer lag in der Hängematte auf der Veranda. Nach wie vor scheint er einer geregelten Arbeit auszuweichen. Carolin konnte ich nirgends entdecken, sie war wahrscheinlich wieder einmal unterwegs. Leona deutete an, sie sei sehr umtriebig. Eine unangenehme Person. Vorlaut, sehr keß, nicht besonders intelligent. Ich mochte sie schon an Weihnachten nicht. Später tauchte sie ja dann in Leonas Verlag auf und mußte ihrer Schwester gleich einen Floh ins Ohr setzen: daß ich da unten im Cafe herumsitze, und warum ich das wohl tue… Ihr Mißtrauen und ihre Feindseligkeit waren greifbar für mich während dieses fürchterlichen Mittagessens, und wie Viren schienen sie auch auf Leona überzugreifen. An jenem Tag habe ich erstmals etwas von dieser Distanz in ihrem Wesen, in ihrem Blick bemerkt, die sich später ausbreiten und schließlich als unüberwindliches Hindernis zwischen uns treten sollte. Carolin gehört jedenfalls zu den Menschen, die — als ein kleiner, aber nicht unwesentlicher Baustein — dazu beigetragen haben, daß die Beziehung zwischen Leona und mir in einer Katastrophe endete. Manchmal habe ich schon überlegt, mit ihr das gleiche zu machen wie mit Millie, dieser geschwätzigen, bösartigen alten Kröte! Vielleicht mache ich es irgendwann. Bisher hat sich die Gelegenheit nicht ergeben. Außerdem habe ich zuerst Wichtigeres zu erledigen.
Eine Frau saß auf den Treppenstufen, die von der Veranda zum Garten hinunterführen. Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Leona, so daß sofort mein Herz wie verrückt zu schlagen anfing. Aber natürlich war es nicht Leona. Es mußte Olivia sein, die älteste der drei Schwestern. Die Mutter von Dany, dem Krüppel. Sie hat ein schönes, sehr trauriges Gesicht. Nach allem, was Leona mir erzählt hat, ist ihre Ehe in einer Krise, weil ihr Mann nicht damit zurechtkommt, daß sie nur an dem Kind klebt und praktisch das Haus nicht mehr verläßt. Er muß ein Trottel sein! Was ist schlimmer als eine Frau, die nie das Haus verläßt? Eine Frau, die das Haus ständig verläßt! Um eine Frau wie Olivia muß ein Mann niemals Angst haben. Weder daß ihr etwas zustößt, noch daß sie mit fremden Männern herumpoussiert und abtrünnig wird. Als ich Olivia in ihrer ganzen Schönheit und Weitabgewandtheit dort auf der Treppe sitzen sah, wünschte ich brennend, sie wäre die Frau gewesen, in die ich mich verliebt hätte. Alles wäre anders gekommen, für mich und für sie. Aber so wenig sich das Schicksal dirigieren läßt, so wenig lassen sich Gefühle erzwingen. Selbst wenn ich Olivia anstelle von Leona begegnet wäre, hätte ich mich kaum in sie verliebt. Es ist widersinnig, aber gerade Leonas fühlbare Vitalität hat mich gereizt. In Verbindung mit einer gewissen Scheu und Zurückgenommenheit, die sie damals noch hatte. Nur Scheu, nur Zurückgenommenheit wären ohne Wirkung auf mich geblieben. (Geborgenheit! Frauen müssen stark sein! Olivia ist schwach!)
Olivias Mann konnte ich nicht entdecken, er war vermutlich bei der Arbeit. Und Leona konnte ich natürlich ebenfalls nicht entdecken. Ihr Auto stand nirgendwo, aber sie wäre auch ganz sicher nicht so blöd gewesen, es hier groß und breit vor dem Haus zu parken. Im Verlag konnte sie nicht sein, den hatte ich tagelang beschattet, nicht einmal eine Maus wäre hineingekommen, ohne daß ich sie gesehen hätte. Nicht im Verlag, nicht in Lauberg. Aber das war klar gewesen.
Ich hatte eine Überprüfung durchgeführt, um mir später keine Nachlässigkeit vorwerfen zu müssen, aber keinen Moment lang hatte ich geglaubt, sie hier zu finden. Eine anstrengende, überflüssige Reise, zudem gefährlich. Seitdem mein Bild immer wieder in den Zeitungen auftaucht, dürfte ich es eigentlich gar nicht mehr riskieren, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Nirgendwo mustern Menschen einander so ausdauernd und intensiv wie während langer, eintöniger Zugfahrten. Gut möglich, daß mich einer erkannt und die Polizei verständigt hat. Auf jeden Fall, zur Vorsicht, wählte ich für den Rückweg nach Frankfurt eine andere Strecke. Die war so absurd, daß mich niemand dort vermuten konnte. Dafür kostete sie auch das Dreifache an Zeit. Erst spät in der Nacht kam ich am Hauptbahnhof an. Völlig erschöpft, frustriert, ohne den kleinsten Hinweis in den Händen.
Wo ist sie, wo ist sie, wo ist sie?
Sie ging den kleinen Wiesenweg zum Dorf entlang, wie an jedem Morgen. Das Wetter war umgeschlagen in der Nacht. Bisher hatte die Sonne geschienen, jeden Tag, mit ungewöhnlicher Kraft für Mai. Leona hatte in Shorts und T-Shirt im Garten gelegen, auf einem wackeligen, altmodischen Liegestuhl, dessen gestreifte Stoffplane nach jahrealtem Sonnenöl und ein wenig nach modrigem Schuppen roch. Sie war barfuß im Garten herumgelaufen und hatte abends auf der Terrasse gesessen, ein Glas Wein neben sich und Zigaretten. Sie hatte das Rauchen vor Jahren aufgegeben, nun aber wieder damit angefangen. Das Rauchen minderte die Spannung. Vor allem am Abend, wenn die bevorstehende Nacht ihre langen Schatten, ihre erwachenden Stimmen, ihre Bedrohlichkeit voranschickte. Leona blieb draußen sitzen, hektisch rauchend,bis es dunkel war. Obwohl sie schon mit beginnender Dämmerung das Bedürfnis verspürte, sich im Haus zu verriegeln, Fenster, Türen, Läden zu schließen. Daß sie draußen blieb trotz der Angst, trotz des Vibrierens ihrer Nerven dicht unter der Haut, hatte etwas mit Trotz zu tun, mehr noch mit Selbsterhaltungstrieb. Robert hatte sie aus ihrem Haus gejagt und aus dem normalen Ablauf des Alltags. Er sollte sie nicht noch in ein Höhlentier verwandeln, das die vier Wände seines Erdlochs nicht mehr verläßt. Instinktiv spürte sie, daß ihre Angst eine Eigendynamik entwickeln würde, wenn sie ihr nachgab. Irgendwann würde sie keinen Fuß mehr vor die Tür setzen. Heute abend aber würde sie nicht draußen sitzen und ihre Angst niederkämpfen müssen. Es war kühl geworden, sogar etwas Nebel hatte am frühen Morgen über dem Land gelegen, und jetzt nieselte es aus den tiefliegenden, grauen Wolken. Das einsame, waldige Land erhielt einen trostlosen Anstrich unter dem schlechten Wetter. Regen und Kälte kamen Leona bedrohlich vor. In einer Kammer des Hauses hatte sie eine gelbe Öljacke entdeckt und angezogen. An den Füßen trug sie Turnschuhe. Wenn der Regen länger anhielt und die Wege verschlammten, würde sie Gummistiefel kaufen müssen. Ärgerlich, daß sie nicht daran gedacht hatte, ihre eigenen mitzunehmen.
Sie lief fast eine halbe Stunde, ehe sie das Dorf erreichte. Der Ort mochte kaum mehr als an die zwanzig Häuser zählen. Es gab eine Apotheke, überraschenderweise ein kleines Schuhgeschäft und einen Gemischtwarenladen, in dem man von Lebensmitteln über Gartenzubehör bis zu Kinderspielzeug nahezu alles kaufen konnte.
Leona hätte nicht jeden Tag ins Dorf laufen müssen, sie hätte auch auf Vorrat einkaufen können, aber sie hing an diesem Kontakt zur Außenwelt, der ihr ein gewisses Gefühl von Normalität schenkte. Das Dorf war so überschaubar und heimelig wie Lauberg. Jeder kannte hier jeden, und jeder Tag schien so zu verlaufen wie der vorhergegangene. Der Briefträger radelte herum und grüßte freundlich, ein paar Hausfrauen standen immer zur selben Zeit an derselben Ecke und plauderten. Ein alter Mann führte seinen alten Hund spazieren. Die Dinge folgten einer tröstlichen Ordnung.
An diesem Tag hatten Regen und Wind die Frauen von ihrem Tratsch an der Ecke vertrieben, und auch den alten Mann und den Hund zog es offenbar nicht nach draußen. Nur der Briefträger kam wie stets die Straße entlanggeradelt und winkte Leona zu; er trug die gleiche gelbe Jacke wie sie.
Das Dorf sah nicht so freundlich aus wie sonst, und Leona dachte zum erstenmal daran, wie trügerisch die sonnige Idylle auch sein mochte. Wurde in einer dieser blütenschweren Frühlingsnächte ein Monster gezeugt wie Robert Jablonski? Wuchs gerade hier vielleicht schon eines heran, getarnt noch mit einem rundwangigen Kindergesicht, im Innern einen gefährlichen Keim tragend wie einen Tumor, der sich irgendwann öffnen und bösartige Zellen ausschütten würde? Oder saß gar schon jemand hinter einem der weißlackierten Fenster, wie es sie im Dorf bevorzugt gab, lauernd, wartend, eine tickende Zeitbombe, die in nicht allzu ferner Zeit explodieren würde? Man sah es den Menschen nicht an, wenn irgend etwas in ihnen schieflief. Nichts an Robert, nichts in seinen Augen, in seinem Lächeln verriet den Psychopathen. Ein netter Mann, offen und intelligent. Ein Alptraum, der sich erst spät demaskierte.
Im Gemischtwarengeschäft kaufte sie eine Zeitung, eine Tüte mit Brötchen, etwas Käse und Obst. Sie nahm auch eine Flasche Wein mit für den Abend und zwei Schachteln Zigaretten.
«Scheußliches Wetter heute«, sagte die Frau an der Kasse,»da haben Sie richtig Pech mit Ihrem Urlaub!«
«Na ja, die letzten Tage waren ja sehr schön«, meinte Leona.
«Der Regen wird leider etwas anhalten«, sagte die Frau.
«Der Wind kommt von Osten. Das ist kein gutes Zeichen.«
«Mir gefällt es hier. Ob das Wetter gut ist oder schlecht.«
«Das ist die richtige Einstellung. Ich sage immer: Es gibt kein schlechtes Wetter. Es gibt nur falsche Kleidung.«
Leona verließ den Laden, in der einen Hand eine Plastiktüte mit den Lebensmitteln, in der anderen die Zeitung. Die Zeitung roch beruhigend nach Druckerschwärze und Papier, und Leona preßte für einen Moment ihre Nase zwischen die Seiten. Früher, dachte sie, hätte ich den Geruch einer Zeitung nicht als beruhigend empfunden. Ich hätte ihn gar nicht wirklich registriert.
Früher hätte sie sich auch nicht so über das Winken eines Briefträgers gefreut. Sie hatte schon manchmal gehört, daß Kranke so fühlten. Daß kleine Alltäglichkeiten für sie an Bedeutung gewannen, daß sie einen Wert entdeckten in Dingen, die sie früher kaum wahrgenommen hatten.
Ich bin auch eine Kranke, dachte sie, krank an einem Menschen. Krank vor Angst. Wie bei einem Kranken ist mein Leben aus seiner Bahn geworfen. Hinter dem Kampf gegen die Krankheit tritt alles zurück.
Auf dem Rückweg mußte sie gegen den Wind laufen. Er blies ihr scharf ins Gesicht, trieb die Regentropfen vor sich her, schleuderte sie wie kleine Nadelspitzen gegen Leonas Haut. Sie sehnte sich nach einem heißen Tee. Vielleicht würde sie sogar ein Feuer im Kamin anzünden. Dann würde sie die Zeitung lesen und sich anschließend den Manuskripten widmen, die sie mitgenommen hatte. Es gab manches zu tun. Was ihr fehlte, war nur die innere Ruhe, die sie gebraucht hätte, um ihre Arbeit wirklich sorgfältig zu erledigen.
Als sie nur wenige Meter noch vom Haus entfernt war, hörte sie drinnen das Telefon läuten. Sie rannte zur Tür, ließ die Zeitung fallen, fand den Schlüssel nicht, fluchte. Als sie ihn endlich aus ihrer Jeanstasche zog, verstummte das Telefon. Trotzdem lief sie noch ins Wohnzimmer, nahm unsinnigerweise den Hörer ab und sagte:»Hallo?«Natürlich hörte sie nur das Freizeichen.
Die Enttäuschung trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, und ihre Sehnsucht nach einer menschlichen Stimme wurde fast übermächtig. Der Anrufer konnte nur Wolfgang gewesen sein; er allein wußte, wo sie sich aufhielt, kannte die Telefonnummer. Sie hätte ihm gern erzählt, daß es regnete, daß sie Angst hatte, daß sie nachts entweder überhaupt nicht schlief oder böse Träume hatte. Daß die Einsamkeit sie quälte und daß sie alles gegeben hätte für einen Besucher.
Einen Moment lang war sie versucht, sofort bei Wolfgang zurückzurufen, aber ihr war klar, daß das keinen Sinn haben würde. Er rief sie immer nur aus Telefonzellen an, eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß seine Apparate daheim und im Büro überwacht wurden.
«Eine völlig unsinnige Idee«, hatte er gesagt.»Ich wüßte nicht, wie es Jablonski fertigbringen sollte, die Telefone anzuzapfen. Aber sicher ist sicher. Wir sollten nicht das mindeste Risiko eingehen.«
Leona ging zur Haustür zurück, holte ihre Zeitung und die achtlos abgestellte Einkaufstüte herein. Sie schaute sich um, sah aber nichts als einsame Wiesen, die irgendwo am Horizont mit den Wolken verschmolzen. Kein Mensch, kein Tier weit und breit. Sie verschloß die Tür sorgfältig.
Ich habe festgestellt, daß Leonas Auto in der Garage vor ihrem Haus steht. Heute morgen, nachdem Wolfgang zur Arbeit aufgebrochen war, bin ich ein wenig auf dem Grundstück herumgeschlichen. Die Garage war natürlich fest verschlossen, aber an ihrer Rückseite hat sie ein kleines Fenster, das allerdings vom Efeu fast zugewachsen ist. Dort habe ich hineingespäht und das Auto gesehen. Also ist sie ohne ihren Wagen abgehauen. Wenn ich nur wüßte, wo sie ist!
Vielleicht noch in Frankfurt, hat sich eine Wohnung gemietet in irgendeinem anonymen Wohnblock. Oder ob sie bei einer Freundin untergetaucht ist? Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Dafür ist sie zu anständig. Sie weiß inzwischen von Millies Tod, da bin ich sicher, und wie ich sie einschätze, gibt sie sich eine Teilschuld daran. Sie wird sich hüten, irgendeine weitere Person in unsere Geschichte mit hineinzuziehen. Sie sitzt irgendwo ganz allein, und ich schätze, nur Wolfgang weiß, wo das ist. Ich habe Phantasien, was ich mit ihm machen könnte, um ihn zum Reden zu bringen. Aber er würde mir nicht die Wahrheit sagen, das ist klar, und ich könnte ihn nicht einmal töten, wenn sich herausstellte, daß er gelogen hat. Ich würde ihn ja noch brauchen. Trotzdem darf mir dieser Gedanke nicht verlorengehen: Wolfgang bleibt eine letzte Chance.
Und die Zeit. Ewig kann sie sich nicht verstecken. Ich mich auch nicht. Es ist ein faires Spiel: Die Zeit arbeitet gegen uns beide.
Seit ein paar Tagen habe ich kein Zimmer mehr. Das Risiko wurde zu groß, daß die Wirtin mich erkennt und die Polizei ruft. Ich hatte auf einmal das Gefühl, daß sie mich eindringlich musterte. Das war spät am Abend, als ich zurück in diese schäbige Pension am Stadtrand kam und sie noch um eine Tasse Tee bat. Sie saß allein in ihrer Küche und legte Patiencen, und während sie aufstand und sich anschickte, das Teewasser aufzusetzen, ließ sie mich nicht aus den Augen. Es war ein Blick, wie ich ihn kenne bei einsamen, alternden Frauen. Diese gräßliche Lydia, Evas sogenannte Freundin, hatte ihn auch immer drauf. Er tritt in die Augen dieser Frauen, wenn ein Mann in ihre Nähe kommt. Der Blick bettelt um ein Lächeln, ein Kompliment, um eine Berührung. Zu einer Berührung konnte ich mich nicht überwinden (rieche noch den süßen Duft von Leonas Haut und spüre ihren Atem an meinem Gesicht), aber ein Lächeln und ein verlogenes Kompliment bekam sie. Sie reagierte nicht mit der freudigen Erleichterung, die ich sonst bei solchen Frauen wahrgenommen habe, und plötzlich dachte ich, mein Gott, sie starrt dich an, weil sie dich erkannt hat! Es fiel mir schwer, ruhig zu warten, bis der Tee fertig war, ihr dann eine gute Nacht zu wünschen und gelassen mit der Tasse in der Hand in mein Zimmer zu gehen. Es lag ebenerdig, das war die Grundvoraussetzung für eine Anmietung gewesen. Ich packte meine Sachen und kletterte aus dem Fenster. Habe ja nicht viel bei mir, nur einen Seesack mit etwas Wäsche, Strümpfen, einer zweiten Jeans und einem Pullover. Ich war leise und graziös wie eine Katze. Bis heute weiß ich nicht, ob die Alte derweil schon mit der Polizei telefonierte. Kann mir auch gleich sein.
Jetzt lebe ich auf der Straße wie ein Clochard. Zum Glück kommt der Sommer, den Erfrierungstod werde ich nicht sterben müssen. Ich habe ein geniales Versteck gefunden, gleich gegenüber von Leonas Haus. Einen kleinen Flecken Erde zwischen dichtbelaubten Büschen direkt hinter dem Zaun der Leute, die hier wohnen. Sie haben keine Kinder, das weiß ich noch aus der Zeit, als ich bei Leona wohnte. Kinder, die im Garten spielen und im Gebüsch herumkriechen, wären eine große Gefahr für mich. Aber diese beiden älteren Herrschaften werden schon wegen ihrer Arthrose nie zu mir hinkommen. Ich muß nur aufpassen, ob sie vielleicht einen Gärtner beschäftigen, das könnte kritisch werden. Bisher zumindest ist keiner aufgetaucht. Im Moment sind die Leute sowieso verreist, jedenfalls sind überall die Läden geschlossen. Mittags erscheint immer eine jüngere Frau, die Putzfrau wahrscheinlich, holt die Post aus dem Briefkasten und verschwindet für eine Weile im Haus. Sicher gießt sie die Blumen. Am liebsten würde ich einmal hinter ihr herhuschen. Nichts stehlen natürlich. Aber eine lange, heiße Dusche nehmen, das wäre ein Traum.
Zu gefährlich! Ich darf keinerlei Aufmerksamkeit erregen.
Hier fährt immer noch ab und zu eine Streife vorbei, viel seltener allerdings als vorher. Das war auch ein Indiz dafür, daß Leona nicht mehr da ist.
Das schlimme am Leben draußen ist, daß man so schnell verwahrlost. Mein aufladbarer Rasierapparat hat noch eine Weile funktioniert, seit vorgestern geht nichts mehr. Außerdem fange ich an zu stinken und habe Laub und Gras in Haaren und Kleidern. Die Leute glotzen dich an, wenn du wie ein Penner herumläufst, besonders hier in dieser feinen Gegend, und angeglotzt zu werden ist das letzte, was ich mir leisten kann. Gestern bin ich ins Hallenbad gegangen, bin zwei Runden geschwommen, habe dann geduscht und meine Haare gewaschen. Aber die Frau an der Kasse hat mich ziemlich angewidert gemustert und sicher überlegt, ob sie mich überhaupt hineinlassen soll. Ein zweites Mal kann ich das wahrscheinlich nicht machen.
Mein Geld reicht noch für eine Weile. Ich ernähre mich in der Hauptsache von Hotdogs, die ich an Straßenbuden kaufe, oder ich gehe zu McDonald’s. Im Gedrängel dieser Fast-food-Filialen ist die Gefahr, daß man mich erkennt, am geringsten. Trotzdem gehe ich nie an zwei oder drei aufeinanderfolgenden Tagen in dieselbe Kneipe. Eine knappe Woche muß schon zwischen zwei Besuchen liegen.
Ich müßte dringend ein Auto haben! Dringend! Ich muß beweglicher sein. Angenommen, Wolfgang, der kleine Scheißer, macht sich plötzlich auf den Weg, Leona zu besuchen. Ich könnte nicht hinterher. Ich kann ihn ja nicht einmal zu seiner Arbeit verfolgen und sehen, ob er unterwegs bei Leona vorbeischaut. Was er wahrscheinlich nicht tut, weil er ja nicht weiß, daß ich zwischen diesen verdammten Büschen im Garten festsitze. Im Moment überschätzen die alle meine Möglichkeiten ganz sicher.
Eines nicht mehr fernen Tages werden sie sie unterschätzen!
Es war Pflichtbewußtsein, was Wolfgang bewog, seinen Schwager Paul in der Klinik zu besuchen. Im Grunde würde es nichts bringen, denn Paul lag nach wie vor im Koma und würde es nicht registrieren, ob er Besuch bekam oder nicht. Aber sie gehörten schließlich zur selben Familie, auch wenn sie nicht verwandt waren, und er mochte nachher nicht der einzige sein, der sich nie auf der Intensivstation hatte blicken lassen.
Er schaffte es, eine Stunde früher als sonst vom Sender wegzukommen, und fuhr direkt von dort zum Krankenhaus. Unterwegs hielt er bei einer Telefonzelle an, um Leona anzurufen. Sie war sofort am Apparat. Ihre Stimme klang deprimiert.
«Es gibt wahrscheinlich nichts Neues?«fragte sie gleich nach der Begrüßung.»Sie haben keine Spur von Robert, stimmt’s?«
«Leider. Obwohl man natürlich nicht weiß, ob sie uns über jeden ihrer Schritte Rechenschaft ablegen. Vielleicht sind sie dichter an ihm dran, als wir ahnen.«
«Ich habe dir schon mal gesagt, er ist klug. Er wird sich nicht so leicht fassen lassen.«
«Und ich habe dir gesagt, daß die Polizei auch nicht dumm ist.«
«Die werden aber nicht ewig nach ihm fahnden.«
«Er hat zwei bestialische Morde auf dem Gewissen. Er ist eine lebende Zeitbombe, und das wissen die. So schnell geben die nicht auf.«
Sie seufzte, und Wolfgang konnte ihre ganze Hoffnungslosigkeit aus diesem Seufzer heraushören. Offenbar hatte sie heute einen schlechten Tag. Manchmal klang sie durchaus optimistisch, aber seit drei Tagen schien sie mehr und mehr in einen Zustand der allmählichen Zermürbung zu fallen. Angst und Einsamkeit mußten sie langsam verrückt machen.
Sie saß in dieser Einöde ohne jeden menschlichen Kontakt, lauschte dem Ticken der Uhr und ihren eigenen Atemzügen und war sich stets der Tatsache bewußt, daß irgendwo draußen ein wahnsinniger Mörder Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Sie durfte keine Verbindung zu ihrer Familie aufnehmen, und der Umstand, daß niemand das Ende dieser Situation absehen konnte, mußte ihre Verzweiflung noch schüren.
«Was hast du heute getan?«fragte er mit einer bemühten Unbekümmertheit in der Stimme, die ihr signalisieren sollte, daß er zumindest an einen raschen, guten Ausgang des Dramas glaubte.
«Ich habe mein letztes Manuskript fertig redigiert. Es ist unwahrscheinlich, wieviel ich hier in kurzer Zeit erledige.«
«Das ist doch zumindest ein positiver Aspekt!«
Sie sah das ganz sicher nicht so, aber sie widersprach nicht.»Ich brauche wieder Arbeit. Ich kann nicht hier sitzen und Däumchen drehen. Dann fange ich nur an zu grübeln. Außerdem müssen die Sachen ja irgendwie geschafft werden.«
«Ich halte es für zu gefährlich, dir etwas mit der Post zu schicken.«
«Du würdest das Paket doch am Schalter abgeben. Wann und wie sollte Robert denn einen Blick auf die Anschrift werfen können?«
Diesmal seufzte Wolfgang, seufzte, weil Leona recht hatte mit ihrem Einwand, weil das alles so irrsinnig war und weil er wußte, er würde es trotzdem nicht wagen, ein Paket an Leona abzuschicken. Wie weit dämonisierte er Jablonski bereits und verlor dabei die Realität aus den Augen?
«Außerdem müssen die Sachen, die ich fertig habe, an den Verlag zurück«, fuhr Leona fort.»Ich kann sie nicht wochenlang hier herumliegen lassen, verstehst du?«
Er verstand.»Aber du schickst sie nicht an den Verlag«, beschwor er sie,»niemand dort braucht anhand des Poststempels zu wissen, wo du bist!«
«Aber…«
«Ich denke mir etwas aus«, versprach er,»irgendwie kriegen wir das alles hin.«
Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann sagte Leona:»Kann nicht jemand kommen und mir die Sachen bringen? Ich muß mit einem Menschen sprechen, Wolfgang. Nicht bloß am Telefon. Ich muß einen Menschen bei mir haben, für einen Tag wenigstens.«
Sie sprach sehr leise und sehr verzweifelt.
«Behalte die Nerven«, sagte Wolfgang,»mir wird etwas einfallen.«
Er fühlte sich elend nach Beendigung des Gespräches, schuldbewußt, so als ließe er einen Menschen im Stich, der ihn um Hilfe gebeten hatte.
Im Krankenhaus erfuhr er zu seiner Überraschung, daß Paul seit dem Vortag nicht mehr im Koma lag.
«Sie können ganz kurz zu ihm«, sagte die Stationsschwester,»aber regen Sie ihn nicht auf, hören Sie? Vor allem stellen Sie bitte keine Fragen zu dem Überfall auf ihn. Die Polizei wimmle ich auch ständig ab. Für diese Dinge ist es viel zu früh.«
Paul lag in seinem Bett und ähnelte noch immer einer Mumie mit all seinen Verbänden, die außer dem Gesicht kaum einen einzigen Zentimeter seines Körpers unbedeckt ließen. Er bekam Infusionen, war aber sonst an keine weiteren Apparate angeschlossen. Leona hatte von dem erschreckend starren Blick seiner weit geöffneten Augen erzählt. Dieser war verschwunden. Paul nahm an seiner Umwelt wieder Anteil.
Neben seinem Bett saß Carolin. Sie trug ziemlich abgewetzte Jeans und hatte sich die Haare in einem Rotton gefärbt, mit dem sie ihrer Schwester Olivia ähnlich sah. Sie musterte Paul mit aufrichtiger Besorgnis, was um so bemerkenswerter war, als sich die beiden nie gemocht hatten. Sie hatte Obst mitgebracht, Fruchtsaft und Zeitschriften. Paul würde das Obst nicht essen, den Saft nicht trinken, die Zeitschriften nicht lesen können. Aber das sterile Krankenzimmer hatte einen heimeligen Anstrich bekommen, und vielleicht, dachte Wolfgang, hilft ihm das.
Carolin kam ihm entgegen, umarmte ihn. Er hatte sie auch nie besonders gemocht, niemand mochte Carolin uneingeschränkt, weil sie mit ihrer Lebensweise bei Menschen, die arbeiteten und sich anstrengten, zwangsläufig immer wieder Anstoß erregen mußte. Aber Wolfgang fand es sympathisch, daß sie hier bei einem Mann, den sie nie hatte leiden können, am Krankenbett saß und sich offenbar wirklich Kummer um ihn machte.
«Hallo, Wolfgang«, sagte sie,»schön, daß du da bist! Gerade heute, wo Paul endlich aufgewacht ist. Du kannst dir gar nicht denken, wie erleichtert wir alle sind!«
«Doch, das kann ich. Ich bin selber zutiefst froh, daß es so gekommen ist.«
Wolfgang trat näher an das Bett heran. Sein Schwager blickte ihn an.
«Guten Abend, Paul!«Unwillkürlich wisperte er.»Wie fühlst du dich?«
Paul öffnete den Mund, aber es kam nur ein undeutliches Lallen heraus.
«Er hat Probleme mit dem Sprechen«, erklärte Carolin.»Der Arzt sagt, das wird er in einer Reha-Klinik ganz von neuem lernen müssen.«
Paul versuchte erneut, Worte zu formen. Sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung. Er kämpfte, aber Zunge und Lippen schienen ihm nicht gehorchen zu wollen.
«Nicht reden«, sagte Carolin,»du bist noch zu schwach!«
Unter größter Mühe hob Paul die Finger seiner rechten Hand. Ermattet ließ er sie wieder sinken, während ihm der Schweiß bereits in Strömen über das Gesicht lief.
«Paul!«beschwor ihn Carolin nervös.
«Irgend etwas will er unbedingt loswerden«, meinte Wolfgang.
Er sah den gequälten Ausdruck in Pauls Augen, und plötzlich meinte er zu begreifen.
«Leona ist in Sicherheit, Paul«, sagte er,»du mußt dir keine Gedanken machen. Ihr kann nichts passieren.«
Pauls Züge entspannten sich. Sein Atem ging ruhiger.
Carolin nahm ein Taschentuch von seinem Nachttisch und tupfte ihm damit den Schweiß von der Stirn.
«Er ist ein viel netterer Mensch, als ich immer dachte«, sagte sie.»Sogar in seinem schrecklichen Zustand macht er sich noch Sorgen um Leona.«
«Gerade in seinem Zustand, Carolin. Niemand weiß besser als er, was Leona blühen würde, fiele sie in Roberts Hände.«
«Offenbar hat er Robert erkannt bei dem Überfall.«
«Oder ihm ist klar, daß er es gewesen sein muß. «Mit gespielter Zuversicht fügte Wolfgang hinzu:»Gott sei Dank müssen wir wirklich keine Angst mehr haben.«
Carolin sah ihn zweifelnd an, sagte aber nichts. Die Tür ging auf, und die Schwester kam herein.
«Ich muß Sie jetzt beide leider bitten zu gehen«, sagte sie,»es wird sonst zu anstrengend für den Patienten.«
«Natürlich«, sagte Carolin.»Es war unheimlich nett von Ihnen, mir eine halbe Stunde zu lassen. Ich weiß, das ist mehr, als der Arzt erlaubt hat.«
«Mir ist klar, daß Sie einen weiten Weg haben«, sagte die Schwester,»aber leider muß jetzt trotzdem Schluß sein.«
Draußen auf dem Gang fragte Wolfgang:»Willst du heute noch nach Lauberg zurück? Du kannst gerne bei mir übernachten.«
«Danke. Aber Felix wird zur Zeit weinerlich, wenn er ohne mich einschlafen muß. Ich habe noch zwei Stunden, bis mein Zug fährt. Wollen wir einen Kaffee zusammen trinken?«
Sie landeten in einem Cafe unweit des Krankenhauses. Carolin bestellte sich einen Espresso. Wolfgang hatte den Eindruck, etwas für seine Nerven zu brauchen. Er wählte einen Malt-Whisky.
Nachdem sie ihre Getränke vor sich stehen hatten, kam Carolin umgehend zur Sache.
«Ich bin wirklich froh, dich getroffen zu haben, Wolfgang. Ich mache mir Sorgen um Leona. Von dir haben wir ja immer eine softe Version der Ereignisse geliefert bekommen, aber spätestens seitdem Fahndungsfotos in der Zeitung erschienen sind, wissen wir, mit welcher Art Mann sich Leona eingelassen hat. «Sie musterte ihn streng.»Ihr hättet uns gleich nach dem Überfall auf Paul reinen Wein einschenken müssen. Meine Eltern finden das auch. So wie es jetzt gelaufen ist, haben wir die Wahrheit scheibchenweise erfahren, und das war letztlich viel quälender, als wenn es uns mit einem Schlag getroffen hätte.«
«Tut mir leid. Aber wir wußten ja zuerst selbst nicht, welches Ausmaß die ganze Geschichte annehmen würde. Wir wollten euch einfach nicht unnötig ängstigen.«
«Nun hält sich Leona irgendwo versteckt, und wir alle fragen uns, wie lange das, um alles in der Welt, gehen soll!«
«Die Polizei wird Jablonski fassen.«
«Wann?«
Wolfgang leerte seinen Whisky in einem Zug und winkte dem Kellner. Er brauchte dringend einen zweiten.»Gott, Carolin, woher soll ich das wissen? Ich hoffe, bald. Ich bete darum. Aber ich selber kann sonst ja gar nichts tun.«
«Ich hatte bei Robert ein verdammt ungutes Gefühl«, sagte Carolin.»Leider noch nicht an Weihnachten, obwohl ich nicht weiß, ob es etwas genützt hätte, Leona damals schon zu warnen. Sie war ja vernarrt in ihn. Sie hätte sich nicht getrennt von ihm. Abgesehen davon: Selbst wenn sie es getan hätte, sie wäre womöglich in genau dem gleichen Schlamassel gelandet wie jetzt.«
«Vermutlich. Vom ersten Tag an hatte sie keine Chance mehr, ihn zu verlassen, ohne daß ein Unglück passiert.«
«Wie geht es ihr eigentlich? Du telefonierst doch regelmäßig mit ihr.«
Wolfgang zuckte mit den Schultern.»Wie soll es ihr schon gehen? Sie ist in einer scheußlichen Lage, und das zermürbt sie natürlich immer mehr. Sie ist herausgerissen aus ihrem normalen Leben und hat keine Ahnung, wie lange dieser Ausnahmezustand dauern wird. Es tut mir in der Seele weh, ihr letzten Endes nicht helfen zu können.«
«Weißt du«, sagte Carolin,»vielleicht braucht sie zwischendurch etwas Aufmunterung. Es ist nicht gut, daß sie ständig allein ist. Meinst du nicht, ich sollte sie vielleicht einmal besuchen? Es würde sie bestimmt aufbauen.«
«Aber wir hatten doch vereinbart, daß es besser ist, wenn außer mir…«
«Wenn nur du ihren Aufenthaltsort kennst, ja. Aber es scheint sich alles ja länger hinzuziehen, als wir dachten. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, daß Robert einfach auf den Zeitfaktor setzt. Er weiß, daß sich Leona nicht ewig verstecken kann. Er braucht nur abzuwarten.«
«Er kann sich auch nicht ewig verstecken.«
«Unter Umständen aber länger als Leona. Er hat nichts zu verlieren. Keinen Beruf, keine Familie. Er wird psychisch viel besser durchhalten als sie.«
«Seine Psyche spielt verrückt, Carolin.«
«Mag sein, aber seine Verrücktheit gibt ihm auch eine Menge Kraft.«
Carolin schien sich tatsächlich Gedanken gemacht zu haben, und ihr klarer Blick für die Dinge verwunderte Wolfgang sehr.
«Er ist so… so durchdrungen von seinen Gefühlen für Leona, daß er ihnen alles unterordnet. Seine Gefühle mögen krank sein, aber sie sind stark. Sie werden ihn eine ganze Reihe von Widrigkeiten ertragen lassen.«
«Dafür hat er andere Probleme. Von irgend etwas muß er leben. Laut Leona hat er nicht viel Geld. Seine Mittel werden rasch zur Neige gehen.«
«Der Sommer steht vor der Tür. Das ist die Jahreszeit, in der man draußen aushalten kann. Als Bettler auf der Straße, als Penner auf der Parkbank. Wolfgang«, sagte sie eindringlich,»er hat gute Karten!«
Wolfgang kippte seinen Whisky hinunter und widerstand dem Bedürfnis, sich einen dritten zu bestellen.
«Warum erklärst du mir das? Was willst du? Was soll ich tun?«
«Leona braucht seelische Unterstützung. Sag mir, wo sie ist. Ich will zu ihr.«
«Das ist zu gefährlich. Wir haben es mit einem wirklich gerissenen Mörder zu tun. Wir sollten kein Risiko eingehen.«
«Aber sei doch mal realistisch, Wolfgang. Robert ist ganz allein. Wie soll er uns denn alle überwachen? Das ist ihm doch gar nicht möglich. Leona konnte entkommen. Warum sollte er mir folgen?«
«Ich weiß es nicht.«
Er konnte ihr tatsächlich keine logische Antwort auf ihre Frage geben. Robert hatte mit Sicherheit nicht die Möglichkeiten und die Fähigkeiten, die er ihm in seinen Gedanken zuordnete. Er hatte ihn zu einem Monster hochstilisiert und in Gedanken mit überirdischen Fähigkeiten ausgestattet. Robert konnte überall zugleich sein, konnte fliegen, hellsehen, durch Wände gehen. Das war barer Unsinn und räumte ihm mehr Macht über sie alle ein, als ihm zukam. Und dennoch… sein Verstand sagte ihm dies alles. Sein Gefühl blieb beherrscht von der Angst.
«Wolfgang«, sagte Carolin,»frag sie. Du telefonierst doch täglich mit ihr. Frag sie, was sie denkt. Ob sie mich bei sich haben möchte. Sie soll das entscheiden!«
Er sah Carolin nachdenklich an.»Mich wundert, daß du dich so engagierst. Ich habe gar nicht gewußt, daß du so an Leona hängst.«
Carolin zog mit ihrem Kaffeelöffel Spuren in die Tischdecke, starrte auf die Linien und Kreise.
«Vielleicht wußte ich es selber nicht so genau, bis diese Geschichte passierte«, sagte sie.»Weißt du, Leona war für mich immer mehr als nur eine Schwester. Sie war ja schon fast erwachsen, als ich geboren wurde. Ich konnte mich nie über mangelnde Zuwendung beklagen, ich hatte eine wahnsinnig fürsorgliche Mutter und eine Haushälterin, die uns auch von morgens bis abends begluckte. Aber irgendwie war ich von Anfang an der Rebell in der Familie, und diejenige, die mich immer verstand, war Leona. Das heißt nicht, daß sie immer einverstanden war mit allem, was ich tat, sie hat mir manchmal ganz schön den Kopf gewaschen. Aber wenn ich richtigen Mist gemacht hatte, konnte ich zu ihr kommen. Mami hat ja in solchen Fällen nur immer wie ein waidwundes Reh dreingeblickt, man kam sich vor wie ein Verbrecher, wenn man sie mit einer Hiobsbotschaft konfrontierte. Leona hingegen hatte gute Nerven und war nicht so leicht zu erschüttern. Sie schimpfte mit mir, aber dann half sie mir, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Es ist eigenartig«, sie sah endlich von ihren Schlangenlinien auf und schaute Wolfgang an,»aber mir ist klargeworden, daß ich auch heute noch zuerst zu ihr gehen würde, wenn etwas schieflaufen würde in meinem Leben. Ich brauche sie. Deshalb habe ich so einen Haß auf diesen Robert. Und Angst um sie. Ich will bei ihr sein und ihr helfen!«
Wolfgang nickte.»Ich verstehe. Ich werde mit ihr sprechen. «Er winkte dem Kellner, um die Rechnung zu bezahlen, und sagte:»Ich fahre dich zum Bahnhof.«
Sie lächelte. Sie hatte ein hübsches Lächeln, fand er, das war ihm vorher nie aufgefallen.
«Merkwürdig«, sagte er,»heute abend habe ich dich besser kennengelernt als in all den Jahren vorher. Ich hielt dich für eine verzogene Göre und nichts weiter. Aber du hast tatsächlich auch eine andere Seite.«
Carolin stand auf.»Das ist gar nicht merkwürdig. Krisen bringen die besten oder die schlechtesten Seiten in einem Menschen ans Tageslicht. Wenn es bei mir die guten sind, haben wir einfach Glück gehabt.«
Der Regen machte alles schlimmer. Er rauschte wie eine Wand vom Himmel, seit dem frühen Morgen. Über Mittag war er für einige Stunden schwächer geworden, und Leona hatte einen Spaziergang unternommen, um nicht verrückt zu werden zwischen den Wänden ihres Gefängnisses. Mit durchweichten Schuhen und nassen Hosen war sie zurückgekommen. Der Wind hatte ihren Schirm zerbeult und den Regen statt von oben von vorn gegen sie geweht. Für gewöhnlich mochte sie es, bei extremem Wetter hinauszugehen, vor allem, weil das Heimkommen dann so schön war. Diesmal mochte sich dieser Effekt nicht einstellen. Keine Lust auf heißen Tee. Keine Vorfreude auf ein spannendes Buch. Der Nachmittag lag lang, verregnet und hell vor ihr. Früh einfallende Novemberdunkelheit wäre Leona angebrachter erschienen und hätte sie vielleicht auch ein wenig beruhigt. Trotz des schlechten Wetters war es ein Frühsommertag, der keinen raschen Abschied versprach. Es war ein Tag, der ihr gnadenlos vor Augen hielt, daß irgendwo das Leben spielte, während sie hier saß und Däumchen drehte, daß sie ihre Zeit vertat, daß sie nutzlos dem zähen Verrinnen von Stunden und Minuten zusah und auf etwas wartete, wovon sie weder wußte, was es war, noch wie es aussehen würde. Am Abend zuvor hatte sie dies Wolfgang gegenüber formuliert. Daß sie nicht wisse, worauf sie warte.
Erstaunt hatte er erwidert:»Du… wir warten auf Jablonskis Festnahme. Oder nicht?«
Sie konnte ihm nicht widersprechen, denn er hatte recht. Wie hatte sie so dumm fragen können? Trotzdem war das Gefühl geblieben, und heute, während des Spazierganges, hatte sie plötzlich begriffen, weshalb sie meinte, nicht zu wissen, worauf sie wartete in dieser Einöde: Im tiefsten Innern war sie davon überzeugt, daß die Polizei Robert nie fassen würde. Sie hätte niemandem eine Begründung für dieses Wissen nennen können, und doch zweifelte sie keinen Moment lang an seiner Richtigkeit. Die Geschichte mußte auf eine andere Art zu Ende gehen, und sie hatte keine Ahnung, wie.
Naß und verfroren, wie sie war, nahm sie daheim eine lange, heiße Dusche, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß überall im Haus Fenster und Türen fest verschlossen waren. Seit Psycho hatten vorgezogene Duschvorhänge ihre Unschuld verloren.
Ich denke nur noch in diesen Kategorien, überlegte sie, während sie den Kopf zurückbog und das Wasser über ihr Gesicht strömen ließ. Eigenartig, wie schnell das gehen kann. Früher ging es um meine Arbeit. Jetzt nur noch um Robert.
Irgendwie brachte sie den Nachmittag hinter sich. Die Taschenbücher, die sie sich im Dorf gekauft hatte, waren ausgelesen. Morgen würde sie neue brauchen. Aber im Grunde half ihr das Lesen nicht wirklich. Sie mußte Arbeit haben. Im Verlag quoll ihr Schreibtisch vermutlich über. Aber mehr noch als alles andere brauchte sie einen Menschen. Zum Reden. Zum Anschauen, zum Anfassen. Sosehr sie den Telefongesprächen mit Wolfgang entgegenfieberte, so wenig vermochten sie sie zu befriedigen. Er war so weit weg. Alle waren so weit weg.
Endlich wurde es dunkel, und das Gefühl der völligen Nutzlosigkeit verlor an Intensität. Leona ging erneut durchs Haus, prüfte Fenster und Türen. Keller, Erdgeschoß, erster Stock. Auf den Speicher kletterte sie nicht hinauf. Durch die Dachluke würde kaum ein Kind ins Haus hineingelangen können.
Obwohl sie vereinbart hatten, nie über den Telefonanschluß daheim miteinander zu sprechen, wählte Leona schließlich ihre Nummer. Ihre Unruhe hatte sich über den Tag hinweg so gesteigert, daß sie meinte, die Nerven zu verlieren, wenn sie nicht endlich eine menschliche Stimme hörte. Aber Wolfgang war noch nicht zu Hause. Sie vernahm nach fünfmaligem Klingeln nur ein Klicken und hörte dann sich selbst.
«Leider sprechen Sie nur mit dem Anrufbeantworter von Leona und Wolfgang Dorn. Bitte…«Sie legte den Hörer auf.
Sollte sie Mami anrufen?
Bring deine Familie nicht in Gefahr, riet ihr eine innere Stimme, laß sie aus dem Spiel!
Irgendeine Kollegin? Ihren Chef?
Welchen Sinn hätte es? Worüber sollte sie mit ihnen reden?
Sie erinnerte sich an das verstörte Gesicht ihres Chefs, als sie ihm von der ganzen Geschichte erzählt hatte. Sie mußte das tun, weil sie Urlaub brauchte, um auf unabsehbare Zeit unterzutauchen. Ihr Chef hatte im Zusammenhang mit der Fahndung von Robert in der Zeitung gelesen, jedoch keine Ahnung gehabt, daß eine seiner engsten Mitarbeiterinnen in diese Angelegenheit verwickelt war. Natürlich hatte er ihr unbefristeten Urlaub bewilligt, was sollte er auch anderes tun?
«Das ist eine unglaubliche Geschichte«, hatte er immer wieder gesagt,»wirklich eine ganz unglaubliche Geschichte!«
Genau deshalb fühlte sie sich so einsam. Wegen des Bewußtseins, Teil einer» unglaublichen Geschichte «zu sein. Was ihr passiert war, passierte einem Menschen normalerweise nicht. Sie hatte plötzlich den Status einer Exotin mit Gruseleffekt erlangt. Mit ihren Kolleginnen hatte sie stets über die gemeinsame Arbeit gesprochen, über Liebeskummer, Diäten, Kinofilme und Urlaubsziele. Wie sollte jemand die Besonderheiten verstehen, die sich aus dem Zusammenleben mit einem Psychopathen ergaben? Die zum Schluß in einer Hetzjagd endeten, in Todesangst und bitterernsten Versteckspielen. Wie sollten andere Menschen reagieren, außer mit Betroffenheit und einer ersten leisen, nicht übersehbaren Distanz, wie sie auftritt angesichts einer Krankheit, von der man noch nicht weiß, ob sie ansteckend ist.
Sie blätterte in ihrem Adreßbuch. Sehr langsam, sehr zögernd wählte sie Bernhard Fabianis Nummer.
Absolut keinen Kontakt mit irgendeiner Person aufzunehmen war die Grundlage aller Absprachen zwischen ihr und Wolfgang gewesen. Zwei Menschen auf der Welt sollten wissen, wo sich Leona aufhielt, und das waren Leona selbst und Wolfgang. Sonst niemand.
Ich sage ihm nicht, wo ich bin, dachte sie, ich will nur reden. Nur ein paar Minuten reden.
Mit einem Menschen, der nicht den Makel an ihr sah, mit einem Ungeheuer in Berührung gekommen und davon gezeichnet zu sein. Mit einem Menschen, der jene fatale Berührung selber erlebt hatte. Sie hatte das gleiche Gefühl wie damals, als sie sich zum zweiten Mal mit Fabiani getroffen hatte: Wenn es eine Infizierung gab, dann waren sie beide davon betroffen.
Müde und resigniert wollte sie schon wieder auflegen, da meldete sich Bernhard endlich.»Ja, bitte?«Er klang abgehetzt und genervt.
Leona, verwirrt, daß sie ihn überhaupt noch erreicht hatte, stotterte:»Oh… ich wollte nicht stören…«
«Leona?«Seine Stimme veränderte sich sofort.»Wie schön, daß Sie sich melden! Ich habe immer wieder auf Ihren Anrufbeantworter gesprochen, aber Sie haben nie zurückgerufen. Dann habe ich es in Ihrem Büro versucht, aber dort sagte man, Sie seien beruflich verreist.«
Wolfgang hatte ihr kein Wort von Bernhards Anrufen gesagt.
«Ich bin untergetaucht«, sagte sie.
Bernhard begriff sofort.»Wegen Robert.«
«Ja. Es scheint meine einzige Chance zu sein. Ich hatte das sichere Gefühl, daß ich andernfalls…«
Sie vollendete den Satz nicht. Bernhard wußte ohnehin, was sie meinte.
«Ich denke, da haben Sie sehr vernünftig gehandelt«, sagte er.
Sein Verständnis, seine ruhige Stimme waren wie Balsam.
«Ich bin froh, Sie erreicht zu haben«, sagte sie.
«Keine Minute zu früh. Ich bin eben erst nach Hause gekommen. «Er lachte.»Wo sind Sie, Leona?«
«Ich glaube, es ist besser, wenn Sie das nicht wissen.«
«Ich würde zu keiner Menschenseele davon sprechen.«
«Das weiß ich. Es ist auch nur… ich habe Angst, am Telefon eine Adresse zu nennen.«
«Ich werde bestimmt nicht angezapft. Das könnte Robert gar nicht bewerkstelligen.«
«Ich komme Ihnen sicher ziemlich albern vor. Hysterisch.«
«Nein. Sie kommen mir vor wie eine Frau, die große Angst hat und es darüber nicht mehr schafft, die Dinge in den richtigen Dimensionen zu sehen. In Ihrer Situation ist das allerdings nur allzu verständlich. Ich kenne eine Reihe von Leuten, die würden die Nerven weit mehr verlieren, als Sie das tun.«
Es tat Leona gut zu hören, daß sie auf ihre Umwelt offenbar noch nicht völlig durchgedreht wirkte.
«Meine Nerven sind zerrütteter, als es vielleicht den Anschein hat«, sagte sie,»es ist eine unerträgliche Situation. Ich komme mir vor wie eine Maus, die in ihrem Mauseloch sitzt, während draußen eine Katze herumschleicht, die genau weiß, daß die Maus irgendwann wieder hervorkommen muß. Die Katze muß nichts tun, als zu warten.«
«Die Katze wird selber gejagt.«
Das allgegenwärtige Argument. Die Polizei sucht Robert und wird ihn finden. Es wunderte Leona, wieviel Vertrauen die Menschen in ihrer Umgebung augenscheinlich in die Polizei hatten.
«Was Sie brauchen, Leona«, fuhr Bernhard fort,»ist einfach einmal ein Mensch, der mit Ihnen spricht, der Sie aufmuntert. Sie werden ja verrückt so ganz allein. Wie ist es? Ich komme Sie gern besuchen!«
Es war verlockend, überaus verlockend. Dennoch zögerte sie.
«Ich weiß nicht. Ich habe Angst, daß…«
«Leona, ich werde aufpassen, ich verspreche es Ihnen. Niemand wird mir folgen. Ich könnte Freitag nachmittag aufbrechen und bis Sonntag bleiben.«
Zwei Tage und zwei Nächte mit Bernhard Fabiani in diesem einsamen Haus. Neben allen anderen Problemen könnten sich aus dieser Situation auch einige Komplikationen ergeben.
«Lassen Sie sich von Robert nicht derart in die Enge treiben«, drängte Bernhard,»sagen Sie mir, wo Sie sind, und wir machen uns ein paar schöne Tage.«
Draußen rauschte der Regen. Dunkelheit und Stille senkten sich wie Bleigewichte auf Leonas Gemüt. Sie nannte ihm ihre Adresse, beschrieb ihm, wie der Ort zu finden war. Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten und Leona den Hörer aufgelegt hatte, brach sie in Tränen aus.
Gegen dreiundzwanzig Uhr rief Wolfgang an. Wie immer aus einer Telefonzelle. Leona konnte im Hintergrund den Verkehr rauschen hören.
«Du meldest dich spät«, sagte sie und wußte, daß sie quengelig klingen mußte.
«Tut mir leid. Ich war noch im Krankenhaus. Paul ist aus dem Koma erwacht.«
«Was?«Das war endlich einmal eine rundum gute Nachricht.»Wie geht es ihm?«
«Er ist noch sehr schwach. Er kann nicht sprechen, aber das
kommt nach Ansicht der Ärzte in Ordnung. Jedenfalls nimmt er seine Umwelt wieder wahr. Er hat mich eindeutig erkannt.«
«Gott sei Dank! Ich bin so froh, Wolfgang. Etwas Schöneres hättest du jetzt gar nicht erzählen können!«
«Ich habe noch ein besonderes Geschenk für dich«, sagte Wolfgang, und seiner Stimme war anzuhören, daß er sich freute, Leona endlich einmal nicht völlig deprimiert zu erleben.
«Carolin wird dich besuchen. Am nächsten Wochenende.«
«Carolin?«
«Ich habe sie im Krankenhaus getroffen. Wir haben etwas getrunken miteinander, und sie hat mich von der ersten bis zur letzten Minute damit bearbeitet, daß sie dich sehen will. Zuerst war ich völlig dagegen, aber später, auf dem Bahnhof, fing sie wieder damit an, und schließlich hat sie mich überzeugt, daß keine Gefahr besteht, wenn sie sich vorsichtig verhält. Ich habe ihr gesagt, wo du bist. Wie findest du das?«
Carolin. Ihre kleine Schwester mit den unmöglichen Klamotten, den häufig wechselnden Haarfarben, der arbeitsscheuen Lebenseinstellung und den schnorrenden Lovern. Die Schwester aber auch, die mit Optimismus und Lebensfreude ausgestattet war.
«Na, sag doch was!«drängte Wolfgang.
Sie mußte Bernhard Fabiani absagen. Wenn Carolin am Wochenende kam, konnte er nicht kommen, das stand fest.
«Ich freue mich«, sagte sie. Es klang mechanisch.
«Also — etwas mehr Begeisterung hätte ich schon erwartet«, meinte Wolfgang gekränkt.»Möchtest du nicht, daß sie kommt?«
«Natürlich möchte ich das. Es ist alles in Ordnung. Ich freue mich wirklich.«
Außer ihr und Wolfgang wußten jetzt zwei weitere Mensehen, wo sie sich aufhielt. Carolin und Bernhard Fabiani. Die feste Absprache, die sie und Wolfgang getroffen hatten, war löchrig geworden. Wie rasch man doch schwach werden konnte, dachte sie.
Auf einmal hatte sie das sichere Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Und Wolfgang ebenfalls. Sie hätten niemanden einweihen dürfen.
Das birgt ein Verhängnis, dachte sie und erschrak vor der Klarheit, mit der sich dieses Wissen in ihr ausbreitete.
«Wolfgang«, sagte sie, und zum ersten Mal seit Tagen klang ihre Stimme nicht mehr schwermütig, sondern sehr fest und sicher.»Sag Carolin, daß sie auf keinen Fall kommen soll. Vergiß mein Gejammere. Sie darf nicht kommen, hörst du? Sie darf nicht kommen!«
Ich könnte den ganzen Tag über ihren Namen singen. Leona, Leona, Leona! Ich mag ihren Namen, habe ihn von Anfang an gemocht. Nachdem ich die letzte Woche in einer tiefen Depression verbracht habe, bin ich auf einmal guten Mutes. Ich spüre, daß ich Leona bald wiedersehen werde. Niemandem könnte ich erklären, woher dieses Wissen rührt, aber es ist stark und erfüllt mich mit Ruhe und Gelassenheit. Darum möchte ich singen, aber natürlich tue ich es nicht. Das würde sich schlecht ausnehmen. Ein unrasierter, ziemlich abgerissener Mann, der in einem Gebüsch sitzt und singt. Ich hätte sofort eine ganze Armee wohlanständiger Bürger auf dem Hals, die mich aller möglichen Unsittlichkeiten verdächtigen würden. Das kann ich mir zur Zeit nicht leisten. Gegen mich läuft ein Haftbefehl. Ich darf unter keinen Umständen auffallen.
Ich sehe inzwischen so verwahrlost aus, daß ich mich nicht einmal mehr ins Schwimmbad traue. Das hängt auch mit dem fürchterlichen Wetter zusammen. Es regnet heute fast ununterbrochen, und mein luxuriöses Quartier unter den Büschen weicht immer mehr auf. Ich bin dreckig und naß wie eine Kanalratte. In der letzten Nacht habe ich mir ein Herz gefaßt und bin zu dem kleinen Geräteschuppen hinten im Garten gegangen, habe die Fensterscheibe eingeschlagen und bin hineingekrochen. Ich wollte das eigentlich nicht, denn ich hatte immer Angst, das kaputte Fenster könnte jemandem auffallen, aber nun blieb mir keine Wahl mehr. Ich hatte gehofft, ein paar Kissen und Decken zu finden, aber — Fehlanzeige! Hier stehen nur Gartengeräte herum, Eimer, Schaufeln, ein Rasenmäher. Immerhin ist es trocken, auch wenn es furchtbar modrig und klamm riecht. Ich rollte mich auf dem Fußboden zusammen und versuchte zu schlafen. Wenn es wie aus Kübeln schüttet, habe ich nun ein Dach über dem Kopf, aber trocken werde ich trotzdem nicht mehr.
Im Supermarkt habe ich mir heute ein Stück Seife gekauft — die anderen Kunden hielten angemessen Abstand zu mir in der Kassenschlange —, und dann bin ich damit ins Bahnhofsklo gegangen und habe mich gewaschen, so gut es ging. Außer mir war nur noch ein Junkie da, der mich irgendwie verklärt ansah und dann meine Seife haben wollte. Er bekam sie natürlich nicht. Ich muß sparsam sein, mein Geld wird immer knapper.
Ich fühlte mich ein wenig sauberer, aber das wichtigste wäre, meine Kleidung zu waschen. Mein Wollpullover hat sich vollgesogen mit Nässe und stinkt wie ein Hund, der in den Regen gekommen ist. In meinem augenblicklichen Zustand gewinne ich Leonas Gunst sicher nicht zurück. Ich sehe das an den Blicken der Frauen, denen ich auf der Straße begegne, sie sind angewidert und abweisend. Solange ich denken kann, haben mich Frauen erwartungsvoll und herausfordernd angesehen. Ich habe eine starke Wirkung auf sie. Ich glaube, mein Aussehen hat die richtige Mischung aus Attraktivität, Zuverlässigkeit und jungenhaftem Charme. Das mag sich eingebildet anhören, ist aber einfach eine Tatsache. Ich hatte mit Frauen nie Probleme. Ich lächelte sie an, und in neun von zehn Fällen lächelten sie zurück.
Manchmal freue ich mich fast auf die Zeit, in der sich Psychiater mit mir befassen werden. Irgendwann lande ich im Gefängnis, da mache ich mir nichts vor, und dann werden die Freud-Anhänger geballt auf mich losgelassen werden. Wenn man nicht gerade ein Terrorist ist und zwecks Gesellschaftsumsturz oder Weltveränderung tötet, versuchen sie einem immer irgendeine seelische Deformierung oder Psychose unterzujubeln, kaum daß man einen oder mehrere Morde begangen hat.
Sie werden sich schwertun bei mir. Sie werden versuchen herauszufinden, ob ich womöglich zeitlebens von Frauen immer wieder verächtlich oder kränkend behandelt wurde, was, wie gesagt, nicht der Fall war, oder ob ich als Kind mißbraucht oder grausam vernachlässigt wurde. Auch hier werden sie Pech haben. Die Familienumstände waren nicht eben lustig, aber sie stellten beileibe keine Katastrophe dar.
Mama trank zuviel, aber wenn sie dann im Suff in Rage geriet, ließ sie ihre Aggressionen an Vater aus, nicht an Eva und mir. Und Vater selbst ging immer wieder fremd, was ich widerlich fand, was aber Mama natürlich weit mehr betraf als mich. Vater sah sehr gut aus. Er mußte nur mit dem Finger schnippen, schon konnte er praktisch jede Frau haben. Er hatte dunkle Haare wie ich und schmale, braungrüne Augen. Mama verlor jedesmal die Fassung, wenn sie von einem erneuten Seitensprung erfuhr. Sie konnte zur Furie werden, zu einem schlagenden, beißenden, tretenden Wutpaket. Vater, obwohl gut einen Kopf größer als sie, hatte Angst vor ihr in solchen Momenten, das konnte man ihm ansehen. Ich glaube, er dachte das gleiche wie ich: Irgendwann greift sie zum Messer.
Als sie es schließlich tat, wurde das für sie zur Katastrophe, nicht für ihn. Sie war zu betrunken, um zielgerichtet zustechen zu können.
Ob es die Psychologen interessieren wird, daß Eva und ich immer Geschenke bekommen haben nach den Auseinandersetzungen unserer Eltern? Beiden tat es dann nämlich entsetzlich leid, was geschehen war. Mama schämte sich für ihr Geschrei und ihre Gewalttätigkeiten, und Vater wußte natürlich nur zu gut, daß er nicht ständig mit anderen Weibern hätte ins Bett steigen dürfen. Als Schadensbegrenzungsmaßnahme wurden Spielzeug, Bücher, Platten, einmal sogar Fahrräder für die verstörten Kinder gekauft… Eva und ich fanden das natürlich gut. Wenn es zwischen unseren Eltern richtig losging, saßen wir oben in unserem Zimmer und beratschlagten, was wir uns diesmal wünschen würden. Unsere Vorstellungen von angemessener Wiedergutmachung nahmen immer unverschämtere Ausmaße an, aber es kamen keine Beschwerden deswegen.
Eva sagte manchmal ängstlich:»Meinst du nicht, sie werden jetzt sauer?«
Aber ich beruhigte sie dann immer:»Die sind nur froh, wenn sie ordentlich tief ins Portemonnaie greifen dürfen. Das erleichtert ihr Gewissen.«
Und so war es auch.
Ich schweife ab. Ich sollte weniger an meine zukünftigen Gespräche mit den Gefängnispsychologen denken, auch nicht an meine und Evas Kindheit. Ich muß mich auf die Gegenwart konzentrieren. Ich muß Leona finden.
Zwei Dinge sollten meine Überlegungen primär beherrschen:
Ich muß ein Auto haben.
Ich muß mich an die Fersen der richtigen Person heften.
Um mit dem zweiten Punkt zu beginnen: Ich sitze im falschen Gebüsch! Das wurde mir heute früh klar. Es war wieder einmal ein absolut beschissenes Aufwachen, jeder Knochen tat mir weh, und ich fror erbärmlich. Es nieselte, als ich durch das Fenster meiner Hütte hinauskroch und zum Gebüsch hinüberhuschte. Gerade als ich zwischen Blättern und Zweigen hindurch zu Leonas Haus blinzelte, kam ihr Gatte zur Tür heraus, schön adrett in seinem grauen Anzug, dezente Krawatte, frisch rasiert und frisch geduscht, ausgeschlafen nach einer Nacht in einem warmen, weichen Bett. Aber an diese Ungerechtigkeit dachte ich nicht in jenem Moment. Statt dessen schoß mir eine Erkenntnis durch den Kopf: Er führt mich nicht zu Leona. Er garantiert nicht. Er rechnet damit, daß ich in der Nähe bin, daß ich ihn beschatte. Er wird notfalls an jeden Ort der Welt gehen — aber nie an den, wo Leona sich tatsächlich aufhält!
Mir wurde ganz schwindelig, so als hätte ich eine unglaubliche Entdeckung gemacht. Dabei hatte ich bloß eine schlichte, logische Schlußfolgerung gezogen, die ich mit ein bißchen Nachdenken schon viel früher hätte ziehen können. Wolfgang Dorn ist ein Scheißkerl in meinen Augen, aber er ist kein Dummkopf. Er wird kein Risiko eingehen. Er ist der überlegte Typ, der auf Sicherheit setzt und jeden Schritt dreimal durchdenkt, ehe er ihn tut. Das sieht man schon an seinem Äußeren. Edles Understatement. Möglichst nirgends anecken.
Leona könnte halb verrückt werden in ihrem Versteck, er wird ihr nur erklären:»Wir müssen vorsichtig sein, Schatz! Dieser Jablonski ist ein ganz gefährlicher Kerl. Ein Geisteskranker. Du mußt noch eine Weile allein aushalten. Ich wette, er überwacht jeden meiner Schritte. Den Gefallen, ihn zu dir zu lotsen, sollten wir ihm keineswegs tun!«
Wolfgang Dorn stieg in sein Auto und fuhr davon, und ich saß in meinem tropfenden Gebüsch und dachte, was für ein Trottel ich doch gewesen war. So viel Zeit! Vertan für nichts und wieder nichts!
Ich muß sehr genau nachdenken. Sehr, sehr genau. Ich muß die richtige Person finden und observieren. Natürlich kann mich meine Intuition trügen, aber ich würde fast darauf wetten, daß Leona schon ziemlich weichgekocht ist. Ich kenne meinen Liebling. Sie kann nicht gut allein sein, vor allem dann nicht, wenn sie getrennt ist von allem, was zu ihrem Leben gehört. Von ihrer Familie, ihrem Haus, ihrer Arbeit, ihren Kollegen.
Leona ist ein ganz anderer Mensch, als es Anna war. Anna konnte in die Welt hinausziehen und alles hinter sich lassen, was bis dahin ein Teil von ihr gewesen war. Anna, das habe ich zu spät bemerkt, war im Grunde eine bindungslose kleine Schlampe. Leona hingegen ist ein Mensch mit sehr, sehr tiefen Wurzeln. Weggerissen zu sein von den Menschen und Dingen, an denen ihr Herz hängt, muß eine Qual bedeuten für sie. Sie wird jemanden brauchen, der ihr Händchen hält.
Ich muß einen kühlen Kopf bewahren und sehr logisch denken. Ich habe nicht mehr allzuviel Zeit. Ich darf keinen Fehler mehr machen. Ich muß die richtige Person finden und an ihr dranbleiben, dann kann nichts schiefgehen. Zu Punkt eins: das Auto. Ohne Auto bin ich wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt. Total hilflos. Jede in Frage kommende Person, die mich zu Leona bringen könnte, hat ein Auto und würde mich binnen weniger Sekunden abgehängt haben.
Wo, zum Teufel, kriege ich ein Auto her?
Das Problem ist, ich kann keines kaufen. Ich brauchte falsche Papiere, sonst fliege ich ja sofort auf, und wo soll ich die herkriegen? Natürlich gibt es hier in Frankfurt eine Menge zwielichtiger Autohändler, die hauptsächlich gestohlene Autos anbieten und die vermutlich kein Theater wegen irgendwelcher Formalitäten machen würden. Aber so oder so erscheint mir ein gestohlenes Auto als zu riskant, und abgesehen davon habe ich auch einfach nicht genug Geld. Und wenn diese Autoschieber auch noch so großzügig sind, was Papiere angeht, spätestens beim Geld hört der Spaß auf. Die wollen die Scheine auf die Hand, und mit meinen läppischen zweihundert Mark, die ich noch habe, komme ich nicht weit.
In Gedanken habe ich schon manches durchgespielt. Als Anhalter an den Straßenrand stellen, hoffen, daß günstigerweise eine Frau anhält (eher unwahrscheinlich, Frauen sind mißtrauisch heutzutage gegenüber Männern, die mitgenommen werden möchten, vor allem, wenn sie wie Landstreicher aussehen), den Fahrer des Wagens also, ob nun Mann oder Frau, irgendwo überwältigen und dann mit dem Auto abziehen… aber da wäre die Autonummer natürlich auch sofort in der Fahndung, und ich könnte in einen schlimmen Schlamassel geraten…
Zudem hätte ich ein Problem, einen völlig unbeteiligten Menschen zu überfallen und womöglich sogar zu töten. Vielleicht wird man später versuchen, mich als amoklaufenden Killer darzustellen. Der bin ich nicht. Ich verabscheue Gewalt, vor allem gegen jeden, der wehrlos und unschuldig ist. Anna hatte den Tod verdient, Millie Faber ebenfalls. Der Typ, mit dem Leona ein Verhältnis hatte, auch. Ob der noch lebt? Als sie ihn abtransportierten damals, hatte es den Anschein. Er bekam offensichtlich irgendwelche Infusionen, was sich bei einer Leiche ja erübrigt hätte. Ich dachte, ich hätte ihm mit der Hantel den Schädel zertrümmert. Entweder war ich zu lasch oder er außergewöhnlich widerstandsfähig. Aber das spielt nun auch keine Rolle mehr. Ich müßte an eine Person geraten, die ich für einige Zeit außer Gefecht setzen, deren Auto ich mir für diesen Zeitraum ausleihen könnte. Diese Person müßte sich in Lebensumständen befinden, in denen für mehrere Tage oder sogar Wochen niemand ihr Verschwinden bemerkt. Folglich auch nicht das Verschwinden des Autos.
Ich habe das Gefühl, vor einer fast unlösbaren Aufgabe zu stehen. Und zugleich drängt die Zeit.
Ich will sie haben!
Ich will ihren Namen singen. Frei und ohne Furcht.
Kommissar Hülsch fand, daß Lisa schlecht aussah, trotz des aufwendigen Make-ups, das sie trug, der teuren Kleidung, der hellblonden, seidig schimmernden Haare. Unter all der Aufmachung wirkte sie müde, gestreßt. Sie hatte ein paar Fältchen um die Augen, die im letzten Jahr noch nicht dagewesen waren. Er kam um seinen Schreibtisch herum, um sie zu begrüßen, rückte ihr dann einen Stuhl zurecht.»Setzen Sie sich doch. Was kann ich denn für Sie tun?«Als sie Platz nahm, rutschte ihr kurzer Rock noch ein Stück höher und gab den Blick frei auf schön geformte Oberschenkel, die in schwarzen Strümpfen seidig glänzten. Wie jedesmal, wenn er mit Lisas Reizen konfrontiert wurde, stellte Hülsch fest, daß sie ihn überraschenderweise nicht erregten, sondern rührten. Lisa hatte für ihn immer etwas von einem gestrandeten Seehundkind, und er hegte eindeutig Vatergefühle für sie. Resigniert dachte er, daß er offenbar wirklich alt wurde.
«Es ist… ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll«, sagte sie.
Ihr Blick flatterte im Zimmer herum. Hülsch nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. Er musterte sie ruhig und freundlich, und das schien sie tatsächlich etwas auszugleichen.
«Sie mögen das eigenartig finden, Herr Kommissar. Der Tod meiner Schwester liegt nun schon über ein Jahr zurück, und ich hatte eigentlich gedacht, ich wäre einigermaßen im reinen mit der ganzen Sache. Ich glaube, ich war es auch. Bis…«Sie sprach nicht weiter.
Hülsch nickte. Er ahnte, was kommen würde.
«Jetzt, da ich weiß, wer es getan hat, bin ich auf einmal ganz durcheinander«, fuhr Lisa fort.»Ich meine, es ist ja nicht so, daß ich nur einfach weiß, wer es war. Ich kenne den Mann sogar. Er ist in unserem Haus aus und ein gegangen. Er war immer freundlich und nett, und ich…«Sie stockte erneut.
«Ja?«fragte Hülsch vorsichtig.
«Ich fand ihn recht anziehend«, sagte sie leise,»als Mann, verstehen Sie? Er hockte da wie eine heimtückische Spinne in unserem Haus und lauerte auf sein Opfer, meine Schwester, und ich schaute ihn an und stellte mir manchmal vor…«
Wiederum sprach sie nicht weiter, aber Hülsch hakte diesmal nicht nach. Er konnte sich denken, was sie sich vorgestellt hatte.
«Sie konnten nicht wissen, wer er ist«, sagte er.
«Ich mache mir ja auch eigentlich keine Vorwürfe«, entgegnete Lisa, und das einschränkende eigentlich verriet, daß sie sich wohl gelegentlich doch welche machte.»Aber irgendwie ist alles in mir durcheinander. Ich weiß jetzt, daß ich den Mann kannte, mit dem meine Schwester gelebt hat, von dem sie ermordet wurde. Ich sehe ihn ständig vor mir. Er hatte eine schöne Stimme. Er hat meinem Vater manchmal aus der Zeitung vorgelesen, und ich dachte jedesmal, was für eine angenehme Stimme er doch hat!«
«Ihre Schwester hat Jablonski ja offenbar einige Jahre lang geliebt. Wenn er nicht an jenen Stellen getroffen wurde, an denen seine Psychose wurzelt, hatte er sicher liebenswerte und anziehende Seiten.«
«Das schlimme ist, daß ich an gar nichts anderes mehr denken kann«, sagte Lisa,»es ist, als könnte ich einfach nicht abschließen mit alldem. Direkt nach Annas Tod hatte ich nie schlechte Träume, aber jetzt sehe ich sie im Schlaf vor mir, tot und blutig und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Und wenn ich dann aufwache, bin ich schweißnaß am ganzen Körper und muß an Benno denken — ich meine, an Robert Jablonski. Für mich heißt er immer noch Benno.«
«Als solchen haben Sie ihn ja auch kennengelernt.«
«Ich sage mir immer, daß mich das alles nichts mehr angeht. Anna ist tot, sie wird nicht wieder lebendig, wenn ich dauernd an sie denke oder mich verrückt mache. Aber es ist nur mein Kopf, der so vernünftig ist. Meine Gefühle machen, was sie wollen, und ich kann sie einfach nicht in den Griff bekommen.«
Hülsch war kein Psychologe, aber ihm war klar, daß es bei Lisa nach allem, was sie im Verlauf des letzten Jahres durchgemacht hatte, irgendwann zu einem seelischen Zusammenbruch kommen mußte, und es schien ihm, als befinde sie sich bereits auf dem direkten Weg dorthin.
«Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich in die Hände eines Therapeuten zu begeben?«fragte er.»Nach meiner Ansicht müßten Sie über Ihre Probleme unbedingt mit einer Vertrauensperson reden. Am besten mit jemandem, der Ihnen auf professionelle Art helfen kann, mit den Dingen fertig zu werden. «Er sah sie abwartend an.
Lisa zögerte.»Mein Vater hat immer gesagt, Psychologen sind Quacksalber. Nur Nichtsnutze gehen dorthin und kosten die Krankenkassen viel Geld.«
Vorurteile, dachte Hülsch, sterben nie aus.
«Ihr Vater hat da vielleicht ein wenig zu pauschal geurteilt«, meinte er.
«Es könnte mir so gutgehen«, sagte Lisa und sah dabei aus, als glaubte sie ihren eigenen Worten nicht recht.»Ich habe eine tolle Wohnung. Einen Superjob! Sie können sich nicht vorstellen, wie interessant meine Arbeit ist!«
Er musterte sie betrübt. War es wirklich so interessant, sich zu verkaufen?
«Doch, doch«, sagte er mit einem hörbaren Mangel an Begeisterung in der Stimme.
«Ich glaube, ich könnte wieder Boden unter die Füße bekommen. Ich müßte nur einmal mit jemandem reden.«
«Wie ich gesagt habe: Sie sollten zu einem…«
Sie unterbrach ihn:»Nein, ich dachte an einen Menschen, der Benno… der Robert Jablonski kennt. Der ihn vielleicht sogar mit Anna zusammen erlebt hat. Der mir etwas erzählen kann über das Verhältnis zwischen den beiden.«
«Lisa, ich weiß nicht, ob…«
«Ich grüble dauernd über die beiden nach. Und ich bin sicher, ich könnte damit aufhören, wenn ich endlich etwas Genaues wüßte. Vielleicht könnte ich die Geschichte dann abhaken und endlich wieder leben!«
Sie sah ihn eindringlich an, ein Kind, das eine wunderbare Idee hat und nun dafür gelobt werden will.
Wie soll ich jetzt die geeignete Person für sie aus dem Boden stampfen? fragte er sich. Er fühlte sich von ihrem erwartungsvollen Blick in die Enge getrieben — und von seinen eigenen Gedanken: Er verstand sie. Er konnte absolut nachvollziehen, was in ihr vorging. Wahrscheinlich hätte er in ihrer Lage genauso empfunden.
Etwas schroff entgegnete er:»Es gehört nicht zu meinem Aufgabenbereich…«
«… sich um die seelischen Probleme der Angehörigen von Mordopfern zu kümmern? Natürlich nicht, das weiß ich ja. Ich will Sie wirklich nicht als Schuttabladeplatz für meinen Psychomüll mißbrauchen. Ich bitte Sie nur, mir zu helfen, mit einer Person Kontakt aufzunehmen, die Jablonski gekannt hat und bereit wäre, mit mir über ihn zu sprechen.«
«Das ist nicht so einfach.«
«Könnten Sie es nicht versuchen?«
Ihre Augen waren groß und golden wie Bernstein. Hülsch fragte sich, warum er das Gefühl nicht los wurde, irgendwie für dieses Mädchen verantwortlich zu sein.
«Ich kann es versuchen«, sagte er unbehaglich,»aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Ich kann Ihnen auch nicht einfach die Telefonnummer von jemandem geben, der Jablonski kennt, und Ihnen sagen, rufen Sie dort an. Das verstehen Sie, ja? Die betreffenden Leute müßten einverstanden und ihrerseits an einem Gespräch interessiert sein.«
«Natürlich. Vielleicht jemand aus dem Haus, in dem er in Ascona gelebt hat? Wenn Sie mir da die Adresse…«
«Nein. Das kann ich nicht. «Er stand auf, um zu signalisieren, daß er das Gespräch nun zu beenden wünschte.»Sie hören von mir. Darauf können Sie sich verlassen.«
Er überlegte, inwieweit Lisa eine verletzte Seele war, die Hilfe brauchte, und inwieweit auch eine knallhart kalkulierende Frau, die ihre Reize einsetzte, um sich durchzusetzen. Man mußte nur an die Art ihres Broterwerbs denken. Andererseits waren da die deutliche Blässe unter ihrer Schminke und etwas Unruhiges, Gepeinigtes in ihren Augen.
Und überhaupt, sagte er sich, solltest du gar nicht so viel über sie nachdenken.
«Vielen Dank«, sagte sie, reichte ihm die Hand, lächelte und stöckelte dann aus dem Zimmer.
Ihr Parfüm hing für die nächsten zwei Stunden im Raum und nötigte jedem Kollegen Hülschs, der hereinkam, ein Grinsen und einen unvermeidlichen Kommentar ab.
Es war äußerst schwierig gewesen, Bernhard den Plan, über das Wochenende zu ihr zu fahren, wieder auszureden.
«Wieso denn nur?«hatte er mindestens fünfmal gefragt.»Ich verstehe einfach nicht, weshalb Sie mich auf einmal doch nicht sehen wollen!«
Leona verfluchte einmal mehr ihre Schwäche an jenem Abend.
«Ich habe es Ihnen doch schon gesagt«, erklärte sie geduldig am Telefon,»mir ist die Geschichte zu riskant. Es war dumm von mir, bei Ihnen anzurufen. Es gibt eine Absprache zwischen Wolfgang und mir: Kein Mensch erfährt meinen Aufenthaltsort. Wir haben uns etwas dabei gedacht, als wir diese Vereinbarung getroffen haben. Wir sollten jetzt dabeibleiben.«
«Also — ich habe noch selten etwas so Dummes wie diese Vereinbarung gehört! Entschuldigen Sie, Leona, aber wie wollen Sie das alles denn durchstehen? Ich war ja durchaus auch dafür, daß Sie untertauchen, bis der Spuk vorbei ist, aber nun scheint das ja eine längere Geschichte zu werden. Über kurz oder lang drehen Sie durch, wenn Sie sich da in dieser gottverlassenen Einöde vergraben! Sie können Ihr seelisches Gleichgewicht überhaupt nur dadurch wahren, daß Sie ab und zu einen Menschen sehen, der Ihnen nahesteht!«
Und du stehst mir nahe? dachte sie. Zunehmend ging er ihr auf die Nerven. Sie hatte gesagt, er solle nicht kommen. Er hätte das akzeptieren müssen, ohne lange herumzulamentieren.
«Vielleicht will ich gar nicht unbedingt mein seelisches Gleichgewicht wahren. Vielleicht will ich das alles gar nicht allzulange durchstehen.«
Von der anderen Seite der Leitung folgte konsterniertes Schweigen. Dann sagte Bernhard:»Mag sein, daß ich auf dem Schlauch stehe, aber ich kapiere wirklich nicht, was das jetzt soll!«
Sie hätte ihm gerne gesagt, daß sie nicht vorhabe, ihm etwas zu erklären, und daß er keineswegs kapieren müsse, was in ihr vorging, aber sie wußte, daß sie sich als erste an ihn gewandt hatte. Ihn nun auf dem Hals zu haben war die Strafe, der sie sich nicht so einfach entziehen konnte.
«Bernhard, ich will einfach allein sein. Ich will nachdenken. Am Ende war es gar keine so gute Idee, mich zu verstecken, und eben das will ich herausfinden. Ich könnte das alles eine ganze Zeit aushalten, wenn ich Wochenende für Wochenende Menschen zu Besuch kommen ließe, die mich ablenken und aufmuntern, aber wo soll das am Ende hinführen? Ich habe das Versteckspiel so satt, Bernhard, können Sie das nicht verstehen? Immer stärker verspüre ich das Bedürfnis, statt dessen in die Offensive zu gehen. Mich Robert zu stellen und die Sache zu entscheiden.«
«Du lieber Gott, das sind aber höchst gefährliche Gedanken!«sagte Bernhard beunruhigt.»Soll ich nicht doch…«
«Nein!«entgegnete sie und legte den Hörer auf.
Am Abend rief sie ihn noch einmal an, um ihm zu sagen, es tue ihr leid, so schroff gewesen zu sein, aber er war beleidigt und nahm ihre Entschuldigung nur unwirsch entgegen. Sie war erleichtert: So gekränkt, wie er war, würde er nun keinesfalls am Wochenende überraschend vor der Tür stehen.
Wolfgang hatte angerufen. Er habe Carolin erklärt, daß aus dem geplanten Besuch nichts würde. Sie sei enttäuscht gewesen, habe aber Verständnis gezeigt für Leonas Gründe.
«Hältst du noch durch?«fragte er besorgt, und setzte tröstend hinzu:»Irgend etwas sagt mir, daß Jablonski der Polizei jetzt bald ins Netz geht!«
Und irgend etwas sagt mir, daß er das nie tun wird, dachte Leona, aber davon ließ sie nichts verlauten, sondern entgegnete:»Ich halte durch. Mach dir keine Gedanken.«
Sie fühlte sich stärker und besser als all die Tage vorher. An jenem Abend, da sie unverzeihlicherweise bei Bernhard Fabiani angerufen hatte, war sie an ihrem seelischen Tiefpunkt angelangt gewesen. Von da an war es bergauf gegangen.
Sie wußte genau, warum es ihr besserging: Tief in ihr reifte ein Entschluß.
Zart noch und unfertig, aber bereits nicht mehr umzustoßen.
Sie würde nicht mehr lange vor ihm weglaufen. Sie würde auf ihn zuschwimmen wie auf einen Hai.
In seiner Irritation mochte er einen entscheidenden Fehler machen.
Das Messer hatte meine Mutter damals in die Halsschlagader getroffen und diese zerfetzt. Gestorben ist sie an dem enormen Blutverlust. Der Krankenwagen traf zu spät ein, weil mein Vater in seiner Aufregung entweder die falsche Adresse gesagt oder die Dame am anderen Ende der Leitung die falsche Adresse verstanden hatte. Das konnte nie ganz geklärt werden. Jedenfalls traf und traf die Rettung nicht ein, und Mutter verblutete auf dem beigefarbenen Teppich im Wohnzimmer, während Vater eine ebenso hektische wie nutzlose Mund-zuMund-Beatmung probierte — das einzige, woran er sich aus seinem Erste-Hilfe-Kurs, der über zwanzig Jahre zurücklag, erinnerte. Ich legte Mamas Füße hoch, auf zwei Kissen, die ich übereinander stapelte, und massierte ihre Knöchel, während ich langsam panisch wurde beim Anblick des roten Sees, der sich um sie herum ausbreitete. Eva stand schreckensstarr in der Tür, blankes Entsetzen in den Augen, und stammelte unzusammenhängende Sätze.
Wir waren oben in unserem Zimmer gewesen, als der Krach lostobte, und zunächst hatten wir gedacht, alles werde ablaufen wie immer. Vater war zwei Tage und zwei Nächte nicht nach Hause gekommen. In der Nachbarschaft munkelte man, er sei mehrfach mit einer Studentin in der Stadt gesehen worden, eng umschlungen, und zu dieser Frau fahre er nun regelmäßig. Keine Ahnung, ob das stimmte, aber irgend etwas Ernsthaftes mit einer Frau lief sicher, denn er verschwand wieder sehr häufig zu dieser Zeit und war dann immer gleich für mehrere Tage fort. Diesmal hatte Mama mehr getrunken als sonst und schon im Vorfeld wüste Drohungen ausgestoßen.
«Ich mach’ ihn kalt«, hatte sie immer wieder gemurmelt, am Fenster im Wohnzimmer sitzend, eine Flasche Southern Comfort in der Hand.»Diesmal mach’ ich die Ratte kalt!«
Sätze dieser Art hatte sie schon öfter gesagt, nicht mehr und nicht weniger entschlossen als diesmal. Aber ihr Alkoholpegel lag wirklich höher als sonst, und ich erinnere mich, daß es zu einer Rangelei zwischen uns kam, als ich ihr die Flasche wegnehmen wollte. Ich war neunzehn damals, sehr groß und kräftig, aber ich hatte Hemmungen, sie wirklich hart anzupacken, und so gelang es mir nicht, ihr den Whiskylikör zu entreißen. Statt dessen zerrte sie mich an den Haaren und schrie, ich solle machen, daß ich wegkomme, und ich sei nicht besser als mein Vater. Ich überließ sie also dem Suff und ging zu Eva hinauf, um mit ihr gemeinsam zu überlegen, was wir uns diesmal wünschen sollten. Ich spekulierte auf ein Motorrad, aber Eva meinte, das könne ich mir abschminken,
das sei nun eindeutig zu hoch gegriffen. Tatsächlich war die Großzügigkeit unserer Eltern seit etwa eineinhalb Jahren rückläufig; vermutlich nahmen sie an, ihre lautstarken Auseinandersetzungen richteten in den Seelen einer Sechzehnjährigen und eines Neunzehnjährigen nicht mehr so viel Schaden an wie in denen kleiner Kinder.
Eva sagte, sie wolle ein Parfüm oder einen Lippenstift. Früher hatte sie sich Puppen gewünscht, dann Tiere (Hamster, Meerschweinchen oder ähnliches, was aber nie erfüllt wurde, da Mama sich einbildete, allergisch zu sein), dann war sie eine Weile hinter Büchern her gewesen, und nun also begann sie ihre Wirkung auf das andere Geschlecht zu entdecken und gierte nach Klamotten oder Schminke. Mir gefiel das gar nicht. Ich schaute sie zwar gern an, wenn sie sich so hübsch zurechtmachte, aber sie tat es nicht für mich, und das nagte an mir.
«Wozu brauchst du denn noch einen Lippenstift?«fragte ich.»Du hast doch schon gut ein Dutzend!«
«Lippenstifte kann man nie genug haben«, entgegnete Eva.
In dem Moment hörten wir, daß Vater kam.
Ich ging hinunter, um ihn an der Haustür abzufangen und ihm zu sagen, daß Mama auf hundertachtzig war, obwohl er sich das ohnehin denken konnte. Er sah unverschämt gut aus; unverschämt deshalb, weil er einen so schmerzhaften Kontrast bildete zu dem verquollenen, lallenden Wesen, das ihn im Wohnzimmer erwartete. Er war natürlich nüchtern, trug einen gutgeschnittenen Anzug und verströmte den dezenten Duft eines teuren Rasierwassers. Wo immer er gewesen war, er mußte sich vorwiegend im Freien aufgehalten haben, denn seine Haut hatte eine sehr attraktive leichte Bräune angenommen. Vielleicht hatte er mit seiner Geliebten einen Trip in den Süden unternommen. Ich dachte an Mamas geisterhafte Blässe und an ihren Gestank nach Fusel und Schweiß, und plötzlich tat sie mir schrecklich leid.
«Mama ist total hinüber«, sagte ich und machte mit der Hand eine Bewegung, als ob ich eine Flasche an den Mund setzte.
Vater seufzte.»Ich gehe zu ihr. Lauf du nach oben, ja?«
Ich ging nach oben zu Eva. Es folgten das übliche Geschrei und das Klirren von Gegenständen, mit denen Mama nach ihm warf. Ab und zu konnte man dazwischen Vaters beruhigende Stimme hören, aber meistens ging sie in Mamas Kreischen unter.
Aber dann war plötzlich Stille, eine richtig gespenstische Stille, und schließlich rief Vater, hektisch und offenbar tief erschrocken:»Tu das nicht, Ines! Leg das Ding weg! Bitte…«
Man hörte die Geräusche von umstürzenden Möbeln, dann schrie Mama, hell und schrill, dann war wieder Stille, und dann schrie Vater:»O Gott, bist du denn wahnsinnig geworden?«
«Da ist irgend etwas passiert«, sagte ich zu Eva und rannte auch schon die Treppe hinunter.
Unten sah ich Mama in ihrem Blut liegen, inmitten eines verheerend zugerichteten Zimmers, Vater kauerte neben ihr, völlig aufgelöst, und irgendwo zwischen zerbrochenen Schallplatten und den Scherben der Southern-Comfort-Flasche lag das große, scharfzackige Brotmesser, blutverschmiert, wie eine schaurige Requisite in einem Theaterstück.
«Einen Notarzt!«rief ich, und Vater erwachte aus seinem Schock und stürzte zum Telefon, wo es dann zu eben jenem tragischen Mißverständnis kam, das Mama ihre letzte Überlebenschance nahm — wobei, wie ein Arzt später versicherte, ihre Chancen ohnehin außerordentlich schlecht gestanden hatten.
Es gab eine polizeiliche Untersuchung des Falles, denn natürlich lag der Verdacht nahe, Vater habe den tödlichen Stich mit dem Messer geführt. Sowohl seine als auch Mamas Fingerabdrücke befanden sich auf dem Griff, aber das war nicht verwunderlich, denn Vater hatte, wie er erklärte, Mama das Messer aus den Händen gewunden, nachdem sie sich so schwer verletzt hatte. Nach seinen Angaben hatte sie das Brotmesser plötzlich vom Fensterbrett gegriffen, wo sie es offensichtlich schon bereitgelegt hatte, und war dann damit auf ihn losgegangen, habe wie verrückt und vollkommen unkontrolliert mit der Waffe herumgefuchtelt, sei gestolpert und in das Messer gestürzt, und dann habe er nur noch eine Blutfontäne gesehen und von Mama keinen Laut mehr gehört.
Vater saß einige Wochen in Untersuchungshaft, man unterstellte Fluchtgefahr, und ich dankte Gott, daß ich volljährig war und nicht in die Obhut irgendeiner Fürsorgerin geriet. Eva wurde erlaubt, bei mir zu bleiben, aber alle zwei Tage tanzte eine Tante vom Jugendamt an und sah nach, ob wir auch nicht verwahrlosten und unsere Hälse sauber wuschen. Da mir klar war, daß sie Eva beim ersten geringsten Verdacht auf eine Unregelmäßigkeit in ein Heim verfrachten würde, achtete ich penibel darauf, daß das Haus stets blitzblank geputzt war, im Kühlschrank ausreichend gesunde Nahrungsmittel lagerten, Eva jeden Morgen pünktlich zur Schule ging und ihre Schularbeiten sorgsam erledigte.
Natürlich begehrte sie gegen meine Reglementierungen auf, aber das Stichwort Heim genügte meist, sie wieder unterwürfig werden zu lassen. Nur einmal kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen uns beiden, als ich sie zwang, ihre Schminke abzuwischen und Jeans anzuziehen anstelle des Minirocks, den sie trug.
«Ich denke ja nicht daran!«schrie sie.»Du hast mir gar nichts zu befehlen! Es reicht, daß du mich von morgens bis abends mit allem anderen tyrannisierst, aber an meinem Aussehen wirst du nichts verändern!«
«Schau nur mal in den Spiegel«, versetzte ich.»Du siehst aus wie ein Strichmädchen. Was glaubst du, auf welche Gedanken die alte Schrulle kommt, wenn du so vor ihr herumhüpfst! Die meint doch, du besserst auf unsittliche Art dein Taschengeld auf! Du bist schneller im Heim, als du bis drei zählen kannst, verlaß dich drauf!«
«Sie ist überhaupt keine alte Schrulle! Und wahrscheinlich ist sie nicht halb so prüde wie du!«
«Du kannst es ja darauf ankommen lassen!«
«Das werde ich auch.«
Sie starrte mich trotzig an, aber ihre Lippen zitterten ein wenig, ein Zeichen, daß sie sich nicht so sicher fühlte, wie sie sich gab. Ich packte sie an Arm und Schulter und stieß sie vor mir her ins Bad. Sie schrie und wehrte sich, aber sie hatte keine Chance. Ich riß ein Bündel Toilettenpapier von der Rolle und wischte ihr damit das bemalte Gesicht ab, wobei ich ihr natürlich weh tat — was ich genoß. Ihre Haut wurde brennend rot unter dieser groben Behandlung, und sie sah grotesk aus mit der nun quer über die Wangen verschmierten Farbe.
«Zieh diesen verdammten Fetzen aus!«befahl ich und wies auf das schwarze Nichts von einem Rock, das sie trug.
Ich glaube nicht, daß sie noch den Mut hatte, sich dieser Aufforderung zu widersetzen, aber sie kam ihr jedenfalls nicht schnell genug nach, und schon zerrte ich ihr das lächerliche Kleidungsstück einfach vom Leib. Kann sein, der Stoff zerriß sogar dabei. Darunter sah sie anrührend keusch aus in einem mädchenhaften, kleinen weißen Slip mit himmelblauen Streublumen darauf. Ihr T-Shirt war so kurz, daß es ihren Bauch freiließ.
Ich starrte sie an, und sie senkte die Augen. So standen wir eine ganze Weile, bis ich das Schweigen brach und sie anfuhr:»Herrgott, jetzt zieh dir endlich etwas Anständiges an!«
Sie rannte aus dem Bad und knallte ihre Zimmertür hinter sich zu, und ich hob den Rock auf, trug ihn hinaus und stopfte ihn zuunterst in die Mülltonne. Als die Sozialarbeiterin zwei Stunden später aufkreuzte, erschien Eva in Jeans und einem XXL-Sweatshirt darüber, ohne ein Gramm Farbe im Gesicht, die Haare zu einem Zopf geflochten. Die Schrulle war glücklich, weil alles so unheimlich solide wirkte.
Aber hinter ihrem Rücken warf Eva mir ganz eigentümliche Blicke zu; Blicke, die weder gekränkt noch wütend schienen, sondern eine Art von Triumph ausdrückten, dessen Ursache ich mir nicht erklären konnte. Ich hatte sie gedemütigt, und nun verhielt sie sich, als habe sie irgendeinen Sieg über mich errungen oder sei sich einer Waffe bewußt geworden, die sie zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich gegen mich in der Hand hielt. Die Blicke gingen mir jedenfalls durch und durch, und ich bin überzeugt, für alles, was später geschah, war dieses höhnische Blitzen in ihren Augen verantwortlich, mit dem sie mich heimlich bedachte, während die komplett von uns eingewickelte Sozialarbeiterin ungläubig die Ordnung in allen Schränken und die saubere, im Garten auf einer Leine trocknende Wäsche bestaunte. Eva hatte übrigens recht: Sie war nicht alt. Mitte Dreißig vielleicht. In meinen neunzehnjährigen Augen natürlich schon fast jenseits von Gut und Böse. Aber abgesehen von meinen gleichaltrigen und quietschblöden Klassenkameradinnen war sie die erste erwachsene Frau, bei der ich merkte, welche Wirkung ich auf Angehörige des weiblichen Geschlechts hatte. Eva gegenüber trat sie unheimlich cool und souverän auf, aber bei mir wurde sie nervös und hatte ein schrilles Kieksen in der Stimme. Wenn ich ihr direkt in die Augen sah, wurde sie rot. Ich hätte sie gern noch etwas länger gereizt und verunsichert, aber nach ein paar Wochen kam Vater aus der U-Haft zurück, und die Schrulle verschwand für immer von der Bildfläche.
Warum schreibe ich das alles auf? Aus Langeweile? Nicht nur. Die Vergangenheit bricht aus mir heraus, wann immer ich an irgendeiner Stelle auch nur zaghaft zu graben beginne. Wenn man einmal die Schleusen geöffnet hat, versiegt der Strom nicht mehr. Und während ich hier sitze und das Haus meines Feindes beobachte, habe ich jede Gelegenheit niederzuschreiben, was mir so in den Sinn kommt.
Noch in jenem Gartenhaus, das mir, gegenüber von Leonas Haus, zu einer Art zweiter Heimat geworden war, hatte ich mir eine Liste mit Namen gemacht; Namen der in Frage kommenden Personen, die Leona in ihrem Exil aufsuchen könnten. Wolfgang schrieb ich gar nicht erst auf, sondern notierte nacheinander alle Mitglieder ihrer Familie: Julius, Elisabeth, Olivia, Paul, Carolin, Benjamin. Nachdenklich betrachtete ich die Namen.
Leona ist ein Familienmensch. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie nach einem der Ihren verlangen wird, ist groß. Das Haus in Lauberg zu beschatten hätte einen Vorteil: Man bewacht ein Haus und damit auf einen Schlag sechs Personen. Andererseits mochte hier genau der» Wolfgang-Effekt «eintreten: Die Familie rechnet damit, daß ich sie im Auge behalten werde. Möglicherweise würde keiner von ihnen Kontakt aufnehmen. Vielleicht sind sie nicht einmal alle eingeweiht; der nichtsnutzige Benjamin sicher nicht, die hysterische Olivia womöglich auch nicht.
Arbeitskollegen? Freunde? Leona versteht sich recht gut mit ihren Kollegen, aber es gibt, soweit ich weiß, niemanden dort, zu dem sie ein besonderes Vertrauensverhältnis hat. Sie hat auch keine spezielle Busenfreundin, das hätte ich erfahren in den Monaten mit ihr. Im übrigen — wenn es sie gäbe und wenn ich davon wüßte, würde sie von Leona als gefährdet und gefährdend eingestuft und wäre damit aus dem Rennen.
Nachdenklich malte ich den Namen Lydia auf meinen Zettel. Sie hatte Leonas Freundschaft gesucht, war Leona aber, wie den meisten Menschen, hauptsächlich auf die Nerven gegangen. Freiwillig würde Leona ihre Gesellschaft wahrscheinlich nicht einmal in ihrer derzeitigen Lage suchen. Abgesehen davon ist Lydia nicht besonders gescheit und ziemlich geschwätzig. Sie in Leonas momentanen Aufenthaltsort einzuweihen hieße, ihn ebensogut gleich in der Zeitung annoncieren zu können.
Trotzdem zog ich einen Kreis um Lydias Namen, denn eine innere Stimme sagte mir, sie könne noch irgendeine Bedeutung haben für mich — auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht wußte, welche.
Ich zermarterte mir weiterhin das Hirn. Mir kam Leonas ominöser Lover in den Sinn, der, den ich in ihrer Küche zusammengeschlagen hatte. Falls er überhaupt noch lebt, ist er mit Sicherheit nicht in der Lage, irgend jemanden zu besuchen, der arme Tropf. Ein Schädelbasisbruch dürfte das mindeste sein, was er davongetragen hat. Ich kannte seinen Namen nicht, aber das Wort Liebhaber brauchte ich gar nicht erst auf meine Liste zu schreiben.
Aber der Begriff löste dennoch etwas in mir aus — einen Gedankengang, der mir unbegreiflicherweise bisher nicht gekommen war. Wer ist der skrupelloseste, unverfrorenste Verführer, den ich kenne? Ich starrte durch die Blüten vor meinen Augen auf die Straße hinaus, ohne den Asphalt, die parkenden Autos, Leonas Wohnzimmerfensterscheibe gegenüber zu sehen.
Was ich statt dessen vor mir sah, war das Gesicht von Professor Bernhard Fabiani.
Bernhard Fabiani ist weiß Gott der Mensch, den ich auf der ganzen Welt am meisten hasse. Er hat Eva in den Tod getrieben, nachdem er zuvor so getan hatte, als könne er nicht leben ohne sie. Eva ist auf sein Getue natürlich ohne Umschweife hereingefallen. Sie hatte leider, obwohl sie sonst eine kluge Frau war, eine sentimentale Ader. Rosensträuße und Candlelight-Dinner waren ein unfehlbarer Weg zu ihrem Herzen. Das hatte Fabiani natürlich schnell raus und wandte es zielgerichtet an.
Bernhard Fabiani ist ein Jäger. Seine Beute sind Frauen, und er ist hinter ihnen her wie ein Süchtiger nach der Flasche oder der nächsten Spritze. Er konnte nicht aufhören, er konnte nicht genug bekommen. Eva ist durch die Hölle gegangen mit ihm, was mich insoweit freute, als ich es ihr immer prophezeit hatte und dann gründlich recht behielt. Die Art, wie er sie umwarb, war so glatt und routiniert, daß mir klar wurde, hierin hat er extrem viel Übung. Vermutlich tut er Tag für Tag nichts anderes, als verschiedene Frauen anzubaggern. Aber Eva war taub auf diesem Ohr, und so mußte sie ihre Erfahrungen am eigenen Leib machen — leidvoll und letzten Endes mit tragischem Ausgang.
Als Leona mir erzählte, Bernhard sei auf ihrem Anrufbeantworter gewesen, war mir sofort klar, woher der Wind wehte. Schon an jenem Abend in Evas Wohnung hatte ich gemerkt, daß er sie auf genau die gleiche Weise ansah, auf die er auch Eva anfangs ins Visier genommen hatte. Und dann weiß ich auch von einem späteren Treffen zwischen ihm und Leona. Glücklicher Zufall: Ich trieb mich vor dem Verlag herum, kurz nach unserer Trennung war das, und sie kam heraus, und anstatt zu ihrem Auto zu gehen, überquerte sie die Straße in Richtung U-Bahn. Also wollte sie nicht nach Hause, sondern vermutlich in die Stadt, wo es mit dem Auto immer Parkplatzprobleme gibt. Meine Chance; ich hastete hinterher, sprang einen Waggon hinter dem ihren in die Bahn und erwischte sogar den Moment, an dem sie an der Hauptwache ausstieg und in einem Menschenstrom auf der Rolltreppe nach oben schwamm. Ich schaffte es gerade noch, ebenfalls hinauszuspringen und mich an sie zu heften. Sie steuerte schnurstracks auf das Mövenpick zu, verschwand darin für eine schier endlose Zeit, und als sie endlich wieder herauskam, hatte sie Fabiani im Schlepptau, und ich dachte: Sieh mal an! Der Kerl hat es wieder geschafft!
Er lächelte sie charmant an, aber ich, der ich ihn kenne, sah das triumphierende Grinsen eines Siegers hinter diesem Lächeln. Er war in dem Moment überzeugt, einen neuen Goldfisch an der Angel zu haben.
Und Leona… Sie war zumindest viel besserer Stimmung als zuvor. Sie wirkte nicht mehr so angespannt. Ihr Lachen war gelöst, und sie sah für ein paar Momente einmal nicht so aus, als wälze sie einen Haufen dicker Probleme hinter der Stirn. Das machte sie sehr attraktiv.
Ich sagte zu mir: Ruhig Blut, Robert! Sie hat nichts mit ihm. Garantiert nicht. In ihrer augenblicklichen Verfassung bindet sie sich an niemanden. Sie hat Angst und ist innerlich völlig ausgebrannt. Es wird dauern, ehe sie wieder eine Beziehung eingehen kann.
Das war nicht nur dahingesagt. Ich war überzeugt, die Lage richtig einzuschätzen. Aber ebenso sicher war ich auch, daß Fabiani entschlossen war, sie zu erobern, daß er auf die Zeit setzte und daß er nicht zweifelte, am Ende erfolgreich zu sein.
Ich schrieb Bernhard Fabianis Namen auf meine Liste. Ich übermalte die Buchstaben dreimal, bis sie mir fettgedruckt wie eine Provokation ins Auge sprangen. Ich unterstrich den Namen, und drückte dabei so fest mit dem Kugelschreiber auf, daß das Papier riß.
Ich wußte in dieser Sekunde, daß ich den Mann gefunden hatte, der mich zu Leona führen würde.
Und deshalb habe ich meinen Platz gegenüber Leonas Haus verlassen. Der Abschied fiel mir schwer. Ich hatte mich an mein Gebüsch gewöhnt, an den Schuppen, an das schweigende Haus hinter mir, an die junge Frau, die jeden Morgen dort hineinging und dabei immer so ernst und freudlos aussah. Sie war eine gute Bekannte geworden. Wie schnell schlägt der Mensch Wurzeln?
Am schlimmsten war es, Leonas Haus, ihrem Garten Lebewohl zu sagen. Solange ich ihre Fenster sah, ihre Blumen entlang des Weges, ihre Garage, von der ich wußte, daß ihr Auto darin parkt — solange waren wir nicht wirklich getrennt. Ein unsichtbares Band verlief zwischen uns, über die Dinge, die zu ihrem Leben gehören und an denen ihr Herz hängt.
Nachts schlafe ich jetzt, zusammengerollt und stinkend wie ein Penner, auf der Bank eines Bus-Wartehäuschens, das sich wenige Meter entfernt von dem Haus befindet, in dem Bernhard Fabiani wohnt. Tagsüber drücke ich mich auf dem Friedhof gegenüber herum. Die sichere Abgeschlossenheit eines stillen Gartens habe ich nicht mehr. Ich muß sehr vorsichtig sein, ein paar Mal haben mich andere Friedhofsbesucher schon mißtrauisch angeschaut. Ich falte dann die Hände und starre andächtig auf ein Grab, in dem ein Kind ruht. 1970–1973. Der Gedanke an die Überreste eines so kurzen Lebens, die unter der Marmorplatte ruhen, berührt mich nicht. Mein Herz ist kalt, mein Gemüt von nichts anderem durchdrungen als von völliger Entschlossenheit. Irgendwann wird er Leona aufsuchen. Er wird sich diese Chance nicht entgehen lassen. Sie ist allein. Sie hat Angst. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll. Kann sein, es wird nie wieder einen Moment geben in ihrem Leben, da sie seine starken Schultern so zu schätzen weiß.
Er verläßt sein Haus jeden Morgen. Aber nie mit Gepäck. Zu Leona wird er wenigstens eine Reisetasche mitnehmen, denn wo sie auch ist — er wird planen, mindestens eine Nacht dort zu verbringen. Solange er ohne Reisetasche oder Koffer herauskommt, fährt er in die Universität, nicht zu ihr. Aber wenn es soweit ist, werde ich dasein.
Es war wieder Sonntag. Der Tag, den Lydia die ganze Woche über bereits fürchtete. Das Alleinsein schmerzte immer, mittwochs und freitags ebenso wie dienstags und donnerstags. Im Grunde machte es keinen Unterschied für sie, wenn das Wochenende kam, und doch warf sich die besondere sonntägliche Stille stets mit einer Gewalt über sie, daß sie nach Luft schnappte. Am Sonntag brach alles auf: die Sehnsucht nach einem Partner, mit dem man über die vergangene Woche plaudern und für die kommende planen konnte. Der Gedanke an Kinder, die, Teenager bereits, übernächtigt von ihren samstäglichen Diskoausflügen zum Frühstück geschlurft kämen und die man in ihrem Liebeskummer trösten oder derer Schulnoten wegen man sich aufregen könnte. Gemeinsame Überlegungen, wie man den Tag zu verbringen gedachte. Wünsche der Familie, was es zum Mittagessen geben sollte. Wie gern hätte sie sich hingestellt und für eine hungrige Schar gekocht. Wie gern hätte sie für sie alle die Wäsche gewaschen, die Betten bezogen und über die Unordnung in ihren Zimmern gejammert.
Sie fragte sich, ob andere Leute etwas zu verstehen vermochten von der Leere, die sie ausfüllte wie ein großer Klumpen Watte. Die Leere war von einer Stille, die in den Ohren dröhnte. Es erstaunte Lydia immer wieder, wie laut die Stille sein konnte. Sie hatte sich vor ihr schon die Ohren mit beiden Fäusten zugehalten und war wimmernd über dem Küchentisch zusammengebrochen, panisch vor dem Abgrund, der sich vor ihr auftat, der schwarz war und kalt und der ihr Leben war.
An diesem Maisonntag nun ging es ihr besser, was aber nicht mit dem sonnigen Sommerwetter draußen zusammenhing. Für gewöhnlich verstärkte der Sonnenschein ihre Depression sogar noch, denn er machte die Diskrepanz zwischen ihrem Schattendasein und der Lebendigkeit draußen noch deutlicher. Heute, an diesem Tag, wußte sie jedoch, daß zwar ein üblicher langer, einsamer Sonntag vor ihr lag, daß aber der nächste Sonntag besser sein würde.
Es hatte sich Besuch angesagt!
Lisa Heidauer war ihr von einem Kommissar aus Bayern angekündigt worden. Hülsch hieß er und hatte am vergangenen Freitag angerufen. Sie hatte sich sofort gedacht, daß es um Robert Jablonski ging. Seinetwegen hatte die Frankfurter Polizei schon zweimal bei ihr vorgesprochen, ohne daß sie irgendeinen sachdienlichen Hinweis hatte geben können, und sie hatte schreckliche Dinge über ihn in der Zeitung gelesen, die sie kaum glauben mochte.
Als nun Hülsch sich als Polizist vorstellte, fragte sie sofort:»Gibt es etwas Neues wegen Robert Jablonski?«
Etwas überrascht hatte Hülsch entgegnet:»Nein — eigentlich nicht. Aber mein Anruf hat mit ihm zu tun.«
Dann hatte er erklärt, daß die Schwester eines Mordopfers von Jablonski den dringenden Wunsch geäußert habe, Kontakt aufzunehmen mit einem Menschen, der Jablonski gekannt habe und Auskunft über seine Person geben könne.
«Der ermittelnde Kollege von der Kripo Frankfurt nannte mir Ihren Namen. Ich wollte Sie nun fragen, ob ich Ihren Namen und Ihre Telefonnummer an Frau Heidauer weitergeben kann. «Er hatte sich unbehaglich angehört, so als empfinde er sich selbst als aufdringlich und als verstoße er mit diesem Anruf gegen seine Prinzipien.
«Natürlich können Sie sich das in aller Ruhe überlegen… Es ist keineswegs üblich, daß ich solche Geschichten in die Wege leite«, hatte er hinzugefügt,»aber Lisa Heidauer ist sehr mitgenommen von den Geschehnissen, und da wollte ich nicht…«
Er ließ offen, was er nicht gewollt hatte, und wartete auf eine Antwort.
Lydia sagte so schnell zu, daß er sich ganz perplex verabschiedete.
Am darauffolgenden Tag, am gestrigen Samstag, hatte dann Lisa Heidauer selbst angerufen. Eine junge, sehr hübsche Stimme. Sie hatte gefragt, ob sie Lydia am folgenden Wochenende besuchen dürfe.
«Ich könnte Samstag mittag dasein. Ich würde in einem Hotel übernachten, wir könnten vielleicht noch Sonntag vormittag reden, und am Nachmittag würde ich zurückfahren nach München.«
Ein Geschenk des Himmels!
Samstag abend könnten wir ausgehen, dachte Lydia und merkte, daß ihre Wangen zu glühen begannen in der Vorfreude; wir könnten irgendwo etwas essen und einen Wein trinken. Sonntags werde ich sie natürlich zum Frühstück einladen. Ich werde Rühreier machen, Toastbrot, Schinken. Sie soll sich wohl fühlen bei mir.
Es war typisch für Lydia, daß sie den eigentlichen Anlaß für Lisas Besuch schon fast wieder vergessen, zumindest gründlich verdrängt hatte. Ihre private Misere, das Problem des Alleinseins, hatte einen so dominanten Stellenwert in ihrem Denken und Fühlen, daß daneben kaum noch Platz war für andere Überlegungen. Sie machte sich nicht wirklich klar, daß sie jene Lisa Heidauer nicht kannte und daß keineswegs gewährleistet war, sie würden sich gut verstehen. Sie zog nicht in Erwägung, daß Lisa vielleicht nicht im geringsten der Sinn stand nach Ausgehen, Wein trinken, gemütlichem Frühstück. Lisa kam, weil sich eine Katastrophe in ihrem Leben ereignet hatte. Lydia suchte nach einer Gesellschafterin. Und Robert Jablonski war der einzige gemeinsame Berührungspunkt in ihrer beider Leben.
Von einer trügerischen Vorfreude ergriffen, fühlte sich Lydia also an diesem Sonntag nicht so traurig und allein wie sonst. Sie frühstückte ausgiebig und gönnte sich sogar zum Abschluß einen Piccolo, in seliger Erinnerung an Eva, für die dies zu einem Sonntagmorgen gehört hatte.
Der Sekt machte sie noch munterer, und als sie hinausschaute in den herrlich blühenden Mai, überlegte sie sogar, ob sie nicht zu einem Spaziergang aufbrechen sollte. Für gewöhnlich ging sie am Wochenende nie spazieren, da sie den Anblick von Paaren und Familien in Straßen und Parks nicht ertrug. Heute schien es ihr, als habe sie die Kraft dazu. Sie sah auf die Uhr. Gleich halb eins. Eigentlich könnte sie aufbrechen. Sie mußte sich nur noch anziehen, denn sie war immer noch im Bademantel.
Gerade als sie die Tür ihres Kleiderschranks im Schlafzimmer öffnete, klingelte es.
Unter der Woche kam manchmal der Postbote oder der Stromableser oder ein Hausierer oder ein Zeuge Jehovas. Aber am Sonntag klingelte es nie, und daher erschrak Lydia und zog die Hände von ihrem Kleiderschrank zurück, als sei sie gerade im Begriff gewesen, etwas Unanständiges zutun.
Wer mochte das sein, um Himmels willen?
Sie schaute an sich hinunter. Konnte sie so die Tür öffnen? Nichts dabei, entschied sie, ein Bademantel ist korrekt. Etwas peinlich zwar, mittags noch nicht angezogen zu sein, aber am Sonntag durfte man sich das erlauben.
Im Flur strich sie sich noch kurz über die Haare — wie alt ich aussehe, dachte sie — und nahm dann den Hörer der Sprechanlage ab.»Ja, bitte?«
Es folgte keine Antwort, aber ein Scharren vor der Tür verriet ihr, daß ihr Besucher bereits im Haus war. Während sie noch überlegte, wie ihm das geglückt sein mochte, öffnete sie.
Robert Jablonski drückte sich sofort in die Wohnung hinein. Mit ihm kam eine Woge von Gestank — tagealter Schweiß, der unverkennbare Geruch von allzu lange nicht gewaschener Haut und fettigen Haaren.
«Hallo, Lydia«, sagte er und lächelte.
Lydia war nicht einmal so erschrocken, wie sie — das kam ihr später in den Sinn — hätte sein müssen. Es war eher Überraschung, was sie erfüllte, als er plötzlich vor ihr stand. In ihrer Vorstellung war er nie wirklich zu dem Gewaltverbrecher geworden, als den man ihn ihr präsentiert hatte. Sie kannte ihn zu lange, empfand ihn, auch durch Evas Erzählungen, als vertraut. In diesem Moment machte sie sich keineswegs augenblicklich klar, daß sie einen Mann in ihrer Wohnung hatte, gegen den ein Haftbefehl wegen zweifachen Mordes und versuchten Totschlags lief.
«Wie sind Sie denn hereingekommen?«fragte sie erstaunt.
Mit den gespreizten Fingern strich er sich die etwas zu langen, dunklen Haare aus dem Gesicht.»Ich habe mir einen Schlüssel behalten von Eva, damals nach dem Verkauf der Wohnung.«
Ein eigentümliches Frösteln breitete sich in Lydia aus.»Aber warum haben Sie nicht einfach geklingelt?«
Er musterte sie freundlich.»Hätten Sie mich hereingelassen?«
«Das habe ich hier oben ja auch getan.«
«Weil Ihnen keine Zeit zum Überlegen mehr blieb. Ich hätte von der unteren Haustür einen recht weiten Weg zurückzulegen gehabt, und in dieser Zeit wäre Ihnen vielleicht eingefallen, es könnte besser sein, sich vor mir zu verbarrikadieren.«
Lydia schluckte. Sie zog ihren Bademantel am Hals enger zusammen.
«Ich wollte gerade fortgehen. Einen Spaziergang machen«, sagte sie gepreßt.
Warum stank der Kerl so? Er sah aus, als habe er im Freien genächtigt. Dazu der verwahrloste, stoppelige Bart, die Ringe unter den Augen, die kranke, bleiche Gesichtsfarbe… niemals vorher hatte sie ihn so erlebt.
«Ihren Spaziergang werden Sie verschieben müssen«, erklärte er, ohne daß sein Lächeln die Wärme, seine Stimme die Freundlichkeit verloren hätten. In Lydia begann sich die Erkenntnis breitzumachen, daß er wirklich gefährlich war und daß sie aufhören sollte, in ihm Evas netten großen Bruder zu sehen.
Was mache ich jetzt, was mache ich jetzt, überlegte sie fieberhaft. Sie hatte den Eindruck, daß er genau bemerkte, wie das Entsetzen in ihr Fuß faßte, und daß er es genoß. Aber er konnte nichts gegen sie haben, oder? Sie hatte ihm nie etwas getan. Und sie war die beste Freundin seiner verstorbenen Schwester gewesen. Warum sollte er ihr etwas antun wollen?
Sie dachte, daß sie vielleicht am besten wegkäme, wenn sie sich arglos und naiv stellte.
«Auf jeden Fall freut es mich, Sie einmal wiederzusehen, Robert. «Ihre Stimme hörte sich merkwürdig an, fand sie, hoffentlich entging Robert dieser Umstand.
«Wir haben uns ja seit… seit Evas Beerdigung nicht mehr gesehen. Sie fehlt mir so. Sie glauben nicht, wie sehr!«
Er hatte die Wohnungstür sehr nachdrücklich hinter sich geschlossen.
«Willst du mich nicht ins Wohnzimmer bitten, Lydia?«fragte er.
Sie hatten einander nie geduzt. Lydia überlegte, ob sie es als gutes oder schlechtes Zeichen werten sollte, daß Robert nun plötzlich damit anfing. Ihr gefiel sein unveränderliches Lächeln nicht. Ihr Frösteln ging in heftiges Frieren über.
«Natürlich. Kommen Sie ins Wohnzimmer«, sagte sie folgsam und wollte ihm den Vortritt lassen, aber er bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sie solle vorangehen.
«Nach dir, Lydia!«
Sie hatte den Eindruck, ihr stünden alle Haare zu Berge, als sie vor ihm herging. Ihre Kopfhaut spannte und kribbelte. Plötzlich meinte sie eine aggressive Bewegung hinter sich zu spüren, er hob vielleicht schon das Messer… In Panik fuhr sie herum.
«Was ist denn?«fragte er lächelnd.
Er hielt weder ein Messer in den Händen, noch hatte er sich offenbar hastig bewegt. Obwohl Lydia nach wie vor fror, brach ihr überall am Körper der Schweiß aus.
«Nichts«, wisperte sie.
«Was sollte auch sein?«fragte Robert.
Als sie ins Wohnzimmer trat, erkannte Lydia ihre Chance. Eine winzige Chance nur, aber vielleicht die einzige, die sie überhaupt hatte. Die Glastür, die auf den Balkon hinausführte, stand offen, der warme Wind bauschte die Gardinen. Der Balkon ging zwar nach hinten hinaus, nicht zur Straße, aber vielleicht saßen Nachbarn draußen, die sie hörten, wenn sie hinausrannte und schrie.
Sie machte einen entschlossenen Satz zur Tür hin, schneller, als es ihr irgend jemand zugetraut hätte. Sie erreichte die Tür, aber sie war, trotz allem, nicht schnell genug gewesen. Robert war bei ihr, ehe sie einen Fuß nach draußen setzen, ehe ihre Lippen sich zum Schrei formen konnten. Seine kräftigen Finger umschlossen ihren Hals.
«Einen Laut«, sagte er leise,»nur einen einzigen Laut, und du bist bei deiner geliebten Eva. Hast du das verstanden?«
Sie konnte ihn nur aus weit aufgerissenen Augen anstarren.
«Ob du das verstanden hast?«wiederholte er und schüttelte sie leicht. Seine Hände hielten sie wie in einem Schraubstock.
Sie versuchte zu nicken und gab dabei ein würgendes Geräusch von sich. Zu ihrer Todesangst gesellte sich Übelkeit, die von seinem Gestank herrührte. Ob er sie töten würde, wenn sie ihm über seine verdreckten Sachen kotzte?
Er ließ sie urplötzlich los und stieß sie dabei von sich. Sie stolperte über ihre eigenen Füße und fiel halb über einen Sessel, der im Weg stand. Während sie sich noch aufrichtete und ihren verrutschten Bademantel geradezuziehen versuchte, schloß Robert die Balkontür.
«Du solltest nicht dumm sein, Lydia«, sagte er,»du solltest mich nicht ärgern. Ich befinde mich in einer schwierigen Situation. Ich kann keinen Ärger gebrauchen.«
Sorgfältig zog er die Gardinen zu. Dann bemerkte er den noch nicht abgedeckten Frühstückstisch.
«Ich habe Hunger. Setz dich zu mir, Lydia. Wir wollen etwas essen.«
Zitternd kam sie seiner Aufforderung nach. Sie setzte sich ihm gegenüber und sah zu, wie er sich Butter und Marmelade auf ein Brötchen strich. Er hielt ihr seine — ihre — Tasse hin.
«Kaffee!«
«Der Kaffee ist kalt inzwischen«, murmelte sie.
«Das macht nichts. So wie ich gelebt habe in den letzten zwei Wochen — da erscheint einem selbst kalter Kaffee noch als reiner Luxus. Außerdem wirst du mir nachher einen frischen, heißen machen, nicht wahr?«
«Ja«, flüsterte sie.
Er aß mit großem Appetit sein Brötchen, griff dann nach einem zweiten. Sein Gestank erfüllte inzwischen das ganze Zimmer, aber das merkte er entweder nicht, oder es störte ihn nicht.
Unvermittelt fragte er:»Wie ist es — hast du eigentlich dein Auto noch?«
Lydia empfand die Frage als so überraschend, daß sie zunächst völlig perplex reagierte.
«Was?«
«Dein Auto. Du hattest doch immer eines. Gibt es das noch?«
«Ja. Ja, natürlich.«
«Dürfte ich es mir ausleihen?«
Angesichts der Tatsache, daß er fünfzehn Minuten zuvor gedroht hatte, sie umzubringen, klang diese Frage nun fast grotesk höflich.
Lydia schöpfte Hoffnung, auch wenn sie wußte, seine Bitte war rein rhetorischer Natur; er würde sich das Auto nehmen, ob sie einwilligte oder nicht. Aber vielleicht war es wirklich nur das, was er wollte, weswegen er hier war. Sowie er das Auto hatte, würde er verschwinden und sie in Ruhe lassen.
«Selbstverständlich können Sie das Auto haben«, sagte sie eifrig und stand auf.»Ich hole Ihnen gleich den…«
«Hinsetzen!«befahl er, ohne sie anzublicken.»So schnell schießen die Preußen nicht!«
Eingeschüchtert sank sie wieder auf ihren Platz. Er nahm den letzten Bissen, wischte sich die Krümel vom Kinn.
«Ich muß mich erst wieder menschlich herrichten«, erklärte er.»Ein Schaumbad wäre, denke ich, das richtige. Wo steht deine Waschmaschine?«
«Im Bad.«
«Sehr gut. Im Keller wäre es sehr schwierig geworden. Vielleicht könnte es auch nichts schaden, wenn ich mir die Haare etwas schneide. Was meinst du?«
«Das könnte nicht schaden«, wiederholte sie wie eine folgsame Schülerin, während sich die Gedanken in ihrem Kopf jagten. Er wollte baden? Wäsche waschen? Sich die Haare schneiden? Was sollte sie in dieser Zeit tun? Hier sitzen und warten, bis er fertig war? Wenn er in seinem Schaumbad saß, hatte sie jede Gelegenheit der Welt, sich auf und davon zu machen.
Fünf Minuten später hatte sie die Antwort auf alle unausgesprochenen Fragen. Gefesselt und geknebelt, zusammengeschnürt zu einem unbeweglichen, stummen Paket lag sie auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer, hilflos wie ein gestrandeter Fisch, und hörte, wie Robert Jablonski im Bad nebenan fröhlich vor sich hin pfiff.
Ich sitze in Lydias gepflegtem Wohnzimmer am Eßtisch und schreibe. Das Frühstücksgeschirr habe ich zur Seite geschoben, aber ab und zu tunke ich einen Löffel in die Aprikosenmarmelade und lecke ihn dann genießerisch ab.
Ich hatte ja keine Ahnung, wie sehr ich die Zivilisation vermißt habe! Es ist ein herrliches Gefühl, frisch gebadet zu sein, sich sauber zu fühlen am ganzen Körper. Ziemlich dilettantisch, aber eigentlich gar nicht so schlecht, habe ich mir die Haare geschnitten, sie natürlich auch gewaschen und dann gefönt, und nun glänzen sie wie dunkelbraune Seide. Ich habe mich rasiert und sehe wie ein neuer Mensch aus. Allmählich nähere ich mich dem Zustand, in dem ich es wagen kann, vor Leona hinzutreten, ohne dabei zu riskieren, daß sie umfällt vor Schreck. Ich fürchte allerdings, erschrecken wird sie so oder so, aber wenigstens nicht wegen meines Aussehens. Das würde mich in meiner Eitelkeit doch schwer kränken.
Meine Kleider trocknen in der Sonne auf dem Balkon. So warm, wie es heute ist, kann ich sie bestimmt abends schon wieder anziehen. Zweimal bin ich bereits hinausgegangen, habe meine Nase in den Stoff gedrückt und den herrlichen Geruch des Waschpulvers geatmet. Im Augenblick könnte ich in schönen Dingen förmlich ertrinken, endlich befreit von dem Pennergestank, der mich tagelang umgab. Ich habe sogar Lydias Deostift benutzt, trotz der femininen Duftnote. Morgen werde ich mir einen eigenen kaufen. Und ein schönes Aftershave und frische Wäsche. Und was mir noch so einfällt. Ich habe Lydias Handtasche umgestülpt. Immerhin fast fünfhundert Mark hat sie im Geldbeutel und — was noch besser ist — ihre Scheckkarte. Die Geheimnummer wird sie mir verraten, da bin ich sicher, wenn ich ihr sage, daß ich sonst wiederkomme und was ich dann mit ihr mache.
Ich habe sie mit den Wäscheleinen, die über der Badewanne gespannt waren, gefesselt; so gründlich, daß sie sich garantiert nicht wird befreien können. Ich habe ihr Heftpflaster kreuz und quer über den Mund geklebt und mit einem Mullverband, der sich mehrfach um den Kopf herumwindet, verstärkt. Sie liegt auf dem Sofa und schwitzt vor Angst. Ihre Augen quellen hervor, und sie stößt eigenartige Kehlkopflaute aus. Irgend etwas will sie mir wahrscheinlich sagen, aber, ehrlich gesagt, das interessiert mich im Augenblick überhaupt nicht. Das Gegurgele nervt mich nur etwas. Wenn sie nicht bald damit aufhört, schaffe ich sie ins Schlafzimmer und lasse sie dort allein.
Als ich vorhin nach dem Baden wieder ins Wohnzimmer kam, mit nichts bekleidet als einem Handtuch um die Hüften, da bekam sie ein hysterisches Flackern in den Augen und wurde kalkweiß. Ob sie schon jemals einen halbnackten Mann gesehen hat? Ich nehme an, sie fürchtete, ich wolle sie vergewaltigen. Eher würde ich kotzen! Ich habe selten eine so unattraktive Frau gesehen wie Lydia, das fand ich schon früher, wenn ich Eva besuchte und wir mindestens einen Abend mit ihrer gräßlichen Freundin verbringen mußten. Entweder gingen wir zu ihr, oder sie kam zu uns, und dann saß sie da und himmelte mich die ganze Zeit über an. Ich vermute, sie hatte mich ernsthaft in ihre Liste möglicher Ehekandidaten aufgenommen. Laut Eva tat sie das allerdings mit jedem Mann. Die Hoffnung, jemanden zu finden, der sie heiratet, hat sie nie aufgegeben.
Ich muß so stark an Eva denken, hier in dem Haus, in dem sie gelebt, in der Wohnung, in der sie sich so oft aufgehalten hat. Es ist, als wäre hier noch etwas von ihr, etwas von ihrer Seele, ihrem Geist. Ich kann sie ohnehin nie als das sehen, was sie jetzt ist — Gebein, das in einem Sarg in der Erde liegt. Ich sehe sie nicht einmal so, wie sie in den letzten Jahren war, so depressiv und verstört, immer im Schlepptau dieser scheußlichen Frau, deren erstickender Zuwendung sie sich nicht entziehen konnte, weil ihr die Kraft dazu fehlte.
Ich sehe sie, wie sie früher war, als wir zusammen auf dem Dachboden unseres schäbigen Reihenhauses saßen und uns Ronco ausdachten.
Ein ehemaliger Schulfreund hatte mir eine Karte aus Ascona geschickt, wo er Ferien gemacht hatte, und das Bild der schneebedeckten Berge und des leuchtendblauen Sees davor ließ mich nicht mehr los.
«Da möchte ich einmal leben«, sagte ich, als ich Eva die Karte zeigte. Sie war siebzehn und hungrig nach Leben; Berge und Seen vermochten sie kaum zu reizen.
«Da?«fragte sie gedehnt.»Was willst du denn da? Ich würde viel lieber in New York leben!«
Mich stimmte das traurig, wie alles, was auf unsere charakterliche Unterschiedlichkeit hindeutete. Ich kaufte mir einen Reiseführer über das Tessin und las so oft darin, daß ich mich schließlich dort unten wirklich auszukeimen meinte. Zum Abitur hatte ich von Vater einen größeren Geldbetrag bekommen, und davon lud ich Eva zu einer Reise nach Ascona ein. Anfangs hatte sie keine rechte Lust, und auch Vater sah den Plan offensichtlich nicht gern.
«Hast du nicht eine Freundin, die du mitnehmen kannst?«fragte er mich.
Er wußte, daß ich keine hatte, aber vielleicht meinte er, ich würde ein Mädchen wie ein Kaninchen aus dem Hut zaubern, wenn er nur danach fragte. Den Gefallen konnte ich ihm leider nicht tun.
«Eva hat sich die Reise so gewünscht«, log ich.
Vater machte ein sorgenvolles Gesicht, aber das machte er eigentlich immer seit Mamas Tod. Das Herumstreunen in fremden Betten hat er übrigens von einem Tag zum anderen aufgegeben. Was seiner Linie nicht bekam; er hatte etliche Kilo zugelegt und einiges an Attraktivität verloren.
«Du verbringst ziemlich viel Zeit mit deiner Schwester«, sagte er vorsichtig.»Du hast gar keine Freunde, triffst dich nie mit anderen Leuten. Das ist ungewöhnlich, mein Junge. Du… blockierst auch Eva dadurch, möglicherweise.«
Was er gesagt hatte, traf mich tief, aber ich wußte den Schlag abzufangen.
«Du hast offenbar nicht mitbekommen, wie sehr Mamas Tod Eva traumatisiert hat«, entgegnete ich sehr ernst.»Sie klammert sich an mich, und ich denke, es ist meine Pflicht, mich um sie zu kümmern.«
Dieser Satz brachte Vater in dieser Angelegenheit für immer zum Schweigen. In Wahrheit war er nämlich traumatisiert durch Mamas Tod. Man hatte ihn von jeder Verantwortung freigesprochen, aber ich wußte, daß er sich selbst nicht freizusprechen vermochte. Er hätte das Messer rechtzeitig sehen müssen. Er hätte es Mama entreißen müssen, ehe sie Unheil damit anrichten konnte. Er hätte dem Notarzt nicht die falsche Adresse sagen dürfen. Er hätte das Blut stoppen müssen, anstatt sich in eine sinnlose Mund-zu-Mund-Beatmung zu flüchten.
Er sagte das nie, aber ich wußte, daß diese Gedanken in seinem Kopf herumspukten. Er wollte um Gottes willen nicht über Mama sprechen, und so kommentierte er meine Fürsorge gegenüber Eva nie wieder.
Auf jener Reise wurde Ronco geboren, das paradiesische Ronco, das von da an in meiner und Evas Phantasie einen festen Platz hatte.
Wir entdeckten das Haus auf einem Spaziergang, der uns auf einem Wanderweg hoch über dem See bis eben nach Ronco führte. Es war Anfang Oktober und noch sehr warm. Wir waren lange gelaufen und schon ziemlich erschöpft. Eva wirkte abgekämpft, und ich hatte das Gefühl, sie irgendwie aufmuntern zu müssen. Die ganze Reise machte ihr nicht sonderlich viel Spaß, das hatte ich längst gemerkt. Sie mochte das Zimmer in der schäbigen Pension nicht, das ich für uns gemietet hatte, und sie langweilte sich, weil ich sie daran hinderte, abends herumzuziehen, sich zu amüsieren und interessante Leute kennenzulernen. An manchen Tagen verhielt sie sich deshalb bockig wie ein kleines Kind. Dieser Tag war so ein Tag.
«Blöde Wanderung«, murrte sie, während wir die heiße, staubige Straße entlangtrotteten, die uns nach Ronco führen sollte.»Mir tun schon die Füße weh, und ich habe Hunger!«
«Dir kann es nichts schaden, mal ein bißchen hungrig zu sein«, meinte ich boshaft,»du hast ziemlich zugelegt in der letzten Zeit.«
Das stimmte, und sie wußte es. Jeden Morgen stöhnte sie, wenn sie sich in ihre Jeans zwängen mußte.
«Du solltest froh sein, daß ich dich zum Laufen zwinge«, fuhr ich gnadenlos fort, aber sie schaute mich schließlich so verletzt an, daß ich ein schlechtes Gewissen bekam.
«Schau mal«, sagte ich,»was für ein wunderschönes Anwesen!«
Wir sahen zunächst nur das Dach des Hauses, das sich linker Hand unter uns befand, auf eine Terrasse im Felsen gebaut. Das Grundstück schien sich, Terrasse um Terrasse, den halben Berg hinunter zu erstrecken. Palmen, Obstbäume und Blumen wucherten wild durcheinander, in einer wahren Orgie von Farben und Duft. Dazwischen sah man steinerne Bänke, Gartentische und Stühle. Irgendwo glitzerte blau das Wasser eines Swimmingpools.
Eva war tatsächlich beeindruckt und hörte auf zu nörgeln.
«Wie schön«, sagte sie hingerissen.
«Wollen wir mal in den Garten gehen?«fragte ich.
Sie zögerte.»Wenn die Bewohner aber wütend werden…«
«Ach, vielleicht sind die gar nicht da! Alles ist so ruhig. Ich wette, niemand ist daheim!«
Ich nahm einfach ihre Hand und zog sie hinter mir her. Das Tor ließ sich ohne Probleme öffnen. Steile, felsige Stufen führten zum Haus hinunter. Zweige streiften unsere Gesichter. Eine Echse huschte erschrocken davon und verschwand in einer moosigen Felsspalte.
«Das Paradies«, flüsterte ich ehrfürchtig.
Ich hatte mich nicht getäuscht: Es war niemand zu Hause. Das Anwesen lag ruhig und verlassen in der Mittagssonne, die grünen Fensterläden waren geschlossen. Weit unten träumte der Lago Maggiore, darüber hoben sich die Berge in den Himmel.
Ich hielt immer noch Evas Hand, während wir durch den Garten, der eigentlich ein Park war, wanderten, Treppe um Treppe hinunterstiegen und uns nicht satt sehen konnten an der Blumenpracht, die uns überall empfing. Eine verwitterte, kleine, italienische Marmorbank lud uns zum Hinsetzen ein, und so saßen wir dort und schauten über den See. Ich dachte, wie wunderbar es sein müßte, hier mit Eva zu leben, in dieser Stille und Schönheit.
«Ich möchte einmal genug Geld verdienen, um dir ein solches Anwesen kaufen zu können«, sagte ich verträumt.
«Quatschkopf«, entgegnete Eva.»Wenn du so viel Geld hättest, würdest du dir ein solches Anwesen kaufen, nicht mir!«
«Uns«, korrigierte ich mich bereitwillig,»uns würde ich es kaufen!«
«Da möchte ich dann deine Frau hören!«meinte Eva und lachte.
Sie klang unsicher dabei. Ich sah sie an, und ihr wurde offenbar unbehaglich zumute. Sie zog ihre Hand aus meiner und stand auf.
«Komm«, sagte sie,»gehen wir weiter!«
Wir entdeckten einen kleinen, von gewaltigen Rhododendronbüschen umgrenzten Kinderspielplatz. Ein Sandkasten, eine Schaukel, eine Wippe, ein Klettergerüst. Eine gelbe kleine Gießkanne lag auf einem einsamen Gartenstuhl, der neben dem Sandkasten stand.
Eva lebte auf.»Schau nur! Wie wunderbar! Welch ein herrlicher Platz für Kinder! Stell dir vor, wie es sein muß, hier aufzuwachsen!«
Sie setzte sich auf die Schaukel und schwang wild auf und ab. Ich nahm auf dem Stuhl Platz und sah ihr zu.
«Da, wo du sitzt, sitzt sicher sonst die Gouvernante und paßt auf die Kinder auf!«rief Eva. Ihre langen Haare flogen im Wind.
Der beschwerliche Weg zurück nach Ascona in unsere Pension verging nun wie im Flug. Wir malten uns eine Kindheit in Ronco aus — unsere Kindheit. Lange, heiße Sommertage. Eine Nanny, die aus England kam und uns abgöttisch liebte. Eine Köchin, die wunderbar kochte und uns immer etwas Gutes zusteckte. Unsere Mutter war eine schöne Frau, die tolle Partys veranstaltete und natürlich nie zuviel trank. Unser Vater trug sie auf Händen, und nie hätte er das Glück seiner Familie wegen irgendwelcher Abenteuer in fremden Betten aufs Spiel gesetzt. Wir überboten einander mit Einfällen, die das herrliche Leben einer rundherum perfekten Familie beschrieben. Zum Schluß war Eva richtig aufgekratzt.
«Wie ist Mama gestorben?«fragte sie beim Abendessen in einer Straßenkneipe auf der Piazza.»Sie kann sich nicht mit einem Messer selbst erstochen haben, weil Vater sie betrogen hat!«
Ich überlegte.»Wir könnten sie würdevoll an Krebs sterben lassen.«
«Oder ein Autounfall«, regte Eva an,»den sie natürlich nicht verschuldet hat.«
«Das ist gut«, sagte ich,»das ist tragisch!«
Wir wußten noch nicht, daß wir unser Lieblingsspiel für Jahre gefunden hatten.
Sie fragte sich, was er so eifrig niederschrieb. Seit Stunden — so kam es ihr vor — saß er da und kritzelte auf seinen Block. Halbnackt, mit nichts als einem Handtuch um die Hüften, hockte er am Tisch, die Stirn gefurcht, das Kinn auf eine Hand gestützt. Er schien vollkommen konzentriert. Er schaute nicht einmal zu ihr hin.
Lydia versuchte abermals zu sprechen, aber wieder brachte sie nur ein gurgelndes Geräusch hervor. Sie mußte dringend auf die Toilette, und langsam geriet sie in Panik, weil Robert keinerlei Notiz von ihrer Pein nahm. Ihr stand schon der Schweiß im Gesicht, und ihr Herz raste. Vielleicht würde es helfen, wenn sie ihre Lage veränderte, aber er hatte sie so brutal gefesselt, daß sie sich nicht im mindesten bewegen konnte. Sie hatte ein taubes Gefühl in Armen und Beinen, ihre Blutzirkulation schien nicht mehr richtig zu funktionieren. Wäre die Qual, nicht zur Toilette gehen zu dürfen, nicht so groß gewesen, hätte sie dieser Umstand sicher hochgradig beunruhigt. So aber konnte sie darüber kaum nachdenken. Sie kreiste ausschließlich um die Frage, wie sie ihn von seiner ihn offenbar völlig absorbierenden Tätigkeit ablenken und auf sich selbst aufmerksam machen könnte.
Vielleicht schreibt er einen Erpresserbrief, dachte sie, er will Lösegeld haben für mich.
Eine lachhafte Vorstellung natürlich. Es war ja nicht nur so, daß sie keine reiche Familie hatte — sie hatte überhaupt keine Familie. Ein Erpresser würde nicht wissen, an wen er sein Schreiben richten sollte, denn es gab niemanden. Keinen Ehemann, keine Kinder, keinen Liebhaber. Keine Eltern, Geschwister, Onkel oder Tanten.
Keine Hoffnung, dachte sie erschöpft. Niemand würde anrufen und sich wundern, weshalb sie nicht ans Telefon ging. Niemand würde sagen:»Ich gehe mal bei Lydia vorbei«— und dann feststellen, in welch mißlicher Lage sie sich befand. Niemand würde sich Gedanken machen, weil er schon lange nichts mehr von ihr gehört hatte. Seit Evas Tod hatte sie mit einem einzigen Menschen noch Kontakt gehabt, und das war Leona. Aber auch die würde sich nicht sorgen. An einer Freundschaft war sie ganz deutlich nie interessiert gewesen.
Lydia gab erneut ein verzweifeltes, drängendes Geräusch von sich. Sie würde jetzt entweder gleich platzen oder in die Hose machen.
Robert schaute von seinem Notizblock nicht auf. Er sagte nur:»Sei still, oder ich steck dich in den Kleiderschrank in deinem Schlafzimmer!«
Ihr schossen die Tränen in die Augen; verzweifelt bemühte sie sich, sie zurückzuhalten. Wenn sie heulte, fing auch ihre Nase an zu laufen und war nachher verstopft, und dann bekam sie überhaupt keine Luft mehr, weil sie ja durch den Mund nicht atmen konnte.
Es gelang ihr, die Tränen zurückzudrängen, aber dann konnte sie keine Kraft mehr aufbringen. Unter ihr und um sie wurde es feucht und warm. Im ersten Moment konnte sie nichts empfinden als tiefe Erleichterung. Doch im nächsten Augenblick schon spürte sie brennende Scham, und ihre Verzweiflung wurde noch größer. Wie entsetzlich, wenn Robert bemerkte, was geschehen war!
Ermattet ließ sie den Kopf sinken, schloß die Augen. Irgendwie war sie in einen Alptraum geraten, und sie fragte sich, ob sie an seinem Ende noch am Leben sein würde.
Im Verlaufe dieses Sonntags entschied Leona, daß sie der Polizei noch eine Woche geben würde, Robert zu finden und hinter Schloß und Riegel zu bringen. So lange wollte sie sich noch versteckt halten und abwarten; es war eine Art Kompromißvorschlag an das Schicksal, von dem sie nicht glaubte, daß es Roberts Verhaftung vorgesehen hatte. Danach war Schluß. Dann würde sie in ihr Leben und nach Hause zurückkehren und beten, daß Robert auftauchte und irgendeine Lösung eintrat.
Nachdem sie diese Entscheidung gefällt hatte, fühlte sie sich entspannt und optimistisch. Eine Woche — das war eine klare Sache. Diese Zeitspanne konnte sie noch durchhalten.
Sie verbrachte den ganzen Tag im Liegestuhl im Garten. Sie las, sonnte sich, schlief. Mittags kochte sie sich Spaghetti, die sie auf der Veranda aß. Den Waldrand am Ende des Gartenzaunes behielt sie dabei immer im Auge. Ihre Angst war kleiner, ihre Ungeduld größer geworden. Manchmal meinte sie sogar, eine Stimme aus ihrem Innern rufe nach ihm. Komm endlich her! Sag, was du willst! Laß uns das Spiel zu Ende bringen!
Abends rief Wolfgang an, und sie setzte ihn von ihrem Entschluß in Kenntnis. Wie erwartet, war er alles andere als begeistert davon.
«Und wenn Jablonski in einer Woche nicht…«
«Eben«, unterbrach sie,»dann sehe ich, daß es die Polizei nicht schafft. Dann muß ich eine andere Strategie anwenden. Dann gehe ich in die Offensive.«
«O Gott«, murmelte Wolfgang. Unglücklich fügte er hinzu:»Und mit dieser Vorstellung kannst du noch schlafen?«
«Ich glaube, zum ersten Mal nach langer Zeit werde ich es heute nacht wieder können«, sagte Leona.
Am Montag vormittag verschwand Robert aus der Wohnung, aber da er den Autoschlüssel nicht mitnahm, befürchtete Lydia, er würde wiederkommen. Er hatte ihr Portemonnaie in den Händen, und sie hatte ihm die Geheimzahl ihrer Scheckkarte verraten müssen, die er sich notiert hatte. Sie nahm an, er wollte im großen Stil einkaufen.
Sie hatte sich am Morgen unter seiner Aufsicht waschen und anziehen dürfen — eine Qual, aber besser, als weiterhin in den eigenen Fäkalien zu liegen.
«Was bist du nur für ein Schwein!«hatte er angewidert gesagt, als er ihre Fesseln löste.»Soll ich dir sagen, was ich wirklich gräßlich finde? Frauen, die sich gehenlassen. Mich wundert es überhaupt nicht, daß kein Kerl dich haben wollte!«
Die Demütigung bohrte sich wie ein Messer in ihr Herz. Was hatte sie ihm je getan, daß er sie nun so mit Füßen trat? Sie schwankte ins Bad hinüber und zog ihren nassen, stinkenden Bademantel aus. Sie hatte gehofft, er werde wenigstens diskret zur Seite blicken, aber er schien nicht geneigt, ihr auch nur im mindesten entgegenzukommen. Er lehnte in der Tür und beobachtete jede ihrer Bewegungen, und er machte dabei ein Gesicht, als müsse er einem besonders widerlichen Vorgang beiwohnen. Lydia war sich ihres unschönen Anblicks nur allzu bewußt, ihrer dicken Oberschenkel mit den zahlreichen Dellen, ihres vorstehenden fleischigen Bauches, ihrer schlaffen, langen Brüste. Im grausamen Deckenlicht des Badezimmers mußte sie wie ein wabbliges Monstrum aussehen.
«Darf ich duschen?«fragte sie, als sie nackt und bloß und verdreckt vor ihm stand.
«Bitte. Aber beeile dich.«
Das heiße Wasser und der Schaum taten gut. Für einen Moment schloß sie die Augen.
Es wird vorbeigehen. Es wird alles gut werden. Eines Tages wirst du vergessen haben, was geschehen ist.
«Wie Eva dich aushalten konnte, ist mir ein Rätsel«, hörte sie Roberts Stimme,»aber oft genug hat sie ja auch gejammert. Du bist ihr ziemlich auf die Nerven gegangen, Lydia. Du hast sie erstickt mit deiner Freundschaft. Sie hat mit dem Gedanken gespielt, von Frankfurt fortzugehen, wußtest du das? Sie suchte eine Möglichkeit, deinem Klammergriff zu entkommen.«
Er will dich nur quälen. Nichts davon ist wahr. Eva wäre nie fortgegangen.
Eva ist fortgegangen, sagte eine andere Stimme in ihr, sie hat sich aus ihrer Wohnung in den Tod gestürzt. Sie hat vorher nicht einmal auf Wiedersehen gesagt. Du hast ihren Selbstmord nicht verhindern können.
Tränen liefen ihre Wangen hinunter, Tränen, heiß wie das Wasser.
Sie mußte plötzlich denken: ein verpfuschtes Leben. Ein völlig verpfuschtes Leben, das ein elendes Ende in der Gewalt eines Psychopathen finden wird.
«So, raus jetzt aus der Dusche!«kommandierte Robert.»Es reicht! Ich habe noch anderes zu tun heute.«
Tränenblind und unbeholfen wie ein nasser Sack, kletterte sie aus der Wanne, tastete nach ihrem Badetuch, hüllte sich darin ein. Für Momente wenigstens war ihr Körper in all seiner Unzulänglichkeit seinen Blicken entzogen. Das Tuch fühlte sich tröstlich flauschig an und roch nach dem Duftvlies, das sie der Wäsche im Trockner immer beilegte. Im Spiegel konnte sie ihr Gesicht sehen: verquollen vom Weinen, unschön gerötet von der Hitze des Wassers, fleckig und irgendwie aufgelöst.
Immer noch in das Badetuch gewickelt, stolperte sie in ihr Schlafzimmer. Sie sah, daß er ihr Bett frisch bezogen und dann offenbar die Nacht darin verbracht hatte. Die alte Bettwäsche lag zusammengeknäult in der Ecke.
Sie zog ihren Trainingsanzug an; nun, da ihr Bademantel beschmutzt war, war er das Bequemste, was sie hatte, und da ihr schwante, daß sie die nächsten Stunden wieder verschnürt und verknotet auf dem Sofa würde verbringen müssen, erschien es ihr als das klügste, sich mit ihrer Kleidung nicht noch mehr zu belasten.
«Darf ich noch auf die Toilette gehen?«fragte sie schließlich mit Piepsstimme.
Er machte eine ungeduldige Handbewegung.»Okay. Aber beeile dich!«
«Allein?«
Die Vorstellung, er könnte ihr auch dabei noch zusehen, war nicht erträglich.
Robert überlegte, nickte schließlich.
«Gut. Aber die Tür bleibt angelehnt. Ich stehe direkt davor. Wenn ich höre, daß du versuchst, ans Fenster zu kommen, bist du in der nächsten Sekunde tot. Klar?«
Gefesselt und geknebelt setzte er sie dann auf ihren Fernsehsessel im Wohnzimmer, nachdem sie zuvor ein Glas Wasser hatte trinken und eine Buttersemmel hinunterwürgen dürfen. Sie konnte hören, wie die Wohnungstür hinter ihm zufiel und seine Schritte auf der Treppe verklangen. Wenn ihm doch ein Nachbar begegnete! Einer, der das Fahndungsbild in den Zeitungen gesehen hatte!
Aber Robert war schlau. Er hatte sich mit Sicherheit überzeugt, daß das Treppenhaus leer war, ehe er losging.
Robert kam am Nachmittag zurück, bester Laune und bepackt mit zahlreichen Einkaufstüten. Er streckte nur kurz den Kopf ins Wohnzimmer und vergewisserte sich, daß Lydia noch genauso dasaß, wie er sie am Morgen plaziert hatte. Dann verschwand er, und nach einer Weile hörte sie ihn in der Küche hantieren. Teller und Töpfe klapperten, und schließlich zog köstlicher Essensduft durch die Wohnung. Lydia spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, wieder und wieder. Sie hätte gedacht, in einer Lage wie der ihren finde ein Gefühl wie Appetit überhaupt nicht mehr statt, aber jetzt war ihr geradezu schlecht vor Hunger. Seit dem Frühstück am Vortag hatte sie nur eine einzige Semmel bekommen.
Robert tauchte wieder im Wohnzimmer auf und begann den Tisch zu decken. Er deckte für zwei Personen!
Sie wurde von ihren Fesseln befreit, durfte auf die Toilette gehen, sich die Hände waschen. Sie durfte mit ihm am Tisch sitzen und essen, Nudeln mit Gulasch, und einen Rotwein dazu trinken. Ein Gefühl von Sympathie, beinahe Liebe überschwemmte sie. Sie war dankbar wie ein kleines Kind, das man in einen dunklen Schrank gesperrt und plötzlich wieder hinausgelassen hat. Ihr Peiniger, der mit ihr verfahren konnte, wie er wollte, bekam in Momenten, da er sie gut behandelte, gottähnliche Züge.
«Sie kochen sehr gut«, sagte sie vorsichtig.
Robert schien sich über das Kompliment zu freuen.
«Ja? Ich habe immer gern gekocht. Manchmal stehe ich stundenlang in der Küche und bereite irgend etwas ganz Besonderes zu.«
Ermutigt durch seinen freundlichen Plauderton, fuhr Lydia fort:»Eva war da ganz anders. Sie haßte es zu kochen. Sie sagte, schon ein Spiegelei sei ihr im Grunde zuviel. Sie liebte es, wenn ich für sie kochte.«
«Eva war ziemlich verwöhnt. Leider bin ich die Ursache. Ich habe viel zu viel für sie getan, immer schon. «Sein Gesicht hatte sich verfinstert. Er nahm einen Schluck Rotwein.»Sie war ein launisches, undankbares Geschöpf, fandest du nicht?«
Es schien Lydia angebracht, vorsichtig zu sein.
«Ich weiß nicht. Ich mochte sie.«
Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf den Tellerrand.
«Natürlich. Ich mochte sie auch. Aber ich war nicht blind gegenüber ihren Fehlern.«
Lydia schwieg. Sie mußte aufpassen, was sie sagte.
«Eva war auch ziemlich verlogen«, fuhr Robert fort.»Sicher hat sie dir auch von unserer Kindheit in Ronco erzählt?«
«Ja. Oft.«
«Dachte ich es mir doch. Die Geschichten hat sie jedem zu verkaufen versucht. Es war kein Wort wahr! Weißt du, wo wir aufgewachsen sind, Eva und ich? In Frankfurt-Eschborn! Klingt schon nicht mehr so toll, wie?«
«Aber…«, fing Lydia an, brach den Satz dann jedoch erschrocken ab.
Es wäre unklug, ihn daran zu erinnern, daß er bei gemeinsamen Treffen mit seiner Schwester und ihr selbst immer von jener Villa in Ronco hoch über dem Lago Maggio-re gesprochen hatte.
Er fixierte sie scharf.»Ja?«
«Nichts. Ich habe mich nur gewundert. Warum sollte sie mich anlügen?«
«Sie war ein ziemlich verdorbenes Stück. Das ist mir spätestens da aufgefallen, als sie sich diesem Professor Fabiani an den Hals schmiß. Billig, einfach billig!«
Er stocherte mit der Gabel hektisch im Essen herum und machte ein haßerfülltes Gesicht. Lydia schwieg eingeschüchtert. In der Gegenwart dieses Mannes hatte sie das Gefühl, auf einem Pulverfaß zu sitzen. Jeden Moment konnte sich eine Katastrophe ereignen. Sie erinnerte sich an die Worte des Polizeibeamten, der bei ihr gewesen war und sie nach Robert Jablonski gefragt hatte.
«Ich muß Sie warnen! Der Mann ist hochgradig geistesgestört und außerordentlich gefährlich!«
Sie hatte sich das damals nicht vorstellen können. Der nette, gutaussehende Robert! Nun konnte sie es sich sehr wohl vorstellen und fror bei jedem Blick auf ihn.
«Morgen früh werde ich dich verlassen«, sagte er.»Dein Auto und deine Scheckkarte nehme ich mit.«
Er konnte mitnehmen, was er wollte, wenn er ihr nur nichts tat!
«Ich verrate Sie bestimmt nicht«, versicherte sie sofort.
Robert grinste, und wieder fluteten Kältewellen über Lydias Körper.
«Nein«, bestätigte er,»das wirst du ganz sicher nicht tun.«
Ihr wurde übel, und in ihren Ohren begann es zu rauschen.»Sie… ich meine, Sie werden doch nicht…«, begann sie, aber sie vermochte das Furchtbare nicht auszusprechen.
«Was werde ich nicht? Warum redest du nicht weiter, Lydia?«
Sie öffnete den Mund erneut, aber ihre Stimme versagte. Sie schluckte trocken.
«Ich möchte, daß du sagst, was du sagen wolltest, Lydia«, sagte Robert sehr sanft.
Keuchend stieß sie hervor:»Ich habe Angst, Sie bringen mich um.«
Er musterte sie lächelnd.»Du hast Gulaschsoße am Kinn«, sagte er schließlich.
Als sie unsicher die Hand hob, um über ihr Kinn zu tasten, neigte er sich blitzschnell über den Tisch und schlug ihr so hart auf die Finger, daß sie aufschrie — vor Schmerz und vor Schreck.
«Hatte ich dir befohlen, es wegzumachen? Hatte ich das?«
«Nein«, flüsterte Lydia. Unter dem Tisch preßte sie ihre
mißhandelte Hand zwischen die Knie. Sie tat entsetzlich weh.
«Ich muß Leona finden«, erklärte er, als sei nichts geschehen.»Sie versteckt sich vor mir. Sie begreift nicht, daß wir zusammengehören. «Er schob seinen Teller zurück und sah Lydia traurig an.»Anna hat das auch nicht verstanden. Frauen können manchmal ziemlich dumm sein. Sie verspielen ihr Glück — aus schierem Leichtsinn.«
Lydia wagte nichts zu erwidern. Von der Hand aus schossen Schmerzen in ihren ganzen Körper. Es war ihr egal, welches Problem Robert mit Leona hatte, es war ihr auch egal, was aus Leona wurde. Sie wollte nur selbst irgendwie davonkommen. In vielen einsamen, dunklen Stunden hatte sie oft gedacht, Sterben sei besser als Leben, und sie war überzeugt gewesen, es würde ihr nichts ausmachen zu gehen. Und nun, in diesen Minuten, mit diesem Irren an einem Tisch, der vermutlich keinerlei Skrupel hatte, sie umzubringen, wenn das in seine Pläne paßte, merkte sie, wie sehr sie am Leben hing. Mit jeder Faser ihres Herzens und ihres Körpers wünschte sie sich, weiterleben zu dürfen.
Sie hatte seit ihrer Kindheit nicht mehr gebetet, aber nun flehte sie Gott wortlos an, sie zu verschonen.
Ich werde etwas daraus machen, versprach sie, ich weiß noch nicht, was und wie, aber wie bisher wird es nicht weitergehen. Laß mich nicht sterben! Laß mich bitte nicht sterben!
Robert stand auf.»Mahlzeit beendet! Los, Lydia, setz dich wieder in deinen Sessel dort drüben!«
Sie wankte zu ihrem Fernsehsessel. Nachdem sie sich gesetzt hatte, fesselte er sie wieder, verklebte ihren Mund.
Fröhlich pfeifend, begann er den Tisch abzuräumen und hörte sich dabei die Nachrichten im Fernsehen an. Soweit Lydia das mitbekam, hatte sich an diesem Tag auf der ganzen Welt nichts Besonderes ereignet.
«Vielleicht solltest du Leona doch aufsuchen«, sagte Wolfgang,»egal, ob sie dagegen ist oder nicht. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, noch eine Woche zu warten, ob die Polizei Jablonski festnehmen kann, und im anderen Fall ihr Versteck zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Ich mache mir Sorgen!«
«Aber das ist doch Wahnsinn!«sagte Carolin.»Wenn sie jetzt zurückkommt, dann war alles umsonst.«
«Eben. Sie begibt sich in schlimme Gefahr. Aber ich fürchte, daß sie auf mich nicht hören wird. Und am Telefon ist das sowieso alles so schwierig!«
Wolfgang klang ziemlich verstört, fand Carolin. Es hatte sie gewundert, daß er so spät am Abend noch in Lauberg anrief und gerade sie zu sprechen verlangte. Sie hatte sogleich geargwöhnt, daß es um Leona ging, und ihre Vermutung hatte sich bestätigt.
«Warum will sie denn etwas so Verrücktes machen?«fragte sie.
«Sie scheint der Ansicht zu sein, daß sich nichts tun wird, solange sie beide, sie und Jablonski, in Ihren Verstecken sitzen und darauf warten, daß der andere einen Fehler macht«, sagte Wolfgang.»Sie meint, daß sie sich zeigen muß, damit Robert dann reagiert und dabei geschnappt werden kann.«
«Lockvogel in eigener Sache«, murmelte Carolin.»Viel zu riskant!«
«Das meine ich eben auch. Das schlimme ist nur, ich finde keine wirklich guten Gegenargumente, was ihre Theorie angeht. In der Sache könnte sie durchaus recht haben. Aber…«
«Soll ich sie anrufen?«
«Noch besser wäre es, wie gesagt, du würdest einfach hinfahren. Es wird dauern, sie zu überzeugen. Du weißt, was für ein Sturkopf sie ist.«
«Sie wollte das ausdrücklich nicht.«
«Ich weiß. Aber es geht um ihr Leben. Ich würde selber hinfahren, aber ich traue mich nicht.«
«Anfangs hast du gesagt, es sei auch zu gefährlich, wenn ich hinfahre!«
«Ich weiß. Aber allmählich haben wir kaum noch eine Alternative, nicht?«
«Ich werde es mir überlegen«, versprach Carolin,»uns bleibt ja noch diese Woche. Paß auf, Wolfgang: Wenn Leona nicht bis Freitag von ihrem verrückten Vorhaben Abstand genommen hat, fahre ich zu ihr und sperre sie dort notfalls in den Keller. Ausnahmsweise wird sie einmal tun, was ich ihr sage. Bisher war es immer anders herum, aber es wird Zeit, das zu ändern.«
Es ist viel angenehmer, einen Feind im Auto sitzend zu beschatten, als sich dabei im Freien aufzuhalten. Abgesehen davon, daß mich das Auto beweglich macht, bietet es mir auch ein gewisses Maß an Bequemlichkeit. Ständig habe ich ein Dach über dem Kopf, und nachts kann ich den Sitz umlegen und schlafen. Ich habe mir ein Kissen und eine Decke gekauft. Es ist richtig gemütlich in meiner kleinen Wohnung auf vier Rädern. Glücklicherweise hält das warme Wetter draußen an. Die Abende sind kühl, aber in meine Decke gewickelt machen sie mir nichts aus. In Maßen — denn ich will ja die Batterie nicht völlig entleeren — kann ich sogar Radio hören. Vor allem: Ich bin weg von der Straße. Mein ständiges Herumlungern am Friedhof und an der Bushaltestelle fing an, auffällig zu werden. Zumal ich aussah wie ein Clochard und stank wie eine Müllhalde. Nun parkt mein Auto in einer langen Reihe anderer Autos, unauffällig und sehr zivilisiert. Vorüberkommende sehen einen gepflegten Mann darin sitzen, der meistens Zeitung liest. Die meisten schauen aber nicht einmal hinein. Ich errege keinen Abscheu mehr und kein Mitleid. Nicht mal Interesse. Das macht mich sehr ruhig.
Der Besuch bei Lydia war einer der hervorragendsten Einfälle, die ich je hatte. Als ich sie auf meine Liste schrieb und einen Kreis um ihren Namen zog, muß ich eine Ahnung gehabt haben. Und irgendwann fiel mir dann schlagartig ein, daß sie genau das war, wonach ich gesucht hatte: Besitzerin eines Autos. Alleinstehend und völlig vereinsamt. Lydia, das wußte ich, könnte sterben, und es würde Wochen dauern, ehe es jemand bemerkt. Das bedeutete, Lydia könnte gefesselt in ihrer Wohnung liegen, und ich könnte mit ihrem Auto herumfahren, und es würde ebenfalls Wochen dauern, ehe es jemand bemerkt. Günstiger konnten die Dinge nicht liegen.
Ich habe Lydia nie gemocht, aber es gab keinen Grund, sie umzubringen. Alt, fett, häßlich und lästig zu sein ist ja kein Verbrechen. Ich habe sie schön verschnürt in ihrem Wohnzimmer zurückgelassen. Ich habe einen großen Topf mit Fleischbrühe und mehrere offene Flaschen mit Mineralwasser vor sie hingestellt, jeden Behälter mit mehreren Strohhalmen versehen. In die vielen Pflaster, die ihren Mund verpappen, und in den Verband, der als Sicherheit noch drum herumgewickelt ist, habe ich vorne ein kleines Loch geschnitten. Rufen oder gar schreien kann sie damit nicht. Mit etwas Geduld und Geschicklichkeit kann sie aber einen Strohhahn dazwischenschieben und dann trinken. Ich habe es sie ausprobieren lassen, es geht. Eine Weile kann sie so überleben, die arme alte Schachtel. Was dann wird, wenn Leona und ich längst im Ausland sind, weiß ich nicht. Aber ich habe ihr auf jeden Fall eine faire Chance gegeben.
Schön, eine Scheckkarte zu haben und jederzeit Bargeld abheben zu können! Ich habe mir Lydias Kontoauszüge ausdrucken lassen; ich will wissen, was sie hat, denn ich möchte nicht durch ungewohntes Überziehen jemanden aufmerksam machen. Wie ich Lydia einschätze, überzieht sie so gut wie nie und sieht sich ab fünfzig Mark im Minus schon am Rande der Existenzgefährdung.
Die Alte kriegt ja keine allzu hohe Rente, aber es befinden sich immerhin fast sechseinhalbtausend Mark auf ihrem Konto. Damit kann ich eine ganze Zeit gut leben, ohne mir Sorgen um Benzin, Essen und so fort machen zu müssen. Jeden Tag, wenn Fabiani in der Uni ist, gehe ich ins Schwimmbad. So, wie ich jetzt aussehe, wirft mir die Frau an der Kasse keine schiefen Blicke mehr zu. Trotzdem wechsle ich die Badeanstalten und sehe zu, mein Gesicht immer ein wenig im Schatten zu halten. Ich darf nicht vergessen, daß noch immer nach mir gefahndet wird — und zwar sicher mit Hochdruck, denn ewig wollen sie wohl die arme kleine Leona nicht in ihrem Versteck sitzenlassen.
Im Schwimmbad drehe ich ein paar Runden — habe mir eine schöne, neue Badehose gekauft! — , dann dusche ich ausgiebig, wasche meine Haare, rasiere mich. Ich habe jetzt einen Packen frischer Wäsche und ein paar Hemden zum Wechseln. Mein Rasierwasser ist teuer, und es ist zudem Leonas Lieblingsduft. Ich weiß das, weil sie es mir einmal gesagt hat. Ich bin absolut vorbereitet, ihr gegenüberzutreten und sie von neuem zu gewinnen. Wenn nur Fabiani, dieser Geier, endlich seinen Hintern hochbekäme und mich zu ihr führte! Manchmal, in dunklen Momenten, habe ich Angst, daß ich doch die falsche Person beschatte. Zweimal war ich drauf und dran, meinen Beobachtungsposten nach Lauberg vor das Haus von Leonas Familie zu verlegen. Aber dann wieder warnte mich eine innere Stimme, dies sei ein Fehler. Die Stimme sagte mir, daß ich schon richtig entschieden hätte. Ich bemühe mich nach Kräften, ihr zu vertrauen. Eigentlich hat sie mich nie enttäuscht. Sie sagte mir damals, Anna würde nach Hause gehen zu ihrer Familie, und wenn ich dort auf sie wartete, könnte ich sie nicht verfehlen. Und als ich schon kurz davor war aufzugeben, kam Anna tatsächlich und lief mir geradewegs in die Arme.
Ich denke jetzt oft an Anna. Ich denke an sie, um nicht an Eva zu denken. Dabei war auch Anna eine bittere Erfahrung, aber Eva war die bitterste. Von Eva abgewiesen zu werden hat mich wirklich verletzt. An einer Stelle, die mir unheimlich ist, weil ich sie nicht fassen, nicht einmal benennen kann. Seele sagt man wohl dazu, was immer das letztlich ist. Es ist jedenfalls der Bereich im Menschen, der nie heilt, wenn er einen wirklichen Schlag abbekommen hat. Er tut weh bis ans Lebensende und vielleicht noch darüber hinaus. Anna hat mich auch getroffen, aber es muß woanders gewesen sein, denn diese Wunde schmerzt nicht mehr. Vielleicht hat Annas Blut das Gift davongeschwemmt. Mit Anna war ich fertig in dem Moment, da sie tot vor meinen Füßen lag, die Hände noch im Todeskampf um meine Schuhe gekrallt.
Eva konnte ich nicht töten. Man kann die eigene Schwester nicht töten. Man kann alles mit ihr machen, aber niemals kann man zusehen, wie das Blut aus ihr herausströmt und alles ertränkt ringsum, auch den Schmerz.
Während ich so im Auto sitze, sehe ich oft Annas Gesicht vor mir, das Gesicht, das sie machte, als sie mich an jenem Morgen auf der Straße zu ihrem Heimatdorf wiedersah. Ein windiger, kühler Frühsommertag. Ich war, wie gesagt, schon dicht davor aufzugeben.
Ich haßte es, ihren Vater zu waschen und zu füttern und sein verdrecktes Bett neu zu beziehen, aber diesen Job ergattert zu haben war ein so einmaliger Glücksfall, daß ich entschlossen war durchzuhalten. Ich hatte mich seit Mitte Januar mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, bis ich Ende Februar in der Zeitung eine Anzeige las, daß eine private Pflegedienstinitiative weitere Mitarbeiter suchte. Ich dachte, das könnte etwas Dauerhaftes sein, außerdem kam man in die verschiedensten Häuser und erfuhr den neuesten Tratsch der Gegend immer am schnellsten. Ich hatte keinerlei Referenzen, aber ich behauptete, ich hätte meine kranken Eltern bis zu deren Tod gepflegt und sei besessen von dem Wunsch, anderen zu helfen. Die alte Schachtel, die das Einstellungsgespräch führte, schmolz dahin. Nicht nur, weil ich so viel Güte verströmte, sondern auch, weil ich ihr Blicke schenkte, die ihr die Farbe in die Wangen trieben. Natürlich konnte sie mich — unausgebildet, wie ich war — nicht als Pfleger einstellen, aber sie brauchte jemanden, der Essen in die Häuser brachte, alte Menschen zum Arzt fuhr oder sonstige Botengänge erledigte. Es gab einen Hungerlohn dafür, aber das Geld reichte für den Moment, um durchzukommen.
Ich bekam ein Auto zur Verfügung gestellt und kutschierte in den Dörfern herum, brachte warmes Essen zu alten Knackern, räumte ihre Wohnungen auf, putzte, schob den einen oder anderen im Rollstuhl spazieren. Die meisten waren äußerst redselig und trotz ihres desolaten Zustands, der sie in jeder Großstadt in die absolute Vereinsamung getrieben hätte, ziemlich gut über alle Neuigkeiten ringsum informiert.
Ich dachte, wenn Anna Heidauer nach sechs Jahren Abwesenheit nach Hause zurückkehrt, erfahren die das, und dann erfahre ich das!
Aber dann kam es noch viel besser: Lisa Heidauer forderte Hilfe zur Pflege ihres schwerkranken Vaters an. Sie brauchte jemanden, der ihn ab und zu aus dem Bett hob, und ich war derjenige, der für genau solche Aufgaben engagiert worden war. Dadurch ging ich nun mehrmals in der Woche in Annas Elternhaus aus und ein.
Die ganze Zeit überlegte ich, wie sich unsere Begegnung gestalten würde. Sowie sie mich im Haus ihres Vaters erblickte, würde sie schreien oder hysterisch werden, und das würde ihre Schwester auf den Plan rufen. Im Handumdrehen wäre heraus, daß ich mich dort eingeschlichen und zudem einen falschen Namen angegeben hatte. Ich machte Pläne, wie es mir gelingen könnte, das Haus ungesehen zu verlassen, sowie sie auftauchte. Möglich wäre auch, sie käme nachts an und öffnete mir am nächsten Morgen arglos die Tür… Ich sah eine Menge Schwierigkeiten vor mir, und dann war alles so einfach, so lachhaft einfach. Sie schwankte die Straße entlang, frühmorgens, an jenem windigen Tag, schwankte deshalb, weil sie einen riesigen Koffer schleppte, den sie ständig von einer Hand in die andere wechselte. Ich kam mit meinem kleinen Auto dahergetuckert, auf dem Weg zu ihrem langsam dahinsiechenden Vater, und sie drehte sich hoffnungsvoll um, als sie das Motorengeräusch hörte, ließ den Koffer fallen und streckte den Daumen raus. Mein Gesicht hinter der Windschutzscheibe erkannte sie offensichtlich nicht.
Erst als ich anhielt, die Beifahrertür aufstieß und» Hallo, Anna!«sagte, kapierte sie, wem sie da begegnet war. Sie guckte wie eine Kuh, wenn’s donnert, dann fingen ihre Augen an zu flackern, und sie schaute sich mit gehetztem Blick nach Hilfe um. Wäre irgendwo ein anderes Auto aufgetaucht, ich glaube, sie hätte sich davorgeworfen in ihrer Panik. Es ließ sich aber kein Auto blicken. Ringsum gab es nur Wiesen, dunkelgrüne, saftige, üppige Maiwiesen, deren Gräser sich im Wind bogen und naß glänzten vom Regen. Ein Stück weiter vorn begann der Wald, und erst dahinter, gut eineinhalb Kilometer weiter, lag dann das Dorf, ihr Heimatdorf. Sie war so nah am Ziel!
«Komm, steig ein«, sagte ich,»ich fahre dich nach Hause. Eher fällst du tot um, als daß du es mit dem Koffer bis dorthin schaffst!«
Das klang harmlos, doch ich meinte es wortwörtlich. Sie hatte noch eine knappe halbe Stunde zu leben.
Ich weiß gar nicht mehr genau, ob sie letzten Endes freiwillig ins Auto stieg oder ob ich sie mit Gewalt hineinbeförderte. Am Ende saß sie jedenfalls drin.
Ihren Koffer hatte ich im Kofferraum verstaut. Ich nahm ihn später mit nach Ascona, hängte all ihre Sachen in den Schrank. Das gab mir ein Gefühl, als sei sie noch da.
Ich weiß nicht mehr genau, was im Wald geschah. An das scharfe Messer, das ich bei mir trug (hatte ich die Tat geplant?), erinnere ich mich, an das Blut und eben daran, daß sie meinen Schuh festhielt, als sie starb. Ich wollte sie nicht einfach liegenlassen, das hatte sie nicht verdient. Ich stellte sie aufrecht an einen Baum und band sie daran fest. Das sah würdevoll aus! Der Wind konnte mit ihren Haaren spielen.
Ich kam danach keineswegs wie ein Metzger daher, aber ein paar Spritzer hatte ich doch abbekommen. Ich fuhr noch einmal in meine Pension, wechselte meine Kleidung, knäulte die getragenen Sachen zusammen und verscharrte sie an einer anderen Stelle im Wald unter Erde, Reisig und Laub. Annas Koffer wollte ich am nächsten Tag in ein Schließfach auf dem Augsburger Hauptbahnhof bringen. Ich kam spät an bei Lisa und ihrem Vater an diesem Tag, aber das fiel nicht weiter auf, weil wegen meiner verschiedenen Schutzbefohlenen meine Besuche immer ein wenig unregelmäßig waren.
Eigentlich hätte ich gleich in die Schweiz zurückkehren können, aber mir war klar, daß dann, sobald man Anna fand, der Verdacht auf mich fallen würde. Zwar kannte Lisa mich nur unter dem Namen Benno (»Nennen Sie mich einfach Benno, alle sagen so zu mir!«), aber meine Arbeitgeberin hatte natürlich meinen Paß gesehen und kannte meinen vollen Namen. Sie würden mich ausfindig machen können.
Also blieb ich noch einige Wochen, obwohl mich mein Job wirklich anekelte und ich ihm jetzt, da ich mein eigentliches Ziel erreicht hatte, nichts mehr abgewinnen konnte. Ich bekam das ganze Drama mit: Drei Tage nach dem Geschehen kreuzte die Polizei auf, zwei Beamte mit betretenen, schreckenverheißenden Mienen, und sie nahmen Lisa mit, damit sie ihre Schwester identifizierte.
Lisa sah grau und um Jahre älter aus, als sie zurückkam. Sie tat mir leid, sie stand so alleine da mit ihrem Entsetzen. Ihren Vater hatte die Nachricht auch getroffen, aber er war schon zu krank, um sich noch wirklich erschüttern zu lassen. Er beschäftigte sich bereits vorwiegend mit seinem eigenen Sterben.
Im Zuge der Ermittlungen wurde ich natürlich auch überprüft. Lisa hatte mir nie von Anna erzählt, also beteuerte ich, von der Existenz einer Schwester keine Ahnung gehabt, geschweige denn diese je kennengelernt zu haben. Ich glaube, niemand hatte mich auch nur für einen Moment im Verdacht. Ich tat eine harte Arbeit, die niemand tun wollte, und ich galt als zuverlässig, pflichtbewußt und liebenswürdig. Meine Arbeitgeberin berichtete den Beamten, daß ich seit mehr als einem Vierteljahr für sie tätig war, und ließ durchblicken, daß ich mit meiner Tätigkeit versuchte, den schweren Tod meiner eigenen Eltern zu verwinden. Lisas Vater erklärte, ich sei ein fabelhafter junger Mann, was ich als schmeichelhaft empfand, denn als jungen Mann sah ich mich keineswegs mehr.
Und noch ehe ich in die Verlegenheit kam, bei Lisa kündigen zu müssen, erklärte diese von sich aus, sie könne mich nicht mehr bezahlen, sie würde die Pflege von nun an selbst übernehmen. Geldgieriges kleines Ding! Ihr Vater bezahlte den Pflegedienst von seiner Rente, aber sie sah wohl ihr Erbe dahinschmelzen und wollte einen Riegel vorschieben.
Mir konnte es recht sein. So bekam außer meiner Arbeitgeberin niemand meine Kündigung mit, jedenfalls keiner von den Heidauers. Ich löste mich in Nichts auf. Ich hatte meinen Frieden gefunden. Ich ging in meine Heimat zurück.
In der Nähe des Hauses gab es einen kleinen See. Leona erinnerte sich, dort als Kind ein paarmal gebadet zu haben. Das Wasser war selbst im Hochsommer immer sehr kalt gewesen, denn der See lag mitten im Wald, und nur seine Mitte wurde nicht von Bäumen beschattet. Wenn man hineinwatete, wühlte man den moorigen Grund auf, der das Wasser trübte. Es schmeckte ein wenig metallisch, wenn etwas davon in den Mund geriet. Eigentlich mochten nur Kinder den See, jedenfalls hatte Leona früher nie Erwachsene darin gesehen. Es gab Fotos, die sie mit roten Schwimmflügeln an den Oberarmen, am seichten Rand herumplanschend, zeigten. Sie war ziemlich pummelig gewesen zu dieser Zeit und strahlte stets wie ein Honigkuchenpferd über das ganze runde Gesicht.
Der Donnerstag brachte so heißes Wetter, daß Leona am Mittag beschloß, den See aufzusuchen. Sie packte sich einen Korb mit belegten Broten und einer Flasche Mineralwasser, tat einen Badeanzug und ein Handtuch hinein und machte sich auf den Weg.
Sie hatte die Strecke länger in Erinnerung gehabt. Hatte sie als Kind nicht immer gejammert und alle paar Schritte gefragt, wann man nun endlich da sei? Jetzt dauerte es eine knappe Viertelstunde, und der Weiher — denn ein See war es nur in ihrer Kindheitserinnerung gewesen — lag vor ihr. Das Wasser brackig wie eh und je, die Bäume ringsum so hoch und dicht, daß kaum Sonne zwischen ihnen hindurchdrang. Das Laub glänzte in hellem, frischem Grün, hatte noch nicht seine letzte Dichte erreicht. Im Hochsommer würde es hier noch schattiger und dunkler sein.
Ein paar Jugendliche aus dem Dorf, fünf junge Männer, saßen auf Baumstümpfen, die sich am Rande des Weihers um eine Feuerstelle herum gruppierten, eine Art Grillplatz offenbar, im Sommer vermutlich ein beliebtes Ausflugsziel und Samstagabendtreff. Die Jungs hatten ein paar Bierflaschen und Coladosen um sich herum aufgebaut, rauchten und beobachteten höchst interessiert die Ankunft der Fremden.
Leona kümmerte sich nicht um sie. Sie stellte ihren Korb neben einen der wenigen sonnigen Flecken, die es hier gab, kramte ihren Badeanzug hervor, zog sich im Schutz eines Gebüsches um und watete mutig ins Wasser.
Das Wasser war so kalt, daß ihr von den Knöcheln her sofort Kältewellen den Körper hinaufrasten. Mit den Füßen versank sie tief im Schlick.
Verdammt, dachte sie. Sie wäre umgekehrt, hätte sie keine Zuschauer gehabt.
«Guckt mal, die Tante geht wirklich rein!«schrie einer der jungen Kerle begeistert.
«Paß auf, daß du keinen Kälteschock kriegst!«rief ein anderer und wollte sich totlachen über diese Bemerkung.
Typisch, dachte Leona mit einiger Verbitterung, wenn man erst über dreißig ist, halten diese Achtzehnjährigen einen für ein Fossil!
«Da gibt’s Krokodile!«rief ein anderer, bemüht, seine Kumpels zu übertrumpfen.»Seien Sie bloß vorsichtig, Lady!«
Sie biß die Zähne zusammen und ließ sich ins Wasser gleiten. Es hätte sie nicht verwundert, wenn Eisblöcke auf sie zugeschwommen wären, so kalt war es. Ihr Mut wurde von den Jugendlichen mit Begeisterungsrufen kommentiert. Mit kräftigen Armbewegungen teilte sie das braune Wasser. Es roch wie früher. Es schmeckte wie früher, wenn es an die Lippen kam. Es war so kalt und moorig wie früher.
Der Unterschied war: Sie trug keine Schwimmflügel mehr. Es stand kein besorgter Erwachsener mehr am Ufer, der sie ohne Unterlaß im Auge behielt. Es lungerten nur ein paar Jungs herum, die sich keine ihrer Bewegungen entgehen ließen, die sie anstarrten, weil sie eine schöne Figur hatte, einen sehr eleganten Badeanzug trug und ein beträchtliches Maß an Selbstüberwindung bewiesen hatte, als sie sich in das kalte Wasser wagte.
Sie legte sich auf den Rücken, paddelte mit den Beinen, schaute hinauf in das Himmelsblau zwischen den Baumkronen. Sie hatte lange nicht mehr darüber nachgedacht, was es bedeutete, erwachsen zu sein, frei zu sein. Es war einfach so. Irgendwann wurde man selbständig, man konnte für sich selbst sorgen, man brauchte keine Schwimmflügel mehr und niemand verlangte, man solle endlich aus dem Wasser kommen, weil es zu kalt sei. Und dann, ehe man sich versah und oft ohne daß man es richtig bemerkte, kam ein Mensch daher und baute Stück um Stück dieser kostbaren Freiheit ab. In den meisten Fällen ein Partner, mit dem man sich aus Liebe eingelassen hatte, dessen Bedürfnisse man nun erfüllen sollte, ob man selbst im Einklang damit stand oder nicht. Oder — Gott sei Dank in den weitaus selteneren Fällen — war es ein Psychopath, vor dem man sich verstecken mußte.
Leona wandte sich wieder auf den Bauch, teilte das Wasser mit kräftigen Stößen, durchmaß den Weiher von einer Seite zur anderen und wieder zurück. Ihr wurde immer wärmer, und sie fühlte sich immer stärker.
Als sie schließlich aus dem Wasser stieg, ging ihr Atem schneller, und ihre Wut auf Robert hatte sich so gesteigert, daß sie furchtlos und mit bloßen Fäusten auf ihn losgegangen wäre, hätte er sich in diesem Moment vor ihr blicken lassen.
Sonntag abend, dachte sie, während sie sich in ihr Badetuch hüllte und ein Sandwich aus ihrem Korb kramte, Sonntag abend fahre ich zurück. Am Montag gehe ich zur Arbeit, und gnade ihm Gott, wenn er noch einmal versucht, mich einzuschüchtern!
Die Jugendlichen glotzten sie an, und sie lächelte ihnen gedankenverloren zu.
Als sie am Abend nach Hause kam, müde und zugleich von neuen Energieströmen durchpulst, sah sie ein Auto vor dem Haus stehen. Stirnrunzelnd betrat sie den Garten und ging um das Gebäude herum. Auf den hölzernen Stufen, die von der Veranda herunterführten, saß Bernhard Fabiani im Abendsonnenschein und starrte mißmutig vor sich hin. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, kaum daß er Leona sah.
Er stand auf.
«Mein Gott«, sagte er,»ich dachte, Sie kommen überhaupt nicht mehr!«
«Bernhard!«rief Leona perplex.
«Tut mir leid, daß ich hier so unangemeldet auftauche. «Er sah keineswegs aus, als tue es ihm wirklich leid.»Vermutlich nützt es nichts, wenn ich behauptete, ich sei zufällig in der Gegend gewesen!«
«Ich hätte gewisse Schwierigkeiten, das zu glauben. «Leona lächelte.»Wie lange sitzen Sie denn schon hier?«
«Zwei Stunden vielleicht. Allmählich war ich schon überzeugt, Sie hätten das Versteck gewechselt. Ich war völlig frustriert.«
Sie ging an ihm vorbei, die Stufen hinauf, und schloß die Tür auf.
«Möchten Sie etwas trinken? Sie müssen halb verdurstet sein. Heute ist ein unheimlich heißer Tag!«
Er nickte und betrachtete ihren Korb, in dem zuoberst der nasse Badeanzug lag.
«Waren Sie schwimmen?«
«Hier ist ein kleiner Weiher in der Nähe. Es war herrlich.«
«Ich glaube, mir wäre das noch zu kalt.«
Er folgte ihr ins Haus, sah sich interessiert um.
«Ein hübscher Flecken Erde. Natürlich eine Gegend, in die man nie kommt. Wie sind Sie denn, um alles in der Welt, an dieses Versteck gelangt?«
Sie nahm Orangensaft aus dem Kühlschrank, gab Eiswürfel in ein Glas.
«Es gehörte unserer alten Haushälterin. Sie hat meine und Olivias Kindheit begleitet, und zu einem Teil sogar noch die von Carolin. Oft fuhr sie mit uns übers Wochenende hierher. Wir fanden es immer wunderbar. Ich glaube, wir sind ihr ganz schön auf der Nase herumgetanzt, aber sie liebte uns. Sie hatte niemanden auf der Welt. «Sie reichte Bernhard das Glas.»Als sie starb, hat sie Olivia das Häuschen vererbt. Meine älteste Schwester, wissen Sie? Sie war immer ihr besonderer Liebling. Na ja… nur, daß Olivia hier nie herkommt, weil sie… nun, es gibt ein paar riesige Probleme in ihrem Leben.«
Durstig trank Bernhard das halbe Glas leer.
«Sie gehören zu einer komplizierten Familie, glaube ich«, meinte er dann.
Leona nickte.»Das kann man wohl sagen. Kommen Sie, wir setzen uns noch ein bißchen auf die Veranda!«
Als sie draußen saßen, fragte sie:»Müssen Sie nicht arbeiten? An einem gewöhnlichen Donnerstag?«
«Eigentlich schon. Ich habe mir freigenommen. Wegen eines wichtigen familiären Ereignisses — offiziell.«
«Und inoffiziell…«
«Ich wollte dich sehen«, sagte er einfach und wechselte ohne Aufhebens vom Sie zum Du.
«Sie hätten bis zum Wochenende warten können.«
«Ich mochte nicht warten. Außerdem wäre am Ende dein Mann dagewesen, um dir Gesellschaft zu leisten.«
«Sie hätten anrufen können.«
«Ich weiß.«
Er sah an ihr vorbei in den Garten, in die einfallende Dämmerung hinein.
«Ich mochte nicht anrufen. Ich fürchtete, du würdest mich bitten, nicht zu kommen, und dann hätte ich es natürlich auch nicht tun können.«
«Ich hatte Sie ja schon mal gebeten…«
«… herzukommen? Das war in einem Moment der Verzweiflung, Leona, das habe ich durchaus gemerkt. Du hast es schnell genug rückgängig gemacht und dich dann nur noch einmal gemeldet. Du hattest deine Krise überwunden, und eine Krise wäre der einzige Grund für dich gewesen, mich sehen zu wollen.«
«Ganz so ist es nicht«, entgegnete Leona unbehaglich, aber sie wußte, er hatte die Angelegenheit recht genau erfaßt.
Er lächelte. Er wußte es auch.
«Hängt es mit deinem Mann zusammen?«fragte er.
«Was?«
«Daß du dich so unbehaglich hier mit mir fühlst.«
«Ich fühle mich nicht unbehaglich.«
«Dann gib endlich das alberne Sie auf.«
«Okay. Damit habe ich kein Problem.«
Er lächelte erneut, dann wechselte er abrupt das Thema.
«Du hast Robert nie von der Existenz dieses Hauses erzählt?«
«Nie. Ich habe natürlich mein Gedächtnis wie wild durchforstet, aber ich bin absolut überzeugt, ich habe das Haus nie erwähnt. Es spielt ja auch überhaupt keine Rolle in meinem Leben. Ich glaube, mit achtzehn oder neunzehn Jahren war ich zum letzten Mal hier. Von Frankfurt fährt man doch ein ganzes Stück.«
«Ich weiß«, seufzte Bernhard,»ich dachte, ich komme nie mehr an. Das ist ja tiefstes Oberhessen hier. Die ehemalige Zonengrenze ist ziemlich in der Nähe, nicht?«
«Eine halbe Stunde von hier etwa.«
«Bist du mit dem Auto gekommen?«
Sie schüttelte den Kopf.»Das wäre zu gefährlich gewesen. Ich bin morgens zu Fuß zum Verlag gegangen, bin dann mittags zu einer Zeit, zu der ich normalerweise nie das Büro verlasse, durch den Hinterausgang hinaus und bin dann auf umständlichste und verwirrendste Weise mit Bahn, Bussen und zum Schluß mit einem Taxi hierhergefahren. Die ganze Zeit über hatte ich Angst, daß Robert mir trotzdem folgt… aber das hat er offenbar nicht geschafft.«
«Dieses Haus hier ist jedenfalls nicht einfach zu finden. Ich hatte ja deine Wegbeschreibung und habe mich trotzdem zweimal verfahren. Diese vielen Dörfer und verwinkelten Landstraßen… Und als ich endlich da war, sah ich keine Spur von dir. Ich war ziemlich verzweifelt.«
Leona mußte lachen über seine komisch-tragische Miene, und kurz schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, daß sie sich diesen Mann überhaupt nicht verzweifelt vorstellen konnte. Sie fand das eigenartig. Sie hatte noch nie einen Menschen getroffen, von dem sie annahm, er könne keinen Schmerz empfinden.
«Wer kümmert sich um das Haus?«fragte Bernhard, erneut zu einer sachlichen Thematik wechselnd.
«Meine Eltern fahren manchmal her. Einmal im halben Jahr ungefähr. Ein Junge aus dem Dorf mäht im Sommer den Rasen.«
«Warum verkauft deine Schwester es nicht?«
Leona zuckte die Schultern.»Es hängt wohl mit einer gewissen Sentimentalität zusammen. Wir haben diese Haushälterin sehr geliebt. Ich fürchte, keiner von uns bringt es fertig, ihr Haus zu verkaufen.«
«Ihr seid eine eigenartige Familie«, sagte Bernhard, im gleichen Tonfall, in dem er vor wenigen Minuten die Familie als» kompliziert «bezeichnet hatte.
«Etwas unpraktisch«, meinte Leona,»und unvernünftig.«
«Aber nicht unoriginell.«
«Immerhin.«
Er stellte sein leeres Glas ab.
«Komm, gehen wir irgendwo essen. Ich habe einen Bärenhunger. Ich lade dich ein.«
Leona lachte.»Hier kann man nicht essen gehen. Wir müßten bis Fulda fahren, und das ist auch nicht ganz nah. Ich werde etwas kochen für uns, okay?«
Bernhard, der schon aufgestanden war, setzte sich wieder.
«Wenn du dich das nächste Mal vor einem Verrückten versteckst, dann besprich das doch vorher mit mir, ja? Ich kenne ein paar Ecken in Deutschland, da ist man auch sicher, und es herrscht trotzdem eine gewisse Zivilisation dort.«
Im Schein eines Windlichts saßen sie nach dem Essen auf der Veranda. Aus dem dunklen Garten wogte Blütenduft heran, süßer und intensiver als am Tag. Im Mondlicht glänzten die Stämme der Birken wie helles Silber.
«Ganz bald«, sagte Leona,»werden hier die Glühwürmchen herumschwirren.«
«Der Juni ist ihre Zeit«, sagte Bernhard.
«Früher waren immer Unmengen hier. Ich war in solchen Nächten nicht zu bewegen, ins Bett zu gehen. Ich wollte nur dasitzen und die Glühwürmchen anschauen. Ich glaube, heute wäre es genau das gleiche.«
«Ich wußte gar nicht, daß du so eine romantische Veranlagung hast!«
«Nur bei Glühwürmchen.«
Er sah sie lange an.»Sicher?«
Er neigte sich über den Tisch und küßte ihre Wange, und als sie nicht auswich, küßte er ihren Mund.
Sie lehnte sich zurück und fragte:»Hast du nichts gehört?«
«Was denn?«
«Ich dachte, jemand hätte gehustet.«
«Du kannst es übrigens ganz offen sagen, wenn dir die Situation unangenehm ist«, sagte Bernhard ärgerlich,»du brauchst dich wirklich nicht in Ablenkungsmanöver zu flüchten.«
«Das war kein Manöver. «Leona erhob sich, sah sich unruhig um, hätte aber in der Dunkelheit ohnehin nichts erkennen können.»Ich habe etwas gehört.«
«Irgendein Tier vielleicht. Wir sind ja direkt am Wald.«
«Ich möchte nachsehen«, beharrte Leona nervös.
Sie lief ins Haus, knipste überall die Lichter an. Der Schein fiel hell in die Nacht, aber Bernhard fragte sich trotzdem, welchen Sinn diese Aktion haben sollte: Im Garten konnte man ohnehin nichts sehen.
Leona kehrte mit einer Taschenlampe zurück und fing an, damit Kreise um das Haus zu ziehen und in die Gebüsche zu leuchten.
Es war nichts Auffälliges zu entdecken.
Bernhard war auf der Veranda stehengeblieben und zündete sich eine Zigarette an. Er fragte sich, ob Leona wirklich ein Geräusch gehört hatte oder ob sie die Show mit der Taschenlampe nur inszenierte, um ihn von sich abzulenken. Es hatte ihn erregt, sie zu küssen. Ihre Lippen hatten sich kühl und glatt angefühlt, und er mochte es, wie der Rotwein in ihrem Atem roch. Aber er hatte auch ihre Angespanntheit bemerkt, eine innere Abwehr, eine Distanz, die nicht in ihrer Stimme geklungen hatte, als sie damals bei ihm angerufen hatte.
An jenem Abend, dachte er, hätte ich sofort losfahren müssen. Sie war schwach. Sie fühlte sich einsam. Sie hatte jegliches Selbstvertrauen verloren. Ich hätte nur die Arme ausbreiten müssen, und sie hätte sich hineinsinken lassen. Inzwischen, das sah er deutlich, hatte sie ihren Tiefpunkt überwunden. Auf geheimnisvolle Weise waren ihre Kräfte zurückgekehrt. Sie trug den Kopf wieder hoch und hatte ihre Angst im Griff.
Er konnte sie nicht mehr sehen, nur das Licht der Taschenlampe hüpfte geisterhaft zwischen den Bäumen im Garten umher.
«Und — siehst du etwas?«rief er.
«Nein. «Sie schälte sich aus der Dunkelheit, kehrte auf die Veranda zurück.»Da war nichts. Aber ich bin absolut sicher,daß ich etwas gehört habe.«
Unwirsch sagte er:»Ein Tier, das habe ich doch schon gesagt. Die kommen nachts aus dem Wald und gruscheln herum.«
«Es war ein Husten«, beharrte Leona,»und zwar ein menschliches Husten. «Im Licht, das aus den Fenstern fiel, sah sie blaß aus.»Ich kann mich doch nicht so täuschen!«
«Ich muß sagen, ich finde es bemerkenswert, wie du dich noch auf deine Umgebung konzentrieren kannst, während du geküßt wirst«, meinte Bernhard.
Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. Zum Teufel, er war wirklich gierig nach dieser Frau! Die Berührung ihrer Lippen hatte bewirkt, daß er in diesem Moment nicht einmal den Einschlag einer Bombe neben sich wahrgenommen hätte.»Alle Achtung, du bist ganz schön kaltblütig!«
Sie nahm sich ebenfalls eine Zigarette, wartete einen Moment, ob er ihr Feuer geben würde, griff dann selbst nach den Streichhölzern.
Bernhard hatte keine Lust, höflich zu sein. Er wußte, daß die Aggression, mit der er auf Zurückweisungen durch Frauen reagierte, kindisch war, aber er vermochte sie nicht zu bewältigen.
«Bernhard, ich habe dich damals angerufen, weil ich…«, begann Leona, aber er unterbrach sie sofort:»Hör auf mit Erklärungen! Du hättest mir gleich sagen können, daß du nur einen guten Onkel suchst, der dein Händchen hält.«
Leona merkte, daß nun auch in ihr Wut erwachte.»Ich habe jedenfalls nie gesagt, daß ich eine Affäre mit dir beginnen will. Ich brauche einen Freund. Keinen Liebhaber.«
«Entschuldige bitte, aber du bist weiß Gott keine siebzehn mehr. Allmählich müßtest du die Spielregeln kennen. Glaubst du ernsthaft, ein Mann setzt sich ins Auto und fährt in den hinterletzten Winkel Deutschlands, nur um seine starke Schulter zum Anlehnen oder sein Ohr zum Anlabern anzubieten?«
«Bisher«, sagte Leona kalt,»habe ich mich weder angelehnt noch gelabert. Ich habe dir ein Abendessen gekocht und mich mit dir unterhalten. Unser damals geplantes Treffen war längst abgesagt. Du bist auf eigene Faust hergekommen, das weißt du.«
Sie zog sich den Aschenbecher heran und bemühte sich, ruhig zu werden. Es hatte keinen Sinn zu streiten. Sie mußte Bernhard bis zum nächsten Morgen aushalten — alkoholisiert, wie er war, konnte sie ihn nicht heimschicken.
«Warum streiten wir eigentlich?«fragte sie vernünftig.»Es gibt keinen Grund. Wir hatten ein Mißverständnis, das ist alles. Laß uns zusammen den Wein zu Ende trinken und einander nicht mehr angiften.«
Bernhard setzte sich wieder, griff nach seinem Glas, kippte den Inhalt hinunter, griff nach der Flasche, schenkte sich ein und trank ebenso aggressiv und hastig wie zuvor.
«Dir wird ziemlich schlecht sein morgen früh, wenn du so weitermachst«, sagte Leona.
Er gab zurück:»Das ist meine Sache, oder?«
«Natürlich.«
Sie hatte sich nicht wieder hingesetzt und begann nun, das Geschirr auf dem Tablett zusammenzustellen. Die Weinflasche und Bernhards Glas ließ sie zurück.
«Ich gehe schlafen. Wenn du ins Haus kommst, schließe bitte die Tür hinter dir zu. Dein Zimmer ist oben, erste Tür links. Du findest dort alles, was du brauchst.«
Wie sie erwartet hatte, blieb er draußen sitzen und ließ sie den Abwasch ganz allein machen. Während sie zornig und lautstark mit Tellern und Töpfen klapperte, überlegte sie, daß sie damals tatsächlich einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte, als sie Bernhard ihren Aufenthaltsort mitteilte. Nun war er ohne weitere Absprache bei ihr aufgekreuzt, saß dort draußen, betrank sich und zeigte die unangenehme Seite seines Charakters. Abgesehen davon, daß sich Leona unbehaglich fühlte in seiner Gegenwart, machte sie auch dieses ominöse Husten oder Räuspern sehr nervös. Konnte es sein, daß jemand — Robert? — Bernhard gefolgt war?
Aber wie sollte er das machen, dachte sie, während sie mit einem Lappen den Küchentisch sauberwischte. Er müßte ein Auto haben. Und wie sollte er sich in der Zwischenzeit eines besorgt haben?
Sie erinnerte sich, daß Wolfgang gewarnt hatte, Robert in der Phantasie zu einem Übermenschen hochzustilisieren.»Er kann nicht durch Wände gehen, er kann nicht fliegen. Wir müssen sachlich und realistisch bleiben in allem, was wir ihm zutrauen und was nicht.«
Dennoch wurde sie schon wieder von dem unguten Gefühl beschlichen, Robert könnte es möglich gemacht haben. Ihm könnte es gelungen sein, ein Auto zu organisieren.
Sei nicht albern, ermahnte sie sich, sie fahnden nach ihm. Er ist nicht blöd. Er wird es nicht riskieren, in einem gestohlenen Wagen herumzufahren. Dann hätten sie ihn sofort.
In diesem Moment wurde von draußen an die Scheibe des Küchenfensters geklopft, und als Leona herumfuhr, sah sie ein Gesicht, das sich gegen das Glas preßte, Augen, die sie anstarrten.
Ihr Herz jagte los, als wolle es ihren Körper sprengen. Sie hatte einen jähen Schweißausbruch, der Bauch und Rücken mit Nässe überschwemmte, stand eine Sekunde lang wie erstarrt und wurde dann überwältigt von dem instinktiven Wunsch, hinauf in ihr Zimmer zu rennen, die Tür zuzuschlagen, den Schlüssel herumzudrehen und die Möbel vor die Tür zu rücken.
Aber im nächsten Moment hatte sie sich im Griff. Sie stürmte zur Vordertür hinaus und prallte fast mit einem jungen Mann zusammen, der ängstlich zurückwich. Sie sah ein blasses Kindergesicht und furchterfüllte Augen.
«Wer sind Sie?«brüllte sie.»Was tun Sie hier?«
Er wich noch weiter zurück. Er mochte höchstens achtzehn Jahre alt sein und sah trotz seiner Motorrad-Lederkleidung wie ein schüchterner Konfirmand aus.
«Ich… entschuldigen Sie bitte… ich wollte Sie nicht erschrecken…«, stotterte er.
Auf jeden Fall war es nicht Robert!
«Mein Gott«, sagte Leona,»mir ist fast das Herz stehengeblieben. Warum schleichen Sie denn hier herum?«
«Ich… wir haben Sie heute gesehen… am Weiher!«Er starrte sie ehrfürchtig an.»Sie waren ganz schön klasse, wie Sie geschwommen sind!«
Er mußte einer von den Jugendlichen sein, die sie beobachtet hatten. Seine offen gezeigte Bewunderung besänftigte Leona. Schließlich war sie alt genug, um seine Mutter zu sein.
«Und um mir das zu sagen, drücken Sie sich hier herum und erschrecken mich fast zu Tode?«
Er starrte auf den Boden. In den Händen hielt er seinen Motorradhelm und drehte ihn hin und her.
«Wir… wir dachten… wir wollten Sie fragen… wir machen am Samstag abend eine Grillparty am Weiher. So fünfzig, sechzig Leute. Wir wollten Sie fragen, ob Sie vielleicht auch kommen wollen?«
Er hob die Augen und sah sie hoffnungsvoll an. Leona fühlte sich so erleichtert, daß sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre.
«Ich überlege es mir«, sagte sie.»Jedenfalls vielen Dank für die Einladung!«
«Wir würden uns sehr freuen«, stammelte er.
Aus dem Küchenfenster fiel Licht in die nächtliche Dunkelheit, und Leona konnte sehen, daß er rote Wangen bekommen hatte.
«Also dann«, sagte er unbeholfen und wandte sich zum Gehen.
«Wo haben Sie denn Ihr Motorrad?«fragte Leona.»Ich habe gar nichts gehört!«
«Ich hab’s ein Stück weiter weg stehengelassen.«
Er grinste; zehn Schritte von Leona entfernt, schien er sich wieder sicher zu fühlen.»Wollte Sie nicht erschrecken.«
Leona erwiderte sein Grinsen.»Wie rücksichtsvoll von Ihnen. «Dann fiel ihr noch etwas ein.»Sind Sie vor ungefähr einer halben Stunde hinten im Garten herumgeschlichen?«
«Ich bin nicht geschlichen. Ich bin in den Garten gegangen, weil ich dachte, ich finde Sie vielleicht auf der Veranda. Aber da waren Sie gerade… mit dem Herrn beschäftigt, und da wollte ich nicht dazwischenplatzen.«
Sie atmete tief durch. Wieder ein paar graue Haare mehr umsonst gekriegt, dachte sie. Ich hätte Wolfgangs Worte ernster nehmen sollen: Robert kann nicht fliegen!
«Schon okay«, sagte sie,»ich dachte vorhin nur, ich hätte etwas gehört, und das waren offenbar Sie.«
«Kommen Sie am Samstag?«
«Ich denke schon. Gute Nacht.«
«Nacht!«erwiderte er knapp, winkte ihr lässig zu und verschwand in der Dunkelheit.
Kaum war er weg, klingelte das Telefon. Es war Wolfgang.
«Wo warst du denn?«fragte er sofort.»Ich habe es heute nachmittag mehrfach bei dir versucht!«
«Ich war schwimmen. Hallo — übrigens!«
«Hallo. Ich habe mir Sorgen gemacht. Sagtest du schwimmen? Du mußt verrückt geworden sein!«
«Es hat großen Spaß gemacht. Und ich habe einen…«Sie stockte.
Sie hatte» Verehrer «sagen wollen, aber das war der Begriff, den Wolfgang immer für Robert verwendet hatte.
«Ich habe einen Mann kennengelernt, der noch keine zwanzig ist und mich toll findet«, sagte sie.»Stell dir das vor! Er hat mich für Samstag zu einer Party eingeladen.«
«Dann hast du wenigstens etwas Abwechslung«, sagte Wolfgang. Er klang verstimmt.
«Eben. Die kann ich wirklich brauchen.«
Sie sah zum Fenster hinaus auf die Veranda. Bernhard war aufgestanden. Er wandte ihr den Rücken zu, stand am Geländer und starrte in den Garten. Sein Glas hielt er fest umklammert. Selbst von hinten waren ihm Frustration und Wut deutlich anzusehen. Auf dieser Welt wimmelt es wirklich von Spinnern, dachte Leona.
«Ich hatte noch ein Abendessen. Geschäftlich«, sagte Wolfgang.»Ich bin jetzt auf dem Heimweg.«
Ein Abendessen mit deiner Exgeliebten etwa? hätte Leona fast gefragt, aber sie verbiß es sich. Seine Sache. Und die Wahrheit würde er ihr sowieso nicht sagen.
Er wartete einen Moment. Als von ihr nichts kam, sagte er leise:»Ich liebe dich, Leona«, und legte den Hörer auf.
Leona fand, daß dieser Tag eine Menge für ihr Selbstbewußtsein getan hatte. Ein Mann, der sich sinnlos betrank, weil sie ihn abgewiesen hatte. Ein Mann, der sie zu einer Grillparty eingeladen und sich dabei vor Verlegenheit gewunden hatte. Ein Mann, der ihr am Telefon sagte, daß er sie liebte. Wenn jetzt noch das Problem Robert gelöst wäre, könnte das Leben richtig schön sein, dachte sie.
Am nächsten Morgen tauchte Bernhard erst gegen zehn Uhr unten in der Küche auf. Er war sichtlich verkatert, sah grau und unausgeschlafen aus. Mit schmerzlich verzogenem Gesicht blinzelte er in das helle Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel.
«Hast du ein Aspirin?«fragte er, anstatt den obligatorischen» guten Morgen «zu wünschen.
Leona, die am Küchentisch saß und Zeitung las, stand auf, füllte ein Glas mit Wasser, warf die Tablette hinein.
«Hier. Du siehst wirklich ziemlich elend aus. Möchtest du einen Kaffee?«
«Bitte. Der Wein war wohl nicht in Ordnung.«
«Der Wein war schon in Ordnung. Du hast nur zuviel erwischt.«
«Kann sein.«
Mürrisch trank er sein Wasser, zog sich dann die Kaffeetasse heran, die Leona inzwischen gefüllt hatte. Er wehrte ab, als sie ihm den Brotkorb zuschob.
«Nein, um Gottes willen! Ich kann jetzt nichts essen!«
Sie saßen einander schweigend gegenüber.
Schließlich sagte Bernhard:»Ich fahre noch heute zurück.«
Leona nickte.»Das habe ich erwartet.«
«Tut mir leid. Du bleibst hier ziemlich einsam zurück.«
Er machte eine Handbewegung, die die sonnige Küche, die Stille, das leise Ticken der Wanduhr, die aufgeschlagene Zeitung umschrieb.
«Nicht deine Art, nicht wahr? An einem normalen Freitag um zehn Uhr noch am Frühstückstisch zu sitzen und Zeitung zu lesen.«
«Du sitzt ja auch gerade an einem normalen Freitag um zehn am Frühstückstisch.«
«Das ist etwas anderes. Ich habe mich losgeeist für zwei Tage… und dann geht es bei mir ganz normal weiter.«
Er packt’s immer noch nicht, dachte Leona, jetzt muß er mir klarmachen, daß er nur aus Mitleid zu mir gekommen ist und daß ich mich in einer schrecklich bedauernswerten Lage befinde.
«Bei mir geht es auch ganz normal weiter«, erklärte sie.»Ich fahre am Sonntag nach Hause.«
Bernhard schien aus dem Konzept gebracht.
«Wirklich? Ich dachte nicht, daß du an dieser verrückten Idee festhältst!«
«Ich kann mich nicht bis in alle Ewigkeit verstecken. Ich habe keine Lust dazu.«
«Du begibst dich in große Gefahr.«
Sie zuckte mit den Schultern.»Ich bin auch hier in Gefahr. Durch dich, zum Beispiel. Kannst du ausschließen, daß Robert dir gefolgt ist?«
Bernhard lachte.»Ich bitte dich, Leona! Wie denn? Ich bin mit fast zweihundert Sachen über die Autobahn gebraust. Soll er mir mit Rollschuhen hinterher sein?«
«Er könnte auch ein Auto organisiert haben.«
«Wie…?«
«Ich weiß, es ist unwahrscheinlich. Aber nicht undenkbar. Ich wollte dir jetzt auch gar keinen Vorwurf machen. Es ist nur so — in völlige Sicherheit kann ich mich nirgendwo bringen. Und vom Verstecken habe ich ohnehin die Nase voll. Robert hat viel zuviel Macht über mein Leben gewonnen. Ich habe zugelassen, daß er genau das erreicht, was er wollte: Er bestimmt über mich und mein Leben. Ich tue nicht mehr, was ich tun möchte, ich tue, wozu er mich zwingt. Damit muß jetzt Schluß sein.«
«Ich verstehe«, sagte Bernhard,»dann kann man dir wohl nur viel Glück wünschen.«
«Ich glaube, ich kann es brauchen.«
«Ich möchte nicht, daß du mich noch anrufst, wenn du wieder in Frankfurt bist. Es ist besser, wir haben keinen Kontakt mehr.«
«Der Kontakt ist zunächst von dir ausgegangen«, erinnerte Leona.
«Ich weiß, ich weiß.«
Er bekam zwei steile Falten auf der Stirn und rührte etwas zu heftig in seiner Kaffeetasse.
«Ich habe etwas in dir gesehen, was du gar nicht bist, Leona. Du bist ein Wesen voll schrecklicher Probleme. Dein Mann hat dich verlassen, und seitdem läufst du im Zickzackkurs durchs Leben. Dich mit Robert einzulassen war eine furchtbar falsche Entscheidung. Du brauchtest Hilfe.«
«Ich danke dir, daß du sie mir geben wolltest«, sagte Leona gelassen.
Er hörte den Spott aus ihren Worten, musterte sie kühl und sagte bösartig:»Du bist wohl leider zu alt für mich, Leona. Ich hatte noch nie etwas mit einer Frau deines Alters. Du bist über vierzig, nicht?«
«Ich werde Mitte Juni zweiundvierzig.«
«Eva wäre jetzt auch fast so alt. Aber mit ihr lief ja schon lange nichts mehr.«
«Ach — und sonst gehst du wohl nur mit Teenagern ins Bett, was?«
Er rührte wieder in seiner Tasse, der Kaffee schwappte über den Rand.
«Du brauchst gar nicht so zu grinsen, Leona. Meine Studentinnen sind verrückt nach mir. Und die meisten sind Anfang Zwanzig!«
Leona betrachtete ihn nachdenklich. Er prahlt wie ein kleines Kind, dachte sie.
Obwohl er elend aussah an diesem Morgen, war er auch im hellen Tageslicht ein unverkennbar schöner Mann. Er konnte es sich leisten, Arroganz und Unverschämtheit an den Tag zu legen: Vermutlich mußte er nur mit den Fingern schnippen und konnte schon alle Frauen haben, die er wollte. Leona vermochte dies kühl zu analysieren, ebenso wie sie ungerührt seinen giftigen Worten und seiner unverfrorenen Angeberei lauschen konnte. Aber ihr ging auf in diesem Moment, welch eine Tragödie es für eine Frau bedeuten mochte, diesen Mann wirklich zu lieben — so wie Eva es getan haben mußte.
«Es stimmt nicht, was du mir einreden wolltest«, sagte sie,»daß Eva die gleiche Krankheit hatte wie ihr Bruder. Eva war völlig normal. Sie hatte nur das Pech, wahre und tiefe Gefühle für dich zu hegen. Das hat sie schließlich in den Selbstmord getrieben.«
«Was? Ihre Gefühle für mich?«
«Vor allem deine Gefühle für zwanzigjährige Studentinnen. Mit denen kam sie schließlich nicht mehr zurecht.«
«Mein Gott«, sagte Bernhard gelangweilt,»weißt du, daß du dich jetzt schon genau wie Eva anhörst? Vorwürfe, nichts als Vorwürfe. Mich wundert, daß Frauen nie begreifen, wie unattraktiv es sie macht, wenn sie ständig herumnörgeln. Man kriegt Falten davon, mein Schatz, und man treibt jeden Mann in die Flucht.«
Er nahm einen letzten Schluck Kaffee und stand dann auf.
«Ich hole jetzt meine Sachen, und dann fahre ich.«
Kurz darauf polterte er mit seiner Tasche wieder die Treppe herunter. Er schaute nicht einmal mehr in die Küche hinein, sondern verließ sofort das Haus. Leona konnte vom Fenster aus sehen, wie er mit einer lässigen Bewegung die Tasche auf den Rücksitz warf. Seine schwarzen, verwaschenen Jeans saßen etwas zu eng, stellte sie fest, vor allem im Kontrast zu den vielen grauen Strähnen in seinen Haaren. Es schien ihm klar zu sein, daß Leona ihn beobachtete, denn er bewegte sich so forciert cool, daß es schon lächerlich war. Pfeifend stieg er in sein Auto und verzichtete dann immerhin auf die dümmste aller Peinlichkeiten: mit quietschenden Reifen und überhöhter Geschwindigkeit zu starten. Leona sah dem Wagen nach, bis er um die nächste Wegbiegung verschwunden war.
Arme Eva, dachte sie, einen Selbstmord war dieser Mann gewiß nicht wert.
Am Samstagmorgen verkündete Carolin ihrer Familie, sie werde über das Wochenende zu Leona fahren.
«Und Felix nehme ich mit«, fügte sie hinzu.
Sie saßen in der Küche um den Frühstückstisch. Alle hörten auf zu essen und sahen Carolin an.
«Du weißt, wo sie ist?«fragte Elisabeth schließlich.
«Ja.«
«Wo denn?«fragte Olivia.
«Ich möchte es nicht sagen. Wolfgang hat es mir anvertraut,aber er hält es für das beste, wenn es sonst niemand erfährt.«
«Also — wir würden es auch nicht gleich in der Gegend herumposaunen«, meinte Olivia etwas gekränkt.
«Carolin hat schon recht«, gab Julius zu.»Je weniger Leute Bescheid wissen, um so besser. Mich wundert nur, daß Wolfgang dich ins Vertrauen gezogen hat, Carolin!«
«Weil ich eine so unzuverlässige, unstete Person bin?«fragte Carolin aggressiv.
Elisabeth seufzte.»Das wollte Vater doch damit gar nicht sagen. Aber du hattest nie ein besonders gutes Verhältnis zu Wolfgang.«
«Ich hatte immer ein gutes Verhältnis zu Leona, das ist entscheidend«, entgegnete Carolin.»Sie braucht jemanden zum Reden. Schließlich hat sie eine schwierige Situation durchzustehen. Und deshalb fahre ich zu ihr.«
Sie hatte beschlossen, der Familie nichts davon zu sagen, daß Leona vorhatte, ihr Exil zu verlassen, und daß sie hinfuhr, um ihr diesen Plan auszureden. Es hätte Elisabeth und Julius nur erschreckt und geängstigt, davon zu hören.
«Ich kann verstehen, daß sich Leona nach einem Menschen sehnt, der ihr Gesellschaft leistet«, sagte Elisabeth.
Sie sah müder und älter aus als sonst. Die Geschehnisse um Robert und Leona hatten sie tief verstört. Sie versuchte, ihre Angst vor der Familie zu verbergen, schlief aber schlecht und konnte kaum etwas essen. Viele Male am Tag betete sie darum, die Geschichte möge ein rasches und gutes Ende finden.
«Aber ist das nicht zu gefährlich, Carolin? Ich meine, wenn du hinfährst, dann…«
«Robert ist nicht hier in der Nähe. Das hätten wir längst bemerkt. Wenn überhaupt, dann beschattet er Wolfgang. Deshalb fährt der ja auch keinesfalls hin. Aber ich werde ständig in den Rückspiegel schauen. Wenn ich irgend etwas Verdächtiges bemerke, wechsle ich sofort den Kurs.«
«Ich halte das für zu riskant«, beharrte Olivia.
Dany, die mit am Tisch saß und leise brummend ihren Oberkörper vor und zurück wiegte, gab ein paar zornige Laute von sich. Olivia schob ihr rasch einen Löffel mit Cornflakes in den Mund.
«Was sagt denn Ben zu deinem Plan?«wollte Julius wissen.
Ben saß als einziger der Familie nicht mit am Tisch. Er war erst gegen vier Uhr morgens von einer Party zurückgekommen und schlief noch.
«Ich habe ihm nichts gesagt«, entgegnete Carolin kurz.
«Fahren wir zu Tante Leona?«fragte Felix aufgeregt.
Carolin nickte.»Klar. Heute noch. Und du darfst mit!«
«Du solltest das Kind hierlassen«, sagte Elisabeth.»Das alles ist nicht ungefährlich. Verstricke den Kiemen nicht in diese Geschichte!«
«Mami, du siehst wieder einmal Gespenster. Robert hat keine Ahnung, wo Leona ist, sonst hätte er sich nämlich längst bei ihr blicken lassen. Er ist auch nicht hier, um mir zu folgen. Er hockt selber irgendwo in einem Versteck und hofft, daß ihn die Bullen nicht finden. Es gibt überhaupt keinen Grund zur Sorge!«
Sie brach eineinhalb Stunden später auf. Julius lieh ihr seinen Wagen, nicht ohne zu betonen, sie solle seiner Ansicht nach lieber daheim bleiben. Felix saß auf der Rückbank in seinem Kindersitz, hatte Spielsachen und Malpapier neben sich liegen und war voller Vorfreude. Er mochte Tante Leona. Sie war immer so nett zu ihm und schenkte ihm Kaugummi oder Wasserpistolen. Er war gespannt, ob sie diesmal wohl auch eine Überraschung für ihn bereithielt.
Weit und breit war kein anderes Auto zu sehen, als Carolin die Landstraße entlangfuhr. Niemand folgte ihr, niemand schien sie zu beobachten. Entspannt lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück.
Sie freute sich auf das Wiedersehen mit Leona.
Kurz bevor der Zug in Frankfurt einfuhr, verließ Lisa noch einmal ihr Abteil. Sie wollte sich in der Toilette frisch machen und außerdem einen letzten Versuch unternehmen, Lydia vom Zugtelefon aus zu erreichen. Sie hatte es am Vortag fünfmal bei ihr probiert, aber nie war jemand an den Apparat gegangen. Es hatte Lisa irritiert, von der Frau, mit der sie eine Verabredung getroffen hatte, nichts mehr zu hören, aber sie sagte sich, daß Lydia berufstätig sein mochte oder verreist war und trotzdem am Samstag um ein Uhr wie besprochen in ihrer Wohnung auf sie warten würde. Sie hoffte von ganzem Herzen, daß die Fremde nicht ihre Meinung geändert hatte und einem Gespräch über Robert Jablonski nun aus dem Weg gehen wollte. Während ihres ersten — und bisher letzten — Telefongespräches hatte Lisa Lydia gebeten, es ihr aufrichtig zu sagen, wenn sie letztlich doch keine Zusammenkunft wünschte.
«Sie können mich jederzeit anrufen. Wenn ich nicht da bin, läuft ein Band. Ich könnte es verstehen, wenn Sie über all diese Dinge nicht mehr sprechen wollten, obwohl ich mir natürlich sehr wünschen würde, etwas über den Mann zu erfahren, der… der meine Schwester umgebracht hat.«
Lydia hatte den Eindruck gemacht, als erschrecke sie geradezu bei der Vorstellung, die Verabredung könne am Ende noch scheitern.
«Nein, wo denken Sie hin! Natürlich werde ich alle Fragen beantworten.«
Sie legte einen Übereifer an den Tag, den Lisa fast als etwas aufdringlich empfand.
«Wissen Sie, ich freue mich auf Ihren Besuch. Ich bin Frührentnerin, und es gibt so wenige Menschen in meinem Leben…«
Stimmt, Frührentnerin hat sie gesagt, dachte Lisa nun, während sie sorgfältig die Tür der Zugtoilette hinter sich verriegelte. Dann ist sie also nicht berufstätig! Komisch, daß sie dann den ganzen Tag und Abend nicht ans Telefon geht.
Andererseits — es kann tausend Gründe dafür geben.
Der Zug schwankte und schaukelte. Irgend jemand hatte gründlich danebengepinkelt. Lisa haßte solche Leute. Kaum standen sie unter dem Schutz der Anonymität, und kaum benutzten sie ein fremdes Bad, fielen Zivilisation und Erziehung von ihnen ab, und sie benahmen sich wie Höhlenmenschen — falls nicht diese sogar mehr Manieren an den Tag gelegt hatten. Vermutlich waren es solche Leute sogar, die sich nachher am lautesten über den Hundekot in den Straßen beschwerten.
Lisa balancierte um die widerliche Pfütze herum und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Das Licht in diesem Raum war miserabel und verlieh ihr eine kränkliche Hautfarbe. Sie legte etwas mehr Make-up auf, tupfte mit dem Rougepinsel ein paarmal über ihre Wangenknochen. Sie tuschte die Wimpern nach und malte sorgfältig die Lippen in einem dunklen Rot aus. Sie genoß es, schöne, teure Kosmetik zu benutzen, nicht mehr das billige Kaufhauszeug. Auch machte es Spaß, wirklich elegante Klamotten zu kaufen, sich in feinen Geschäften beraten zu lassen.
Für die Fahrt nach Frankfurt hatte sie einen Hosenanzug aus rehbraunem, sehr feinem Wildleder gewählt; darunter trug sie eine cremefarbene Seidenbluse. In den Ohren und um den Hals Perlen — echte Perlen! Das Geschenk eines Immobilienmaklers aus Düsseldorf, der sie für einen Abend in München gebucht hatte. Sie waren ins Theater und danach in ein Restaurant gegangen, und dann war er ihr ohne viele Umschweife in ihre Wohnung gefolgt. Er hatte sie gefragt, ob sie tolerant sei, und durchblicken lassen, daß er sich ihre Toleranz einiges würde kosten lassen. Lisa war längst an einem Punkt angelangt, an dem sie die Dinge nur noch unter dem geschäftlichen Aspekt sah. Seine Wünsche erwiesen sich in der Tat als höchst ausgefallen, aber offenbar erfüllte sie sie zu seiner Zufriedenheit. Am nächsten Morgen schleppte er sie zu einem
Juwelier und zahlte ein halbes Vermögen für die Perlen. Er würde einmal im Monat nach München kommen, kündete er an, und Lisa hatte bei dem Juwelier schon einen Brillantring erspäht, auf den hinzuarbeiten sie beschlossen hatte.
Trotz des penetranten Uringestanks und der unschönen Beleuchtung mußte Lisa lächeln. Kaum zu glauben, welch positive Wendung ihr Leben genommen hatte! Eine hübsche Wohnung, schöne Kleider, Geld, unterhaltsame Abende mit reichen, interessanten Männern. Zum ersten Mal in ihrem ganzen Dasein liebte sie ihr Leben wirklich. Und doch hatte sie immer wieder das Gefühl, es gebe da etwas, das sie hinderte, ihre Freude so hemmungslos auszukosten, wie sie das gerne getan hätte. Immer wenn sie sich hinsetzen, tief durchatmen und ihr Glück mit allen Fasern spüren wollte, schlich sich etwas Dunkles, Drohendes, dessen Herkunft und Beschaffenheit sie nicht ausmachen konnte, heran und setzte sich wie ein großes Hindernis in die Bahnen, über die ihre Freude strömen wollte. Jedesmal versuchte sie,»es«, wie sie es nannte, beiseite zu schieben, jedesmal scheiterte der Versuch. Es durchzog ein Gift ihr Leben, dessen sie nicht Herr werden konnte. Irgendwann war ihr der Gedanke gekommen, es könne mit ihrer Schwester zusammenhängen, und daher hatte sie Kommissar Hülsch aufgesucht, von dem sie spürte, daß er es immer gut mit ihr gemeint hatte. Nun hoffte sie, das Wochenende mit Lydia würde» es «für alle Zeiten in der Versenkung verschwinden lassen. Wenn nur die Alte nicht plötzlich kniff!
Wäre eine Frechheit, dachte Lisa, nachdem ich mich stundenlang in den Zug gesetzt habe!
Sie tupfte etwas Parfüm hinter die Ohren und verließ die Toilette. Ein Mann, der gerade vorbeikam, starrte sie bewundernd an.
Ihr Herz klopfte schneller. Ich will es genießen! Ich will es genießen, solange ich jung bin!
Sie durchquerte den halben Zug, bis sie den Speisewagen erreichte, wo sich das Telefon befand. Sie wählte Lydias Nummer und ließ es klingeln, bis die Verbindung abbrach. Niemand meldete sich.
Lisa runzelte die Stirn. Es war halb zwölf. In eineinhalb Stunden sollte sie in Lydias Wohnung sein.
Und die Frau war immer noch nicht daheim!
Lisa leistete sich ein Taxi vom Hauptbahnhof zu Lydias Adresse. Lydia hatte ihr zwar beschrieben, wie sie mit der Straßenbahn zu ihr gelangen konnte, aber das erschien ihr zu umständlich.
Der Taxifahrer musterte sie ständig im Rückspiegel.
Wenn der wüßte, in welch absurder Mission ich im Grunde unterwegs bin, dachte sie.
Nachdem sie ihn vor Lydias Haus bezahlt hatte und er davongefahren war, fragte sie sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Hätte sie ihn vorsichtshalber bitten sollen, zu warten? Aber dann beschloß sie, auch wenn Lydia immer noch nicht dasein sollte, keinesfalls sofort umzukehren.
Die Ahnung, die sie seit dem Vortag mit sich herumschleppte, bestätigte sich. Auf ihr Klingeln rührte sich nichts. Kein Knacken in der Sprechanlage, kein Summen des Türöffners. Alles blieb ruhig.
«Verdammt!«sagte Lisa laut.
Sie starrte die Hauswand hinauf, aber sie hatte keine Ahnung, welche der Fenster zu Lydias Wohnung gehörten. Sie klingelte noch dreimal, aber wiederum geschah nichts.
Lisa blickte auf ihre Uhr. Es war fast zehn nach eins. Für ein Uhr waren sie verabredet gewesen. Vielleicht war Lydia unterwegs und hatte es nicht pünktlich geschafft. Vielleicht steckte sie irgendwo in einem Verkehrsstau fest und saß schon auf glühenden Kohlen. Am besten wäre es, irgendwo zu warten und nach einer Weile noch einmal zum Haus zurückzukehren.
Ein Rentner, der eindeutig viel zu warm angezogen war, in Schal und Mantel, kam aus dem Haus gehumpelt, blieb in der Tür stehen und blinzelte ungläubig in die Sonne; so als sei ihm die Tatsache, daß der Sommer gekommen war, bisher verborgen geblieben. Lisa fragte sich, weshalb alte Leute immer in Türen stehenblieben, um auszuruhen, die Lage zu peilen oder die Vorgänge, die sich um sie herum abspielten, zu begreifen. Meist versperrten sie auf diese Weise einer Menge anderer Leute den Weg, was sich hätte vermeiden lassen, wären sie nur drei Schritte weiter gegangen.
Lisa trat auf ihn zu.»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie und bemühte sich um ein vertrauenerweckendes Lächeln,»ich bin mit Frau Behrenburg verabredet. Aber sie reagiert nicht auf mein Klingeln. Kann es sein, daß sie verreist ist? Wissen Sie das vielleicht?«
Er starrte sie ratlos an. Es dauerte geschlagene fünf Minuten, ehe er begriff, wonach Lisa fragte. Dann folgte seine niederschmetternde Antwort: Lydia Behrenburg sei seit fast einer Woche verreist. Ihr Auto sei aus der Tiefgarage des Hauses verschwunden, und niemand habe sie mehr gesehen.
Carolin war der Star der Party.
Leona beobachtete ihre Schwester mit Bewunderung: Sie kannte niemanden von den etwa sechzig anwesenden Jugendlichen und hatte mit den meisten von ihnen sicher nur wenig gemein. Aber sie war nach wenigen Minuten bereits integriert, plauderte, lachte, flirtete, hopste zu der Musik aus dem mitgebrachten Kassettenrecorder zwischen den Bäumen herum. Sie trug ein enges weißes T-Shirt, hatte sich dazu einen Wickelrock aus einem billigen, blau-weiß bedruckten Stoff um die Hüften geschlungen. Ihre Füße steckten in weißen Tennisschuhen, und ihre langen blonden Haare wallten offen bis zur Taille hinab. Sie sah hinreißend aus, fand Leona. Bei all ihrer unmöglichen Lebensführung, ihrer Arbeitsunwilligkeit und dem Hang zu nichtsnutzigen Männern hatte sie sich doch eine Fröhlichkeit und Unkompliziertheit bewahrt, die Leona bisher gar nicht richtig bewußt geworden war. An diesem Abend begriff sie etwas von Carolins Philosophie, die diese vermutlich völlig unbewußt lebte: Carpe diem. Carolin lebte von einem Augenblick zum nächsten, und ihr oberstes Prinzip dabei war, daß sie so viel Spaß und Glück wie nur möglich fand. Weder hielt sie sich mit Ärgernissen und Niederlagen aus der Vergangenheit auf, noch verlor sie sich in Grübeleien um die Zukunft. Für sie hatte nur Wichtigkeit und Bedeutung, was sich unmittelbar neben ihr und um sie herum abspielte.
Leona hatte auf der Veranda im Liegestuhl gesessen und in einer Illustrierten gelesen, als Carolin, gefolgt von Felix, um die Ecke gebogen war.
«Hallo, Leona!«hatte sie gesagt.»Hier sind wir!«
Leona war hochgeschreckt, hatte Schwester und Neffen entgeistert angesehen.
«Wo kommt ihr denn her?«
Carolin verstaute den Autoschlüssel in ihrer Handtasche und ging die Stufen zur Veranda hinauf.
«Aus Lauberg natürlich. Ich dachte, du freust dich vielleicht über ein bißchen Gesellschaft.«
«Tante Leona!«schrie Felix glücklich.
Leona stand von ihrem Liegestuhl auf und breitete die Arme aus. Felix stürzte hinein, ließ sich hochheben und sogar küssen.
«Freust du dich?«rief er.
«Und wie«, versicherte Leona. Über Felix’ Kopf hinweg sah sie ihre Schwester an.
«Du solltest doch nicht…«
Carolin hob beide Hände.»Mir ist niemand gefolgt. Ich schwöre es!«
«Nicht deshalb. Ich will einfach nicht… ich will es alleine schaffen.«
«Schon gut. Aber im Moment brauchst du jemanden, der dir ins Gewissen redet. «Carolin ließ sich auf einen der Gartenstühle fallen.
«Meine Güte, ist das heiß heute! Ich bin fast zerschmolzen im Auto!«
«Hast du Eis, Tante Leona?«fragte Felix.
Leona setzte ihn auf den Boden.
«Im Tiefkühlfach im Eisschrank. Hol dir eins!«Felix rannte ins Haus. Leona sah ihre Schwester an.
«Wieso brauche ich jemanden, der mir ins Gewissen redet?«
«Wolfgang hat mich angerufen. Er sagt, du willst am Montag wieder nach Hause zurückkehren.«
«Am Sonntag. Morgen abend.«
«Du bist verrückt. Dann ist doch alles hier umsonst gewesen.«
«Das mag für dich so aussehen. Für mich war es eine ganz wichtige Zeit. Ich weiß jetzt eine Menge mehr als vorher.«
«Und was weißt du?«
Leona schüttelte den Kopf.»Das werde ich dir irgendwann einmal erzählen. Nicht jetzt. «Sie lächelte.»Weißt du«, sagte sie,»du wirst mich zwar ganz sicher nicht davon abhalten, morgen abend nach Frankfurt zurückzufahren, aber ich freue mich trotzdem, daß ihr da seid. Hast du Lust, mich heute abend mit Felix zusammen zu einer Party zu begleiten?«
Der Junge, der zu ihrem Haus gekommen war und sie eingeladen hatte, war ihnen sogleich entgegengeeilt, als sie den Weiher im Wald erreichten. Er konnte es kaum fassen, daß Leona wirklich erschienen war.
«Find’ ich echt klasse von Ihnen«, sagte er verlegen,»hätte ich nicht gedacht, ehrlich nicht.«
Carolin streckte ihm die Hand hin.»Ich heiße Carolin. Ich bin Leonas Schwester.«
«Ach, toll, daß Sie auch da sind. Ich heiße Jens!«
«Er hat ganz feuchte Hände«, flüsterte Carolin Leona zu,
«ich glaube, du bringst ihn unheimlich in Verlegenheit.«
Es wimmelte von jungen Leuten um den See herum; aus all den vielen kleinen Dörfern im Umland mußten sie zusammengeströmt sein. An mehreren Feuerstellen wurden Würstchen, Kartoffeln und Mais gegrillt. Es gab Salate, Brot und unzählige Kisten mit Wein und Bier. Leona hatte ebenfalls einige Weinflaschen und eine Schüssel Kartoffelsalat mitgebracht. Sie fühlte sich ein wenig außerhalb des Geschehens, da sie doppelt so alt war wie die meisten Anwesenden. Allerdings schien das niemanden zu stören. Die Stimmung war unkompliziert und fröhlich. Leona kannte die Musik nicht, die in ohrenbetäubender Lautstärke um den Weiher dröhnte, aber es war offensichtlich, daß die jungen Leute ganz heiß darauf waren. Wer nicht aß, tanzte, und ab und zu verzogen sich schmusende Pärchen in die Büsche. Jemand hatte ein Schlauchboot mitgebracht, das nun über das schwarze Wasser trieb; darin saßen ein paar verträumt dreinblickende Mädchen mit den sanften Madonnengesichtern der weiblichen Flowerpower-Jugend aus den sechziger Jahren. Sie hielten brennende Kerzen in den Händen und schienen vor sich hin zu summen.
Leona, die auf einem Baumstamm saß, ein Glas Wein in der Hand, lächelte etwas wehmütig. Wie jung sie sind, dachte sie, und wie ernsthaft.
Carolin tanzte mit einem bärtigen jungen Mann, der an die zwei Meter groß war und sich völlig gegen den Rhythmus bewegte, dies jedoch mit einer Art rührender Hingabe tat. Felix baute, unterstützt von zwei Mädchen, einen Staudamm am Rande des Weihers. Die Luft kühlte jetzt am Abend kaum ab. Die Juninacht war hell, um zehn Uhr war es noch immer nicht ganz dunkel geworden.»Geht es Ihnen gut? Sie wirken so nachdenklich!«Leona blickte auf. Jens stand vor ihr. Er trug seine schwarze Motorrad-Lederkleidung, in der er sich fast zu Tode schwitzen mußte, aber Leona nahm an, daß er sie brauchte, um seine allzu empfindsame Seele dahinter zu verbergen.
«Mir geht es gut«, sagte sie,»wirklich. Es ist ein schöner Abend.«
Jens setzte sich auf den Baumstamm neben sie.
«Sie haben den Mann gar nicht mitgebracht.«
«Welchen Mann?«
«Den, der neulich bei Ihnen war. An dem Abend, als ich kam.«
«Ach, der«, sagte Leona. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.»Der war schon am nächsten Tag wieder fort.«
Jens nickte.»Mein Freund Tim findet Ihre Schwester toll«, sagte er vertraulich.
«Ist das der, mit dem sie tanzt?«
«Ja. Er sagt, sie sieht einfach klasse aus.«
Leona fand, daß Tim recht hatte. Es machte Spaß, Carolin beim Tanzen zuzusehen. Sie bewegte sich graziös und anmutig wie eine zarte Elfe.
«Möchten Sie vielleicht auch tanzen?«fragte Jens, und trotz der nun tiefer werdenden Dunkelheit konnte Leona erkennen, wie ihm das Rot in die Wangen schoß. Sie stellte ihr Glas ab.
«Gern«, sagte sie.
Lisa hatte eine kleine Pension in einer der ruhigen Wohnstraßen des Viertels gefunden, nur zwei Ecken entfernt von dem Haus, in dem Lydia wohnte. Glücklicherweise waren Zimmer frei.
«Es kann sein, daß eine Bekannte von mir hier sogar ein Zimmer für mich vorbestellt hat«, hatte sie der Besitzerin bei der Ankunft gesagt.»Sie heißt Lydia Behrenburg. Das Zimmer müßte reserviert sein für Lisa Heidauer.«
Die Frau hatte in einem Buch nachgesehen und den Kopf geschüttelt.»Nein. Hier ist nichts vorbestellt.«
«Oh — dann habe ich mich getäuscht. Ich brauche trotzdem ein Zimmer.«
Natürlich mußte das nichts bedeuten. Lydia konnte dennoch ein Zimmer für sie bestellt haben — in einer anderen Pension oder in einem Hotel.
Obwohl, dachte sie, dies hier ideal gewesen wäre. Fünf Minuten zu Fuß von ihrer Wohnung entfernt!
Alles deutete darauf hin, daß Lydia Behrenburg den ihr angekündigten Besuch völlig vergessen hatte. Wenn ihr Auto verschwunden war, dann war sie wohl tatsächlich verreist.
War sie einfach eine schusselige alte Tante, die Verabredungen so schnell vergaß, wie sie sie traf?
Lisa hatte ihren kleinen Koffer ausgepackt, sich geduscht und ein leichtes Kleid angezogen. Als sie am Morgen in München aufgebrochen war, hatte noch frischer Tau über allen Wiesen gelegen, und die Luft war kühl gewesen. Inzwischen hatten die Temperaturen sommerliche Werte erreicht. Im Kessel Frankfurt herrschte drückende Schwüle.
Sie verbrachte den Nachmittag damit, durch die Stadt zu bummeln, die Hochhäuser zu bestaunen und in Schaufenster zu blicken, sich Dinge auszusuchen, die sie kaufen würde, wären die Geschäfte offen oder hätte sie genügend Geld.
Am Spätnachmittag war sie noch einmal bei Lydia vorbeigegangen, ohne allerdings wirklich die Hoffnung zu hegen, ihre Gastgeberin könnte inzwischen daheim aufgekreuzt sein. Natürlich blieb alles so still wie vorher.
Sie ging in die Pension zurück, legte sich auf ihr Bett und schlief tatsächlich nach einer Weile ein. Als sie aufwachte, war es schon dämmrig draußen, und durch das geöffnete Fenster drang ein leiser Windhauch, der die lastende Hitze ein wenig erträglicher machte. Lisa stellte fest, daß es fast neun Uhr geworden war. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen. Sie würde sich irgendwo ein Bistro suchen und eine Kleinigkeit zu sich nehmen.
Sie ging wiederum an Lydias Haus vorbei, klingelte erneut, starrte an der Fassade empor und hoffte wider alle Vernunft, Lydias Stimme durch die Sprechanlage zu hören. Es befiel sie ein eigenartiges Gefühl, ein Gefühl, daß etwas nicht stimmte, aber sie sagte sich, daß dies kein Wunder sei, denn es stimmte ja tatsächlich etwas nicht: Es war nicht üblich, eine Verabredung, zu der sich einer der Beteiligten über mehrere hundert Kilometer weit herbeibemühen mußte, einfach zu vergessen.
Sie hatte dann tatsächlich ein kleines Bistro gleich an einer dichtbefahrenen Hauptverkehrsstraße gefunden und sich an einen der kleinen, runden Tische draußen auf dem Bürgersteig gesetzt. Sie bestellte einen Salat, Fisch und Mineralwasser. In ihrem Job mußte sie auf die Figur achten.
Es war inzwischen nach zehn Uhr, sie saß zurückgelehnt, rauchte eine Zigarette. Ein Mann war an ihren Tisch getreten, hatte sie gefragt, ob sie schon etwas vorhabe heute abend, und sie hatte ihn ziemlich direkt, fast grob abblitzen lassen. Schließlich war sie nicht im Dienst, und außerdem verursachte ihr die Geilheit in den Augen der Männer an manchen Abenden Übelkeit. Heute war so ein Abend.
Sie hatte Kopfweh, was an der Hitze, den Reisestrapazen oder an der Frustration liegen mochte — oder an allem zusammen.
Ist es denn wirklich so wichtig, mit dieser Frau zu sprechen? fragte sie sich. Aber irgend etwas sagte ihr, daß es wichtig sei, sonst hätte sie nicht alles für den Besuch in die Wege geleitet; sonst würde sie sich jetzt nicht so elend, so zurückgewiesen, so tief enttäuscht fühlen.
Und dann war da auch noch diese andere Stimme; die, deren Flüstern sie schon vorher vernommen hatte, als sie vor Lydias Haus gestanden und vergeblich geklingelt hatte: die Stimme, die davon sprach, daß etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Lydia Behrenburg war so versessen auf das Treffen gewesen. Lisa erinnerte sich, sie fast schon als aufdringlich empfunden zu haben. Sie hatte davon geredet, daß sie so wenig Kontakt mit anderen Menschen hatte und daß sie sich so freue auf Lisas Besuch. Lisa wußte noch, daß sie gedacht hatte: Meine Güte, die muß aber einen Notstand haben! So ein Gespräch mit mir über einen geisteskranken Verbrecher muß doch gräßlich sein für sie. Wie kann sie da so begeistert reagieren?
Und diese Frau verreiste nun einfach, diese einsame Person, die sich schon über den Anruf einer Wildfremden freute? Wohin sollte sie überhaupt reisen? Da gibt es viele Möglichkeiten, sagte Lisa zu sich, vielleicht ist jemand aus ihrer Familie krank geworden oder gestorben, und sie mußte Hals über Kopf dorthin reisen. Da hat sie dann an mich natürlich nicht mehr gedacht.
Irgendwie blieb das ungute Gefühl jedoch bestehen, auch dann noch, als sie bezahlte, aufstand und sich durch die stillen Straßen auf den Rückweg machte. Die warme Nacht duftete in einer Intensität, wie Lisa es lange nicht mehr erlebt hatte. Oder hatte sie nur nicht mehr darauf geachtet? Vielleicht war es ganz normal, daß sie dieses Gefühl von Bedrohung hatte; es lag an der Angelegenheit, in der sie unterwegs war, daran, daß das Verbrechen plötzlich in ihr Leben getreten war. Sie dachte, daß es kein Wunder war, daß die Angehörigen von Verbrechensopfern intensiver Hilfe und Unterstützung nach der Tat bedurften. Es ging nicht nur einfach darum, die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen zu bewältigen. Es ging darum, daß das Leben seine gewohnte Bahn verließ, wenn Gewalt und Wahnsinn in es eindrangen. Entgegen allem, was man sah und hörte ringsum auf der Welt, glaubte man nicht wirklich an die Existenz des Bösen. Schlug es zu, war man getroffen, als habe man nicht einmal die Möglichkeit in Erwägung gezogen.
Und man zieht sie auch nicht in Erwägung, dachte Lisa. Bis es passiert, hält man sich für immun. Und danach fühlt man sich schutzlos und nackt wie ein neugeborenes Kind.
Auf einmal spürte sie den starken Wunsch, jemand würde sie in den Arm nehmen. Sie wünschte, sie könnte ihren Kopf anlehnen und weinen. Sie wünschte, jemand würde ihr sagen, daß sie keine Angst haben müsse. Sie wünschte, sie wäre ein kleines Kind, dem jemand Schokolade in den Mund steckte, damit es wieder lachen konnte.
Aber sie war kein Kind, und niemand erschien, um sie zu trösten. Sie ging allein durch die dunklen Straßen dieser fremden Stadt, und die anheimelnden Lichter aus den Häusern rechts und links, die Stimmen und das Gelächter, die gedämpft aus den rückwärtigen Gärten klangen, grenzten sie aus und warfen sie auf sich selbst zurück.
Irgendwo lief der Mörder ihrer Schwester herum. Aber auf einmal waren weder er noch die tote Anna länger wichtig. Auf einmal fühlte Lisa, daß sie schon viel toter war als Anna. Wenn Totsein Leere und Dunkelheit waren, dann war sie tot. Dann war es nur noch ein dummer Zufall, daß ihr Herz ständig weiterschlug.
«O Gott, Leona, ich brauche eine Pause! Wenn ich noch einmal tanze, falle ich ins Wasser!«
Carolin ließ sich neben Leona auf den weichen Waldboden fallen, strich sich die Haare aus dem erhitzten Gesicht. Im Schein der Feuer und Fackeln konnte Leona sehen, daß die Wangen ihrer Schwester glühten.
«Willst du was trinken?«fragte sie.
«Gern!«
Dankbar nahm Carolin den Becher mit Wein entgegen, den Leona ihr reichte.
«Tim will mich sobald wie möglich in Lauberg besuchen, stell dir vor! Wie soll ich das Ben klarmachen?«
«Vielleicht wirst du eine Entscheidung treffen müssen!«
«Tim ist Gärtner! Wie findest du das? Er wäre der erste meiner Freunde, der einen Beruf ausübt!«
Leona lachte.»Unsere Eltern würden es nicht glauben. Gefällt er dir denn?«
«Ich finde ihn sehr nett. Allerdings kann er überhaupt nicht tanzen. Er ist völlig unmusikalisch.«
«Ich finde, das ist der geringste Fehler, den ein Mann haben kann«, meinte Leona.
«Nächstes Wochenende will er mich daheim besuchen«, sagte Carolin.
Sie sah plötzlich ganz verträumt aus, als sie in die Flammen des Feuers vor ihnen schaute.
Am Ende ist es ernst, dachte Leona.
Es wurde nun sanfte, romantische Musik gespielt. Engumschlungene Paare bewegten sich in verklärter Langsamkeit dazu. Das Schlauchboot schwamm wieder zum Ufer, die Mädchen mit den Zöpfen und den geblümten Kleidern stiegen aus. Irgendwo lachte schrill eine Frau. Leona fühlte sich etwas benommen vom Alkohol, dabei so leicht und entspannt wie lange nicht mehr. Sie genoß die warme, samtige Nachtluft auf ihrer Haut. Sie versank im Anblick der silbernen Streifen, die der Mond durch das Laub der Bäume warf und auf der dunklen Wasseroberfläche zerschmelzen ließ. Sie lauschte in ihren Körper hinein, und zum ersten Mal seit langem schien er ihr zu sagen, daß alles gut werden würde.
«Du hast heute mittag gesagt, du weißt jetzt eine Menge mehr als vorher«, unterbrach Carolin das Schweigen zwischen ihnen.»Willst du mir jetzt nicht sagen, was du damit gemeint hast?«
Leona spielte mit der sandigen Erde zu ihren Füßen, nahm eine Handvoll auf, ließ sie langsam wieder hinabrieseln.
«Ich weiß jetzt, daß Angst kein guter Ratgeber ist«, sagte sie.»Natürlich, das ist eine banale Weisheit, und jeder würde sagen, das war doch immer schon klar. Aber es ist etwas anderes, das zu wissen oder es zu fühlen. Ich kann es wirklich fühlen. Irgendwann in diesen Wochen, als ich hier in meinem Versteck lebte, bin ich so wütend geworden, wie ich es noch nie vorher war. Und mit meiner Wut kam die Kraft. Mit jedem Tag habe ich mich stärker gefühlt. Und irgendwann wußte ich dann, daß ich mich nicht mehr verstecken würde. Vor ihm nicht — und nicht vor ein paar Wahrheiten in meinem Leben.«
«Vor welchen Wahrheiten?«
«Zum Beispiel vor der Erkenntnis, daß es zwischen mir und Wolfgang vorbei ist. Ich werde bei meinem Scheidungsvorhaben bleiben. Ich werde mich ganz von ihm trennen.«
«Bist du sicher? Er ist doch zurückgekommen! Meinst du nicht, du kannst ihm diese… Geschichte verzeihen?«
«Darum geht es nicht. Ich habe ihm längst verziehen. Aber unsere Beziehung gründete auf einem gemeinsamen irrealen Traum von einer uneinnehmbaren, friedlichen Insel, die wir beide gemeinsam sowohl bilden als auch bewohnen. Diesen Traum werde ich nie mehr träumen können, und an seinen Trümmern will ich nicht festhalten. Ich will nicht so werden wie unsere Eltern, die sich verbissen haben in ihr Bild von der heilen Welt und die nun jeden grellen Mißton ignorieren, damit das, was rosarot sein soll, wenigstens in ihrer Vorstellung rosarot bleibt. Bei Wolfgang und mir hat zu vieles schon nicht mehr gestimmt, und ich werde jetzt nicht anfangen, mir das zurechtzulügen.«
Carolin sah ihre Schwester von der Seite an.
«Im Moment wirkst du so stark, daß ich dir tatsächlich zutraue, mit dem irren Robert fertig zu werden, deinen Wolfgang abzuservieren und dir in Windeseile ein neues Prachtexemplar von Mann zuzulegen«, sagte sie.
Leona lachte.»Von Prachtexemplaren habe ich erst einmal genug. Ich habe dir noch gar nicht von Bernhard Fabiani erzählt, nicht wahr? Da wäre ich beinahe in einen wunderbaren neuen Schlamassel hineingesegelt.«
«Bernhard Fabiani? Hör mal, um dich herum wimmelt es ja von Männern! Erzähl mir sofort von ihm!«
«Morgen. Findest du nicht, wir könnten langsam daran denken, nach Hause zu gehen? Ich bin, ehrlich gesagt, etwas müde und habe, glaube ich, auch ein bißchen viel Wein erwischt. Außerdem muß dein Sohn endlich ins Bett. Schließlich ist er erst fünf!«
«Wie spät ist es denn?«
«Gleich halb eins.«
«Okay«, sagte Carolin friedlich und stand auf.»Ich bleibe zwar meist bis mindestens vier Uhr auf Partys, aber ein bißchen Schlaf könnte nicht schaden.«
Tim kam auf sie zu und griff nach Carolins Hand.
«Geht ihr schon?«
«Es wird Zeit für den Kleinen«, sagte Carolin,»aber komm doch morgen zum Frühstück vorbei. Wir sind bis mittags noch im Haus.«
«Alles klar. Ich komme«, versprach Tim.
Carolin sah sich um.»Wo ist Felix denn?«
Der Platz um den See war inzwischen viel überschaubarer geworden. Einige Partygäste waren gegangen, viele hatten sich abgeseilt und waren paarweise im Wald verschwunden.
«Er hat doch mit diesen beiden Mädchen vorhin gespielt«, sagte Leona.
Sie entdeckte die Mädchen bei den Getränkekisten. Sie füllten sich gerade ihre leeren Gläser wieder auf.
«Da drüben sind sie ja!«
«Ja, aber wo ist Felix? Ich sehe Felix gar nicht mehr!«Erste Sorge malte sich auf Carolins Gesicht.»Er muß doch hier irgendwo sein!«
«Natürlich ist er hier«, beruhigte Tim.»Er taucht bestimmt gleich auf.«
«Felix!«rief Carolin, und dann noch einmal lauter:»Felix!«
Einige Paare hörten auf zu tanzen und schauten herüber. Carolin war mit drei Schritten bei dem Kassettenrekorder und den Verstärkern. Sie schaltete das Gerät aus. Die plötzliche Stille hatte etwas Erschreckendes.
«Felix!«rief sie erneut, aber es kam keine Antwort, und nun begann sie zu schreien.
«Felix! Wo bist du? Wo ist Felix? Wer hat mein Kind gesehen?«
Bis um halb vier Uhr am Morgen hatten sie jeden Winkel im Wald abgesucht und, wie Jens sagte,»jeden Stein umgedreht und hinter jedes Grasbüschel geschaut«. Tim hatte jeden mobil gemacht, der noch halbwegs gerade gehen konnte. Die Nachricht, daß der kleine blonde Junge, der den ganzen Abend zwischen ihnen allen gespielt hatte, plötzlich verschwunden war, ernüchterte die meisten sofort.
«Er kann ja nicht weit sein«, hatte Tim getröstet,»wahrscheinlich ist er auf Entdeckungstour gegangen und findet jetzt den Rückweg nicht mehr oder ist irgendwo eingeschlafen. Wir werden ihn bald finden.«
Carolin war weiß wie eine Wand.
«Es ist meine Schuld! Ich habe nicht auf ihn aufgepaßt! Ich habe mich nur amüsiert, ich habe ihn zeitweise sogar völlig vergessen! Was mache ich denn jetzt?«Dann war sie plötzlich ganz starr geworden.»Er ist ins Wasser gefallen!
Er ist ertrunken! Mein Kind ist ertrunken!«Sie wollte zum Weiher stürzen, aber Tim hielt sie am Arm fest.
«Verlier jetzt nicht die Nerven«, sagte er beruhigend.»Wir müssen vernünftig bleiben. Wie soll er denn hier ertrinken, in diesem überschaubaren Tümpel, vor den Augen Dutzender Leute? Es saßen immer Gruppen direkt am Wasser, die hätten gesehen, wie er hineingeht.«
«Wir waren die ganze Zeit im Schlauchboot«, sagte eines der Mädchen in den geblümten Kleidern.»Wir hätten es ganz bestimmt gemerkt.«
«Aber wo ist er dann? Wo ist er?«
«Wir durchsuchen jetzt paarweise den Wald«, bestimmte Tim,»und du kommst mit mir, Carolin.«
«Sollten wir nicht lieber die Polizei verständigen?«fragte Leona.
Auch ihr schlug das Herz bis zum Hals. Sie glaubte nicht an Carolins Theorie vom Ertrinken, denn sie hatte Felix zuletzt vor einer Stunde noch gesehen, und seither hatte sie nur dagesessen und über das Wasser geblickt. Es erschien ihr ausgeschlossen, daß sie übersehen hätte, wie das Kind dort hineinwatete.
«Jetzt laßt uns doch erst einmal selber suchen«, sagte Jens.»Wir sind genug Leute, um hier alles abgrasen zu können. Bis die Polizei überhaupt hier ist, haben wir ihn längst gefunden.«
Leona zog mit Jens los. Einige der Partyteilnehmer waren mit ihren Autos gekommen und hatten Taschenlampen dabei, die sie nun hervorholten. Die anderen bewaffneten sich mit den Fackeln, die das Partygelände beleuchteten.
«Hat er so etwas schon mal gemacht?«fragte Jens, während er neben Leona durch das Dickicht stolperte.»Ich meine, sich versteckt oder so?«
«Soviel ich weiß, nein«, erwiderte Leona.
Zweige schlugen ihr ins Gesicht, Dornenranken zerkratzten ihre nackten Beine. Ein paarmal stolperte sie über knorrige Wurzeln, konnte den Sturz aber immer noch abfangen. Die kleine Taschenlampe, die ihnen irgend jemand in die Hand gedrückt hatte, spendete nur ein klägliches Licht.
«Hoffentlich finden wir ihn bald. Carolin dreht durch, wenn dem Kind etwas zustößt. Und ich auch«, fügte sie hinzu und merkte dabei, daß die Tränen schon locker saßen.
«Ihm wird nichts zustoßen«, beruhigte Jens.
«Ich habe die ganze Zeit auf den Weiher geblickt«, sagte Leona beschwörend und inzwischen zum vierten Mal,»er kann nicht hineingegangen sein, ohne daß ich etwas bemerkt hätte!«
«Massenhaft Leute hatten den Teich ständig im Auge. Er kann dort wirklich nicht drin sein!«
Sie fanden keine Spur von Felix, stöberten nur ein Liebespaar auf, das sich auf einer Lichtung im Mondschein vergnügte und zu Tode erschrocken war, als es plötzlich mit einer Taschenlampe angestrahlt wurde. Ab und zu stießen sie auch auf andere Suchtrupps, aber sie bekamen immer nur die gleiche entmutigende Nachricht mitgeteilt:»Nichts. Wir haben nichts gesehen.«
Bis um halb vier war das gesamte Waldstück abgesucht. Carolin meinte, Felix könne schließlich noch weiter gegangen sein, in angrenzende Wälder hinein oder über die Weiden und Wiesen. Tim hielt das für unwahrscheinlich.
«Er ist ein fünfjähriges Kind! So viel Kraft hat er doch gar nicht. Er hätte sich längst irgendwo völlig erschöpft hingesetzt und wäre eingeschlafen.«
«Ich möchte jetzt die Polizei verständigen«, weinte Carolin,»wir haben schon viel zuviel Zeit verstreichen lassen.«
«Paß auf«, sagte Leona,»wir haben noch eine kleine Chance. Er könnte zum Haus zurückgelaufen sein. Da hat bisher noch niemand nachgesehen. Wir gehen jetzt dorthin. Wenn er da nicht ist, rufen wir die Polizei an, okay?«
Carolin nickte, sie schluchzte jetzt so, daß sie nicht sprechen konnte. Leona legte den Arm um ihre Schulter. Tim und Jens machten Anstalten, ihnen zu folgen, aber Leona schüttelte den Kopf.
«Besser, wir sind jetzt mal allein. Sie ist völlig mit den Nerven runter.«
«Aber…«
«Kommt morgen früh vorbei, ja? Und danke — für das schöne Fest und für die Hilfe!«
Statt der üblichen Viertelstunde brauchten sie knapp sieben Minuten für den Weg zum Haus. Carolin jagte vorneweg, Leona rannte hinterher. Der Gedanke, Felix könnte schon daheim auf der Veranda sitzen, hatte von Carolin Besitz ergriffen.
«Beeile dich doch!«fauchte sie Leona einmal an, und diese keuchte:»Ich beeile mich ja! Aber ich will mir nicht alle Knochen brechen!«
Das Haus lag still, dunkel und verlassen in der ersten noch grauen Morgendämmerung. Der neue Tag würde so schön und sommerlich werden wie der vergangene; keine Wolke hing am Himmel, an dem Mond und Sterne ganz langsam zu verblassen begannen, und am östlichen Horizont zeigte sich einhauchfeiner rötlicher Lichtstreifen. Tau lag über dem Gras des Gartens. Carolin riß die Pforte auf, stürmte am Haus vorbei zur rückwärtigen Veranda. Leona folgte ihr auf dem Fuß.
Und dann blieb Carolin so abrupt stehen, daß Leona gegen sie prallte; so hart, daß beide um ein Haar zu Boden gestürzt wären.
«Warum…«, setzte Leona an, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie riß die Augen auf.
Auf den Stufen zur Veranda saß Robert Jablonski und lächelte sie an.
«Es war überhaupt nicht schwer, an das Kind zu kommen«, sagte Robert lässig.»Ich hätte nie gedacht, daß sich das Schicksal so gewogen zeigen würde. Daß die liebe Carolin hier aufkreuzen und auch noch Felix mitbringen würde…«
Sie saßen um den Eßtisch im Wohnzimmer. Carolin, kalkweiß und mit roten Augen, war völlig in sich zusammengesunken. Sie hielt ihre Hände ineinander verkrampft und starrte auf das Blumenmuster der Tischdecke. Sie schien betäubt und zu Tode erschöpft.
«Ich habe mich einfach unter die vielen Leute da am Teich gemischt«, fuhr Robert fort,»müssen an die hundert Gäste bei der Party gewesen sein, oder? Jedenfalls fiel ich überhaupt nicht auf. Ich beobachtete Felix und merkte, daß sich ständig die verschiedensten Leute mit ihm beschäftigten. Also würde es niemand komisch finden, wenn ich mich ein wenig seiner annahm.«
«Du hast ihn mit dir weggelockt«, sagte Leona.
Robert nickte.»Er kannte mich ja noch von Weihnachten. Er freute sich, mich zu sehen. Ich erzählte ihm etwas von einer Überraschung, und er kam sofort mit.«
Carolin hob den Blick, sah Robert an. Sie schien etwas sagen zu wollen, fand aber nicht die Kraft, und senkte die Augen wieder.
Sie hatte geschrien und getobt, war mit beiden Fäusten auf Robert losgegangen.
«Hallo, Leona«, hatte er gesagt und sich von der Treppenstufe erhoben,»hallo, Carolin!«
Leona hatte sofort begriffen.
«Wo ist Felix?«hatte sie mit scharfer Stimme gefragt, und Ungläubigkeit war auf Carolins Zügen erschienen.
«Das wird noch für eine Weile mein Geheimnis bleiben«, antwortete Robert.
Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen, dann hatte Carolin verstanden.
«Du verdammtes Schwein!«sagte sie.»Du gottverdammtes Schwein, wo ist mein Sohn? Was hast du mit ihm gemacht? Wo ist er?«
Als Robert keine Antwort gab, brüllte sie los:»Wo ist er? Wo ist er? Wo ist er?«
Sie stürzte sich auf ihn, schlug auf ihn ein, riß an seinen Haaren, schrie. Er erwischte schließlich ihre beiden Handgelenke, hielt sie eisern umklammert.
«Sag ihr, daß das so keinen Sinn hat«, verlangte er, an Leona gewandt.»Sie stellt sich besser gut mit mir.«
Leona hatte Carolin von ihm weggezerrt.
«Hör auf!«zischte sie.»Damit erreichst du gar nichts. Du mußt jetzt ruhig bleiben!«
«Sehr richtig.«
Robert strich seine Hose glatt und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
«Wir sollten wie erwachsene Menschen miteinander umgehen.«
«Wie erwachsene Menschen!«
Carolin ballte die Fäuste. Sie zitterte wie Espenlaub am ganzen Körper.
«Ist es erwachsen, ein kleines Kind zu entführen? Willst ausgerechnet du….«
«Carolin, das bringt jetzt nichts. «Leona legte den Arm um ihre Schwester.
Sie sah Robert kalt an.»Ich nehme an, du hast ihn irgendwo versteckt. Geht es ihm gut?«
«Natürlich geht es ihm gut. Ich würde einem Kind kein Haar krümmen.«
Carolins Zittern wurde stärker.»Ich höre mir das nicht mehr an«, stieß sie hervor.»Ich werde jetzt sofort die Polizei anrufen.«
Sie riß sich von Leona los und wollte an Robert vorbei ins Haus.
«Das ist eine ziemlich dumme Idee, Carolin«, sagte Robert.»Du kannst die Polizei natürlich verständigen, aber dann wird niemals — hörst du? — niemals jemand erfahren, wo Felix ist.«
Carolin blieb stehen und drehte sich langsam zu Robert um.
«Du mußt es sagen«, flüsterte sie,»der Polizei mußt du es sagen.«
Er lächelte.»Ich habe absolut nichts mehr zu verlieren. Ich würde schweigen wie ein Grab.«
Das Wort Grab jagte Leona einen Schauer über den Rücken.
«Der blufft doch nur!«sagte Carolin.
«Laß es drauf ankommen«, entgegnete Robert ruhig.
«Die Polizei wird eine riesige Suchaktion starten. Sie wird ihn finden.«
Er wiederholte:»Laß es drauf ankommen.«
«O nein«, flüsterte Carolin und sank auf der Treppe in sich zusammen, vergrub ihr Gesicht in den Händen.
«Was willst du, Robert?«fragte Leona.
«Gehen wir doch erst einmal ins Haus«, schlug er vor.
Und so saßen sie nun um den Tisch: Carolin, die wie zerbrochen schien; Robert, der damit prahlte, wie einfach es gewesen war, das Kind zu entführen; und Leona, die sich immer wieder sagte, daß sie unter allen Umständen die Nerven behalten mußte.
Bleib ruhig, bleib ruhig, befahl sie sich wortlos.
«Du hast uns gesehen, wie wir zu dem Fest am Weiher gegangen sind«, sagte sie.»Wie lange beschattest du mich schon?«
«Ist das wichtig?«
«Es würde mich interessieren.«
«Noch nicht lange. Ich bin deinem Liebhaber gefolgt. Professor Fabiani. Der Mann, der seine Finger nicht von den Frauen lassen kann. «Er schnalzte tadelnd mit der Zunge.»Mit dem hättest du dich nicht einlassen sollen, Leona. Der Typ ist chronisch geil. Solche Männer gefallen den Frauen, weil sie ihnen das Gefühl geben, begehrenswert und unheimlich verführerisch zu sein. Manchmal stürzen sie sie aber auch ins Unglück.«
«Dann bist du seit Donnerstag da.«
«Richtig.«
So sachlich wie möglich fragte sie:»Ich war die ganze Zeit im Garten, auf der Terrasse. Warum bist du da nicht erschienen? Ich war völlig allein.«
Er zuckte mit den Schultern.»Nenn es Intuition. Ich wußte, daß sich mir noch irgendeine besondere Gelegenheit bieten würde. Ich dachte allerdings eher, daß der Windhund Fabiani hier noch einmal aufkreuzen könnte. Du hast ihn ganz gut abblitzen lassen, und ich war überzeugt, das läßt der nicht auf sich sitzen. Mir fallen ein paar schöne Dinge ein, die ich dann mit ihm angestellt hätte. Aber statt seiner kam Carolin und brachte den Kleinen mit — na ja, das Schicksal mischt die Karten immer anders als man denkt, nicht? Auf einmal war ganz klar, was ich zu tun hatte.«
Er will mich nicht töten, dachte Leona, das hätte er längst tun können. Er hatte jede Gelegenheit dazu.
Sie dachte an die langen, warmen Vormittagsstunden des gestrigen Tages, die sie schlafend im Liegestuhl verbracht hatte. Vielleicht hatte er hinter ihr gestanden. Er hätte nur die Hand ausstrecken müssen… Ein Zittern am ganzen Körper kündigte sich an. Sie preßte die Hände auf dem Schoß ineinander.
«Wie konntest du Bernhard folgen?«fragte sie.»Hast du ein Auto?«
«Natürlich habe ich ein Auto. Denkst du, ich bin ihm auf einem Fahrrad hinterhergestrampelt?«
«Aber woher…?«
Hatte er Geld? Hatte er es riskiert, einen Wagen zu kaufen? Wie konnte er das, wenn gegen ihn ein Haftbefehl lief, wenn nach ihm mit Hochdruck gefahndet wurde?
«Das Auto habe ich von einer lieben Freundin geliehen. Mehr brauchst du nicht zu wissen.«
Carolin schaute erneut auf. Mühsam sagte sie:»Das ist doch jetzt ganz unwichtig. Das ist völlig egal. Es geht nur um Felix.«
«Felix ist okay«, sagte Robert.
Leona überlegte fieberhaft. Er hatte sich Felix irgendwann zwischen halb zwölf und halb eins geschnappt. Um kurz nach halb vier hatten sie ihn auf der Treppe vor dem Haus sitzend angetroffen. Es waren ihm knappe vier Stunden geblieben, ein Versteck ausfindig zu machen und Felix dort unterzubringen.
Das war nicht viel Zeit. Andererseits hatte er einen Wagen. Damit konnte er Felix ziemlich weit weggebracht haben.
«Also gut, Robert«, sagte sie ruhig.»Du hast das Kind, und ich nehme an, du möchtest etwas dafür, daß du uns sagst, wo es ist. Ich habe dich schon einmal gefragt: Was willst du?«
«Könnte nicht eine von euch einen richtig starken Kaffee für uns machen?«schlug Robert vor.»Ich weiß ja nicht, wie ich aussehe, aber ihr beide macht mir einen ziemlich übernächtigten Eindruck. Ein Kaffee würde uns guttun.«
Carolin erhob sich. Sie bewegte sich wie in Trance.
«Ich mach’ ihn«, sagte sie leise.
Er lächelte sie an. Es war das freundliche, nette RobertLächeln, das Leona von früher nur zu gut kannte.
«Ich möchte dich nur noch einmal warnen, Carolin«, sagte er.»Wenn du die Polizei anrufst, verschimmelt dein kleiner Liebling in seinem Versteck. Das hast du begriffen, oder?«
Carolin verließ wortlos das Wohnzimmer.
«Ich hatte dich gefragt, was du willst, Robert«, beharrte Leona.
Er betrachtete sie prüfend.»Ich würde gern wissen, weshalb du dir immer wieder deine Haare nachschneiden läßt, Leona. Es steht dir einfach nicht. Du warst eine Schönheit mit den langen Haaren. Jetzt siehst du ziemlich durchschnittlich aus.«
Er kramte eine Zigarettenschachtel hervor, reichte sie Leona, die den Kopf schüttelte. Er zündete sich selbst eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug. Trotz seiner zur Schau getragenen lässigen Überlegenheit konnte er nicht verbergen, wie erschöpft er war. Er hatte nicht nur eine durchwachte Nacht, er hatte harte Wochen hinter sich. Er sah gepflegt aus, aber unter seinen Augen lagen bläuliche Schatten, und beim Anzünden der Zigarette hatte seine Hand ganz leicht gezittert.
Er ist todmüde, dachte Leona, und nur eine gewisse Euphorie, kurz vor dem Ziel seiner Wünsche zu sein, hält ihn aufrecht.
«Mein Aussehen ist jetzt nicht Gegenstand des Gesprächs«, sagte sie.
«Du hast recht«, stimmte er zu,»darüber können wir später reden. Diese Dinge lassen sich alle klären.«
Er rauchte schweigend seine Zigarette. Aus der Küche klang das Klappern von Tassen und Löffeln. Draußen zog ein strahlender Tag herauf. Es war kurz vor fünf Uhr und schon fast hell.
Plötzlich sagte Robert:»Hat da nicht jemand gerufen?«
Er richtete sich auf, sah angestrengt nach draußen.
«Da sind zwei Männer. «Er konnte seine Nervosität nicht verbergen.»Wer sind die? Was wollen die?«
Leona sah ebenfalls hinaus.»Das sind Jens und Tim. Sie waren auch bei der Party und haben geholfen, nach Felix zu suchen. Sicher wollen sie wissen, wie es nun weitergeht.«
«Okay«, sagte Robert,»okay. Du gehst jetzt raus und sagst ihnen, daß ihr Felix hier gefunden habt. Daß alles in Ordnung ist. Kapiert?«
«Ich…«
«Du tust, was ich dir sage!«fuhr er sie an.
Leona stand auf, öffnete die Tür und trat hinaus auf die Veranda. Eine herrliche Luft und Vogelgezwitscher empfingen sie. Jens und Tim standen mitten auf der Wiese und sahen so blaß und müde aus wie sie alle an diesem Morgen.
«Ach, endlich, Leona!«rief Jens erleichtert.»Wir haben uns nicht getraut zu klingeln, weil wir nicht wußten, ob Sie und Carolin schlafen. Wir wollten wissen…«
«Es ist alles in Ordnung!«
Leona fand, daß sich ihre Stimme so unecht anhörte wie bei einem Schauspieler, der seine Rolle schlecht gelernt hat.
«Felix saß tatsächlich hier auf der Treppe. Also alle Aufregung umsonst. Er liegt jetzt in seinem Bett und schläft.«
«Gott sei Dank!«sagte Tim inbrünstig.»Wie geht es Carolin?«
«Sie hat sich hingelegt. Das alles war zuviel für sie.«
Leona versuchte ein Lächeln und hatte dabei das Gefühl, daß es mißlang.
«Tim, ich fürchte, wir müssen unsere Einladung zum Frühstück rückgängig machen. Wir sind einfach zu müde. Wir werden jetzt schlafen und mittags dann gleich nach Hause aufbrechen.«
Sie konnte sehen, wie enttäuscht Tim war. Sie kam sich unfreundlich und böse vor. Die beiden jungen Männer hatten stundenlang beim Suchen geholfen. Nun bot sie ihnen nicht einmal einen Kaffee an, vermittelte ihnen statt dessen nur das Gefühl zu stören.
«Ist wirklich alles in Ordnung, Leona?«fragte Jens, der sie unverwandt aufmerksam beobachtete.
«Natürlich. Ich bin nur völlig erschöpft, das ist alles. Ein paar Stunden Schlaf, und es geht mir wieder gut.«
Die Jungen verabschiedeten sich.»Grüßen Sie Carolin von mir«, sagte Tim.
«Das mach’ ich. Ganz bestimmt.«
Sie sah ihnen nach, wie sie den Garten verließen, dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Carolin kam gerade mit einem Tablett aus der Küche.
«War das Tim?«fragte sie.
«Ja. Mit Jens. Ich habe beiden gesagt, daß Felix wieder da ist.«
Sie trat an den Tisch, blieb davor stehen.
«Robert, sag jetzt endlich, was du willst. Laß uns diese ganze verdammte Geschichte zu irgendeinem Ende bringen, und gib uns das Kind zurück!«
Er lächelte schon wieder. Sie wünschte, sie könnte ihm mitten in dieses grinsende Gesicht hineinschlagen. Es hätte sie befriedigt zu sehen, wie das Lächeln verrutschte.
«Also?«fragte sie.
Langsam drückte er seine Zigarette auf einem der Unterteller aus, die Carolin auf den Tisch gestellt hatte.
«Wir bringen gar nichts zu Ende«, sagte er sanft.»Wir beide beginnen endlich unser gemeinsames Leben.«
Lisa wachte schon um sechs Uhr auf. Sie wußte nicht, was sie geweckt hatte, denn der Sonntagmorgen war still und von einem schläfrigen Frieden. Eigentlich war sie eine Langschläferin. Es mochte an ihrer inneren Unruhe liegen, daß sie heute den Eindruck hatte, keine Minute länger im Bett bleiben zu können.
Während sie sich anzog, versuchte sie sich an den Traum zu erinnern, der die Nacht begleitet hatte. Er war quälend gewesen, soviel wußte sie noch, aber sie bekam seine Einzelheiten nicht mehr zusammen. Ihr Vater hatte eine Rolle gespielt, und Kommissar Hülsch. Die beiden waren immer wieder ineinandergeflossen und hatten traurig und besorgt dreingeblickt. Und sie, Lisa, war durch einen Wald gelaufen, einen Wald, dessen Bäume immer höher und dichter wurden, je weiter sie vorankam. Sie lief um ihr Leben und wußte dabei, daß sie keine Chance hatte, denn weiter vorn schlössen sich die Tannen zu einer dichten, unüberwindlichen Mauer zusammen.
Nicht darüber nachdenken, befahl sie sich, dieser Traum gehört zu den Dingen, die du aus deinem Leben entfernen willst. Deshalb bist du hier.
Fertig angezogen, ging sie leise die Treppe hinunter. Unten im Haus rührte sich nichts. Die Wirtin schlief wohl noch; ob andere Gäste da waren, wußte Lisa nicht.
Sie verließ das Haus, atmete draußen tief durch. Sogar in der Großstadt war die Luft an diesem Morgen frisch und klar, gespeist vom Sauerstoff der waldigen Höhen des Taunus. Der Tag würde wieder heiß und stickig werden, vielleicht sogar noch heißer als der Vortag. Lisa hatte ein Bahnticket und eine Platzreservierung für den Zug um vierzehn Uhr. Am Abend hatte sie eine berufliche Verabredung mit irgendeinem Pharmavertreter, der sich am Telefon wie ein Brechmittel angehört hatte. Normalerweise machte ihr das nichts aus; die Brechmittel erwiesen sich häufig als besonders großzügig, weil sie unbedingt mit ihrem Geld protzen mußten. An diesem Tag hätte Lisa das Date jedoch gern abgesagt. Sie verspürte einen Anflug von Kopfschmerzen, wenn sie nur daran dachte.
Natürlich landete sie wieder bei Lydia. Sie hatte gar nicht genau auf den Weg geachtet oder auf die Richtung, die sie einschlug, aber wie von unsichtbaren Fäden gezogen, war sie zu dem Haus gegangen, vor dem sie am Tag zuvor schon mehrfach vergeblich gestanden hatte. Wieder blickte sie an der ihr nun schon vertrauten Fassade hinauf.
Es stimmte etwas nicht, da war sie sich nun ganz sicher.
Sie klingelte wieder und wieder und wieder. Nach einigen Minuten wurde ein Fenster im fünften Stockwerk geöffnet. Eine ältere Frau mit völlig verstrubbelten Haaren lehnte sich hinaus.
«Wer sind Sie?«rief sie.»Was wollen Sie?«
Lisas Herz begann wie rasend zu schlagen.»Sind Sie Lydia Behrenburg?«fragte sie hoffnungsvoll.
«Nein. Ich wohne neben Frau Behrenburg. Leider kann ich ziemlich genau hören, wenn bei ihr geklingelt wird. Sagen Sie, müssen Sie am Sonntag um diese Uhrzeit einen solchen Lärm machen?«
«Entschuldigen Sie bitte. Aber ich bin mit Frau Behrenburg verabredet. In einer wirklich wichtigen Angelegenheit. Ich…«
«Frau Behrenburg ist nicht da!«Die Frau zog sich zurück und wollte das Fenster schon wieder schließen.
«Bitte«, sagte Lisa verzweifelt,»sie muß da sein!«
Die Frau lehnte sich wieder hinaus. Sie schien sehr ärgerlich.
«Wieso muß sie dasein? Sie ist nicht da, und damit basta!«
«Wir waren gestern schon verabredet. Um ein Uhr mittags.
Ich bin extra aus München angereist. Ich habe mir hier ein Zimmer genommen, um es heute noch einmal zu versuchen. Ich… ich kann mir nicht vorstellen, daß sie mich einfach vergessen hat!«
«Hm«, machte die Frau,»Frau Behrenburg ist eigentlich recht zuverlässig.«
«Eben. Diesen Eindruck hatte ich auch. Deshalb bin ich ja so besorgt.«
Die Frau gähnte, wobei sie den Mund ungeniert sperrangelweit aufriß, ohne die Hand davorzuhalten.
«Also, jedenfalls kann ich Ihnen da auch nicht weiterhelfen. Sie können ja da unten warten, vielleicht kommt sie im Laufe des Tages zurück.«
Sie schien das Fenster endgültig schließen zu wollen.
«Wohin kann sie denn gereist sein?«rief Lisa.
Die Frau gähnte wieder.
«Herrgott, woher soll ich das denn wissen? Ich habe nicht viel Kontakt zu Frau Behrenburg. Soweit ich weiß, hat sie keine Verwandten und Bekannten. Sie ist noch nie verreist.«
«Ja, sehen Sie, das ist doch merkwürdig, oder? Ich habe ein dummes Gefühl. Vielleicht ist sie gar nicht verreist. Manchmal stürzen Leute in ihren Wohnungen und liegen dann dort tagelang hilflos herum.«
Die Frau seufzte tief und übertrieben.
«Sie haben eine blühende Phantasie. Ich höre es deutlich und laut, wenn bei ihr geklingelt wird! Da würde ich wohl auch hören, wenn sie um Hilfe riefe, oder nicht?«
«Hat nicht irgend jemand im Haus einen Schlüssel zu ihrer Wohnung? Für den Fall, daß sie sich aussperrt oder so?«
«Ich habe den. Seitdem Frau Fabiani tot ist, habe ich einen Schlüssel.«
«Ach bitte«, Lisa legte alle Beschwörungskraft, derer sie fähig war, in ihre Stimme,»könnten wir nicht nachsehen, ob alles in Ordnung ist? Könnten wir nicht…«
«Also, das glauben Sie doch wohl selber nicht!«
Die Frau war jetzt hellwach und die personifizierte Entrüstung.
«Auf so etwas falle ich nicht herein! Vor Leuten wie Ihnen warnt ja immer die Polizei! Die mit allen Tricks versuchen, in die Wohnungen zu kommen und dann…«
«Einen Moment! Ich habe wirklich nichts Böses vor! Sie können doch auch allein in Frau Behrenburgs Wohnung gehen. Ich warte hier unten. Und wenn Sie mir dann durchs Fenster sagen, daß alles in Ordnung ist, verschwinde ich, und Sie müssen mich nie wiedersehen.«
Die Frau im Fenster seufzte erneut.
«Es ist Sonntag morgen. Es ist noch nicht einmal sieben Uhr. Ich würde wirklich gern einmal in der Woche ausschlafen, und da kommen Sie und…«
«Es kostet Sie fünf Minuten. Bitte! Wenn tatsächlich etwas nicht stimmt, dann verzeihen Sie es sich doch Ihr Leben lang nicht, daß Sie nichts unternommen haben.«
Dieses letzte Argument schien zu überzeugen. Die Frau verschwand aus dem Fenster, ließ es aber offenstehen, was darauf hindeutete, daß sie vorhatte zurückzukommen. Sicher würde es eine Weile dauern. Sie hatte nicht so gewirkt, als gehöre sie zu den Leuten, die sich besonders beeilten.
Lisa setzte sich auf eine der Stufen vor der Haustür. Nun, da sie wußte, jemand würde in Lydias Wohnung nach dem Rechten sehen, fiel alle Anspannung von ihr ab. Auch das» dumme Gefühl«, das sie seit dem Vortag begleitet hatte, löste sich auf. Sie kam sich plötzlich nur noch lächerlich vor. Lydia Behrenburg hatte sie sicher einfach vergessen, weil die ganze Geschichte für sie keinerlei Bedeutung hatte. Sie machte irgendwo Ferien und lebte vergnügt in den Tag hinein, während eine unwillige Nachbarin in den frühen Morgenstunden eines sonnigen Sonntags ihre Wohnung durchstreifte.
Gerade als sie bei diesem Gedankengang angelangt war, hörte sie von oben einen Schrei, so markerschütternd, daß sie entsetzt aufsprang. Lydias Nachbarin lehnte sich so weit aus dem Fenster, daß ihre riesigen Brüste sie schon fast hinunterzuziehen drohten. Sie war krebsrot im Gesicht.
«Polizei!«schrie sie.»Polizei! Polizei!«
Sie hielt inne und starrte herab zu Lisa.
«O Gott, o Gott«, stammelte sie.»Rufen Sie die Polizei, Kind! Rufen Sie sofort die Polizei!«
«Dürfte ich mal Ihr Telefon benutzen?«fragte Lisa.
Kurz darauf ertönte der Summton, mit dem sich die Eingangstür öffnete, und Lisa konnte endlich das Haus betreten, vor dem sie so lange vergeblich gewartet hatte.
Um halb acht rief Wolfgang an. Leona war sofort am Apparat.
«Ja bitte?«fragte sie.
«Leona?«Wolfgang klang atemlos.»Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Ich weiß, es ist ziemlich früh… ich bin gerade beim Joggen, und da kam ich an dieser Telefonzelle vorbei. Da dachte ich… wie geht es dir?«
«Gut. Du hast mich nicht geweckt. Ich war schon auf.«
Ich war gar nicht erst im Bett, fügte sie in Gedanken hinzu.
«Das freut mich. Ist es nicht ein herrlicher Tag heute? Leona — ist Carolin bei dir?«
«Das weißt du doch. Du hast sie mir schließlich geschickt.«
«Bist du mir böse? Ich glaube wirklich nicht, daß das zu riskant war.«
Nein, dachte sie, das war es nicht. Der Feind war längst hier. Und die Dumme, die dafür verantwortlich ist, bin allein ich!
«Leona? Bist du noch da? Ich wollte wissen, ob du mir böse bist!«
«Nein. Es ist schön, Carolin hierzuhaben.«
«Ich hoffe, sie bringt dich von deinem verrückten Plan, heute abend nach Hause zu kommen, ab. Hat sie schon mit dir gesprochen?«
Der Abend! Sie hatte am Abend wieder daheimsein wollen, das hatte sie völlig vergessen.
Sie sah hinüber zum Eßtisch. Robert saß dort lässig in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Kaffeetasse in der Hand. Sein siebter oder achter Kaffee an diesem Morgen. Er sah nicht mehr ganz so elend und müde aus wie vorher. Seine Wangen hatten etwas Farbe bekommen.
Carolin kauerte auf dem Sofa, die Beine eng an den Körper gezogen, beide Arme darumgeschlungen. Ihr Kopf ruhte auf ihren Knien. Eine Dreiviertelstunde zuvor hatte sie einen Weinkrampf erlitten, hatte nicht aufhören können zu zittern und zu schluchzen. Leona hatte das Medikamentenschränkchen im Bad durchsucht, das vorwiegend Arzneimittel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum enthielt. Sie hatte Baldriantropfen gefunden, die noch tauglich schienen, und sie für Carolin in einem Glas Wasser aufgelöst. Die Schwester war dann tatsächlich ruhiger geworden und wieder in einen Erschöpfungszustand gefallen. Völlig unbeteiligt hatte sie seitdem allem zugehört, was zwischen Robert und Leona gesprochen worden war.
«Ich werde heute abend nicht nach Hause kommen, Wolfgang«, sagte Leona.
Robert blickte auf, runzelte die Stirn. Er hatte keine Ahnung gehabt, daß sie ihr Exil an diesem Tag hatte aufgeben wollen.
«Ich denke, daß ihr alle recht habt. Ich sollte noch eine Weile aushalten.«
Wolfgangs Erleichterung war durch die Telefonleitung hindurch spürbar.
«Ich bin wirklich froh, daß du zu dieser Erkenntnis gekommen bist. Es ist einfach am vernünftigsten. Du wirst sehen, Robert Jablonski sitzt ganz bald hinter Schloß und Riegel.«
Sie unterdrückte ein hysterisches Lachen.
«Sicher. Du hast recht.«
«Also, Leona, ich werde jetzt weiterrennen. Paß gut auf dich auf, hörst du? Ich brauche dich noch.«
Er wartete, daß sie etwas erwiderte, aber sie sagte nichts.
«Ich rufe heute abend wieder an«, meinte er schließlich und legte auf.
Leona ging zum Tisch zurück.
«Das war Wolfgang.«
Robert nickte.»Hab’ ich mir schon gedacht. Du wolltest heute abend heimkehren in seine starken Arme?«
«Nicht in seine starken Arme. Aber ich wollte nach Hause zurück, ja.«
«Und warum? Du hattest doch solche Angst vor mir, daß du dich in der tiefsten Einöde verstecken mußtest. Jetzt plötzlich nicht mehr?«
«Nein«, sagte sie knapp und in einem Ton, daß Robert nicht mehr weiterfragte.
«Nun«, sagte er nach einer Weile,»die Dinge sind klar. Wir sollten jetzt bald aufbrechen. Du wolltest noch deinen Paß holen und dein Geld.«
«Ich muß auch noch ein paar Sachen zusammenpacken.«
«Gut, gut. Dann mach das jetzt. Du solltest nicht auf Verzögerung setzen, Leona. Die Zeit wird Carolins kleinem Liebling in seinem Versteck verdammt lang werden.«
Leona verließ das Zimmer, und Carolin starrte Robert an.
«Nie in meinem Leben habe ich einen so gemeinen Menschen getroffen«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Robert schien ihr diese Aussage nicht übelzunehmen.
«Ich weiß gar nicht, weshalb du dich noch aufregst, Carolin. Sowie Leona und ich in Südamerika sind, rufen wir an und sagen dir, wo du Felix findest.«
«Das kann unter Umständen erst übermorgen sein!«
«Ich habe dir schon mal gesagt: Er hat Essen und Getränke für einige Tage. Er kann das gut aushalten.«
«Er ist ein Kind!«sagte Carolin. In ihrer Stimme kündigte sich erneut Panik an.»Er ist ein fünfjähriges Kind! Er hat Angst. Er weiß nicht, was los ist. Er… ich darf mir das nicht ausmalen…«
Sie preßte das Papiertaschentuch, das Leona ihr gegeben hatte, gegen den Mund.
«Ein paar Gründe mehr, unverzüglich mit mir zu kooperieren«, entgegnete Robert ungerührt.
Er griff nach der Kaffeekanne und stellte fest, daß sie leer war.
«Machst du mir noch einen Kaffee?«
«Mach ihn dir doch selbst«, murmelte Carolin.
Robert stand auf und ging in die Küche.
Oben, in ihrem Zimmer, packte Leona hastig ein paar Sachen in einen kleinen Koffer. Sie merkte gar nicht genau, was sie da zusammenwarf. Wäschestücke, Schuhe, einen Pullover… In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie überlegte fieberhaft, was sie am besten tun sollte.
Robert hatte gesagt, er wolle mit ihr ins Ausland. Nach Südamerika.
«Hast du Flugtickets?«hatte sie gefragt.»Oder Geld?«
Er hatte stolz genickt.»Ich habe eine Scheckkarte. Ich kann Geld abheben, soviel ich will. Die Tickets sind also kein Problem.«
Wie stellte er sich das vor? Er wurde mit Haftbefehl gesucht. Glaubte er, es sei so einfach für ihn, in ein Flugzeug zu steigen und Deutschland zu verlassen? Er fühlte sich unendlich sicher durch die Tatsache, daß nur er wußte, wo sich Felix’ Versteck befand. Leona aber war der Ansicht, daß ihm das nur Sicherheit gab, solange es sie und Carolin betraf. Sie beide spurten, weil sie verrückt waren vor Angst um das Kind, besonders Carolin. Die Polizei würde ihn nicht tatenlos ziehen lassen. Sie würden ihn nicht nach Südamerika reisen lassen, sie würden ihn festnehmen und verhören, so lange, bis er mit der Sprache herausrückte.
War ihm das nicht klar?
Sie sagte sich, daß er verrückt war. Auch wenn man es ihm nicht anmerken konnte, auch wenn er völlig normal wirkte im Gespräch — er war verrückt, das mußte sie sich immer wieder vor Augen halten. Er hatte zwei Menschen bestialisch ermordet. Er hatte Paul beinahe totgeschlagen. Sie erinnerte sich an die Mordlust, die sie in seinen Augen gelesen hatte, als er in Ascona über ihren abgelegten Ring die Nerven verlor. Er war krank, und vermutlich rechnete er sich die Konsequenzen seines Handelns nicht aus, machte sich nicht klar, daß er kaum eine Chance hatte, in ein Flugzeug zu gelangen. Oder er machte es sich klar, setzte aber alles auf eine Karte.
«Ich habe absolut nichts mehr zu verlieren«, hatte er vorhin unten zu Carolin gesagt. Dies Bewußtsein mochte ihm die Zielstrebigkeit verleihen, mit der er seinen Plan verfolgte.
Sie schloß den Koffer mit all den unsinnigen Sachen darin, sah sich nach ihrer Handtasche um. Sie hätte wahrscheinlich die Möglichkeit, die Polizei zu verständigen. Oder Wolfgang. Robert ließ sie und Carolin sich frei im Haus bewegen, spielte keineswegs den scharfen Bewacher. Sie hätte Jens und Tim vorhin einen Tip geben können. Sie hatte es nicht getan, und sie fragte sich, ob das ein Fehler gewesen war.
Aber was sollte aus Felix werden? Sie wußte nicht, ob es Instinkt war oder die Tatsache, daß sie Robert gut genug kannte, aber sie hatte das sichere Gefühl, daß er, sollte sie oder Carolin ihn verraten, Stillschweigen über Felix’ Aufenthaltsort bewahren würde bis zum Jüngsten Gericht. Er war rachsüchtig und fanatisch. Und er hatte — sie kam immer wieder auf denselben Punkt zurück — nichts zu verlieren.
Ich kann nur eines tun, dachte Leona: mitspielen, solange es geht. Das ist vielleicht im Moment die einzige Chance.
Irgendwann würden sie durch eine Paßkontrolle gehen müssen. Sie hoffte von ganzem Herzen, daß dann niemand die Nerven verlor.
Als sie hinunterkam, traf sie nur Carolin im Wohnzimmer an. Auf dem Tisch stand eine Kanne mit frischem Kaffee, daneben die drei benutzten Tassen. Carolins Gesicht sah knochig aus, ihre Lippen waren grau.
«Wo ist Robert?«fragte Leona und stellte ihren Koffer ab.
«Der macht irgend etwas an seinem Auto. Er will schnell los. Leona, was sollen wir nur tun?«
Carolin riß die Augen auf wie ein Kind, das angstvoll und ratlos darauf wartet, daß ein Erwachsener eine Lösung finden wird.
«Du kannst doch jetzt nicht mit ihm davonfahren und nach Südamerika fliegen?!«
«Ich denke, daß wir so weit gar nicht kommen werden.«
Leona sprach schnell und leise und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, daß Robert noch nicht wieder aufgetaucht war.
«Spätestens bei der Paßkontrolle fliegt Robert auf. Meiner Ansicht nach kommt er nicht aus dem Land hinaus, zumindest nicht aus Europa.«
«Und dann? Wenn sie ihn festnehmen? Dann sagt er nie, wo Felix ist! Leona, ich habe so furchtbare Angst! Wer weiß, wo er ihn versteckt hat! Der Mann ist doch zu allem fähig. Am Ende hat er ihn schon…«
Ihre Stimme brach, sie begann schon wieder am ganzen Körper zu zittern.
Leona umfaßte ihre Schultern und sah ihr in die Augen.
«Carolin! Nicht durchdrehen! Felix ist am Leben, und es geht ihm gut. Davon bin ich überzeugt. Ich kenne Robert. So verrückt das klingt, aber er folgt seinem ganz persönlichen Ehrenkodex in allem, was er tut, und er geht ganz sicher nicht hin und tötet ein unschuldiges Kind. Hörst du? Ganz sicher nicht!«
«Woher willst du wissen…«
«Ich weiß es. Und Felix ist jetzt nicht mit einer Mutter geholfen, die die Nerven verliert. Du mußt einen klaren Kopf behalten. Verstehst du das?«
Carolin hörte auf zu zittern.
«Ja.«
Leona schaute sich noch einmal um. Robert war noch nicht wiederaufgetaucht.
«Ich habe hin und her überlegt, ob wir die Polizei verständigen sollen. Ich fürchte nur, Robert klappt dann zu wie eine Auster. Ich weiß nicht, von wo aus er fliegen will, aber in jedem Fall werde ich eine ganze Weile mit ihm im Auto sitzen. Vielleicht kriege ich ihn dazu, daß er redet. Es ist jedenfalls eine Chance. Wenn du bis heute abend nichts gehört hast, sagst du Wolfgang Bescheid. Er soll dann entscheiden, was zu tun ist.«
«Ich kann dich doch nicht zu einem Killer ins Auto steigen lassen!«sagte Carolin verzweifelt.
Sie machte sich von Leona los, kauerte sich wieder auf das Sofa.
«Ich bin an allem schuld! Mami hat noch gesagt, ich soll das Kind daheim lassen, ich soll es nicht in Gefahr bringen, und ich… ich fand sie wieder nur lästig mit ihren Ermahnungen und sagte ihr, sie sei überängstlich…«
Leona vibrierte vor Ungeduld. Es war keine Zeit für Selbstanklagen und Vorwürfe.
«Das können wir alles später klären«, sagte sie,»du kannst dich zerfleischen, solange du willst, aber im Augenblick bringt das nichts. Also, du weißt, heute abend wirst du…«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Robert trat ins Zimmer. Die Nervosität, die während der letzten Stunden immer wieder spürbar geworden war, schien ihn verlassen zu haben. Er wirkte optimistisch und fröhlich. Alles lief nach seinen Wünschen. Leona stand mit einem gepackten Koffer bereit, ihm in ein neues, gemeinsames Leben zu folgen.
«Alles in Ordnung. Ich habe nur die Scheibenwaschanlage aufgefüllt.«
Er hörte sich an wie ein solider Familienvater, der den Wagen vor dem Aufbruch in die Ferien gewartet hatte.
«Wir können starten, Leona.«
«Zu welchem Flughafen möchtest du?«fragte Leona betont gleichmütig.
Er warf ihr einen scharfen Blick zu.
«Das können wir dann im Auto besprechen.«
Er nahm ihren Koffer.»Auf Wiedersehen, Carolin. Oder ist wiedersehen das falsche Wort? Wir sehen uns sicher nie wieder. Ich bin nicht allzu traurig darüber, und du bestimmt auch nicht. Ich glaube nicht, daß wir eine Chance gehabt hätten, jemals Freunde zu werden.«
«Ich glaube das auch nicht«, erwiderte Carolin mit versteinerter Miene.
«Leona wird in Zukunft nichts mehr mit ihrer Familie zu tun haben«, fuhr Robert fort.»Wie du siehst, hat sie beschlossen, von nun an mit mir in Südamerika zu leben. Ich werde der einzige Mensch für sie sein.«
Carolin sagte nichts. Leona lächelte ihr aufmunternd zu.
«Es wird alles gut werden«, sagte sie.
«Natürlich wird es das!«mischte sich Robert sofort ein.»Komm jetzt, Leona. Wir rufen dann an, Carolin. Du hältst deinen Zuckerjungen ganz bald wieder in den Armen!«
Sie traten aus dem Haus hinaus in den strahlenden Morgen. Zum ersten Mal nahm Leona den weißen Kleinwagen mit Frankfurter Kennzeichen wahr, der in der Einfahrt parkte. Sie fragte sich, wem er gehören mochte. Hatte der Eigentümer das Auto freiwillig hergegeben?
Wolfgang erfuhr um zehn Uhr an diesem Sonntag morgen, daß Robert Jablonski Lydia Behrenburg in ihrer Wohnung überfallen, gefesselt und hilflos liegengelassen, sich sodann mit ihrem Auto aus dem Staub gemacht hatte. Ein Kriminalbeamter, den er nicht kannte, tauchte bei ihm auf und unterrichtete ihn davon. Er hieß Schuborn, soviel bekam Wolfgang noch mit; den Rang hatte er sich schon nicht mehr gemerkt.
Er erschrak zutiefst. Er hatte im ersten Moment gehofft, der Beamte werde ihm mitteilen, man habe Jablonski verhaftet. Eine Sekunde lang hatte er sogar schon gedacht: Gott sei Dank, der Alptraum ist vorbei! Endlich werden wir wieder ganz normal leben können.
Als er dann hörte, daß der Feind erneut zugeschlagen hatte, daß es der Polizei keineswegs gelungen war, ihn festzusetzen, wurde ihm schwindelig. Offenbar war das seinem Gesicht anzusehen, denn Schuborn faßte ihn rasch am Arm.
«Ist Ihnen nicht gut? Möchten Sie ein Glas Wasser?«
«Es geht schon, danke. «Der Schwindel verebbte.»Er hat jetzt ein Auto, sagen Sie?«
Schuborn nickte.»Ein wirklich brutaler Typ. Diese arme Frau hatte ihn versehentlich in ihre Wohnung gelassen. Er hat sie, verschnürt wie ein Paket, auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer liegengelassen. Sie hatte die Möglichkeit, Wasser zu trinken, aber sie ist trotzdem völlig entkräftet, hat schwerste Durchblutungsstörungen und einen Schock. Sie ist sofort ins Krankenhaus gebracht worden.«
«Wie hat man sie entdeckt?«
«Sie war gestern mit einer Besucher in aus München verabredet. Der jungen Frau kam es merkwürdig vor, daß niemand öffnete. Sie hat keine Ruhe gegeben, bis eine Nachbarin Frau Behrenburgs Wohnung aufschloß und nach ihr sah. Frau Behrenburg wäre nicht mehr lange am Leben geblieben.«
«Wie lange hat er das Auto schon?«
«Frau Behrenburg war im Grunde nicht vernehmungsfähig. Sie konnte kaum sprechen. Wenn ich sie trotz allem richtig verstanden habe, ist Jablonski seit vergangenem Dienstag mit ihrem Wagen unterwegs.«
Wolfgang schluckte trocken.»Sie wissen, daß meine Frau…?«
«Ja. Ich bin ausführlich über den Fall unterrichtet. Es ist anzunehmen, daß Jablonski versuchen wird, Ihre Frau zu finden. Sie hält sich aber doch in einem sicheren Versteck auf, oder?«
«Ja.«
«Dann wird es Jablonski auch nichts nützen, ein Auto zu haben. Vielleicht hat er auch den Plan, sie aufzuspüren, inzwischen aufgegeben. Nach unserer Ansicht versucht er, ins Ausland zu fliehen. Aber jetzt haben wir das Auto in der Fahndung. Er hat keine Chance mehr.«
«Ich muß sofort bei meiner Frau anrufen«, rief Wolfgang.
Der Beamte hielt ihn zurück.»Was ist los? Stimmt etwas nicht?«
«Die Schwester meiner Frau ist gestern zu ihr gefahren. Sie ist jetzt noch dort. Er kann ihr gefolgt sein. Verstehen Sie? Wenn er ein Auto hat, kann er ihr gefolgt sein!«
Schuborn runzelte die Stirn.»Meines Wissens war ausgemacht, daß niemand aus dem Bekannten- oder Verwandtenkreis Ihre Frau aufsucht!«
«Meine Frau wollte heute abend… ach, egal, das erkläre ich Ihnen später. Ich muß jetzt sofort dort anrufen!«
Er stürzte ans Telefon. Auf einmal war ihm fast schlecht vor Angst. Mit bebenden Fingern wählte er die Nummer, wartete. Endlich wurde am anderen Ende der Hörer abgenommen.
«Carolin!«Ihm war nicht bewußt, daß er ihren Namen fast schrie.»Carolin, ich muß sofort mit Leona sprechen. Es ist dringend!«
Er lauschte, hielt den Hörer dabei so fest umklammert, daß die Knöchel an seinen Fingern weiß hervortraten.
«Carolin, was ist denn los? Du klingst so komisch. Was heißt: Leona kann jetzt nicht?«
Der Kriminalbeamte wurde aufmerksam, trat näher.
Wolfgang bemühte sich um Ruhe.»Okay. Entschuldige. Ich schreie nicht mehr. Carolin, bitte erzähle mir, was los ist!«
Sie waren nun schon fast zwei Stunden unterwegs.
Leona hatte rasch bemerkt, daß Robert, der am Steuer des Wagens saß, nicht in Richtung Frankfurt fuhr.
«Ich denke, wir wollten nach Südamerika fliegen?«hatte sie erstaunt gefragt, und Robert hatte sie milde und etwas von oben herab angelächelt.
«Doch nicht von Frankfurt aus, Dummchen!«So hatte er sie noch nie genannt.»Da hätten uns die Bullen doch sofort. Ich denke, wir fahren nach Amsterdam.«
In den folgenden Stunden redete er immer von» wir «und» uns«. Er machte sich und Leona zu Komplizen, ließ die Tatsache, daß er Leona erpreßt hatte, mit ihm zu kommen, völlig unter den Tisch fallen. Sie hätten Bonnie und Clyde sein können oder Romeo und Julia: ein verfolgtes Paar, das einem gemeinsamen Traum entgegenfieberte und zusehen mußte, die letzten Hindernisse, die es von der Erfüllung des Traumes trennten, siegreich zu überwinden.
«Denkst du, wir kommen über die holländische Grenze?«
Sie ging auf sein» wir «ein. Sich ihm anzupassen erschien ihr für den Moment als die beste Strategie. Vielleicht, so hoffte sie, glaubte er bald, ihr so weit vertrauen zu können, daß er ihr Felix’ Versteck verriet.
«Ich sehe da gar kein Problem. Die kontrollieren doch nichts mehr. Wir fahren da hinüber und merken es selber kaum.«
Er fuhr zügig, aber umsichtig und konzentriert. Es wurde sehr warm im Wagen, Leona kurbelte ihr Seitenfenster ein Stück hinunter, hielt ihr Gesicht in den Wind. Sie mühte sich, die Bilder zu verdrängen, die ihr Gehirn ihr immer wieder vorzuführen versuchte: Felix, eingesperrt in irgendeinem dunklen Verlies, gefesselt und geknebelt; Felix in einem Erdloch, in einem Verschlag, weinend, voller Angst und Verzweiflung, vielleicht auch voll kindlichem Vertrauen, daß seine Mutter kommen und ihn holen würde; ein Vertrauen, das von Stunde zu Stunde schwächer werden und sich schließlich unter all der Pein auflösen würde.
Irgendwann wagte sie einen Vorstoß.
«Es kann gar nicht leicht gewesen sein, so schnell ein geeignetes Versteck für das Kind zu finden«, sagte sie leichthin.
Roberts Blick blieb nach vorn auf die Straße gerichtet.
«Ich habe das am Samstag nachmittag vorbereitet. Ich hatte vor, ihn irgendwann am Abend aus dem Garten zu entführen. Aber dann seid ihr zu dieser Party gegangen, und alles wurde noch viel einfacher.«
«Ich verstehe. Hast du keine Angst, ihm könnte… irgend etwas zustoßen?«
«Ihm kann nichts zustoßen, Leona. Mach dir keine Sorgen. Er soll nicht sterben. Er soll nur unsere Garantie darstellen, nach Südamerika reisen zu können.«
«Natürlich.«
Sie wußte, daß es zwecklos war. Er mochte sich einreden, daß sie auf seiner Seite stand, daß sie diese Flucht auf einen anderen Kontinent ebenso wollte wie er, aber auf eine schizophrene Weise war ihm daneben durchaus klar, daß sie versuchen würde, ihm ein Bein zu stellen, sowie sie den Aufenthaltsort des Kindes kannte. Er würde dieses Pfand nicht aus den Händen geben.
«Wovon werden wir leben in Südamerika, Robert?«
«Das werden wir sehen. Für den Anfang haben wir dort genug Geld. Ich habe es auf eine Bank in Paraguay transferieren lassen.«
Das Geld für den Verkauf des Anwesens in Ronco. Dort war es also gelandet.
«Ronco?«fragte sie.
Jetzt war sein Lächeln von Wehmut durchzogen.
«Hat Lydia dir wirklich diesen Unsinn einreden können? Die Geschichte mit der Villa in Ronco?«
«Lydia? Du hast immer…«
«Es war traurig, aber Eva konnte Wahrheit und Unwahrheit nicht auseinanderhalten. So, wie sie gute und schlechte Männer nicht auseinanderhalten konnte. Das arme Ding! All diese Phantasien, die sie der alten Lydia aufgetischt hat… Es gibt keine Villa in Ronco, Leona. Es gab nie eine. Alles Lüge.«
«Woher hast du dann Geld?«
«Evas Wohnung in Frankfurt. Ich habe sie verkauft. Das waren immerhin fast siebenhunderttausend Mark.«
Nie hatte sie daran gedacht. Nie war ihr eingefallen, daß der chronisch geldknappe Robert doch aus dem Verkauf der Wohnung seiner Schwester bestimmte Mittel hätte haben müssen.
«Ein Teil gehörte natürlich ihrem verkommenen ExEhemann«, sagte Robert,»aber nicht alles. Eine halbe Million gehört uns.«
«Wie schön.«
Ihre Stimme hörte sich an, als habe sie etwas verschluckt, das ihr nun im Hals steckte.
«Damit können wir eine Zeitlang gut leben.«
«Ich will, daß du gut lebst, Leona«, sagte Robert sanft,»du sollst dich nicht einschränken müssen. Ich werde dir schöne Dinge kaufen. Kleider und Schmuck. Einen neuen goldenen Ring, den du immer tragen wirst. Ich weiß, daß Bernhard Fabiani dir den alten Ring weggenommen hat, aber ich verspreche dir, das wird nicht mehr passieren. Er kann dir nichts mehr tun.«
«Das… freut mich«, flüsterte sie.
«Du wirst dir deine Haare wachsen lassen, nicht wahr? Sie werden lang sein und im Wind wehen.«
«Ja.«
Zum erstenmal sah er von der Straße fort und zu Leona hin. Sein Blick war voller Zärtlichkeit und Wärme.
«Ein ganzes Leben, Leona«, sagte er,»ein ganzes Leben für uns beide.«
Sie wiederholte den Text wie eine folgsame Schülerin.
«Ja, Robert. Ein ganzes Leben für uns beide.«
«Ich habe gewußt, daß etwas nicht stimmt«, sagte Tim,»ich habe es gefühlt. Deine Schwester war so komisch. Wie sie uns lapidar mitteilte, das Kind sei wiederaufgetaucht, uns dann da draußen stehenließ und mir erklärte, ich könne nicht zum Frühstück bleiben… Und sie klang so monoton, als leiere sie einen auswendig gelernten Text herunter… Irgendwann hab’ ich es nicht mehr ausgehalten. Ich dachte, ich gehe da noch mal hin, auch wenn Carolin mir den Kopf abreißt!«
«Danke, daß du da bist«, wisperte Carolin.
Sie hatte ein starkes Beruhigungsmittel bekommen. Ihre Bewegungen waren jetzt mechanisch wie die einer Aufziehpuppe, ihre Sprechweise ein wenig schleppend. Ihre geröteten Augen blieben trocken und hatten einen fiebrigen Glanz.
Tim war gleichzeitig mit einer ganzen Horde von Polizeibeamten im Haus eingetroffen und hatte sich ausweisen sowie eine Reihe mit scharfer Stimme gestellter Fragen beantworten müssen, ehe er eintreten und Carolin in die Arme schließen durfte.
«Was ist denn hier los?«hatte er gefragt, und Carolin, zu diesem Zeitpunkt noch ohne Medikamente, hatte ihm mit sich überschlagender Stimme erzählt, was vorgefallen war. Er hatte Mühe gehabt, ihr zu folgen und die Flut von Informationen in eine gewisse Ordnung zu bringen.
«Ich habe Wolfgang alles erzählt, obwohl wir vereinbart hatten, daß wir nichts sagen, und jetzt hat er es der Polizei gesagt, und am Ende werde ich nie erfahren, wo Felix ist, er wird sterben, Tim, er wird sterben, er wird sterben…«
Niemand wußte, wer den Arzt gerufen hatte. Wahrscheinlich, dachte Tim, hat den die Polizei organisiert. Er gab Carolin eine Spritze, und sie wurde fast augenblicklich ruhiger, beantwortete alle Fragen, die ein freundlicher Polizeibeamter ihr stellte, mit gleichmütiger Stimme. Tim saß die ganze Zeit neben ihr, hielt sie im Arm und hatte das beunruhigende Gefühl, urplötzlich in das Finale eines Gangsterfilms geraten zu sein, ohne zu wissen, wie das hatte passieren können.
«Ich habe Angst um mein Kind«, sagte Carolin, und der Beamte entgegnete:»Das verstehe ich. Wir leiten sofort eine Großfahndung ein. Wir werden Ihren Sohn finden, das verspreche ich Ihnen.«
«Glauben Sie, daß Sie diesen durchgeknallten Typ stoppen können?«fragte Tim.
Der Beamte nickte.»Der geht uns ins Netz. Wir haben das Autokennzeichen. Er wird nicht mehr weit kommen.«
«Er hat Carolins Schwester«, sagte Tim.
«Das wissen wir. Sie können mir glauben, daß wir mit derartigen Situationen umzugehen gelernt haben. Es wird niemandem etwas geschehen. «Er wandte sich wieder an Carolin.»Möchten Sie sich nicht etwas hinlegen? Sie sehen sehr erschöpft aus.«
Carolin schüttelte den Kopf.»Ich bleibe hier und warte auf Felix.«
«Wir wecken Sie sofort, wenn wir ihn gefunden haben.«
«Ich möchte hier sitzenbleiben.«
«In Ordnung. Kann ich im Augenblick noch etwas für Sie tun?«
Unendlich müde legte sie ihren Kopf an Tims Schulter.»Rufen Sie meine Mutter an«, bat sie. Sie klang jetzt wie ein kleines, verlassenes Mädchen.»Ich will, daß sie herkommt.«
«Warum hast du Dolly umgebracht? Das kann ich nicht begreifen. Das ist das einzige, was ich wirklich überhaupt nicht fassen kann. Eine kleine Katze! Sie hat dir vertraut.
Sie hat so viele Abende lang auf deinem Schoß gelegen… Wie konntest du das fertigbringen?«
«Es geschah nur, um dich aufzurütteln. Du hast einen großen Fehler gemacht, Leona, als du mich verlassen hast. Du hättest diesen Fehler nicht erkannt, wenn es keinerlei Sanktionen gegeben hätte. Es war der einzige Weg für uns beide.«
«Aber eine unschuldige Katze… Sie ist so schrecklich gestorben!«
«Irgendwann sterben wir alle.«
«Sie war noch kein Jahr alt.«
«Sei jetzt still!«
«Schon gut.«
«Du sollst still sein!«
«Meine Mutter hieß Ines. Sie hat sich selbst die Kehle durchgeschnitten.«
«Deine letzte Freundin hieß Ines!«
«Sie hieß Anna.«
«Aber du hast gesagt…«
«Ich wollte dir ihren richtigen Namen nicht nennen. Er spielte keine Rolle.«
«Deine Mutter hat sich die Kehle durchgeschnitten?«
«Mitten im Wohnzimmer. So viel Blut hast du noch nie gesehen. Es schwamm alles im Blut.«
«Aber wie kann man sich selbst…?«
«Man kann es eben. Man kann viel mehr, als du denkst, Leona. Viel mehr!«
«Übrigens — der Mann, den du in meiner Küche fast totgeschlagen hast, war nicht mein Liebhaber!«
«Ich möchte nicht, daß du von ihm sprichst!«
«Weißt du, wer das war? Paul. Mein Schwager. Olivias Mann. Er hat für eine Weile bei mir gewohnt, weil seine Ehe in einer Krise steckte.«
«Ich habe gesagt, ich möchte nicht, daß du von ihm sprichst.«
«Du pflasterst deinen Weg mit Angriffen auf Unschuldige. Ist dir das schon aufgefallen? Erst Dolly, dann Paul. Vorsicht! Du fährst zu schnell! Du bist eben auf der Gegenfahrbahn gewesen, hast du das bemerkt?«
«Hör auf, dummes Zeug zu reden, verdammt noch mal! Ich werde sonst noch schneller fahren. Viel schneller! Also — bist du jetzt ruhig?«
«Okay. Okay. Bitte, fahr langsamer. Bitte!«
«Ich habe schreckliche Kopfschmerzen, Leona. Schau mal im Handschuhfach nach. Vielleicht sind da Tabletten!«
«Hier sind keine Tabletten.«
«Ich brauche etwas. Ich brauche unbedingt etwas!«
«Ich kann dir keine Tabletten herbeizaubern. Warte mal, hier ist eine kleine Tasche… nein, da ist nichts gegen Kopfschmerzen… Kautabletten gegen Reiseübelkeit… möchtest du eine?«
«Ich habe doch keine Reiseübelkeit, zum Teufel!«
«Lydia! Lydia Behrenburg! Ihr gehört das Auto!«
«Wie kommst du denn darauf?«
«Weil hier ihr Name steht. In der Tasche. Lydia Behrenburg.«
«Na und? Spielt das eine Rolle? Spielt es irgendeine Rolle, wem das verdammte Auto gehört?«
«Ist sie…?«
«Was?«
«Nichts. «Ist Lydia noch am Leben?
«Manchmal denke ich, ich habe mich in dir genauso getäuscht wie in Anna.«»Inwiefern getäuscht?«
«Ihr gebt einem Mann das Gefühl, ihn zu brauchen. Und ihn zu beschützen. Ihr gebt ihm das Gefühl, bereit zu sein, eine Einheit mit ihm zu bilden. Aber dahinter steckt keine Wahrheit.«
«Ich wollte dich nie täuschen, Robert. Wenn es so ausgesehen hat, tut es mir leid.«
«Du hättest Anna sehen sollen, als ich sie kennenlernte. Abgerissen und ohne Geld. War weggegangen von daheim, in die große, weite Welt, und war gerade mal bis Ascona gekommen. Ihr ging’s dreckig. Sie wußte nicht, wovon sie leben sollte, und sie hatte Angst, sie wird ausgelacht, wenn sie daheim wiederaufkreuzt. Sie hat sich an mich gekrallt wie eine Klette. Ich habe sie aufgepäppelt. Buchstäblich. Aber kaum ging es ihr wieder gut, da wollte sie auf einmal immer mehr Abstand zu mir. Angeblich habe ich sie vereinnahmt, unter Druck gesetzt, ihr die Luft zum Atmen genommen… das ganze verdammte feministische Gequatsche, das die modernen Frauen herunterbeten wie die Priester das Vaterunser. Ich möchte wissen, wer euch so viel Mist in eure Köpfe gepflanzt hat. Ihr seid intelligent, oder? Du bist jedenfalls intelligent, und Anna war auch nicht dumm. Aber ihr begreift nicht, wie wichtig die Einheit ist. Daß man nicht leben kann ohne sie. Ihr wollt immer nur die Abgrenzung. Die Eigenständigkeit. Die Distanz. Könnt ihr nicht den Hunger spüren? Den schrecklichen Hunger?«
«Wonach bist du so hungrig?«
«Wenn du das nicht weißt, Leona, dann hast du nichts begriffen. Gar nichts. Dann bist du wirklich nicht besser als Anna. Aber das sagte ich ja schon: Ich habe mich in dir ganz genauso getäuscht.«
«Und du willst trotzdem mit mir leben?«
«Ich will nicht weiter darüber sprechen.«
«Wir sollten darüber sprechen, bevor wir in das Flugzeug steigen.«
«Ich werde dir sagen, wann wir darüber sprechen. Nicht jetzt!«
«Wann?«
«Nicht jetzt!«
Sie fuhren und fuhren, über sonnige Landstraßen, dann wieder über Autobahnen, durch Dörfer, und einmal ratterten sie sogar über einen Feldweg, dessen Unebenheiten das Auto so hüpfen und schwanken ließen, daß Leona meinte, es müsse jeden Moment auseinanderbrechen.
Zeitweise verlor sie die Orientierung, dann wieder sagten ihr die Namen größerer Städte, wo ungefähr sie sich befanden. Sie hatte nicht den Eindruck, daß Robert tatsächlich Amsterdam ansteuerte. Er schien einen willkürlichen Zickzackkurs zu fahren, der insgesamt eher in nördliche als in westliche Richtung führte. Kannte er den Weg nicht und versuchte diese Tatsache damit zu verschleiern, daß er so tat, als wisse er ganz genau, wohin er wollte? Oder hatte er seinen Plan längst geändert, strebte einem ganz anderen Ziel entgegen?
Sie sah ihn von der Seite an. Er hatte seit über einer Stunde nicht mehr von seinen Kopfschmerzen gesprochen, aber es hatte den Anschein, als quälten sie ihn immer stärker. Er war fast grau im Gesicht, und an der rechten Schläfe trat eine feine blaue Ader hervor und zuckte in unregelmäßigen Abständen. Auf seiner Stirn glänzte der Schweiß.
Als sie durch ein Dorf kamen, sagte Leona:»Sollten wir nicht bei einer Apotheke halten und irgend etwas gegen deine Kopfschmerzen kaufen? Du siehst gar nicht gut aus.«
Gereizt antwortete er:»Es ist Sonntag, falls dir das entgangen ist!«
«Ich weiß. Aber wir könnten bei irgendeiner Apotheke halten und nachsehen, wo die nächste Notapotheke ist. Das schreiben sie doch immer auf einen Zettel an der Tür.«
Er schien zu überlegen. Schließlich nickte er.
«Gut. Gut, so machen wir es. Das ist eine Idee.«
Sie steuerten die nächste Apotheke an, stiegen beide aus. Ein kopfsteingepflasterter Marktplatz in einer Kleinstadt, ausgestorben unter der heißen Sonne, in feiertäglichem Schweigen versunken. Das Schild an der Tür nannte ihnen den Namen eines anderen Dorfes.
«Und woher wissen wir jetzt, wo das ist?«fragte Robert ungeduldig. Seine Lippen hatten praktisch keine Farbe mehr.
«Also, durch ein Dorf mit diesem Namen sind wir bisher nicht gekommen. Ich würde vorschlagen, wir folgen der Landstraße. Vielleicht ist es schon das nächste.«
«Gut. Gut, so machen wir es«, sagte er wieder.
Er klang nervös. Es ging ihm schlecht. Leona war jetzt überzeugt, daß er anfing, die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Tatsächlich fanden sie ohne Schwierigkeiten das betreffende Dorf und dort wiederum sogleich die Apotheke. Sie lag ebenfalls am Rande eines Marktplatzes, der so ausgestorben war wie der vorherige. Kastanienbäume umstanden und beschatteten ihn. Leona blickte auf ihre Uhr. Es war fast eins. Sie vermutete, daß alle Menschen jetzt beim Mittagessen waren und sich Plätze und Straßen erst später wieder mit Spaziergängern füllen würden.
Robert lehnte sich in seinem Sitz zurück. Seine Nase wirkte spitzer als sonst.
«Geh du«, sagte er.»Sag denen, du brauchst etwas Starkes. Mehr als nur ein Aspirin oder so, verstehst du?«
«Ich bring’ dir was.«
Sie stieg aus. Es war heiß draußen, aber nicht so heiß wie im Auto. Sie atmete leichter.
Ich könnte weglaufen, dachte sie, ich könnte dem Apotheker etwas sagen, ich könnte… Aber was dann? Was wird dann aus Felix?
Der Apotheker erschien erst nach dreimaligem Klingeln an der Tür. Er brachte den Geruch von Fleisch und Kohl mit sich und zeigte sich verärgert, beim Mittagessen gestört zu werden. Leona schätzte ihn auf über siebzig Jahre, gebeugt und schlurfend, wie er daherkam. Er war nicht der Typ, bei dem es einen Sinn hatte, ihm zu erklären, daß man mit einem gesuchten Killer unterwegs war, der seinerseits irgendwo ein fünfjähriges Kind versteckt hielt, das in wenigen Tagen verhungern und verdursten würde.
«Ich brauche ein starkes Kopfschmerzmittel. Mein…«, sie zögerte,»mein Mann hat schlimme Schmerzen.«
«Aspirin«, brummte der Alte.
«Das ist zu schwach. Ich brauche etwas Stärkeres.«
Am besten eine Droge, unter deren Einfluß er mir sagt, wo er…
Es war zwecklos. Bis sie diesem Mann verklickert hätte, was los war, würde Robert längst mißtrauisch aus dem Auto gestiegen sein und sie geholt haben.
Der Apotheker brachte ein Kopfschmerzmittel, Leona bezahlte. Sie fühlte sich, als habe sie Blei an den Füßen, als sie zum Wagen zurückging. Verschwinde, rief ihr eine innere Stimme zu. Mach, daß du wegkommst! Lauf weg!
Sie stieg ein. Robert schaltete gerade das Radio aus. Seine Lippen zitterten.
«Die haben eine Suchmeldung gebracht nach dem Kind! Eben im Radio! Deine hirnlose Schwester hat tatsächlich die Polizei alarmiert!«
«Bist du sicher, daß es um dieses Kind ging? Es
verschwinden doch auch andere…«
«Hältst du mich für bescheuert?«blaffte er.»Natürlich ging es um dieses Kind. Ich laß mich doch nicht für dumm verkaufen. Hast du das Medikament?«
Sie reichte ihm die Packung. Er riß sie unbeherrscht auf, nahm sich, ohne den Beipackzettel zu lesen, zwei Pillen, warf sie in den Mund, schluckte sie ohne Wasser hinunter. Finster starrte er vor sich hin.
«Dann haben die auch das Autokennzeichen. Das hat sich die Schlampe bestimmt gemerkt. Die wissen jetzt…«
«Vielleicht wissen sie es gar nicht. Ich glaube nicht, daß Carolin…«
«Du glaubst, du glaubst, du glaubst! Weißt du, was mir dein Glauben nützt? Einen Scheißdreck! Ich muß damit rechnen, daß sie es wissen, verstehst du?«
Er ließ den Motor an, trat dabei auf das Gaspedal, daß der Wagen aufheulte. Meine letzte Chance, dachte Leona, die allerletzte…
Sie versuchte, die Wagentür aufzureißen, wollte hinausspringen.
«Du bleibst drin!«brüllte Robert.
Das Auto schoß nach vorn. Leona wurde gegen Robert geschleudert. Waghalsig — denn er jagte in völlig überhöhter Geschwindigkeit bereits die Dorfstraße entlang — griff er über sie hinweg und schlug ihre halb geöffnete Tür zu.
«Tu das nie wieder!«schrie er.»Tu das nie wieder!«
«Wo willst du jetzt hin?«
Er antwortete nicht. Sie schaute auf den Geschwindigkeitsanzeiger. Er fuhr den Wagen mit hundertsechzig Stundenkilometern zum Dorf hinaus. Eine Katze brachte sich in letzter Sekunde in Sicherheit.
Roberts Gesicht war verzerrt. Leona wußte, daß ihn nichts mehr von all dem, was sie auch sagte, erreichen würde.
Fast die ganze Familie hatte sich im Häuschen versammelt. Nur Olivia war wegen Dany daheimgeblieben. Aber Elisabeth und Julius waren da, Ben und sogar Wolfgang, der genausogut hätte in Frankfurt bleiben können, der es aber dort nicht ausgehalten hatte. Carolin saß noch immer auf dem Sofa, und Tim hatte den Arm um sie gelegt; ein Anblick, der Ben zutiefst irritierte. Er wußte nicht, wer dieser Mann war, und hoffte, es handele sich um irgendeinen hilfreichen Nachbarn. Er fand ohnehin nicht wirklich die Kraft, sich über diesen plötzlich aufgetauchten Tröster Carolins aufzuregen: Es war sein Sohn, der entführt und in ein unbekanntes Versteck gebracht worden war. Seine Nerven vibrierten, er hätte heulen mögen und fühlte sich dabei zu betäubt, um auch nur eine einzige Träne weinen zu können.
Elisabeth behielt die Nerven. Sie kochte Kaffee für die noch immer in Haus und Garten herumwuselnden Polizisten, machte belegte Brote für alle und holte Mineralwasser aus dem Keller.
«Wir dürfen jetzt nicht zusammenklappen«, sagte sie,»wir müssen essen und trinken und die Beherrschung wahren!«
Wolfgang lief im Wohnzimmer auf und ab, ruhelos wie ein eingesperrter Tiger.
«Er hat Leona! Dieser Wahnsinnige hat Leona in seinem Auto. Ich begreife das nicht!«Er blieb vor Carolin stehen.»Wie konnte sie, um Himmels willen, bei ihm einsteigen? Mit ihm wegfahren? Dieser Mann ist ein mehrfacher Mörder! Er ist geisteskrank! Wie konntest du das zulassen?«
«Er hat gedroht, daß er sonst niemals sagen wird, wo er Felix…«
«Ich habe bereits begriffen, was er gesagt hat! Trotzdem verstehe ich nicht, wie ihr euch darauf habt einlassen können. Ist euch nicht klar gewesen, daß ihr ihm damit zwei Geiseln in die Hände gespielt habt? Felix und Leona! Das war eine solche
Dummheit, daß ich…«
«Moment!«unterbrach ihn Ben.»Du solltest dir überlegen, in welchem Ton du mit ihr sprichst, Wolfgang! Carolin ging es um Felix. Und der ist auch mein Sohn!«
«Erstaunlich, daß du dich darauf auch einmal besinnst«, entgegnete Wolfgang eisig.»Ich hatte bisher eher den Eindruck, die Vaterrolle beschränkte sich bei dir allein auf den Akt der Zeugung.«
Ben sprang auf, und einen Moment hatte es den Anschein, als wolle er mit erhobenen Fäusten auf Wolfgang losgehen. Er gewann im letzten Augenblick die Kontrolle über sich und sagte leise:»Du kannst jetzt wahrscheinlich nur so reden. Um von dir selber abzulenken. Du weißt ganz genau, daß du die Lawine losgetreten hast, weil du unter allen Umständen im Bett einer anderen Frau mit deiner Potenz protzen mußtest und…«
«Paß auf, was du sagst«, warnte Wolfgang.
«Ich sage die Wahrheit. Leona wäre nie mit diesem Kerl auch nur in Berührung gekommen, wenn du ihr nicht eure Ehe vor die Füße gekippt hättest!«
«Ich würde dir dringend raten, den Mund zu halten. Ich lasse mir von einem kleinen Schmarotzer wie dir…«
«Schluß jetzt!«schrie Elisabeth.
Alle fuhren zusammen, auch die anwesenden Polizisten, und starrten sie an. Ihre Stimme hatte wie ein Pistolenschuß geklungen.
«Hört auf! Es ist unwürdig und sinnlos, was ihr da tut!«
«Entschuldige, Elisabeth«, murmelte Wolfgang.
«Ich weiß, daß nichts stimmt in unserer Familie!«
Sie stand mitten im Zimmer, ein Tablett mit Kaffeetassen in den Händen, bleich und bebend.
«Ich weiß, daß Ben schmarotzt und daß Wolfgang Leona in schändlicher Weise belogen und betrogen hat. Ich weiß aber auch, daß diese Tatsache Leona nicht davon freispricht, daß sie es war, und niemand sonst, die mit Robert Jablonski einen fatal falschen Griff getan hat. Ich weiß, daß Olivia spinnt, was Dany angeht, und daß allein sie schuld daran ist, wenn Paul eines Tages genug von ihr hat und geht. Ich weiß das alles. Aber wenigstens gebe ich mir trotz allem Mühe, die Familie zusammenzuhalten. Und ihr könntet mich hin und wieder unterstützen. Wenigstens jetzt. Weil sowohl Felix als auch Leona uns brauchen und ihnen nicht gedient ist mit einem Haufen von kindischen Narren, die sich gegenseitig die Augen auskratzen!«
Alle schwiegen.
«Es tut mir wirklich leid«, wiederholte Wolfgang schließlich.
«Mir auch«, murmelte Ben.
«Dann benehmt euch jetzt wie erwachsene Männer«, sagte Elisabeth.
Ein weiterer Polizist trat ins Zimmer.»Ich habe eben die Nachricht bekommen, daß Jablonski und Leona Dorn möglicherweise gesehen wurden. Wir fahnden jetzt auch nach ihnen übers Radio, und gerade hat ein Apotheker aus einem Dorf südlich von Hannover angerufen. Er hat heute Notdienst, und eine junge Frau, auf die Leona Dorns Beschreibung zutrifft, hat bei ihm starke Kopfschmerztabletten für ihren Begleiter gekauft. Er kennt die Autonummer nicht, aber er hat das wartende Fahrzeug gesehen. Farbe und Marke stimmen jedenfalls.«
«War Leona in Ordnung?«fragte Elisabeth mit schwankender Stimme.
Der Polizist nickte beruhigend.»Sie war in Ordnung. Der Apotheker sagt, ihm sei nur ihre Nervosität aufgefallen. Und dann hat er mitbekommen, daß der Wagen mit absolut überhöhter Geschwindigkeit das Dorf verließ. Kurz darauf hörte er die Fahndungsmeldung und meinte, das könnten sie gewesen sein.«
«Wenn sie es waren — warum steigt Leona denn dann wieder bei ihm ein?«fragte Wolfgang verzweifelt.
«Sie will unter allen Umständen herausfinden, wo Felix ist«, flüsterte Carolin.
Der Polizist zögerte.»Nach Aussage des Apothekers kam es wohl zu einer Art Handgemenge zwischen den beiden, nachdem die Frau erneut in das Auto gestiegen war. Er hatte den Eindruck, daß sie wieder hinauswollte, daß ihr Begleiter sie aber daran hinderte. Das hat ihn stutzig gemacht.«
«O Gott«, murmelte Julius.
«Die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um die von uns gesuchten Personen handelt, scheint recht hoch«, sagte der Beamte,»und das bedeutet, daß wir jetzt ziemlich genau wissen, wo sie sind. Wir umgrenzen das ganze Gebiet mit unseren Einsatzfahrzeugen. Sie kommen da nicht mehr raus.«
Niemand sagte etwas, aber alle dachten dasselbe: Wie würde Robert Jablonski reagieren, sobald er bemerkte, daß er in der Falle saß?
Von jenem Moment an, da er die Suchmeldung nach dem Kind im Radio gehört hatte, durchlief Robert in der darauffolgenden Stunde jede Stufe des langsamen Begreifens, daß er verloren war. Auf sein erstes wüstes Schimpfen hin folgten finsteres Grübeln, hastiges Planen, rasches Verwerfen gerade eben gefaßter Vorhaben. Immerhin bewirkten die Tabletten, die Leona ihm gekauft hatte, daß seine Kopfschmerzen nachließen. Er hatte wieder etwas Farbe im Gesicht bekommen, und die zerquälten, steilen Falten auf seiner Stirn waren verschwunden.
Er fuhr noch immer einen Zickzackkurs, benutzte vor allem Landstraßen und durchquerte abgelegene Gegenden. Es schien ihm vor allem darum zu gehen, nicht anhalten zu müssen.
Zwischendurch schlug er mit der Faust auf das Lenkrad, fluchte, tobte, heizte den Wagen zu halsbrecherischem Tempo hoch und schimpfte dabei auf Gott und die Welt.
Dann wieder wurde er ruhiger, langsamer, schien angestrengt zu versuchen, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
«Wir können über keine Grenze«, sagte er,»das steht fest. Die haben die Autonummer. Die werden sofort versuchen, uns zu schnappen.«
«Vielleicht…«, begann Leona zaghaft, aber er unterbrach sie sofort:»Nichts vielleicht! Vergiß es! Vergiß den Traum von Südamerika! Glaubst du, wir kommen je in das Flugzeug? Glaubst du, wir kommen durch irgendeine Paßkontrolle?«
Leona wagte nicht, darauf hinzuweisen, daß seine Papiere schon vorher aufgrund der gegen ihn laufenden Fahndung niemals den Weg in die Freiheit hätten ebnen können. Insofern hatte sich an seiner Situation nicht so viel verändert, wie er offenbar glaubte. Aber zuvor hatte er jedes Problem verdrängt und abgeleugnet; nun schien die ganze Wucht der Schwierigkeiten und des unvermeidlichen Verhängnisses über ihn hereinzubrechen. Zugleich balancierte er noch immer auf dem schmalen Grat zwischen dem irrealen Wunsch, in Leona die Gefährtin zu sehen, die unverbrüchlich zu ihm hielt, und der instinktiven Erkenntnis, daß sich Leona längst gegen ihn gestellt hatte und nicht zögern würde, ihn auszutricksen, sowie sie sich davon einen Vorteil versprechen konnte. Je nach Dominanz der einen oder der anderen Version in seiner Vorstellung behandelte er Leona mit Zuneigung oder mit Kälte und Wut.
Leona ihrerseits versuchte ihn zu beruhigen, so gut sie es vermochte. Schrie und fluchte er und nannte sie eine Verräterin, so erwiderte sie nichts, zog sich in sich selbst zurück, ließ seinen Zorn wie eine Welle über sich hinwegbrausen. Wurde seine Stimme sanft, und behandelte er sie wie eine Komplizin, dann ging sie darauf ein, bemühte sich, Vorschläge zu machen, wie sie beide aus ihrer verfahrenen Lage wieder hinausfinden könnten.
Dazwischen sah sie einfach aus dem Fenster, den Kopf erschöpft an die Scheibe gelehnt. Sie kamen immer höher hinauf in den Norden, das Land ringsum wurde flach und weit; wie rote Flecken lagen vereinzelte aus roten Backsteinen gebaute Häuser und Gehöfte in den Wiesen.
So ein wunderschöner Sommertag, dachte sie einmal, so schön, daß man nicht glauben mag, daß etwas Schreckliches geschieht.
Und dann fiel ihr Blick zufällig auf die Benzinanzeige des Wagens, und schlagartig wurde ihr klar, daß der Moment, in dem sich alles entscheiden mußte, unmittelbar bevorstand: Sie fuhren fast auf Reserve. Robert würde in allernächster Zeit entweder eine Tankstelle ansteuern müssen, oder der Motor würde irgendwo auf einer dieser einsamen Landstraßen zwischen Kuhweiden und Getreidefeldern tuckernd und stotternd verenden.
Als ihnen ein anderes Auto entgegenkam und mehrfach kurz aufblendete, drehte Robert völlig durch. Er trat mit solcher Vehemenz auf die Bremse, daß der Wagen herumgeschleudert wurde und unter lautem Quietschen in der entgegengesetzten Fahrtrichtung zum Stehen kam. Robert jagte den Weg, den sie gerade gekommen waren, zurück, als sei der Teufel hinter ihm her.
Leona hing in ihrem Gurt und schnappte nach Luft.
«Was ist denn los?«rief sie.
«Das war eine eindeutige Warnung! Hast du nicht gesehen, daß der aufgeblendet hat? Da vorne ist eine Kontrolle von den Bullen. Todsicher!«
Leonas Herz schlug bis zum Hals.
«Lieber Himmel, du hättest uns gerade umbringen können! Wenn zufällig noch ein Auto…«
«Glaubst du, ich tappe denen bereitwillig in die Falle? Ich bin doch nicht wahnsinnig! Die hätten uns jetzt!«
«Du weißt doch gar nicht, was der gemeint hat! Vielleicht werden irgendwo da vorne auch nur zu hohe Geschwindigkeiten geblitzt. Oder es geht um etwas ganz anderes!«
Er fuhr jetzt ein einigermaßen normales Tempo.
«Wir dürfen nichts riskieren. Besser, wir sind einmal zu oft vorsichtig als einmal zuwenig. Übrigens«, er machte eine Kopfbewegung hin zum Armaturenbrett,»wir haben fast kein Benzin mehr.«
Sie tat so, als habe sie das zuvor nicht bemerkt.
«Tatsächlich. Wir sollten eine Tankstelle aufsuchen.«
Er runzelte die Stirn.»Das ist zu gefährlich. Die Tankstellen haben längst unser Kennzeichen. Da schnappen sie uns.«
«Aber wir werden nicht mehr weit kommen.«
«Nein. Das werden wir nicht.«
Er sagte dies mit einer plötzlichen Gelassenheit, die Leona angst machte.
«Was soll dann werden?«fragte sie.
Er wandte sich ihr zu. Es war, als glätte sich etwas in seinem Gesicht. Die Furchen verschwanden, die Verkrampfung um den Mund löste sich. Es war wieder das schöne, verführerische Gesicht des Robert Jablonski von einst, des Mannes, von dem sie geglaubt hatte, er könne ihre Zukunft sein.
«Du mußt keine Angst haben, Leona. Man wird uns nie wieder trennen. Dafür werde ich sorgen.«
Sie schluckte trocken.»Robert…«
«Ich habe dich nie verlassen, seitdem wir unsere Liebe füreinander entdeckten. Nie. Ich wollte dir das schon lange sagen. Es ist mir wichtig, daß du das weißt.«
«Ich weiß es.«
Sein Blick streichelte sie voll trauriger Zärtlichkeit.
«Damals, im letzten Jahr, im Dezember, da hast du gedacht, ich sei einfach verschwunden für zwei Wochen. Weißt du noch? Du warst sehr böse mit mir.«
«Ich… ich erinnere mich…«
«Ich war die ganze Zeit in deiner Nähe. Ich wollte wissen, ob es dir ernst ist mit mir. Ob du mir treu bist. Du hast die Probe bestanden, Leona. Und du warst wirklich ärgerlich, weil ich verschwunden war. Da wußte ich, daß deine Gefühle echt sind.«
«Du… warst nicht bei einem Verlag in… Italien…«
«Dummchen!«Zum zweiten Mal nannte er sie so, aber das Wort klang liebevoll aus seinem Mund.»Ich habe gar kein Manuskript geholt zum Übersetzen. Ich habe nicht gearbeitet.«
«Aber du hattest diesen Stapel Papier…«
«Schmierpapier. Aus deinem Schreibtisch und aus dem von deinem Mann. Alte Akten. Alles mögliche. In Wahrheit…«
Sie begriff.»In Wahrheit hast du jeden Tag in dem Cafe vor dem Verlag gesessen. Nicht nur an dem Tag, an dem dich Carolin dort entdeckte. Deswegen konnte ich dich telefonisch nie erreichen. Du hast ständig versucht, mich im Auge zu behalten.«
«Weil ich dich liebe, Leona. Ich mußte sicher sein, daß du nicht auf dumme Gedanken kommst.«
«Du meinst…«
«Ich mußte sicher sein, daß du mir nicht untreu wirst.«
Sie kannte bereits die Antwort, aber irgend etwas trieb sie, die Frage trotzdem zu stellen.
«Was wäre gewesen, wenn ich mich untreu verhalten hätte?«
«Ich hätte dich getötet«, sagte er so freundlich und schlicht wie seinerzeit in dem Cafe in Locarno.
«Du hast aber nie einen Grund gefunden, mich zu töten.«
«Nein. Auch als du mich verlassen hast, wußte ich, daß du ein Opfer böser Menschen warst. Millie Faber hat dich gegen mich aufgehetzt. Dafür hat sie bezahlen müssen.«
Ein trockenes Schluchzen klang aus Leonas Kehle.
«Robert, ich habe Angst, ich will nicht…«
«Du mußt keine Angst haben. Sei ganz ruhig. Ich habe mich
nur ein wenig geirrt. Wir werden nicht zusammen leben. Wir werden zusammen sterben.«
«Wohin fährst du?«
«Irgendwohin, wo es ganz still ist. Wo wir ganz allein sind.«
«Es ist nicht so einfach zu sterben, Robert.«»Ich werde zuerst dich töten. Dann mich.«
«Bitte…«
«Ich werde dir nicht weh tun. Du bist nicht schlecht wie Anna. Du wirst nichts spüren. Ich verspreche es dir.«
«Sterben tut immer weh.«
«Ich werde sanft sein. Sehr vorsichtig. Ich liebe dich, Leona.«
Sie fuhren die gerade, sonnenbeschienene Landstraße entlang. Das rote Warnlicht an der Benzinanzeige brannte. Nicht ein einziges anderes Auto begegnete ihnen. Nicht ein einziges Auto folgte ihnen. Um sie herum war nichts als endlos weite Wiesen. Vereinzelt ein Baum.
Das Auto wird stehenbleiben, und dann wird es geschehen, dachte Leona, hier also werde ich sterben.
Vielleicht, so ging es ihr durch den Kopf, wurden Schicksale gefügt am Tag der Geburt. Vielleicht war es ihr immer bestimmt gewesen, an einem Sommertag zwischen blühenden Feldern ihr Leben zu beenden. Unter den Händen eines Wahnsinnigen, der glaubte, sie nur auf diese Weise für immer an sich fesseln zu können.
Und im selben Moment, da sie dies dachte, lehnte sich etwas in ihr gegen den Gedanken auf. Gegen den Gedanken von Schicksal, Fügung, Vorherbestimmung und der damit verbundenen Vorstellung von Unausweichlichkeit. Auf einmal durchströmten sie all die Wut, all die Gefühle, die immer wieder lebendig wurden in ihr, seit Robert Jablonski in ihr Leben getreten war und ihr ihre Selbstbestimmung geraubt hatte. Auf einmal war sie zu zornig, um noch Angst zu haben.
Ehe Robert in irgendeiner Weise reagieren konnte, griff sie mit beiden Händen in das Lenkrad und riß es nach rechts herum. Der Wagen schoß von der Straße auf einen Acker zu und prallte frontal gegen den einzigen Baum, der weit und breit seine dicht belaubten Äste in den wolkenlosen Himmel reckte.
Leona hörte Robert schreien und verspürte selbst einen brennenden Schmerz, der in ihren Beinen begann und dann den Körper ganz und gar überschwemmte.
Gleich darauf verlor sie das Bewußtsein.
Sie wußte, nicht, ob Sekunden, Minuten, Stunden vergangen waren. Irgendwann riß der Schmerz sie aus ihrer Ohnmacht. Sie blinzelte in gleißend helles Licht. Voller Verwunderung dachte sie: Ich bin noch am Leben.
Ihre Beine taten mörderisch weh. Angestrengt versuchte sie, die Augen zu öffnen, um sehen zu können, was überhaupt geschehen war. Sie entdeckte, daß ihre Beine voller Blut waren. Blech oder Glas oder sonst irgend etwas hatten ihr tiefe Schnitte zugefügt. Das Auto war zu alt, um schon über Airbags zu verfügen. Nichts hatte die Wucht des Aufpralls gemildert.
Leise stöhnend richtete sie sich in ihrem Sitz auf. Der Gurt drückte sich tief in ihre Haut. Sie zog an ihm, um ihn zu lockern. Nach vorn konnte sie nicht das geringste sehen; die Windschutzscheibe war ein einziges dicht gewobenes Spinnennetz aus Sprüngen.
Ich muß hier raus, dachte sie.
Im selben Moment vernahm sie ihren Namen.
«Leona.«
Es war Roberts Stimme. Sie klang klar und deutlich.
Die Erinnerung, für kurze Zeit abgetaucht in verschwommene Tiefen, kehrte zurück. Sie und Robert. Ihre gemeinsame Flucht in diesem Auto. Seine Angst vor der Polizei. Seine Worte:»Wir werden zusammen sterben.«
Alles umsonst. Alles umsonst! Tränen schössen ihr in die Augen. Sie waren beide am Leben. Klebten in dem eingedellten Auto an einem verdammten Baum irgendwo in der Einöde. Ihre Beine waren zu kaputt, als daß sie eine Chance gehabt hätte wegzulaufen. Sie war verloren. Er mußte nur die Hand ausstrecken, um sie zu erwürgen. Sie hing hilflos in ihrem Gurt und fühlte das Blut in warmen Rinnsalen zu ihren Füßen hinablaufen.
«Leona!«wiederholte er drängend.
Sie brachte endlich die Kraft auf, den Kopf zu wenden und ihn anzusehen. Er saß auf der Seite des Autos, die den Baum unmittelbar erwischt hatte. Es hatte den Anschein, als sei hier das Äußere des Wagens in das Innere gequetscht worden. Die Windschutzscheibe war herausgebrochen bis zur Mitte, der Rahmen war gesplittert, Stangen ragten kreuz und quer in die Luft. Robert hatte das Armaturenbrett unmittelbar vor sich, kaum zwei Handbreit hätten noch Platz gefunden zwischen seiner Brust und dem Knäuel aus Plastik und Glas, das sich unentwirrbar zusammengeballt hatte. Das Lenkrad schien in seinem Bauch zu verschwinden. Schien? Wo sollte es sonst sein, fragte sich Leona und wandte sich hastig ab, kämpfte den Brechreiz nieder, der sie plötzlich schüttelte.
«Leona!«flehte Robert.
Mühsam sah sie wieder zu ihm hin. Sein Gesicht, von wächserner Blässe, zeigte keine Schramme, keinen Kratzer. Es war so schön wie immer und völlig unversehrt. In seinen klaren Augen aber hatte sich bereits die Gewißheit des Sterbens eingenistet.
«Leona, du bist wach?«
«Ja«, wisperte sie.
«Bist… du verletzt?«
«Meine Beine… irgend etwas ist mit meinen Beinen…«
«Kannst du aussteigen?«
«Ich weiß nicht… was ist mit dir?«
«Ich sterbe«, sagte er.
«Ich werde sehen, daß ich aussteigen kann. Vielleicht kommt jemand vorbei. Wir brauchen einen Arzt. Einen Notarztwagen.«
«Keinen Arzt, Leona. Dafür ist es zu spät. Ich möchte nur… hilf mir hier raus. Hol mich aus diesem Auto. Ich… habe solche Schmerzen. Ich will nicht so sterben… bitte… hol mich raus…«
Es bedurfte einer sehr bewußten geistigen Anstrengung, ihren Beinen den Befehl zu geben, sich zu bewegen. Für gewöhnlich geschahen diese Dinge automatisch. Jetzt schien sich der Weg über die Nervenbahnen von ihrem Gehirn bis zu den ausführenden Gelenken vervielfacht zu haben. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie ihre Beine hinausgehoben hatte. Dann schob sie langsam ihren Körper durch die zerbeulte Tür hinterher.
Sie wußte, daß es warm draußen war, heiß sogar, aber sie fror dennoch heftig. Ihre Fingerspitzen fühlten sich taub an, bitzelten nur leicht. Sie stützte sich auf dem vergleichsweise unversehrten Kofferraum des Wagens ab, als sie vorsichtig um den Blechhaufen herumging. Übelkeit und Frieren wurden stärker.
Sie hielt Ausschau nach einem anderen Fahrzeug oder nach irgendeinem Menschen, einem Bauern vielleicht oder einem Spaziergänger, aber weit und breit blieb alles still und leer. Bienen summten träge durch den heißen Nachmittag. Nicht einmal eine Kirchturmspitze in der Ferne verriet die Nähe eines Dorfes. Die Landstraße verlor sich als gewundenes graues Band irgendwo am Horizont, wo die Wiesen an den Himmel grenzten.
Blühender Klee zu ihren Füßen. Löwenzahn. Aufgewühlte Erde dort, wo sich die Reifen ihren Weg gebahnt hatten. Sie könnte versuchen, die Straße entlangzulaufen…
Sie hörte wieder seine flehende Stimme.»Leona. Bitte… die
Schmerzen…«
Sie fluchte leise, tappte ganz um das Auto herum. Die Fahrertür war stark verschoben, ließ sich erst beim dritten Versuch öffnen. Das Bild, das sich ihr von dieser Seite bot, war das gleiche wie vorher. Robert hatte den Kopf herumgedreht, sah sie an.
«Bitte…«
Sie konnte die Worte mehr an seinen Lippen ablesen, als daß sie sie hörte.
«Die Schmerzen…«
Sie wußte nicht, ob ihm tatsächlich das Lenkrad im Bauch steckte oder ob es die völlig verkrümmte, zusammengeschobene Haltung war, was ihn fast rasend werden ließ vor Schmerzen, aber sie begriff, daß es der letzte und einzige Wunsch seines Lebens noch war, sich auf der Erde ausstrecken zu können und dort zu sterben. Er hatte den Gesichtsausdruck eines Tieres, das qualvoll in einer Falle verendet.
Sie neigte sich über ihn, versuchte, ihre Hände unter seine Arme zu schieben. Er stöhnte entsetzlich, wurde noch fahler. Sie merkte, daß er versuchte, sich zu beherrschen, damit sie auf keinen Fall nachließ in ihrem Bemühen, ihm herauszuhelfen.
«Wo ist Felix?«fragte sie leise.
«Bitte…«, winselte er.
Sie ließ ihn los.»Wo ist Felix?«wiederholte sie mit schneidender Stimme.
Er sah sie an, ungläubig, erschüttert.
«Leona…«
Sehr leise sagte sie:»Ich lasse dich hier verrecken. Ich schwör’s dir. Hier ist weit und breit niemand, der dir helfen könnte. Wo ist Felix?«
«Hol… mich raus! Bitte!«
Die Schmerzen raubten ihm fast die Sinne. Sie konnte es sehen.
Sie trat einen Schritt zurück. Er bemühte sich, die Hand nach ihr auszustrecken, vermochte aber nicht viel mehr, als seine Finger zu krümmen.
«Das… würdest… du… nicht… tun…«
«Verlaß dich drauf. Ich tu’ es.«
Sie machte einen weiteren Schritt von ihm weg. Er weinte jetzt wie ein Kind.
«Leona… bitte… bitte…«
«Wo ist Felix?«
Er schluchzte, als er ihr den Ort beschrieb, an dem er ihn versteckt hatte. Sie zweifelte nicht daran, daß er die Wahrheit sagte. Sie packte ihn an den Schultern und zog ihn millimeterweise aus dem Wagen. Es kostete sie mehr Kraft, als sie je geglaubt hatte aufbringen zu können.
Irgendwann hörte sie, wie ein Auto hielt. Sie hörte Stimmen.
«Mein Gott, was ist denn passiert? Hören Sie, Sie bluten ja schrecklich! Wir brauchen sofort einen Arzt und die Polizei… Sie sollten den Mann besser nicht bewegen… Warten Sie, bis der Arzt…«
Aber da hatte sie es schon geschafft und streckte Robert in dem weichen Klee am Straßenrand aus. Nicht nur im Gesicht, auch am ganzen Körper sah er völlig unversehrt aus. Sie strich ihm die dichten, dunklen Haare aus der Stirn.
Im selben Moment, da er sie anlächelte, starb er.
Sie saß noch neben ihm auf der Erde und hielt seine Hand, als die Polizei kam und ein Krankenwagen. Ein Sanitäter löste ihre Finger aus denen Roberts. Sie wurde auf eine Bahre gelegt, und endlich breitete jemand eine Decke über sie, ein Mensch, der, wie sie dankbar dachte, gemerkt haben mußte, wie entsetzlich sie fror.
«Schwerer Schock«, hörte sie jemanden sagen.
Sie schloß die Augen.
Auf den ersten Blick war es Wolfgang vorgekommen, als strahle Leona Verlorenheit und Verlassenheit aus, wie sie da am Fuß der Treppe stand zwischen all den Koffern. Aber dann, als er die letzte Stufe heruntergekommen war, merkte er, daß sie voller Zuversicht und Vorfreude war. Alle Hoffnung, sie werde sich alles noch einmal überlegen, fiel in sich zusammen.
Sie kramte in ihrer Handtasche herum, fischte ihren Autoschlüssel heraus.
«So«, sagte sie,»ich muß los. Paul wartet sicher schon.«
«Hätte ihn nicht irgend jemand anderer von der Familie im Krankenhaus abholen können? Olivia zum Beispiel. Dann hätten wir wenigstens diese letzten zwei Tage noch für uns.«
«Ich will doch selbst noch mal nach Lauberg. Ich sehe sie alle jetzt für mindestens ein Jahr nicht mehr. Und da ist es doch nur sinnvoll, daß ich Paul gleich mitnehme.«
Mit einer resignierten Handbewegung wies er auf die zahlreichen Gepäckstücke ringsum.
«Na ja, jedenfalls zeigst du mir recht deutlich, wie eilig du es hast, von mir wegzukommen. Du hättest ja auch nach deiner Rückkehr aus Lauberg packen können.«
«Das wäre aber eine unheimliche Hetzerei geworden. Es tut mir leid, daß du jetzt das ganze Zeug hier herumstehen hast, aber übermorgen verschwindet alles.«
Er lächelte traurig.»Übermorgen verschwindest vor allem du!«
Sie nickte.»Ja. Ich habe dir ja erklärt…«
«Jaja. Ich weiß.«
Es hatte ihn wie ein Schlag getroffen, als sie ihm verkündet hatte, sie werde nach England gehen. Ihre Stelle kündigen. Für mindestens ein Jahr in London leben. Vielleicht auch für länger.
«William — du weißt, der Literaturagent, mit dem ich befreundet bin — hat mir einen Job angeboten. Das ist eine riesige Chance! Ich muß das machen!«
«Aber du kannst doch nicht deine wirklich gute Stelle hier…«
«Natürlich kann ich! Meinst du, ich will für alle Zeit am selben Schreibtisch versauern?«
Er hatte vor ihr gestanden, mit hängenden Armen und mit seiner ganzen Bereitschaft zu einem Neuanfang, und war sich wie ein Trottel vorgekommen.
«Und… was wird aus uns?«hatte er schließlich gefragt.
Sie hatte nicht einmal versucht, ihm die bittere Wahrheit ein wenig zu versüßen.
«Ich weiß nicht. Vorläufig jedenfalls — nichts!«
«Aha. Und du meinst, ich warte hier geduldig, bis du wiederkommst und ob du überhaupt wiederkommst?«
«Das meine ich gar nicht. Du wirst tun, was du möchtest.«
«Ich habe keine Lust, allein in dem großen Haus zu wohnen!«
«Dann verkaufe es.«
«Unser Haus? Du hast immer gesagt…«
Sie hatte geseufzt, weil er so schwer begriff.
«Ich will ein neues Leben, Wolfgang. Das alte ist mir zu eng geworden. Diese Stadt, dieses Haus, meine Arbeit… das kann nicht alles sein. Vor ungefähr einem Jahr hast du für dich genau das gleiche festgestellt. Und du hattest recht. Es hat nur etwas gedauert, bis ich es auch kapiert habe.«
«Du willst dich rächen.«
Sie hatte die Hand gehoben und ihm sanft über die Wange gestrichen.
«Ach, Wolfgang! Rache! Du glaubst gar nicht, wie wenig ich an Rache interessiert bin!«
Das schlimme ist, dachte er nun, an diesem Julimorgen im Flur ihres gemeinsamen Hauses zwischen all den Koffern, die ihre Trennung symbolisierten, daß sie wirklich keine Rache will. Wenn sie das wollte, hätte sie noch Gefühle für mich. Dann wüßte ich, sie kommt wieder, wenn sie meint, ich hätte lange genug gezappelt. Aber so… gibt es keine Hoffnung.
Er betrachtete sie. Sie hatte sich gut erholt von dem Unfall, von ihrem Schock und von den Verletzungen. Sie hatte Narben an den Beinen zurückbehalten, deshalb trug sie nun immer lange Hosen. Die Narben waren rot und häßlich, aber die Ärzte hatten gesagt, sie würden blasser und unauffälliger werden mit der Zeit, wenn auch nie ganz verschwinden. Im Krankenhaus hatte sie immer nur nach Felix gefragt und war erst zur Ruhe gekommen, als sie die Nachricht erhielt, daß die Polizei ihn tatsächlich in dem von Robert benannten Versteck gefunden hatte: ein stillgelegtes, einsames Gehöft jenseits der ehemaligen Zonengrenze. Felix hatte in einem steinernen Kellerverlies gekauert, in dem Wasser von den Wänden lief und Grabeskälte herrschte. Er hatte blaue Lippen gehabt und war mit schwerer Unterkühlung sofort in eine Klinik eingeliefert worden.
«Noch eine Nacht und ein Tag«, hatte der Arzt gesagt,»länger hätte er keinesfalls überlebt.«
Felix selbst war keineswegs so verstört, wie alle es erwartet hatten.
«Ich wußte, daß du mich finden würdest«, sagte er mit aufeinanderschlagenden Zähnen, als ihn seine weinende Mutter in die Arme schloß.
Wolfgang hatte Leona bittere Vorwürfe gemacht, weil sie zu Robert Jablonski ins Auto gestiegen war.
«Das war Wahnsinn! Absoluter Wahnsinn!«
«Es war das einzig Richtige. Wir hätten aus Robert nie herausbekommen, wo Felix ist, und wie wir jetzt wissen, war er wirklich in Lebensgefahr.«
«Du warst auch in Lebensgefahr! Daß du mich an dem Morgen, als er bei euch aufgekreuzt war, nicht informiert hast! Wenn dieses Münchner Callgirl die gefesselte Lydia Behrenburg nicht gefunden hätte, hätte ich nichts erfahren.«
«Du hast mir auch so nicht helfen können. Von irgendeinem Zeitpunkt an habe ich ganz klar gespürt, daß ich diese Sache nur allein zu Ende bringen kann. Und so war es dann ja auch.«
Dann hatte sie plötzlich gekichert.»Ich habe immer noch nicht ganz kapiert, woher ausgerechnet Lydia ein Callgirl aus München kannte!«
«Ich erkläre es dir später. Das ist alles eine verworrene Geschichte.«
An diesem Morgen des Abschieds nun schienen Erklärungen überflüssig geworden zu sein, und trotzdem sagte Wolfgang — vielleicht nur, um Leonas Fortgehen hinauszuzögern:»Weißt du, worin letztlich Robert Jablonskis Dachschaden bestand? Ich meine, was all die furchtbaren Dinge, die er tat, ausgelöst hat?«
Sie schüttelte den Kopf.»Ich kann nur rätseln. Ich glaube, es hing mit seiner Schwester zusammen. Mit seiner unglücklichen und unerfüllbaren Liebe zu ihr. Daß sie ihn verlassen und einen anderen geheiratet hat, war wohl der Auslöser. Die Weichen für den Defekt aber müssen viel früher gestellt worden sein; Was weiß man schon darüber, Wolfgang? Der Vater? Die Mutter? Der Geburtsvorgang? Oder liegt es in den Genen, von Anfang an, als unausweichliches Verhängnis?«
«Die Schwester…«
«Eva Fabiani. Am Ende wie am Anfang. Mit ihr hat alles begonnen.«
«Wenn du an diesem Tag nicht zum Zahnarzt gegangen wärst…«
«… wäre vielleicht alles anders gekommen. Ich glaube ja an ein Schicksal.«
«Das ist Unsinn.«
Sie hängte sich ihre Handtasche über die Schulter. Sie sah kühl und gelassen aus.
«Wie auch immer«, sagte sie,»für uns ist das nun gleichgültig.«
Sie schaute auf ihre Uhr.»Ich muß mich wirklich beeilen. Ich will noch ganz kurz bei Lydia vorbei und mich verabschieden. Sie ist todtraurig, daß ich weggehe. Die arme Seele! Ihr ist wirklich übel mitgespielt worden!«
Wolfgang erinnerte sich an die Stunden, die er an einem kalten Wintertag in Lydias überheiztem Wohnzimmer verbracht hatte. Er dachte an die Einsamkeit, die diese Frau wie eine große Glocke umgeben hatte.
«Sie ist wirklich eine arme Seele«, sagte er.
«Sie geht jetzt regelmäßig zu einem Psychotherapeuten«, sagte Leona,»eigentlich wegen der Alpträume, die sie seit der Geschichte mit Robert hat. Aber ich hoffe, daß sie auf diesem Weg eine neue Lebensweise für sich findet.«
«Überall Hoffnung, wie man sieht. Offenbar geht ja sogar Paul zu Olivia zurück…«
«Vorläufig nur für ein Gespräch. Immerhin hat Olivia aber die Bereitschaft dazu signalisiert, und das ist bedeutsam, wenn man bedenkt, wie sie sich während der letzten Jahre verhalten hat. Dafür trennt sich Carolin von Ben. Sie zieht zu Tim und macht eine Gärtnerlehre. Kannst du dir das vorstellen? Carolin mit einer Ausbildung?«
«Man sagt ja, daß Wunder immer wieder geschehen.«
Er trat an Leona heran, nahm ihre Hände.
«Was meinst du?«fragte er leise.»Sollte ich vielleicht doch auf ein Wunder hoffen?«
Er sah in ihren Augen, daß sie für Sekunden in der Versuchung schwebte, ihm zu sagen, was er hören wollte, ihm das Geschenk der Hoffnung zu machen und dann zu gehen, mit leichterem Herzen, weil sie wußte, daß sie ihm etwas gegeben hatte, was den Schmerz lindern würde für die erste Zeit.
Aber dann war der kurze Moment der Schwäche schon wieder vorbei.
«Nein«, sagte sie,»du solltest nicht auf ein Wunder hoffen.«
Er nickte, zu bestürzt, zu hilflos, um etwas zu erwidern. Sie ging hinaus und zog leise die Tür hinter sich ins Schloß.
ENDE