KAPITEL 5


Sie lagen in einer Reihe am Rande der Arenamauer, achtzehn Zwerge nebeneinander, jeder in Felle gehüllt. Fassungslos blickten sie über die schneebedeckte Ruinenlandschaft. Viel war von der Stadt nicht mehr zu erkennen, weit über zwei Drittel lagen unter den Trümmern der eingestürzten Höhlendecke begraben. Anders als das Reich im Hohlen Berg, das aus einem System von Höhlenkammern und Stollen bestand, war dies eine Stadt beinahe nach dem Vorbild der Menschen gewesen. Sie war ebenerdig angelegt worden, mit Häusern und Türmen und offenen Straßen. Der einzige Unterschied war, daß sie am Boden einer gewaltigen Grotte errichtet worden war.

Styrmir, der Berater des Königs, lag rechts neben Grimma. Er hatte offenbar den gleichen Gedanken wie sie. »Kein Zwerg vermag es heutzutage mehr, einen Hohlraum von solcher Größe in den Fels zu treiben«, flüsterte er beeindruckt.

»Einen ganzen Berg abzustützen«, meinte Egil, »das ist unglaublich!«

»Unglaublich, ja, und anscheinend auch ziemlich unbedacht«, setzte Gellir Rotbart mürrisch hinzu. »Immerhin ist die Decke eingestürzt.«

Styrmir ließ seinen Blick weit über die untergegangene Stadt schweifen. »Da unten ist kein Leben mehr«, stellte er fest. Er wollte aufstehen, doch Grimma riß ihn an der Schulter zurück auf den vereisten Stein.

»Warte!« befahl sie. »Falls doch noch jemand da ist, muß er nicht wissen, daß wir in seiner Nähe sind.«

»Nordlinge?« fragte Bollis, der zu ihrer Linken lag.

»Wer weiß?« Sie gab den anderen ein Zeichen, sich auf dem Bauch ein Stück zurückzuziehen, fort von der offenen Mauerkante. »Wir sind während der fünf Monde im Tunnel nicht einem einzigen Nordling begegnet. Sie müssen von hier gekommen sein.«

»Aber das hier ist Zwergenland!« entfuhr es Bollis erzürnt.

»War Zwergenland, du Dummkopf!« verbesserte ihn Gellir. Die grellweiße Sonne des Nordlandes spiegelte sich auf seiner eisernen Augenklappe, ließ sie leuchten wie ein Zyklopenauge.

Bis zum Einfall der Berserker im Hohlen Berg waren die Nordlinge für die Zwerge nicht mehr als eine Legende gewesen, ein sagenumwobenes Kriegervolk, das durch die Erzählungen der Alten geisterte. Nichts war über sie bekannt, nicht ihre genaue Herkunft, nicht ihre Lebensweise. Allein ihre Kampfkraft war überliefert, und mit ihr die Berichte von Mord und Zerstörung.

Styrmir wandte sich im Liegen abermals an Grimma. »Du glaubst also, dort unten in den Ruinen leben Nordlinge?«

»Vielleicht«, sagte sie finster. »Oder Schlimmeres.«

»Was ist schlimmer als Nordlinge?« fragte ein junger Schreiber. Der zweite war vor drei Monden in einem unterirdischen Flußlauf ertrunken.

»Wir werden einen Erkundungstrupp bilden«, sagte Grimma. »Acht Mann gehen hinunter und schauen sich um, der Rest bleibt hier und wartet.«

»Ich gehe!« verkündete Gellir Rotbart entschlossen. »Ich werde nicht hier oben auf dieser Mauer herumliegen und warten, bis meine Axt eingeschneit ist.«

Andere pflichteten ihm bei, nur der Schreiber fragte ein zweites Mal: »Was ist schlimmer als Nordlinge?« Auch diesmal erhielt er keine Antwort.

Grimma erklärte, daß sie selbst den Spähtrupp anführen würde. Gellir, Bollis und Egil, sollten gleichfalls mitgehen, dazu vier der anderen Krieger, nicht die besten, damit auch die Zurückbleibenden im Falle eines Angriffs über ausreichende Kampfkraft verfügten.

Nachdem Grimma die letzten Anweisungen gegeben hatte, wollten sie und die anderen aufbrechen. Doch Styrmir hielt sie zurück. »Ich will auch mitgehen«, sagte er.

»Nein«, widersprach sie, »du bleibst hier.«

»Jemand wird dem König über die Lage dort unten Bericht erstatten müssen.«

Grimma lächelte; sie wußte, daß das nur ein Vorwand war. Styrmir ging es nicht um den König, erst recht nicht um seine Pflichten als Berater. Er wollte dabei sein, wenn sie etwas fanden, das war alles. Ihn reizte das Wagnis, der Lockruf des Unbekannten. Während der vergangenen Monde hatte er sich mehr als einmal freiwillig gemeldet, wenn es galt, dunkle Felsspalten zu erkunden und stille, schwarze Seen zu durchschwimmen. Grimma hatte jedesmal abgelehnt und den übrigen Zwergen den Vorzug gegeben. Nicht, weil sie Styrmirs Drängen nicht zu schätzen wußte. Aber die anderen waren Krieger, und sie waren sich der Tatsache bewußt, daß einige von ihnen diese Reise nicht überleben würden. Der Gedanke an den Tod war ihnen vertraut, sie hatten sich längst damit abgefunden. Styrmir aber war neugierig, wißbegierig, und Grimma fand nicht, daß es sich dafür zu sterben lohnte.

Sie wollte sich abwenden und mit den anderen davonkriechen, doch Styrmir packte sie am Arm. »Laß mich mitgehen«, bat er noch einmal. »Sollte es mein Tod sein, dann habe ich selbst es so gewollt.«

»Es wäre ein unnützer Tod.« Ungeduldig schüttelte Grimma seine Hand ab. »Es mag sich lohnen, im Kampf zu sterben, für das Leben anderer oder eine gerechte Sache. Aber dein Tod wäre niemandem zum Vorteil, nicht einem von uns und nicht unserem Ziel.«

Ein Lächeln huschte über Styrmirs tätowiertes Gesicht. »Du willst nicht, daß ich sterbe?«

»Natürlich nicht.« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als ihr die Frage durch den Kopf schoß, ob er damit irgend etwas andeuten wollte. Zu ihrem Erstaunen zog Styrmir sich zurück, doch das vage Lächeln blieb.

»Was ist so lustig?« zischte sie, zum erstenmal verunsichert.

»Nichts«, gab er leise zurück. »Ich wünsche dir viel Glück, Grimma.«

Sie mußte an sich halten, um nicht nach ihm zu greifen und den Grund dieses dreisten Lächelns aus ihm herauszuprügeln. Aber alle anderen beobachteten sie, und sie durfte sich nicht die Blöße geben, sich derart von Styrmir aus der Fassung bringen zu lassen. Jemand hüstelte betont, zwei andere flüsterten grinsend miteinander. Was, bei allen Göttern, ging hier vor?

Gellir legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Gehen wir?«

Mit einem letzten Blick auf die Zurückbleibenden - bemüht, ihre Augen nicht auf Styrmir ruhen zu lassen - wandte Grimma sich um und kroch mit einem verächtlichen Schnauben an die Spitze des Spähtrupps. Gebückt huschten sie am inneren Rand der Arenamauer entlang. Ein Rundweg, etwa zehn Schritte breit, führte wie ein Wehrgang um das ganze Theater. Die Ränge waren wie die ganze Stadt von gewaltigen Felsbrocken übersät, dennoch glaubte Grimma, daß sich in der Arena keine Feinde verbargen. Solange sich ihr Trupp an der Innenkante der Ummauerung aufhielt, war er von der Stadt aus nicht zu sehen.

Ein Trümmerstück, so groß wie Thorhâls Thronsaal, hatte eine tiefe Kerbe in die äußere Wand gerissen, einen V-förmigen Einschnitt, der fast bis zum Boden herabreichte, mindestens zwanzig Schritte tief. Hier kletterten sie im Schutz von Geröll und Mauerresten nach unten und erreichten nach einer Weile ebene Erde. Der Vorplatz des Amphitheaters war zu einem Labyrinth aus Spalten geworden, die sich weit zwischen den herabgefallenen Felsbrocken verzweigten. Grimma ärgerte sich über sich selbst; sie hätte von oben einen Weg durch diesen Irrgarten auskundschaften müssen. Nun aber standen sie vor turmhohen Felsflanken und mußten sich allein auf ihr Gespür für die richtige Richtung verlassen.

Der Weg war mühsam und führte nur an wenigen Stellen über den gepflasterten Boden des Vorplatzes. Die meiste Zeit über kletterten sie grobkantige Schrägen hinauf und hinunter, und Eis und Schnee vervielfachten die Erschwernisse. Oft verlor einer von ihnen der Halt und riß einige der anderen mit sich. Als sie endlich die ersten Häuserruinen erreichten, war keiner unter ihnen, der nicht zahllose blaue Flecken, Schürfwunden und Prellungen davongetragen hatte.

Aus der Nähe erkannte Grimma, daß die meisten Gebäude von der herabgestürzten Höhlendecke zerschmettert worden waren. Vielfach standen noch einige der Außenmauern, aber im Inneren stießen die Zwerge auf Gesteinsbrocken, die nicht nur die Dächer, sondern auch die Zwischenböden durchschlagen hatten. Grimma hielt Ausschau nach Leichen, doch im Grunde war ihr klar, daß sie keine finden würde. Die Katastrophe, die das alte Zwergenreich vernichtet hatte, lag viele Jahrhunderte zurück, und das rauhe Wetter des Nordlandes mußte jede Spur seiner Bewohner verwischt haben. Selbst wenn es noch irgendwo Knochen oder Kleiderreste geben sollte, lagen sie unter meterhohem Stein und Schnee begraben.

Der Wind, der durch die schmalen Freiräume zwischen Mauern und Felstrümmern wehte, verursachte sonderbare Geräusche, so als sei die ganze Alptraumlandschaft von einem bedrohlichen Flüstern erfüllt. Die Zwerge wurden mit jedem Schritt vorsichtiger, und Grimma war darauf bedacht, zu jeder Zeit persönlich an der Spitze des Trupps zu gehen. Mehrmals fuhr einer oder auch alle von ihnen herum, wenn sie glaubten, Stimmen oder Schritte zu hören, doch jedesmal erwiesen sich die Laute als Hirngespinst oder als das geisterhafte Pfeifen der Winterwinde.

Unter all den Trümmerbergen und Eismassen war es schwierig, sich das ursprüngliche Bild der Zwergenstadt vorzustellen. Die Arena schien einst der Mittelpunkt der riesigen Anlage gewesen zu sein. Gassen führten von dort aus sternförmig in alle Richtungen und waren untereinander durch weitere Schneisen und Durchgänge verbunden. Aus der Luft mußten die Wege ein Muster bilden, das einem Spinnenetz sehr ähnlich war. Die Gebäude hatten ein bis zwei Stockwerke, zudem gab es Reste einiger Aussichtstürme, von denen nur noch ein einziger aufrecht stand. Wie durch ein Wunder hatte ihn der Gesteinregen unversehrt gelassen.

Die gleißende Nordlandsonne näherte sich bereits dem Rand der zerschrundeten Felswände, als Grimma den Männern die Erlaubnis gab zu rasten. Sie alle waren erschöpft, manche von Stürzen leicht verletzt, und obwohl sie nach Grimmas Einschätzung etwa ein Drittel der Stadt grob ausgekundschaftet hatten, fühlte sie sich schutzlos und unsicher. Als Anführerin durfte sie ihre Gefühle keinem ihrer Gefährten offenbaren, und so tat sie gelassen und versuchte zugleich, den anderen Mut zuzusprechen. Sie fand selbst, daß sie dabei reichlich unbeholfen vorging, und sie kam sich unehrlich vor. Dennoch hatte sie bald das Gefühl, daß sich die niedergeschlagene Stimmung der Krieger ein wenig hob.

»Werden wir die Nacht hier draußen verbringen?« fragte Gellir, während sie alle sich in einer überdachten Nische aneinanderdrückten. Sie wagten nicht, ein Feuer zu entzünden, an dem sie sich hätten wärmen können. So lange nicht geklärt war, ob sich Nordlinge in den Ruinen aufhielten, durften sie durch nichts Aufmerksamkeit erregen.

»Haben wir eine andere Wahl?« erwiderte Grimma auf Gellirs Frage. »Außerdem ist es in der Arena auch nicht wärmer.« Sie fühlte sich selbst nicht wohl bei dem Gedanken, in der untergegangenen Stadt zu übernachten. Andererseits gab es nirgends einen besseren Platz. Immerhin hatten sie hier ein Dach über dem Kopf, das sie vor neuen Schneefällen schützte.

»Wenn die Nordlinge wirklich in der Nähe sind, müßte es dann nicht Hütten geben?« fragte einer der Krieger. »Sie schlafen doch kaum ein Leben lang unter freiem Himmel.«

Grimma nickte. »Morgen früh werden wir als erstes versuchen, den Aussichtsturm zu besteigen. Vielleicht sieht man von dort oben mehr.«

Bollis zog sich sein Fell enger um die Schultern. »Ich bin dafür, daß wir es heute noch versuchen. Sicher entzünden die Nordlinge Feuer. Wir könnten vom Turm aus nach Rauch suchen, der zwischen den Ruinen aufsteigt.«

»Wir würden den Turm vor Sonnenuntergang nicht mehr erreichen«, entgegnete Grimma.

»Nicht alle zusammen«, sagte Bollis, »aber wenn zwei von uns, die Schnellsten, loslaufen, könnten sie noch rechtzeitig dort sein.«

Grimma wußte, worauf er hinauswollte. Bollis und sie selbst liefen schneller als jeder andere. Gewiß hatte er recht: Sie konnten es schaffen. Vorausgesetzt, sie zögerte den Entschluß nicht länger hinaus.

»Nun gut.« Sie stand auf. »Egil, du führst unterdessen den Befehl. Sollten Bollis und ich im Morgengrauen nicht wieder bei euch sein, bringst du die anderen zur Arena. Kehrt zurück zum Hohlen Berg und berichtet Thorhâl, was wir gefunden haben. Soll er die Entscheidung treffen, was zu tun ist.«

Wenig später waren sie und Bollis unterwegs. Mit weiten Sätzen liefen sie durch die Ruinen, in jene Richtung, in der oberhalb von Mauerresten und Felskanten der schlanke Aussichtsturm emporstach. Sein schwarzer Umriß stand da wie eine Säule, die den graublauen Himmel stützte. Die Sonne war zur Hälfte hinter den spitzen Graten der Berge versunken, ihre verbleibenden Strahlen weckten die Nachtschatten aus ihrem Schlaf. Dunkelheit stieg vom Boden auf wie schwarzer Dunst.

Sie brauchten länger, als sie vermutet hatten, bis sie endlich, völlig außer Atem, den Fuß des Turmes erreichten. Sein Eingang wurde nahezu gänzlich von einem Granitbrocken versperrt, und nur mit Mühe gelang es Grimma und Bollis, sich durch den engen Spalt ins Innere zu zwängen. Dort erwartete sie die nächste Enttäuschung: Der untere Teil der Wendeltreppe, die an den Wänden nach oben führte, war eingestürzt - ein Trümmerstück, das geradewegs von oben in den Turm gefallen war, hatte die Aussichtsplattform zerstört und bei seinem Fall in die Tiefe einen Teil der Stufen mit sich gerissen.

»Wir können es trotzdem schaffen«, munterte Grimma den enttäuschten Bollis auf und deutete auf die Fensternischen, die in regelmäßigen Abständen den Verlauf der Wendeltreppe unterbrachen. »Die obere Plattform mag zerstört sein, aber wenn es uns gelingt, irgendwie auf die Treppe zu kommen, können wir aus einem der oberen Fenster schauen.«

Bald hatten sie eine Möglichkeit gefunden, sich über eine Trümmerrampe zur untersten der heilgebliebenen Stufen hinaufzuhangeln. Jenseits des Lochs, das der Felsbrocken in den oberen Teil des Turmes gerissen hatte, färbte sich der Himmel dunkel. Sie mußten sich beeilen.

Vorsichtig kletterten sie die Treppe hinauf, immer in der Angst, das mürbe Gestein könnte unter ihnen zusammenbrechen. Sie gelangten zum ersten Fenster, dann zum zweiten und stiegen ohne Pause weiter nach oben. Das fünfte und letzte Fenster befand sich nur ein kleines Stück unterhalb der ehemaligen Turmplattform. Grimma beugte sich hinaus, so weit, daß Bollis sie von hinten festhalten mußte. Es gelang ihr, einen Großteil der Stadt zu überblicken. Als erstes schaute sie zurück zur Arena. Auf dem Rundgang der Außenmauer war niemand zu erkennen. Die Zurückgebliebenen mußten sich ins Innere zurückgezogen haben. Sie schaute weiter in die Runde, über die zerfallenen Ruinen hinweg. Sie versuchte den Ort auszumachen, an dem sie den Rest des Spähtrupps zurückgelassen hatten, gestand sich jedoch ein, daß sie angesichts des labyrinthischen Wirrwarrs aus Felsen, Gassen und Geröllhalden die Orientierung verloren hatte.

Da durchlief sie ein eiskalter Schauder. Bollis’ Vermutung war richtig gewesen. Rechts von ihr, weit vom Rand der Arena entfernt, stieg eine schwarze Rauchsäule zwischen den Trümmern empor.

Zwerge lebten gewiß keine mehr in dieser Gegend. Vielleicht weiter im Norden, aber bestimmt nicht in der Stadt. Ob dieses Land noch andere Bewohner hatte, wußte Grimma nicht, doch ihr Gefühl sagte ihr, daß nur Nordlinge das Feuer dort unten entzündet haben konnten. Sie konnte die Anwesenheit der feindlichen Krieger spüren wie einen schlechten Odem, der die klare Winterluft durchzog.

»Sieh selbst«, sagte sie atemlos und machte Platz, so daß auch Bollis hinausschauen konnte.

»Das sind sie«, hörte sie ihn über das Säuseln des Windes sagen. »Das müssen sie sein!«

»Was denkst du, wie weit sie entfernt sind?«

»Sieben, acht Speerwürfe, nicht weiter.«

Das entsprach ihrer eigenen Schätzung. »Wir müssen zurück zu den anderen.«

Bollis zog den Oberkörper zurück ins Innere des Turms. Eiskristalle glitzerten in seinem schwarzen Bart. »Das ist ungefähr die Richtung, aus der wir gekommen sind, nicht wahr?«

Grimma hob die Schultern. »Möglich, daß sie nicht allzu weit von unserem Lager entfernt sind.«

Bollis’ Augen verrieten sein Erschrecken, doch er sagte nichts. Eilig stürmten sie die Stufen hinunter, sprangen auf die Geröllrampe, zwängten sich durch den Eingangsspalt und liefen hinaus ins Freie. Sie hielten einen Moment an, um sich erneut zu orientieren, und beide suchten mit verkniffenen Augen den Himmel ab, um über den Rändern der Ruinen die Rauchfahne wiederzufinden.

»Dort!« rief Grimma aus und deutete über die Trümmerlandschaft.

Bollis folgte ihrem Blick und nickte düster. »Ja«, preßte er hervor, »das sind sie. Ich verwette meinen Sold für ein Jahr, daß das Nordlinge sind.«

»Hoffen wir, daß du an einem Stück zurückkehrst, um noch Freude an deinem Sold zu haben«, murmelte Grimma und rannte los.

Sie benutzten denselben Weg, auf dem sie hergekommen waren. Einen Augenblick lang hoffte Grimma, daß ihre Gefährten das Feuer entzündet hatten - aber nein, Egil würde niemals gegen ihren Befehl verstoßen.

Beide hielten ihre Äxte fest umklammert. Die Kälte der Griffe schien sogar durch ihre Handschuhe zu dringen, und Grimma fragte sich, ob es nicht vielleicht ihr Herz war, das allmählich zu Eis erstarrte. Seit sie den Rauch zum erstenmal entdeckt hatten, war der frostige Schauder nicht mehr aus ihren Gliedern gewichen. Eine Mischung aus angstvoller Vorahnung und der kühlen Gewißheit, daß ein Kampf nicht mehr abzuwenden war, hatte sich ihrer bemächtigt. Sie sah Bollis starren Zügen an, daß es ihm ähnlich erging.

Sie stolperten, sprangen und kletterten vorwärts, immer weiter, so schnell sie nur konnten. Anders als auf dem Hinweg schien sich die Strecke zu dehnen wie eine Bogensehne, sie erschien Grimma jetzt länger und beschwerlicher.

»Sollten wir nicht erst die Feuerstelle auskundschaften, bevor wir zu den anderen zurückkehren?« fragte Bollis.

Grimma schüttelte im Laufen den Kopf. »Wir müssen sie warnen, dann können wir weitersehen. Ich will nicht, daß uns die Nordlinge überwältigen, ohne daß Egil weiß, wo er uns suchen muß.«

Bollis zog eine Grimasse. »Wenn uns die Nordlinge überwältigen, wird es nicht mehr nötig sein, nach uns zu suchen.«

Sie gab keine Antwort. Er hatte recht, natürlich. Was für eine dumme Hoffnung, ihre Feinde könnten sie gefangennehmen und am Leben lassen. Weshalb kam sie auf solche Gedanken? Sie war eine Kriegerin, und sie wußte, wie man mit Ehre und Anstand starb. Früher wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, daß ein Gegner sie schlug, ohne sie zu töten; lieber wäre sie in ein offenes Schwert gelaufen, als mit solch einer Schande weiterzuleben. Was brachte sie heute dazu, anders darüber zu denken? Wer brachte sie dazu? Liebe Güte, dachte sie, du bist nicht mehr die alte Grimma! Warum nur hatte Styrmir so gelächelt? Und was gab es dabei für die anderen zu flüstern?

Sie verdrängte die Antwort, auch wenn es ihr von Tag zu Tag schwerer fiel. Styrmir der Bartlose! Ausgerechnet ein Berater des Königs! Einer, der kaum wußte, an welchem Ende man eine Axt hielt!

Aber es gab anderes, über das sie nachdenken mußte. Lebenswichtiges. Über Nordlinge, zum Beispiel. Und vielleicht darüber, warum es mit einemmal nach verbranntem Fleisch roch.

Bollis blieb stehen. »Riechst du das?« Sein Gesicht war so weiß geworden wie die Schneedecke zwischen den Ruinen.

Grimma brachte nur ein ruckartiges Nicken zustande. Die Worte steckten in ihrem Hals fest, einige Herzschläge lang bekam sie vor Entsetzen kaum Luft.

Sie liefen weiter, noch schneller als zuvor. Das Feuer war nicht mehr weit entfernt, sie konnten schon sehen, wie sein gelbroter Schein über Hauswände flackerte. Sie hörten Stimmen, Gelächter, die Laute eines Festes. Oder einer Siegesfeier.

Die Stimmen erklangen in einer Sprache, die ihnen fremd war.

Grimma und Bollis ahnten, was sie erwarten würde, als sie um die letzte Felskante traten. Und doch überstieg der Anblick bei weitem das Maß dessen, was sie verkraften konnten. Grimma prallte zurück, als wäre sie gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen, während Bollis wie angewurzelt stehenblieb.

Keiner ihrer sechs Gefährten war mehr am Leben. Die Feinde hatten ihre Leichen achtlos übereinander geworfen, mit brennbaren Ölen übergossen und angezündet. Die reglosen Körper brannten lichterloh. Die Flammen schlugen zu hoch, als daß Grimma Gesichter in ihnen hätte erkennen können; sie dankte den Göttern für diese Gnade. Irgendwo in diesem Inferno lagen Egil und Gellir, zwei ihrer ältesten und engsten Freunde. Die Axt schien in Grimmas Händen zu erglühen, als käme sie gerade erst aus dem Schmiedefeuer. Der messerscharfe Stahl wog leichter als je zuvor, eine unmißverständliche Aufforderung, ihn zu benutzen.

Das Dutzend Nordlinge, das rund um den Scheiterhaufen stand und seine Waffen im Schnee reinigte, hatte die beiden Neuankömmlinge noch nicht bemerkt. Die Krieger trugen Helme und Rüstzeug aus Stahl, darunter warme Fellkleidung. Einer, offenbar der Anführer, hatte ein mächtiges Geweih hinter seinen Schultern befestigt. Die verzweigten Enden standen ab wie ein Paar erstarrter Schwingen. Es ähnelte dem eines Hirsches, wirkte jedoch breiter, schwerer und weniger feingliedrig. Von welchem Tier es stammte, wußte Grimma nicht zu sagen; gewiß von keinem, das in den Ländern rund um den Hohlen Berg anzutreffen war. Das Schwert des Anführers steckte in einer ledernen Scheide, und in seinen Händen hielt er einen langen Stab, auf dessen Spitze der Knochenschädel eines Wolfes thronte; aus Augen und Maul baumelten getrocknete Tiersehnen, an deren Ende menschliche Fingerknochen befestigt waren. Bei jeder Bewegung des Nordlings schlugen sie gegeneinander wie ein Windglockenspiel.

Grimma zog Bollis zurück in den Schatten eines Felsbrockens. Dort starrte sie ihm fest in die Augen und sah das haßerfüllte Glühen darin.

»Wir töten sie!« stieß er leise hervor. »Wir töten sie alle!«

»Sei kein Narr«, gab sie zischend zurück. »Wir werden genauso enden wie die anderen.«

Einen Augenblick lang befürchtete Grimma, Bollis’ Haß könnte sich gegen sie richten. »Du willst Egil und Gellir nicht rächen?« fragte er lauernd.

»Bollis, verdammt!« Sie packte ihn hart an der Schulter. »Natürlich will ich das. Aber wir müssen die anderen am Tunnel warnen. Oder willst du auch sie noch verlieren?«

»Was scheren mich die anderen? Meine Freunde verbrennen dort drüben. Kannst du sie riechen? Riechst du, wie Egil und Gellir brennen?« Seine Stimme drohte sich zu überschlagen. Panik lauerte hinter der Fassade seines Zorns.

»Das Leben der anderen ist wichtiger als unser Haß auf die Nordlinge!«

»Das Leben eines anderen! Das meinst du doch, nicht wahr?« Er streifte ihre Hand ab, sein Gesicht war verzerrt. »Geh’ du nur zu Styrmir und dem Rest, wenn du willst! Ich bleibe und räche meine Freunde.«

»Das ist Wahnsinn, und das weißt du!« Auf seine Bemerkung über Styrmir ging sie nicht ein. Es war sein Zorn, der ihm die Worte diktierte, nicht sein Verstand.

»Was für eine Kriegerin ist nur aus dir geworden?« Bollis packte seine Axt mit beiden Händen und hob sie wie eine heilige Reliquie vor seine Brust. »Du warst immer eine von uns, Grimma. Früher hättest du dein Leben für jeden deiner Freunde gegeben - oder für sein Andenken. Und jetzt?« Er schüttelte in bitterer Enttäuschung den Kopf. »Vielleicht bist du doch bloß - «

»Eine Frau wie jede andere?« fuhr sie ihn an, und ihre Stimme war so scharf, daß Grimma vor sich selbst erschrak. Nur mit Mühe hielt sie ihre Wut im Zaum. »Hör mir gut zu, Bollis Erzgräber! Wenn es Blindheit und Dummheit sind, die unsere Geschlechter unterscheiden, dann, glaube mir, bin ich froh, eine Frau zu sein. Was du vorhast, ist dein sicherer Tod, und er wird so schnell kommen, daß es dir nicht mal gelingt, auch nur einen einzigen Nordling mitzunehmen. Das dort draußen sind zwölf von ihnen! Zu zweit hätten wir kaum eine Aussicht, auch nur einen oder zwei von ihnen zu erschlagen. Aber zwölf? Bei den Göttern, Bollis, komm zu dir!«

Er hielt ihrem Blick weiterhin stand, aber sie sah, daß es hinter seiner Stirn arbeitete. Ein Teil seiner alten Vernunft hatte die Oberhand gewonnen, als er schließlich sagte: »Vielleicht hast du recht. Vielleicht -«

Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen.

Ein Nordling bog um die Kante des Felsbrockens. Ehe sie sich versahen, stand er neben ihnen, riß sein Schwert aus der Scheide und ließ es in hohem Bogen auf Grimma herabrasen. Bollis schrie auf und gab Grimma einen Stoß, der sie zur Seite und aus der Reichweite des Angreifers taumeln ließ. Er parierte den Hieb mit der Axt. Der Nordling rief etwas in seiner Sprache, und innerhalb weniger Atemzüge stürmten drei weitere Krieger herbei.

Grimma sah, wie Bollis seine Axt in einem tödlichen Halbkreis herumsausen ließ, um sie in die Hüfte des ersten Nordlings zu schlagen. Bollis war ein flinker und geschickter Krieger, doch Zorn dämpfte seine Sinne, und die plumpe Attacke hätte niemals Erfolg gehabt, wären die drei Neuankömmlinge nicht schlagartig stehengeblieben und in übermütiges Gelächter ausgebrochen; offenbar zweifelten sie nicht, daß ihr Gefährte mit den beiden Zwergen allein fertigwerden würde. Spottend warteten sie auf den Ausgang des Kampfes. Den einzelnen Nordling aber irritierte das Zögern der anderen so sehr, daß er einen Moment lang unaufmerksam wurde. Bollis’ Axt grub sich tief in den Hüftknochen des Kriegers. Kreischend brach der Mann zusammen, sein Helm rollte ihm vom Kopf, und keinen Atemzug später hieb Grimmas Axt ihm den Schädel entzwei.

Mehrere Herzschläge lang schien die Zeit stehenzubleiben. Die drei Nordlinge erstarrten, ihr Lachen und Grölen verhallte. Grimma riß ihre Waffe in einem Halbmond aus Blut aus der Wunde und stellte sich breitbeinig an Bollis’ Seite, den feindlichen Kriegern entgegen.

Jetzt winkte einer der drei seinen Kameraden am Feuer zu. Lautes Gebrüll ertönte, als der Anführer Befehle gab.

Bollis kam endlich zur Vernunft.

»Komm, weg hier!« rief er Grimma zu, und noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, warfen sie sich bereits herum und rannten davon, fort aus dem Dunstkreis des Leichenfeuers, fort aus der Reichweite der Nordlingschwerter.

Grimma übernahm die Führung, und obwohl ihr Instinkt sie trieb, den Weg zur Arena einzuschlagen, riet ihr Verstand ihr, in eine andere Richtung zu laufen. Sie durften die Feinde nicht zu den anderen führen. Styrmir und den übrigen neun Zwergen konnte vielleicht die Flucht aus der Stadt gelingen, zurück in den Tunnel, heimwärts nach Süden zum Hohlen Berg. Aber was würden sie Thorhâl sagen? Styrmir und die anderen wußten nicht, was aus Grimma und dem Rest des Spähtrupps geworden war. Würden sie dem König empfehlen, mit seinem ganzen Volk den Berg zu verlassen und über die alte Zwergenstraße ins Nordland zu ziehen? Nein, gewiß nicht. Vielmehr befürchtete sie, daß Styrmir oder einige der anderen Zwergenkrieger gegen ihren Befehl verstoßen und einen zweiten Trupp aufstellen würden, um die Verschollenen zu suchen. Allerdings, und das war Grimmas größte Hoffnung, würden sie dergleichen nicht vor dem Morgengrauen tun; das bedeutete, daß ihr noch die ganze Nacht blieb, um die anderen zu warnen. Wenn sie nur schnell genug vor den Nordlingen fliehen konnten!

Sie nahmen den Weg zurück zum Turm, die einzige Strecke in der Stadt, die ihnen mittlerweile vertraut war. Zumindest drohte ihnen hier nicht die Gefahr, sich überraschend in einer Sackgasse oder Falle wiederzufinden. Sie rutschten und schlitterten auf der vereisten Schneedecke, setzten über Geröll und Mauerreste hinweg, ohne ein einziges Mal nach hinten zu blicken. Die Nordlinge waren keineswegs so behäbig und träge, wie ihre Größe sie erscheinen ließ, und sie hatten die längeren und kräftigeren Beine. Auf Dauer würden Grimma und Bollis nicht vor ihnen davonlaufen können.

Die beiden Zwerge erreichten den Turm und erwogen, sich im Inneren zu verschanzen. Grimma drehte sich um und erwartete, eine ganze Horde von Nordlingen zu sehen, die nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt waren.

Doch der Einschnitt zwischen den Trümmern, durch den sie und Bollis gekommen waren, blieb leer. Niemand verfolgte sie.

»Vielleicht beobachten sie uns«, meinte Bollis verwundert. »Sicher warten sie ab, wohin wir gehen.«

Grimma nickte und kämpfte gegen ihre Erleichterung an. Erleichterung war ein nutzloses Gefühl. Es half niemandem, schwächte nur die Aufmerksamkeit. Und möglicherweise war es gerade das, was die Nordlinge wollten.

»Laß uns hineingehen«, sagte sie und deutete mit der Axt auf den Spalt, der ins Innere des Turmes führte. »Vielleicht können wir an einem der Fenster ein Feuer entzünden, um die anderen zu warnen.«

»Feuer entzünden?« fragte Bollis, ohne seinen wachsamen Blick von der Umgebung des Turmes zu nehmen. »Womit denn?«

Grimma zeigte auf den Beutel an ihrem Gürtel. »Alles dabei.«

Zum ersten Mal löste sich die Anspannung auf Bollis’ Gesicht. »Das, was ich vorhin sagen wollte, tut mir leid.«

»Du hast es ja nicht gesagt.«

»Ich bitte dich trotzdem um Verzeihung.«

Grimma schenkte ihm ein Lächeln. »Ich werde dich dafür zum Zweikampf fordern, wenn wir wieder daheim im Hohlen Berg sind.«

»Klingt gut.« Und auch Bollis verzog die Mundwinkel.

Nach einem letzten Blick in die Schatten der Ruinen und Felsen drückten sie sich durch den Eingangsspalt ins Innere. Drinnen war es noch dunkler als im Freien, der winzige Himmelsausschnitt hoch über ihnen hatte sich nahezu schwarz gefärbt.

Grimma schaute sich angestrengt um. »Siehst du hier irgend etwas Brennbares?«

Bollis scharrte mit seinem Stiefel im Geröll. »Nichts«, meinte er enttäuscht.

Nach kurzem Zögern streifte Grimma ihren Überwurf ab und zog die Weste aus, die sie darunter trug. Sie wickelte sie um die Doppelschneide ihrer Axt, warf sich das Fell wieder um die Schultern und stapfte mit der Waffe in der Hand die Halde hinauf zur Treppe. »Paß du hier unten auf«, wies sie Bollis an. »Es gibt nur den einen Eingang. Wenn sie kommen, müssen sie an dir vorbei. Egal, was geschieht, du mußt sie aufhalten, bis ich das Feuer am Fenster entzündet habe.«

Bollis bezog Stellung vor dem Spalt und starrte hinaus in die Finsternis. Die Nacht hatte sich endgültig auf das Nordland herabgesenkt. Er würde die Gegner erst sehen können, wenn sie direkt vor ihm standen.

Grimma wünschte ihm im stillen viel Glück, dann lief sie die steinerne Treppe hinauf. Erst am oberen Fenster machte sie halt, zog zwei Feuersteine aus ihrem Bündel und schlug sie so lange gegeneinander, bis ihre Hände schmerzten und die ersten Funken auf den Stoff der Weste übersprangen. Sie schirmte die winzige Flamme gegen den Durchzug im Turm ab, trotzdem erlosch sie schon nach wenigen Augenblicken. Grimma blickte verzweifelt nach unten. Bollis war immer noch auf seinem Posten. Keine Anzeichen für einen Angriff. Sie versuchte es erneut, und diesmal brannte die Flamme heiß genug; der Luftzug konnte ihr nichts mehr anhaben. Bald schon loderte der Stoff der Weste lichterloh. Grimma beugte sich aus dem Fenster und schwenkte die brennende Axt wie eine Fackel hin und her. Die Zwerge in der Arena würden Wächter aufgestellt haben. In der Dunkelheit mußten sie das Feuer unterhalb der Turmspitze auf jeden Fall bemerken. Hoffentlich würden sie die richtigen Schlüsse ziehen.

»Wie sieht es unten aus?« rief sie über die Schulter ins Innere des Turms.

»Keine Spur von ihnen«, klang es gedämpft zurück.

Grimma fragte sich, ob irgendwo in der Nacht gerade eine Pfeilspitze auf sie gerichtet wurde. Mit der lodernden Axt in der Hand gab sie ein Ziel ab, das nicht einmal ein Kind verfehlen konnte. Der Gedanke beunruhigte sie zutiefst, und das Eingeständnis ihrer Hilflosigkeit machte alles nur noch schlimmer. Trotzdem winkte sie weiter. Schon lösten sich die ersten brennenden Fetzen der Weste von der Axtschneide und verschwanden mit sanftem Schaukeln in der Tiefe. Grimma blickte ihnen gedankenverloren nach, bis sie am Boden erloschen.

Die Arena war in der Dunkelheit nur als formloser schwarzer Umriß auszumachen, der sich schwach vom dunkelgrauen Nachthimmel abhob. Regte sich auf ihrem Rand etwas, oder war das nur eine Täuschung? Grimma blickte angestrengt hinüber, bis ihre Augen tränten. Sie war jetzt ziemlich sicher, daß sich in der Finsternis etwas bewegte.

Plötzlich glomm über dem Rand der Arenamauer ein Funke auf, ein winziges Glühen, das rasch heller wurde.

Liebe Güte, durchfuhr es Grimma, was machten diese Hornochsen denn? Hatten sie ihr Zeichen etwa als Aufforderung verstanden, gleichfalls ein Feuer zu entzünden?

Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Dort oben loderte eine Flamme. Spätestens jetzt mußte auch der letzte Nordling begreifen, daß sich in der Arena jemand aufhielt. Jemand, der dort nichts zu suchen hatte.

Und in diesem Augenblick, mit der Kraft und Plötzlichkeit eines Schwerthiebes aus dem Hinterhalt, begriff Grimma ihren Fehler. Zorn, Verzweiflung und Haß formten in ihrer Kehle einen stummen Schrei.

Das Feuer auf der Arenamauer loderte höher.

Es war kein Signal.

Grimma warf sich herum, schlug die Axt mit der Breitseite gegen die Wand, bis auch die letzten Flammen erloschen, und stürmte die Stufen hinunter, zur Tür und zu Bollis. Der Zwergenkrieger schaute ihr alarmiert entgegen.

»Was -« begann er, doch Grimma unterbrach ihn.

»Was waren wir für Narren!« Konnte er die Tränen der Wut in ihren Augen sehen? Sie blinzelte und drängte an ihm vorbei zum Ausgang. »Deshalb haben sie uns nicht verfolgt!«

»Ich verstehe nicht«, stammelte er bleich.

Grimma fuhr zu ihm herum. »Sie wußten, daß es nur einen Weg geben konnte, auf dem wir in die Stadt gelangt sein konnten. Die Arena, verdammt! Sie haben es im selben Moment begriffen, da sie auf Egil und die anderen stießen. Statt uns, die wir nur zu zweit sind, zu jagen, sind sie geradewegs zur Arena marschiert - wer weiß, wie viele von ihnen.«

»Willst du damit sagen -«

»Jemand hat ein Feuer oben auf der Mauer entzündet. Ich glaube nicht, daß unsere Leute das waren.«

Bollis schrie auf, voller Zorn und Qual, und hieb seine Axt so heftig in den Boden, daß nur noch das Heft hervorschaute. »Das darf nicht sein!« brüllte er. »Nicht auch noch sie!«

»Komm!« sagte Grimma und rang vergeblich um ihre Fassung. »Machen wir uns auf den Weg.«

Sie waren kaum ins Freie getreten, als Bollis einen warnenden Ruf ausstieß. Beide nahmen ihre Kampfstellung ein, als vor ihnen die Finsternis in Bewegung geriet.

»Bevor sie mich verbrennen wie die anderen, will ich mindestens drei von ihnen zur Hölle schicken!« zischte Bollis mit finsterer Entschlossenheit.

»Und drei für mich«, gab Grimma zurück.

Aber es war kein Nordling, der vor ihnen aus dem Dunkel trat. Es war Styrmir.

Grimma ließ ihre Waffe sinken. »Du?« entfuhr es ihr.

Styrmir nickte und kam eilig näher. »Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich einfach zurücklassen?«

Bollis’ Miene änderte sich nicht. Er starrte den Berater an, als sei er der Anführer der Nordlinge persönlich. »Ist es immer deine Art, gegen Befehle zu verstoßen?«

»Ich bin kein Krieger«, gab Styrmir zurück, »und unterstehe keinem Befehl außer dem des Königs. Außerdem hätte ich in der Arena ohnehin niemandem nutzen können. Und um Nutzen geht es doch, Grimma, das hast du mir doch unmißverständlich klargemacht, nicht wahr?« Ein Lächeln stahl sich auf seine Züge.

Grimma wollte etwas erwidern, doch Bollis kam ihr zuvor: »Der Feigling ist vor ihnen davongelaufen. War es nicht so, Königsberater? Du hast sie kommen sehen und hast dich aus dem Staub gemacht, so schnell dich deine Beine trugen.«

Styrmirs Blick verriet ehrliche Verwirrung. »Wen meinst du mit ›sie‹?«

»Nordlinge«, sagte Grimma hart. Und an Bollis gewandt fuhr sie fort: »So schnell hätte er nicht hier sein können. Er muß die Arena lange vor dem Angriff verlassen haben.«

»Von was für einem Angriff sprecht ihr?« Styrmir wurde immer ungeduldiger; er war merklich blaß geworden. Der Mond brach durch die Wolken, und seine Strahlen entzogen dem Gesicht des Beraters auch den letzten Rest von Farbe.

»Wenn es wahr ist, was wir befürchten, ist in der Arena kein Zwerg mehr am Leben«, erwiderte Grimma und wünschte sich, ihre Stimme würde nicht so schwanken.

»Aber als ich fortging, waren noch alle -«

»Lebendig, ja«, sagte Bollis kalt. »Und jetzt sind sie tot. Wie Egil und Gellir und all die anderen.«

»Wollt ihr damit sagen, ihr seid die letzten?« fragte Styrmir leise. Er klang betroffen, aber nicht halb so ängstlich, wie Grimma erwartet hatte.

»Wir drei sind die einzigen Überlebenden«, bestätigte sie. »Zumindest nehmen wir das an. Wir müssen zurück zur Arena, um Gewißheit zu haben. Hast du irgend etwas, um dich zu verteidigen?«

Styrmir deutete auf eine Axt in seinem Gürtel. Bei den Göttern, dachte Grimma, er streift mitten in der Nacht durch die Ruinen und hält seine Waffe nicht einmal kampfbereit in der Hand! Sie schüttelte stumm den Kopf und sagte: »Du solltest dich daran gewöhnen, sie zu benutzen, Styrmir. In dieser Nacht wird sich deine Axt mit mehr als nur einem Nordlingschwert kreuzen.«

»Wenn ihn das erste nicht gleich einen Kopf kürzer macht«, bemerkte Bollis verächtlich.

»Nicht Styrmir ist dein Feind, Bollis!« fuhr Grimma ihren Kampfgefährten an. »Ihr werdet Seite an Seite kämpfen, wenn es sein muß, und jeder von euch wird für den anderen sterben, falls es nötig ist. Habt ihr beiden das verstanden?«

Bollis nickte zackig, befehlsgewohnt, wie er es während seiner Ausbildung zum Krieger gelernt hatte. Styrmir trat auf ihn zu und reichte ihm zur Versöhnung die Hand. Bollis ergriff sie, doch Grimma bezweifelte, daß es ihm ernst war mit dieser Geste. Bollis hatte einen unverbesserlichen Dickschädel, und daran würde sich nichts ändern, bis ihn eines Tages eine Klinge von seinen Schultern schlug.

»Gehen wir«, wies Grimma die beiden an, und sogleich liefen sie los, durch nachtdunkle Gassen, aus denen schon vor Jahrhunderten alles Leben gewichen war.

Das frühere Zwergenreich war zu einem Ort des Todes geworden, und daran vermochte auch die Anwesenheit der Nordlinge nichts zu ändern. Die Spuren der Zerstörung von damals waren wie ein Echo der Verzweiflung, die die einstigen Bewohner beim Hereinbrechen der Katastrophe verspürt haben mußten. Grimma fragte sich, ob im Hohlen Berg eine ähnliche Atmosphäre herrschen würde, wenn Thorhâl erst sein Volk von dort fortgeführt hatte. Der Gedanke schmerzte sie. Sie liebte den Berg, seine kühlen Stollen und Hallen, er war ihre Heimat. Sie war dort geboren, hatte dort ihr ganzes Leben verbracht. Ihn zurückzulassen, leer und tot, kam ihr vor wie ein Verrat am Erbe ihrer Ahnen, aber auch am Hohlen Berg selbst. Stein war etwas Lebendiges, niemand wußte das besser als das Volk der Zwerge, und ihn achtlos dem Verfall kommender Jahrhunderte anheimzugeben schien Grimma grausam und falsch. Immer mehr verfestigte sich in ihr die Überzeugung, daß sie den König um jeden Preis von seinem Plan abbringen mußte, nicht allein, weil hier im Nordland Krieg und Verderben auf das Zwergenvolk warteten.

Sie näherten sich der Arena von einer Seite, die der Spähtrupp bislang noch nicht erforscht hatte. Es war gefährlich, sich in ihrer verzweifelten Lage auf unbekanntes Gebiet zu wagen, doch dies schien der schnellste Weg zu sein. Sie konnten die Flammen auf der Ummauerung der Arena jetzt deutlich erkennen, ein Leuchtfeuer, das ihnen den Weg wies, ein Symbol ihres Scheiterns. Grimma fragte sich, ob der Anführer der Nordlinge es für nötig gehalten hatte, Wachen rund um das Amphitheater zu postieren. Oder würde er warten, bis die drei Zwerge von sich aus die Arena betraten und sich damit selbst in die Falle manövrierten?

Sie hatten längst keine andere Wahl mehr. Sie mußten zurück zum Hohlen Berg, koste es, was es wolle, und der einzige bekannte Zugang zur alten Zwergenstraße lag am Grunde der Arena. Selbst wenn der Nordlingführer hundert seiner Männer dorthin beordert hatte, würden sie sich durch ihre Reihen hindurchkämpfen müssen.

Sie erreichten den Fuß der hohen Arenamauer ohne Hindernisse. Den Weg durch die Trümmer wertete Grimma kaum mehr als ernstzunehmende Schwierigkeit. In der Erwartung dessen, was ihnen bevorstand, verblaßte alles andere, so wie auch die Welt um sie herum an Dichte und Bedrohlichkeit zu verlieren schien. Sie kam sich vor wie in einem Tunnel, an dessen Ende ein einziges Ziel auf sie wartete: der Kampf mit den Nordlingen. Alles, was auf dem Weg dorthin lag, war ohne Bedeutung.

Eine Stimme meldete sich in Grimmas Inneren: Und Styrmir? fragte sie. Was ist mit ihm? Er ist kein Kämpfer, und mit der Axt ist er ebenso wehrlos wie ohne sie. Du wirst auf ihn achtgeben müssen.

Die Außenwand der Arena wurde in weiten Abständen von Torbögen durchbrochen. Die meisten lagen verborgen hinter Trümmerbergen, andere wurden von innen durch herabgestürzte Teile der Ränge versperrt. Trotzdem gelang es den dreien, ein Tor ausfindig zu machen, das zumindest von außen den Eindruck erweckte, Zugang zu den Räumen und Gängen unterhalb der Tribünen zu gestatten. Von dort aus mochte es ihnen gelingen, ins Herz der Arena vorzudringen, ohne dabei auf eine Armee von Nordlingen zu stoßen. Aber natürlich gab Grimma sich keiner falschen Illusion hin: Sie würden ihren Gegnern noch früh genug begegnen.

Nachdem sie durch den Torbogen getreten waren, versank die Umgebung endgültig in einem Meer aus Schwärze. Grimma hatte immer noch ihre Feuersteine dabei, und sie fürchtete, es würde ihr bald nichts anderes übrigbleiben, als sie zu benutzen. Blind würden sie nirgendwohin gelangen, und die Annahme, daß in der Dunkelheit zumindest keine Nordlinge auf sie lauern würden, war ein schwacher Trost. Sie mußten sich beeilen. Der Nordlingführer würde ungeduldig werden. Das Risiko, daß er noch weitere Krieger herbeibeorderte, war zu groß.

Eine vage Hoffnung glomm in Grimmas düsteren Gedanken auf: Was, wenn es gar keine weiteren Nordlinge gab, sondern nur das Dutzend, das sie gesehen hatten? Würde sich ein solcher Trupp nicht weit verteilen müssen, um eine Anlage wie diese abzusichern? Mit einzelnen Nordlingen konnten sie zu dritt fertig werden, vielleicht auch mit einer Zweiergruppe. Grimma schöpfte aus dieser Vorstellung neuen Mut. Trotzdem wagte sie nicht, ihre Hoffnung den anderen gegenüber zu erwähnen, aus der absurden Furcht heraus, Bollis und Styrmir könnten sie widerlegen. Grimma wollte daran glauben, wollte sich zumindest diese winzige Aussicht auf Erfolg gönnen.

Im harschen Gegensatz dazu stand die undurchdringliche Finsternis, die sie wie Vorhänge umgab und schwer auf ihre Gemüter drückte. Die Vorstellung, daß irgendwo über ihnen die Leichen ihrer Gefährten verbrannten, bereitete Grimma Übelkeit, und sie spürte, vielleicht zum erstenmal seit ihren frühen Jahren als Kriegerin, daß ihre Knie weniger standfest waren als sonst. Sie hatte Angst, und sie war ehrlich genug, sie sich einzugestehen.

»Wir brauchen Licht«, flüsterte Bollis, nachdem sie etwa dreißig Schritte durch die Finsternis gegangen waren, immer geradeaus und ohne auf Mauern oder - den Göttern sei Dank! - auf Gruben im Boden zu stoßen. Auch hier war alles vereist, doch zumindest lag, von den Verwehungen am Eingang abgesehen, kein Schnee, was das Gehen weniger anstrengend machte. Die Schwärze machte ihnen trotz des angeborenen Zwergentalents, im Dunkeln sehen zu können, ungemein zu schaffen; die Lichtlosigkeit eines Bergwerkstollens oder einer Höhle hätte ihnen keine Schwierigkeiten bereitet, doch dies war ein gemauertes Gebäude, und aus Gründen, die nur die Götter kannten, war die Finsternis in einem künstlichen Bauwerk eine andere als jene in natürlichem Fels - zumindest für die empfindlichen Auge der Zwerge. Grimma wunderte sich, daß ihre Vorfahren überhaupt auf so menschliche Gewohnheiten wie das Aufeinandermauern gehauener Steine zurückgegriffen hatten, wo sie doch ebensogut Hohlräume ins Gebirge hätten schlagen können, so wie sie es später im Hohlen Berg getan hatten.

»Ich glaube, da vorne wird es heller«, sagte Styrmir.

Ein Augenblick verging, dann entgegnete Bollis: »Unsinn! Da ist nichts.«

»Doch«, sagte Styrmir beharrlich. »Bleib stehen und schau geradeaus. Deine Augen müssen sich erst daran gewöhnen.«

Grimma wußte nicht, ob Bollis Styrmirs Anweisungen folgte; sie selbst jedenfalls tat es. Und, tatsächlich, da war etwas. Ein leichter Schimmer nur, eine Öffnung, durch die eine mondbeschienene Steinfläche zu erkennen war. Entweder waren dort einige der Ränge eingestürzt, oder aber sie hatten den Ausgang zum Innenhof der Arena erreicht.

»Jetzt kann ich es sehen«, sagte auch Bollis.

»Ruhe!« wies Grimma die beiden im Flüsterton an. »Falls das dort vorn wirklich ein Ausgang ist, werden Nordlinge in der Nähe sein.«

Sie wagten nicht, das letzte Stück durch die Finsternis schneller zu bestreiten als die bisherige Strecke, obgleich die fahle Helligkeit sie lockte. Noch aber konnten sie nicht einmal sehen, wohin sie ihre Füße setzten. Ausgerechnet jetzt durch eine eingebrochene Kellerdecke zu stürzen hätte das sichere Ende ihrer Mission bedeutet.

Sie erreichten die Öffnung voller Ungeduld, aber auch in der unheilvollen Erwartung eines Angriffs aus dem Hinterhalt. Der gemauerte Torbogen war kleiner als jener auf der Stadtseite, und er führte zu ihrer Enttäuschung nicht ins Herz der Arena, sondern auf einen breiten Weg, der sich im unteren Drittel der Zuschauerränge rund um die ganze Anlage schlängelte. Der Boden der Arena lag mindestens zwanzig Schritte tiefer. Grimma versuchte, einen Blick nach oben zur Ummauerung zu werfen, doch der Winkel war ungünstig, und sie konnte nicht einmal erkennen, ob das Feuer noch brannte. Wohl hing der Geruch von Rauch in der Luft, und von oben erklangen ferne Stimmen und das metallische Scharren der Rüstungen.

Vorsichtig schauten sie sich um, die Waffen kampfbereit. In unmittelbarer Nähe schienen sich keine Nordlinge aufzuhalten. Der Zugang zum Tunnel, ein kreisrunder Krater in der Mitte des Arenabodens, war nur als schwarze Fläche zu erkennen. Ob sich dort unten Wächter befanden, war nicht zu sehen, doch Grimma hatte keine Zweifel daran.

»Sieht aus«, raunte sie den anderen zu, »als müßten wir das letzte Stück des Weges im Freien zurücklegen.«

»Alles ist besser als diese Dunkelheit«, meinte Bollis mürrisch. Wie Grimma und Styrmir hatte auch er nie zuvor einen solchen Mangel an Licht erlebt - schließlich waren sie alle im Hohlen Berg aufgewachsen, in dem es keine absolute Dunkelheit gab -, und er war bereit, es lieber mit den Nordlingen aufzunehmen, als sich noch einmal zurück ins Innere der Anlage zu wagen.

Vorsichtig pirschten sie im Schatten gewaltiger Deckentrümmer von Rang zu Rang, langsam und nahezu geräuschlos, bis sie die untere Sitzreihe erreichten. Von hier aus fiel eine Mauer fünf Schritte tief ins Innere der Arena ab; früher hatte es hier ein Geländer gegeben, doch davon kündeten heute nur noch leere Verankerungen im Gestein. Wahrscheinlich hatten die Nordlinge das Metall eingeschmolzen, um daraus Schwerter zu schmieden.

»Wie sollen wir da runterkommen?« fragte Bollis.

»Springen«, entgegnete Styrmir knapp. »Oder siehst du eine andere Möglichkeit?«

Grimma runzelte die Stirn. »Wir werden uns alle Knochen brechen.«

Styrmir rümpfte höhnisch die Nase, warf seine Axt über die Brüstung, und ehe einer der anderen ihn aufhalten konnte, schwang er sich todesmutig in die Tiefe. Mit einem Stöhnen und einem dumpfen Laut kam er am Boden auf. Grimma schaute besorgt hinterher, sah aber, daß er sich bereits wieder aufrappelte.

»Er ist verrückt«, zischte Bollis.

»Ja«, sagte Grimma, und ihre Stimme war voller Anerkennung. »Genauso verrückt, wie man wohl sein muß, wenn man lebend hier herauskommen will.«

Und damit ließ sie ihre Waffe in die Tiefe fallen, setzte sich auf die Kante und stieß sich mit beiden Händen ab. Vom Fall selbst spürte sie nichts, konnte sich im nachhinein nicht einmal wirklich daran erinnern. Alles, was sie fühlte, war der Schmerz in ihren Beinen und, als sie sich abrollte, ein Knirschen in ihrem Rücken. Styrmir war sofort bei ihr und begann, sie abzutasten. Sie aber schob seine Hände eilig von sich und knurrte, alles sei in Ordnung. Sie kam schwankend auf die Knie, und diesmal war sie froh, daß Styrmir sie packte, denn sonst wären ihre Beine wohl unter ihr eingeknickt. Ihr war schwindelig, doch einen Moment später stand sie leidlich sicher auf beiden Füßen und hob ihre Axt vom Boden.

Bollis zögerte noch immer, und obwohl er einer der tapfersten Kämpfer war, die Grimma je getroffen hatte, tat er sich mit dem Sprung sichtlich schwer. Schließlich aber schloß er die Augen, verlor erst im Fall die Axt und kam unglücklich mit dem rechten Knie auf. Er keuchte vor Schmerz und humpelte leicht, als er sich wortlos aufmachte, seine Waffe zu suchen.

»Geht’s?« fragte Styrmir sorgenvoll, doch Bollis murmelte nur etwas Unverständliches, fand seine Axt und gesellte sich ohne einen weiteren Ton zu Grimma.

Von hier aus waren es noch rund dreißig Mannslängen bis zum Rand des Lochs. Der Mond tauchte die freie Fläche in dumpfes Grau. Würden die drei sie jetzt überqueren, waren sie von jedem Punkt der Arena aus deutlich zu sehen. Sie mußten warten, bis der Mond hinter einer Wolke verschwand. Vorausgesetzt, soviel Zeit blieb ihnen noch und ihr Sprung in die Tiefe war nicht bemerkt worden.

Grimma wagte sich einige Schritte weit aus dem Schatten der Mauer und blickte nach oben. Sie konnte das Feuer auf dem Rundweg jetzt deutlich erkennen, sah auch, daß sich mehrere Silhouetten davon abhoben.

»Komm zurück!« wisperte Styrmir ihr aus dem Schatten zu. »Sie können dich sehen.«

Grimma löste sich vom Anblick der Flammen und trat zu ihren beiden Gefährten ins Dunkel. Bollis starrte ungeduldig zum Mond empor. »Gleich ist es soweit«, raunte er ihnen zu.

Er behielt recht. Wenig später verschwand die Mondsichel hinter einer dunklen Wolkenmasse, und der Schein, der die Arena mit fahlem Dämmerlicht erfüllt hatte, erlosch.

Hastig liefen sie los. Grimma sah mit einigem Unbehagen, daß Bollis ein Bein nachzog. Kein Wort der Beschwerde oder des Jammers kam über seine verkniffenen Lippen. In diesem Augenblick galt ihm Grimmas uneingeschränkte Bewunderung, aber auch ihre Besorgnis. Sie sandte ein Stoßgebet zu den Göttern, daß sie ihn nicht im Stich lassen würden.

Styrmir dagegen lief flink, ohne sich aber allzu weit von dem verletzten Gefährten zu entfernen. Er würde sofort zur Stelle sein, falls Bollis stolpern oder gar zusammenbrechen sollte. Zumindest von seiner Seite aus schien ihr Streit beigelegt zu sein. Grimma beobachtete ihn verstohlen und dachte, daß es schade wäre, wenn sie gerade jetzt sterben müßten; schade, weil es das eine oder andere gab, das sie Styrmir gerne noch gesagt hätte. Daß sie seine Tätowierung am Kinn albern fand, zum Beispiel, aber auch ein, zwei freundlichere Dinge. Doch sie war nie besonders gut in diesen Dingen gewesen, und vielleicht war es ja gegen den Willen der Götter, daß sie eine weitere Möglichkeit bekam, sich darin zu üben.

Die runde Öffnung im Boden der Arena, über zehn Schritte im Durchmesser, war in der Dunkelheit kaum mehr als solche zu erkennen. Ebensogut hätte es sich um eine schwarze Rauchwolke oder eine Wasserfläche handeln können. Falls dort wirklich Feinde auf sie warteten, liefen Grimma und die beiden anderen ihnen blind vor die Klingen. Ihr einziger Vorteil war, daß die Nordlinge in der Finsternis noch weniger sehen konnten als sie selbst; soviel immerhin hatten sie während des Krieges im Hohlen Berg herausgefunden.

Sie erreichten den Rand der Öffnung schneller, als sie erwartet hatten. Im gleichen Moment ertönte von den Rängen der Arena ein schriller Alarmruf. Als Grimma aufblickte, erkannte sie eine Gruppe von drei Nordlingen, die dort standen, wo sie, Styrmir und Bollis eben herabgesprungen waren. Die drei Männer hatten ihre Spuren im Schnee entdeckt.

Der Zugang zur Zwergenstraße war augenscheinlich verlassen. Eine steile Rampe führte in die Tiefe. Die Zwerge wollten sie gerade hinablaufen, als von unten das Scharren zahlreicher Füße an ihre Ohren drang.

»Sie haben auf uns gewartet!« preßte Bollis hervor. »Nicht hier draußen, sondern im Tunnel!«

»Dann soll es eben so sein«, gab Grimma verbissen zurück. »Wir können nichts mehr daran ändern.«

Und schon war der erste Feind heran. In der Finsternis war er nicht mehr als ein schwarzer Umriß, breit, kräftig und mit einem schweren Streitkolben bewaffnet. Die Waffe sauste auf Styrmir zu, der sich plump nach hinten fallen ließ, so daß der Kolben über ihn hinwegzischte. Zugleich stieß er die Axt vor, ohne großes Geschick, aber doch kraftvoll genug, um den anderen im Magen zu treffen. Es war gewiß kein tödlicher Treffer, aber er warf seinen Gegner zurück, so daß er stolperte, aufstöhnte und die Rampe hinabpolterte.

Grimma starrte ihm fassungslos hinterher. Der Angreifer war kein Nordling gewesen. Sie hatte nur seine Silhouette sehen können, die Form seines Körpers, doch das reichte aus, um zu erkennen, daß er zu klein war. Zu klein für einen Nordling, zu klein auch für einen gewöhnlichen Menschen. Ein Kind aber hätte niemals den Streitkolben mit solcher Kraft handhaben können.

»Zwerge!« entfuhr es Bollis, der die gleiche Beobachtung gemacht hatte. »Es sind Zwerge wie wir!«

»Warum kämpfen sie auf der Seite der Nordlinge?« Styrmir sprang auf und packte seine Axt mit beiden Händen. Keiner wußte eine Antwort auf seine Frage.

Der stürzende Angreifer hatte die Attacke ihrer Gegner für kurze Zeit aufgehalten, als er einige von ihnen mit sich nach unten riß. Erst jetzt stürmten die nächsten die Rampe herauf, stürzten sich wortlos auf Grimma und Bollis. Es waren zwei, und sie wußten mit ihren Waffen umzugehen, dennoch hatten sie den Kriegern vom Hohlen Berg nichts entgegenzusetzen. Grimmas Axt spaltete dem einen Helm und Schädel - ein gehörnter Helm, wie ihn die Nordlinge trugen -, während Bollis dem anderen seine Waffe tief in den Brustkorb hieb.

Von unten ertönten weitere Schritte, noch mehr Zwerge kamen herauf, während auf den Rängen ein halbes Dutzend Nordlinge zusammenströmte und sich auf den Weg zum Boden der Arena machte.

Grimma blieb keine Zeit, sich Gedanken zu machen, weshalb sie plötzlich gegen ihresgleichen kämpften. Unbändige Wut überkam sie, Haß auf die Mörder ihrer Gefährten. Ob Zwerge oder Nordlinge oder gar die Götter selbst - in diesem Augenblick hätte sie es mit jedem aufgenommen. Zwerge verfielen nicht in Berserkerwahn wie die Nordlandkrieger, und doch kam das, was Grimma jetzt fühlte, der Kampfwut der Nordlinge gefährlich nahe. Sie hieb und schlug und hackte, die Schneiden ihrer Axt spalteten Leiber, durchtrennten Glieder und richteten ein Gemetzel unter ihren Feinden an. Durch einen Schleier aus Blut und Zorn überkam sie die Gewißheit, daß sie verloren waren, falls die Nordlinge von den Rängen sie erreichten. Ihnen blieb nur die Möglichkeit, sich einen Weg durch die Reihen der Zwergenwächter hinab in die Tiefe zu kämpfen.

Grimma sah, daß Bollis einen Gegner nach dem anderen fällte, und sogar Styrmir schlug sich tapfer. Er blutete aus einer Schnittwunde an der Stirn und aus einer anderen an der linken Schulter, doch seine Durchhaltekraft war bemerkenswert. Während Grimma einem Feind den Schädel von den Schultern hieb, durchfuhr es sie, daß Styrmir ihr vielleicht trotz allem ein würdiger Gefährte wäre. In mehr als nur in der Schlacht. Der Gedanke schien ihr in dieser Lage so absurd, daß sie fast laut aufgelacht hätte. Sie wußte, es war der Kampfrausch, der ihr Blut derart zum Kochen brachte, und sie hatte das Gefühl, als wüchse ihre Kraft mit jedem Gegner, dem sie den Garaus machte. Sie verspürte keinen Triumph, keinen Hohn oder Spott für die Gefallenen, nur den Willen durchzuhalten, ganz gleich, was sie am Ende dieses Weges erwarten mochte; der Tod, vielleicht, oder das blanke Überleben. Einen echten Sieg, das wußte sie, konnte es für sie nicht mehr geben. Sie würde immer die Unterlegene bleiben, wenn nicht in dieser Schlacht, dann spätestens, wenn sie Thorhâl vor den Gefahren des Nordlandes warnte. Er würde nicht auf sie hören. Diese ganze Mission war sinnlos, und tatsächlich hatte sie das bereits damals geahnt, im selben Moment, da der König ihr seine Pläne mitgeteilt hatte. Sinnlos wie der Tod all ihrer Freunde.

Sie schaute zurück über ihre Schulter, sah, daß die Nordlinge vom unteren Zuschauerrang hinab in die Arena sprangen. Ihnen bereitete die Höhe keine Schwierigkeiten. Sie kamen sicher mit beiden Füßen am Boden auf, stolperten nicht, liefen aus dem Stand los und schwangen mit wütendem Gebrüll ihre Schwerter.

»Wir müssen hier weg!« stieß Bollis atemlos aus und wich mühsam dem Streitkolben eines Zwerges aus.

Grimma blockierte die Attacke ihres Gegners, schlug mit der Axt nach seiner Seite, verfehlte ihn, nutzte seine Drehung aber, ihm einen kraftvollen Tritt in den Unterleib zu geben. Der Zwerg ächzte und fiel nach hinten, rollte strampelnd die Schräge hinunter.

Diesmal wartete Grimma nicht, bis ihr die nächsten Gegner von unten entgegentraten. Sie sprang mit einem wilden Kriegsschrei die Rampe hinab, rammte einen überraschten Feind mit der Schulter beiseite, zog einem anderen im Vorbeilaufen die Axtschneide über den Oberarm und stolperte mit wirbelnder Waffe weiter. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß Bollis und Styrmir es ihr gleich taten. Bollis blieb während des gesamten Kampfes einige Schritte vor dem Königsberater und hielt einen Großteil der Angreifer von ihm fern; wie ein Schiffsbug pflügte er durch die Feinde, während Styrmir in seinem Fahrwasser hinterherlief.

Auf der Rampe hielten sich weniger Zwerge auf, als sie befürchtet hatten. Bollis mähte zwei mit grausamen Axthieben nieder, einen anderen brachte Styrmir mit einem Faustschlag zu Fall. Grimma hinterließ eine Spur aus drei Verletzten, verzichtete aber darauf, sie zu töten. Sie verachtete die gegnerischen Zwerge, mehr noch als die Nordlinge, denn es waren Verräter, die sich gegen ihr eigenes Volk stellten. Grimma hätte es gewiß genossen, jedem einzelnen von ihnen den Garaus zu machen, doch dazu blieb jetzt keine Zeit. Sie mußten weiter, tiefer in den Tunnel, um ihren Vorsprung vor den Nordlandkriegern zu vergrößern.

Am Fuß der Rampe lagen mehrere Tote und Verletzte, die von oben den Hang herabgerollt waren. Grimma und die anderen beachteten sie nicht. Keiner von ihnen hätte es nach dem eintönigen Marsch der vergangenen fünf Monde für möglich gehalten, jemals Freude beim Anblick des endlosen Tunnels zu empfinden; und doch hätte Grimma in diesem Augenblick jubeln können vor Erleichterung. Das erste und gewiß gefährlichste Hindernis auf dem Weg in die Heimat war bewältigt - falls es ihnen gelang, der Horde von Nordlingen zu entkommen, die sich in diesem Augenblick anschickte, die Rampe herabzustürmen.

»Schneller!« rief Grimma ihren beiden Gefährten zu. »Bei den Göttern, ihr müßt noch schneller laufen!«

»Wir sollten uns ihnen stellen!« keuchte Bollis. Styrmir stützte ihn, und zu Grimmas Erstaunen ließ der Krieger sich die Hilfe widerspruchslos gefallen. Sie selbst packte Bollis am anderen Arm, und so rannten sie zu dritt, fest ineinander verhakt, den Tunnel entlang nach Süden. Fünf Monde lagen vor ihnen, wenn die Nordlinge sie nicht vorher stellten, fünf Monde, in denen sie sich von Fledermäusen, Echsen und den Fischen der unterirdischen Flüsse ernähren würden. Aber daran mochte jetzt noch keiner von ihnen denken.

Es wurde dunkler, das Sternenlicht vom Eingang blieb hinter ihnen zurück, und sie mußten sich jetzt ganz auf die Schärfe ihrer Zwergenaugen verlassen. Zumindest darin waren sie den Nordlingen hier unten überlegen. Ihre Gegner würden erst Fackeln herbeischaffen müssen, um die Verfolgung fortzusetzen. Und tatsächlich verstummte das Geschrei der Nordlandkrieger allmählich hinter ihnen, als die Männer angesichts der Finsternis am Fuß der Rampe zurückblieben.

Die drei Zwerge liefen lange Zeit ohne Unterbrechung weiter, bis schließlich immer offensichtlicher wurde, daß Bollis die Schmerzen in seinem Bein zwar so gut es ging überspielte, ihnen aber letzen Endes unterliegen würde. Keiner von ihnen vermochte zu sagen, wie groß die Entfernung war, die sie zwischen sich und die Rampe gebracht hatten, und auch die Zeit selbst hatte längst an Bedeutung verloren. Sie ließen sich am Rande des Tunnels nieder, gleich am Fuß der Höhlenwände, und Grimma massierte Bollis’ Bein mit geschickten, wenn auch erschöpften Händen. Er verzog das Gesicht, sagte aber kein Wort. Styrmir warf Grimma einen besorgten Blick zu.

»Ich halte euch auf«, stöhnte Bollis nach einer Weile. »Das beste ist, wenn ihr mich liegenlaßt.«

Grimma lächelte bitter. »Das also hättest du hinter dich gebracht. Vielleicht können wir jetzt ernsthaft bereden, wie es weitergehen soll.«

Bollis wollte widersprechen, doch Grimma fiel ihm scharf ins Wort: »Ich habe heute fünfzehn Männer verloren. Fünfzehn hervorragende Krieger, darunter einige meiner besten Freunde! Sie haben mir vertraut, und ich habe sie geradewegs in den Untergang geführt. Glaub mir, Bollis, selbst wenn ich dich den ganzen Weg zurück zum Hohlen Berg auf meinen Schultern tragen müßte, würde ich dich gewiß nicht hier unten verrotten lassen. Ist das ein für allemal klar?«

Bollis blickte an ihr vorbei ins Dunkel, nickte steif. Er verzichtete auf eine Antwort, aber Grimma sah ihm an, daß er angestrengt nachdachte. Gut, dachte sie erleichtert, vielleicht würde er so zur Vernunft kommen.

Vernunft? spottete die Stimme in ihrem Inneren. Vernünftig wäre es, Bollis zurückzulassen. Du hast es immer gewußt, nicht wahr? Wenn es ein einziger zurück zum König schafft, war die Mission ein Erfolg. Ein einziger genügt. Noch hast du nicht verloren, noch nicht.

Sie haßte sich selbst für solche Gedanken.

»Lange sind wir hier nicht sicher«, sagte Styrmir.

»Ach, nein?« gab Grimma streitlustig zurück. »Gut, daß wir einen so scharfen Beobachter unter uns haben.«

Zu ihrer Überraschung war es Bollis, der sagte: »Laß deine Wut nicht an Styrmir aus, Grimma. Er hat sich tapfer geschlagen.«

Einen Moment lang hielt sie dem stechenden Blick ihres verletzten Freundes stand, dann nickte sie in Styrmirs Richtung. »Es tut mir leid. Du hast recht, sie werden uns folgen. Aber wir werden ihre Fackeln sehen, wenn sie näherkommen, das ist unser Vorteil.«

Eine Weile lang sagte keiner von ihnen ein Wort, während Grimma weiter Bollis’ Bein massierte und Styrmir nachdenklich seine blutige Axt betrachtete. Plötzlich schaute er auf.

»Hört ihr das?«

Grimma sah ihn alarmiert an und horchte ins Dunkel.

»Schritte, von Norden«, sagte Styrmir.

»Das müssen Dutzende sein.« Bollis versuchte vergeblich, aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen.

Grimma sprang auf und starrte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Tunnelschlund schien ihren Blick gleichgültig zu erwidern, ein gewaltiges, finsteres Auge. Da waren keine Fackeln, keine Spur von Feuerschein. Sie begriff schlagartig, was das bedeuten mußte.

»Zwerge!«

Schweigend hoben sie Bollis vom Boden und machten sich auf den Weg nach Süden.



»Es waren glorreiche Tage, damals, und glorreich waren Grimmas Taten«, schwärmte Alberich. »Es gibt ein Lied über sie. Vielleicht sollte ich -«

»Nein«, brummte Löwenzahn. »Solltest du nicht.«

Auch Mütterchen meinte: »Das ist wirklich nicht nötig.«

Nur Geist sagte: »Ich würde es gerne hören. Du hast eine so schöne Stimme, Alberich.«

»Ein andermal«, verlangte Mütterchen hastig.

Löwenzahn wuchtete seinen Zweihänder von einer Schulter auf die andere. »Erzähl uns lieber, was in der Zwergenstadt geschehen ist.«

»War es wirklich eine Arena?« fragte Mütterchen.

»Was ist eine Arena?« wollte Geist wissen, die sich nach all ihren Jahren im Wald nichts darunter vorstellen konnte.

Löwenzahn machte ein ernstes Gesicht. Er war froh, daß er dem Moosfräulein etwas erklären konnte, und hatte es eilig, den anderen zuvorzukommen. »Man schlägt darin einem anderen den Schädel ein und wird dafür mit Blumen beworfen.«

Geist ließ eine Nelke an ihrem Hinterkopf erblühen. »Mit solchen Blumen?«

Der Halbhunne nickte. »Und mit Münzen.«

Alberich warf einen grimmigen Blick nach hinten. »Wenn du dabei noch einmal derart gierig auf meinen Hort schielst, Hunne, drehen wir sofort um.«

»Deinen Hort?« Löwenzahn lachte. »Wenn das so ist, sollten wir allmählich über Besoldung sprechen.«

Ihr Abstieg die Treppe hinunter war beschwerlicher, als Mütterchen angenommen hatte. Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen. Zudem waren die Absätze für Zwergenfüße geschaffen und viel zu kurz und niedrig für menschliche Schritte; das verdoppelte die Anstrengung. Am schlimmsten aber war, daß sie bislang nicht einmal ein Viertel der Strecke bis zum Boden der Horthalle bewältigt hatten.

Mütterchen klopfte Alberich im Gehen auf die Schulter. »Nun sag schon, was weiter geschah. Zumindest vergeht dabei die Zeit schneller.«

»Hm«, meinte der Zwerg und kratzte sich unter seiner Mütze. »Wo war ich stehengeblieben?«

Löwenzahn beugte sich vor und roch an der Nelkenblüte auf Geists Kopf. »Grimma und die anderen hatten den Tunnel verlassen und lagen auf dem Rand der Arena«, sagte er. »Von dort aus schauten sie über die Ruinen dieser Stadt und -«

»Jetzt weiß ich!« unterbrach ihn Alberich. »Ich wollte ein Lied über Grimma singen.«

»Du wolltest erzählen, wie es weiterging«, ermahnte ihn Mütterchen.

Alberich grummelte etwas in seinen Bart und meinte schließlich: »Nun denn, hört gut zu!« Er straffte seinen Rücken. »Nach langen Monden des Marsches also kamen Grimma und ihre Gefährten im Nordland an. Sie stiegen aus dem Tunnel, fanden die Arena und entdeckten, daß die alte Stadt der Zwerge in Ruinen lag. Vielleicht war diese Stadt der Ursprung meines Volkes, vielleicht nur eine abgelegene Kolonie, das weiß heute keiner mehr. Auch was die Höhlendecke zum Einsturz gebracht hat, ist längst vergessen. Ich vermute, es war irgendeine Teufelei der Nordlinge, wie immer sie es bewerkstelligt haben mögen.

Nun, auf jeden Fall betraten Grimma und die anderen kühn die Stadt und erforschten jeden Winkel. Oft stießen sie dabei auf die verfluchten Nordlandkrieger und erschlugen ihrer Hunderte. All die Schmach, all das Verderben, das die Nordlinge mit ihrem Angriff auf den Hohlen Berg über das Zwergenvolk gebracht hatten, wurde ihnen jetzt dutzendfach heimgezahlt. Immer mehr dieser Barbaren verließen ihre stinkenden Unterschlüpfe in den Ruinen, und sie liefen Grimma und ihren Freunden geradewegs in die Klingen. Schrecklich war die Schlacht und ruhmreich der Sieg, denn bald schon war die Stadt von diesem Ungeziefer bereinigt.«

Löwenzahn runzelte ungläubig die Stirn. »Du meinst, ein paar Zwerge haben das ganze Volk der Nordlinge ausgerottet?«

Alberich hielt es nicht einmal für nötig, sich angesichts solch frevlerischen Zweifels umzudrehen. »Genauso war es«, erklärte er mit triumphaler Gebärde, »jedes Wort ist wahr! Die Zwerge waren immer ein Volk, das viele mächtige Krieger hervorgebracht hat.«

Mütterchen entging keineswegs, daß Alberich sich damit selbst widersprach; vorhin hatte er noch behauptet, in den Jahrhunderten des Frondienstes im Hohlen Berg hätten die Zwerge den Kampf verlernt. Sie schmunzelte still vor sich hin, verzichtete aber auf einen Einwand.

Der Horthüter fuhr fort: »Nachdem die Ruinenstadt von allen Feinden befreit war, machten Grimma und die Ihren sich daran, nach Spuren der hehren Vergangenheit der Zwerge zu suchen. Vielerlei fanden sie, Zeugnisse der großen Taten und Erfindungen ihrer Ahnen, und als sie alles zusammengetragen und geordnet hatten, machten sie sich auf den Rückweg. Mit lautem Gesang und in bester Stimmung stiegen sie hinab in den Tunnel und fühlten sich dort sogleich wie zu Hause. Die Mühen des Hinweges waren durch ihre glorreichen Taten von ihnen abgefallen, und sie konnten es kaum mehr erwarten, jene, die in der Heimat ungeduldig auf ihre Rückkehr warteten, mit den Schilderungen ihrer Entdeckung zu verblüffen.«



»Sie kommen näher.«

Es hätte Styrmirs Worte nicht bedurft, um Grimma den ausweglosen Ernst ihrer Lage zu verdeutlichen. Auch sie konnte es hören: das Scharren zahlloser Stiefel auf dem nassen Felsboden, das Murmeln ferner Stimmen, das metallische Klirren von Rüstzeug und scharfen Klingen. Ihre Gegner holten auf, daran bestand kein Zweifel, ebensowenig wie an der Tatsache, daß das Glück der drei Flüchtigen allmählich aufgebraucht sein mußte.

Der Schmerz in Bollis’ Bein schien nachzulassen, er lief jetzt schneller, obgleich er ebenso erschöpft sein mußte wie Styrmir und Grimma. Seine Selbstbeherrschung war außerordentlich, und Grimma fragte sich besorgt, ob dies vielleicht das letzte große Aufwallen von Kraft vor dem Ende war. Doch ein Blick in Bollis’ Gesicht beschwichtigte ihre Sorgen; er wirkte ausgezehrt und müde, gewiß, doch keineswegs wie ein Mann an der Schwelle zum Tod. Nein, Bollis würde leben, vorausgesetzt es gelang ihnen, die feindlichen Zwerge von ihren Fersen zu schütteln.

Das aber, darüber machte Grimma sich keine Illusionen, schien derzeit äußerst unwahrscheinlich.

»Was sollen wir tun?« fragte Styrmir leise. Er klang nicht ängstlich oder gar panisch, ganz im Gegenteil: Grimma fragte sich, woher er die Ruhe nahm, mit der er Dinge aussprach, die jeden anderen zur Verzweiflung getrieben hätten. Sie kommen näher, hatte er gesagt, aber mit einer Gelassenheit, als ginge es um eine aufziehende Regenwolke. Was sollen wir tun? fragte er jetzt; es klang, als wüßte er sehr genau, daß es darauf keine überzeugende Antwort gab. Er sagte so etwas, weil er glaubte, dies sei der Augenblick, in dem dergleichen gesagt werden müsse. In seinen Augen gehörte das zum großen Abenteuer, zur Legende der Nordlandreise, die fraglos in seinem Kopf Gestalt annahm, um später - falls es ein Später geben würde - von der Feder auf das Papier seines Büchleins zu fließen.

Doch immer, wenn Grimma glaubte, ihn endlich durchschaut zu haben, sagte er Dinge wie: »Sie werden uns nicht töten, nicht jeden von uns. Das kann ich spüren.« Und dann fragte sie sich allen Ernstes, ob ihm die Ereignisse nicht vielleicht einen Teil seines Verstandes geraubt hatten.

Aber Styrmir war nicht verrückt, ganz gewiß nicht im Sinne einer Krankheit. Vielleicht ein wenig unbesonnen in seiner Einschätzung der Lage, vielleicht etwas wirr in seiner Vorstellung von Kampf und Niederlage und Tod. Aber nicht verrückt. Und Grimma wunderte sich, ob es das war, was ihr an ihm so gefiel: seine Andersartigkeit, der deutliche Unterschied zwischen ihm und den rohen Kriegern, mit denen sie früher das Lager geteilt hatte.

Das Lager teilen - liebe Güte. Als hätte sie keine anderen Sorgen.

Ein Schrei riß sie aus ihren Gedanken. Im ersten Augenblick glaubte sie, Bollis hätte ihn ausgestoßen, denn er wurde mit einemmal ungemein schwer in ihrem Griff, dann stolperte er und fiel. Doch als sie erschrocken zu ihm herabblickte, sah sie die Wurfaxt, die bis zum Anschlag zwischen seinen Schulterblättern steckte, und da wußte sie, daß dem Freund keine Zeit mehr geblieben war, einen Schrei auszustoßen.

Es war ein Kampfruf gewesen, und keine zwei Atemzüge später sah sie hinter sich mehrere Zwerge aus dem Dämmerlicht preschen, eine schnelle Vorhut der großen Streitmacht, die ihnen in größerer Entfernung folgte.

Es kam nicht zum Kampf. Nicht im Sinne eines Schlagabtauschs.

Grimma stürzte zwischen die überraschten Feinde, und ihre Axt hinterließ eine Spur aus Blut und zerschmetterten Leibern. Wie eine Furie kam sie über ihre Gegner, vier waren es, dann nur noch zwei und schließlich ein einziger, der sich umdrehen und fliehen wollte, doch Grimma spaltete ihm von hinten den Schädel und stieß ein schauriges Lachen aus, das die Kunde ihres Sieges weithin durch den Tunnel trug, hinauf gen Norden zur näherrückenden Schar der Verfolger, aber auch zurück zu Styrmir, und als sie zu ihm zurückkehrte, da sah sie ihm an, daß er sie mit einem gänzlich anderen Blick als zuvor betrachtete.

Sie beugte sich zu Bollis hinunter. Styrmir hatte die Axt bereits aus der Wunde entfernt, und jetzt war deutlich zu sehen, was die Waffe dem Zwergenkrieger angetan hatte. Grimma rollte den toten Freund auf den Rücken, küßte ihn auf die bärtigen Wangen, dann stand sie ohne ein weiteres Wort auf und gab Styrmir das Zeichen, weiterzulaufen.

Sie kamen jetzt schneller voran. Warum hatte die Wurfaxt gerade Bollis getroffen, warum den Schwächsten, denjenigen, der ihre Flucht verlangsamt hatte? Sie werden uns nicht töten, hatte Styrmir gesagt, nicht jeden von uns. Das Schicksal meint es gut mit uns, dachte Grimma kalt, und wir werden einen Preis dafür zahlen. Am Ende werden wir zahlen für all unser Glück.

Sie fragte sich, was dieser Preis sein würde. Sie wußte nur, er würde höher sein als der Gewinn, den sie aus dieser Sache ziehen konnten - was kaum verwunderlich war, denn es gab keinen Gewinn, würde nie einen geben.

Und, wer weiß, vielleicht besaß das Schicksal ja Humor, und gerade die Tatsache, daß sie keinen Preis zahlen konnten, war ihm Preis genug?



»Es war ein Zug der Helden, ein Zug der Freude und der Hoffnung, in dem Grimma und ihre Krieger nach Süden eilten, und ihre Lieder und Gespräche waren bestimmt von der Gewißheit, daß sie das fast Unmögliche vollbracht hatten.«

Alberich schwadronierte nun schon seit einer halben Ewigkeit über die Großtaten seiner Ahnen, und Mütterchen bereute längst, daß sie ihn überhaupt gebeten hatte, über das Vergangene zu sprechen. Zumal sie noch immer nichts über die Lage des versteckten Tunneleingangs erfahren hatten.

Sie hatten mittlerweile über die Hälfte des Abstiegs bewältigt. Der Goldglanz des Hortes leuchtete unter ihnen wie ein See aus Feuer. Der Schatz hatte regelrechte Landschaften gebildet, sanfte Hügel und Täler aus glitzerndem Geschmeide, schroffe Verwerfungen und Steilwände aus purem Gold. Das Rund der Halle mochte einen Durchmesser von über hundert Mannslängen haben, und nirgends in dieser gewaltigen Fläche gab es auch nur eine Stelle, die nicht mit funkelnden Reichtümern bedeckt war. Vermutlich lag der eigentliche Höhlenboden mehrere Schritte unterhalb der Goldoberfläche, und einen Augenblick lang überkam Mütterchen die absurde Vision, inmitten all dieser Pracht unterzugehen wie in einem Gewässer, tiefer und tiefer zu sinken, durch Schichten aus Schmuck und Münzen zu tauchen, ohne jemals auf festen Grund zu stoßen. Sie schüttelte sich bei dieser Vorstellung, und doch vermochte sie den wohligen Schauder, der dabei in ihrem Räuberherz aufstieg, nicht völlig zu unterdrücken.

»Viele Wochen zogen die Zwerge durch den Tunnel«, fuhr Alberich fort, »und viele neue Geschichten und Verse entstanden während dieser Zeit. Denn was sonst hatten Grimma und die anderen zu tun, als Gedichte zu verfassen, Gesänge zu komponieren und ihre schartigen Waffen zu schärfen? Wie gerne wäre ich dabei gewesen, wie gerne wäre ich siegreich an Grimmas Seite zum Hohlen Berg zurückgekehrt und hätte dem König stolz Bericht erstattet...« Er seufzte tief und fügte dann weinerlich hinzu: »Aber was hilft es, der Vergangenheit nachzutrauern? Hier sind wir nun, wir vier Seite an Seite, und eine neue Herausforderung harrt unserer Klingen, unseres Geschicks und unserer -«

Löwenzahn unterbrach ihn mit einem langgestreckten Gähnen. »Sehr schön, Zwergling, wirklich, sehr schön. Gewiß hast du mit allem recht, was du sagst. Aber wie ging es denn nun weiter? Was für ein Empfang wurde Grimma bereitet, nachdem sie zurückkehrte zum Hohlen Berg und zu diesem König - wie hieß er noch gleich?«

»Thorhâl«, versetzte Alberich giftig. »Sein Name war Thorhâl, und er war ein größerer Herrscher als jeder, den das Hunnenvolk zwischen seinen Fellhütten und Pferdeställen jemals hervorgebracht hat!«

Löwenzahn zuckte nur mit den Schultern; Alberichs Worte berührten ihn nicht, er hatte sich nie wie ein wirklicher Hunne gefühlt. »Thorhall also«, meinte er.

»Nicht Thorhall!« schimpfte Alberich aufgebracht. »Hâl, hörst du, Dummkopf, Thorhâl. Mit langem, klangvollem A!«

»Von mir aus«, brummte Löwenzahn und verlagerte das Gewicht seines Bihänders einmal mehr auf die andere Schulter.

»Erzähl schon«, wandte Mütterchen sich an den Zwerg, um das Wortgeplänkel der beiden zu einem Ende zu bringen. »Wie war das nun, als Grimma zum König zurückkehrte?«

»Wie es war?« wiederholte Alberich naserümpfend. »Wie es war, willst du wissen? Was denkst du denn, wie es war?«

Mütterchen verdrehte die Augen.

»Laß uns raten«, meinte Löwenzahn trocken, und Geist piepste leise:

»Glorreich, nicht wahr?«



Zeit existierte nicht im Tunnel, jetzt nicht mehr, da die beiden Schreiber tot waren und ihre Sanduhren zerbrochen zwischen den Ruinen lagen. Es gab keinen Tag und keine Nacht, und schließlich wußten Grimma und Styrmir nicht einmal mehr eindeutig zu sagen, ob sie müde waren oder nicht. Sie schliefen dann, wenn ihre Füße sie nicht mehr weitertragen wollten, und sie aßen, wenn es ihnen gelang, in einem Wasserlauf einen blinden grauen Fisch zu fangen, der träge durch die Schwärze schwebte. Mitunter geschah das mehrmals in kurzen Abständen hintereinander, manchmal über lange Zeiträume überhaupt nicht. Aber waren die Zeiträume wirklich lang oder schienen sie ihnen nur so? Und spielten ihre Körper ihnen vielleicht nur hämische Streiche, wenn sie ihnen Schwäche signalisierten? Gab es überhaupt so etwas wie eine zeitliche Ordnung hier unten, wenn sie sich diese Ordnung nicht selbst erschufen, sei es durch Sanduhren oder das Zählen ihrer Schritte?

Irgendwann verklangen die Laute ihrer Verfolger hinter ihnen. Waren seit dem Beginn ihrer Flucht Tage vergangen, Wochen oder gar ganze Monde? Gelegentlich, aber nur sehr selten, erkannten sie bestimmte Stellen wieder, die ihnen bereits auf dem Hinweg aufgefallen waren. Manchmal waren das so unbedeutende Dinge wie eine ungewöhnliche Felsformation oder eine schillernde Ader im Gestein, manchmal auch Bäche und Wasserlöcher, die sich in ihrem Weg auftaten. Meistens begannen sie dann miteinander zu streiten, denn es kam selten vor, daß sie gleicher Meinung waren über den Zeitpunkt, da sie diese Stelle auf dem Weg nach Norden passiert hatten. Styrmir mochte sagen: »Hier waren wir im dritten Mond«, während Grimma sogleich widersprach und erklärte: »Es war im fünften, da bin ich vollkommen sicher.«

Doch trotz solcher Meinungsverschiedenheiten war Grimma froh, daß Styrmir an ihrer Seite war, und sie hörte ihm gerne zu, wenn er sich über die Berater des Königs und ihre hanebüchenen Ratschläge lustigmachte. »Man wird dazu erzogen, Unsinn zu reden«, erklärte er ihr einmal. »Es geht nicht darum, was man sagt, sondern darum, daß man überhaupt etwas sagt und der König es zur Kenntnis nimmt. Für die meisten Berater gibt es nichts Wichtigeres als einen Seitenblick Thorhâls, ein anerkennendes Nicken, sogar ein Schulterzucken. Sie sind selbst dann überglücklich, wenn er ihre Meinung mit einem Kopfschütteln abtut - sie haben dann das Gefühl, sie hätten eine mögliche Fehlentscheidung abgewandt.« Er lachte bitter. »Alles nur eine Frage der Sichtweise, schätze ich.«

Grimma lehrte ihn ihrerseits viel über das Kriegshandwerk. Dabei verschwieg sie nicht, daß auch sie das meiste davon nur aus den Erzählungen ihrer Ausbilder kannte. Vor dem Angriff der Nordlinge hatte es lange Zeit keinen offenen Kampf mehr im Hohlen Berg gegeben, und die Aufgaben der Krieger waren lediglich die einer Schutztruppe gewesen, die dafür sorgte, daß es keine Verbrechen oder gar Aufstände gab. »Aber so hatte sich keiner von uns seine Zukunft vorgestellt. Wir waren nicht Krieger geworden, um Taschendieben das Handwerk zu legen. Zumindest war es das, was wir uns Tag für Tag sagten, und hinter vorgehaltener Hand gab es viel Murren und Unzufriedenheit. Viele von uns waren froh, als die Nordlinge auftauchten. Endlich, so schien es, war die Zeit gekommen, unsere Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Wir waren Narren, fürchte ich. Wir haben nicht weiter gedacht als bis zum Ende der Äxte, die wir in unseren Händen hielten.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Bollis, Egil und all die anderen wissen es heute vielleicht besser.«

»Und du selbst?«

»Ich bin Heerführerin der Armee vom Hohlen Berg«, sagte sie steif, »und das werde ich bleiben, bis ich selbst der Klinge eines Feindes unterliege oder mich das Alter dahinrafft, mögen die Götter mich davor bewahren! Ich kann nichts anderes sein als das, was ich bin, und ich kann keine andere Meinung vertreten als die einer Kämpferin. Ich kann mich nicht selbst verraten.«

»Aber du weißt, daß du unrecht hast«, sagte Styrmir beharrlich. »Du weißt, daß dieser Krieg falsch war - auch wenn du nichts an ihm ändern konntest -, und du weißt, daß diese Mission ein Fehler war. Wie kannst du immer noch dazu stehen?«

»Ich habe mich einmal darauf eingelassen, oder?« entgegnete sie müde. »Ich habe mich entschlossen, meine Krieger in den Kampf zu führen, und ich habe nicht abgelehnt, als Thorhâl mir auftrug, ins Nordland zu gehen. Ich habe nicht daran geglaubt, daß es richtig war, aber ich habe einem Befehl gehorcht, und zumindest das war richtig.«

»Unsinn!«

Sein Widerspruch machte sie nicht wütend, und das erstaunte sie selbst. »Du verstehst das nicht. Du bist kein Krieger. Du bist nicht erzogen worden wie ich.«

»Soll denn alles immer nur eine Frage dessen sein, was uns als Kindern beigebracht wurde? Damit machst du es dir sehr einfach, Grimma.«

»Vielleicht, aber es ist das, was ich gelernt habe«, sagte sie, sich des unheilvollen Kreislaufs, den sie damit eingestand, durchaus bewußt. Dennoch weigerte sie sich, ihre Vergangenheit zu verleugnen, all die Jahre, die sie an ihre Pflichten als Kriegerin geglaubt hatte. Sie konnte nicht über ihren eigenen Schatten springen, denn darauf lief es hinaus. Sie war - und es tat weh, sich das einzugestehen - zu schwach, um gegen sich selbst und ihr besseres Wissen anzukämpfen. Das war eine Schlacht, der sie aus dem Weg ging, vor der sie davonlief wie ein Schwächling vor der anrückenden Streitmacht der Feinde.

Sie mochten die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, als Styrmir eines Tages (oder eines Nachts) etwas entdeckte.

»Das ist sonderbar«, sagte er, nachdem er in einem eiskalten Wasserloch nach Fischen getaucht und schließlich spuckend und keuchend an die Oberfläche zurückgekehrt war. »Dort unten ist eine Öffnung«, sagte er und rieb sich die Augen.

Grimma zuckte nur mit den Achseln. »Irgendwie muß das Wasser schließlich hierhergekommen sein.« Ihr Magen knurrte, und die Vorstellung, selbst in das Wasserloch hinabzutauchen, trug keineswegs dazu bei, ihre Laune zu heben.

»Es ist ein Tor, Grimma!«

»Wie meinst du das, ein -«

»Es ist viereckig, die Kanten sind gemauert, und dort drüben« - er zeigte zur anderen Seite des Gewässers - »führen Stufen nach unten.«

Grimmas Magenknurren wich einer anderen Art von Rumoren. Die Gleichgültigkeit, die seit einiger Zeit wie ein Kokon um ihr Gemüt zu liegen schien, verschwand auf einen Schlag. Erregung trat an ihre Stelle. Grimma sprang auf, umrundete die Wasseroberfläche und ging am gegenüberliegenden Ufer in die Hocke. Styrmir hatte recht. Sie konnte tatsächlich den oberen Absatz einer Treppe ausmachen, die geradewegs ins Wasser führte. Die Senke im Boden des Tunnels war nicht immer überflutet gewesen.

»Und du bist sicher, daß es ein Tor ist?« fragte sie Styrmir, der trotz der Kälte immer noch bis zur Brust im Wasser stand. Sie sah ihm an, daß er darauf brannte, seine Entdeckung genauer zu erkunden.

»Ein Durchgang, ungefähr so hoch wie ich selbst«, bestätigte er mit leuchtenden Augen. »Von Zwergen für Zwerge geschaffen. Wir sollten es uns genauer ansehen.«

»Wir würden beide ertrinken.«

»Du bleibst hier und wartest. Komme ich nicht schnell genug zurück, gehst du weiter und warnst den König.«

»Und was, wenn ich nicht will, daß du ertrinkst?« fragte Grimma lakonisch.

»Ich kann vielleicht nicht mit einer Axt umgehen, aber was Schwimmen und Tauchen angeht, gibt es gewiß manchen Zwerg, der sich dabei ungeschickter anstellt.«

Grimma schaute über das Wasser hinweg nach Norden. Der Tunnel lag weithin verlassen da, in der Ferne verschwamm alles in einem Dunst aus Dunkelheit. Ihre Verfolger schienen die Jagd schon vor geraumer Zeit abgebrochen zu haben. Dennoch hatten sie es eilig. Ausgedehnte Expeditionen in benachbarte Grotten oder Höhlensysteme kamen nicht in Frage.

»Ich komme mit«, entschied sie. »Und wenn auch nur, um darauf zu achten, daß du keine Zeit vergeudest.«

Styrmir grinste, und als er sah, wie Grimma zögerlich in das kalte Wasser stieg, lachte er lauthals auf. »Ich wußte gar nicht, daß du wasserscheu bist, große Kriegerin.«

»Kümmere dich um dich selbst, Königsberater.« Grimma hatte das Gefühl, als müßte ihr ganzer Körper zu Eis erstarren. »Wie hältst du es nur in dieser verfluchten Kälte aus?«

»Dein Anblick wärmt mein Herz.«

»Mach dich nur lustig.« Mit einem Keuchen ließ sie sich gänzlich ins Wasser gleiten, und wenig später folgte sie Styrmir in die Tiefe. Beide hatten ihre Äxte an ihren Gürteln befestigt. Das Wasserloch war tiefer, als Grimma vermutet hatte, und die undurchdringliche Schwärze unter ihr erschreckte sie. Sie hatte Wasser noch nie gemocht, und selbst die ungefährlichen Seen im Hohlen Berg hatten sie stets mit Unbehagen erfüllt. Die Tatsache, daß sie nicht sehen konnte, ob irgend etwas unter ihr in der Tiefe lauerte, machte sie unsicher.

Schon nach wenigen Herzschlägen erkannte sie in der Wand der Senke das Tor, von dem Styrmir gesprochen hatte. Ohne Zögern tauchte er als erster hindurch. Als Grimma ihm folgte, bemerkte sie zu ihrer Erleichterung, daß dahinter kein langer überfluteter Stollen lag, sondern schon nach zwei, drei Schritten eine weitere Höhle. Prustend und nach Atem schnappend durchbrach Grimma die Oberfläche. Styrmir war neben ihr und schaute sich neugierig um.

Es war kein grob in den Fels geschlagener Hohlraum wie der Haupttunnel. Vielmehr befanden sie sich in einer Höhle, deren Wände mit Ziegelsteinen verkleidet waren, rechtwinklig nach oben gemauert und sauber verfugt, ganz anders also, als es die Zwerge heute gemacht hätten. Die Erbauer dieser Anlage waren zweifellos dieselben gewesen, die auch die Stadt im Nordland errichtet hatten; auch dort war mit Steinen gearbeitet worden. Damals, vor wer-weiß-wievielen Jahrhunderten, war die Baukunst der Zwerge jener der Menschen noch sehr viel ähnlicher gewesen, ein Umstand, der im Hohlen Berg längst in Vergessenheit geraten war.

Der Raum war sechseckig und maß in der Breite etwa zwanzig Schritte. Der Boden war nicht ebenerdig, sondern wurde nahezu vollständig von Treppenstufen eingenommen, deren untere Hälfte überflutet war. Hier herrschte das gleiche Dämmerlicht wie im Tunnel, ein fahles Schimmern des Gesteins, das nur von Zwergen wahrgenommen werden konnte.

Grimma und Styrmir schwammen mit wenigen Stößen ans Ufer und kletterten auf die trockenen Stufen. Weiter oben endete die Treppe an einer Plattform, die von vier schmucklosen Säulen begrenzt wurde. In der Rückwand der Plattform gab es einen weiteren schmalen Durchgang.

»Sieht aus wie eine Art Thronsaal«, sagte Grimma und spürte in sich einen Anflug von Ehrfurcht, den sie sich nicht recht erklären konnte.

»Oder wie ein Tempel«, bemerkte Styrmir.

Im Hohlen Berg gab es keine Tempel, jeder Zwerg betete, wann und wo er es für richtig hielt. Die meisten hatten es gänzlich verlernt. Götter taugten nur noch für Flüche und Fürbitten. Damals aber, als die alte Zwergenstraße durch die Felsen des Erdinneren getrieben worden war, mochte das anders gewesen sein.

Styrmir hatte die gleichen Gedanken. »Es ist genau wie bei den Menschen«, sagte er staunend.

»Wie meinst du das?«

»Die Christen errichten an ihren großen Handelsstraßen Kapellen, in denen sie einkehren und ihrem Gott huldigen. Genauso muß es bei unseren Vorfahren gewesen sein. Sie haben diesen Tempel angelegt, damit diejenigen, die auf der Zwergenstraße reisten, unterwegs nicht auf den Beistand der Götter verzichten mußten.«

»Aber warum gibt es im Hohlen Berg keine solchen Räume?«

Styrmir rieb sich Wasser aus den Augen. »Vielleicht haben die Bewohner der Nordlandstadt nach der Katastrophe, die ihre Höhlendecke zum Einsturz brachte, den Glauben an die Götter verloren. Als die Überlebenden nach Süden zogen, um ein neues Zuhause zu finden, sprachen sie sich von ihrem alten Glauben los und verzichteten fortan auf jede Art von Huldigung.«

Styrmirs Worte klangen überzeugend. Grimma ärgerte sich ein wenig, daß sie nicht allein darauf gekommen war.

»Laß uns nachschauen, was hinter dem Durchgang ist«, sagte sie und bemerkte plötzlich, daß Müdigkeit und Schwäche mit einemmal wie fortgewischt waren. Sie spürte in sich einen Tatendrang, wie sie ihn zum letzten Mal während der Schlacht im Hohlen Berg gefühlt hatte.

Gemeinsam mit Styrmir stieg sie die steile Treppe hinauf, bis sie die Plattform erreichten. Vorsichtig schauten sie um die beiden inneren Säulen zur Öffnung in der Rückwand. Dahinter lag im Dämmerlicht ein weiterer Höhlenraum. Die einzigen Geräusche, die sie hörten, stammten von Wassertropfen, die von der Decke hinab zur Oberfläche fielen. Vielleicht verlief hoch über ihnen ein Fluß. Oder aber - und dieser Gedanke flößte Grimma schlagartig Entsetzen ein - sie befanden sich unter dem Meeresboden, und über den Felsen erstreckte sich ein endloser Ozean.

Nein, beruhigte sie sich hastig, das war unmöglich. Sie waren schon zu weit gelaufen, sie mußten bereits irgendwo in den Ländern östlich des Rheins sein. Zwerge verabscheuten das Meer, mehr noch als das unruhige Grün der Wälder, und Grimma war keine Ausnahme. Die Vorstellung, daß sich über ihren Köpfen die Wellen eines Ozeans brachen, verursachte ihr Übelkeit.

»Ich gehe vor«, zischte sie Styrmir zu. Ehe er widersprechen konnte, hatte sie die Plattform bereits überquert und huschte mit gezogener Axt durch die Tür.

Die Kammer dahinter war kleiner als der Vorraum und doch um ein Vielfaches eindrucksvoller. Ihre Wände waren über und über mit Reliefen geschmückt, die meisten von Moos und Schimmelpilzen überzogen, und in den Boden war ein aufwendiges Mosaik eingelassen. Sämtliche Darstellungen zeigten Zwerge bei der Anbetung ihrer Götter. Letztere waren größer und filigraner gearbeitet, und obgleich sie lange Bärte trugen, glichen sie doch in ihrer Gestalt weit mehr den Menschen als den gedrungenen, breitschultrigen Zwergen. Grimma fragte sich einmal mehr, in welcher Beziehung Zwerge und Menschen dereinst gestanden hatten. Waren die Zustände im Hohlen Berg gar keine Ausnahme? Waren ihre Urahnen ein Dienervolk der Menschen gewesen? Der Gedanke erfüllte sie mit Abscheu.

Am anderen Ende des Höhlenraumes befand sich ein erhöhtes Podest, vielleicht eine Art Altar. Davor lagen auf einem Haufen allerlei alte Waffen, vom Schimmel zerfressene Kleidungsstücke, dazwischen Teile einer Rüstung. Auf Grimma wirkte dieser Anblick, als hätte irgendwer in größter Eile wahllose Opfergaben abgelegt, ohne sich die Zeit zu nehmen, sie zu sortieren oder entsprechend weihevoll darzubringen. Dies mußte während des großen Auszugs nach Süden geschehen sein. Die Hast, mit der die Gaben an die Götter abgeladen worden waren, ließ darauf schließen, daß die Zwerge damals überstürzt, beinahe panisch gehandelt hatten. Als wären sie vor etwas auf der Flucht gewesen. Hatten die Nordlinge sie schon damals nach Süden verfolgt und den Weg zum Berg ausgekundschaftet?

Styrmir trat hinter Grimma durch die Tür und blickte sich aufmerksam um. Mit unverhohlener Enttäuschung sagte er schließlich: »Sieht nicht aus, als würde uns das irgendwie weiterhelfen!«

»Was hast du denn erwartet? Eine Speisekammer?«

»Ich weiß nicht«, sagte er schulterzuckend. »Bessere Waffen vielleicht. Oder einen Hauch von Albenmagie.« Die Alben galten als die Urahnen der Zwerge, und ihr Zaubergeschick war der Stoff vieler Sagen.

Grimma schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Nichts als Legenden. Zwerge und Zauberei, das kann nicht gutgehen.« Je länger sie die Reliefe an den Wänden betrachtete, auf denen sich Zwerge demütig vor menschlichen Göttern verneigten, desto absurder erschien ihr die Vorstellung von der legendären Albenmagie und der Abstammung ihres Volkes von lange verschollenen Fabelwesen. Lügen, dachte sie erbost, seit Generationen erzählt man uns nichts als Lügen!

Am schlimmsten von allem aber war ein Gedanke, der ihr jetzt zum erstenmal kam: Waren die angeblichen Götter die Vorfahren der heutigen Nordlinge gewesen? War ihr Volk vor einem Stamm wilder Barbaren auf die Knie gesunken? Und waren die Zwerge, die in der Arena an der Seite der Nordlinge gekämpft hatten, nichts anderes als die Nachkommen jener Zwerge, die, aus welchen Gründen auch immer, in den Ruinen zurückgeblieben waren? Sie verbesserte sich selbst: Die Zwerge hatten nicht an der Seite der Nordlandkrieger gekämpft, sondern an deren Stelle. Der Unterschied war fein, aber bezeichnend: Noch heute waren die Zwerge im Nordland nichts als Sklaven, die im Kampf den Feinden vor die Klingen geworfen wurden. Falls es Grimma nicht gelang, Thorhâl von seinem Plan abzubringen, würde das Volk vom Hohlen Berg das ungestörte Leben im Dienst der Nibelungen geradewegs gegen die Sklavenketten der Nordlinge eintauschen.

Wer wußte schon noch, was damals wirklich geschehen war? Wann war der Zeitpunkt gekommen, an dem die Nordlinge von Göttern zu Gegnern geworden waren? Und wie konnte das stolze Volk der Zwerge zu einer Meute unterdrückter Handlanger verkommen?

Gerade wollte Grimma Styrmir auf die Reliefe und ihre mögliche Bedeutung aufmerksam machen, als er sagte: »Das sind Nordlinge, nicht wahr?« Dabei deutete er auf die steinernen Wandbilder. Er hatte längst dieselben Schlüsse gezogen.

Grimma gab kein Antwort, sondern nickte nur. Es tat viel zu weh, die Wahrheit auszusprechen.

»Wir müssen Thorhâl warnen.« Styrmir preßte die Worte widerwillig hervor, als beginge er damit einen Verrat. Schon wollte er sich abwenden und zurück in den Vorraum gehen, als Grimma sagte:

»Warte!« Sie eilte mit wenigen Schritten zu den Opfergaben, wischte mit der Axt Spinnweben und Staub beiseite. »Wenn das hier wirklich den Nordlingen dargebracht wurde, dann will ich wenigstens sichergehen, daß nichts darunter ist, das bei uns besser aufgehoben wäre.«

Styrmir trat neben sie und beugte sich ebenfalls über die Gegenstände. Grimma zog ein paar Kurzschwerter, Beile und Dolche aus dem Haufen, doch die meisten waren rostig oder von Grünspan überzogen. Die Kleider zerfielen schon bei der leichtesten Berührung zu faserigem Brei. Darunter lagen mehrere Schriftrollen, so brüchig, daß sie sich nicht öffnen ließen. Als Styrmir einige der Fetzen untersuchte, schüttelte er nur verständnislos den Kopf; die Schrift darauf hatte er nie zuvor gesehen. Grimma untersuchte derweil Teile einer Rüstung, Helm und Handschuhe aus Stahl, ein verrostetes Kettenhemd und Armschienen. Sie legte alles beiseite, grub tiefer in dem verrottenden Opferhaufen und beförderte schließlich etwas Sonderbares ans Licht. Styrmir zog scharf die Luft durch die Zähne.

»Was ist das?« fragte Grimma und hob das Ding mit spitzen Fingern in die Luft.

Es war ein feines Metallgewebe, aus winzigen Gliedern gefertigt, und es hatte die Form einer Kapuze, rundherum von gleicher Länge, so daß es das ganze Gesicht bis zum Kinn verbarg. Zwei Öffnung waren für die Augen freigelassen worden. Die Oberfläche hatte sich im Laufe der Jahre dunkel gefärbt, aber Rost war keiner zu sehen.

»Pures Silber!« entfuhr es Grimma beeindruckt. Nicht der Wert verblüffte sie, sondern die kunstvolle Verarbeitung. Die Kettenglieder, aus denen die Kapuze gewebt war, waren so klein, daß sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen waren. Niemals zuvor hatte Grimma etwas Derartiges gesehen. Trotz aller Pracht des Nibelungenhortes gab es im Hohlen Berg nichts von vergleichbarer Kunstfertigkeit.

Styrmir betrachtete es sachlicher, doch auch er konnte sein Erstaunen nicht gänzlich verhehlen. »Warum hat man so etwas einfach hier liegengelassen?«

»Nicht liegengelassen«, verbesserte Grimma düster. »Geopfert. Das ist ein Unterschied. Für die Götter nur das Beste.« Sie betrachtete die Kapuze von allen Seiten. »Ich frage mich nur, wofür das Ding gut sein soll? Im Kampf bietet es keinen Schutz, dazu ist Silber viel zu weich. Und als Schmuckstück verhüllt es das Gesicht des Trägers. Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Zieh es über«, verlangte Styrmir.

»Ich?« Grimma hob eine Augenbraue. »Warum nicht du?«

»Du bist eine Frau. An dir wird es besser aussehen.«

Grimma tat geschmeichelt, rollte die Ränder der Kapuze auf, hob sie mit beiden Händen hoch - und stülpte sie mit einer blitzschnellen Bewegung über Styrmirs Kopf.

Styrmir verschwand. Löste sich einfach in Luft auf. Im einen Augenblick stand er da, das Silbergewebe halb über das Gesicht gezogen, im nächsten war er fort.

Grimma ließ die Kapuze mit einem entsetzten Aufschrei los, taumelte zwei Schritte zurück und wäre fast über die Stufen des Altars gestolpert. Mit einer Hand fing sie ihren Sturz ab, mit der anderen riß sie ihre Axt vom Gürtel.

Ein wilder Fluch ertönte - Styrmirs Stimme! -, und nur wenige Herzschläge später war der verschwundene Zwerg wieder zu sehen, stand unverändert an derselben Stelle und schleuderte die Kapuze in weitem Bogen von sich.

»Was, bei allen Göttern, war das?« rief er aus, das Gesicht zur Grimasse verzerrt.

Grimma näherte sich zögernd dem verschlungen daliegenden Silbergewebe, sehr langsam, als fürchtete sie, die Kapuze könnte davonhuschen oder sie gar angreifen wie ein bizarres Lebewesen. Mit der Stiefelspitze stieß sie dagegen, hob sie dann mit der Axt vom Boden.

»Albenmagie!« flüsterte sie beeindruckt. »Also doch.«

Styrmirs Stimme klang flattrig, seine Züge unter der Gesichtstätowierung waren kreidebleich. »Ich konnte mich nicht mehr sehen... ich meine, ich hab’ an mir runtergeschaut, und ich war... einfach weg!«

»Unsichtbar«, murmelte Grimma zu sich selbst. Dann drehte sie sich zu Styrmir um. »Weißt du, was das ist?«

»Natürlich weiß ich das!« gab er giftig zurück, als hätte sie ihn in seiner Ehre gekränkt. »Eine Tarnkappe. Genau wie in den alten Legenden.« Und plötzlich wurde ihm klar, was er da gesagt hatte. »Dann ist es wahr«, flüsterte er atemlos.

Grimma nahm die Kapuze zaghaft von der Axtklinge und rieb das Silbergewebe zwischen den Fingern. »Was sonst, außer Magie, könnte so etwas erschaffen? Diese Glieder wurden nicht von Händen geformt.«

Styrmir lief aufgeregt im Raum auf und ab. »Vielleicht ist es gefährlich. Warum sonst, um alles in der Welt, hätte jemand dieses Ding einfach fortwerfen sollen?«

»Es wurde nicht fortgeworfen«, wies Grimma ihn zurecht. »Begreifst du das denn noch immer nicht? Die Zwerge, die nach dem Untergang ihrer Stadt hier vorbeizogen, haben ihren Göttern das Kostbarste geopfert, das sie besaßen. Sie waren verstört, völlig verzweifelt. Sie glaubten, nur so könnte es für sie noch eine Zukunft geben.« Grimma legte die Axt am Boden ab, krempelte die Kapuze auf und hielt sie sich über den Kopf.

»Du willst doch nicht -«

Sie grinste breit. »Du hast es doch gut überstanden, oder?«

»Trotzdem könnte es gefährlich sein.«

»Gefährlich war das, was wir im Nordland erlebt haben. Gefährlich war unsere Flucht durch den Tunnel und sogar das Tauchen durch das Wasserloch.« Sie setzte die Kapuze sanft auf ihr Haar und schob langsam die Seiten herunter. »Aber das hier? Wenn das die einzige Gefahr ist, mit der wir es von nun an zu tun haben, dann ist sie mir mehr als willkommen.«

Schon während ihrer letzten Worte war sie nicht mehr zu sehen. Ihre Stimme erklang aus vollkommener Leere. Sie machte einige Schritte durch den Raum und wäre fast gestolpert. Ohne den eigenen Körper sehen zu können, wurde jede Bewegung zu etwas Ungewohntem, Schwierigem. Styrmir stand da und drängte sie, sofort aufzuhören, doch Grimma beachtete ihn nicht. Mit jedem Schritt wurde sie sicherer. Schließlich beugte sie sich herab und hob ihre Axt vom Boden. Die Waffe schien sich in Luft aufzulösen. Zuletzt berührte sie Styrmir an der Schulter. Erschrocken fuhr er zusammen. Sein Fellwams blieb sichtbar, auch als Grimma ihre Hand darauf ruhen ließ. »Sie läßt nur den verschwinden, der sie trägt. Das ist großartig!«

Styrmir wollte nach ihr greifen, doch sie entzog sich ihm ohne jede Mühe. »Einen Moment noch«, bat sie. »Ich will mich erst daran gewöhnen.«

»Wer weiß, was du dir damit antust«, murrte er. »Vielleicht wird man krank davon, vielleicht hängt irgend etwas Ansteckendes daran.«

»Du bist doch kein Feigling, Styrmir, oder? Warum also jammerst du jetzt herum wie ein Waschweib?«

»Wenn du mich schon beleidigst, würde ich dir gerne dabei in die Augen sehen.«

Grimma seufzte und zog die Tarnkappe vom Kopf. »Du gibst keine Ruhe, was? Willst du es auch noch mal versuchen?«

Er hob abwehrend beide Hände. »Bleib mir damit nur vom Hals!«

»Du bist mir ein schöner Königsberater«, stichelte sie schmunzelnd. »Stürzt dich in den Kampf wie einer, der sein Leben lang nicht anderes getan hat. Aber vor solch einem Stück Silber läufst du davon.«

»Es ist Magie. Damit hat es selten etwas Gutes auf sich.«

Grimma stopfte die Tarnkappe in ihren Hosenbund. »Laß uns weitergehen. Wir können unterwegs überlegen, was wir mit der Kappe tun.«

»Du würdest gerne zurückgehen und es den Nordlingen zeigen, nicht wahr?« sagte Styrmir, als sie die Treppe zum Wasser hinabstiegen.

Grimma befestigte die Axt am Gürtel und watete in die nasse Kälte. »Vielleicht später«, zischte sie knapp, dann tauchte sie unter.

Styrmir war in der Tat ein guter Schwimmer. Obwohl Grimma zuerst ins Wasser gestiegen war, überholte er sie unter der Oberfläche und tauchte vor ihr durch das Verbindungstor zum Tunnel. Einen Moment später hatte Grimma ihn im Dunkeln aus den Augen verloren. Ein Anflug von Panik überkam sie, und sie wollte ihm übereilt hinterhergleiten. Doch im Gegensatz zu Styrmir hatte sie vor dem Untertauchen wegen der Aufregung über den Fund nicht auf ihre Atmung geachtet. Jetzt ging ihr die Luft aus, noch bevor sie das Tor passierte, und sie hatte keine andere Wahl, als so schnell wie möglich aufzusteigen. Hustend durchbrach sie die Oberfläche, immer noch innerhalb des Tempels. Sie rief sich zur Ruhe und wartete ungeduldig, bis ihr Atem besänftigt war. Dann tauchte sie abermals unter, durchschwamm das Tor und blickte aus der schwarzen Tiefe zur helleren Wasseroberfläche im Tunnel empor. Styrmir schwamm immer noch dort oben umher, sie konnte ihn von unten schemenhaft erkennen. Sicher machte er sich Sorgen um sie.

Gelassen stieg sie auf und überlegte, ob sie ihn von unten am Bein packen sollte, um ihn zu erschrecken. Sie schaute hinauf und sah, daß er ihr entgegenblickte. Sein Gesicht war unter Wasser, schaute nach unten und wirkte durch die Fluten bleich und verschwommen. Konnte er sie schon sehen? Grimma verwarf den Gedanken an ihren Streich. Was war überhaupt in sie gefahren? Sie waren keine Kinder mehr. Und nur, weil sie ihn mochte, mußte sie sich nicht aufführen wie ein junges Mädchen. Als nächstes würde sie sich noch Blumen ins Haar stecken!

Sie hatte die Oberfläche fast erreicht, als ihr etwas Sonderbares auffiel. Der Lichtschimmer, der von oben herabfiel, war dunkler geworden. Und er war rot.

Mit einem Aufschrei, der in einer Flut von Luftblasen erstickte, bremste Grimma ihren Aufstieg und ließ sich zurück in die Tiefe sinken. Die Luft ging ihr aus. Ihre Brust fühlte sich an, als müßte sie jeden Augenblick auseinanderplatzen.

Hoch über ihr trieb Styrmirs Körper in einer blutroten Aura aus Dämmerlicht. Seine Beine und Arme waren abgespreizt, vollkommen reglos. Sein Gesicht schaute immer noch nach unten, die Augen weit aufgerissen und dennoch blind. Dunkelrote Wolken wogten in pulsierenden Schüben um seinen Schädel.

Strampelnd, jetzt vollends in Panik, stieß Grimma gegen die Felswand. Ihre Hände tasteten umher, fanden den Rand des Tores, zogen sich hindurch. Auf der anderen Seite, im Vorraum des Tempels, raste sie dem Licht entgegen. Brach mit einem wilden Schrei durch die Oberfläche. Sog die Luft ein, bis sich ihre Lungen zu verkrampfen schienen.

Abgekämpft schleppte sie sich die vorderen Stufen empor ins Trockene, saß da, die Hände vors Gesicht geschlagen und dennoch unfähig, Tränen zu vergießen.

Sie hätte nicht jedes der Gefühle benennen können, die in ihr tobten, und doch war da eines, das alle anderen überwog, mehr noch als ihre Trauer um den Freund: Haß loderte wie ein verzehrendes Feuer in ihr, und als sie die Tarnkappe aus dem Hosenbund zog und über ihren Kopf streifte, da tat sie es mit keinem anderen Gedanken, als mit ihrer Hilfe so viele Leben wie möglich zu vernichten.

Sie packte mit unsichtbarer Hand ihre Axt, watete zurück ins Wasser und tauchte abermals hinab zum Tor. Sie stieß mit der Schulter gegen den Rand, weil sie kein Gefühl für ihre eigene Breite und Form hatte, schwamm trotzdem weiter und jagte auf der Tunnelseite der Wasseroberfläche entgegen. Sie war unsichtbar, gewiß, und doch würde das Wasser sie verraten. Ihre Gegner mußten Styrmir erwartet haben, als sein Kopf durch die Oberfläche stieß. Wahrscheinlich hatte er sie nicht einmal gesehen; sie hatten ihn erschlagen, bevor er sich noch die Nässe aus den Augen reiben konnte. Grimma konnte das gleiche passieren, unsichtbar oder nicht, falls einer der Feinde zuschlagen würde, sobald sich die Oberfläche bewegte. Aber sie hatte keine andere Wahl. Ihr einziger Wunsch war es, so viele Gegner wie möglich mit in den Tod zu nehmen. Selbst Thorhâl und das Volk vom Hohlen Berg waren in diesem Augenblick vergessen.

Das Licht kam näher und mit ihm Styrmirs Leichnam und die Klingen der Feinde. Grimma raste wie ein Geschoß empor, brach durch die Oberfläche und zog sich ins Trockene, ohne sich umzuschauen. Ihr einziger Vorteil war die Überraschung. Wenn das Staunen ihrer Gegner über das aufgewühlte Wasser erst in Begreifen umschlug, war es zu spät.

Grimma sprang auf, eine Explosion aus Wassertropfen, die von ihrem unsichtbaren Körper in aller Richtungen spritzten. Doch ihre Befürchtung, sich dadurch zu verraten, war unbegründet. Die neun Nordlandzwerge, die am Ufer des Wasserlochs standen, waren starr vor Staunen. Sie hatten noch immer nicht begriffen, weshalb sich das Wasser bewegte, als sei etwas von unten heraufgestiegen, obwohl nicht das geringste zu sehen war.

Grimma lachte, ein eisiges Lachen als Vorspiel des Tötens. Ungeachtet aller Regeln ehrenvollen Kampfes fuhr sie unter die Feinde, spaltete mit ihrer unsichtbaren Waffe Schädel, hieb Glieder entzwei und zertrümmerte Gesichter. Sie schlug nicht gezielt zu, ließ einfach die Axt umherwirbeln, als besäße sie eigenes, unheilvolles Leben. Blut sprühte aus Wunden und Stümpfen, Knochen splitterten und Innereien ergossen sich prasselnd über den Höhlenboden. Und noch immer gab es keine Gegenwehr. Innerhalb weniger Augenblicke lag ein halbes Dutzend Zwerge tot oder sterbend am Boden, und der Rest ergriff in heilloser Panik die Flucht. Grimma ließ keinen davonkommen. Unsichtbar stürmte sie ihnen hinterher und erschlug zwei von hinten. Der letzte ließ sich schreiend zu Boden fallen, rollte sich zusammen wie ein junger Hund und schlug die Hände vors Gesicht. Seine Waffe hatte er längst verloren, sie war gemeinsam mit seinem Verstand auf der Strecke geblieben. Einen Herzschlag lang erwog Grimma, ihn am Leben zu lassen, dann aber erinnerte sie sich an Styrmirs fahles Gesicht, das mit leeren Augen von der Wasseroberfläche in die Tiefe starrte, als suche er dort nach einem besonders schönen Fisch. Die Axt schien in ihrer Hand vor Erregung zu vibrieren. Der Zwerg am Boden konnte sie nicht sehen, zuckte nur zusammen, als die Doppelklinge seine Seite aufriß. Das Leben entwich wie Wasser aus einem leckgeschlagenen Schlauch, und seine Glieder zitterten noch, als der Tod längst an seiner Seite stand.

Grimma verharrte über dem Leichnam und fragte sich mit grotesker Sachlichkeit, weshalb ihr Herz plötzlich in ihren Ohren zu schlagen schien statt in ihrer Brust - da, sie konnte es doch ganz genau hören, ein dumpfes Klopfen, so schnell, daß es fast zu einem einzigen, langgestreckten Ton verschmolz. Sie blickte auf den Toten herab, ohne ihn wirklich zu sehen, als sei er unsichtbar wie sie selbst und mit ihm der Tunnelboden und alles, was darunter lag. Sie schaute geradewegs hinab zum glühenden Kern der Welt, ein gleißendes Licht, das ihr aus der Tiefe entgegenflammte und mit feurigen Armen nach ihr zu greifen schien. Sie mußte davor davonlaufen, jetzt gleich, so schnell sie nur konnte, weiter nach Süden, dem Ende ihrer Mission entgegen.

Dem Ende entgegen, dachte sie noch einmal, und der Gedanke erfüllte sie mit neuer, ungewohnter Ruhe.


Загрузка...