KAPITEL 6


»Grimma und ihr Trupp marschierten eilig wie der Wind, der durch den Tunnel streifte, und endlich, nach vielen, vielen Monden, kehrten sie zurück zum Hohlen Berg.« Alberich breitete in einer pompösen Geste die Arme aus, als wollte er selbst die Heimkehrer in die Arme schließen. »Die Krieger wurden unter großem Jubel empfangen, und König Thorhâl begrüßte Grimma wie seine eigene Schwester. Fest schloß er sie in seine Arme und dankte ihr für all die Mühen und Entbehrungen, die sie für das Volk der Zwerge auf sich genommen hatte. Grimma berichtete ihrerseits, was sie und ihre Männer im Nordland vorgefunden hatten. Stolz gab sie Kunde vom Kampf gegen die verhaßten Nordlinge, und wie es gelungen war, ihnen in der Ruinenstadt den Garaus zu machen. Thorhâl ernannte die Helden, die an Grimmas Seite gekämpft hatten, zu Heerführern, und Grimma selbst sollte fortan seine engste Beraterin sein. Nie zuvor war einer Kriegerin solche Ehre zuteil geworden.«

Mütterchen hatte Mühe, Alberich länger zuzuhören. Nicht, weil er sie langweilte. Der wahre Grund war, daß sie den Boden der Horthalle fast erreicht hatten. Nur noch wenige Stufen, dann würden sie die Oberfläche des Schatzes betreten können. Mütterchens Herzschlag raste beim Anblick des Goldes, und ihre Knie zitterten leicht. Das Räuberblut floß heiß wie eh und je in ihren Adern, und obgleich sie die Wegelagerei seit vielen Jahren aufgegeben hatte und mancher sie für eine Greisin halten mochte (wobei er sich besser hüten sollte, dergleichen auszusprechen), konnte sie ihre alten Instinkte nicht unterdrücken. Am liebsten hätte sie sich sämtliche Taschen mit den Reichtümern der Nibelungen vollgestopft.

Löwenzahn ging Ähnliches durch den Kopf, das sah sie ihm an. Seine schmalen Hunnenaugen waren starr auf die goldene Landschaft gerichtet; sie hatten den Blick einer Katze, die sich im nächsten Moment in totem Fisch wälzen würde.

Allein Geist hatte ihre Sinne ganz auf Alberichs Erzählung gerichtet. Gespannt hatte sie den Berichten von Grimmas Heldentaten gelauscht, und jetzt wollte sie auch den Schluß der Geschichte hören. »Wie ging es weiter, Alberich? Zogen die Zwerge wirklich ins Nordland?«

»O ja, das taten sie. Schon bald nach Grimmas Rückkehr begannen die Vorbereitungen, und wenige Wochen später nahmen Thorhâl und sein Volk Abschied vom Hohlen Berg. Sie verließen das Reich ihrer Väter durch den Zugang zur alten Zwergenstraße und ließen die Hallen und Kammern ihrer Heimat hinter sich. Doch kaum einem war dabei schwer ums Herz, denn alle wußten, daß sie im Norden etwas Besseres erwartete: die Freiheit vor allem, aber auch die Möglichkeit, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Grimma marschiert mit Thorhâl an der Spitze des Zuges, und obgleich niemals eine Nachricht aus dem Nordland gen Süden drang, glaube ich doch, daß sie in späteren Jahren selbst den Thron des Zwergenreiches bestieg, denn jedermann liebte sie und verehrte sie für ihre Taten.«

Löwenzahn zeigte mit einer weiten Geste auf den Hort. Er konnte seinen Unglauben ebensowenig verhehlen wie seine Begeisterung für den Schatz. »Und das alles ließen sie einfach zurück?«

»Sonst wäre es ja nicht mehr hier, oder?« gab Alberich beleidigt zurück. Schon der geringste Zweifel an seinem Heldenlied traf ihn zutiefst.

Die vier verließen der Reihe nach die Treppe und betraten die goldgleißende Oberfläche des Hortes. Es knirschte, als sich Diademe und Armreifen unter Löwenzahns enormem Gewicht verbogen. Mütterchen erwartete, daß Alberich den Halbhunnen unter viel Geschrei zurück auf die Treppe jagen würde, doch der Horthüter kümmerte sich nicht um die Zerstörung unter Löwenzahns Stiefelsohlen. Statt dessen schaute er über die Hügel und Täler der Hortlandschaft wie ein Fährtensucher. Bereits von der Treppe aus hatten sie den Hort nach Eindringlingen abgesucht, dabei jedoch niemanden entdeckt.

Sie entfernten sich einige Schritte vom Fuß der Treppe und erklommen eine doppelt mannshohe Erhebung aus goldenen Weinbechern und Tellern. Auch von dort aus war nichts zu sehen. Ihr erster Eindruck, daß der Hort unangetastet war, bestätigte sich. Allerdings hörten sie immer noch das Knirschen aus der Tiefe der Felswände, verzerrt vom Echo der Halle. Es gab keinen Zweifel, daß die räuberischen Zwerge ihrem Ziel immer näher kamen.

Alberich stampfte wütend mit einem seiner dürren Beine auf und verbeulte dabei einen Goldbecher. Er hob ihn auf, betrachtete ihn naserümpfend und schleuderte ihn zornig davon.

»Du gehst nicht besonders pfleglich mit deinem Hort um«, bemerkte Mütterchen.

»Ich gehe damit um, wie ich es für richtig halte«, gab er gereizt zurück. »Wenn du mir schon gute Ratschläge geben willst, sag mir lieber, wie du an der Stelle dieser Hundesöhne vorgehen würdest.«

»Ich bin kein Zwerg.«

»Du bist eine Räuberin. Und erzähl mir nicht, du hättest noch nie mit dem Gedanken gespielt, dich zu irgendeiner Schatzkammer durchzugraben.«

Mütterchen grinste. »Ich hab’s getan, mehr als einmal.«

»Mit dem Gedanken gespielt?« fragte Löwenzahn träge.

»Mich durchgegraben, Holzkopf!« Stolz überkam sie, als sie der alten Zeiten gedachte. »Damals, in den Tagen, als noch alles -«

»Besser war.« Alberich zupfte an seinem Bart. »Sag uns nicht wann, sondern lieber wie!«

»Mit Spitzhacke und Schaufel natürlich.«

Der Zwerg fuchtelte ungeduldig mit beiden Händen in der Luft umher. »Von oben, von der Seite oder -«

»Von unten«, sagte sie ruhig. »Aber ich gebe zu, das war keine gute Idee.«

»Was ist passiert?« fragte Geist mit spitzem Stimmchen.

»Wir schlugen ein Loch in die Decke unseres Stollens«, erzählte Mütterchen. »Wir hatten geplant, nur einen winzigen Durchbruch zu schaffen und die Goldstücke abfließen zu lassen wie Wasser aus einer Wanne. Aber wir hatten die Stärke der Decke überschätzt. Sie riß ein, sobald wir den ersten Spalt hineingeschlagen hatten, und der Schatz des Grafen ergoß sich über uns. Die Hälfte meiner Männer wurde vom Gold verschüttet, die meisten anderen gefaßt und in den Kerker geworfen.«

»Und du?« fragte Löwenzahn neugierig.

Mütterchen schenkte ihm ein diebisches Grinsen. »Ich habe eine neue Bande um mich geschart, die Burg des Grafen von außen gestürmt und sein Gold durch das offene Tor hinausgetragen. Zusammen mit seinem Kopf auf einer Lanze.«

Geist verzog das Gesicht, doch Mütterchen fügte hinzu: »Herrliche Zeiten waren das. Das Leben im Wald an der Spitze meiner Räuberschar, begehrt von jedem Mann im Umkreis von zwanzig Tagesritten und -«

»Nicht von mir«, warf Alberich sauertöpfisch ein. »Du bist ein Zwerg.«

»Sind Zwerge etwa keine Männer?« keifte er giftig.

Löwenzahn grölte vor Lachen. »Zwergling, Zwergling... Wenn Mütterchen wirklich eine solche Schönheit war, wie sie behauptet, hätte sie sich gewiß lieber mit einem richtigen Mann abgegeben als mit einem kleinwüchsigen... nun, mit einem Zwergling eben.«

Alberichs Stirn war gefurcht wie ein frischgepflügtes Rübenfeld. »Dachtest du da an jemanden Bestimmtes? Vielleicht an einen Hunnenbastard, dessen Hirn im kleinen Finger eines Zwerglings Platz finden würde?«

Mütterchen, keineswegs uneitel, kicherte über das Gerangel der beiden. Bevor es jedoch zu Handgreiflichkeiten kommen konnte, ging sie dazwischen. »Horcht, fällt euch etwas auf?«

Alle lauschten.

»Es hat aufgehört«, flüsterte Geist. Und tatsächlich: Das Knirschen war verstummt.

Mütterchen nickte. »Sie arbeiten nicht mehr.«

»Vielleicht sind sie müde geworden«, meinte Löwenzahn.

»Zwerge unterbrechen niemals eine begonnene Arbeit«, sagte Mütterchen und erntete zustimmendes Gegrummel von Alberich. »Sie arbeiten in Gruppen. Wenn die einen verschnaufen, machen die anderen weiter. So besagen es zumindest die alten Überlieferungen.«

»Und wenn sie aufgegeben haben?« schlug Löwenzahn vor.

Mütterchen tat den Einwurf mit einer barschen Handbewegung ab. »Du glaubst, sie sind den langen Weg vom Nordland hierhergekommen, um so kurz vor dem Ziel aufzugeben?«

Geist machte große Augen. »Dann denkst du, sie kommen tatsächlich von dort? Aus der Ruinenstadt?«

»Woher sonst?« Mütterchen blickte Alberich an, doch er hüllte sich in Schweigen. Dann fügte sie hinzu: »Nur daß es vielleicht heute keine Ruine mehr ist. Immerhin ist Alberichs Volk ins Nordland gezogen, um sich dort niederzulassen.«

»Aber wenn das wahr ist«, sagt Löwenzahn nachdenklich, »wenn die Nachkommen von Alberichs Vorfahren zurückkehren, um den Hort für sich zu beanspruchen, dann hätten wir es ja -«

»Mit einem ganzen Volk zu tun«, stimmte Mütterchen zu, »und nicht nur mit einer kleinen Bande.«

Geist schaute unglücklich von einem zum anderen, während Löwenzahn entschlossen seinen Zweihänder von der Schulter nahm und vor sich in den Goldboden rammte.

Alberich schüttelte langsam den Kopf. »Es ist nicht das Volk vom Hohlen Berg, das zurückkehrt«, sagte er fest.

»Woher willst du das wissen?« fragte Mütterchen.

»Gestern nacht, als ich dem ersten Zwerg begegnet bin, habe ich Trommeln gehört.«

»Und?«

»Zwerge schlagen keine Trommeln.«

»Vielleicht haben sie in zweihundert Jahren ihre Gewohnheiten geändert«, entgegnete Mütterchen schulterzuckend.

»Nein. Niemals. Zwerge schlagen keine Trommeln«, wiederholte er stur.

»Wer dann?« fragte Geist.

Alberich holte tief Luft. »Nordlinge.«

Mütterchen musterte ihn überrascht. »Du glaubst, Nordlinge sind in der Nähe? Hier, im Hohlen Berg?«

Löwenzahn kratzte sich am Kopf. »Ich dachte, diese Grimma hat alle erschlagen?« Niemand hielt es für nötig, darauf zu antworten.

Mütterchen spann Alberichs Gedanken weiter. »Wenn sich irgendwo dort unten tatsächlich Nordlinge herumtreiben, was hat es dann mit den Zwergen auf sich, die uns angegriffen haben? Ich dachte, sie und die Nordlinge sind Todfeinde?«

Alberichs Gesicht war so grau geworden wie sein Bart. »Sie sind ihre Sklaven. Sie arbeiten und kämpfen für sie.«

»Zwerge als Sklaven?« fragte Löwenzahn erstaunt.

Aus Mütterchens Blick sprach mit einemmal Argwohn. »Alberich«, sagte sie in rüdem Tonfall, »du hast uns doch die Wahrheit versprochen. Bist du uns vielleicht noch etwas schuldig?«

Der Zwerg wand sich unter ihrem strafenden Blick wie ein Kind, das mit dem Finger im Eingemachten ertappt worden war. Er rang sichtlich nach Worten.

Geist trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Kann mir irgendwer erklären, was das alles zu bedeuten hat?«

Alberich schaute auf und sah dem Moosfräulein geradewegs in die hellblauen Augen. »Es bedeutet«, sagte er dumpf, »daß meine Ahnen im Nordland nicht das gefunden haben, was sie sich erhofften.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Oder daß sie niemals dort angekommen sind.«



Das Knirschen begann von neuem, und nun bemerkten alle mit Schrecken, daß es lauter geworden war. Auch die Richtung ließ sich jetzt ausmachen. Besser: die Richtungen. Denn die Laute drangen an zwei entgegengesetzten Stellen aus dem Schatz empor.

»Sie nehmen uns in die Zange«, stieß Löwenzahn aus und schaute sich alarmiert um.

»Nicht uns«, sagte Mütterchen. »Den Hort. Und mit ziemlicher Sicherheit planen sie noch weitere Vorstöße. Um all das Gold von hier fortzubringen, werden sie mehr als nur zwei Wege brauchen.«

Geist nickte. »Die Zwerge, die das Moos getötet haben, drüben in der Wasserhöhle...«

»Nur ein Trupp von vielen«, vermutete Mütterchen. »Wahrscheinlich sind sie schon überall und treiben aus allen Richtungen Stollen hierher. Und sie sind unglaublich schnell!«

»Zwergenwissen«, murmelte Alberich.

Mütterchen sah ihn mit erhobener Braue an. »Was meinst du damit?«

»Sie benutzen nicht einfach nur Hammer, Meißel und Spitzhacke«, erklärte Alberich, »sondern die alten Minenbohrer meines Volkes.«

»Könntest du dich wohl etwas klarer ausdrücken?« verlangte Mütterchen ungeduldig.

»Wir Zwerge graben uns in die Berge, seit die Götter die Welt zur Scheibe formten und dabei die ersten Gebirge schufen. Schon vor unzähligen Generation, als noch die frühen Völker über die Gipfel wandelten, begannen einige unserer klügsten Köpfe mit dem Bau gewisser Hilfsmittel.«

»Magie?« entfuhr es Löwenzahn erschrocken. Dann fiel ihm ein, daß er damit Geist beleidigt haben könnte. Doch das Moosfräulein schaute nur Alberich an und hörte aufmerksam zu.

»Keine Magie«, widersprach der Horthüter kopfschüttelnd. »Uraltes Wissen, zu etwas Neuem geformt. Viele kluge Einfälle, zusammengebracht zu etwas, das es vorher nicht gab.«

»Du sprichst in Rätseln«, sagte Mütterchen unwirsch.

»Bei allem Gold des Nordlandes!« fluchte Alberich. »Wie soll ich es denn sonst erklären?«

»Wie sehen diese Hilfsmittel aus?« fragte Geist.

»Sie sind aus Holz und Stahl. Vor allem aus Stahl, vielfach gehärtet, stärker als die beste Klinge und so scharf, daß schon ein Blick darauf verletzen kann.«

»Dein Stolz auf die Errungenschaften deiner Ahnen ehrt dich«, sagte Mütterchen. Schärfer fügte sie hinzu: »Aber wir haben nicht mehr viel Zeit.«

»Die meisten haben Räder«, erwiderte Alberich säuerlich, »andere riesige Kessel. Vorne sind Spitzen, die sich drehen und den Fels wie Butter durchdringen.«

Noch immer konnte sich keiner vorstellen, wie solch ein Ding aussehen sollte.

Mütterchen horchte auf das unheimliche Knirschen und wandte sich abermals an Alberich: »Haben deine Vorfahren diese seltsamen Hilfsmittel mitgenommen, als sie von hier fortgingen?«

Der Horthüter schüttelte den Kopf. »Sie sind viel zu schwer, um sie einen so langen Weg zu schieben.«

»Also gibt es noch welche davon hier im Berg?«

»Gewiß.«

Mütterchen packte ihn an den Schultern. »Wo genau sind diese Geräte?«

»Einige stehen noch in den alten Minen, dort, wo sie zuletzt eingesetzt wurden. Aber die meisten befinden sich in einem großen Saal in der unteren Ebene.«

»Wie weit ist das von hier?« fragte Mütterchen.

Alberich dachte nach. »Nun, erst einmal ein halber Tag bis hoch zur Plattform. Vom Eingang der Horthalle aus ist es dann nicht mehr allzu weit - zumindest im Vergleich zum Aufstieg.«

»Du willst wirklich dorthin und dir dieses alte Gerümpel ansehen?« fragte Löwenzahn Mütterchen verwundert.

Die alte Räuberin verzog das Gesicht. »Alberich hat gesagt, diese Geräte sind zu schwer, um sie aus dem Nordland hierher zu schaffen. Wenn die Nordlinge und ihre Zwergensklaven sie dennoch einsetzen, muß das bedeuten -«

»Daß sie von hier stammen«, führte Alberich den Satz erschrocken zu Ende. »Hier aus dem Berg!«

Mütterchen nickte grimmig. »Die Nordlinge müssen als erstes diesen Saal aufgesucht haben, von dem du gesprochen hast. Das heißt, daß zumindest einige unter ihnen sind, die sich hervorragend im Hohlen Berg auskennen. Und es heißt weiterhin, daß es von diesem Saal aus höchstwahrscheinlich einen direkten Zugang zur alten Zwergenstraße gibt.«

Alberich legt den Kopf schief. »Das ist nicht der Zugang, den ich kenne.«

»Dann verrat’ uns endlich, wo der Haupteinstieg liegt!« fuhr Mütterchen ihn scharf an.

Alberich zeigte auf seine Fußspitzen. »Ihr steht gerade darauf.« Mütterchen riß die Augen auf, und der Zwerg grinste verlegen. »Der Zugang zum Tunnel liegt unter dem Hort, und niemand wird ihn je von unten öffnen können. Thorhâl ließ einen Weg durch das Gold graben, um sein Volk hindurchzuführen. Anschließend wurden die Stützen zum Einsturz gebracht. Der Schatz hat den Zugang für immer verschüttet.«

»Bis wieder einer kommt und gräbt«, sagte Löwenzahn.

»Es gibt kein Zwergenvolk mehr im Hohlen Berg«, entgegnete Alberich. »Einer allein, selbst eine Schar von fünfzig oder hundert Arbeitern müßte jahrelang graben, um das Tor freizulegen.«

Mütterchen zog scharf die Luft ein. »Also haben die Nordlinge von ihren Zwergensklaven einen neuen Stollen vom Tunnel aus zu diesem Saal graben lassen, in dem die Minenbohrer aufbewahrt werden. Sie wußten, daß sie den Hauptzugang nicht auf normalem Wege öffnen können, darum versuchen sie es nun auf andere Weise. Sie haben die Bohrer hinab in die Zwergenstraße geschafft und treiben sie nun von unten durch die Tunneldecke geradewegs in den Boden der Horthalle. Sie öffnen das Tor mit Gewalt.«



Der Weg die Treppe hinauf beraubte sie fast ihrer letzten Kräfte. Auf dem oberen Drittel des Weges trug Löwenzahn Geist auf seinen Schultern, das Moosfräulein konnte vor Erschöpfung kaum mehr sprechen. Alberich und Mütterchen stöhnten und schimpften, doch als Löwenzahn sich erbot, auch die Räuberin zu tragen, lehnte sie beleidigt ab.

Diesmal gab es unterwegs keine Geschichte, die ihnen die Zeit vertrieb, und so wurde der Marsch zu einer eintönigen, kräftezehrenden Tortur. Sie hatten gehofft, am Grunde der Horthalle auf ihre Feinde zu stoßen und den Kampf ein für allemal zu entscheiden. Statt dessen aber hatte sich der Abstieg als sinnlos erwiesen, und nicht nur Mütterchen schäumte darüber vor Wut.

Dennoch, als sie endlich oben ankamen, war jeglicher Zorn verraucht. Mütterchen war froh, daß sie sich noch auf den Beinen halten konnte. Sie hatten keine andere Wahl, als auf der Plattform eine Weile zu verschnaufen. Müdigkeit stellte sich ein, denn über die Ufer des Rheins war mittlerweile tiefste Nacht hereingebrochen. Geist hatte ein wenig auf Löwenzahns Schultern geschlafen und wirkte von allen noch am muntersten. Auch der Halbhunne hielt sich bemerkenswert gut, während Alberich und Mütterchen tapfer gegen ihre Schläfrigkeit ankämpften. Doch Mütterchen wußte: Wenn sie noch eine Weile aushielten, würde der schlimmste Punkt überschritten sein. Danach würden ihre Körper für einen neuen Kräfteschub sorgen.

Alberich führte sie vom Portal der Horthalle aus einen Gang hinab in die verlassenen Zwergenminen. Die grob gehauenen Stollen waren erstaunlich breit und wurden von hölzernen Stützbögen gehalten. Alberich erklärte, daß die meisten Stollen in Form eines Sterns auseinanderliefen, in dessen Zentrum sich die Halle mit den alten Gerätschaften der Zwerge befand.

Gelegentlich blieben die vier Gefährten stehen und lauschten auf die Trommeln der Nordlinge, doch nie hörten sie etwas anderes als ihren eigenen hastigen Atem und das dumpfe Knirschen der Minenbohrer in der Tiefe des Berges.

»Dort vorne«, sagte Alberich, als der Bergwerksgang steiler nach unten führte. In weiter Ferne mündete er in eine breitere Grotte. »Das ist die Kreuzung, an der die meisten Stollen zusammenlaufen. Hinter einem Tor liegt die Halle der Minenbohrer.«

Vorsichtig huschten sie weiter, eng an die Wände gepreßt, Schwerter und Goldgeißel fest in den Händen. Nur Geist war unbewaffnet. Sie hielt sich eng hinter Löwenzahn.

Sie hatten die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ihnen Lärm entgegentönte.

»Du hattest recht«, zischte Alberich Mütterchen zu. »Sie verschieben die Bohrer.«

Mütterchen horchte aufmerksam. Es war ein lautes Knirschen wie von Stein, der unter riesigen Rädern zermahlen wurde. Die Bohrer mußten gewaltig sein. Sie fragte sich, ob nicht doch ein wenig der alten Albenmagie im Spiel gewesen war, als diese Geräte erschaffen worden waren.

Sie erreichten die Kreuzung und blickten aus ihren Verstecken hinter den Felskanten durch ein breites Tor, größer noch als das der Horthalle. Der Saal dahinter war niedrig, aber weitläufig. Zu beiden Seiten standen in langen Reihen die Minenbohrer. Sie sahen aus wie Drachen aus Holz und Stahl, etwa zweimal so hoch wie ein Pferd und ebenso lang, gebuckelte Formen, die auf brusthohen Rädern ruhten. An den Vorderseiten waren Rammböcke angebracht - zumindest hielt Mütterchen sie dafür -, deren Enden in stählernen, vielfach gewundenen Spitzen ausliefen. Nordlinge oder Zwerge waren nirgends zu entdecken. Der Lärm hatte seine Quelle offenbar im hinteren Teil der Halle, der von hier aus nicht einzusehen war.

»Wie sollen wir vorgehen?« fragte Mütterchen.

Löwenzahn tätschelte zärtlich den Knauf seines Zweihänders. »Wir gehen rein. Wir erschlagen sie. Wir haben gewonnen.«

»Sehr klug«, giftete Alberich. »Wirklich sehr, sehr klug.«

Mütterchen zuckte mit den Achseln. »Wie es aussieht, haben wir gar keine andere Möglichkeit, oder?«

»Aber wir sind nur zu viert«, gab Alberich zu bedenken.

»Vergiß nicht, daß wir Geist bei uns haben.« Mütterchen warf dem Moosfräulein einen stolzen Blick zu. »Mit ihren Fähigkeiten sind wir kaum zu schlagen. Sie hat bewiesen, daß sie besser kämpft als jeder andere von uns.«

Geist schaute betroffen zu Boden. »Kämpfen, du liebe Güte! Ich bin doch keine Kriegerin!«

»Immerhin hast du unser aller Leben gerettet«, erwiderte Mütterchen.

»Das war...«, begann Geist, verstummte kurz und begann von neuem. »Das war nicht mein Verdienst. Es ist einfach geschehen, versteht ihr? Ich wußte doch gar nicht, was ich da tat. Es waren die Pflanzen. Es war das Moos.«

Löwenzahn fuhr sich durch seine schwarze Haarmähne. »Das begreife ich nicht.«

Geist tapste unruhig von einem Fuß auf den anderen. Sie sah aus, als kämpfte sie mit den Tränen. »Ich habe die ganz Zeit darüber nachgedacht. Ich glaube, ich weiß jetzt endlich, was geschehen ist.«

»Es ist die Magie des Drachen in dir«, sagte Alberich ungeduldig. Immer wieder schaute er sich besorgt zum Tor der Halle um.

»Laß sie ausreden!« fuhr Mütterchen ihn an und tätschelte Geists bemoosten Handrücken.

»Alberich hat recht«, bestätigte Geist, »es ist die Magie. Aber nicht immer habe ich Einfluß darauf. Was in dieser Grotte geschehen ist, das war nicht mein Tun. Oder zumindest nicht meines allein.« Sie rang verzweifelt nach Worten. Mütterchen lächelte ihr beruhigend zu, während Alberich immer ungeduldiger wurde. »Das Moos an den Wänden, die Pflanzen in dieser Höhle, sie haben durch mich gewirkt. Ich war ihre Waffe. Die Zwerge hatten Teile des Mooses vernichtet und damit die Pflanzen gegen sich aufgebracht. Ihr Zorn hat mich verwandelt, hat mich zu dem gemacht, was ihr gesehen habt, diesem Ding an der Decke, das mit seinen Ästen tötet wie Löwenzahn mit seinem Schwert.« Nun weinte sie wirklich, doch als Mütterchen sie tröstend in den Arm nehmen wollte, schüttelte das Moosfräulein den Kopf. »Ich trage das Erbe des Drachen in mir, aber ich weiß nicht, ob es wirklich ein Segen ist. Ich habe keine Macht darüber. Es tut mit mir, was es will, die Pflanzen tun mit mir, was sie wollen. Ja, vielleicht könnte ich kämpfen, vielleicht könnte ich noch mehr Zwerge töten, sogar einige dieser Nordlinge. Aber keiner fragt mich, ob ich töten will. Das Moos an den Wänden hat es gewollt, und es hat mich dazu gebracht, seinem Willen zu gehorchen. Aber was, wenn es dort, wo wir auf unsere Gegner treffen, kein Moos gibt, keine Pflanzen, die diese Mächte in mir steuern?« Sie schüttelte bedrückt den Kopf. »Ich allein kann es nicht.«

Mütterchen versuchte nachzufühlen, was tatsächlich in Geist vorging, welche Qualen sie litt. Alberich aber war ein Mann der Tat, und für ihn zählte im Augenblick nur die Vertreibung der Nordlinge. »Heißt das«, fragte er unwirsch, »solange kein Grünzeug in der Nähe ist, kannst du nichts tun, als dich von Löwenzahn auf den Schultern herumtragen zu lassen?«

»Alberich!« zischte Mütterchen warnend. Auch Löwenzahn starrte den Zwerg zornig an und wollte gerade etwas sagen, als Geist ihm zuvorkam:

»Das heißt es, ja. Ich bin für euch ohne jeden Nutzen.«

»Ohne Nutzen?« wiederholte Mütterchen fassungslos. »Mein Gott, Kindchen, wir sind Freunde! Seit wann wird sowas an Nutzen gemessen?«

Geist hob die Schultern. »Weiß nicht. Ich hatte noch nie Freunde.« Bis vor zwei Jahren hatte sie völlig vereinsamt im Wald gehaust, und jeder der drei anderen wußte das. Sogar Alberichs Gesichtsausdruck wurde plötzlich weich und milde, und er trat auf das Moosfräulein zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Verzeih mir. Ich war aufgeregt. Wir werden bald gegen einen Feind antreten, der vor zweihundert Jahren mein ganzes Volk unterworfen hat. Meine Worte waren unbesonnen.«

»Allerdings«, rügte Mütterchen ihn scharf. Zu Geist sagte sie sanfter: »Wir werden es auch ohne deine Kräfte schaffen, verlaß dich darauf. Nicht wahr, Löwenzahn?«

Der Halbhunne grinste schief. »Aber sicher.«

»Dann laßt uns gehen«, entschied Mütterchen. »Willst du lieber hierbleiben, Kindchen?«

Geist schüttelte vehement den Kopf. »Ich komme mit. Ich will bei euch sein.«

Damit war ihr Vorgehen beschlossene Sache. Ohne länger zu zögern, schlichen sie über die leere Stollenkreuzung und durch das Tor der Halle. Der Lärm war gedämpfter geworden, und bald erkannten sie auch den Grund.

Am entgegengesetzten Ende der Halle klaffte eine Öffnung in der Wand, grob aus dem Fels geschlagen, mit gezackten Rändern wie gewaltige Kiefer. Gerade noch sahen die Gefährten in diesem Schlund einen der Minenbohrer verschwinden, geschoben von einem halben Dutzend Zwerge. Wachen gab es keine in der Halle, offenbar setzten die Nordlinge jeden ihrer Lakaien für die Grabungsarbeiten ein. Das Knirschen der Räder wurde leise, dann hatte der abschüssige Stollen jenseits der Öffnung das schwere Bohrgerät und die sechs Zwerge verschluckt.

Mütterchen und die anderen schauten sich fasziniert um. Mindestens zehn weitere der plumpen Geräte standen noch in zwei Reihen zu beiden Seiten der Halle. Die riesigen Rammböcke mit ihren Korkenzieherspitzen wirkten aus der Nähe viel gefährlicher als von weitem.

Mütterchen hatte nicht die geringste Ahnung, wie die Minenbohrer arbeiteten, doch ihre Achtung vor Alberichs Vorfahren wuchs. Der Zwerg wiederum schien das Staunen seiner Freunde zu genießen.

Nach einem Augenblick zogen sich die Gefährten in den Schatten eines der Bohrer zurück.

»Wie viele davon gab es hier ursprünglich?« flüstert Mütterchen.

»Sechzehn«, erwiderte der Horthüter leise. »Dazu noch jene, die damals in den unfertigen Stollen stehengeblieben sind.«

»Die werden wahrscheinlich noch an Ort und Stelle sein. Es dürfte einfacher sein, sich hier zu bedienen, als diese Kolosse im ganzen Berg zusammenzusuchen. Das bedeutet, daß fünf wahrscheinlich schon im Einsatz sind, dazu bald noch ein sechster.«

»Die Zwerge in der Moosgrotte hatten aber nur Spitzhacken dabei«, sagte Geist.

»Zu wenig Platz für einen der Bohrer«, mutmaßte Mütterchen. »Vielleicht versuchen sie es auf unterschiedlichen Wegen. Weiß der Teufel, was in den Köpfen der Nordlinge vor sich geht. Sicher scheint mir aber zu sein, daß fünf Tunnel bereits in Arbeit sind. Zwei Bohrer haben wir in der Horthalle gehört, was hoffentlich bedeutet, daß die drei anderen noch zu weit entfernt waren.«

»Und nun?« fragte Alberich. »Gehen wir endlich hinterher und erschlagen die Bastarde?«

»Immer mit der Ruhe«, beschwichtigte ihn Mütterchen. Sie deutete auf den Bohrer, neben dem sie sich versteckten. »Weißt du, wie man mit diesen Dingern umgeht?« fragte sie Alberich.

Der Horthüter nickte, ohne zu begreifen, auf was sie hinauswollte.

Mütterchen blickte zu der Öffnung, die die Nordlandzwerge in die Hallenwand gebrochen hatten. Niemand war zu sehen.

Hastig erklärte sie den anderen ihren Plan. Alberich blieb argwöhnisch (vermutlich, weil er nicht selbst darauf gekommen war), doch Löwenzahn zeigte sich begeistert, vor allem, weil das Gelingen von Mütterchens List allein von ihm abhing. Er liebte es, sich vor seinen Freunden zu beweisen, und wie es aussah, würde sich ihm bald die beste Gelegenheit dazu bieten.



Die sechs Nordlandzwerge hatten ihre Last gerade aus dem Stollen hinaus in die Weite des Tunnels geschoben, als hinter ihnen Lärm laut wurde. Ihr Köpfe ruckten herum. Aus ihren Kehlen löste sich ein vielstimmiger Aufschrei, als sie sahen, was hinter ihnen den Stollen herabdonnerte - geradewegs auf sie zu.

Der Minenbohrer rollte mit enormer Geschwindigkeit aus dem Stollenausgang, rammte seine Spitze in den Rücken des vorderen Gerätes und riß ihn auseinander. Die Zwerge, die sich zwischen den beiden Holz- und Stahlgiganten befanden, versuchten sich mit weiten Sprüngen in Sicherheit zu bringen, doch nur zweien gelang es. Die vier anderen wurden zwischen den schweren Geräten zerquetscht, und ihr Kreischen verhallte abrupt. Der vordere Minenbohrer brach in Stücke, sein Rammbock löste sich aus der Verankerung und polterte mit einem ohrenbetäubenden Krachen zu Boden.

Im Stollenausgang standen die vier Gefährten, bewaffnet und kampfbereit mit Ausnahme von Geist. Löwenzahns Kleidung war durchnäßt vom Schweiß, und seine Klinge zitterte leicht. Den riesigen Minenbohrer ganz allein den Stollen hinabzuschieben war selbst für ihn fast zuviel gewesen. Doch Geists aufmunterndes Lächeln hatte ihm immer dann neue Kraft gegeben, wenn er geglaubt hatte, aufgeben zu müssen. Irgendwann hatte das Gerät in dem abschüssigen Gang durch sein eigenes Gewicht soviel Schwung entwickelt, daß die Mühsal erträglicher wurde. Als der Minenbohrer schließlich hinaus auf die Zwergenstraße gerollt war, war das beinahe ohne Löwenzahns Zutun geschehen.

»Grundgütiger«, brummte Mütterchen jetzt, als sie hinaus in den Tunnel blickte, »seht euch das an!«

Sie befanden sich kurz vor dem Ende der Zwergenstraße. Fünfzig Schritte weiter südlich erhob sich die Geröllrampe, die zum einstigen Zugang hinaufführte. An ihrem Fuß befand sich ein mannshoher Haufen aus Gold und Geschmeide, Teile des Hortes, die beim Schließen des Tores vor zweihundert Jahren hinabgefallen waren; die Nordlinge hatten sie aufsammeln lassen, damit nicht das kleinste Stück verlorenging. Fünf Stollen, das Werk der Minenbohrer, schnitten rund um die Rampe ins Gestein der Tunnelwände. Anders als Mütterchen erwartet hatte, versuchten die Nordlinge nicht, die Bohrer geradewegs durch die riesige steinerne Falltür in der Decke zu treiben. Offenbar waren die Geräte zu schwer, um sie in derart steilem Winkel anzusetzen. Statt dessen führten die fünf Stollen mit vergleichsweise sanfter Steigung in die Seitenwände der Zwergenstraße. Die plumpe Form der Bohrer machte es unumgänglich, die Tunnel wie Spiralen nach oben zu schrauben, nicht zu steil, damit die Zwerge, die die Bohrer schoben, nicht unter deren Last zerdrückt wurden. Nur deshalb dauerten die Arbeiten so lange, und allein diesem Umstand hatten die Gefährten es zu verdanken, daß die Feinde noch nicht bis zum Hort vorgedrungen waren.

»Die müssen schon seit einer halben Ewigkeit hier unten zugange sein«, entfuhr es Alberich atemlos.

Mütterchen wollte etwas erwidern, doch im selben Augenblick entdeckte sie vier Nordlinge, die, angelockt vom Lärm der kollidierenden Minenbohrer, aus einem der Stollen gelaufen kamen. Die Krieger trugen Kleidung aus Fell und Eisenschalen, jener Löwenzahns nicht unähnlich. Ihre vor dem Gesicht geschlossenen Helme hatten schmale Augenschlitze, obenauf erhoben sich mächtige Hörnerpaare. Alle vier waren mit wuchtigen Breitschwertern bewaffnet.

»Zurück in den Stollen!« wies Mütterchen die anderen an. Die Freunde zogen sich zurück und beobachteten aus ihrem Versteck, wie die vier Krieger sich zögernd dem zerschmetterten Minenbohrer näherten. Das zweite Gerät, jenes, das Löwenzahn geschoben hatte, stand über den Trümmern wie eine triumphierende Urzeitbestie. Die beiden überlebenden Zwerge kauerten verletzt am Boden, der eine schleppte sich gerade zurück zu den Resten des Bohrers, um nach seinen toten Kameraden zu sehen.

Die Nordlinge erreichten die Trümmer. Einer stieß den kriechenden Zwerg grob mit dem Fuß zur Seite, ein anderer lief eilig davon und verschwand in einem der Stollen. Mütterchen fluchte im stillen. Sobald der Krieger seine Befehlshaber über den Vorfall in Kenntnis gesetzt hatte, würde es hier unten von Nordlingen nur so wimmeln. Sie hatte gehofft, ihre Gegner einzeln oder in kleinen Gruppen überraschen zu können; mit einer ganzen Heerschar aber würden sie es schwerlich aufnehmen können.

»Sie sind nur noch zu dritt«, zischte sie den anderen entschlossen zu. »Jetzt oder nie!«

Und schon stürmten Löwenzahn und Alberich vor, Mütterchen lief hinterher. Geist blieb am Eingang des Stollens zurück und schaute sich angestrengt nach einer Spur von pflanzlichem Leben um, irgend etwas, das ihr helfen würde, die Mächte, die in ihr schlummerten, aufzuwecken und einzusetzen. Doch hier unten gab es nicht einmal Schimmelpilze.

Alberich ließ die Goldgeißel klirrend über seinem Kopf kreisen, aber Löwenzahn war schneller. Seine Erschöpfung war geschwunden. Mit weiten Schritten raste er auf den ersten Nordling zu. Löwenzahn war ihm an Größe ebenbürtig, dabei sogar noch eine Spur breitschultriger. Einem Zwerg mußten die Männer aus dem Nordland wie Riesen erscheinen, doch für den Halbhunnen waren sie gleichberechtigte Gegner.

Löwenzahn mochte nicht besonders gewitzt sein, und manchmal stand seine Verliebtheit klaren Entscheidungen im Wege, doch mit dem Schwert vermochte er umzugehen wie kaum ein anderer. Der Nordling riß seine Waffe hoch und parierte Löwenzahns Hieb im letzten Moment, geriet dabei aus dem Gleichgewicht und stolperte nach hinten. Bevor Löwenzahn nachsetzen und zustoßen konnte, sprang bereits ein zweiter Nordlandkrieger herbei und attackierte ihn mit einer Serie heftiger Schläge und Stiche. Kurz sah es aus, als würde Löwenzahn unterliegen, doch dann gelang ihm ein Ausbruch aus seiner Defensive, er sprang vor, führte einen Stoß nach dem Hals des Gegners, nutzte dessen Abwehrschlag und zog sein Schwert in einer Drehung hinab zur Hüfte des Nordlings. Die Klinge des Zweihänders fuhr durch Fellwams und Fleisch des Kriegers, der Mann schrie unter seinem Helm dumpf auf, dann tötete Löwenzahn ihn mit einem zweiten Hieb in die Seite.

Alberich schlug mit der Goldgeißel auf den dritten Nordling ein. Die vergoldeten Stachelkugeln krachten gegen den Brustpanzer des Kriegers, brachten ihn jedoch eher aus der Fassung als in echte Bedrängnis. Bald schon ließ der Mann sein Schwert herumwirbeln und drang damit auf den Horthüter ein. Die Geißel war eine hervorragende Waffe zum Angriff, doch zur Parade war sie denkbar ungeeignet. Alberich fing zwei Schläge mit dem Stahlgriff ab, mußte dann jedoch mehrere Schritte zurückweichen. Im selben Augenblick sprang Mütterchen an seine Seite. An Kraft hatte sie dem Nordling nichts entgegenzusetzen, doch was das Geschick mit der Klinge anging, war sie ihm durchaus gewachsen. Schneller, als ihr greises Äußeres es vermuten ließ, tauchte sie unter einem Angriff hinweg und rammte dabei ihre Spitze ins rechte Bein des Kriegers, oberhalb seines Knies. Der Mann brüllte vor Zorn und Schmerz, fegte Mütterchen mit einem wütenden Handschlag beiseite, holte aus, um sie zu erschlagen - und wurde von Alberichs Goldgeißel kraftvoll am Helm getroffen. Der eiserne Gesichtsschutz zerriß unter dem Anprall der ersten Kugeln wie Papier, die Stacheln der nächsten zerfetzten sein Nase und Augenpartie. Mütterchen stieß noch im Liegen ihr Schwert nach oben und tötete den Nordling mit einem geraden Stich in die Eingeweide.

Derweil hatte sich Löwenzahn jenem Nordling zugewandt, der unter seinem ersten Angriff zu Boden gestürzt war. Das Duell zwischen beiden war schnell entschieden. Löwenzahns Zweihänder fuhr mit unglaublicher Kraft in die Schulter des Mannes, schnitt schräg hinab bis in die Brust. Der Schlag fällte den Nordling wie eine Handpuppe, aus der ein Puppenspieler seine Finger zieht; stumm und leblos sackte der Krieger zusammen.

Mütterchen packte einen der beiden verschüchterten Zwerge am Kragen. »Wie viele von diesen Kerlen gibt es hier unten? Los, rede!«

Der Zwergenarbeiter versuchte vergeblich, Worte zu formen. Der Schreck saß ihm zu tief in den Knochen. Wahrscheinlich hatte er nie zuvor erlebt, daß einer seiner Herren erschlagen wurde, geschweige denn gleich drei auf einmal.

Alberich drängte Mütterchen zur Seite. »Laß mich das machen.« In der kehligen, hastigen Sprache seines Volkes redete er auf den Zwerg am Boden ein, und es vergingen nur Augenblicke, da erhielt er eine Antwort.

»Dreißig Nordlinge«, übersetzte Alberich für die anderen, »und etwa sechzig Zwerge.«

»Neunzig!« entfuhr es Mütterchen. Sie war kreidebleich geworden. Auch Löwenzahn verzichtet auf aufmunternde Parolen; eine solche Zahl erschreckte selbst ihn.

Geist trat neben sie. »Es gibt hier unten keine Pflanzen. Nicht einmal eine Spur davon«, sagte sie in einem Tonfall, als sei es nötig, sich dafür zu entschuldigen.

Aus dem Bohrerstollen, in dem der vierte Nordling verschwunden war, erklangen jetzt Geräusche. Das Schaben von Schritten, Befehle in einer fremden, unverständlichen Sprache. Noch war niemand zu sehen.

»Wenn wir den Bohrer hineinschieben«, begann Löwenzahn und deutete auf den unversehrten Koloß, aber Mütterchen unterbrach ihn: »Keine Zeit. Außerdem könntest selbst du ihn nicht gegen einen Ansturm der Nordlinge halten.« Ihre Gedanken überschlugen sich. »Alberich, frag den Zwerg, welche der beiden Stollen zu jenen Bohrern führen, die als erste zur Horthalle vorstoßen werden.«

Alberich tat es und wies bald darauf auf zwei der Stolleneingänge. Jener, in dem die Nordlinge immer näher kamen, war nicht darunter. Trotzdem bestand nicht der geringste Zweifel, daß sich auch in den übrigen feindliche Krieger aufhielten, ganz abgesehen von Dutzenden von Zwergen.

Mütterchen eilte zu einem der Eingänge, über den sie noch nichts wußten. Im Näherkommen erkannte sie, daß daraus ein Wasserlauf strömte, zwei Schritte breit und etwa fingertief. Am Boden des Tunnels verzweigte sich das Wasser in eine Vielzahl schmaler Rinnsale und verschwand in Spalten und Löchern.

»Was ist hiermit?« fragte sie und nickte dem Zwergenarbeiter zu.

Er verstand auch ohne Übersetzung und redete eilig auf Alberich ein.

»Ein Fehlschlag«, sagte der Horthüter. »Der Stollen ist verlassen. Der Minenbohrer ist vor einigen Tagen auf Wasser gestoßen. Die Nordlinge gaben Befehl, ihn stehenzulassen, und zogen die Arbeiter in die anderen Stollen ab. Unser Freund hier sagt, etwas Ähnliches sei schon einmal passiert, vor ungefähr zwei Wochen.« Alberich deutete auf den letzten Stollen. Auch dort glitzerte Feuchtigkeit, allerdings sehr viel weniger. »Ich nehme an, sie sind auf den See in der Moosgrotte gestoßen. Deshalb war soviel von dem Wasser abgelaufen.«

»Der Strudel«, murmelte Geist gedankenverloren.

Alberich nickte. »Weil die Bohrerspitze noch in der Öffnung steckt, läuft das Wasser nur langsam ab.«

»Wartet, wartet«, sagte Löwenzahn schwerfällig. »Die Nordlinge sind zweimal auf Wasser gestoßen, nicht wahr? Das da« - er zeigte auf den Stollen mit dem schwächeren Rinnsal - »kommt aus der Moosgrotte.« Er drehte sich um zu dem anderen Stollen, aus dem der Bach strömte. »Woher aber stammt dann dieses Wasser?«

»Mir fällt nur eine Möglichkeit ein«, meine Mütterchen und horchte zugleich auf den Lärm der Nordlinge. Der Fels verzerrte das Echo, es war unmöglich zu sagen, wie nahe sie bereits waren.

Alberich wurde immer unruhiger. »Sie sind mit den Bohrern zu weit nach Westen vorgestoßen, außerdem viel zu weit nach oben.« Er verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln. »Weil sie keine Ahnung von dem haben, was sie tun.«

»Zu weit nach Westen«, wiederholte Geist leise, »zu weit nach oben. Heißt das, am Ende dieses Stollens fließt -«

»Der Rhein«, führte Mütterchen den Satz zu Ende. »So, wie es aussieht, hat nicht viel gefehlt, und unsere Freunde hätten den ganzen Tunnel unter Wasser gesetzt.«

Und alle, sogar Löwenzahn, hatten plötzlich den gleichen Gedanken.



Geist huschte ganz allein durch die Halle der Minenbohrer, vorbei an den Reihen der schlummernden Kolosse. Sie fürchtete sich beim Anblick dieser bedrohlichen Monstrositäten (oder blickten vielmehr sie auf Geist?), und es hätte sie kaum verwundert, wären sie mit einemmal reihum zum Leben erwacht, um Jagd auf sie zu machen.

Sie erreichte das Portal der Halle, ohne aufgehalten zu werden, nicht von Nordling, Zwerg oder Bohrungetüm. Noch einmal schaute sie zurück über den breiten Gang zwischen den Bohrern, zerfurcht von Rädern, die so hoch waren wie Geist selbst. Ein sonderbares Gefühl beschlich sie, die Vorstellung, daß all dies zweihundert Jahre lang unberührt dagestanden hatte und dabei doch so aussah, als wartete es nur darauf, erneut mit Leben erfüllt zu werden.

Sie schüttelte sich, als eine Gänsehaut unter ihren Moospelz kroch. Mit einem Blinzeln, um sich vom geisterhaften Bild der verlassenen Halle zu befreien, warf sie sich herum und sprang durch das offene Tor. Die riesigen Flügel waren aus Stein und ließen sich nur mit Hilfe eines komplizierten Zwergenmechanismus bewegen. Eine eiserne Kurbel an der Außenseite mußte betätigt werden, um ihn in Gang zu setzen.

Geist war überrascht; nach all der Zeit war die Eisenkurbel weder eingerostet noch verkantet. Sie mußte dennoch all ihre Kraft einsetzen, um den Hebel zu drehen. Tief im Felsen setzten sich mit einem Knirschen, gefolgt von leisem Surren, gewaltige Zahnräder in Bewegung. Langsam, sehr langsam, schoben sich die gewaltigen Steinflügel aufeinander zu. Erst als nur noch ein Spalt offen stand, gerade breit genug, um Löwenzahns Schultern hindurchzulassen, brachte Geist das Portal zum Stillstand.

Sie trat in den Spalt, schaute zur Stollenöffnung auf der anderen Seite und lauschte. Auf Stimmen vielleicht; auf das Kampfgeschrei der Nordlandkrieger; auf das Donnern einer Wasserflut.

Doch da war nur Stille, das eherne Schweigen der Minenbohrer, träumend von den glanzvollen Zeiten des Zwergenvolkes. Eine Stille, beängstigender als jeder Feind. Und in einem Moment vollkommener Klarheit erkannte Geist, daß es genau das war, was sie in den vergangenen zwei Jahren so gefürchtet hatte und doch jetzt erst völlig verstand: Die Stille, das lautlose Sterben dieses uralten Berges, war vielleicht der schlimmste Feind von allen.



Alberich saß in einer Schneise im Holzbuckel des Minenbohrers und legte einen Hebel um, der halb so groß war wie er selbst. Irgendwo im Inneren des Ungetüms löste sich eine Sperre.

»Jetzt!« rief er über die Schulter nach hinten. »Du mußt schieben!«

Löwenzahn knurrte etwas, doch der Lärm der Nordlinge, die hinter ihnen den Stollen heraufströmten, übertönte seinen Fluch. Mit all seiner Kraft stemmte er sich gegen die Rückseite des Bohrers, und Mütterchen glaubte das Anschwellen seiner riesenhaften Muskelberge sogar durch seine dicke Fellkleidung zu erkennen.

Sie selbst stand hinter ihm, mit gezücktem Schwert, um ihm den Rücken von Angreifern freizuhalten. Unruhig, gespannt bis in die Zehenspitzen, blickte sie zurück zur letzten Biegung des spiralförmigen Stollens. Das Wasser umspülte ihre Füße bis zu den Knöcheln, das Rauschen wurde von den Felswänden zurückgeworfen. Sie war zu schwach, um Löwenzahn beim Schieben des Minenbohrers zu helfen. Irgend etwas aber wollte auch sie beitragen, und wenn es nur die Kunde vom Näherkommen der Gegner war. »Sie sind gleich hier!« rief sie über die Schulter zu Löwenzahn und Alberich. »Beeilt euch!«

Der Horthüter drehte im Inneren des Bohrers mit aller Kraft eine große Kurbel. Ähnlich wie beim Schließmechanismus des Portals wurde auch seine Anstrengung durch die Übertragung auf zahlreiche Räder und Federn vervielfacht. Die Korkenzieherspitze des Rammbocks, halb im Fels vergraben und von weißen Wasserfontänen umstrahlt, geriet in Bewegung, drehte sich, fraß sich tiefer ins Gestein. Der Wasserdruck verstärkte sich, winzige Felspartikel brachen von den Rändern der verstopften Öffnung, noch mehr Wasser ergoß sich in den Stollen.

»Da sind sie!« brüllte Mütterchen über das Getöse hinweg.

Mehr als ein Dutzend Nordlinge, gefolgt von noch mehr bewaffneten Zwergen, schob sich um die Biegung. Das Wasser am Boden spritzte unter ihren Stiefeln empor, eine Gischt wie vor dem Bug einer Galeere.

Sie waren bis auf zehn Schritte an den Minenbohrer und die Gefährten herangekommen, als die vorderen schlagartig stehenblieben. Ein wüstes Gerangel entstand, als die hinteren Reihen nachdrängten. Schließlich verharrte der ganze Trupp, unruhig, zeternd, mit wilder Drohgebärde.

Mütterchen hätte sich gerne eingeredet, daß es ihr eigener respekteinflößender Anblick war, der ihre Gegner zögern ließ. Tatsächlich aber hatten die Nordlinge und Zwerge entdeckt, daß sich der Bohrer immer tiefer in die Felsschicht grub, dem reißenden Strom entgegen, der über ihnen die Lande durchschnitt. Das Wasser im Stollen reichte Mütterchen bereits bis über die Waden, und mit jedem Herzschlag stieg es höher.

Im nächsten Augenblick würde die Entscheidung fallen. Falls die Nordlinge kühn genug waren, ihren Weg fortzusetzen und die Gefährten zu töten, mochte es ihnen gelingen, das beinahe Unausweichliche aufzuhalten.

Doch bei all ihrer Größe und furchteinflößenden Körperkraft waren sie nicht bereit, ihr eigenes Leben für das Gelingen ihrer Mission zu opfern. Einer, der Anführer, gab den Befehl zum Rückzug. Für ihn schien festzustehen, daß seine Sache verloren war.

Mütterchen frohlockte, ein herrliches, triumphierendes Gefühl. Leider ein ausgesprochen kurzes. Denn als sie sich umdrehte und den anderen zufrieden die frohe Nachricht mitteilen wollte, sah sie, was auch die Nordlinge gesehen hatten. Und sie erkannte, daß die Sache verloren war. Verloren wie sie und ihre Gefährten, wenn sie sich nicht beeilten, von hier zu verschwinden.

Vom Rammbock des Minenbohrers war nichts mehr zu sehen. Eine Explosion aus Wasserstrahlen, weiß wie glühender Stahl, verhüllte die vordere Partie des Ungetüms. Alberich kletterte geschwind wie ein Insekt aus der Holzverkleidung und rutschte den Buckel hinab zu Boden. Auch Löwenzahn hörte auf zu schieben. Er packte den langsameren Zwerg am Arm, warf sich herum, gab Mütterchen im Laufen einen Stoß und trieb sie neben sich her den Stollen hinunter. Das letzte, was Mütterchen vom Ende des Ganges sah, war ein Netz aus schwarzen Spalten, das sich mit höllischer Geschwindigkeit über die Felswände ausbreitete. Wassergeysire sprühten aus allen Richtungen.

Die drei Gefährten rannten so eilig sie konnten bergab, durch kniehohes Wasser, die reißende Strömung im Rücken. Die Stollenspirale schien sich endlos nach unten zu schrauben, und immer schneller kroch die Wasseroberfläche an ihren Körpern empor, immer kräftiger wurde der Sog.

Dann, plötzlich, sank der Wasserspiegel, und sie wußten, vor ihnen lag die Zwergenstraße. Sie stürmten durch die Öffnung in den breiten Tunnel und sahen in einiger Entfernung ein Gewimmel aus Nordlandkriegern und Zwergen. Keiner versuchte, die drei Freunde aufzuhalten, jeder rannte nur um sein eigenes Leben. Eine Handvoll Feinde war klug genug, den Weg zur Halle der Minenbohrer einzuschlagen; sie lag höher als der Tunnel, und es gab dort einen Ausgang zu den oberen Ebenen des Hohlen Berges. Der ganze Rest aber, siebzig, achtzig Krieger und Sklaven, floh die alte Zwergenstraße entlang nach Norden, in ihrer Panik nicht ahnend, daß sie damit ihr Schicksal besiegelten. Wenn die obere Felsschicht erst barst und die Wassermassen des Rheins sich durch die Spalten ergossen, würden sie den gesamten Tunnel viele hundert Schritte weit überfluten. Niemand, der sich dann noch hier unten aufhielt, würde mit dem Leben davonkommen.

Mütterchen, Alberich und Löwenzahn stürmten den Stollen zur Halle hinauf, vor sich mehrere Zwerge und Nordlinge. Hinter ihnen ertönte ein Fauchen wie von einem lebenden Wesen. Ein Donnern wie der Weltuntergang, ein Kreischen und Splittern und Bersten, als rissen die Götter selbst den Himmel entzwei. Schlagartig wurde das Fauchen zum Prasseln und das Prasseln zu einem einzigen, infernalen Getöse.

»Die Flut kommt!« brüllte Mütterchen, aber es war gleichgültig, ob irgendwer sie hörte. Alle wußten, daß der Tod ihnen eng auf den Fersen war.

Die Felsschicht, die der Bohrer zerstört hatte, gehörte nicht zum eigentlichen Flußbett - der Rhein strömte viel weiter oben, höher noch als die Horthalle -, war offenbar aber durch eine Vielzahl von Spalten mit dem Strom verbunden. Hätte der Fluß selbst sich durch den Tunnel gewälzt, so wäre wohl keinem von ihnen auch nur die Zeit für einen letzten Atemzug geblieben. So aber kam die Flut zwar schnell und mit einer Kraft, die die einer jeden Kreatur tausendfach überstieg; trotzdem blieb allen, die in diesem Augenblick in die Horthalle stürmten, eine leise Spur von Hoffnung. Hoffnung, der Katastrophe doch noch zu entrinnen. Hoffnung, am Leben zu bleiben.

Es war ein aufwühlendes, zugleich auch beängstigendes Gefühl, dieses Hoffen auf ein wenig Glück.

Ein trügerisches noch dazu.

Denn im selben Augenblick wehte ihnen allen ein Schub eisiger Kälte in den Rücken.

Mit der Kälte kam Nässe.

Und die Nässe war nur der Vorbote einer Flutwelle, die alles übertraf, was sich selbst ein Schwarzseher wie Alberich hätte ausmalen können.



Am Eingang der Halle stand Geist und sah mit Entsetzen, wie sich hinter ihren Freunden eine Wand aus weißer, brodelnder Gischt aufbaute. Als Vorbote der Flut schoß ein hüfthoher Wasserteppich durch den Saal, riß die drei Gefährten von den Beinen, warf Nordlinge und Zwerge durcheinander. Geist war einen Moment lang wie versteinert, konnte nichts anderes tun als dazustehen und zuzusehen, wie der Tod ihre einzigen Freunde holen würde, und bald, in drei, vier Herzschlägen, auch sie selbst.

Und dann spürte sie es.

Wasser schnellte über den Hallenboden auf das Tor und auf das Moosfräulein im Spalt zwischen den Flügeln zu. Als die ersten Ausläufer Geists Fußspitzen berührten, durchfuhr sie ein Hitzestoß wie der Einschlag eines Blitzes. Irgendwo in ihrem Inneren - nicht nur in ihrem Kopf, überall, in ihrem ganzen Körper - regte sich etwas. Eine Bewegung, ein Pulsieren, ein Druck, der ihre Sinne aufblähte, ihre Empfindungen schärfte. Der Drache erwachte aus seinem Schlummer, nicht die schuppige, bösartige Bestie selbst, sondern das, was sie beherbergt hatte. Das Erbe einer Magie, die jenseits aller Taschenspielertricks der Alben lag, jenseits simpler Hexerei und Nekromantie.

Alles geschah im Bruchteil eines Augenblicks. Für Geist war es, als wäre das Rad der Zeit aus seiner Spur geraten, als drehte es sich langsamer, um dann ganz stillzustehen. Die Umgebung erstarrte. Das Wasser zu ihren Füßen, die herandonnernde Flutwelle, der vergebliche Kampf ihrer Gefährten gegen den Untergang, all das versteinerte zu einem einzigen, scharf umrissenen Augenblick. Geist wußte, daß es eine Täuschung war, daß sie selbst sich mit einemmal zwischen den Augenblicken befand, wie ein Leser, der zwischen den Zeilen eines Buches verharrt.

Es war das Wasser. Millionen und Abermillionen pflanzlicher Lebewesen, zu klein, um sie mit bloßem Auge zu erspähen. Und doch war die heranbrausende Flut derart davon durchsetzt, daß Geist unter dem Ansturm fremder Empfindungen fast zusammenbrach. Mühsam versuchte sie, bei Verstand zu bleiben, bis der erste Moment der Überraschung und des Schmerzes vergangen war. Anders als in der Grotte, wo sie sich vom Bewußtsein der zornigen Moospflanzen hatte lenken lassen, versuchte sie nun, den Vorgang umzukehren. Diesmal wollte sie diejenige sein, die die Kräfte in ihrem Inneren steuerte, es war ihr Körper, und sie allein hatte das Erbe des Drachen angetreten. Aber sie wußte auch, daß sie auf die Pflanzenwesen im Wasser angewiesen war, daß sie sie brauchte, um von ihrer Kraft zu zehren. Nur so konnte sie die Magie in sich zwingen, ihr zu Diensten zu sein.

Sie schuf geistige Kanäle, durch die magische Ströme mit der Geschwindigkeit von hundert Flutwellen schossen, und endlich bekam Geist sie unter ihre Kontrolle. Ein stummes Beben raste durch die erstarrten Wassermassen, als sich alles Leben in ihnen zusammenzog und etwas formte, das wie verlängerte Arme Geists Befehlen gehorchte.

Sie tastete nach Mütterchen, fand sie und trug sie auf den Wogen durchs Tor. Auch Löwenzahn packte sie, zerrte ihn an ertrinkenden Nordlingen vorbei zum Spalt, hinaus auf die Kreuzung, ins Trockene. Die Suche nach Alberich gestaltete sich schwieriger, war er doch kleiner als die anderen und inmitten der tobenden Wassermassen kaum auszumachen. Dennoch spürte sie ihn auf, wenn auch mit großer Verzögerung, und sie fürchtete schon, die Flut hätte ihn getötet. Doch als sie ihn in den sicheren Stollen zog, spürte sie seinen Herzschlag.

Zuletzt warf sie die Flügel des Portals zu, nicht mit dem Kurbelmechanismus, sondern kraft ihrer magischen Macht. Der Wasserstrom brach ab, Geist verlor die Verbindung zu den Pflanzenpartikeln, und sofort zog sich die Kraft in ihr zurück, in jenen abgelegenen Winkel ihrer selbst, auf den sie allein keinen Zugriff hatte.

Im Inneren der Halle floß der Zeitstrom zurück in seine alte Bahn, der nächste Augenblick brach an. Die Flut donnerte weiter und warf sich mit gewaltiger Macht gegen das Tor. Der Eingang erbebte, Wasserstrahlen schossen durch die Ritzen.

Auch für Geist beschleunigte sich die Zeit, doch sie bemerkte es nicht mehr. Sie spürte auch nicht die Hände ihrer Freunde, die sie hochhoben und bewußtlos durch einen der Stollen nach oben trugen, in die höheren Ebenen, hinauf in die Stille des Bergmassivs.


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