Die Macht

Der Schatten

Beth setzte sich auf ihrer Liege im Labor auf und las die Mitteilung, die Norman ihr gegeben hatte. »O Gott!« sagte sie. Sie schob sich die dichten Strähnen ihres schwarzen Haars aus dem Gesicht. »Wie kann das sein?« fragte sie.

»Es paßt alles zusammen«, sagte Norman. »Überleg doch. Wann haben die Mitteilungen angefangen? Nachdem Harry aus der Kugel gekommen ist. Wann sind der Kalmar und die anderen Tiere zum erstenmal aufgetaucht? Nachdem Harry aus der Kugel gekommen ist.«

»Ja, aber -«

»Zuerst waren es nur kleine Kalmare, doch als wir sie essen wollten, tauchten plötzlich auch Garnelen auf. Gerade rechtzeitig zum Abendessen. Und warum? Weil Harry nicht gern Tintenfisch ißt.«

Beth hörte wortlos zu.

»Und wen hat als Kind der Riesenkrake in Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer geängstigt?«

»Harry«, sagte sie. »Ich erinnere mich, daß er das gesagt hat.«

Norman fuhr hastig fort. »Und wann taucht Jerry auf dem Bildschirm auf? Wenn Harry da ist, sonst nie. Wann antwortet Jerry uns? Wenn Harry mit im Raum ist und hört, was wir sagen. Und warum kann Jerry keine Gedanken lesen? Weil Harry es nicht kann. Erinnerst du dich, wie Barnes immer wieder den Namen wissen wollte, und Harry die Frage nicht weitergab? Warum wohl? Weil er Angst hatte, der Bildschirm würde >Harry< sagen, und nicht >Jerry<.«

»Und der Matrose .«

»Richtig, der schwarze Matrose. Wer taucht auf, als Harry von seiner Rettung träumt? Ein schwarzer Marinesoldat.«

»Und was ist mit dem Riesenkalmar?« fragte Beth nachdenk-lich.

»Nun, mitten in dessen Angriff hat Harry sich den Kopf gestoßen und das Bewußtsein verloren, und sofort ist das Tier verschwunden. Es ist erst wiedergekommen, als Harry aufgewacht ist und dir gesagt hat, er würde für dich weitermachen.«

»Mein Gott!« sagte Beth.

»Ja«, sagte Norman, »das erklärt eine ganze Menge.«

Eine Weile sah sie schweigend auf die Mitteilung. »Aber wie macht er das?«

»Ich zweifle, daß er was macht, jedenfalls nicht bewußt.«

Norman hatte bereits darüber nachgedacht. »Nehmen wir mal an«, sagte er, »daß mit Harry was passiert ist, als er in die Kugel ging - daß er dort irgendeine Art Macht bekommen hat.«

»Welche zum Beispiel?«

»Die Macht, Dinge geschehen zu lassen, indem er sie einfach denkt. Die Macht, seine Gedanken Wirklichkeit werden zu lassen.«

Beth runzelte die Stirn. »Seine Gedanken Wirklichkeit werden zu lassen .«

»So merkwürdig ist das gar nicht«, sagte er. »Denk doch mal nach: Ein Bildhauer hat erst einen Einfall und gestaltet ihn dann in Stein oder Holz, um ihn Wirklichkeit werden zu lassen. Am Anfang steht der Gedanke, ihm folgt die Durchführung, die mit einer gewissen Bemühung eine Wirklichkeit schafft, in der sich die ursprünglichen Gedanken des Bildhauers spiegeln. So funktioniert für uns die Welt. Wir stellen uns erst etwas vor und bemühen uns dann, es geschehen zu lassen. Bisweilen geschieht das unbewußt - beispielsweise, wenn jemand mittags unerwartet nach Hause geht und seine Frau mit einem anderen im Bett erwischt. Das war nicht seine Absicht, es ist einfach so passiert.«

»Oder eine Frau erwischt ihren Mann mit einer anderen im Bett«, sagte Beth.

»Ja, natürlich. Aber es geht doch dabei um folgendes: Ständig gelingt es uns, Dinge geschehen zu lassen, ohne daß wir besonders intensiv daran denken. Wenn ich mit dir spreche, konzentriere ich mich nicht auf jedes Wort. Ich möchte einfach was sagen, und es kommt richtig heraus.«

»Ja ...«

»Wir können also so komplizierte Gebilde wie Sätze mühelos herstellen, nicht aber andere komplizierte Gebilde, wie zum Beispiel Skulpturen. Wir sind davon überzeugt, daß der Gedanke nicht genügt, daß wir darüber hinaus etwas tun müssen.«

»Und so verhalten wir uns dann auch«, sagte Beth.

»Nun, Harry nicht. Er ist einen Schritt weiter gegangen. Er braucht keine Statuen mehr zu meißeln oder zu schnitzen. Ihm kommt ein Einfall, und dann geschehen die Dinge von selbst. Er manifestiert die Dinge, wie sie ihm in den Sinn kommen.«

»Harry denkt an einen furchterregenden Kalmar, und prompt haben wir einen draußen vor dem Habitat?«

»Genau. Und wenn er das Bewußtsein verliert, verschwindet das Untier.«

»Und diese Macht hat er aus der Kugel?«

»Ja.«

Beth runzelte die Stirn. »Warum tut er das? Versucht er, uns umzubringen?«

Norman schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, es hat einfach Besitz von ihm ergriffen.«

»Was meinst du damit?«

»Nun«, sagte Norman, »wir haben doch zahlreiche Möglichkeiten erwogen, was die Kugel aus einer anderen Zivilisation bedeuten könnte. Ted hielt sie für eine Trophäe oder eine Botschaft - er betrachtete sie als Geschenk. Harry vermutete, daß sie etwas enthielte - für ihn war sie ein Behälter. Aber ich frage mich, ob es nicht eher eine Mine ist.«

»So eine Art Sprengsatz?«

»Eigentlich nicht - eher ein Verteidigungsmittel oder etwas, womit wir auf die Probe gestellt werden sollen. Eine außerirdische Zivilisation könnte diese Dinger in der Galaxis verstreuen, und jede Intelligenzform, die sie findet, würde die Macht der Kugel zu spüren bekommen. Und die besteht einfach darin, daß sich alles erfüllt, was man denkt. Wer positive Gedanken hat, bekommt köstliche Garnelen zum Dinner, wer negative Gedanken hat, kämpft mit Ungeheuern um sein Leben. In beiden Fällen ist es dasselbe Verfahren, nur der Inhalt ändert sich.«

»Du meinst, so wie eine Landmine Leute in die Luft jagt, die auf sie treten, zerstört die Kugel Menschen, wenn sie negative Gedanken haben?«

»Oder«, sagte er, »wenn sie ihr Bewußtsein einfach nicht in der Gewalt haben. Auf jemanden, der sein Bewußtsein in der Gewalt hat, hätte die Kugel nämlich keinen besonderen Einfluß. Sie schafft nur die aus dem Weg, die ihr Bewußtsein nicht zu beherrschen vermögen.«

»Wie kann man einen negativen Gedanken beherrschen?« fragte Beth. Sie schien mit einemmal sehr erregt. »Wie kann man jemandem sagen: >Denk nicht an einen Riesenkalmar

»Es ist möglich, seine Gedanken bewußt zu steuern.«

»Vielleicht für einen Yogi oder so.«

»Es ist jedem möglich«, sagte Norman, »seine Aufmerksamkeit von unerwünschten Gedanken abzulenken. Wie gewöhnen sich Leute das Rauchen ab? Wie kommt es, daß wir je unsere Meinung über etwas ändern? Indem wir unsere Gedanken steuern.«

»Ich verstehe immer noch nicht, warum Harry das tut.«

»Erinnerst du dich noch an deine Bemerkung, die Kugel könne uns einen Tiefschlag versetzen?« fragte Norman. »So, wie es das AIDS-Virus bei unserem Immunsystem tut? AIDS hat uns auf einer Ebene getroffen, auf der wir nicht imstande sind, uns zur Wehr zu setzen. In gewisser Hinsicht tut die Kugel das auch, sind wir doch der Überzeugung, wir könnten denken, was wir wollen, ohne daß es Folgen hätte. >Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten<. In Redensarten wie dieser schlägt sich diese Überzeugung nieder. Mit einemmal ist jetzt aber ein Gedanke kein Schatten mehr, er fliegt nicht mehr vorbei, sondern er trifft uns wie ein Stein. Unsere Gedanken manifestieren sich - wie großartig -, nur leider trifft das für alle zu: für die guten wie die bösen. Und wir sind einfach nicht darauf eingestellt, unser Denken zu beherrschen, denn das brauchten wir früher nie zu tun.«

»Als kleines Mädchen«, sagte Beth, »war ich wütend auf meine Mutter, und als sie dann Krebs bekommen hat, habe ich mir Vorwürfe gemacht .«

»Ja«, sagte Norman, »Kinder denken so. Alle Kinder glauben, daß ihre Gedanken Macht haben. Aber wir bringen ihnen im Laufe der Zeit bei, daß diese Ansicht falsch ist. Natürlich«, fuhr er fort, »hat es stets eine andere Lehre über die Gedanken gegeben. In der Bibel heißt es, man soll des Nächsten Weib nicht begehren. Wir legen das dahingehend aus, daß uns Ehebruch verboten ist. Das aber meint die Bibel in Wirklichkeit nicht, sondern sie besagt, daß der Gedanke an Ehebruch ebenso verboten ist wie die Tat selbst.«

»Und Harry?«

»Weißt du etwas über Jungs Psychologie?«

»Das Zeug hab ich nie ernst genommen«, sagte Beth.

»Dann ist jetzt der Augenblick gekommen, dich anders zu besinnen«, sagte Norman. Er erläuterte: »Jung hat zu Anfang dieses Jahrhunderts mit Freud gebrochen und seine eigene Lehre entwickelt. Er vermutete, es gäbe ein Grundmuster der menschlichen Psyche, das sich in einer grundlegenden Ähnlichkeit mit unseren Mythen und Archetypen spiegele. Einer seiner Gedanken war, daß es in der Persönlichkeit eines jeden

Menschen auch eine dunkle Seite gibt, die man zu verdrängen trachtet: Haß, Sadismus und dergleichen. Er nannte sie den >Schatten< und verlangte, daß sich der Mensch auch mit dieser Seite seines Wesens vertraut machte. Das aber tun nur sehr wenige. Wir alle sehen uns lieber als nette Menschen, die nie den Wunsch haben zu töten, zu verletzen, zu vergewaltigen und zu plündern.«

»Ja .«

»Nach Jungs Meinung wird von seinem Schatten beherrscht, wer ihn sich nicht bewußt macht.«

»Und wir sehen jetzt Harrys Schattenseite?«

»In gewisser Hinsicht, ja. Er empfindet das Bedürfnis, als der arrogante allwissende Schwarze zu posieren«, sagte Norman.

»Das tut er, weiß Gott.«

»Wenn er also Angst hat, hier unten zu sein - und wer hätte das nicht? -, kann er diese Angst nicht zugeben. Doch ob er sie zugibt oder nicht, er empfindet sie nun einmal. Und um seine Furcht vor sich selbst zu rechtfertigen, läßt seine Schattenseite Wesen auftreten, die sie als begründet erscheinen lassen.«

»Der Kalmar existiert als Rechtfertigung für Harrys Angst?«

»So in der Art, ja.«

»Ich weiß nicht«, sagte Beth. Sie lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken, so daß das Licht auf ihre hohen Wangenknochen fiel. Sie sah fast aus wie ein Mannequin, elegant, attraktiv und kräftig. »Ich bin Zoologin, Norman. Ich möchte Dinge anfassen und in den Händen halten, sehen, daß sie wirklich sind. All diese Theorien über Manifestationen sind mir einfach ... einfach zu ... psychologisch.«

»Die Welt der Psyche ist ebenso wirklich und folgt ebenso strengen Gesetzmäßigkeiten wie die Welt der äußeren Wirklichkeit«, sagte Norman.

»Du hast sicher recht, aber ...« Sie zuckte die Schultern. »Es befriedigt mich nicht besonders.«

»Du hast alles miterlebt, was seit unserer Ankunft hier unten vorgefallen ist«, sagte Norman. »Nenn mir eine andere Hypothese, die all das erklärt.«

»Das kann ich nicht«, gab sie zu. »Ich habe es die ganze Zeit versucht, während du geredet hast. Ich kann es nicht.« Sie faltete das Blatt Papier in ihrer Hand zusammen und dachte eine Weile nach. »Weißt du, Norman, ich bin sicher, daß du da eine brillante Herleitung zustande gebracht hast. Wirklich glänzend. Ich sehe dich mit einemmal in einem ganz anderen Licht.«

Norman lächelte geschmeichelt. Seit er hier unten war, hatte er die meiste Zeit den Eindruck gehabt, völlig überflüssig, fünftes Rad am Wagen zu sein. Jetzt erkannte jemand seinen Beitrag an, und das gefiel ihm. »Danke, Beth.«

Sie sah ihn mit ihren großen sanften Augen an, die im Licht feucht schimmerten. »Du bist ein sehr attraktiver Mann, Norman. Früher ist mir das gar nicht richtig aufgefallen.« Gedankenverloren berührte sie ihre Brust, deren vollendete Form von dem enganliegenden Anzug noch betont wurde. Unter dem feinen Gewebe zeichneten sich ihre festen Brustwarzen deutlich ab. Unvermittelt stand sie auf, legte die Arme um ihn und drängte sich dicht an seinen Körper. »Wir müssen zusammenhalten«, sagte sie. »Wir müssen einander beistehen, du und ich.«

»Ja, das müssen wir.«

»Denn wenn das stimmt, was du sagst, ist Harry äußerst gefährlich.«

»Ja.«

»Die bloße Tatsache, daß er hier im Vollbesitz seines Bewußtseins herumläuft, macht ihn gefährlich.«

»Ja.«

»Was sollen wir mit ihm tun?«

»He, ihr zwei«, sagte Harry, der die Leiter emporkam. »Ist das eine private Veranstaltung, oder kann jeder mitmachen?«

»Komm nur rauf, Harry«, sagte Norman und trat einen

Schritt von Beth zurück.

»Hab ich bei was gestört?« fragte Harry.

»Aber nein.«

»Ich will mich in niemandes Geschlechtsleben einmischen.«

»Aber Harry«, sagte Beth. Sie entfernte sich ein paar Schritte von Norman und setzte sich an den Labortisch.

»Nun, ihr beiden seht aus, als ob euch was beschäftigte.«

»Tatsächlich?« fragte Norman.

»Ja, vor allem Beth. Ich habe den Eindruck, daß sie mit jedem Tag, den sie hier unten verbringt, schöner wird.«

»Das ist mir auch aufgefallen«, sagte Norman lächelnd.

»Kann ich mir denken. Eine liebende Frau. Du Glückspilz.« Dann wandte Harry sich an Beth. »Was starrst du mich so an?«

»Tu ich doch gar nicht«, sagte Beth.

»Natürlich tust du das.«

»Harry, ich starre dich nicht an.«

»Ich seh doch, wenn mich jemand anstarrt, verdammt noch mal.«

Norman sagte beschwichtigend: »Harry -«

»Ich möchte nur wissen, warum ihr beiden mich so anstarrt. Als wäre ich ein Verbrecher oder so was.«

»Das bildest du dir nur ein, Harry.«

»Ihr steckt hier oben die Köpfe zusammen und flüstert .«

»Wir haben nicht geflüstert.«

»Habt ihr doch.« Harry sah sich um. »Das soll wohl heißen, daß jetzt zwei Weiße gegen einen Schwarzen zusammenhalten?«

»Aber Harry .«

»Ich bin nicht blöd, müßt ihr wissen. Irgendwas ist zwischen euch im Gange. Das merkt doch ein Blinder mit 'nem Krückstock.«

»Harry«, sagte Norman, »nichts ist im Gange.«

Mit einemmal hörten sie ein beharrliches Signal vom Computer im Untergeschoß. Sie wechselten Blicke und gingen nach unten, um nachzusehen, was es gab.

unten, um nachzusehen, was es gab.

Auf dem Bildschirm erschienen Buchstabengruppen in quälend langsamem Tempo.

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»Ist das Jerry?« fragte Norman.

»Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Harry. »Ich glaube nicht, daß er seine Mitteilungen wieder verschlüsseln würde.«

»Ist das denn eine verschlüsselte Mitteilung?«

»Mit Sicherheit.«

»Und warum geht das so langsam?« fragte Beth. Buchstabe auf Buchstabe fügte sich in stetigem Rhythmus an, doch es dauerte jeweils mehrere Sekunden, bis ein neuer Buchstabe erschien.

»Das weiß ich nicht«, sagte Harry.

»Woher kommt sie?«

Harry machte ein nachdenkliches Gesicht. »Keine Ahnung, aber die Übertragungsgeschwindigkeit ist äußerst aufschlußreich. Sehr langsam. Wirklich interessant.«

Norman und Beth warteten, während er überlegte. Norman dachte: Wie könnten wir je ohne Harry auskommen? Wir brauchen ihn. Er ist der Intelligenteste, wenn auch zugleich der Gefährlichste hier unten, doch wir brauchen ihn.

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»Wirklich interessant«, sagte Harry. »Zwischen dem Erscheinen zweier Buchstaben vergehen jeweils etwa fünf Sekunden. Ich vermute daher, daß die Mitteilung aus Wisconsin kommt.«

Mit nichts hätte er Norman mehr überraschen können. »Aus Wisconsin?«

»Ja. Das ist wahrscheinlich eine Botschaft der Navy. Ich weiß nicht, ob sie für uns bestimmt ist oder nicht, jedenfalls kommt sie aus Wisconsin.«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil das der einzige Ort auf der Welt ist, woher sie kommen kann«, sagte Harry. »Kennt ihr ENF-Wellen? Nein? Nun, ich will es euch erklären. Man kann Funkwellen durch die Luft senden, und da kommen sie, wie ihr bestimmt wißt, ziemlich schnell voran. Im Wasser dagegen haben sie keine besonders große Reichweite, denn es ist als Übertragungsmedium ungeeignet. Deswegen braucht man selbst zur Überbrückung kurzer Entfernungen im Wasser ein unglaublich starkes Signal.«

»Ja ...«

»Nun hängt die Durchdringungsfähigkeit von Funksignalen von der Wellenlänge ab. Gewöhnliche Funkwellen sind kurz -zum Beispiel wie beim Kurzwellenradio oder dergleichen. Die Wellen sind so winzig, da kommen Zigtausende auf einen Zentimeter. Man kann aber auch ENF-Wellen erzeugen, extrem niederfrequente, die sehr lang sind - jede von ihnen mißt vielleicht sechs Meter. Sie legen, sind sie erst erzeugt, riesige Entfernungen zurück und gehen problemlos durch Wasser über Tausende von Kilometern hinweg. Nur sind sie, eben wegen ihrer Länge, auch sehr langsam. Deswegen bekommen wir auch nur alle fünf Sekunden ein Zeichen auf den Bildschirm. Die Navy brauchte eine Möglichkeit, mit ihren U-Booten unter Wasser Kontakt zu halten, und daher hat man in Wisconsin eine riesige ENF-Antenne gebaut, über die man diese langen Wellen senden kann. Und von da aus bekommen wir jetzt eine Nachricht.«

»Und was ist mit dem Code?«

»Das dürfte ein verdichteter Code sein - Dreiergruppen von Buchstaben, die jeweils für einen längeren, vorher definierten Text stehen. Auf diese Weise dauert es nicht so lange, eine Nachricht zu senden. Bei einem vollständigen Text könnte das buchstäblich Stunden beanspruchen.«

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Es kamen keine weiteren Buchstabengruppen mehr.

»Sieht so aus, als wäre das alles«, sagte Harry.

»Wie übersetzen wir es?« fragte Beth.

»Wenn es eine Navy-Mitteilung ist«, sagte Harry, »gar nicht.«

»Vielleicht gibt es hier ja irgendwo ein Codebuch«, sagte Beth.

»Augenblick mal«, sagte Harry.

Die Anzeige auf dem Bildschirm änderte sich, eine der Buchstabengruppen nach der anderen verwandelte sich in Klartext.

2340 UHR, 07-7, CINCCOMPAC AN BARNES TIEF-HAB-8

»Für Barnes«, sagte Harry. Sie sahen zu, während der Rest der Mitteilung auf dem Bildschirm erschien.

VERSORGUNGSSCHIFFE KOMMEN VON NANDI UND VIPATI ZU IHNEN GAZ 1600 UHR 08-7 TIEFHAB RÜCKZUG AUTOMATIK BESTÄTIGEN VIEL GLÜCK SPAUL-DING ENDE

»Bedeutet es das, was ich glaube?« fragte Beth.

»Ja«, sagte Harry. »Die Retter sind unterwegs.«

»Hurra!« Beth klatschte in die Hände.

»Der Sturm muß sich gelegt haben. Sie haben die Versorgungsschiffe geschickt, und die werden in etwas mehr als sechzehn Stunden hier sein.«

»Und was ist mit der Automatik?«

Die Antwort kam sofort. Alle Bildschirme im Habitat flak-kerten auf, und in der oberen rechten Ecke eines jeden wurde ein kleines Kästchen mit Zahlen sichtbar: 16:20:00. Sie liefen rückwärts.

»Der Countdown läuft automatisch.«

»Gibt es bestimmte Vorschriften, die wir beim Verlassen des Habitats befolgen müssen?« fragte Beth.

Norman beobachtete, wie die Zahlen rückwärts liefen, genau wie im Tauchboot. Dann fragte er: »Was ist eigentlich mit dem Klein-U-Boot?«

»Wen juckt denn das jetzt noch?« wollte Harry wissen.

»Ich finde, wir sollten es hierbehalten«, sagte Beth. Sie sah auf ihre Armbanduhr. »In etwa vier Stunden muß wieder jemand auf den Knopf drücken.«

»Bis dahin ist reichlich Zeit.«

»Ja.«

Insgeheim fragte sich Norman, ob sie weitere sechzehn Stunden würden überleben können.

»Na, ist das denn nicht großartig! Warum laßt ihr beiden bloß die Köpfe so hängen?« sagte Harry.

»Ich überlege nur, ob wir es schaffen können«, sagte Norman.

»Warum sollten wir nicht?« fragte Harry dagegen.

»Vielleicht schlägt Jerry vorher noch mal zu«, sagte Beth. Norman hätte sie würgen können. Begriff sie nicht, daß sie damit Harry erst auf die Idee brachte.

»Wir können einen weiteren Angriff auf das Habitat nicht überstehen«, sagte Beth.

Norman dachte, halt die Klappe, Beth. Du bringst ihn nur auf krumme Gedanken.

»Einen Angriff auf das Habitat?« fragte Harry.

Rasch sagte Norman: »Harry, ich glaube, wir beide sollten uns noch mal mit Jerry unterhalten.«

»Tatsächlich? Warum?«

»Ich möchte sehen, ob ich vernünftig mit ihm reden kann.«

»Ich weiß nicht, ob ein solcher Versuch was nützt«, sagte Harry.

»Wir können es auf jeden Fall probieren«, sagte Norman mit einem Seitenblick auf Beth. »Es kann jedenfalls nicht schaden.«

Es war Norman klar, daß er nicht wirklich mit Jerry sprechen würde, sondern mit Harry - das heißt, mit dem unbewußten Teil Harrys, seinem Schatten. Wie sollte er vorgehen? Welche

Möglichkeiten standen ihm zu Gebote?

Er setzte sich vor den Bildschirm und dachte: Was weiß ich eigentlich über Harry? Aufgewachsen war er in Philadelphia als ein schmächtiges, introvertiertes, menschenscheues Bürsch-chen, ein mathematisches Wunderkind, über dessen Begabung Spielkameraden und Angehörige spotteten. Harry hatte einmal gesagt, während er sich mit Mathematik beschäftigte, hätten alle anderen nichts als Basketball im Kopf gehabt. Noch jetzt haßte Harry alle Mannschaftssportarten, überhaupt jeden Sport. In seiner Jugend hatte man ihn gedemütigt und verachtet, und als man ihm endlich die wohlverdiente Anerkennung für seine Leistungen zollte, war es, wie Norman vermutete, zu spät, der Schaden bereits angerichtet. Auf jeden Fall hatte die späte Anerkennung Harrys arrogantes, prahlerisches Auftreten nicht verhindern können.

ICH BIN HIER. HABT KEINE ANGST.

»Jerry.«

JA NORMAN.

»Ich habe eine Bitte.«

DU DARFST SIE VORTRAGEN.

»Jerry, viele unserer Wesen sind fort, und unser Habitat ist geschwächt.«

ICH WEISS. SAG DEINE BITTE.

»Würdest du aufhören zu manifestieren?«

NEIN.

»Warum nicht?«

ICH WILL NICHT AUFHÖREN.

Nun, dachte Norman, zumindest sind wir gleich beim Thema und verschwenden keine Zeit. »Jerry, ich weiß, daß du lange Zeit von allem abgeschnitten warst, viele Jahrhunderte hindurch, und daß du dich während der ganzen Zeit einsam gefühlt hast. Du hattest den Eindruck, daß niemand dich gern hatte, mit dir spielen wollte oder Anteil an deinen Interessen nahm.«

JA. DAS STIMMT.

»Und jetzt kannst du endlich manifestieren, und das gefällt dir. Du zeigst uns gern, was du kannst. Du möchtest uns beeindrucken.«

DAS STIMMT.

»Damit wir dir unsere Aufmerksamkeit zuwenden.«

JA. DAS MAG ICH.

»Und es funktioniert. Wir wenden dir unsere Aufmerksamkeit zu.«

JA. DAS WEISS ICH.

»Aber diese Manifestationen schaden uns, Jerry.«

DAS IST MIR EGAL.

»Und sie überraschen uns.«

DAS FREUT MICH.

»Sie überraschen uns, Jerry, weil du dein Spiel mit uns treibst.«

ICH MAG KEINE SPIELE. ICH SPIELE NICHT.

»Doch, Jerry, für dich ist es ein Spiel. Ein Sport.«

NEIN, DAS IST ES NICHT.

»Doch«, sagte Norman, »und zwar ein reichlich blöder Sport.«

Harry, der neben ihm stand, sagte: »Mußt du ihn auf diese Weise herausfordern? Er könnte außer sich geraten. Ich glaube nicht, daß sich Jerry gern widersprechen läßt.«

Das glaube ich dir glatt, dachte Norman, doch er sagte: »Nun, ich muß Jerry die Wahrheit über sein Verhalten sagen. Was er tut, ist nicht besonders interessant.«

ACH? NICHT INTERESSANT?

»Nein, Jerry. Du benimmst dich wie ein verzogenes und bockiges Kind.«

WAGST DU SO MIT MIR ZU SPRECHEN?

»Ja, weil dein Verhalten töricht ist.«

»Mensch«, sagte Harry, »sei doch ein bißchen vorsichtig.«

SIEH DICH VOR, NORMAN. SONST TUN DIR DEINE

WORTE NOCH LEID.

Norman fiel auf, daß Jerrys Wortwahl und Satzbau jetzt fehlerlos waren. Auf jedwede Vorspiegelung von Fremdartigkeit und Naivität wurde jetzt verzichtet. Doch Norman fühlte sich stärker und zuversichtlicher, je weiter die Unterhaltung fortschritt. Er kannte jetzt sein Gegenüber. Das war nicht irgendein Außerirdischer. Es gab auch keine unbekannten Voraussetzungen mehr. Er sprach mit dem kindischen Teil eines anderen Menschen.

ICH HABE MEHR MACHT, ALS DU DIR VORSTELLEN KANNST.

»Ich weiß, daß du Macht hast, Jerry«, sagte Norman. »Und wenn schon.«

Plötzlich regte Harry sich auf. »Norman, um Himmels willen. Du bringst uns in Teufels Küche.«

HÖR AUF HARRYS WORTE. ER IST WEISE.

»Nein, Jerry«, sagte Norman. » Harry ist nicht weise, er hat nur Angst.«

HARRY HAT KEINE ANGST. GANZ UND GAR NICHT.

Norman beschloß, das zu ignorieren. »Ich spreche mit dir, Jerry. Nur mit dir. Du bist derjenige, der mit uns sein Spiel treibt.«

SPIELE SIND BLÖD.

»Das stimmt, Jerry. Was du tust, ist unter deiner Würde.«

SPIELE SIND FÜR INTELLIGENTE LEBEWESEN GÄNZLICH UNINTERESSANT.

»Dann hör damit auf, Jerry. Hör auf mit den Manifestationen.«

ICH KANN AUFHÖREN, WANN ICH WILL.

»Da bin ich nicht so sicher, Jerry.«

DOCH. ICH KANN.

»Dann beweise es. Hör mit diesem Manifestationsspiel auf.«

Eine lange Pause entstand. Sie warteten auf die Antwort.

NORMAN, DEINE MANIPULATIONSVERSUCHE SIND

KINDISCH UND SO LEICHT ZU DURCHSCHAUEN, DASS SIE SCHON LANGWEILIG SIND, ICH BIN NICHT DARAN INTERESSIERT, WEITER MIT DIR ZU REDEN. ICH WERDE TUN, WAS MIR GEFÄLLT, UND MANIFESTIEREN, WAS MIR BELIEBT.

»Unser Habitat kann weiteren Manifestationen nicht widerstehen, Jerry.«

MIR EGAL.

»Wenn du es noch einmal beschädigst, stirbt Harry.«

»Ich und alle anderen, verdammt noch mal«, sagte Harry.

MIR EGAL, NORMAN.

»Warum willst du uns töten, Jerry?«

IHR HABT HIER UNTEN NICHTS ZU SUCHEN. IHR MENSCHEN GEHÖRT NICHT HIERHER. IHR SEID ÜBERHEBLICHE GESCHÖPFE, DIE IN ALLE REGIONEN AUF DER GANZEN WELT EINDRINGEN, UND IHR HABT EINE GROSSE UND TÖRICHTE GEFAHR AUF EUCH GENOMMEN. JETZT MÜSST IHR DEN PREIS DAFÜR ZAHLEN. IHR SEID EINE GEFÜHLLOSE GATTUNG. IHR ÜBT KEINE RÜCKSICHT UNTEREINANDER, ZWISCHEN EUCH GIBT ES KEINE LIEBE.

»Das stimmt nicht, Jerry.«

WIDERSPRICH MIR NICHT WIEDER, NORMAN.

»Es tut mir leid, das zu sagen, Jerry, aber das gefühllose Geschöpf, das keine Rücksicht auf andere nimmt, bist du. Dir ist es gleichgültig, ob du uns verletzt. Unsere Notlage interessiert dich nicht. Du bist rücksichtslos, Jerry. Nicht wir.«

GENUG.

»Er wird nicht mehr mit dir sprechen«, sagte Harry. »Er ist jetzt richtig außer sich, Norman.«

Und dann erschienen auf dem Bildschirm die Worte:

ICH BRING EUCH ALLE UM.

Norman wischte sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich ab von den unheilvollen Worten:

ICH BRING EUCH ALLE UM.

»Ich glaube nicht, daß man mit dem Burschen reden kann«, sagte Beth, »auch nicht vernünftig.«

»Du hättest ihn nicht reizen sollen«, sagte Harry. Es klang fast wie ein Flehen. »Warum hast du das getan, Norman?«

»Ich mußte ihm die Wahrheit sagen.«

»Aber du hast ihn niederträchtig behandelt - und jetzt ist er wütend.«

»Ob wütend oder nicht, spielt keine Rolle«, sagte Beth. »Harry hat uns auch schon früher angegriffen, als er nicht wütend war.«

»Du meinst Jerry«, sagte Norman. »Jerry hat uns angegriffen.«

»Ja richtig, Jerry.«

»Das war aber ein ganz übler Versprecher, Beth«, sagte Harry.

»Du hast recht, Harry, es tut mir leid.«

Harry sah sie mit einem merkwürdigen Blick an. Norman dachte, dem kann man nichts vormachen - das läßt er bestimmt nicht auf sich beruhen.

»Ich weiß gar nicht, wie dir eine so absurde Verwechslung unterlaufen konnte«, sagte Harry.

»Du hast ja recht. Ich hab mich versprochen. Es war dumm von mir.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Es tut mir leid«, sagte Beth. »Wirklich.«

»Schon gut«, sagte Harry. »Ist nicht weiter schlimm.«

Schlagartig machte sich Gleichgültigkeit in seinem Auftreten bemerkbar, seine Stimme klang plötzlich vollkommen unbeteiligt. Oho, dachte Norman.

Harry gähnte und streckte sich. »Wißt ihr was«, sagte er, »ich bin mit einemmal schrecklich müde. Schätze, ich hau mich noch ein bißchen aufs Ohr.«

Damit verschwand er zu den Kojen.

16:00

»Wir müssen was unternehmen«, sagte Beth. »Ausreden können wir es ihm nicht.«

»Wohl nicht«, bestätigte Norman.

Sie tippte auf den Bildschirm:

»Meinst du, es ist ihm ernst?«

»Ja.«

Mit geballten Fäusten stand Beth vor dem Computer. »Also heißt es jetzt: er oder wir?«

»Ja. Ich denke schon.«

Die Folgerungen hingen unausgesprochen in der Luft.

»Was diese Manifestiererei angeht«, sagte Beth, »meinst du, er muß vollständig bewußtlos sein, damit nichts passiert?«

»Ja.«

»Oder tot«, sagte Beth.

»Ja«, sagte Norman. Auch er hatte schon an diese Möglichkeit gedacht. Er konnte es kaum fassen, daß die Dinge in seinem Leben eine so unwahrscheinliche Wendung genommen hatten, daß er dreihundert Meter unter dem Meeresspiegel den Mord an einem anderen in Erwägung ziehen mußte. Dennoch war er gerade dabei, genau das zu tun.

»Ich würde ihn nur sehr ungern töten«, sagte Beth.

»Ich auch.«

»Ich meine, ich wüßte nicht mal, wie ich das anstellen sollte.«

»Vielleicht müssen wir ihn ja gar nicht töten«, sagte Norman.

»Nein, außer er stellt was an«, sagte Beth. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ach zum Teufel, Norman, wir wollen uns doch nichts vormachen. Das Habitat kann einen weiteren Angriff keinesfalls überstehen. Wir müssen ihn einfach töten. Ich will mir das nur nicht eingestehen.«

»Geht mir genauso«, sagte Norman.

»Wir könnten uns eine von den Harpunen holen. Ein Unfall kann immer passieren. Dann warten wir einfach, bis die Zeit um ist und die Leute von der Navy herkommen, um uns hier rauszuholen.«

»Das möchte ich eigentlich nicht tun.«

»Ich auch nicht«, sagte Beth. »Aber was bleibt uns sonst übrig?«

»Wir brauchen ihn nicht umzubringen«, sagte Norman, »es genügt, wenn er bewußtlos ist.« Er trat an den Erste-Hilfe-Kasten und ging die verschiedenen Medikamente durch.

»Meinst du, da ist was Passendes dabei?« fragte Beth.

»Möglich. Ein Betäubungsmittel war genau das richtige.«

»Würde das funktionieren?«

»Ich nehme an, daß alles funktioniert, was sein Bewußtsein ausschaltet. Ich vermute es jedenfalls.«

»Hoffentlich hast du recht«, sagte Beth, »denn wenn er anfängt zu träumen und in diesen Träumen Ungeheuer vorkommen, könnte das unliebsame Folgen für uns haben.«

»Ja. Aber eine Narkose führt einen traumlosen Zustand vollständiger Bewußtlosigkeit herbei.« Norman las die Beschriftungen der Flaschen. »Kennst du irgendwas von dem Zeug hier?«

»Nein«, sagte Beth, »aber es ist alles im Computer.« Sie setzte sich vor das Gerät. »Lies die Namen vor, und ich seh nach.«

»Diphenyl-Paralen.«

Beth gab es ein und überflog den eng geschriebenen Text auf dem Bildschirm. »Es ist, hm ... sieht aus wie ... was gegen Verbrennungen.«

»Ephedrin-Hydrochlorid.«

Ein neuer Text erschien. »Es ist ... ich glaube gegen Reisekrankheit.«

»Valdomet.«

»Gegen Magengeschwüre.«

»Sintag.«

»Synthetischer Opiumersatz. Wirkt nur sehr kurz.« »Macht es bewußtlos?« fragte Norman. »Nein, nicht nach dem, was hier steht. Außerdem hält die Wirkung bloß ein paar Minuten an.« »Tarazin.«

»Ein Beruhigungsmittel. Macht benommen.« »Gut.« Er stellte das Mittel beiseite. »Und kann Phantasievorstellungen hervorrufen.« »Bloß nicht«, sagte er und legte es zurück. An Phantasievorstellungen hatten sie keinen Bedarf. »Riordan?« »Ein Antihistaminikum. Gegen Bisse.« »Oxalamin?« »Ein Antibiotikum.« »Chloramphenikol?« »Auch ein Antibiotikum.«

»Verdammt.« Die Flaschen gingen ihm allmählich aus.

»Parasolutrin?«

»Ruft Sopor hervor ...«

»Was ist das?«

»Tiefer bewußtloser Schlaf.«

»Also ein Schlafmittel?«

»Nein, es ist - hier steht, man kann es zusammen mit Para-zin-Trichlorid geben. Dann wirkt es wie ein Anästhetikum.« »Parazin-Trichlorid . Ja, das hab ich hier«, sagte Norman. Beth las vom Bildschirm ab. »Zwanzig ml Parasolutrin intramuskulär mit sechs ml Parazin gegeben bewirkt einen für chirurgische Noteingriffe geeigneten Tiefschlaf: keine kardiale Nebenwirkung . der Betroffene läßt sich nur schwer wieder wecken . REM-Aktivität wird unterdrückt .« »Wie lange wirkt es?« »Drei bis sechs Stunden.« »Und wie rasch?«

Sie runzelte die Stirn. »Steht hier nicht. >Nach Eintreten einer

angemessenen Anästhesietiefe können auch umfangreiche chirurgische Eingriffe durchgeführt werden .. .< Aber wie lange es dauert, bis es so weit ist, darüber steht hier nichts.«

»Mist«, sagte Norman.

»Wahrscheinlich geht es schnell«, sagte Beth.

»Und was ist, wenn nicht?« fragte Norman. »Wenn es zwanzig Minuten dauert? Kann er sich dagegen wehren? Gegen die Wirkung ankämpfen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Darüber steht hier auch nichts.«

Schließlich entschieden sie sich für eine Mischung aus Para-solutrin, Parazin, Dulcinea und dem Opiat Sintag. Norman zog eine Spritze mit den farblosen Flüssigkeiten auf. Sie war so groß, daß man glauben konnte, sie sei für ein Pferd bestimmt.

»Meinst du, es kann ihn umbringen?« fragte Beth.

»Ich weiß nicht. Haben wir denn eine Wahl?«

»Nein«, sagte Beth. »Wir müssen es tun. Hast du schon mal jemand 'ne Spritze gegeben?«

Norman schüttelte den Kopf. »Du?«

»Nur Versuchstieren.«

»Wo stech ich sie rein?«

»Am besten in die Schulter«, sagte Beth. »Wenn er schläft.«

Norman hob die Spritze gegen das Licht und spritzte aus der Nadel einige Tröpfchen in die Luft. »In Ordnung«, sagte er.

»Ich komm besser mit«, sagte Beth, »und halt ihn fest.«

»Nein«, sagte Norman. »Falls er wach ist und uns beide kommen sieht, wird er sicher sofort mißtrauisch. Vergiß nicht, daß du nicht mehr dahinten schläfst.«

»Und wenn er gewalttätig wird?«

»Ich krieg das schon hin.«

»Na schön, Norman. Wie du willst.«

Die Lichter im Gang von Röhre C schienen unnatürlich hell. Norman hörte seine durch den Teppich gedämpften Schritte, hörte das ständige Summen der Luftumwälzanlage und der Raumheizungsstrahler und spürte das Gewicht der in seiner

Hand verborgenen Spritze. Er erreichte die Tür des Schlafraums.

Vor der Schott-Tür standen zwei weibliche schwarze Marineangehörige. Sie salutierten, als sie seiner ansichtig wurden.

»Dr. Johnson, Sir!«

Norman blieb stehen. Die Frauen sahen gut aus und wirkten muskulös. »Stehen Sie bequem«, sagte Norman lächelnd.

Sie rührten sich nicht. »Bedaure, Sir! Wir haben unsere Befehle, Sir!«

»Aha«, sagte Norman. »Nun, also weitermachen.« Er wollte an ihnen vorbei in den Schlafraum gehen.

»Entschuldigung, Dr. Johnson, Sir!«

Sie verstellten ihm den Weg.

»Was ist?« fragte Norman so unschuldig er konnte.

»Niemand hat Zutritt zu diesem Bereich, Sir!«

»Aber ich möchte mich schlafen legen.«

»Tut uns sehr leid. Dr. Johnson, Sir! Niemand darf Dr. Adams stören, während er schläft, Sir!«

»Ich werde ihn nicht stören.«

»Tut uns leid, Dr. Johnson, Sir! Dürfen wir sehen, was Sie in der Hand haben, Sir?«

»In der Hand?«

»Ja, Sie haben da doch etwas, Sir!«

Ihre abgehackte Art zu sprechen, vor allem aber das beständige >Sir!<, ging ihm allmählich auf die Nerven. Er musterte sie erneut. Ihre gebügelten Uniformen verbargen kräftige Muskeln. Mit Gewalt würde er sich an ihnen vorbei wohl keinen Zutritt verschaffen können. Hinter der Tür sah er Harry, der schnarchend auf dem Rücken lag. Es wäre ein idealer Augenblick, ihm die Spritze zu geben.

»Dr. Johnson, dürften wir sehen, was Sie in der Hand haben, Sir!«

»Nein, verdammt noch mal, das dürfen Sie nicht.«

»Sehr wohl, Sir!«

Norman wandte sich um und ging zurück in Röhre D.

»Ich habe alles mitangesehen«, sagte Beth und wies auf den Bildschirm der Video-Überwachungsanlage.

Normans Blick folgte ihrer Geste. Die beiden Frauen standen nach wie vor im Gang. Dann fiel sein Blick auf den Bildschirm daneben, der die Kugel zeigte.

»Die Kugel hat sich verändert!« sagte Norman.

Das Muster der spiralig gewundenen Furchen in der Tür hatte sich verändert, war komplexer und weiter nach oben gerutscht. Er war sich dessen ganz sicher.

»Ich glaube, du hast recht«, sagte Beth.

»Wann ist das passiert?«

»Wir können die Bänder später zurücklaufen lassen«, sagte sie. »Im Augenblick sollten wir uns besser um die beiden da kümmern.«

»Wie?« fragte Norman.

»Ganz einfach«, sagte Beth und ballte die Fäuste. »Wir haben in Röhre B fünf Harpunen mit Explosivköpfen. Ich geh hin, hol mir zwei davon und schick die beiden Schutzengel zur Hölle. Du rennst rein und verpaßt Harry die Spritze.«

Ihre kaltblütige Entschlossenheit hätte ihm angst gemacht, hätte Beth dabei nicht so schön ausgesehen. Ihre Züge wirkten verfeinert, sie schien mit jeder Minute eleganter zu werden.

»Die Harpunen sind in B?« fragte Norman.

»Klar. Ich zeig sie dir auf dem Monitor.« Sie drückte auf einen Knopf. »Mist!«

Die Harpunen waren aus Röhre B verschwunden.

»Man muß zugeben, daß sich der Dreckskerl gut abgesichert hat«, sagte Norman. »Der gute alte Harry.«

Beth sah ihn nachdenklich an. »Norman, fehlt dir was?«

»Nee, wieso?«

»Im Erste-Hilfe-Kasten ist ein Spiegel. Sieh mal da rein.«

Er öffnete den weißen Kasten und betrachtete sich im Spie-gel. Was er sah, entsetzte ihn. Zwar erwartete er keinen Ado-nis, da er mit seinem schwammigen Gesicht wohlvertraut war. Auch die grauen Bartstoppeln waren durchaus ein gewohnter Anblick, da er sich daheim an Wochenenden nicht zu rasieren pflegte.

Aber das Gesicht, das ihm jetzt entgegenstarrte, war hager und mit einem dichten schwarzen Bart bedeckt. Unter fiebrig glänzenden, blutunterlaufenen Augen lagen dunkle Ringe, sein Haar hing ihm strähnig und fettig in die Stirn. Er sah beinahe gefährlich aus.

»Wie Dr. Jekyll«, sagte er, »oder, besser gesagt, Mr. Hyde.«

»Ja, genauso siehst du aus.«

»Und du wirst dafür immer schöner«, sagte er zu Beth. »Ich war ja auch derjenige, der Jerry schlecht behandelt hat, also sehe ich zur Strafe auch immer schlechter aus.«

»Meinst du, das ist Harrys Werk?«

»Ich denke schon«, sagte Norman. Insgeheim fügte er hinzu: hoffentlich.

»Fühlst du dich anders als sonst, Norman?«

»Nein, genau wie immer, nur daß ich abscheulich aussehe.«

»Ja, zum Fürchten.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Aber du fühlst dich wirklich gut?«

»Beth ...«

»In Ordnung«, sagte sie. Sie wandte sich um und sah wieder auf die Bildschirme. »Mir fällt da noch was ein. Wir gehen beide in Röhre A, steigen in unsere Anzüge, gehen weiter nach B und drehen im ganzen Habitat die Atemluft ab. Dann verliert Harry auf jeden Fall das Bewußtsein. Seine Wachen verschwinden, wir können reingehen und ihm die Spritze verpassen. Was hältst du davon?«

»Ist einen Versuch wert.«

Norman legte die Spritze hin, und sie machten sich auf den Weg zu Röhre A. Als sie in C an den beiden Wächterinnen

vorbeikamen, nahmen diese erneut Haltung an.

»Dr. Halpern, Sir!«

»Dr. Johnson, Sir!«

»Weitermachen, Leute«, sagte Beth.

»Ja, Sir! Dürfen wir fragen, wohin Sie gehen, Sir!«

»Routine-Kontrollgang«, sagte Beth.

Eine Pause trat ein.

»Sehr wohl, Sir!«

Sie durften passieren. Sie erreichten Röhre B mit ihrem Leitungsgewirr und den zahlreichen Maschinen. Norman betrachtete sie nervös, ihm gefiel der Gedanke nicht, an den Lebenserhaltungssystemen herumzufummeln, aber er sah keine andere Möglichkeit.

In Röhre A hingen noch drei Taucheranzüge. Norman griff nach seinem. »Weißt du auch, was du tust?« fragte er.

»Ja«, sagte Beth. »Vertrau mir nur.«

Sie schob einen Fuß nach dem anderen in ihren Taucheranzug, zog ihn sich über die Schultern und machte sich daran, ihn zu verschließen.

Im selben Augenblick jaulten die Alarmsirenen auf, begannen die roten Lampen zu blinken. Norman wußte sofort, daß der Alarm aus dem Außenbereich kam.

Ein neuer Angriff begann.

15:20

Sie rannten zurück durch den seitlichen Verbindungsgang, der B und D direkt miteinander verband. Norman bemerkte im Vorbeilaufen, daß die weiblichen Marineangehörigen verschwunden waren. In Röhre D schrillten die Sirenen, und die mit den Außensensoren verbundenen Anzeigen leuchteten

grellrot. Norman sah auf den Computerbildschirm.

ICH KOMME.

Beth ließ rasch den Blick über die Anzeigen laufen.

»Wärmereaktion im Innenbereich. Der kommt, und wie.«

Sie spürten einen Ruck, und Norman sah aus dem Bullauge. Der grüne Kalmar war schon da. Seine riesigen, mit Saugnäpfen besetzten Arme wickelten sich um die Stützpfeiler des Habitats. Einer schlug flach gegen das Bullauge, die Saugnäpfe wirkten durch den Druck auf das Glas verformt.

ICH BIN DA.

»Harryyy!« schrie Beth.

Ein Stoß durchfuhr die Konstruktion, als die Arme des Kalmars das Habitat packten. Das Knirschen des Metalls fuhr ihnen durch Mark und Bein. Harry kam in den Raum gestürzt.

»Was ist los?«

»Das weißt du ganz genau, Harry!« rief Beth.

»Nein, keine Ahnung. Was ist?«

»Der Kalmar, Harry!«

»O Gott, nein«, stöhnte Harry.

Das Habitat erbebte. Die Innenbeleuchtung flackerte und erlosch. Lediglich die blinkenden Alarmlampen verbreiteten noch ein rotes, Ungewisses Licht.

Norman wandte sich an Harry. »Hör auf damit.«

»Wovon redest du?« beschwerte sich dieser.

»Das weißt du ganz genau.«

»Das weiß ich nicht.«

»Tu doch nicht so, Harry. Du weißt, daß du es bist«, sagte Norman. »Wer sonst?«

»Aber nein. Doch nicht ich! Ich schwöre es!«

»Doch, Harry. Und wenn du nicht damit aufhörst, kommen wir alle um.«

Erneut bebte das Habitat. Einer der Deckenheizer explodierte, heiße Glas- und Drahtstückchen rieselten auf sie herab.

»Los, Harry .« »Nein, nein!«

»Wir haben nicht viel Zeit. Du weißt, daß du es bist.«

»Viel hält das Habitat nicht mehr aus, Norman«, sagte Beth.

»Ich kann es nicht sein!«

»Doch, Harry. Du mußt dich dem stellen. Und zwar sofort.«

Während er redete, spähte Norman nach der Spritze. Irgendwo in diesem Raum hatte er sie liegenlassen, aber jetzt herrschte hier Chaos - Papiere rutschten von den Tischen, Bildschirme krachten zu Boden .

Das ganze Habitat wankte in seiner Verankerung. Aus einer anderen Röhre ertönte eine furchtbare Explosion, und wieder schrillte Alarm. Norman vernahm ein tosendes Vibrieren, das er sogleich erkannte - Wasser, das unter ungeheurem Druck ins Habitat strömte.

»Wassereinbruch in C!« rief Beth mit einem Blick auf die Bildschirme. Sie rannte den Gang hinunter. Norman hörte, wie sie mit lautem Dröhnen die Schott-Türen schloß. Der Raum füllte sich mit salzigem Nebel.

Norman stieß Harry gegen die Wand. »Harry! Gesteh es dir ein und mach Schluß damit!«

»Ich kann es nicht sein, wirklich nicht!« stöhnte Harry.

Ein neuer Anprall schleuderte sie fast von den Füßen.

»Ich kann es nicht sein!« rief Harry. »Es hat nichts mit mir zu tun!«

Dann schrie Harry wild auf, sein Körper wand sich, und Norman sah Beth die Spritze aus seiner Schulter ziehen. An der Nadel hing ein Tropfen Blut.

»Was tust du da?« rief Harry, aber sein Blick war schon leer und glasig. Er taumelte und stürzte beim nächsten Anprall benommen auf die Knie. »Nein«, sagte er leise, »nein ...«

Dann sackte er zusammen und fiel mit dem Gesicht auf den Teppich. Im selben Augenblick hörte das Knirschen des Metalls auf. Der Alarm verstummte. Alles wurde seltsam still, man hörte nur noch das leise Glucksen des Wassers von ir-gendwo im Habitat.

Beth handelte rasch, las eine Anzeige nach der anderen ab.

»Innenbereich aus. Außenbereich aus. Alles aus. In Ordnung! Keine Werte mehr!«

Norman rannte zum Bullauge. Der Kalmar war verschwunden. Der Meeresboden draußen lag verlassen.

»Schadensmeldung!« rief Beth. »Hauptstromversorgung ausgefallen! Röhre E ausgefallen! Röhre C ausgefallen! Röhre B ...«

Norman fuhr herum und sah sie an. Wenn auch Röhre B ausgefallen war, dann hätten sie die Lebenserhaltungssysteme verloren und würden mit Sicherheit sterben. »Röhre B - hält stand«, sagte sie schließlich. Ihr Körper sackte zusammen. »Wir haben es geschafft.«

Norman ließ sich erschöpft auf den Teppich sinken. Mit einemmal spürte er die Spannung und Belastung am ganzen Leibe.

Es war vorüber. Sie hatten die Krise überstanden. Jetzt würde doch noch alles gut. Sein Körper entspannte sich.

Es war vorüber.

12:30

Die Blutung aus Harrys gebrochener Nase war zum Stillstand gekommen, und er schien jetzt gleichmäßiger und weniger angestrengt zu atmen. Norman nahm den Eisbeutel ab, um einen Blick auf das geschwollene Gesicht zu werfen, und regulierte die Durchflußgeschwindigkeit des intravenösen Tropfs. Nach mehreren erfolglosen Versuchen hatte Beth es geschafft, ihn an Harrys Handrücken anzulegen. Auf diese Weise hielten sie ihn unter Narkose. Harrys Atem roch sauer und metallisch, aber sonst war alles in Ordnung. Er war vollkommen bewußtlos.

Beth meldete sich über die Sprechanlage. »Ich bin am Tauchboot und steig jetzt ein.«

Durch das Bullauge sah Norman Beth beim DH-7 unter der Kuppel verschwinden, unter der das Klein-U-Boot vertäut war. Ein letztes Mal würde sie den Verzögerungsknopf drücken, danach war es nicht mehr erforderlich. Er wandte sich wieder Harry zu.

Im Computer hatten sie keine Angaben darüber gefunden, welche Auswirkungen es hatte, wenn man jemanden für zwölf Stunden in Bewußtlosigkeit versetzte, aber was blieb ihnen anderes übrig? Wenn Harry durchkam, war es gut, wenn nicht, konnten sie auch nichts daran ändern.

Das gilt auch für Beth und mich, dachte Norman. Er sah auf die Zeitanzeige der Bildschirme: Sie zeigte noch zwölfeinhalb Stunden an, die Uhr lief stetig rückwärts. Er legte eine Decke über Harry und trat an den Computer.

An der Kugel war nach wie vor das veränderte Linienmuster zu erkennen. In der Aufregung hatte er fast gar nicht mehr daran gedacht, wie sehr die Kugel ihn ursprünglich gefesselt hatte, woher sie kam und was sie bedeutete. Letzteres verstanden sie jetzt. Wie hatte Beth die Kugel noch genannt? Ein geistiges Enzym. Ein Enzym war etwas, das chemische Reaktionen ermöglichte, ohne selbst daran beteiligt zu sein. Unser Körper muß chemische Reaktionen durchführen, aber für den reibungslosen Ablauf der meisten von ihnen ist unsere Körpertemperatur zu gering. Also haben wir Enzyme, die das Verfahren unterstützen und beschleunigen. Sie machen alles Erforderliche möglich. Daher hatte Beth die Kugel ein geistiges Enzym genannt.

Gar nicht dumm, dachte er. Kluge Frau. Ihre Impulsivität hatte sich als genau richtig erwiesen. Als Harry bewußtlos war, hatte Beth noch immer schön ausgesehen, seine eigenen Züge aber waren zu Normans Erleichterung wieder von der gewohnten Schwammigkeit. Sein altvertrautes Gesicht spiegelte sich in dem Bildschirm, auf dem er die Kugel betrachtete.

Die Kugel.

Da Harry jetzt bewußtlos war, würden sie wohl nie in Erfahrung bringen, was geschehen war und wie es in der Kugel aussah. Er erinnerte sich an die Lichter, die wie Glühbirnen tanzten. Was hatte Harry dazu gesagt? Irgend etwas über Schaum. Der Schaum. Norman hörte ein surrendes Geräusch und sah zum Bullauge hinaus.

Das Tauchboot bewegte sich.

Von seinen Haltestricken befreit, glitt das gelbe Boot über den Meeresboden, den seine Scheinwerfer hell erleuchteten. Norman drückte auf den Knopf der Sprechanlage: »Beth? Beth!«

»Ich bin hier, Norman.«

»Was tust du da?«

»Nichts weiter, Norman.«

»Was tust du in dem Boot, Beth?«

»Eine reine Vorsichtsmaßnahme, Norman.«

»Haust du ab?«

Er hörte sie über die Sprechanlage leise und entspannt lachen. »Nein, Norman, da kann ich dich beruhigen.«

»Sag mir, was du tust.«

»Das ist ein Geheimnis.«

»Mach schon, Beth.« Das fehlte gerade noch, dachte er, daß sie jetzt durchdrehte. Erneut kam ihm ihre Impulsivität in den Sinn, die er noch vor wenigen Augenblicken bewundert hatte. Jetzt konnte von Bewunderung keine Rede mehr sein. »Beth?«

»Ich sag es dir später.«

Als das Boot eine Kurve beschrieb, erkannte Norman in dessen Greifarmen rote Kisten. Er konnte ihre Beschriftung nicht lesen, aber sie kamen ihm irgendwie bekannt vor. Jetzt schob sich das Boot an der hohen Leitwerkflosse des Raumschiffs vorbei und ging dann auf den Meeresboden nieder. Es ließ eine der Kisten los. Sie landete weich auf dem schlammigen Boden. Das Boot hob wieder ab, wirbelte Ablagerungen auf und glitt einige hundert Meter weiter. Wieder stoppte es, wieder wurde eine Kiste abgeladen. So ging es das ganze Raumschiff entlang.

»Beth?«

Keine Antwort. Norman spähte zu den Kisten hinüber. So sehr er sich bemühte, er konnte auf die Entfernung die Beschriftung nicht lesen.

Das Boot hatte inzwischen gewendet und kam genau auf DH-8 zu. Die Scheinwerfer blendeten ihn. Als es näher kam, gellte die von den Sensoren ausgelöste Alarmanlage, blinkten die roten Lampen auf. Wie ich diesen Alarm hasse, dachte er, während er an den Computer trat und auf die Tasten sah. Wie zum Teufel schaltete man das ab? Er sah zu Harry hinüber, aber der war nach wie vor bewußtlos.

»Beth? Bist du da? Du hast den verdammten Alarm ausgelöst.«

»Drück auf F8.«

Was zum Teufel war F8? Er sah sich suchend um und erkannte dann auf der Tastatur zwei mit Fl bis F20 bezeichnete Tastenreihen. Er drückte F8, und der Alarm verstummte. Das Tauchboot war jetzt ganz nah, das Scheinwerferlicht fiel bereits durch die Bullaugen. Unter der hohen, durchsichtigen Kuppel war Beth deutlich erkennbar, die Instrumentenbeleuchtung schien ihr ins Gesicht. Dann tauchte das Boot ab und entschwand seinen Blicken.

Er trat wieder ans Bullauge und sah hinaus. Deepstar III ließ weitere Kisten aus den Greifarmen auf den Meeresboden sinken. Jetzt konnte er die Aufschrift lesen: »achtung, nicht rauchen, keine elektronik tevac sprengstoff.«

»Beth? Was zum Teufel tust du da?«

»Später, Norman.«

Er lauschte auf ihre Stimme. Sie klang wie immer. Oder drehte sie etwa durch? Nein, dachte er, sie dreht nicht durch. Ihre Stimme klingt völlig normal. Ganz bestimmt ist mit ihr alles in Ordnung. Absolut sicher war er aber nicht.

Das Boot glitt weiter. Die Schrauben wirbelten eine dichte Wolke von Ablagerungen auf, die das Licht der Scheinwerfer trübte, zum Bullauge emporstieg und Norman die Sicht nahm.

»Beth?«

»Keine Sorge, Norman. Ich bin gleich wieder da.«

Als sich die Ablagerungen gesetzt hatten, sah er das Boot zu DH-7 zurückkehren. Augenblicke später legte es unter der Kuppel an. Dann sah er Beth aussteigen und es vorn und achtern festmachen.

11:00

»Es ist ganz einfach«, sagte Beth.

»Sprengstoff?« Er wies auf den Bildschirm. »Hier steht >Te-vac ist der stärkste bekannte konventionelle Sprengstoffe. Was zum Teufel bezweckst du damit, daß du das Zeug rund um das Habitat verteilst?«

»Norman, reg dich doch nicht auf.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ihre Berührung war sanft und beruhigend. Er entspannte sich ein wenig, als er ihren Körper so nahe spürte.

»Wir hätten zuerst darüber reden sollen.«

»Norman, ich will kein Risiko mehr eingehen. Jetzt nicht mehr.«

»Aber Harry ist bewußtlos.«

»Er kann wieder zu sich kommen.«

»Das wird er nicht, Beth.«

»Ich gehe kein Risiko mehr ein«, wiederholte sie. »Wenn jetzt was aus der Kugel kommt, können wir das ganze Schiff in die Luft jagen. Ich habe an seiner gesamten Länge Kisten mit Sprengstoff plaziert.«

»Aber warum auch um das Habitat?«

»Zur Verteidigung.«

»Wieso ist das eine Verteidigung?«

»Glaub mir, es ist eine.«

»Beth, es ist gefährlich, das Zeug so nahe bei uns zu haben.«

»Die Ladungen sind ja noch nicht scharf, Norman. Auch um das Schiff rum nicht. Ich muß noch hinausgehen und von Hand die Leitungen legen.« Sie sah auf die Bildschirme. »Ich dachte, damit warte ich noch ein bißchen, vielleicht hau ich mich vorher noch aufs Ohr. Bist du müde?«

»Nein«, sagte Norman.

»Du hast lange nicht geschlafen, Norman.«

»Ich bin nicht müde.«

Sie warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Ich behalte Harry im Auge, wenn dir das Sorgen macht.«

»Ich bin einfach nicht müde, Beth.«

»Na schön«, sagte sie, »wie du willst.« Sie schob sich mit der Hand ihr volles Haar aus dem Gesicht. »Ich jedenfalls bin fix und fertig und leg mich ein paar Stunden hin.« Sie stieg ein paar Stufen zu ihrem Labor hinauf, hielt inne und wandte sich wieder zu ihm um. »Willst du mitkommen?«

»Was?« fragte er.

Sie schenkte ihm ein sehr direktes, wissendes Lächeln. »Du hast mich gehört, Norman.«

»Vielleicht später, Beth.«

»Na schön.«

Sie erklomm die restlichen Stufen, ihre Bewegungen wirkten dabei geschmeidig und sinnlich. Sie sah gut aus in dem hautengen Anzug, das mußte er zugeben. Sie war überhaupt eine gutaussehende Frau.

Von der anderen Seite des Raumes kam Harrys gleichmäßi-ges Schnarchen. Norman überprüfte den Eisbeutel auf seinem Gesicht und dachte über Beth nach. Er hörte sie oben rumoren.

»He, Norm?«

»Ja ...« Er trat an den Fuß der Treppe und sah nach oben.

»Ob du da unten wohl eine frische auftreiben kannst?« Etwas Blaues fiel ihm geradewegs in die Hände. Ihre Kombination.

»Ja, ich glaube im Lager, in B.«

»Würdest du mir eine bringen, Norm?«

»In Ordnung«, sagte er.

Auf dem Weg zur Röhre B spürte er eine vage Unruhe. Was ging hier vor? Nicht, daß er das nicht genau wüßte - aber warum jetzt? Von Beth ging eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, der er gründlich mißtraute. Männern gegenüber machte Beth gewöhnlich keine Umschweife, sie war energisch, offen und, wenn nötig, auch mal wütend. Verführung gehörte nicht zu ihrem Repertoire.

Jetzt aber doch, dachte er, während er dem Fach im Lager eine frische Kombination entnahm. Er kehrte zur Röhre D zurück und stieg zum Labor hinauf. Als er schon fast oben war, sah er ein seltsames bläuliches Licht.

»Beth?«

»Ich bin hier, Norm.«

Er erklomm die letzten Stufen und sah Beth. Sie lag unter einer aus der Wand geklappten Halterung mit einer Reihe UV-Lampen nackt auf dem Rücken. Um ihre Augen vor den Strahlen zu schützen, trug sie eine kleine, undurchsichtige Brille. Sie räkelte sich verführerisch.

»Hast du mir die Kombination gebracht?«

»Ja«, sagte er.

»Vielen Dank. Leg sie einfach irgendwo beim Labortisch hin.«

»In Ordnung.« Er hängte sie über eine Stuhllehne.

Zufrieden seufzend drehte sie sich wieder den Strahlern zu. »Ich dachte, ein bißchen Vitamin D wäre nicht schlecht,

Norm.«

»Ja .«

»Könnte dir vermutlich auch nicht schaden.«

»Ja, stimmt wohl.« Aber Norman dachte an etwas anderes. Er konnte sich nämlich nicht erinnern, zuvor UV-Strahler im Labor gesehen zu haben. Er war sogar sicher, daß es dort keine gab. Er hatte ziemlich viel Zeit in dem Raum zugebracht und müßte das also wissen. Rasch stieg er die Treppe hinab.

Auch die Treppe war neu, fiel ihm auf. Sie bestand aus schwarz eloxiertem Aluminium. Vorher war da nur eine einfache Leiter gewesen; die Treppe war völlig neu.

»Norm?«

»Gleich, Beth.«

Er trat an den Computer und drückte auf die Tasten. Er hatte früher einmal zufällig eine Datei mit Hinweisen auf Konstruktionszeichnungen der Räume gesehen. Schließlich fand er sie:

detailpläne einrichtung tiefseehab-8mippr

5. 024a röhre a

5. 024b röhre b

5. 024c röhre c

5. 024d röhre d

5. 024e röhre e

bitte wählen:

Er wählte >Röhre D<, und eine neue Maske erschien auf dem Bildschirm. Dann gab er >Konstruktionspläne< ein und bekam seitenweise Zeichnungen vorgelegt. Er blätterte sie durch, indem er durch Tastendruck eine Seite auf die andere folgen ließ, bis er auf die Detailzeichnungen für das biologische Labor im Obergeschoß von Röhre D stieß.

Deutlich war darauf eine Reihe von UV-Strahlern zu erkennen, die auf von der Wand abklappbaren Scharnieren angebracht waren. Sie mußten schon immer da gewesen sein und waren ihm einfach nicht aufgefallen. Auch viele andere Ein-zelheiten hatte er vorher nie bemerkt - wie beispielsweise den Notausstieg in der gewölbten Decke des Labors, eine zweite Klappkoje in der Nähe der Treppe und eine schwarz eloxierte Leichtmetall-Treppe.

Du bist nicht bei klarem Verstand, dachte er. Und das hat nichts mit UV-Strahlern oder Konstruktionszeichnungen zu tun, auch nicht mit Beths lockendem Körper. Es hängt damit zusammen, daß außer dir nur noch sie da ist und sie sich völlig anders verhält als sonst.

In der Ecke des Bildschirms sah er die Leuchtanzeige rückwärts laufen. Die Sekunden vergingen mit quälender Langsamkeit. Noch zwölf Stunden, dachte er. Zwölf Stunden muß ich noch durchhalten, dann ist alles gut.

Er hatte Hunger, aber er wußte, daß es nichts zu essen gab. Er war müde, aber es gab keinen Ort, wo er schlafen konnte. Röhre E wie Röhre C waren überflutet, und zu Beth hinauf wollte er nicht. Er legte sich auf den Boden von Röhre D, neben das Sofa, auf dem Harry lag. Auf dem Boden war es kalt und feucht, und er konnte lange nicht einschlafen.

09:00

Das Rütteln, dieses schreckliche Rütteln und Beben des Fußbodens weckten ihn abrupt. Er war sofort hellwach und sprang auf. Er sah Beth an den Bildschirmen stehen. »Was ist los?« schrie er. »Was ist los?«

»Was soll los sein?« fragte Beth.

Sie wirkte gelassen und lächelte ihm zu. Norman sah sich um. Kein Alarm, keine blinkenden Lampen.

»Ich weiß nicht, ich dachte . ich weiß nicht .« Er sprach nicht weiter.

»Dachtest du, wir würden wieder angegriffen?« fragte sie.

Er nickte.

»Wie kommst du darauf?« fragte sie.

Beth sah ihn wieder auf diese sonderbare Weise an. Ein abschätziger Blick, sehr direkt und sehr kühl. Keine Spur von Verlockung. Am ehesten ging von ihr das Mißtrauen der alten Beth aus: Du bist ein Mann, also bist du ein Problemfall.

»Harry ist doch immer noch bewußtlos, nicht wahr? Wie kommst du also darauf, daß wir wieder angegriffen werden könnten?«

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich habe ich geträumt.«

Beth zuckte die Schultern. »Vielleicht hast du die Schwingungen des Bodens gespürt, als ich zum Computer gegangen bin«, sagte sie. »Auf jeden Fall bin ich froh, daß du dich entschlossen hast zu schlafen.«

Wieder der abschätzige Blick, als stimme etwas mit ihm nicht.

»Du hast nicht genug geschlafen, Norman.«

»Das hat keiner von uns.«

»Am wenigsten du.«

»Vielleicht hast du recht.« Er mußte zugeben, daß er sich nach einigen Stunden Schlaf jetzt besser fühlte. Er lächelte. »Hast du den Kuchen gegessen und den Kaffee ausgetrunken?«

»Es gibt weder Kaffee noch Kuchen, Norman.«

»Ich weiß.«

»Warum sagst du dann so etwas?« fragte sie ernsthaft.

»Es war ein Scherz, Beth.«

»Ach so.«

»Ich hab nur Spaß gemacht - eine humorvolle Anmerkung zu unserer Situation.«

»Ich verstehe.« Sie machte sich an den Bildschirmen zu schaffen. »Was hast du übrigens mit Bezug auf den Ballon herausbekommen?«

»Den Ballon?«

»Ja, den Funkballon. Weißt du etwa nicht mehr, daß wir darüber gesprochen haben?«

Er schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich nicht.

»Bevor ich zum Boot rausgegangen bin, hatte ich dich um die Steuercodes gebeten, damit wir ihn aufsteigen lassen können, und du hattest gesagt, du würdest im Computer nachsehen, wie man das macht.«

»Ich soll das gesagt haben?«

»Ja, Norman, allerdings.«

Er überlegte. Er konnte sich erinnern, wie er mit Beth Harrys reglosen und überraschend schweren Körper vom Boden auf das Sofa gelegt hatte, wie er die Blutung seiner Nase zum Stillstand gebracht hatte, während ihm Beth den intravenösen Schlauch anlegte, was sie von ihrer Arbeit mit Versuchstieren her kannte. Sie hatte sogar einen Witz gemacht und erklärt, sie hoffe, daß es Harry besser ergehen würde als den Tieren, die unter ihrer Behandlung gewöhnlich nur den Tod fanden. Dann hatte sich Beth erbötig gemacht, zum Tauchboot hinauszugehen und den Knopf zu drücken, und er hatte gesagt, er werde bei Harry bleiben. Daran konnte er sich erinnern, aber an nichts im Zusammenhang mit einem Ballon.

»Natürlich«, sagte Beth. »Weil es in der Meldung hieß, wir müßten den Empfang bestätigen, und das geht nur, wenn wir einen Funkballon aufsteigen lassen. Wir hatten überlegt, daß die Bedingungen oben das ermöglichen müßten, ohne daß die Litze reißt, jetzt, wo der Sturm abgeflaut ist. Wir hatten nur keine Ahnung, wie der Ballon freigesetzt wird. Und du hast gesagt, du wolltest dich um die Steuercodes kümmern.«

»Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern«, sagte er. »Tut mir leid.«

»Norman, wir müssen in diesen letzten paar Stunden zusammenarbeiten«, sagte Beth.

»Der Ansicht bin ich auch, Beth. Absolut.«

»Wie fühlst du dich?« fragte sie.

»Nicht schlecht. Eigentlich sogar ziemlich gut.«

»Na schön«, sagte sie. »Halte durch, Norman. Es sind nur noch ein paar Stunden.« Sie drückte ihn warm an sich, doch als sie ihn losließ, sah er in ihren Augen denselben kühlen und abschätzigen Blick wie vorher.

Eine Stunde später wußten sie, wie man den Ballon aufsteigen ließ. Sie hörten ein metallisches Zischen, als sich die Litze von der außen am Habitat angebrachten Trommel abspulte und dem aufgeblasenen Ballon folgte, der der Oberfläche entgegenstrebte. Dann trat eine lange Pause ein. »Was passiert jetzt?« fragte Norman.

»Wir sind in dreihundert Metern Tiefe«, sagte Beth. »Es dauert eine Weile, bis der Ballon oben ankommt.«

Dann sprang die Anzeige des Bildschirms um, und es erschienen Angaben über das oben herrschende Wetter. Die Windgeschwindigkeit betrug nur noch knapp dreißig Kilometer pro Stunde, die Wellen hatten eine Höhe von einem Meter achtzig. Der Luftdruck war gestiegen und fast wieder normal. Der Ballon meldete Sonnenschein.

»Fein«, sagte Beth. »Oben ist alles in Ordnung.«

Norman starrte auf den Bildschirm und hing träumerischen Gedanken nach. Oben schien die Sonne! Nie zuvor hatte er sich so nach Sonnenschein gesehnt. Es war schon eigentümlich, was einem so alles zur Selbstverständlichkeit geworden war. Jetzt bereitete ihm die Vorstellung, die Sonne wiederzusehen, unglaublichen Genuß. Er konnte sich keine größere Wonne vorstellen, als Sonne, Wolken und blauen Himmel zu sehen.

»Woran denkst du?«

»Daß ich es nicht erwarten kann, hier rauszukommen.«

»Mir geht es ebenso«, sagte Beth. »Aber jetzt dauert es ja nicht mehr lange.«

Pang! Pang! Pang! Pang!

Norman, der sich über Harry beugte, fuhr bei dem Geräusch herum. »Was ist das, Beth?«

Pang! Pang! Pang! Pang!

»Immer mit der Ruhe«, sagte sie vom Computer aus. »Ich probier nur aus, wie man mit dem Ding hier umgeht.«

Pang! Pang! Pang! Pang!

»Mit was für 'nem Ding?«

»Mit der Seitensuch-Schallortung. Hier steht FAS drauf. Weißt du, was das heißt?«

Pang! Pang! Pang! Pang!

»Nein, keine Ahnung«, sagte Norman. »Schalt es bitte ab.« Das Geräusch riß an seinen Nerven.

»Komisch, hier steht FAS, und gleich daneben steht Seiten-such-Sonar; das kann doch nicht dasselbe bedeuten. Seltsam.«

»Beth, schalt es ab!«

Pang! Pang! Pang! Pang!

»Ja doch. Augenblick«, sagte Beth.

»Warum willst du überhaupt wissen, wie das Ding funktioniert?« fragte Norman. Er war gereizt, als hätte sie ihn mit dem Geräusch absichtlich ärgern wollen.

»Vorsichtshalber«, sagte Beth.

»Ja, wozu denn, Himmel noch mal? Du hast doch selbst gesagt, daß Harry bewußtlos ist. Dann können auch keine Angriffe mehr kommen.«

»Nun reg dich doch nicht auf, Norman«, sagte Beth. »Ich möchte nur auf alles vorbereitet sein, nichts weiter.«

07:20

Er konnte es ihr nicht ausreden. Sie bestand darauf, nach draußen zu gehen und die Sprengstoffkisten rings um das Schiff miteinander zu verbinden und scharf zu machen. Es war wie eine fixe Idee.

»Aber warum nur, Beth?« fragte er immer wieder.

»Weil ich mich dann besser fühle«, sagte sie.

»Es gibt doch keinen Grund dazu.«

»Ich fühle mich aber besser, wenn ich es tue«, beharrte sie. Er hatte keine Möglichkeit, die davon abzuhalten.

Jetzt sah er sie langsam von einer Sprengstoffkiste zur nächsten gehen, eine kleine Gestalt, von deren Helm aus ein Lichtstrahl etwas Helligkeit verbreitete. Sie öffnete jede der Kisten, nahm große gelbe Kegel heraus, nicht unähnlich den Hütchen, die man beim Straßenbau und zur Verkehrssicherung verwendet, und verband sie durch eine Leitung miteinander. Als alle angeschlossen waren, leuchtete oben auf jedem von ihnen ein kleines rotes Licht.

Das ganze Schiff entlang sah er diese roten Lichter. Ihr Anblick verursachte ihm ein unbehagliches Gefühl.

Bevor sie ging, hatte er zu ihr gesagt: »Aber die Sprengladungen um das Habitat machst du nicht scharf.«

»Nein, Norman, das tue ich nicht.«

»Versprich es mir.«

»Ich habe dir gesagt, daß ich es nicht tue. Wenn es dich beunruhigt, lasse ich es sein.«

»Das tut es.«

»Schon gut, schon gut.«

Jetzt erstreckte sich die Kette der roten Lichter über die ganze Länge des Raumschiffs, beginnend beim kaum sichtbaren Heck, das über dem Korallenboden emporragte. Beth öffnete systematisch eine Kiste nach der anderen.

Norman warf einen Blick auf Harry, der laut schnarchte, aber nach wie vor bewußtlos war, ging unruhig in Röhre D auf und ab und trat dann an die Monitore.

Einer der Bildschirme leuchtete auf.

ICH KOMME.

Nicht schon wieder, dachte er und fragte sich im nächsten Augenblick: Wie ist das möglich? Es konnte doch gar nicht sein. Harry war schließlich nach wie vor außer Gefecht gesetzt. Was war hier los?

ICH KOMME UND HOLE DICH.

»Beth!«

Ihre Stimme klang in der Sprechanlage blechern. »Ja, Norman?«

»Mach, daß du da wegkommst.«

HAB KEINE ANGST, las er auf dem Bildschirm.

»Was ist, Norman?« fragte sie.

»Ich hab hier was auf dem Bildschirm.«

»Sieh nach Harry. Wahrscheinlich ist er aufgewacht.«

»Ist er nicht. Komm zurück, Beth.«

ICH KOMME JETZT.

»Schön, Norman, bin schon unterwegs«, sagte sie.

»Beeil dich, Beth.«

Dieser Aufforderung hätte es nicht bedurft - er sah bereits das Licht ihrer Kopflampe hüpfen, als sie über den Meeresboden rannte. Sie war noch mindestens hundert Meter vom Habitat entfernt. Über die Sprechanlage hörte er sie laut keuchen.

»Kannst du was sehen, Norman?«

»Nein, nichts.« Er hielt nach dem grünen Schimmer Ausschau, der jedesmal, wenn der Kalmar kam, am Horizont zu sehen war. Jetzt sah er nichts.

Beth keuchte.

»Ich spüre etwas, Norman. Das Wasser ... wirbelt so ... merkwürdig ...«

Der Bildschirm blitzte wieder auf:

ICH WERDE DICH TÖTEN.

»Siehst du hier draußen nichts?« sagte Beth.

»Nein, nichts.« Er sah auf dem schlammigen Boden nur Beth. Seine Aufmerksamkeit richtete sich einzig und allein auf ihr Helmlicht.

»Ich spüre es, Norman. Es ist ganz nah. Gott steh mir bei. Was ist mit dem Alarm?«

»Nichts, Beth.«

»Oh, nein.« Sie atmete stoßweise, während sie rannte. Beth war körperlich gut in Form, aber in der künstlichen Atmosphäre konnte sie die Anstrengung bestimmt nicht lange durchhalten, dachte er. Er sah, daß sie bereits langsamer wurde, die Kopflampe hüpfte nicht mehr so rasch auf und ab.

»Norman?«

»Ja, Beth, ich bin hier.«

»Norman, ich weiß nicht, ob ich es schaffe.«

»Beth, du schaffst es. Geh langsamer.«

»Es ist hier, ich fühle es.«

»Ich sehe nichts, Beth.«

Er hörte deutlich ein schnelles Klappern. Zuerst dachte er, es sei eine Störung in der Leitung, bis er begriff, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen, weil sie zitterte. Eigentlich müßte sie bei dieser Anstrengung schwitzen, aber statt dessen war ihr kalt. Er verstand das nicht.

»- friere, Norman.«

»Geh langsamer, Beth.«

»Ich kann nicht reden - nah -«

Beth kam mittlerweile vor Erschöpfung kaum noch vorwärts. Sie hatte den Bereich der Habitat-Außenbeleuchtung erreicht. Es waren nur noch zehn Meter bis zur Einstiegsluke, doch er mußte mitansehen, wie ihre Bewegungen immer langsamer und schwerfälliger wurden.

Jetzt endlich erkannte er etwas, das in der Dunkelheit jenseits des erleuchteten Bereiches die schlammigen Ablagerungen aufwühlte. Es sah aus wie eine Windhose, eine wirbelnde Wolke aus schlammigen Ablagerungen. Er vermochte nicht zu sehen, was darin war, aber er spürte die Macht, die dahinterstand.

»Nahe - Nor -«

Beth taumelte, fiel. Die wirbelnde Wolke bewegte sich auf sie zu.

JETZT TÖTE ICH EUCH.

Beth rappelte sich auf, blickte sich um, sah die brodelnde Wolke, die drohend auf sie zukam. Irgend etwas daran erfüllte Norman mit einem Grauen, wie er es aus den Alpträumen seiner Kindheit kannte.

»Normannnnnn .«

Dann rannte er los, ohne wirklich zu wissen, was er tun würde, getrieben von dem Bild, das er gesehen hatte, von dem Gedanken, daß er etwas tun mußte, irgend etwas. Er lief durch Röhre B nach A, suchte nach seinem Anzug, doch dafür war keine Zeit, das schwarze Wasser unter der offenen Luke spritzte und sprudelte schon. Er sah, wie Beths behandschuhte Hand unter der Wasseroberfläche um sich schlug, sie war unmittelbar unter ihm, es gab doch nur noch sie und ihn hier unten, und da sprang er ohne nachzudenken in das schwarze Wasser und sank bis auf den Grund.

Er spürte den Schock und hätte am liebsten aufgeschrien; die eisige Kälte riß an seinen Lungen. Sein ganzer Körper war mit einem Schlag empfindungslos, eine furchtbare Sekunde lang war er wie gelähmt. Er wurde zum hilflosen Spielball der wirbelnden Wassermassen, die ihn umherschleuderten wie eine Woge. Sein Kopf schlug hart an die Unterseite der Röhre. Um ihn herum war alles schwarz.

Er fühlte nach Beth, streckte seine Arme blind in alle Richtungen. Das Wasser umtoste ihn, drehte ihn im Kreise, brachte ihn immer wieder aus dem Gleichgewicht.

Er berührte Beth, doch die tosende Gewalt des Wassers riß ihn wieder von ihr fort. Er gab nicht auf. Noch nicht.

Wieder griff er nach ihr. Endlich. Ein Arm. Er hatte kaum noch Gefühl in den Händen und wußte, daß er bereits langsamer und ungeschickter reagierte. Er zerrte. Über sich sah er einen Lichtkreis: die Bodenluke. Er stieß sich mit den Füßen ab, schien sich aber nicht zu bewegen. Der Kreis kam nicht näher.

Noch einmal stieß er sich ab und zog Beth wie eine schwere Last hinter sich her. Vielleicht war sie tot. Seine Lungen brannten. Es war der schlimmste Schmerz, den er je empfunden hatte. Er kämpfte gegen den Schmerz und gegen das wütend tosende Wasser, hörte nicht auf, mit den Beinen zu schlagen - dem Licht entgegen. Nichts anderes konnte er mehr denken, dort mußte er hin, das war sein Ziel, er mußte das Licht erreichen, das Licht, das Licht .

Das Licht.

Die Bilder vor seinen Augen waren verwirrend. Beth, wie sie im Taucheranzug an der Metallwand der Luftschleuse lehnt. Sein Knie, von dem Blut auf den Stahl der Luke tropft und zur Seite spritzt. Wieder Beth, wie sie mit zitternden Händen nach ihrem Helm greift, ihn dreht, ihn zu lösen versucht. Hände, die zittern. Wasser, das in der Luke gluckst und steigt. Licht in seinen Augen. Ein schrecklicher Schmerz irgendwo. Rost, ganz dicht vor seinem Gesicht, eine scharfe Kante aus Stahl. Kaltes Metall. Kalte Luft. Licht in seinen Augen, das schwächer wird. Schwindet. Schwärze.

Das Wärmegefühl war angenehm. Ein zischendes Geräusch drang ihm in die Ohren. Er öffnete die Augen und sah Beth, jetzt ohne Taucheranzug, hoch über sich aufragen. Sie stellte die Raumheizung höher, zitterte dabei selbst noch am ganzen Leibe. Er schloß die Augen. Wir haben es geschafft, dachte er. Wir sind immer noch zusammen. Uns fehlt nichts. Wir haben es geschafft.

Er entspannte sich.

Dann machte sich ein Gefühl bemerkbar, als krieche etwas über seinen Körper. Das kommt von der langsamen Erwärmung, dachte er, das ist die Kälte. Das Gefühl war keineswegs angenehm. Und auch das Zischen war nicht angenehm, das in Abständen immer wieder zu hören war.

Etwas Glattes glitt geschmeidig unter seinem Kinn entlang, während er so auf dem Boden lag. Er senkte den Blick und nahm verschwommen etwas Längliches wahr, silbrig-weiß, sah schärfer hin und erblickte die winzigen Knopfaugen, die vorschnellende Zunge. Eine Schlange.

Eine Seeschlange.

Er erstarrte, sah an sich herab, bewegte nur seine Augen.

Weiße Schlangen - überall auf seinem Körper.

Das kribbelnde Gefühl stammte von Dutzenden von Schlangen, die sich um seine Knöchel wanden, ihm zwischen die Beine und über die Brust glitten. Er spürte eine kühle, schlängelnde Bewegung auf seiner Stirn. Entsetzt schloß er die Augen, als ihm die Schlange über das Gesicht glitt, an der Nase hinab und über die Lippen, dann verschwand.

Er lauschte auf das Zischen der Reptilien und mußte daran denken, wie giftig sie nach Beths Schilderung waren. Beth, dachte er, wo ist Beth?

Er bewegte sich nicht. Er spürte, wie sich Schlangen um seinen Hals wanden, sich über seine Schultern schlängelten und zwischen den Fingern hindurchglitten. Er verzichtete darauf, seine Augen noch mal zu öffnen. Ekel stieg in ihm auf.

Nur das nicht, dachte er, gleich muß ich mich übergeben.

Er spürte Schlangen in der Achselhöhle und Schlangen in der Leistenbeuge. Kalter Schweiß brach ihm aus. Er kämpfte gegen den Brechreiz an.

Beth, dachte er. Er wollte nicht sprechen. Beth ...

Er hörte auf das Zischen und öffnete, als er es nicht mehr aushielt, die Augen, sah die Masse der sich windenden und ringelnden weißen Leiber, die winzigen Köpfe, die vorschnellenden gespaltenen Zungen. Erneut schloß er die Augen.

Er spürte, wie ihm eine Schlange unter der Kombination am Bein emporkroch, über die bloße Haut.

»Nicht bewegen, Norman.«

Es war Beth. Er konnte die Anspannung in ihrer Stimme hören. Er hob den Blick, konnte sie nicht sehen, nur ihren Schatten.

Er hörte sie sagen: »Wenn ich nur wüßte, wieviel Uhr es ist«, und er dachte, zum Teufel mit der Uhrzeit, wen interessiert das jetzt? Es schien ihm keine vernünftige Reaktion. »Ich muß die Tageszeit wissen«, sagte Beth. Er hörte, wie sich ihre Schritte entfernten. »Die Zeit ...«

Sie ging weg, ließ ihn allein!

Schlangen schlängelten sich mit nassen glitschigen Leibern über seine Ohren, unter seinem Kinn entlang, an seinen Nasenlöchern vorbei.

Dann hörte er Beths Schritte, sie kehrte zurück und öffnete mit metallischem Dröhnen die Luke. Er schlug die Augen auf und sah, wie sie sich über ihn beugte, die Schlangen ergriff und sie eine Handvoll nach der anderen durch die Bodenluke ins Wasser warf. Sie wanden sich in ihren Händen und wickelten sich um ihre Handgelenke, aber sie schüttelte sie ab, schleuderte sie weg. Einige fielen nicht ins Wasser und ringelten sich über den Boden der Luftschleuse, aber von den meisten war sein Körper jetzt befreit.

Außer von einer. Sie kroch an seinem Bein empor, auf seine Lenden zu. Dann spürte er, wie sie sich rasch rückwärts bewegte - Beth zerrte sie am anderen Ende heraus!

»Sei bloß vorsichtig -«

Die Schlange war heraus, und Beth warf sie hinter sich.

»Du kannst jetzt aufstehen, Norman«, sagte sie.

Er sprang auf die Füße und übergab sich an Ort und Stelle.

07:00

Er hatte mörderische Kopfschmerzen. Das Licht kam ihm unangenehm grell vor. Er fror. Beth hatte ihn in Decken gewickelt und ihn so nah an die großen Heizstrahler in Röhre D geschoben, daß ihm das Summen der Heizstäbe sehr laut vorkam. Trotzdem fror er. Er sah zu Beth hinab, die ihm das verletzte Knie verband. »Wie sieht es aus?« fragte er.

»Nicht gut«, sagte sie. »Ein Schnitt bis auf den Knochen. Aber es wird schon werden. Es sind ja nur noch ein paar Stunden.« »Ja, ich - au!«

»Entschuldigung. Gleich fertig.« Beth folgte den Erste-Hilfe-Anweisungen aus dem Computer. Um sich von dem Schmerz abzulenken, las er, was auf dem Bildschirm stand.

kleinere medizinische (nicht tödliche) komplikationen 7.113 trauma 7.115 mikroschlaf

7.118 helium-tremor

7.119 otitis

7.121 vergiftung durch verschmutzungen 7.143 gelenkschmerzen bitte wählen:

»Genau das brauche ich«, sagte er. »Etwas Mikroschlaf. Oder noch besser einen ordentlichen Makroschlaf.« »Ja, das geht uns allen so.«

Da kam ihm ein Gedanke. »Beth, wie war das, als du die Schlangen weggenommen hast? Was hast du da über die Tageszeit gesagt?« »Das Verhalten der Seeschlangen hängt von der Tageszeit

ab«, sagte Beth. »Zahlreiche Giftschlangen sind in einem Zwölf-Stunden-Rhythmus abwechselnd aggressiv und passiv. Tagsüber sind sie passiv, da kann man sie anfassen, ohne daß sie einen beißen. Beispielsweise hat man noch nie davon gehört, daß der in Südostasien beheimatete gestreifte Bungar, eine hochgiftige Schlangenart, tagsüber je einen Menschen gebissen hätte, nicht einmal Kinder, die mit ihm spielten. Nachts aber ist er äußerst gefährlich. Also versuchte ich herauszufinden, in welchem Zyklus sich die Seeschlangen befanden, bis ich mir sagte, daß Tag sein mußte und sie ungefährlich waren.«

»Woran hast du das gemerkt?«

»Daran, daß du noch lebtest.« Im Bewußtsein, daß sie nicht beißen würden, hatte Beth dann die Tiere mit bloßen Händen beiseite geschleudert.

»Mit den Händen voller Schlangen hast du ausgesehen wie Medusa.«

»Wer ist das? Ein Rockstar?«

»Nein, eine Gestalt aus der griechischen Mythologie.«

»Etwa die, die ihre Kinder umgebracht hat?« fragte sie mit einem schnellen, mißtrauischen Blick. Das war Beth, wie sie leibt und lebt, immer auf der Hut vor verhüllten Kränkungen.

»Nein, das war Medea. Medusa war eine Sagengestalt. Sie hatte ein Haupt voller Schlangen, und wer sie ansah, der wurde zu Stein. Perseus hat sie getötet, indem er ihr Spiegelbild auf seinem polierten Schild ansah.«

»Tut mir leid, Norman, das gehört nicht in mein Fachgebiet.«

Eigentlich bemerkenswert, mußte er denken, daß früher in der westlichen Welt jeder gebildete Mensch mit diesen mythologischen Gestalten und den zugehörigen Sagen ebenso vertraut war wie mit der Geschichte der eigenen Familie und aller Bekannten. Mythen waren einst der gemeinsame Wissensbesitz der Menschheit und dienten als eine Art Orientierungskarte für das Bewußtsein.

Jetzt aber wußten nicht einmal gebildete Menschen wie Beth etwas über diese Mythen. Es war, als glaubte die Menschheit, die Karte des menschlichen Bewußtseins habe sich geändert. Doch hatte sie das wirklich? Er zitterte.

»Frierst du noch, Norman?«

»Ja. Aber am schlimmsten sind die Kopfschmerzen.«

»Wahrscheinlich ist es der Flüssigkeitsverlust. Mal sehen, ob ich was zu trinken für dich auftreiben kann.« Sie ging zum Erste-Hilfe-Kasten an der Wand.

»Weißt du, das war toll von dir«, sagte Beth. »Einfach so, ohne Taucheranzug, ins Wasser zu springen. Es ist nur ein paar Grad über dem Gefrierpunkt. Das war sehr tapfer. Töricht, aber tapfer.« Sie lächelte. »Du hast mir das Leben gerettet, Norman.«

»Ich hab nicht darüber nachgedacht«, sagte Norman, »sondern es einfach getan.« Dann erzählte er ihr, wie er, als er sie da draußen vor der wirbelnden Wolke aus Ablagerungen fliehen sah, einen aus der Kindheit stammenden alten Schrek-ken empfunden hatte, etwas, das tief im Gedächtnis verborgen gewesen war.

»Weißt du, was das war?« fragte er. »Es hat mich an den Wirbelwind in Der Zauberer von Oz erinnert. Der hat mich als Kind zu Tode geängstigt. Ich wollte so etwas einfach nicht noch einmal sehen.«

Und dann dachte er, vielleicht sind das unsere neuen Mythen. Dorothy und Toto aus dem Zauberer von Oz, Jules Vernes Kapitän Nemo und der Riesenkrake ...

»Nun«, sagte Beth, »du hast mir das Leben gerettet, aus welchem Grund auch immer. Ich danke dir.«

»Oh, jederzeit«, sagte Norman und lächelte. »Tu's aber bitte nicht wieder.«

»Nein, ich geh nicht wieder raus.«

Sie brachte ihm einen Pappbecher. Der Inhalt war dickflüssig wie Sirup und schmeckte süß.

»Was ist das?«

»Ein isotonisches Glukosegetränk. Es wird dir guttun.«

Er trank noch einen Schluck, aber es war unangenehm süß. Norman sah sich um. Da drüben auf dem Bildschirm stand noch immer: JETZT TÖTE ICH DICH. Dann fiel sein Blick auf Harry, in dessen Arm der Tropfschlauch unverändert steckte und der nach wie vor bewußtlos dalag.

Harry war die ganze Zeit über ausgeschaltet gewesen.

Was das bedeutete, hatte Norman sich noch gar nicht klargemacht. Jetzt war die Zeit dazu gekommen. Er wollte es nicht, aber er mußte. Er wandte sich an Beth. »Was glaubst du, warum all das passiert?«

»Was?«

»Daß auf dem Bildschirm Wörter erscheinen und eine neue Manifestation uns angreift.«

Beth sah ihn gleichgültig an. »Was meinst du, Norman?«

»Es ist nicht Harry.«

»Nein, der ist es nicht.«

»Wieso geschieht es dann?« fragte Norman. Er stand auf und zog die Decken enger um sich. Er bewegte probehalber sein verbundenes Knie; es schmerzte, aber nicht sehr. Dann trat er ans Bullauge und sah hinaus. In der Ferne erkannte er die rote Lichterkette der Sprengstoffkegel, die Beth verteilt und scharf gemacht hatte. Er hatte nie verstanden, warum sie das gewollt hatte. Sie hatte sich in der ganzen Angelegenheit so merkwürdig verhalten. Er sah nach unten, zur Verankerung des Habi-tats.

Auch dort rote Lichter, gleich unter dem Bullauge. Sie hatte auch die Sprengladungen um das Habitat scharfgemacht.

»Beth, was hast du getan?«

»Getan?«

»Du hast die Sprengladungen um DH-8 scharf gemacht.«

»Ja, Norman«, sagte sie. Sie stand da und sah ihn an, ganz ruhig und gelassen.

»Beth, du hattest versprochen, es nicht zu tun.«

»Ich weiß, aber ich mußte.«

»Wie ist die Schaltung? Wo ist der Auslöseknopf, Beth?«

»Es gibt keinen Knopf. Sie werden über Schwingungssensoren ausgelöst.«

»Willst du damit sagen, daß sie automatisch hochgehen?«

»Ja, Norman.«

»Beth, das ist doch Wahnsinn. Irgend jemand macht nach wie vor diese Manifestationen. Wer ist das, Beth?«

Sie lächelte langsam, ein träges katzenhaftes Lächeln, als finde sie ihn insgeheim amüsant. »Weißt du das wirklich nicht?«

Er wußte es. Doch, dachte er. Er wußte es, und es jagte ihm einen Schauer über den Rücken. »Du steckst dahinter, Beth.«

»Nein, Norman«, sagte sie, noch immer gelassen. »Nicht ich, du.«

06:40

Seine Erinnerung sprang um Jahre zurück, zum Beginn seiner Ausbildung, als er ein Praktikum in der staatlichen psychiatrischen Klinik von Borrego gemacht hatte. Der ihn anleitende Professor hatte ihm den Auftrag erteilt, einen Bericht über die Fortschritte eines bestimmten Patienten zu verfassen. Dieser Patient war Ende Zwanzig, freundlich und hatte angenehme Manieren. Norman unterhielt sich mit ihm über alles mögliche: das Automatikgetriebe beim Oldsmobile, die besten Badestrände, Adlai Stevensons Präsidentschafts-Wahlkampf, der gerade stattgefunden hatte, Whitey Fords Fähigkeiten als Werfer beim Baseball und sogar Freuds Theorie. Der Patient war recht angenehm, obwohl er Kettenraucher war und sich an ihm eine deutliche Spannung wahrnehmen ließ. Schließlich fragte Norman ihn nach dem Grund seines Aufenthalts in der Klinik.

Der Mann wußte ihn nicht. Es tue ihm leid, erklärte er, aber er könne sich nicht erinnern. Nach wiederholtem Fragen verlor er seine angenehmen Umfangsformen, wurde reizbar und schließlich aggressiv, bedrohte Norman, schlug auf den Tisch und verlangte, er solle von etwas anderem reden.

Erst da dämmerte es Norman, wer der Mann war: Alan Whit-tier, der als Jugendlicher Mutter und Schwester in ihrem Wohnwagen in Palm Desert ermordet und anschließend an einer Tankstelle sechs weitere Menschen sowie noch einmal drei auf dem Parkplatz eines Supermarkts umgebracht hatte. Schließlich hatte er sich schluchzend der Polizei gestellt, hysterisch vor Schuldgefühlen und Gewissensbissen. Whittier befand sich seit zehn Jahren in der geschlossenen Abteilung dieser Klinik, und er hatte während jener Zeit mehrere Wärter brutal angegriffen.

Dieser Mann also stand jetzt schäumend vor Wut Norman gegenüber, trat nach dem Tisch und schleuderte seinen Stuhl an die Wand. Norman hatte als Student noch keine Erfahrung im Umgang mit solchen Patienten und wußte nicht, was er tun sollte. Er wandte sich zur Flucht, aber die Tür war versperrt. Man hatte ihn mit Whittier eingeschlossen, wie das bei Gesprächen mit gewalttätigen Patienten die Regel war. Hinter ihm hob der Mann den Tisch, schleuderte ihn gegen die Wand und ging dann auf Norman los. Dieser durchlebte einen Augenblick entsetzlicher Panik, bis er den Schlüssel im Schloß hörte. Drei stämmige Wärter stürmten herein, packten den schreienden und fluchenden Whittier und schleppten ihn davon.

Norman ging schnurstracks zu seinem Professor und verlangte eine Erklärung. Warum hatte man ihn so ins Messer laufen lassen? Er schilderte, was passiert war, woraufhin der Professor ihn fragte: »Hat man Ihnen denn nicht gesagt, mit wem Sie es zu tun hatten? Sagte Ihnen der Name nichts?« und Norman erwiderte, er habe wohl nicht recht zugehört.

»Das sollten Sie unbedingt tun, Norman«, hatte ihm der Professor geraten. »An einem Ort wie diesem darf man mit seiner Wachsamkeit nie nachlassen. Das wäre zu gefährlich.«

Als Norman jetzt durch den Raum zu Beth hinüberblickte, dachte er: Paß auf, Norman, bleib auf der Hut. Du hast es hier mit einer verrückten Person zu tun und es bisher nicht gemerkt.

»Ich sehe, daß du mir nicht glaubst«, sagte Beth, noch immer ganz gelassen. »Kannst du reden?«

»Klar«, sagte Norman.

»Logisch denken und so weiter?«

»Klar«, sagte er und dachte: Nein, nicht ich bin hier verrückt.

»Na schön«, sagte Beth, »weißt du noch, wie du mir das über Harry erzählt hast - wie alles auf ihn deutete?«

»Ja, natürlich.«

»Du wolltest wissen, ob ich eine andere Erklärung hätte, und ich sagte nein. Aber es gibt eine, Norman. Einige Punkte, die du beim erstenmal geflissentlich übersehen hast. Beispielsweise die Quallen. Warum sind Quallen aufgetreten? Deinen kleinen Bruder haben Quallen gebissen, Norman, und du hast dich hinterher schuldig gefühlt. Und wann spricht Jerry? Wenn du dabei bist, Norman. Wann hat der Kalmar seinen Angriff abgebrochen? Als du bewußtlos wurdest, Norman. Es ist nicht Harry, Norman - du bist es.«

Ihre Stimme klang ganz ruhig und vernünftig. Er bemühte sich zu erfassen, was sie sagte. War es möglich, daß sie recht hatte?

»Betrachte das Ganze doch mal mit Distanz«, forderte Beth ihn auf. »Du bist als Psychologe hier mit einem Haufen Naturwissenschaftler zusammen, die es mit harten Fakten zu tun haben. Für dich gibt es hier unten nichts zu tun - das hast du selbst gesagt. Und hat es in deinem Leben nicht eine Zeit gegeben, in der du dich in deinem Beruf ähnlich übergangen gefühlt hast? War das nicht eine schlimme Zeit für dich? Hast du mir nicht selbst gesagt, daß du es kaum hast aushalten können?«

»Ja, aber -«

»- und als es dann mit diesen sonderbaren Vorfällen losging, hatten wir es plötzlich nicht mehr mit harten Fakten zu tun, sondern mit psychologischen Problemen. Das ist dein Gebiet, Norman. Jetzt konntest du mit deinem Fachwissen glänzen. Mit einemmal standest du im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Das stimmt doch?«

Nein, dachte er. Du irrst dich.

»Als Jerry angefangen hat, mit uns zu reden, wer hat da gemerkt, daß er Emotionen hat? Wer wollte unbedingt, daß wir auf sie eingingen? Von uns hat sich niemand dafür interessiert, Norman. Barnes hatte nur ein Ziel, er wollte etwas über die Bewaffnung herausbekommen. Ted ging es ausschließlich um Naturwissenschaft, und Harry wollte nur logische Spielchen spielen. Du bist derjenige, der sich für Emotionen interessiert. Und wer hat Jerry manipuliert - oder besser gesagt, wer hat es nicht geschafft? Du, Norman. Das bist alles du.«

»Das kann nicht sein«, sagte Norman. In seinem Kopf drehte sich alles. Er bemühte sich, ein Gegenargument zu finden, und er fand eins. »Ich kann es nicht sein - denn ich war nicht in der Kugel.«

»Doch, das warst du«, sagte Beth. »Du erinnerst dich nur nicht daran.«

Er fühlte sich benommen, wie jemand, der unter einem Hagel von Schlägen mehrfach zu Boden gegangen ist und sich nur mühsam wieder aufrappelt. Es schien, als könne er sein Gleichgewicht nicht halten, und die Schläge prasselten noch immer auf ihn herab.

»Du erinnerst dich daran ebensowenig wie an meine Bitte, die Steuercodes für den Ballon nachzusehen«, sagte Beth mit ihrer gelassenen Stimme. »Als dich Barnes damals nach der Heliumkonzentration in Röhre E gefragt hat, war es genauso.«

Er dachte, was für eine Heliumkonzentration in Röhre E? Wann hat Barnes mich danach gefragt?

»Es gibt eine ganze Menge, woran du dich nicht erinnerst, Norman.«

»Wann soll ich zur Kugel gegangen sein?« fragte er.

»Vor dem ersten Kalmarangriff. Nachdem Harry drin war.«

»Da hab ich geschlafen! Ich hab auf meiner Koje gelegen und geschlafen!«

»Nein, Norman. Das stimmt nicht. Fletcher wollte dich holen, und du warst nicht da. Du warst zwei Stunden lang verschwunden, und dann bist du gekommen und hast gegähnt.«

»Ich glaub dir nicht«, erklärte er.

»Natürlich nicht. Lieber erklärst du es zum Problem anderer. Gerissen genug bist du ja dazu. Du kennst dich mit psychologischer Manipulation aus, Norman. Erinnerst du dich noch an die Tests, die du durchgeführt hast? Wie du nichtsahnende Menschen in ein Flugzeug geladen und ihnen gesagt hast, der Pilot habe einen Herzanfall? Wie du sie damit halb zu Tode geängstigt hast? Das ist eine sehr rücksichtslose Manipulation, Norman.

Und als all die Angriffe begannen, brauchtest du hier im Habitat jemanden, dem du diese ungeheuerliche Rolle des Manipulators zuweisen konntest. Also hast du Harry als Buhmann hingestellt. Aber nicht er ist der seelisch Gestörte, sondern du. Das Ungeheuer bist du. Deswegen hat sich auch dein Aussehen verändert, deshalb bist du so häßlich geworden, denn du bist das Ungeheuer, das uns all das angetan hat.«

»Aber die Mitteilung? Darin heißt es doch klar und deutlich >Ich heiße Harryc.«

»Das stimmt. Du hast sogar selbst darauf hingewiesen, daß die Person, auf die das alles zurückging, Angst hatte, ihr richtiger Name komme auf den Bildschirm.«

»Harry«, sagte Norman. »Der Name war Harry.«

»Und wie heißt du?«

»Norman Johnson.«

»Mit vollem Namen.«

Er sagte eine Weile nichts. Irgendwie gehorchte ihm sein Mund nicht. Sein Gehirn war leer.

»Ich will es dir sagen«, sagte Beth. »Ich habe nachgesehen: Norman Harrison Johnson.«

Nein, dachte er. Nein, nein, nein. Sie irrt sich.

»Es fällt schwer, sich so etwas einzugestehen«, sagte Beth langsam mit ihrer geduldigen, nahezu hypnotischen Stimme. »Das verstehe ich. Aber wenn du darüber nachdenkst, wirst du merken - du wolltest, daß es so weit kommt. Du wolltest selbst, daß ich es herausbekomme, Norman. Noch vor wenigen Minuten hast du den Zauberer von Oz erwähnt, oder nicht? Du hast mir weitergeholfen, als ich nicht verstand - oder dein Unbewußtes hat mir geholfen. Bist du noch immer bei klarem Verstand und ruhig?«

»Selbstverständlich.«

»Dann bleib es, Norman. Wir wollen die Sache logisch durchdenken. Bist du bereit, mit mir zusammenzuarbeiten?«

»Was hast du vor?«

»Ich möchte dich mit einer Spritze bewußtlos machen, Norman. Wie Harry.«

Er schüttelte den Kopf.

»Es ist nur für ein paar Stunden, Norman«, sagte sie. Dann schien sie einen Entschluß zu fassen. Mit einigen schnellen Schritten war sie bei ihm. Er sah die Spritze in ihrer Hand, das Glitzern der Nadel und drehte sich weg. Die Nadel fuhr in die Wolldecke. Er schleuderte die Decke von seinen Schultern und rannte zur Treppe.

»Norman, komm zurück!«

Er lief die Treppe hinauf. Er sah, daß Beth ihm mit der Sprit-ze in der Hand folgte, trat danach, erreichte das Labor im Obergeschoß und schlug ihr die Luke vor der Nase zu.

»Norman!«

Sie hämmerte gegen die Luke. Er hatte sich daraufgestellt, das Gewicht konnte sie nie und nimmer heben. Beth hörte nicht auf, mit der Faust gegen die Luke zu schlagen.

»Norman Johnson, mach sofort auf!«

»Nein, Beth, ich denke nicht daran.«

Er überlegte. Was konnte sie tun? Nichts, befand er. Hier war er sicher, hier kam sie nicht an ihn heran. Sie konnte ihm nichts tun, solange er hierblieb.

Dann sah er, wie sich zwischen seinen Füßen in der Mitte der Luke die Spindel drehte. Auf der anderen Seite schloß Beth das Handrad.

Sie sperrte ihn ein.

06:00

Die einzige Lampe im Labor beschien die Fläche des Arbeitstisches neben einer Reihe beschrifteter Flaschen. Sie enthielten kleine Kalmare, Garnelen, Eier des Riesenkalmars. Er berührte sie geistesabwesend, schaltete dann das Bildschirmgerät ein und drückte auf Tasten, bis er Beth sah, die unten vor der Überwachungseinheit saß. Neben ihr lag Harry, nach wie vor bewußtlos.

»Norman, kannst du mich hören?«

Laut sagte er: »Ja, Beth, ich höre dich.«

»Norman, mit deinem verantwortungslosen Verhalten gefährdest du die ganze Expedition.«

Ob das stimmt? überlegte er. Er war nicht dieser Ansicht, und er hatte auch nicht den Eindruck, daß es objektiv stimmte.

Doch wie oft hatte er es schon mit Patienten zu tun gehabt, die nicht bereit waren, sich einzugestehen, was in ihrem Leben geschah? Da gab es ganz banale Fälle - ein Mann, ebenfalls Universitätsprofessor, hatte Angst vor Aufzügen, behauptete aber steif und fest, er benutze die Treppen, weil körperliche Bewegung gesund sei. Bis ins fünfzehnte Stockwerk stieg er, Verabredungen in höheren Gebäuden lehnte er ab. Er organisierte sein ganzes Leben um ein Problem herum, vor dem er sein Bewußtsein verschloß und das ihm daher verborgen blieb, bis er schließlich einen Herzanfall erlitt. Dann war da noch die Frau, die, erschöpft von Jahren der Sorge um ihre geistig gestörte Tochter, dem Mädchen ein Röhrchen Schlaftabletten mit der Begründung gab, es brauche Ruhe; das Mädchen schluckte alle Tabletten auf einmal und starb. Und wie war es mit dem unerfahrenen Freizeitsegler, der bei Sturm gutgelaunt seine ganze Familie zu einem Segelausflug an Bord nahm und sie um ein Haar alle umgebracht hätte?

Dutzende von Beispielen fielen ihm ein. Diese Blindheit dem Ich gegenüber war ein psychologischer Gemeinplatz. Glaubte er etwa, dagegen immun zu sein? Drei Jahre zuvor war es zu einem kleinen Skandal gekommen, als sich über das lange freie Labor-Day-Wochenende Anfang September einer der Assistenzprofessoren des Fachbereichs Psychologie erschossen hatte. In den Schlagzeilen hatte es geheißen: »selbstmord eines psychologieprofessors. Kollegen zeigen sich überrascht, sagen, der Tote sei >immer fröhlich< gewesen.«

Der Dekan der Fakultät, der durch den Vorfall und die Publizität das Spendenaufkommen für die Universität gefährdet sah, hatte Norman Vorwürfe gemacht, aber die unangenehme Wahrheit war nun einmal, daß der Psychologie strenge Grenzen gesetzt waren. Selbst mit dem Wissen des Fachmanns und den besten Absichten stieß man immer wieder auf große Gebiete der Unwissenheit, wenn es um die engsten Freunde, Kollegen, den Ehepartner oder die eigenen Kinder ging.

Noch weniger aber wußte man über sich selbst. Am schwierigsten war es, sich seiner selbst bewußt zu werden. Nur wenige Menschen erreichten diese Stufe, vielleicht sogar niemand.

»Norman, bist du da?«

»Ja, Beth.«

»Ich halte dich für einen guten Menschen, Norman.«

Er sagte nichts, beobachtete sie nur auf dem Bildschirm.

»Ich glaube, du bist ein anständiger Mensch, zu dessen moralischen Grundsätzen es gehört, die Wahrheit zu sagen. Du siehst dich in diesem Augenblick vor die schwierige Aufgabe gestellt, der Wahrheit über dich selbst ins Auge zu sehen. Ich weiß, daß dein Bewußtsein versucht, Ausflüchte zu finden, einem anderen die Schuld zuzuschieben, aber ich glaube, daß du es schaffen kannst, Norman. Harry könnte es nicht, aber du kannst es. Du bist stark genug, dir die harte Wahrheit einzugestehen - daß die Expedition in Gefahr ist, solange du bei Bewußtsein bist.«

Sie sagte das mit großer Überzeugungskraft und nachdrücklicher Stimme. Während sie sprach, kam es ihm fast vor, als seien ihre Gedanken Kleidungsstücke, die sie ihm über den Körper streifte. Er begann, die Dinge mit ihren Augen zu sehen. Bei so viel Gelassenheit mußte sie einfach recht haben. Ihre Gedanken waren so machtvoll. Was sie sagte, klang so überzeugend ...

»Beth, warst du in der Kugel?«

»Nein, Norman. Das ist jetzt wieder so ein Ablenkmanöver, ein Versuch von dir, der Sache auszuweichen. Ich war nicht da - aber du.«

Daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. Sein Gedächtnis war wie leergefegt. Als Harry in der Kugel gewesen war, hatte er sich anschließend erinnert. Warum hätte Norman das vergessen, eine Denksperre dagegen errichten sollen?

»Ausgerechnet du als Psychologe willst nicht zugeben, daß es in dir eine Schattenseite gibt«, sagte sie. »Du hast ein berufsbedingtes Interesse daran, an deine eigene geistige Gesundheit zu glauben. Selbstverständlich bestreitest du, daß du dort gewesen bist.«

Der Ansicht war er nicht. Aber wie sollte er die Frage klären, wie feststellen, ob sie recht hatte oder nicht? Sein Gehirn arbeitete nicht besonders gut. In seinem verletzten Knie pochte es schmerzhaft. Zumindest daran gab es keinen Zweifel - sein verletztes Knie war real.

Realitätsprüfung.

So läßt sich die Sache klären, dachte er. Mit einer Realitätsprüfung. Wo war der objektive Beweis dafür, daß er in der Kugel war? Alles, was im Habitat vorfiel, wurde aufgezeichnet. Falls er vor vielen Stunden in die Kugel gegangen war, mußte es irgendwo ein Band geben, das ihn allein in der Luftschleuse zeigte, wie er sich den Taucheranzug überstreifte und sich davonstahl. Beth müßte es ihm zeigen können. Wo war es?

Natürlich im Tauchboot.

Es war wohl schon lange dort. Vielleicht war es unter den Bändern gewesen, die er selbst auf seinem Ausflug zum Tauchboot dort deponiert hatte.

Er hatte keinen objektiven Beweis zur Hand.

»Norman, gib auf. Bitte. Um unser aller willen.«

Vielleicht hat sie recht, dachte er. Sie war ihrer Sache so sicher. Sofern er sich wirklich der Wahrheit nicht stellte und damit die Expedition in Gefahr brachte, mußte er seinen Widerstand aufgeben und sich von ihr mit einer Spritze außer Gefecht setzen lassen. Konnte er ihr vertrauen? Das würde er müssen. Er hatte keine Wahl.

Außer mir kann es niemand sein, dachte er. Ich muß es sein. Die Vorstellung war ihm entsetzlich - das aber war an sich schon verdächtig. Die Heftigkeit, mit der er sich gegen den

Gedanken wehrte, schien ihm selbst kein gutes Zeichen. Zuviel Widerstand, dachte er.

»Norman?«

»Okay, Beth.«

»Wirst du es tun?«

»Dräng mich nicht. Laß mir noch etwas Zeit, ja?«

»Natürlich, Norman.«

Er sah auf den Videorekorder neben dem Bildschirm. Ihm fiel ein, wie Beth darauf immer und immer wieder dasselbe Band abgespielt hatte, auf dem zu sehen war, wie sich die Kugel von selbst öffnete. Es lag jetzt auf dem Tisch neben dem Gerät. Er schob es ein und schaltete den Rekorder an. Warum seh ich mir das jetzt an? überlegte er. Du willst Zeit schinden, die Entscheidung hinauszögern.

Über den Bildschirm zuckten schwarze und weiße Streifen. Er wartete auf das vertraute Bild, wie Beth mit dem Rücken zur Kamera Kuchen aß. Das hier aber war eindeutig ein anderes Band, es zeigte die Kugel. Die glänzende Kugel, die einfach dastand.

Er sah es sich einige Sekunden lang an, doch nichts geschah. Die Kugel war unbeweglich wie immer. Hochglanzpoliert, bewegungslos, vollkommen. Er ließ das Band weiterlaufen, aber es gab immer noch nichts zu sehen.

»Norman, wenn ich jetzt die Luke öffne, kommst du dann ganz friedlich runter?«

»Ja, Beth.«

Seufzend lehnte er sich zurück. Wie lange würde seine Bewußtlosigkeit dauern? Etwas weniger als sechs Stunden. Das war so schlimm nicht. Auf jeden Fall, da hatte Beth recht, mußte er sich geschlagen geben.

»Norman, warum siehst du dir das Band an?«

Er blickte sich rasch um. Gab es in dem Raum eine Videokamera, über die sie ihn beobachten konnte? Ja, oben an der Decke, gleich neben der Notausstiegsluke.

»Warum siehst du dir das Band an, Norman?«

»Es hat da gelegen.«

»Wer hat dir gesagt, daß du es dir ansehen kannst?«

»Niemand«, sagte Norman. »Es lag einfach da.«

»Schalt es ab, Norman, sofort.«

Ihre Stimme klang nicht mehr so gelassen wie zuvor. »Was ist denn los, Beth?«

»Schalte sofort das verdammte Band ab, Norman!« Gerade wollte er sie nach dem Grund fragen, als er sah, wie Beth auf dem Bildschirm erschien und neben die Kugel trat. Sie schloß die Augen und ballte die Fäuste. Die spiralig gewundenen Furchen wichen auseinander und ließen Schwärze erkennen. Vor seinen Augen trat Beth in die Kugel. Dann schloß sich die Tür hinter ihr.

»Verdammte Kerle«, sagte Beth mit scharfer, wütender Stimme. »Ihr Männer müßt euch in alles einmischen. Ihr seid einer wie der andere.«

»Du hast mich belogen, Beth.«

»Warum mußtest du dir das Band ansehen? Ich hatte dich so gebeten, es nicht zu tun. Es konnte dir nur weh tun, es dir anzusehen, Norman.« Ihre Stimme war nicht mehr wütend, sondern flehend, Beth schien den Tränen nahe. Der rasche Stimmungswechsel wies auf mangelnde Stabilität und unvor-hersagbare Reaktionen hin.

Sie hatte das Habitat in ihrer Gewalt.

»Beth.«

»Es tut mir leid, Norman. Ich kann dir nicht mehr trauen.«

»Beth.«

»Ich schalte dich ab, Norman. Ich höre nicht mehr auf -«

»- Beth, warte -«

»- dich. Ich weiß, wie gefährlich du bist. Ich habe gesehen, was du mit Harry gemacht hast. Wie du die Tatsachen so verdreht hast, daß Harry schließlich als der Schuldige dastand.

O ja, das hast du wunderbar hingekriegt. Und jetzt willst du es Beth in die Schuhe schieben, nicht wahr? Nun, Norman, laß dir gesagt sein, daß du das nicht schaffst, denn ich habe dich einfach abgeschaltet. Ich kann also deine schmeichelnden, überzeugenden Worte, deine Versuche, mich zu manipulieren, nicht mehr hören. Spar dir also die Mühe, Norman.«

Er schaltete die Wiedergabe des Videobandes ab. Auf dem Bildschirm sah er jetzt Beth vor dem Steuergerät in dem Raum unter ihm.

Sie drückte auf Tasten.

»Beth?« fragte er.

Sie gab keine Antwort, arbeitete einfach weiter und murmelte dabei vor sich hin: »Du bist ein richtiger Schweinehund, Norman, weißt du das? Weil du dir so schäbig vorkommst, mußt du alle auf deine Stufe runterziehen.«

Sie spricht von sich selbst, dachte er.

»Du hast es immer so mit dem Unbewußten, Norman. Das Unbewußte hier, das Unbewußte da - alles kannst du damit erklären. O Mann, ich habe es satt bis hier. Wahrscheinlich will uns dein Unbewußtes alle umbringen, einfach, weil du dich selbst aus dem Weg räumen willst und glaubst, alle anderen mit in den Untergang reißen zu müssen.«

Ein Schauer durchlief ihn. Beth mit ihrem Mangel an Selbstsicherheit, ihrem tiefverwurzelten Selbsthaß war in die Kugel gegangen und handelte jetzt mit der Macht, die ihr die Kugel verliehen hatte, aber auf der instabilen Grundlage ihrer Gedanken. Sie sah sich als Opfer, haderte stets erfolglos mit ihrem Geschick. Alle behandelten sie ungerecht und unterjochten sie: die Männer, die Gesellschaft, die Forschungseinrichtungen, das Leben ganz allgemein. Keinesfalls brachte sie es fertig zu erkennen, daß sie selbst die Ursache für ihr Versagen war. Und sie hat das ganze Habitat mit Sprengsätzen umgeben, dachte er.

»Ich lasse nicht zu, daß du es tust, Norman. Ich halte dich auf, bevor du uns alle umbringst.«

Jedes Wort, das sie sagte, war das genaue Gegenteil der Wahrheit. Er begann, das Muster zu erkennen.

Beth hatte herausbekommen, wie man die Kugel öffnete, sie war insgeheim hineingegangen, weil sie sich schon immer zur Macht hingezogen gefühlt hatte - stets hatte sie den Eindruck gehabt, ihr fehle es an Macht und sie könne mehr davon brauchen. Aber als sie sie hatte, war sie nicht imstande, mit ihr umzugehen. Beth sah sich nach wie vor als Opfer, also mußte sie die Macht leugnen und dafür sorgen, daß sie von ihr unterjocht wurde.

In dem Punkt war sie ganz anders als Harry. Harry hatte seine Ängste geleugnet, also war es zu Manifestationen angsteinflößender Vorstellungen gekommen. Beth aber leugnete ihre Macht, und so manifestierte sie eine wirbelnde Wolke gestaltloser, unbeherrschter Macht.

Harry lebte als Mathematiker in einer bewußten Welt der Abstraktion, der Gleichungen und des Denkens, und so machte ihm beispielsweise die konkrete Form eines Kalmars Angst. Beth aber, die Zoologin, die täglich mit Tieren zu tun hatte, mit Geschöpfen, die sie anfassen und sehen konnte, schuf sich eine Abstraktion, eine Macht, die sie nicht anfassen oder sehen konnte, eine gestaltlose abstrakte Macht, die kam, um sie zu holen.

Zu ihrer Verteidigung hatte sie das Habitat mit Sprengsätzen umgeben. Kein besonders wirkungsvoller Schutz, dachte Norman.

Es sei denn für jemanden, der Selbstmord begehen will, ohne sich das einzugestehen.

Der Horror seiner ausweglosen Lage trat ihm deutlich vor Augen.

»Damit kommst du nicht durch, Norman. Ich lasse es nicht zu. Mit mir kannst du das nicht machen.«

Sie gab auf der Tastatur etwas ein. Was plante sie? Was konnte sie ihm antun? Er mußte überlegen.

Plötzlich ging das Licht im Labor aus. Einen Augenblick später erlosch auch der große Raumheizer, die roten Spiralen kühlten sich ab, wurden dunkel.

Sie hatte ihm den Strom abgeschaltet.

Wie lange konnte er es ohne die Heizung aushalten? Er nahm die Decken von Beths Koje und wickelte sich hinein. Wie lange würde er ohne Wärmezufuhr auskommen? Bestimmt keine sechs Stunden, dachte er grimmig.

»Ich bedaure, daß du mich dazu zwingst, Norman, aber du mußt meine Lage verstehen. Solange du bei Bewußtsein bist, bin ich in Gefahr.«

Vielleicht eine Stunde, dachte er. Vielleicht kann ich es eine Stunde aushaken.

»Es tut mir leid, Norman. Aber mir bleibt keine Wahl.«

Er hörte ein leises Zischen. Der Warnpiepser auf seiner Brust meldete sich. Er sah hinab. Trotz der Dunkelheit war ihm klar, daß die Anzeige jetzt grau war. Er wußte sofort, was das bedeutete.

Beth hatte ihm die Luftzufuhr abgeschnitten.

05:35

In der Dunkelheit zusammengekauert, lauschte er auf den Warnpiepser und das Zischen der rasch entweichenden Luft. Auf seinen Trommelfellen lastete ein Druck, als säße er in einem startenden Flugzeug.

Tu doch was, dachte er und spürte Panik in sich aufsteigen.

Aber es gab nichts, was er tun konnte. Er war im oberen Teil von Röhre D eingesperrt und konnte nicht hinaus. Beth hatte die Gewalt über die gesamte Anlage, und sie kannte sich mit der Handhabung des Lebenserhaltungssystems aus. Sie hatte ihm den Strom abgeschaltet, die Wärme und jetzt auch die Luftzufuhr. Er saß in der Falle.

Durch den Druckabfall platzten die versiegelten Taschen mit den Proben wie kleine Bomben, Glassplitter schossen quer durch den ganzen Raum. Er duckte sich unter die Decken und spürte, wie das Glas in den Stoff schnitt. Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Zuerst glaubte er, es sei die Anspannung, dann begriff er, daß die Luft dünner geworden war. Er würde bald das Bewußtsein verlieren.

Tu was.

Es schien ihm nicht möglich, ruhig zu atmen.

So tu doch was.

Er konnte an nichts anderes denken als ans Atmen. Er brauchte Luft. Dann dachte er an den Erste-Hilfe-Kasten. Gab es darin nicht eine kleine Notflasche mit einem Heliox-Gemisch? Er war nicht sicher. Er glaubte sich zu erinnern ... Als er aufstand, explodierte eine weitere Probenflasche, und er duckte sich, um nicht von den umherfliegenden Glassplittern getroffen zu werden.

Er rang nach Luft, seine Brust hob und senkte sich schwer. Vor seinen Augen begannen graue Flecken zu tanzen.

Auf der Suche nach dem Kasten tastete er in der Dunkelheit an der Wand entlang. Er stieß auf einen Zylinder. Heliox? Nein, zu groß - wohl der Feuerlöscher. Wo war der Kasten? Seine Hände tasteten weiter an der Wand entlang. Wo nur?

Er stieß auf den metallenen Kasten, spürte den Deckel mit dem erhaben eingeprägten Kreuz. Er machte ihn auf, fuhr mit den Händen hinein.

Die Zahl der Flecken vor seinen Augen nahm zu. Viel Zeit hatte er nicht mehr.

Seine Finger ertasteten Fläschchen, weiche Verbandpäckchen. Keine Luftflasche. Mist! Die Fläschchen fielen zu Boden, dann landete etwas Schweres und Großes dumpf auf seinem Fuß. Er beugte sich hinab, tastete den Boden ab, schnitt sich an einer Glasscherbe und achtete nicht weiter darauf. Seine Hand schloß sich um einen kalten Metallzylinder. Er war klein, kaum länger als seine Handfläche. An einem Ende war etwas angebracht, eine Düse .

Es war eine Sprühdose - irgendeine dämliche Sprühdose. Er schleuderte sie weg. Atemluft brauchte er. Luft!

Neben der Liege, fiel ihm ein. Gab es nicht an jeder Koje im Habitat eine Helioxreserve für Notfälle? Er tastete sich zur Liege vor, auf der Beth geschlafen hatte, suchte die Wand über dem Kopfende ab. Es mußte doch eine Helioxflasche in der Nähe geben. Er war bereits benommen, konnte nicht mehr klar denken.

Nichts.

Dann fiel ihm ein, das hier war keine richtige Koje, die Liege war nicht als ständige Schlafstelle gedacht. Hier hatte man bestimmt keine Atemluftreserve untergebracht. Verdammt! Und dann stieß seine Hand auf einen Metallzylinder in einer Wandhalterung. An einem Ende war etwas Weiches ...

Eine Atemmaske.

Rasch zog er sie sich über Mund und Nase, drehte den gerändelten Knopf auf. Er hörte es zischen, atmete kalte Luft. Eine Welle der Benommenheit überflutete ihn, dann wurde sein Kopf vollkommen klar. Atemluft! Alles war in Ordnung.

Er fuhr mit den Händen an der Flasche entlang, um ihre Größe abzuschätzen. Eine Notration, nur ein paar hundert Kubikzentimeter. Wie lange sie wohl vorhalten würde? Nicht lange. Ein paar Minuten. Nur ein kurzer Aufschub.

Tu endlich was.

Aber ihm fiel nichts ein, was er tun könnte. Es gab keine Möglichkeiten. Er war in einem geschlossenen Raum eingesperrt.

Er mußte an einen seiner früheren Professoren denken, den dicken alten Dr. Temkin. »Es gibt immer eine Möglichkeit, man kann immer etwas tun, hat immer einen Ausweg.«

Hier aber nicht, dachte er. Diesmal gibt es keinen Ausweg. Ohnehin hatte sich Temkin auf die Behandlung von Patienten bezogen und nicht darauf, wie sich jemand befreien kann, der eingesperrt ist. Darin besaß Temkin ebensowenig Erfahrung wie Norman.

Das Heliox stieg ihm zu Kopf - oder ging es gar schon zu Ende? Seine ehemaligen akademischen Lehrer zogen an ihm vorüber, einer nach dem anderen. War das der Film des Lebens, der einem angeblich vor dem inneren Auge abläuft, bevor man stirbt? All seine Lehrer kamen noch einmal zu Wort: Mrs. Jefferson, die ihm geraten hatte, lieber Jura zu studieren. Der alte Joe Lamper, der lachend gesagt hatte: »Alles geht auf den Sexus zurück. Glauben Sie mir, alles.« Dann Dr. Stein, der zu sagen pflegte: »Es gibt keinen widerspenstigen Patienten. Zeigen Sie mir einen widerspenstigen Patienten, und ich zeige Ihnen einen widerspenstigen Therapeuten. Wer mit einem Patienten nicht vorankommt, soll etwas anderes machen, irgendwas. Hauptsache, er tut etwas.«

Tu was.

Stein schlug verrückte Sachen vor. Wenn Sie zu einem Patienten nicht durchdringen, flippen Sie ruhig aus. Ziehen Sie sich ein Clownskostüm an, treten Sie ihn, bespritzen ihn mit einer Wasserpistole, tun Sie, was Ihnen gerade einfällt, nur tun Sie was.

»Sehen Sie«, sagte er immer, »was Sie gerade machen, klappt nicht - also können Sie ebensogut etwas anderes tun, ganz gleich, wie verrückt es aussieht.«

Damals war das ja gut und schön, dachte Norman. Er hätte zu gern gesehen, wie Stein dieses Problem hier angegangen wäre. Was würde er ihm raten?

Öffnen Sie die Tür. Das geht nicht - sie hat sie versperrt.

Reden Sie mit ihr. Das geht nicht, sie hört nicht zu.

Drehen Sie die Luft auf. Das geht nicht, sie beherrscht die ganze Anlage.

Bringen Sie die Anlage in Ihre Hand. Das geht nicht, sie hat alles unter sich.

Suchen Sie nach Hilfe innerhalb des Raumes. Das geht nicht, da gibt es nichts, was mir helfen könnte.

Dann verlassen Sie ihn. Das geht nicht; ich - Er überlegte. Das stimmte nicht. Er konnte den Raum verlassen, indem er ein Bullauge einschlug oder, besser noch, die Deckenluke öffnete. Aber er konnte nirgendwo hin. Es gab keinen Taucheranzug weit und breit. Das Wasser war eiskalt. Er hatte sich dem schon einmal für wenige Sekunden ausgesetzt, und es hatte ihn fast das Leben gekostet. Wenn er diesen Raum gegen den offenen Ozean eintauschte, würde er höchstwahrscheinlich umkommen. Vermutlich würde er sich schon den Kältetod holen, bevor der Raum überhaupt voll Wasser gelaufen war. Er würde sicher sterben.

In seiner Vorstellung sah er, wie Stein die buschigen Augenbrauen hob und unergründlich lächelte. Na und? Sterben werden Sie sowieso. Was haben Sie also zu verlieren?

Ein Plan nahm in Normans Hirn Gestalt an. Wenn er die Deckenluke öffnete, konnte er das Habitat verlassen. Vielleicht schaffte er es bis Röhre A, konnte durch die Luftschleuse zurückkehren und seinen Taucheranzug anziehen. Dann wäre er gerettet.

Falls er bis zur Luftschleuse kam. Wie lange würde er dafür brauchen? Eine halbe Minute? Eine ganze? Konnte er die Luft so lange anhalten, der Kälte so lange trotzen?

Sterben werden Sie sowieso.

Und dann dachte er, du blöder Kerl, du hältst eine Helioxfla-sche in der Hand. Du hast genug Atemluft, wenn du nicht hier drin bleibst und deine Zeit mit solchen Überlegungen vertrödelst. Vorwärts, tu was.

Nein, dachte er, da ist noch was, ich hab was übersehen .

Vorwärts!

Er hörte auf nachzudenken und kletterte zur Deckenluke empor. Er riß sich zusammen. Jetzt! Mit angehaltenem Atem drehte er das Handrad und öffnete die Luke.

»Norman! Norman, was tust du? Norman! Du bist ja verrü -« hörte er Beth ausrufen. Alles andere ging im Dröhnen unter, mit dem das eiskalte Wasser wie ein machtvoller Wasserfall in den Raum schoß und ihn anfüllte.

Kaum war er draußen, begriff er seinen Fehler. Er hatte vergessen, daß er Gewichte brauchte. Sein Körper hatte zuviel Auftrieb, zerrte ihn aufwärts. Er nahm einen letzten tiefen Atemzug aus der Helioxflasche, ließ sie los und krallte sich verzweifelt an den kalten Leitungen außen am Habitat fest. Wenn er losließ, das war ihm klar, würde er unaufhaltsam zur Wasseroberfläche aufsteigen, ohne eine weitere Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten, und oben platzen wie ein Luftballon, in den man eine Nadel hineinsticht.

Er hielt sich an den Rohren und zog sich Stück für Stück abwärts, tastete nach der nächsten Rohrleitung, dem nächsten Vorsprung, an dem er Halt finden konnte. Es war wie Bergsteigen in umgekehrter Richtung: wenn er losließ, würde er aufwärts in den Tod stürzen. Seine Hände waren längst taub. Sein Körper war steif und schwerfällig vor Kälte. Seine Lungen brannten.

Ihm blieb nur wenig Zeit.

Er erreichte den Meeresboden, schwang sich unter Röhre D, hangelte sich weiter, tastete im Dunkeln nach der Luftschleuse. Sie war nicht da! Die Luftschleuse war fort! Dann merkte er, daß er sich unter Röhre B befand. Er arbeitete sich nach A hinüber, erfühlte die Bodenplatte der Luftschleuse. Sie war geschlossen. Er versuchte, das Handrad zu drehen. Es rührte sich nicht. Er zerrte daran, doch es gab keinen Millimeter nach.

Er war ausgesperrt.

Geradezu panische Angst erfaßte ihn. Sein Körper war fast unbeweglich vor Kälte. Er wußte, daß er nur noch wenige

Sekunden bei Bewußtsein bleiben würde. Die Luke mußte sich öffnen lassen. Er schlug dagegen, hämmerte gegen das Metall, das dessen Rand umgab, seine gefühllosen Hände spürten keinen Schmerz mehr.

Das Handrad begann sich von selbst zu drehen. Die Luke öffnete sich. Er mußte einen Notknopf getroffen haben.

Er schoß durch die Wasseroberfläche empor, sog keuchend die Luft ein und sank ins Wasser zurück. Er kam wieder hoch, konnte aber nicht in die Röhre klettern. Er war unfähig, sich zu bewegen, seine Muskeln waren steifgefroren, sein Körper reagierte nicht auf seine Befehle.

Du mußt es tun, dachte er, du mußt. Seine Finger ergriffen das Metall, rutschten ab, griffen erneut danach. Nur ein Zug, dachte er. Ein letzter Zug. Er schob sich mit der Brust über den metallenen Rand, plumpste auf den Boden. Vor Kälte spürte er nichts. Er verdrehte den Körper und versuchte, die Beine hochzuziehen, und fiel zurück ins eiskalte Wasser.

Nein!

Er zog sich wieder hoch, ein letztes Mal - noch einmal über den Rand, noch einmal auf den Boden, drehen, drehen, ein Bein hoch, er schwankte bedrohlich, dann das andere Bein. Er konnte es nicht wirklich fühlen, aber dann war er aus dem Wasser.

Er zitterte vor Kälte. Bei dem Versuch, auf die Füße zu kommen, knickten ihm die Beine ein. Er zitterte am ganzen Leibe, seine Beine vermochten ihn nicht zu tragen.

Er sah seinen Taucheranzug an der Wand hängen, sah die Aufschrift johnson auf dem Helm. Zitternd kroch er darauf zu. Er versuchte aufzustehen, vergeblich. Die Beinlinge seines Taucheranzugs mit den Stiefeln daran hingen unmittelbar vor seinem Gesicht. Er versuchte, sie zu ergreifen, aber die Finger wollten sich nicht schließen. Er versuchte, sich mit den Zähnen in den Anzug zu verbeißen und sich an ihm hochzuziehen, aber sie klapperten unkontrollierbar.

Über die Sprechanlage meldete sich Beth.

»Norman! Ich weiß, was du tust, Norman!«

Beth würde jeden Augenblick hier sein. Er mußte unbedingt in den Anzug hinein. Er sah ihn vor sich hängen, nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht, aber noch immer zitterten seine Hände zu sehr. Er konnte nichts festhalten. Schließlich sah er die Werkzeugschlaufen an der Hüfte. Er fuhr mit einer Hand in eine davon, fand Halt. Er zog sich nach oben, bekam einen Fuß in den Anzug, dann den anderen.

»Norman!«

Er griff nach dem Helm. Dieser hämmerte im Stakkato gegen die Wand, bis es ihm gelang, ihn vom Haken zu heben und über den Kopf zu ziehen. Er drehte ihn auf seinen Sitzring, hörte, wie der Schnappverschluß einrastete.

Noch immer fror er entsetzlich. Warum wurde es im Taucheranzug nicht warm? Dann fiel es ihm ein - kein Strom. Die Batterie bildete eine Einheit mit den Atemluftflaschen. Norman schob sich rückwärts an das Paket heran, zog es sich mit einem Ruck über die Schultern und taumelte unter dem Gewicht. Er mußte die Versorgungsleitung einhaken - er griff nach hinten, spürte sie - hielt sie - an der Hüfte einhaken - einhaken -

Er hörte ein Klicken.

Der Ventilator summte.

Er spürte den Schmerz in Streifen über seinen ganzen Körper laufen. Die Wirkung der elektrischen Heizelemente rief auf seiner unterkühlten Haut eine Schmerzreaktion hervor, so als steche man Tausende von Nadeln hinein. Beth sagte etwas - er hörte sie über die Sprechanlage -, aber er war nicht imstande, ihr zuzuhören. Er setzte sich schweratmend auf den Boden. Seine Bewegungen waren immer noch schwerfällig.

Doch jetzt würde alles gut sein; der Schmerz ließ nach, sein Kopf wurde allmählich klar, und er zitterte nicht mehr so sehr. Er war zwar stark ausgekühlt, aber nicht ernsthaft dadurch gefährdet - es war wohl nur eine periphere Unterkühlung gewesen. Er erholte sich rasch.

In der Sprechanlage knisterte es.

»Du schaffst es nie bis zu mir, Norman!«

Er stand auf, hängte sich den Gewichtsgürtel um, hakte die Verschlüsse ein.

»Norman!«

Er schwieg. Ihm war jetzt recht warm, fast fühlte er sich wie immer.

»Norman! Ich bin von Sprengstoff umgeben! Wenn du in meine Nähe kommst, jage ich dich in die Luft! Dann stirbst du, Norman! Du kommst nicht an mich ran!«

Aber er wollte gar nicht zu Beth. Sein Plan sah ganz anders aus. Er hörte die Luft aus den Flaschen zischen, als sich der Druck in seinem Anzug einpegelte.

Er sprang zurück ins Wasser.

05:00

Die Kugel blitzte im Lichtschein auf. Norman erkannte sein Spiegelbild auf der vollkommen polierten Oberfläche, sah dann, wie es in viele Teile zerfiel, als er an den spiralig gewundenen Furchen vorbeiging.

Zur Tür!

Sie sah aus wie ein Mund, mußte er denken. Wie der Rachen eines Ur-Geschöpfes, das ihn zu verschlingen drohte. Wie er so der Kugel gegenüberstand, spürte er angesichts des fremdartigen, nicht von Menschenhand stammenden Musters der spiraligen Vertiefungen seine Entschlußkraft nachlassen. Plötzlich hatte er Angst. Er glaubte nicht, daß er es durchstehen würde.

Sei nicht albern, ermahnte er sich. Harry hat es geschafft. Beth hat es geschafft. Beide haben es überlebt.

Er untersuchte die spiraligen Windungen, als hoffte er, von ihnen Gewißheit zu erlangen. Doch Gewißheit war dort nicht zu finden. Was er sah, waren nichts als gekrümmte Furchen im Metall, die das Licht zurückwarfen.

Okay, dachte er schließlich. Ich mach's. Ich bin so weit gekommen und hab bisher alles überlebt. Warum also nicht auch das hier.

Los, mach schon auf.

Aber die Kugel öffnete sich nicht. Sie blieb haargenau so, wie sie war, eine schimmernde, polierte, vollkommene Form.

Welchen Zweck hatte das Ding? Würde er doch nur den Zweck verstehen.

Erneut dachte er an Dr. Stein. Wie hieß noch dessen Lieblingssatz? »Verstehen ist eine Verzögerungstaktik.« Stein konnte sich immer wieder darüber aufregen: Wenn die Studenten theoretisierten, sich über die Patienten und deren Probleme ausführlich ausließen, pflegte er sie jedesmal wütend zu unterbrechen: »Wen interessiert das? Wer will denn schon wissen, ob wir in diesem Fall die theoretischen Grundlagen verstehen oder nicht? Wollen Sie ins Wasser springen und schwimmen, oder wollen Sie verstehen, was man tun muß, um schwimmen zu können? Nur Menschen, die Angst vor dem Wasser haben, wollen das. Andere springen rein und werden naß.«

Na schön, dachte Norman. Dann werden wir eben naß.

Er konzentrierte sich auf die Kugel und dachte: Mach auf.

Nichts.

»Mach schon auf«, sagte er laut.

Die Kugel öffnete sich nicht.

Natürlich wußte er, daß das so nicht klappen würde, denn das hatte Ted stundenlang versucht. Als Harry und Beth hineingegangen waren, hatten sie nichts gesagt. Sie hatten einfach etwas gedacht.

Er schloß die Augen, konzentrierte sich und dachte: Mach auf.

Er öffnete die Augen und sah auf die Kugel. Sie war nach wie vor geschlossen.

Du kannst aufmachen, dachte er. Ich bin jetzt bereit. Nichts geschah. Die Kugel öffnete sich nicht.

Norman hatte nicht damit gerechnet, daß es ihm nicht gelingen könnte, die Kugel zu öffnen. Immerhin hatten es zwei vor ihm bereits geschafft. Aber wie?

Harry mit seinem logischen Verstand hatte als erster den Weg erkannt, aber auch erst, nachdem er Beths Band gesehen hatte. Also hatte er auf dem Band einen Hinweis gefunden, einen wichtigen Hinweis.

Beth hatte es ebenfalls immer wieder ablaufen lassen, es ein ums andere Mal angesehen. Auch sie war schließlich dahintergekommen. Irgend etwas auf dem Band ...

Schade, daß ich das Band nicht hier habe, dachte Norman. Aber er hatte die Szene so oft gesehen, daß er sie wahrscheinlich rekonstruieren, vor seinem inneren Auge ablaufen lassen konnte. Wie war das noch? Er sah die Bilder vor sich: Beth und Tina unterhielten sich. Beth aß Kuchen. Dann hatte Tina etwas über die Bänder gesagt, die zum Tauchboot gebracht wurden, und Beth hatte etwas geantwortet. Dann war Tina aus dem Bild verschwunden, aber man hörte sie fragen: »Glauben Sie, daß man die Kugel je aufkriegt?«

Und Beth hatte gesagt: »Möglich. Ich weiß es nicht.« Und in dem Augenblick hatte sich die Kugel geöffnet.

Warum?

»Glauben Sie, daß man die Kugel je aufkriegt?« hatte Tina gefragt. Als Antwort auf diese Frage mußte Beth sich die Kugel offen vorgestellt, ein Bild der offenen Kugel vor ihrem geistigen Auge gehabt haben -

Da hörte er ein tiefes leises Rumpeln; die Schwingungen erfüllten die ganze Halle.

Die Tür stand offen, weit und schwarz lag der Zugang vor

ihm. Das ist es, dachte er. Stell dir vor, es geschieht, und es geschieht. Und wenn er sich vorstellte, daß sich die Tür der Kugel schloß -Mit einem erneuten tiefen Rumpeln schloß sich die Tür. - oder öffnete -Die Tür öffnete sich erneut.

»Besser das Glück nicht auf die Probe stellen«, sagte er laut. Die Tür stand nach wie vor offen. Vergeblich versuchte er, die Finsternis mit den Augen zu durchdringen. Jetzt oder nie -Er trat ein.

Die Kugel schloß sich hinter ihm.

Dunkelheit, und während sich die Augen an sie gewöhnen, etwas wie Glühwürmchen. Ein tanzender, leuchtender Schaum, Millionen von Lichtpünktchen, die um ihn herumwirbeln.

Was ist das? denkt er. Um ihn ist nichts als Schaum zu sehen. Er hat keine Gestalt und offensichtlich auch keine Grenzen. Es ist ein schwellender Ozean, glitzernder Schaum mit zahlreichen Facetten. Norman empfindet ein tiefes Gefühl der Schönheit und des Friedens. Es ist erholsam, hier zu sein.

Mit den Händen schöpft er Schaum, den mit seinen Bewegungen durcheinanderwirbelt. Dann bemerkt er, wie seine Hände durchsichtig werden und er den funkelnden Schaum durch sein eigenes Fleisch hindurch sehen kann. Er blickt an seinem Körper hinab. Seine Beine, der Rumpf - alles wird im Schaum durchsichtig. Er ist Teil des Schaums. Das Gefühl ist wunderbar angenehm.

Er wird leichter. Bald wird er gehoben und treibt im endlosen Schaumozean. Er legt die Hände hinter dem Nacken zusammen und läßt sich treiben. Er fühlt sich glücklich. Voller Glücksgefühl meint er, für immer hier bleiben zu können.

Ihm wird bewußt, daß es noch etwas anderes in diesem Ozean gibt, irgend etwas ist gegenwärtig. »Ist hier jemand?« fragt er.

Ich bin hier.

Er zuckt fast zusammen, so laut hallt es. Jedenfalls kommt es ihm so vor. Dann fragt er sich, ob er überhaupt etwas gehört hat.

»Hast du gesprochen?«

Nein.

Wie treten wir miteinander in Verbindung? überlegt er. So wie alles mit allem in Verbindung tritt. Und wie geschieht das?

Warum fragst du, wenn du die Antwort schon weißt? Aber ich weiß sie nicht.

Der Schaum schaukelt ihn sacht und friedlich hierhin und dorthin, aber eine Weile bekommt Norman keine Antwort. Er fragt sich, ob er wieder allein ist. Bist du da? Ja.

Ich hatte gedacht, du seiest fortgegangen. Es gibt keinen Ort, wohin ich gehen könnte. Heißt das, daß du hier in der Kugel eingesperrt bist?

Nein.

Wirst du mir eine Frage beantworten? Wer bist du? Ich bin kein wer. Bist du Gott?

Gott ist ein Wort.

Ich meine, bist du ein höheres Wesen oder ein höheres Bewußtsein?

Höher als was?

Höher als ich, nehme ich an.

Wie hoch bist du?

Ziemlich niedrig. Jedenfalls denke ich mir das.

Nun, das ist dein Problem.

Während er in dem Schaum herumtreibt, beunruhigt ihn die Möglichkeit, Gott könne sich über ihn lustig machen. Er denkt, erlaubst du dir einen Spaß mit mir?

Warum fragst du, wenn du die Antwort schon weißt?

Spreche ich mit Gott?

Du sprichst überhaupt nicht.

Du nimmst sehr genau, was ich sage. Liegt das daran, daß du von einem anderen Planeten kommst?

Nein.

Bist du von einem anderen Planeten?

Nein.

Bist du aus einer anderen Zivilisation?

Nein.

Woher bist du?

Warum fragst du, wenn du die Antwort schon weißt?

Zu einer anderen Zeit, denkt er, hätte ihn eine solche sich wiederholende Antwort gereizt, jetzt aber empfindet er nichts dabei. Er urteilt nicht. Er nimmt einfach Informationen in sich auf.

Aber die Kugel kommt aus einer anderen Zivilisation, denkt er.

Ja.

Und vielleicht aus einer anderen Zeit.

Ja.

Und bist du nicht Teil dieser Kugel?

Jetzt bin ich es.

Und woher kommst du?

Warum fragst du, wenn du die Antwort schon weißt?

Der Schaum trägt ihn sacht fort, schaukelt ihn besänftigend.

Bist du noch da?

Ja. Es gibt keinen Ort, wohin ich gehen könnte.

Ich fürchte, ich weiß nicht sehr viel über die Religion. Ich bin Psychologe. Ich beschäftige mich damit, wie Menschen denken. In meiner Ausbildung habe ich nicht viel über Religion gelernt.

Ach so.

Psychologie hat nicht viel mit Religion zu tun.

Natürlich nicht. Du stimmst mir also zu? Ich stimme dir zu. Das ist beruhigend. Ich sehe nicht, warum. Wer ist ich? Ja, wer?

Er treibt im Schaum hin und her, empfindet tiefen Frieden, trotz der Schwierigkeiten dieser Unterhaltung. Ich mache mir Sorgen, denkt er.

Erzähle mir von ihnen.

Ich mache mir Sorgen, weil du dich wie Jerry anhörst.

Das ist zu erwarten.

Aber Jerry war in Wirklichkeit Harry.

Ja.

Dann bist du also Harry? Nein. Natürlich nicht. Wer bist du? Ich bin kein wer.

Warum hörst du dich dann wie Jerry oder Harry an?

Weil wir denselben Ursprung haben. Ich verstehe nicht.

Wen siehst du, wenn du in den Spiegel schaust? Mich selbst. Ach so.

Stimmt das nicht?

Das kommt auf dich an.

Ich verstehe nicht.

Was du siehst, kommt auf dich an.

Das weiß ich bereits. Jeder weiß das. Es ist ein psychologischer Gemeinplatz, ein Klischee.

Ach so.

Bist du eine außerirdische Intelligenz?

Bist du eine außerirdische Intelligenz?

Ich finde es schwer, mit dir zu reden. Gibst du mir die Macht?

Welche Macht?

Die Macht, die du Harry und Beth gegeben hast. Die Macht, Dinge durch die Vorstellung geschehen zu lassen. Gibst du sie mir?

Nein.

Warum nicht?

Weil du sie bereits hast.

Ich habe nicht den Eindruck, sie bereits zu haben.

Ich weiß.

Wie kommt es dann, daß ich die Macht habe?

Wie bist du hier hereingekommen?

Ich habe mir vorgestellt, daß sich die Tür öffnet.

So schaukelt er im Schaum auf und ab, wartet auf eine weitere Antwort, doch es kommt keine, da ist nur das sanfte Wiegen im Schaum, eine friedvolle Zeitlosigkeit und ein schläfriges Gefühl.

Nach einer Weile denkt er, es tut mir leid, aber es wäre mir recht, du würdest einfach erklären und aufhören, in Rätseln zu sprechen.

Auf eurem Planeten habt ihr ein Tier, das ihr Bär nennt. Es ist groß, manche sind größer als ihr, es ist klug und einfallsreich, und es hat ein Gehirn so groß wie eures. Doch der Bär unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von euch. Er kann nicht das tun, was ihr >sich etwas vorstellen nennt. Er kann sich in seinem Geist nicht ausmalen, wie die Wirklichkeit sein könnte, sich kein Bild von dem machen, was ihr die Vergangenheit und was ihr die Zukunft nennt. Nur diese besondere Fähigkeit der Vorstellungskraft, und sonst nichts, hat eurer Art zu der Bedeutung verhelfen, die ihr besitzt - nicht eure AffenNatur, nicht euer Werkzeuggebrauch und auch nicht die Sprache, weder eure Gewalttätigkeit noch eure Nachwuchspflege und auch nicht eure Einteilung in gesellschaftliche

Gruppen. Nichts von alldem ist es, denn all das findet sich auch bei anderen Tieren. Eure Bedeutung liegt in der Vorstellungskraft.

Die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, ist der größte Teil dessen, was ihr Intelligenz nennt. Ihr haltet den Einsatz dieser Fähigkeit lediglich für einen nützlichen Schritt auf dem Wege zu einer Problemlösung oder zur Verwirklichung von etwas. Dabei ist es die Vorstellungskraft selbst, die etwas geschehen läßt.

Sie ist die eurer Art eigene Gabe, und sie ist zugleich eure Gefahr, denn es beliebt euch nicht, eure Vorstellungen zu beherrschen. Ihr stellt euch herrliche Dinge vor, oder entsetzliche Dinge, und übernehmt keine Verantwortung für die Auswahl. Ihr sagt, ihr habt in euch sowohl die Macht des Guten wie die des Bösen, seid Engel und Teufel, doch in Wahrheit habt ihr nur eins in euch - die Fähigkeit, euch etwas vorzustellen.

Ich hoffe, dir hat meine Ansprache gefallen. Ich beabsichtige, sie beim nächsten Kongreß der amerikanischen Vereinigung der Psychologen und Sozialarbeiter zu halten, der im März in Houston stattfindet. Vermutlich wird sie ganz gut ankommen.

Was? denkt er verblüfft.

Zu wem hast du deiner Ansicht nach gesprochen? Zu Gott?

Wer bist du? denkt er.

Natürlich du selbst.

Aber du bist ein anderer, ein von mir Getrennter. Du bist nicht ich, denkt er.

Doch. Du hast dir mich vorgestellt.

Sag mir mehr.

Mehr gibt es nicht.

Seine Wange ruhte auf kaltem Metall. Er drehte sich auf den Rücken und sah auf die polierte Oberfläche der Kugel, die sich über ihm wölbte. Die spiraligen Furchen an der Tür hatten ihr

Muster erneut verändert.

Norman stand auf. Er fühlte sich entspannt und eins mit allem, als hätte er lange geschlafen und einen herrlichen Traum gehabt. An alles erinnerte er sich ganz deutlich.

Er ging durch das Raumschiff zurück zur Steuerzentrale, dann den Gang mit den UV-Lampen entlang zu dem Raum mit den durchsichtigen Röhren an den Wänden.

Sie waren nicht mehr leer. In jeder von ihnen lag ein weibliches Besatzungsmitglied.

Ganz, wie er es sich gedacht hatte: Beth hatte ihnen eine Warnung zukommen, ein einziges Besatzungsmitglied - eine einsame Frau - erscheinen lassen. Jetzt war Norman an der Reihe, und der Raum war voll.

Nicht schlecht, dachte er.

Er sah sich im Raum um und dachte: Verschwindet, einer nach dem anderen.

Einzeln verschwanden die Besatzungsmitglieder in den Röhren vor seinen Augen, bis sie alle fort waren.

Zurück, einer nach dem anderen.

Die Besatzungsmitglieder tauchten wieder in den Röhren auf, wie er es verlangt hatte.

Lauter Männer.

Aus den Frauen wurden Männer.

Lauter Frauen.

Sie wurden alle zu Frauen.

Er hatte die Macht.

02:00

»Norman.«

Beths Stimme zischte über den Lautsprecher durch das leere Raumschiff.

»Wo bist du, Norman? Ich weiß, daß du da irgendwo bist. Ich kann dich spüren, Norman.«

Norman ging durch die Küche, an den leeren Cola-Dosen auf der Arbeitsfläche vorbei, dann durch die schwere Tür und in die Steuerzentrale. Er erblickte Beths Gesicht auf allen Monitoren, ein Bild, das sich ein Dutzend Mal wiederholte. Sie schien ihn ebenfalls zu sehen.

»Norman, ich weiß, wo du warst. In der Kugel, nicht wahr, Norman?«

Er drückte mit der flachen Hand auf die Tastatur, wollte die Bildschirme abschalten, doch es gelang ihm nicht. Die Bilder blieben.

»Norman. Antworte, Norman.«

Er durchquerte die Steuerzentrale und ging weiter zur Luftschleuse.

»Es wird dir nichts nützen, Norman. Ich habe jetzt das Kommando. Hörst du mich, Norman?«

In der Luftschleuse rastete der Schließring an seinem Helm mit hörbarem Klicken ein; die Luft aus den Flaschen war kühl und trocken. Er lauschte auf das gleichmäßige Geräusch seines eigenen Atems.

»Norman«, meldete sich Beth über die Sprechanlage in seinem Helm. »Warum sprichst du nicht mit mir, Norman? Hast du Angst, Norman?«

Die Wiederholung seines Namens irritierte ihn. Er drückte den Knopf, der die Luftschleuse öffnete. Wasser strömte vom Boden her ein, stieg rasch.

»Ach, da bist du, Norman. Ich sehe dich jetzt.« Und sie be-gann zu lachen, ein hohes, meckerndes Lachen.

Norman wandte sich um und sah die Videokamera auf dem Roboter, der noch in der Luftschleuse stand. Er stieß gegen die Kamera, so daß sie herumschwenkte.

»Das wird dir nichts nützen, Norman.«

Er stand jetzt wieder vor dem Raumschiff, neben der Luftschleuse. Die Sprengstoffkegel, eine Reihe rot leuchtender Punkte, strebten in unregelmäßigen Linien von ihm fort, wie eine von einem verrückten Ingenieur entworfene Anflugbefeuerung einer Flughafen-Landebahn.

»Norman? Warum antwortest du mir nicht, Norman?«

Beth war labil und unberechenbar. Das konnte er an ihrer Stimme hören. Er mußte ihr die Waffe aus der Hand winden, möglichst die Sprengladungen unschädlich machen.

Aus, dachte er. Abschalten und entschärfen.

Alle roten Lichter gingen sofort aus.

Nicht schlecht, dachte er. Es gefiel ihm.

Einen Augenblick später leuchteten sie alle wieder auf.

»Das kannst du nicht, Norman«, sagte Beth lachend. »Nicht mit mir. Ich kann mich wehren.«

Er wußte, daß sie recht hatte. Sie kämpften miteinander. Wille gegen Wille, schalteten die Zündvorrichtung für den Sprengstoff an und aus. Der Streit war nicht zu entscheiden. So jedenfalls ging es nicht, er würde es auf anderem, direkterem Wege versuchen müssen.

Er trat zum nächsten Kegel. Dieser war höher, als Norman ursprünglich gedacht hatte, reichte ihm bis über die Hüfte. Obenauf leuchtete die rote Lampe.

»Ich kann dich sehen, Norman. Ich seh genau, was du tust.«

Auf dem Kegel stand etwas, gelbe Buchstaben waren in Schablonenschrift auf die graue Oberfläche gepinselt. Norman beugte sich vor, um sie zu lesen. Sein Visier war leicht beschlagen, aber er konnte die Buchstaben erkennen.

gefahr - tevac sprengstoff

u.s.n. einsatz nur für bau- und abrisszwecke detonation nach 20:00 vorgehen nach handbuch usn/vv/512-a handhabung durch unbefugte untersagt gefahr-tevac sprengstoff

Darunter stand noch mehr, aber die Schrift war kleiner, und er konnte sie nicht entziffern.

»Was machst du mit meinen Sprengladungen, Norman?!«

Ohne Beth einer Antwort zu würdigen, sah er sich die Leitungen an. Eine dünne Leitung lief unten in den Kegel hinein und eine zweite aus ihm heraus. Sie führte über den schlammigen Boden zum nächsten Kegel, und dort waren es wieder zwei Leitungen - eine hinein, eine heraus.

»Geh da weg, Norman. Du machst mich nervös.«

Eine Leitung hinein, eine heraus.

Beth hatte die Kegel in einer Reihe miteinander verbunden, wie eine Christbaumbeleuchtung. Indem er eine einzige Leitung herauszog, konnte er sämtliche Sprengsätze von der Stromversorgung trennen. Er faßte mit seiner behandschuhten Rechten nach einer der Leitungen.

»Norman! Faß das nicht an, Norman!«

»Reg dich nicht auf, Beth.«

Seine Finger schlossen sich um die Leitung. Er spürte die weiche Kunststoffumhüllung und griff fest zu.

»Norman, wenn du die Leitung rausziehst, löst du die Sprengung aus. Ich schwöre es dir - sie jagt dich, mich und Harry und alles andere hoch, Norman.«

Vermutlich stimmte es nicht. Beth log. Beth wußte nicht, was sie tat, sie war gefährlich, und sie belog ihn schon wieder.

Er zog die Hand zurück. Die Leitung war jetzt straff gespannt.

»Tu es nicht, Norman ...«

Die Leitung fest in der Hand, sagte er: »Ich mach dir einen Strich durch die Rechnung, Beth.«

»Um Gottes willen, Norman. So glaub mir doch. Du bringst uns alle um!«

Noch zögerte er. War es möglich, daß sie doch die Wahrheit sagte? Verstand sie etwas davon, wie man Sprengladungen scharf machte? Er sah auf den großen Kegel vor sich. Was für ein Gefühl es wohl war, wenn er detonierte? Würde er überhaupt etwas spüren?

»Ach was«, sagte er laut.

Er zog die Leitung heraus.

Das Kreischen der Alarmsirene in seinem Helm ließ ihn erschrocken zusammenzucken. Oben an seinem Visier blinkte eine kleine Flüssigkristall-Anzeige rasch auf: achtung . achtung ... achtung ...

»Oh, Norman. Verdammt. Jetzt haben wir den Salat.«

Er hörte über der Alarmsirene kaum ihre Stimme. Die roten Lichter auf sämtlichen Kegeln entlang des Raumschiffs blinkten. Er machte sich auf die Detonation gefaßt.

Dann aber wurde die Sirene von einer tiefen, sonoren Männerstimme unterbrochen: »Achtung, Achtung. Alle Angehörigen des Bautrupps verlassen das Sprenggebiet unverzüglich. Die Tevac-Sprengsätze sind jetzt zündungsbereit. Der Countdown beginnt ... jetzt. Zwanzig Minuten, die Zeit läuft.«

Auf dem Kegel vor ihm blitzte eine rote Anzeige auf: 20:00, lief dann rückwärts: 19:59 ... 19:58 ...

Dieselbe Angabe wiederholte sich auf dem kleinen LCDSchirm oben in seinem Helm.

Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff. Den Blick auf den Kegel gerichtet, las er die gelben Buchstaben erneut: u.s.n. einsatz nur für bau und abrisszwecke.

Natürlich! Tevac-Sprengstoffe waren nicht als Kampfmittel vorgesehen, sondern wurden nur auf Baustellen benutzt und hatten eingebaute Sicherheitszünder. Es war eine zwanzigminütige Verzögerung einprogrammiert, damit die Arbeiter den gefährdeten Bereich räumen konnten, bevor die Sprengladungen detonierten.

Zwanzig Minuten, um von hier zu verschwinden, dachte er. Reichlich Zeit.

Norman wandte sich um und ging mit raschen Schritten auf DH-7 und das Tauchboot zu.

01:40

Er ging ruhig und ohne Übereilung. Er spürte keine Hast. Sein Atem kam gleichmäßig. Er fühlte sich in seinem Anzug wohl. Alle Systeme funktionierten einwandfrei. Er würde jetzt verschwinden. »Norman, ich bitte dich .«

Jetzt flehte Beth, wieder ein auffälliger Stimmungsumschwung. Er ignorierte sie und ging weiter auf das Tauchboot zu. Die tiefe Stimme sagte vom Band: »Achtung. Alle NavyAngehörigen verlassen das Sperrgebiet unverzüglich. Neunzehn Minuten. Die Zeit läuft.«

Norman erfüllte ein Gefühl der Zielbewußtheit, der Macht. Er hatte keine Illusionen mehr und keine Fragen. Er wußte, was er zu tun hatte. Er mußte sich retten.

»Ich kann nicht glauben, daß du das tust, Norman. Ich kann nicht glauben, daß du uns im Stich läßt.«

Glaub es nur, dachte er. Welche Wahl blieb ihm denn? Beth war unbeherrscht und gefährlich. Es war jetzt zu spät, sie zu retten - es wäre vollkommen verrückt, ihr zu nahe zu kommen.

Sie war gemeingefährlich. Schon einmal hatte sie versucht, ihn umzubringen, und damit fast Erfolg gehabt.

Und Harry? Der stand seit dreizehn Stunden unter dem Einfluß betäubender Drogen; wahrscheinlich war er sowieso bereits klinisch tot, hirntot. Norman hatte keinen Grund zu bleiben. Hier gab es für ihn nichts mehr zu tun.

Das Tauchboot war jetzt nah. Er konnte schon die Beschläge auf dem gelben Rumpf sehen.

»Norman, bitte ... ich brauche dich.«

Tut mir leid, dachte er. Ich verschwinde hier.

Er ging unter den beiden Schrauben um das Heck herum, las den Namen, Deepstar III, auf dem geschwungenen Rumpf und erstieg die Leiter zur Kuppel.

»Norman -«

Er öffnete die Luke, stieg ins Boot. Er löste den Helm, nahm ihn ab.

»Achtung. Achtzehn Minuten. Die Zeit läuft.«

Norman setzte sich auf den gepolsterten Führersitz und musterte die Steuereinrichtungen. Die Instrumente schalteten sich ein, und die Instrumententafel unmittelbar vor ihm leuchtete auf.

deepstar iii - kommando-einheit

brauchen sie hilfe?

ja nein storno

Er drückte »ja« und wartete, bis die nächste Maske aufleuchtete.

Schade um Harry und Beth; es tat ihm leid, sie zurückzulassen. Aber beide hatten, jeder auf seine Weise, dabei versagt, ihr eigenes Inneres zu erkunden, und damit Schwäche gegenüber der Kugel und ihrer Macht gezeigt - sie waren Opfer des klassischen Irrtums aller Naturwissenschaftler, dieses sogenannten Sieges des rationalen über das irrationale Denken.

Naturwissenschaftler waren nicht bereit, sich ihre irrationale Seite einzugestehen und ihre Relevanz anzuerkennen. Sie beschäftigten sich nur mit dem Rationalen. Alles ergab für einen Naturwissenschaftler einen Sinn, falls aber nicht, wurde es als das abgetan, was Einstein das »bloß Persönliche« genannt hatte.

Das bloß Persönliche, dachte Norman in einem Anfall von Verachtung. Menschen töteten einander aus >bloß persönlichem Gründen.

deepstar iii - befehls-auswahl ab auf

sichern ende anzeige storno

Norman drückte »auf«. Der Bildschirm zeigte die schematische Darstellung der Instrumententafel mit dem Cursor. Er wartete auf die nächste Anweisung.

Ja, dachte er, es stimmte: Naturwissenschaftler sind nicht bereit, sich dem Irrationalen zu stellen. Aber die irrationale Seite verschwindet ja nicht einfach, nur weil man sich weigert, sich mit ihr zu beschäftigen. Das Irrationale wird nicht dadurch weniger mächtig, daß man es links liegen läßt. Im Gegenteil, gerade weil der Mensch es vernachlässigt hatte, war das Irrationale stark geworden und hatte sich ausgedehnt.

Und es war sinnlos, sich darüber zu beschweren. All die Naturwissenschaftler, die sich in den farbigen Sonntagsbeilagen der Zeitungen über die dem Menschen wesenseigene Zerstörungswut und seinen Hang zur Gewalttätigkeit beklagten und verzweifelt die Hände darüber rangen, gingen nicht etwa auf das Irrationale ein, sondern lieferten damit lediglich das formale Eingeständnis der Machtlosigkeit ihm gegenüber. Die Anzeige sprang erneut um:

deepstar iii - auftauchen

1. ballast-/anblasvorrichtung schalten auf:

ein

nächster schritt storno

Norman drückte auf die Kommandos, schaltete die Anblasvorrichtung ein und wartete auf die nächste Anzeige.

Wie gingen denn Naturwissenschaftler an ihre eigene Forschungsarbeit heran? Da waren sie alle einer Meinung: Naturwissenschaftliche Forschung mußte auf jeden Fall weitergehen. Wenn wir die Bombe nicht bauen, tut es jemand anders. Doch bald schon war sie in den Händen anderer, die dann ihrerseits sagten, wenn wir sie nicht benutzen, tut es jemand anders.

Da sagten dann die Naturwissenschaftler, die anderen sind entsetzliche, irrationale und verantwortungslose Menschen. Mit uns Naturwissenschaftlern ist alles in Ordnung, die anderen sind das wahre Problem.

In Wahrheit aber begann die Verantwortung bei jedem einzelnen und bei den Entscheidungen, die er traf. Jeder konnte seine eigene, persönliche Wahl treffen.

Nun, dachte Norman, für Beth und Harry kann ich nichts mehr tun. Er mußte an sich selbst denken.

Er hörte ein tiefes Summen, als die Motoren anliefen, und dann das pulsierende Geräusch der Antriebs schrauben. Der Bildschirm leuchtete auf:

deepstar iii - steuerinstrumente aktiviert

Auf geht's, dachte er, die Hände zuversichtlich auf den Steuereinrichtungen. Er spürte, wie das Boot seinen Befehlen gehorchte.

»Achtung. Siebzehn Minuten. Die Zeit läuft.«

Schlammige Ablagerungen wirbelten um die Kanzel herum auf, während die Schrauben das kleine Boot unter der Kuppel hervorschoben. So einfach wie Auto fahren, dachte er. Kinderleicht.

In einem langsamen Bogen lenkte er das Boot von DH-7 zu DH-8. Er war sechs Meter über dem Boden, hoch genug, daß die Schrauben keinen Schlamm aufwirbelten.

Noch siebzehn Minuten. Bei einer höchsten Steiggeschwindigkeit von zwei Metern pro Sekunde - er rechnete es im Kopf rasch und mühelos aus - würde er in zweieinhalb Minuten oben ankommen.

Es war noch reichlich Zeit.

Er manövrierte das Boot nahe an DH-8 heran. Die Außenbeleuchtung des Habitats war gelb und schwach. Wahrscheinlich ließ die Leistung der Generatoren allmählich nach, stand die Stromversorgung vor dem Zusammenbruch. Er konnte die Beschädigungen an der Anlage erkennen - ganze Blasenströme stiegen von den geschwächten Röhren A und B auf, er sah die tiefen Beulen in D und das klaffende Leck in der gefluteten Röhre E. Das Habitat hatte stark gelitten und würde der Belastung nicht mehr lange standhalten.

Warum war er so nahe herangekommen? Er warf einen Blick zu den Bullaugen und begriff, daß er insgeheim hoffte, Harry und Beth noch einmal zu sehen. Er wollte sehen, wie Beth am Bullauge stand und ihm in besessener Wut mit der Faust drohte. Er wollte sich mit einem letzten Blick die Bestätigung dafür holen, daß es richtig war, sie zurückzulassen.

Doch er sah nichts als das blasser werdende gelbe Licht. Er war enttäuscht.

»Norman.«

»Ja, Beth.« Jetzt fiel es ihm nicht mehr schwer, ihr zu antworten. Seine Hände lagen auf den Steuereinrichtungen des Tauchbootes, er war zum Aufsteigen bereit. Jetzt konnte sie ihm nichts mehr anhaben.

»Norman, du bist ein richtiger Schweinehund.«

»Du hast versucht, mich umzubringen, Beth.«

»Ich wollte dich nicht töten. Mir blieb einfach keine Wahl, Norman.«

»Nun ja. Mir geht es genauso. Mir bleibt keine andere Wahl.« Während er das sagte, wußte er, daß er recht hatte. Es war besser, einer überlebte, als keiner.

»Und du läßt uns jetzt einfach im Stich?«

»So ist es, Beth.«

Seine Hand glitt zum Knopf, der die Steiggeschwindigkeit regelte, und stellte ihn auf zwei Meter pro Sekunde. Bereit zum Aufsteigen.

»Du läufst einfach davon?« Er hörte die Verachtung in ihrer Stimme.

»So ist es, Beth.«

»Du, der immer gesagt hat, wie wir hier unten an einem Strang ziehen müssen?«

»Tut mir leid, Beth.«

»Du mußt ja große Angst haben, Norman.«

»Ich habe gar keine Angst.« Tatsächlich fühlte er sich stark und zuversichtlich, wie er jetzt die Steuereinrichtungen handhabte und seinen Aufstieg vorbereitete. Er fühlte sich besser als seit Tagen.

»Norman«, sagte sie. »Bitte hilf uns. Bitte.«

Ihre Worte trafen ihn irgendwo ganz tief in seinem Inneren, appellierten an seine Berufsehre, riefen ein Gefühl der Fürsorge und der Hilfsbereitschaft wach. Einen Augenblick lang war er verwirrt, seine Entschlossenheit und Überzeugung gerieten ins Wanken. Doch dann biß er die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Die Kraft strömte in seinen Körper zurück.

»Tut mir leid, Beth, dafür ist es zu spät.«

Er drückte »auf«, hörte das Dröhnen, mit dem die gefluteten Ballasttanks angeblasen wurden, und spürte, wie Deepstar III schwankte. Die Röhren des Habitats verschwanden unter ihm, er stieg dem Meeresspiegel entgegen, der dreihundert Meter

über ihm lag.

Schwarzes Wasser und, abgesehen von den Anzeigewerten auf der grünlich schimmernden Instrumententafel, keine spürbare Bewegung. Er begann die Ereignisse im Geist durchzugehen, als müsse er bereits der Navy Rede und Antwort stehen. Hatte er recht gehandelt, indem er die anderen zurückließ?

Zweifellos. Die Kugel war ein außerirdisches Objekt, das Menschen die Möglichkeit gab, ihre Gedanken in der Wirklichkeit Gestalt annehmen zu lassen. Gut und schön, nur hatten die Menschen ein gespaltenes Gehirn, liefen ihre geistigen Prozesse auf verschiedenen Bahnen ab. Es war fast so, als hätten sie zwei Gehirne. Der bewußte Teil des Gehirns ließ sich ohne Schwierigkeiten vom Willen steuern, doch das Unbewußte, ungebändigt und sich selbst überlassen, war gefährlich und zerstörerisch, wenn aus seinen Impulsen Wirklichkeit wurde.

Die Schwierigkeit mit Menschen wie Harry und Beth bestand darin, daß sie sich buchstäblich im Ungleichgewicht befanden. Ihr bewußtes Gehirn war überentwickelt, aber sie hatten sich nie die Mühe gemacht, ihr Unterbewußtsein zu erforschen. Das war der Unterschied zwischen Norman und ihnen. Er als Psychologe verfügte über eine gewisse Kenntnis seines Unterbewußtseins; es hielt für ihn keine Überraschungen bereit.

Deshalb hatten Harry und Beth Ungeheuer auftreten lassen, Norman aber nicht. Norman kannte sein Unterbewußtsein. Ihn erwarteten keine Ungeheuer.

Nein. Falsch.

Es verblüffte ihn, wie plötzlich dieser Gedanke auftrat. Hatte er vielleicht doch unrecht? Er überlegte gründlich und kam erneut zu dem Ergebnis, daß er recht hatte. Beth und Harry waren durch die Produkte ihres Unbewußten gefährdet, nicht aber Norman. Er kannte sich, die anderen kannten sich nicht.

»Es ist unbekannt, welche Ängste ein Zusammentreffen mit einer neuen Lebensform auslösen würde, und sie lassen sich auch nicht vollständig voraussagen. Die höchstwahrscheinliche Folge eines solches Zusammentreffens dürfte blankes Entsetzen sein.«

Die Aussagen, die er in seinem ULF-Bericht gemacht hatte, fielen ihm ein. Warum gerade jetzt? Der Bericht lag Jahre zurück.

»Unter der Einwirkung von blankem Entsetzen sind die Menschen zu Vernunftsentscheidungen nicht in der Lage.«

Doch Norman hatte keine Angst. Ganz im Gegenteil. Er war voller Zuversicht und fühlte sich stark. Er hatte einen Plan, und den führte er durch. Warum sollte er überhaupt einen Gedanken an diesen Bericht verschwenden? Damals hatte er sich damit abgequält, sich jeden einzelnen Satz überlegt ... Warum fiel er ihm ausgerechnet jetzt ein? Das beunruhigte ihn.

»Achtung. Sechzehn Minuten. Die Zeit läuft.«

Norman ließ den Blick über die Anzeigen vor ihm gleiten. Das Boot hatte zweihundertfünfundsiebzig Meter Wassertiefe erreicht und stieg rasch weiter. Eine Umkehr kam nicht in Frage.

Warum sollte er überhaupt an Rückkehr denken?

Wieso beschäftigte ihn der Gedanke?

Während das Boot lautlos durch schwarzes Wasser emporstieg, spürte er eine zunehmende Spaltung in sich, die an Schizophrenie grenzte. Irgend etwas war falsch, das spürte er. Es gab etwas, das er in seine Überlegungen nicht einbezogen hatte.

Was mochte das sein, was konnte er übersehen haben? Nichts, befand er, denn im Unterschied zu Beth und Harry bin ich bei vollem Bewußtsein; ich weiß, was in mir vorgeht.

Der Haken hieran war nur, daß Norman das nicht wirklich glaubte. Vollständige Bewußtheit mochte ein Ziel der Philosophen sein, aber im wirklichen Leben war sie nicht erreichbar. Bewußtsein war wie ein Kiesel, der kleine Wellen auf der Oberfläche des Unbewußten schlug. Mochte sich das Bewußt-sein noch so sehr ausbreiten, so gab es immer noch mehr Unbewußtes darunter und lag, sogar für einen humanistisch geschulten Psychologen, immer gerade außerhalb der Reichweite.

Stein, sein alter Professor, pflegte zu sagen: »Man hat seinen Schatten stets bei sich.«

Was tat Normans Schatten jetzt gerade? Was geschah in den unbewußten, verleugneten Teilen seines eigenen Gehirns?

Nichts. Weiter steigen.

Unbehaglich rutschte er auf seinem Sitz hin und her. Er wollte unbedingt nach oben, war seiner Sache so sicher .

Ich hasse Beth. Ich hasse Harry. Ich hasse es, mir über diese Leute Sorgen zu machen, mich um sie zu kümmern. Ich will mich nicht mehr kümmern. Es fällt nicht in meine Verantwortung. Ich möchte mich retten. Ich hasse sie. Ich hasse sie.

Er war entsetzt. Entsetzt von seinen eigenen Gedanken und ihrer Heftigkeit.

Ich muß umkehren, dachte er.

Wenn ich umkehre, bedeutet es meinen Tod.

Aber irgendein Teil seines Selbst wurde mit jedem Augenblick stärker. Es stimmte, was Beth gesagt hatte: Norman war derjenige gewesen, der immer wieder gesagt hatte, daß sie zusammenhalten, an einem Strang ziehen mußten. Wie konnte er die beiden jetzt im Stich lassen? Er konnte es nicht. Es ging gegen alles, wovon er überzeugt, gegen alles, was wichtig und menschlich war.

Er mußte umkehren.

Ich habe Angst umzukehren.

Endlich. Da ist es. Eine Angst, die so stark war, daß er ihre Existenz geleugnet hatte, eine Angst, die ihn dazu gebracht hatte, Vernunftgründe dafür zu suchen, warum er die anderen im Stich ließ.

Er verringerte die Steiggeschwindigkeit bis zum Stillstand. Als er den Steuerbefehl >Abwärts< gab, zitterten seine Hände.

01:35

Sacht setzte das Tauchboot auf dem Meeresboden neben dem Habitat auf. Norman trat in die Luftschleuse des Bootes, flutete sie und stieg Augenblicke später außen am Rumpf hinab. Als er zum Habitat hinüberging, dachte er, daß die Sprengkegel mit ihren blinkenden roten Lichtern merkwürdig festlich aussahen.

»Achtung. Vierzehn Minuten. Die Zeit läuft.«

Er schätzte ab, wie lange er brauchen würde. Eine Minute hinein, fünf, vielleicht sechs Minuten, um Beth und Harry die Taucheranzüge überzustreifen. Weitere vier Minuten, um sie zum Boot und an Bord zu bringen. Zwei bis drei Minuten für den Aufstieg.

Es würde knapp werden.

Er befand sich jetzt zwischen den großen Streben, auf denen die Röhren des Habitats ruhten.

»Du bist also zurückgekommen, Norman«, sagte Beth über die Sprechanlage.

»Ja, Beth.«

»Gott sei Dank«, sagte sie. Sie begann zu weinen. Er befand sich unter der Röhre A und hörte ihr Schluchzen über die Sprechanlage. Er fand den Lukendeckel und drehte das Handrad, um ihn zu öffnen. Es war arretiert.

»Beth, mach die Luke auf.«

Sie antwortete nicht. Er hörte nur ihr Weinen.

»Beth, kannst du mich hören? Mach die Luke auf.«

Wie ein Kind weinend und hysterisch schluchzend, sagte sie: »Norman, bitte hilf mir. Bitte.«

»Das versuche ich ja, Beth. Mach die Luke auf.«

»Ich kann nicht.«

»Was heißt, du kannst nicht?«

»Es hat keinen Zweck.«

»Beth«, sagte er. »Mach schon, komm ...« »Ich kann nicht, Norman.«

»Natürlich kannst du. Mach die Luke auf, Beth.«

»Du hättest nicht zurückkommen sollen, Norman.«

Für Diskussionen dieser Art war jetzt wahrlich keine Zeit. »Beth, nimm dich zusammen. Mach die Luke auf.«

»Nein, Norman. Ich kann nicht.«

Sie begann erneut zu weinen.

Er probierte alle Luken durch, eine nach der anderen. Der Zugang zu Röhre B war ebenso verriegelt wie der zu C und D.

»Achtung. Dreizehn Minuten. Die Zeit läuft.«

Er stand jetzt vor Röhre E, die bei einem der KalmarAngriffe geflutet worden war, und sah das gähnende Loch in der äußeren Zylinderwandung. Durch das Loch könnte er einsteigen, aber falls er sich an dessen scharfen Rändern den Taucheranzug zerriß .

Nein, entschied er. Zu gefährlich. Er ging weiter. Gab es unter Röhre E denn keine Luke?

Er fand eine und drehte das Handrad. Die Luke ließ sich leicht öffnen, er klappte den runden Deckel hoch und hörte ihn oben gegen die Innenwand schlagen.

»Norman? Bist du das?«

Er zog sich in die Röhre hinauf. Vor Anstrengung keuchend rutschte er auf allen vieren über den Boden. Er schloß die Luke, verriegelte sie und gönnte sich einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen.

»Achtung. Zwölf Minuten. Die Zeit läuft.«

Großer Gott, dachte er, nur noch?

Etwas Weißes trieb an seinem Visier vorüber, ließ ihn zusammenzucken. Er erkannte ein Paket Cornflakes. Als er es berührte, zerfiel ihm die Pappe unter den Händen, die Flocken glichen gelbem Schnee.

Er war in der Küche. Hinter dem Herd sah er eine weitere Luke, die in Röhre D hinüberführte. Da D nicht unter Wasser stand, mußte er irgendwie einen Druckausgleich schaffen, das Wasser aus E hinauszudrücken.

Er sah sich um. Über ihm führte eine Luke im Schott zum Wohnbereich mit dem gähnenden Loch. Er stieg rasch hinauf. Er mußte Gas finden, irgendwelche Gasbehälter. Im Wohnbereich war es dunkel mit Ausnahme des Widerscheins vom Bootsscheinwerfer, der schwach durch den Riß hereindrang. Kissen und Polstermaterial trieben im Wasser. Etwas stieß gegen ihn, er fuhr herum und sah langes, dunkles Haar. Als es sich in der Strömung leicht bewegte, entblößte es ein Gesicht, von dem ein Teil weggerissen worden war. Es bot einen grotesken Anblick.

Tina.

Schaudernd stieß Norman den Leichnam beiseite, der aufwärts davontrieb.

»Achtung. Elf Minuten. Die Zeit läuft.«

Alles geht zu schnell, dachte er. Es blieb kaum genug Zeit. Er müßte jetzt eigentlich schon im Habitat sein.

Keine Gasbehälter im Wohnbereich. Er kletterte zurück zur Küche und schloß die Luke über sich. Sein Blick fiel auf den Herd, er öffnete die Backröhre, und Blasen strömten ihm entgegen. In der Backröhre war Luft gefangen gewesen.

Nanu, es kommen ja immer noch mehr Blasen, dachte er, das kann doch gar nicht sein. Eine ununterbrochene Kette von Gasbläschen entströmte dem offenen Herd.

Es hörte überhaupt nicht auf.

Was hatte Barnes über das Kochen unter Druck gesagt? Irgend etwas war da nicht wie sonst, aber er wußte nicht mehr genau, was. Kochten sie mit Gas? Ja, aber sie brauchten einen höheren Sauerstoffanteil. Das aber bedeutete ...

Er zerrte den Herd von der Wand. Die Anstrengung ließ ihn aufstöhnen, aber er fand, was er suchte. Eine niedrige Propangasflasche und zwei große blaue Druckbehälter.

Sauerstofflaschen.

Er drehte die Schrägsitzventile auf, was mit den behandschuhten Fingern nur schwer ging. Gas strömte brausend aus und stieg zur Decke. Dort sammelte es sich und bildete eine große Luftblase.

Er öffnete die zweite Sauerstofflasche. Der Wasserspiegel sank schnell, bis zu seiner Hüfte, dann bis zu den Knien. Dort pegelte er sich ein. Die Flaschen waren wohl leer. Nicht weiter schlimm, das Wasser stand jetzt niedrig genug.

»Achtung. Zehn Minuten. Die Zeit läuft.«

Norman öffnete die Schott-Tür zur Röhre D und ging hinein.

Das Licht glomm dunkel. Ein seltsamer grüner, schleimiger Belag bedeckte die Wände.

Auf dem Sofa lag der bewußtlose Harry, immer noch mit dem intravenös angelegten Schlauch in seinem Handrücken. Mit einem Ruck zog Norman die Nadel heraus, so daß es blutete. Er schüttelte Harry, versuchte ihn zu wecken.

Harrys Augenlider zitterten, aber sonst reagierte er nicht. Norman hob ihn auf, legte ihn sich über die Schultern: Er mußte ihn zur Luftschleuse bringen.

Über die Sprechanlage hörte er Beth immer noch schluchzen. »Norman, du hättest nicht kommen sollen.«

»Wo bist du, Beth?«

Auf den Bildschirmen las er: ZÜNDUNG NACH 09:32.

Die Ziffern der unerbittlich laufenden Uhr schienen unnatürlich rasch rückwärts zu eilen.

»Nimm Harry mit und geh, Norman. Laßt mich hier.«

»Sag mir, wo du bist, Beth.«

Er durchquerte D und C - keine Beth zu sehen. Harry lastete schwer auf seiner Schulter und behinderte ihn beim Durchstieg durch die Schott-Türen.

»Es hat keinen Zweck, Norman.«

»Komm schon, Beth.«

»Ich weiß, daß ich schlecht bin, Norman. Niemand kann mir

helfen.«

»Beth ...« Da er ihre Stimme nur durch den Kopfhörer in seinem Helm hörte, konnte er sie nicht orten. Keinesfalls durfte er es darauf ankommen lassen, den Helm abzunehmen. Nicht jetzt.

»Ich hab den Tod verdient, Norman.«

»Laß den Quatsch, Beth.«

»Achtung. Neun Minuten. Die Zeit läuft.«

Eine neue akustische Warnung ertönte, ein in Abständen auftretendes Piepsen, das mit jeder Sekunde lauter und nachdrücklicher wurde.

Jetzt war er in Röhre B, einem Gewirr aus technischen Anlagen und Rohrleitungen. Einst war das alles sauber und bunt lackiert gewesen, jetzt bedeckte schleimiger Schimmel alles, und an manchen Stellen sah man faserige Behänge wie Moos. In Röhre B sah es aus wie in einem Dschungelsumpf.

»Beth ...«

Keine Antwort. Sie muß hier sein, dachte er. Sie hatte sich immer am liebsten in B aufgehalten, dort, von wo aus alle Vorgänge im Habitat gesteuert und überwacht wurden. Er setzte Harry ab und lehnte ihn gegen eine Wand. Sie war jedoch so glitschig, daß Harry mit dem Oberkörper seitlich abglitt und mit dem Kopf auf den Boden schlug. Er hustete und öffnete die Augen.

»Was ist passiert? Du, Norman?«

Mit einer Handbewegung brachte Norman ihn zum Schweigen.

»Beth?« fragte Norman.

Wieder keine Antwort. Er zwängte sich durch die schleimbedeckten Rohre.

»Beth?«

»Laß mich zufrieden, Norman.«

»Das kann ich nicht, Beth. Ich nehm dich auch mit.«

»Nein, ich bleibe, Norman.« »Beth«, sagte er, »dafür ist jetzt keine Zeit.«

»Ich bleibe, Norman. Ich verdiene es nicht anders.«

Jetzt sah er sie. Sie hatte sich, eine Sprengkopf-Harpune in der Hand, zwischen einigen Rohren zusammengekauert und weinte wie ein Kind. Mit tränenverschleiertem Blick sah sie ihn an.

»Ach, Norman«, sagte sie. »Du wolltest uns doch verlassen .«

»Es tut mir leid. Ich hatte unrecht.«

Er ging auf sie zu, streckte ihr die Hände entgegen. Sie richtete die Harpune auf ihn. »Nein. Du hattest recht. Ich möchte, daß du jetzt gehst.«

Über ihrem Kopf sah er auf einem leuchtenden Bildschirm die Zahlen unerbittlich rückwärts laufen: 08:27 ... 08:26 ...

Das kann ich doch ändern, dachte er. Die Zahlen sollen sofort aufhören weiterzulaufen.

Sie taten es nicht.

»Gegen mich kommst du nicht an, Norman«, sagte sie, in die Ecke gedrückt. Ihre Augen blitzten vor wütender Energie.

»Das sehe ich.«

»Dir bleibt nicht viel Zeit, Norman. Nun geh doch endlich.«

Sie hielt die Harpune entschlossen auf ihn gerichtet. Mit einemmal empfand er die ganze Absurdität der Situation. Da war er zurückgekehrt, um jemanden zu retten, der überhaupt nicht gerettet werden wollte. Was sollte er jetzt tun? Beth drückte sich hinter den Rohren in die Ecke, wo er sie nicht erreichen, ihr nicht helfen konnte. Er hatte ja selbst kaum genug Zeit zu entkommen, geschweige denn Harry mitzunehmen .

Harry, dachte er auf einmal. Wo war der jetzt?

Harry soll mir helfen.

Aber war dazu noch Zeit? Die Zahlen liefen rückwärts, es waren kaum noch mehr als acht Minuten .

»Ich bin gekommen, um dich mitzunehmen, Beth.«

»Geh«, sagte sie. »Geh jetzt, Norman.« »Aber Beth -«

»- nein, Norman! Es ist mir ernst! Warum gehst du nicht?« Dann wurde sie mißtrauisch und sah sich um. Da richtete Harry sich auch schon hinter ihr auf und ließ einen schweren Schraubenschlüssel auf ihren Kopf niedersausen. Es verursachte ein Geräusch, das Norman Übelkeit verursachte, und sie sank zu Boden.

»Hab ich sie umgebracht?« fragte Harry. Die tiefe Männerstimme sagte: »Achtung. Acht Minuten. Die Zeit läuft.«

Norman konzentrierte sich auf die rückwärts laufende Uhr. Stop. Stop den Countdown.

Doch als er wieder hinsah, lief die Uhr noch. Störte die akustische Warnung seine Konzentration? Er versuchte es erneut. Stop jetzt. Schluß mit dem Countdown. Norman sah auf Beth, die stöhnend auf dem Boden lag. Eins ihrer Beine bewegte sich noch.

»Sie kann es noch immer irgendwie beeinflussen«, sagte er. »Sie ist sehr stark.« »Können wir ihr eine Spritze geben?« Norman schüttelte den Kopf. Es blieb nicht genug Zeit, nach der Spritze zu suchen, denn wenn sie ihr eine Spritze gaben, ohne daß es etwas fruchtete, hätten sie wertvolle Zeit vergeudet.

»Soll ich noch mal zuschlagen?« fragte Harry. »Kräftiger? Sie umbringen?« »Nein«, sagte Norman.

»Sie umzubringen ist die einzige Möglichkeit.« »Nein«, sagte Norman und dachte, dich haben wir auch nicht umgebracht, Harry, als wir die Möglichkeit dazu hatten. »Wenn du das nicht willst, kannst du nichts unternehmen.« Sie schleppten sie zur Luftschleuse.

»Wie lange haben wir noch?« fragte Harry. Sie waren in der Luftschleuse von A und versuchten, Beth den Taucheranzug anzuziehen. Sie stöhnte, das Haar an ihrem Hinterkopf war mit Blut verklebt. Beth wehrte sich, und das erschwerte die Sache.

»Menschenskind, Beth. Wieviel Zeit ist noch, Norman?«

»Siebeneinhalb Minuten, vielleicht weniger.«

Ihre Beine hatten sie in den Anzug bekommen. Rasch schoben sie die Arme nach, verschlossen den Anzug und verbanden ihn mit den Helioxflaschen. Norman half Harry, den Anzug anzulegen.

»Achtung. Sieben Minuten. Die Zeit läuft.«

»Was glaubst du, wie lange wir bis oben brauchen?« fragte Harry.

»Zweieinhalb Minuten, sobald wir im Boot sind.«

»Na großartig«, sagte Harry.

Norman ließ Harrys Helm einrasten. »Fertig.«

Harry stieg aus der Schleuse, und Norman ließ Beths bewußtlosen Körper hinab. Er war wegen der Atemluftflaschen und des Gewichtgürtels sehr schwer.

»Los jetzt, Norman!«

Norman sprang ins Wasser.

Am Tauchboot stieg Norman zur Luke empor. Es war nicht vertäut und schwankte heftig unter seinem Gewicht. Harry versuchte, Beth zu Norman hochzuschieben, doch sie knickte immer wieder in der Taille ein. Norman rutschte bei dem Versuch, nach ihr zu fassen, vom Boot und landete auf dem Meeresboden.

»Achtung. Sechs Minuten. Die Zeit läuft.«

»Beeil dich, Norman! Nur noch sechs Minuten!«

»Das hab ich auch gehört, verdammt.«

Norman stand auf und stieg erneut auf das Boot. Doch jetzt war sein Anzug schlammbedeckt, und seine Handschuhe glitten ab. Harry zählte laut mit. »Fünf neunundzwanzig ... fünf achtundzwanzig . fünf siebenundzwanzig . « Norman faßte Beth am Arm, aber er entglitt ihm immer wieder.

»Verdammt noch mal, Norman! Halt sie doch fest!«

»Versuch ich ja!«

»Hier. Da hast du sie wieder.«

»Achtung. Fünf Minuten. Die Zeit läuft.«

Die akustische Warnung ertönte jetzt schrill und ununterbrochen. Sie konnten sich nur noch schreiend verständigen.

»Harry, gib sie mir -«

»Hier hast du sie -«

»Daneben -«

»Hier -«

Schließlich erwischte Norman Beths Luftschlauch unmittelbar hinter ihrem Helm. Er überlegte, ob er sich wohl lösen würde, aber das Risiko mußte er eingehen. Er zog sie nach oben, bis sie mit dem Rücken auf dem Boot lag. Dann machte er sich daran, sie in die Luke hinabzulassen.

»Vier neunundzwanzig . vier achtundzwanzig .«

Norman konnte kaum das Gleichgewicht halten. Eins von Beths Beinen brachte er zwar in die Luke, aber das andere Knie war angebeugt und hatte sich am Lukenrand verkeilt. Jedesmal, wenn er sich vorbeugte, um ihr Knie zu strecken, neigte sich das ganze Boot, und er verlor erneut das Gleichgewicht.

»Vier sechzehn . vier fünfzehn .«

»Hör doch auf mitzuzählen und tu endlich was!«

Harry stemmte sich gegen die Seitenwand des Bootes, um es zu stabilisieren. Norman beugte sich vor, streckte Beths Knie, und sie glitt problemlos in die offene Luke. Norman stieg ihr nach. Die Luftschleuse war nur für eine Person vorgesehen, aber Beth war bewußtlos und konnte die Knöpfe nicht betätigen.

Er mußte es für sie tun.

»Achtung. Vier Minuten. Die Zeit läuft.«

Er stand in verkrampfter Haltung in der Luftschleuse, Brust an Brust mit Beth, so daß ihr Helm gegen seinen schlug. Mit Mühe brachte er es fertig, die Luke über seinem Kopf zu schließen. Er drückte das Wasser mit Preßluft heraus, und Beths Körper, den jetzt das Wasser nicht mehr hielt, sank schwer gegen ihn.

Er versuchte, um sie herum den Griff zur Tür in das Innere des Bootes zu erreichen, doch Beths Körper war im Weg. Er wollte sie drehen, doch hatte er in dem engen Raum keinen Hebelarm, konnte sie nicht beiseite heben. Beth war unglaublich schwer.

Das ganze Boot begann zu schwanken. Harry stieg an seinem Rumpf empor.

»Was zum Teufel treibst du da drin?«

»Halt die Klappe, Harry!«

»Warum geht es nicht weiter?«

Normans Hand schloß sich um den Griff der Tür und löste ihn, doch sie bewegte sich nicht. Verzweifelt begriff er, daß sie sich nach innen öffnete. Solange Beth mit ihm zusammen in der Schleuse war, konnte er die Tür nicht öffnen - sie wurde von Beths Körper blockiert.

»Harry, es geht nicht weiter.«

»Machst du Witze . nur noch dreieinhalb Minuten!«

Norman begann zu schwitzen. Es war wirklich höchste Eisenbahn. »Harry, ich muß sie dir rausreichen und erst alleine rein.«

»Mann Gottes, Norman .«

Norman flutete die Luftschleuse und öffnete die Luke nach außen noch einmal. Harry hatte größte Schwierigkeiten, oben auf dem Boot das Gleichgewicht zu halten. Er faßte nach Beths Luftschlauch und zog sie daran hinauf.

Norman griff nach oben, um den Deckel zu schließen.

»Harry, kannst du ihre Füße da wegnehmen?«

»Hör mal, ich hab schon Mühe, mich auf dem Boot zu hal-ten.«

»Kannst du nicht sehen, daß ihre Füße die Luke ver -« Wütend schob Norman ihre Füße beiseite. Der Deckel schloß sich problemlos. Die Luft blies an ihm vorbei. Der Überdruck war hergestellt.

»Achtung. Zwei Minuten. Die Zeit läuft.«

Er war im Tauchboot. Die Instrumente leuchteten grünlich.

Er schloß die Tür zur Luftschleuse hinter sich.

»Norman?«

»Sieh zu, daß du sie hier runterkriegst«, sagte Norman, »so schnell du kannst.«

Jetzt waren sie wirklich in Teufels Küche: Es würde mindestens dreißig Sekunden dauern, Beth in die Luke hineinzubekommen und weitere dreißig, bis Harry im Boot war. Eine ganze Minute -

»Sie ist drin. Blas an.«

Normans Hand fuhr zum Ventil, die Luft drückte das Wasser hinaus.

»Wie hast du sie so schnell hier rein gekriegt, Harry?«

»So, wie die Natur Menschen durch enge Öffnungen bekommt«, sagte Harry. Norman wollte ihn schon fragen, was er damit gemeint hatte, doch als er die Tür öffnete, ergab sich die Antwort von selbst - Harry hatte Beth kopfüber in die Luftschleuse geschoben. Vorsichtig faßte er nach ihren Schultern und zog sie auf den Boden des Bootes. Dann schlug er die Tür wieder zu. Augenblicke später hörte er das Blasen der Luft, mit der Harry seinerseits das Wasser aus der Luftschleuse hinauspreßte.

Die Tür schloß sich mit lautem Schlag. Harry kam nach vorn zum Steuerstand.

»Verdammt«, sagte er. »Nur noch eine Minute und vierzig Sekunden. Kannst du mit dem Ding umgehen?« fragte er.

»Ja.«

Norman setzte sich und legte die Hände auf die Steuerein-richtungen.

Sie hörten, wie die Schrauben anliefen, und spürten den Ruck, mit dem sich das Boot schwankend vom Meeresboden hob.

»Eine Minute dreißig Sekunden. Wie lange dauert es bis nach oben?«

»Zweieinhalb Minuten«, sagte Norman und stellte die Steiggeschwindigkeit ein. Er drehte den Knopf über die Einstellung zwei Meter hinaus bis zum Anschlag.

Sie hörten das hohe Pfeifen, mit dem die Ballasttanks angeblasen wurden. Die Nase des Tauchbootes hob sich in steilem Winkel, das Boot stieg rasch.

»Ist das die größte Auftauchgeschwindigkeit?«

»Ja.«

»O Mann.«

»Immer mit der Ruhe, Harry.«

Als sie hinabsahen, erkannten sie das Habitat mit seinen Lichtern. Daneben zog sich die lange Reihe der Sprengstoffkegel am Raumschiff entlang. Sie stiegen über die hohe Leitwerkflosse des Raumschiffs hinweg, ließen sie hinter sich, sahen jetzt nur noch schwarzes Wasser.

»Eine Minute zwanzig Sekunden.«

»Zweihundertfünfundsiebzig Meter«, sagte Norman. Man spürte die Bewegung kaum, lediglich die Anzeigen auf der Instrumententafel zeigten ihnen, daß es aufwärts ging.

»Das wird lange dauern«, sagte Harry. »Da unten liegt 'ne ganze Menge Sprengstoff.«

Es wird reichen, dachte Norman, ihn korrigierend.

»Die Druckwelle quetscht das Boot platt wie 'ne Sardinendose«, sagte Harry kopfschüttelnd.

Nichts wird sie uns antun.

Zweihundertvierzig Meter.

»Noch vierzig Sekunden«, sagte Harry. »Das schaffen wir nie.«

»Wir schaffen es.«

Sie waren auf zweihundertzehn Meter und stiegen rasch. Das Wasser hatte eine blaßblaue Färbung angenommen: Sonnenlicht, das bis hierher durchsickerte.

»Dreißig Sekunden«, sagte Harry. »Welche Tiefe haben wir jetzt? Neunundzwanzig ... acht...«

»Hundertneunzig Meter«, sagte Norman. »Hundertachtzig.«

Sie warfen einen Blick in die Tiefe. Das Habitat konnten sie kaum mehr ausmachen, nur noch winzige leuchtende Stecknadelköpfe weit unter ihnen.

Beth hustete. »Jetzt ist es zu spät«, sagte Harry. »Ich wußte ja gleich, daß es nicht zu schaffen war.«

»Wir schaffen es, verlaß dich drauf«, sagte Norman.

»Zehn Sekunden«, sagte Harry. »Neun ... acht ... haltet euch fest!«

Norman zog Beth an sich, als die Detonation das Boot hin und her schleuderte, wie ein Spielzeug herumwirbelte, auf den Kopf stellte, dann wieder richtig herum drehte und wie mit einer Riesenfaust nach oben riß.

»Mama!« jammerte Harry, aber das Tauchboot stieg weiter. Alles war in Ordnung. »Wir haben es geschafft!«

»Sechzig Meter«, sagte Norman. Das Wasser war jetzt hellblau. Er drückte auf Knöpfe und nahm die Auftauchgeschwindigkeit allmählich zurück. Sie war enorm hoch.

Harry schlug Norman vor Freude auf den Rücken. »Wir haben es geschafft! Gott verdammt, du Dreckskerl, wir haben es geschafft! Wir leben! Das hätte ich nie gedacht! Wirklich nicht! Wir leben!« brüllte er.

Norman konnte kaum die Instrumente vor sich sehen, Tränen standen ihm in den Augen.

Und dann mußte er heftig blinzeln, als das helle Sonnenlicht durch die gewölbte Kanzel über ihnen hereinfiel. Sie waren an der Wasseroberfläche, vor ihnen lag eine spiegelglatte See, zu ihren Häupten wölbte sich der Himmel, über den kleine Wölk-chen zogen.

»Siehst du das?« rief Harry. Er schrie in Normans Ohr. »Siehst du das? Es ist ein herrlicher gottverdammter Tag!«

00:00

Als Norman erwachte, sah er hellen Lichtschein durch das einzige Bullauge auf die chemische Toilette in der Ecke der Dekompressionskammer fallen. Er lag auf seiner Koje und sah sich in der Kammer um, einer fünfzehn Meter langen horizontalen Röhre. Sein Blick fiel auf Kojen, einen Metalltisch und Stühle in der Mitte; hinter einer kleinen Trennwand die Toilette. Harry schnarchte in der Koje über ihm. Gegenüber schlief Beth, einen Arm über das Gesicht gelegt. Wie von ferne hörte er leise Männerstimmen etwas rufen.

Gähnend schwang Norman die Beine über den Rand seiner Koje. Sein Körper schmerzte, aber sonst ging es ihm gut. Er trat an das helle Bullauge und sah hinaus, seine Augen blinzelten in der grellen Pazifiksonne.

Vor ihm lag das Achterdeck des Forschungsschiffs John Hawes: die weiße Hubschrauber-Landeplattform, schwere, aufgerollte Trossen, die metallene Röhrenkonstruktion eines Unterwasserroboters. Eine Gruppe von Seeleuten ließ fluchend, rufend und heftig gestikulierend einen zweiten Roboter über die Bordwand hinab; ihre Stimmen waren es, die er undeutlich durch die dicken Stahlwände der Kammer wahrgenommen hatte.

Er beobachtete einen muskulösen Seemann dabei, wie er eine große grüne Stahlflasche mit der Aufschrift >Sauerstoff< neben ein Dutzend weiterer Flaschen rollte, die auf dem Deck lagen. Danach fiel sein Blick auf die drei Mediziner, die die Dekom-pressionskammer überwachten und Karten spielten.

Während Norman durch das mehrere Zentimeter dicke Glas des Bullauges die Vorgänge an Deck verfolgte, kam es ihm vor, als sehe er da eine Miniaturwelt, mit der er nur wenig zu tun hatte, eine Art Terrarium voller interessanter und exotischer Geschöpfe. Diese neue Welt war ihm ebenso fremd, wie ihm einst die des dunklen Ozeans aus dem Habitat heraus erschienen war.

Er beobachtete, wie die Männer ihre Karten auf eine hölzerne Transportkiste droschen, sah sie lachen und gestikulieren. Nicht einen einzigen Blick warfen sie in seine Richtung, auf die Dekompressionskammer. Norman verstand diese jungen Männer nicht. War es nicht ihre Aufgabe, die Dekompression zu überwachen? Die drei kamen ihm jung und unerfahren vor. Da konzentrierten sie sich auf ihr Kartenspiel, statt sich um den riesigen Metallzylinder in ihrer Nähe zu kümmern. Sie schienen sich ebenso wenig aus den drei Überlebenden darin zu machen wie aus dem größeren Zusammenhang oder den Nachrichten, die die Überlebenden mit nach oben gebracht hatten. Es hatte den Anschein, als ob sich diese munteren Kartenspieler in keiner Weise um Normans Auftrag scherten -vielleicht wußten sie ja auch nichts davon.

Norman trat vom Bullauge zurück und setzte sich an den Tisch. Sein verletztes Knie schmerzte, und die Haut war um den weißen Verband herum angeschwollen. Auf dem Weg vom Tauchboot zur Dekompressionskammer hatte ein Marinearzt ihn versorgt. Sie waren von Deepstar III in eine unter Überdruck stehende Tauchglocke umgestiegen, die sie in die große Kammer auf dem Deck des Schiffs gebracht hatte. Hier mußten sie jetzt vier Tage und vier Nächte verbringen. Norman wußte nicht, wie lange er schon hier war. Alle drei waren sofort eingeschlafen, und in der Kammer gab es keine Uhr. Das Deckglas seiner Armbanduhr war zerbrochen - er wußte nicht, wann das passiert war.

In den Metalltisch, an dem er saß, hatte jemand eingeritzt: »scheiss-navy«. Norman zeichnete mit den Fingern die Einkerbungen nach und mußte dabei an die Furchen in der silbrigen Kugel denken. Jetzt waren er, Harry und Beth in den Händen der Navy.

Was sollen wir denen nur sagen? dachte er.

»Was sollen wir denen nur sagen?« fragte Beth.

Mehrere Stunden waren vergangen. Beth und Harry waren erwacht, und jetzt saßen sie zu dritt um den zerkratzten Metalltisch. Keiner von ihnen hatte einen Versuch unternommen, mit den Männern draußen zu reden. Als hätten sie sich, dachte Norman, stillschweigend darauf geeinigt, noch eine Weile von der Außenwelt isoliert zu bleiben.

»Ich glaube, wir müssen ihnen alles sagen«, sagte Harry.

»Das wäre ein Fehler«, widersprach Norman. Ihn überraschte seine Entschlossenheit, die Festigkeit seiner Stimme.

»Das finde ich auch«, sagte Beth. »Ich bin nicht sicher, daß die Welt für die Kugel bereit ist. Ich jedenfalls war es nicht.«

Sie sah beschämt zu Norman hinüber. Er legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Schon«, sagte Harry. »Aber betrachtet es doch mal vom Standpunkt der Navy. Sie haben eine aufwendige und kostspielige Operation auf die Beine gestellt; sechs Menschen sind umgekommen und zwei Unterwasser-Habitats zerstört worden. Bestimmt wollen die Leute Antworten von uns hören - und sie werden so lange fragen, bis sie die bekommen.«

»Wir können uns weigern, etwas zu sagen«, sagte Beth.

»Das wird nichts nützen«, sagte Harry. »Vergiß nicht, daß die Navy alle Bänder hat.«

»Ach ja, die Bänder«, sagte Norman. An die Videobänder im Tauchboot hatte er gar nicht mehr gedacht. Es waren Dutzende, die sie mit nach oben gebracht hatten, und sie belegten alles, was während ihres Aufenthalts da unten geschehen war: der

Kalmar, die Todesfälle, die Kugel. Alles.

»Wir hätten sie vernichten sollen«, sagte Beth.

»Vielleicht«, sagte Harry. »Aber dazu ist es jetzt zu spät. Wir können nicht verhindern, daß die Navy-Leute alles erfahren, was sie wissen wollen.«

Norman seufzte. Harry hatte recht. Es gab keine Möglichkeit zu verschweigen, was vorgefallen war, oder zu verhindern, daß die Navy erfuhr, was es mit der Kugel und mit der Macht, die sie verlieh, auf sich hatte. Diese Macht wäre gleichbedeutend mit einer unbezwingbaren Waffe: die Fähigkeit, den Feind einfach dadurch zu bezwingen, daß man sich vorstellte, er sei bezwungen. Die Auswirkungen wären unabsehbar, aber sie konnten nichts daran ändern. Es sei denn -

»Ich glaube, es gibt doch eine Möglichkeit, wie wir sie hindern können, es zu erfahren«, sagte Norman.

»Welche?« fragte Harry.

»Die Macht haben wir doch noch, oder?«

»Ich denke schon.«

»Und sie besteht«, fuhr Norman gelassen fort, »in der Fähigkeit, alles geschehen zu lassen, indem man es denkt.«

»Schon ...«

»Dann können wir dafür sorgen, daß die Navy nichts davon erfährt. Wir können beschließen, das Ganze zu vergessen.«

Harry runzelte die Stirn. »Eine interessante Frage: Haben wir die Macht, die Macht zu vergessen?«

»Ich finde, wir sollten sie vergessen«, sagte Beth. »Die Kugel ist viel zu gefährlich.«

Sie schwiegen und überlegten, zu welchen Konsequenzen ein solches Vorgehen führen würde. Nicht nur würde die Navy nie etwas über die Kugel erfahren, sondern jegliches Wissen über sie würde ausgelöscht, ihr eigenes eingeschlossen. Damit würde die Kugel aus dem Bewußtsein der Menschen verschwinden, als hätte sie nie existiert, wäre für alle Zeiten aus dem Bewußtsein der Menschheit getilgt.

»Ein großer Schritt«, sagte Harry, »sie einfach vergessen. Nach allem, was wir durchgemacht haben .«

»Gerade weil wir all das durchgemacht haben, Harry«, sagte Beth. »Seien wir mal ehrlich - wir haben uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert.« Es fiel Norman auf, daß sie ohne jede Bitterkeit sprach; ihre frühere Kampfeslust war wie weggeblasen.

»Ich fürchte, das stimmt«, sagte Norman. »Die Kugel wurde wohl mit dem Ziel gebaut, jede Form der Intelligenz, mit der sie zusammentraf, auf die Probe zu stellen, und die haben wir einfach nicht bestanden.«

»Hältst du das für den Zweck der Kugel?« fragte Harry. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Was denn sonst?« wollte Norman wissen.

»Nun«, sagte Harry, »sieh es doch einmal so: Stell dir vor, du wärest ein intelligentes Bakterium, das durch den Weltraum treibt, und stießest auf einen unserer Nachrichtensatelliten, der auf seiner Umlaufbahn die Erde umkreist. Dann würdest du doch denken: was für ein seltsamer fremdartiger Gegenstand! Den wollen wir uns mal näher besehen. Nun stell dir vor, du würdest das Ding öffnen und reinkriechen. Drinnen fändest du alles sehr interessant, und eine ganze Menge Sachen würden dir zu denken geben. Schließlich würdest du dann vielleicht in eine der Brennstoffzellen krabbeln, und der Wasserstoff würde dich umbringen. Dann wäre dein letzter Gedanke: Diese fremdartige Einrichtung wurde offensichtlich mit dem Zweck hergestellt, die Intelligenz von uns Bakterien auf die Probe zu stellen und uns umzubringen, sobald wir etwas falsch machen.

Vom Standpunkt eines sterbenden Bakteriums aus wäre das natürlich auch richtig, aber nicht vom Standpunkt der Wesen, die den Satelliten gebaut haben. Was uns betrifft, hat ein Nachrichtensatellit nichts mit intelligenten Bakterien zu tun -wir wissen ja nicht einmal, ob es da draußen solche intelligenten Bakterien gibt. Wir versuchen einfach, Nachrichtenverbin-dungen herzustellen, und haben dazu etwas gebaut, was für uns eine ganz gewöhnliche Einrichtung ist, die diesen Zweck erfüllen kann.«

»Du meinst, die Kugel ist vielleicht gar keine Nachricht, keine Trophäe und auch keine Falle?«

»Genau das«, sagte Harry. »Sie braucht überhaupt nichts mit der Suche nach anderen Lebensformen zu tun zu haben oder mit der Absicht, sie auf die Probe zu stellen, wie wir uns das denken. Möglicherweise ist es reiner Zufall, daß die Kugel bei uns so grundlegende Änderungen bewirkt hat.«

»Warum aber sollte jemand eine solche Maschine bauen?« fragte Norman.

»Genau dieselbe Frage würde ein intelligentes Bakterium über einen Nachrichtensatelliten stellen: Warum sollte jemand so was bauen?«

»Im übrigen«, sagte Beth, »ist die Kugel vielleicht gar keine Maschine, sondern eine Lebensform. Sie könnte ja immerhin lebendig sein.«

»Möglich«, sagte Harry und nickte.

Beth fuhr fort: »Falls sie lebt, sind wir dann verpflichtet, sie am Leben zu halten?«

»Wir wissen doch gar nicht, ob sie lebt.«

Norman lehnte sich zurück. »All diese Spekulationen sind zwar hochinteressant«, sagte er, »aber wenn man es recht bedenkt, wissen wir rein gar nichts über die Kugel. Möglicherweise sollten wir nicht einmal den bestimmten Artikel benutzen, sondern einfach >Kugel< sagen. Wissen wir denn, was das ist? Weder wissen wir, woher es gekommen ist, noch, ob es lebt oder unbelebt ist, und wir wissen auch nicht, wie es in das Raumschiff gelangt ist. Nichts wissen wir darüber, außer, was wir uns vorstellen - und das sagt mehr über uns aus als über dies Kugelgebilde.«

»Stimmt«, pflichtete Harry ihm bei.

»Für uns ist es buchstäblich eine Art Spiegel«, sagte Norman.

»Dabei fällt mir eine andere Möglichkeit ein«, sagte Harry. »Vielleicht kommt es gar nicht von außerhalb unseres Alls, sondern ist von Menschenhand gemacht.«

Dieser Einfall überraschte Norman sichtlich. Harry erläuterte: »Überleg mal. Ein Raumschiff aus unserer eigenen Zukunft ist durch ein Schwarzes Loch in ein anderes Universum oder einen anderen Teil unseres Universums geflogen. Wir können uns nicht vorstellen, was dabei herauskommt, aber nehmen wir mal an, es gäbe eine bedeutende Verzerrung der Zeit. Nehmen wir weiter an, das Raumschiff, das im Jahr 2043 mit einer menschlichen Besatzung aufgebrochen ist, sei tatsächlich viele tausend Jahre unterwegs gewesen. Hätte nicht in dem Fall die Besatzung die Kugel während dieser Zeit erfinden können?«

»Das halte ich nicht für wahrscheinlich«, sagte Beth.

»Wir können es ja einfach mal einen Augenblick lang annehmen, Beth«, sagte Harry sanft. Es fiel Norman auf, daß Harry seine Überheblichkeit vollkommen abgelegt hatte. Wir sitzen alle in einem Boot, dachte er, und wir arbeiten so reibungslos zusammen wie nie zuvor. Unter Wasser hatten sie ständig gestritten, doch jetzt zogen sie an einem Strang, wie ein richtiges Team.

»Was die Zukunft betrifft, gibt es eine Schwierigkeit«, sagte Harry, »die wir uns nicht eingestehen. Wir vermuten, daß wir besser in die Zukunft sehen können, als es uns in Wirklichkeit möglich ist. Leonardo da Vinci hat vor fünfhundert Jahren versucht, einen Hubschrauber zu bauen, und Jules Verne hat vor hundert Jahren ein U-Boot vorausgesagt. Anhand solcher Beispiele denken wir gern, die Zukunft sei voraussagbar in einer Weise, die der Wirklichkeit nicht entspricht. Weder Leonardo noch Jules Verne hätten sich beispielsweise einen Computer auch nur vorstellen können, denn schon das setzt viel mehr Wissen voraus, als zu jener Zeit, da diese Männer lebten, überhaupt denkbar war. Wenn man so will, ist dies Wissen später gewissermaßen aus dem Nichts gekommen.

Und jetzt, da wir hier sitzen, sind wir auch nicht klüger. Wir hätten uns nicht vorstellen können, daß die Menschen ein Raumschiff durch ein Schwarzes Loch schicken - wir vermuten überhaupt erst seit ein paar Jahren, daß es Schwarze Löcher gibt - und wir haben mit Sicherheit keine Möglichkeit, auch nur im entferntesten zu ahnen, wozu die Menschheit in ein paar tausend Jahren imstande sein wird.«

»Immer vorausgesetzt, die Kugel wurde von Menschenhand gemacht.«

»Ja, natürlich.«

»Und wenn nicht? Angenommen, sie stammt wirklich aus einer außerirdischen Zivilisation, haben wir dann das Recht, alles Wissen auszulöschen, das die Menschheit über diese außerirdische Lebensform besitzt?«

»Ich weiß nicht«, sagte Harry und schüttelte den Kopf. »Wenn wir uns entschließen, die Kugel zu vergessen ...«

»Ist sie weg«, sagte Norman.

Beth sah auf den Tisch. »Ich wollte, wir könnten jemanden fragen«, sagte sie schließlich.

»Es gibt keinen, den man fragen kann«, sagte Norman.

»Aber können wir sie eigentlich vergessen?« fragte Beth. »Geht das überhaupt?«

Ein langes Schweigen trat ein.

»Ja«, sagte Harry schließlich. »Daran dürfte kein Zweifel bestehen. Und ich glaube, wir haben bereits Hinweise darauf, daß wir sie tatsächlich vergessen werden. Das löst ein logisches Problem, das mich von Anfang an beschäftigt hat, als wir das Schiff zum erstenmal betraten. In dem Schiff hat nämlich etwas sehr Wichtiges gefehlt.«

»Tatsächlich? Was denn?«

»Ein Hinweis darauf, daß dessen Erbauer bereits von der Möglichkeit einer Reise durch ein Schwarzes Loch wußten.«

»Da kann ich dir nicht folgen«, sagte Norman.

»Nun«, sagte Harry, »wir drei haben ein Raumschiff gese-hen, das durch ein Schwarzes Loch geflogen ist; wir haben es sogar erkundet. Wir wissen also, daß eine solche Reise möglich ist.«

»Ja .«

»Aber in fünfzig Jahren wird man das Schiff versuchsweise bauen, offenkundig ohne zu wissen, daß es fünfzig Jahre zuvor bereits gefunden worden war. Es gibt in dem Raumschiff keinen Hinweis darauf, daß dessen Erbauer bereits etwas von der Existenz eines solchen Schiffs in der Vergangenheit wußten.«

»Vielleicht ist es eins von diesen Zeitparadoxen«, sagte Beth. »Ihr wißt ja, man kann nicht in die Vergangenheit zurückkehren und sich dort begegnen.«

Harry schüttelte den Kopf. »Ich halte es nicht für ein Paradox«, sagte er, »sondern glaube, daß alles Wissen über das Schiff verlorengehen wird.«

»Du meinst, wir werden es vergessen?«

»Ja«, sagte Harry. »Und offen gestanden halte ich das für die beste Lösung. Eine ganze Weile habe ich da unten gedacht, daß keiner von uns je lebend zurückkäme. Das war die einzige Erklärung, die mir einfiel. Deswegen wollte ich auch mein Testament machen.«

»Aber wenn wir beschließen, es zu vergessen .«

»Genau«, sagte Harry. »Wenn wir das beschließen, führt es zum selben Ergebnis.«

»Dies Wissen wird damit auf immer verschollen sein«, sagte Norman ruhig. Er merkte, wie er zögerte. Jetzt, wo sie diesen Punkt erreicht hatten, war er merkwürdigerweise nur widerwillig dazu bereit, den Schritt zu tun. Er fuhr mit den Fingern über den zerkratzten Tisch, als könne ihm die Oberfläche eine Lösung liefern.

In gewisser Hinsicht, dachte er, bestehen wir alle ausschließlich aus Erinnerungen. Unsere Persönlichkeit gründet auf Erinnerungen, unser Leben ist um Erinnerungen herum gebaut, unsere Kulturen ruhen auf den Fundamenten gemeinsamer Erinnerungen, die wir Geschichte und Wissenschaft nennen. Und jetzt sollen wir eine Erinnerung aufgeben, Wissen aufgeben, die Vergangenheit aufgeben .

»Leicht fällt es mir nicht«, sagte Harry kopfschüttelnd.

»Nein«, sagte Norman. »Mir auch nicht.« In der Tat erschien es ihm so schwer, daß er sich fragte, ob er da eine ebenso grundlegende Erfahrung des menschlichen Daseins erlebte, wie es der Geschlechtstrieb war. Er konnte sein Wissen einfach nicht aufgeben. Er schien ihm so bedeutend, die Folgerungen daraus so faszinierend ... Sein ganzes Wesen rebellierte gegen die Vorstellung, alles zu vergessen.

»Nun«, sagte Harry. »Ich glaube, wir müssen es tun, so oder so.«

»Ich mußte gerade an Ted denken«, sagte Beth, »und an Barnes und die anderen. Wir wissen als einzige, wie sie wirklich umgekommen sind, wofür sie ihr Leben gegeben haben. Und falls wir das vergessen .«

»Wir werden es vergessen«, sagte Norman fest.

»Sie hat recht«, sagte Harry. »Wenn wir sie vergessen, was ist dann mit den Einzelheiten? Da gibt es doch eine ganze Menge ungelöster Fragen!«

»Ich glaube nicht, daß wir da mit Schwierigkeiten rechnen müssen«, sagte Norman. »Wie wir gesehen haben, sind die schöpferischen Kräfte des Unbewußten gewaltig. Um die Einzelheiten wird sich das Unterbewußtsein kümmern. Wenn man sich morgens anzieht, denkt man auch nicht unbedingt an jede Einzelheit - Gürtel, Socken und so weiter. Man trifft einfach eine grundlegende Entscheidung, daß man so und so aussehen will, und dann zieht man sich an.«

»Trotzdem«, sagte Harry. »Wir sollten möglichst die Grundentscheidung treffen, denn wir haben alle drei die Macht dazu. Wenn wir uns verschiedene Geschichten ausdenken, stiften wir nur Verwirrung.«

»Das ist richtig«, sagte Norman. »Einigen wir uns also über den Ablauf. Warum sind wir hergekommen?«

»Ich hatte gedacht, es gehe um einen Flugzeugabsturz.«

»Ich auch.«

»Okay. Nehmen wir also an, es war ein Flugzeugabsturz.«

»Schön. Und weiter?«

»Die Navy hat ein paar Leute runtergeschickt, um die Ursachen festzustellen, und dabei hat es Schwierigkeiten gegeben -«

»- Augenblick, was für welche?«

»Der Kalmar?«

»Nein. Besser ein technisches Problem.«

»Im Zusammenhang mit dem Sturm?«

»Wenn nun während des Sturms das Lebenserhaltungssystem ausgefallen ist?«

»Ja. Gut. Das Lebenserhaltungssystem ist während des Sturms ausgefallen.«

»Und infolgedessen sind mehrere Menschen umgekommen?«

»Moment. Nicht so schnell. Wodurch ist das System ausgefallen?«

Beth schlug vor: »Das Habitat ist leckgeschlagen, und Seewasser hat die Gasreiniger in Röhre B angegriffen. Dabei wurde ein giftiges Gas freigesetzt.«

»Ist das technisch möglich?« fragte Norman.

»Ohne weiteres.«

»Und infolge dieses Unfalls sind mehrere Menschen umgekommen.«

»Okay.«

»Aber wir haben überlebt.«

»Ja.«

»Warum?« fragte Norman.

»Weil wir im anderen Habitat waren?«

Norman schüttelte den Kopf. »Das ist auch zum Teufel.«

»Vielleicht haben wir es später zerstört, mit dem Spreng-stoff.«

»Viel zu kompliziert«, sagte Norman. »Wir wollen die Sache einfach halten. Es war ein Unfall, der plötzlich und unerwartet eintrat. Ins Habitat ist Wasser eingedrungen, die Absorptionszylinder sind ausgefallen, und als Ergebnis sind die meisten umgekommen, wir aber nicht, weil -«

»Wir gerade im Tauchboot waren?«

»Einverstanden«, sagte Norman. »Weil wir in dem Boot waren, als das passierte, haben wir überlebt, und die anderen nicht.«

»Was wollten wir in dem Boot?«

»Wir haben gerade planmäßig die Bänder dorthin gebracht.«

»Und was ist mit denen?« fragte Harry. »Was gibt es auf denen zu sehen?«

»Die Bänder werden unsere Geschichte bestätigen«, sagte Norman. »Alles wird sich mit unserem Bericht decken, einschließlich der Aussagen der Marine-Leute, die uns ursprünglich runtergeschickt haben, und natürlich einschließlich unserer eigenen Aussagen - wir werden uns an nichts erinnern als an diese Geschichte.«

»Und die Macht werden wir nicht mehr haben?« fragte Beth stirnrunzelnd.

»So ist es«, sagte Norman, »damit ist es dann vorbei.«

»Okay«, sagte Harry.

Beth schien ein wenig länger über die Frage nachzudenken. Sie biß sich auf die Lippe, doch schließlich nickte sie. »Okay.«

Norman holte tief Luft und sah auf Beth und Harry. »Sind wir also bereit, die Kugel ebenso zu vergessen wie die Tatsache, daß wir einmal die Macht hatten, Dinge geschehen zu lassen, indem wir sie dachten?«

Sie nickten.

Plötzlich wurde Beth unruhig und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Aber wie stellen wir es an?«

»Ganz einfach«, sagte Norman. »Macht die Augen zu und

sagt euch selbst, daß ihr es vergessen wollt.«

»Aber bist du ganz sicher, daß wir es tun sollten? Wirklich ganz sicher?« Beth wirkte immer noch unruhig und nervös.

»Ja, Beth. Du ... gibst die Macht einfach wieder her.«

»Dann aber alle zusammen«, sagte sie. »Im selben Augenblick.«

»Schön«, sagte Harry. »Bei drei.«

Sie schlossen die Augen.

»Eins .«

Die Menschen vergessen ohnehin stets, daß sie Macht haben, dachte Norman.

»Zwei ...« sagte Harry.

Dann konzentrierte sich Norman. Plötzlich sah er die Kugel wieder ganz deutlich vor sich. Sie glänzte wie ein Stern, vollkommen und poliert, und er dachte: Ich möchte vergessen, daß ich die Kugel je gesehen habe.

Und vor seinem inneren Auge verschwand die Kugel für immer.

»Drei«, sagte Harry.

»Was meinen Sie mit drei?« fragte Norman. Er rieb sich die schmerzenden Augen mit Daumen und Zeigefinger und öffnete sie wieder. Beth und Harry saßen mit ihm um den Tisch in der Dekompressionskammer. Alle drei sahen müde und niedergeschlagen aus. Damit muß man rechnen, dachte Norman, bei dem, was wir durchgemacht haben.

»Was meinen Sie mit drei?« wiederholte er.

»Ach«, sagte Harry, »ich hab nur laut daran gedacht, daß nur noch drei von uns übrig sind.«

Beth seufzte. Norman sah Tränen in ihren Augen. Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Kleenex und schneuzte sich.

»Wir brauchen uns keine Vorwürfe zu machen«, sagte Norman. »Es war ein Unfall. Wir konnten nichts dagegen tun.«

»Ich weiß«, sagte Harry. »Aber daß die Menschen ersticken mußten, während wir im Tauchboot saßen . Ich höre sie noch schreien . Gott, wie sehr wünschte ich, daß es nie passiert wäre!«

Sie schwiegen. Beth schneuzte sich erneut.

Auch Norman wünschte, es wäre nie geschehen. Aber das brachte sie auch nicht zurück.

»Wir können es nicht ungeschehen machen«, sagte Norman, »sondern nur lernen, die Dinge hinzunehmen.«

»Das weiß ich«, sagte Beth.

»Ich habe viel Erfahrung mit Unfall-Traumata«, sagte er. »Du mußt dir immer wieder sagen, daß du keinen Grund hast, dich schuldig zu fühlen. Fakten sind unabänderlich - Menschen sind gestorben, und du selbst bist verschont geblieben. Niemand kann etwas dazu. Es ist einfach so. Es war ein Unfall.«

»Das habe ich mir auch gesagt«, erwiderte Harry, »aber trotzdem habe ich ein schlechtes Gefühl.«

»Wir müssen uns einfach immer wieder sagen, daß man nichts daran ändern kann«, empfahl ihnen Norman. »Denken Sie daran.« Er stand vom Tisch auf. Es wäre gut, etwas zu essen, dachte er. »Ich laß uns was zu essen bringen.«

»Ich habe keinen Hunger«, sagte Beth.

»Trotzdem. Wir sollten etwas essen.«

Norman trat ans Bullauge. Die aufmerksamen NavyAngehörigen sahen ihn sofort und drückten auf den Knopf der Sprechverbindung. »Können wir was für Sie tun, Dr. Johnson?«

»Ja«, sagte Norman, »wir hätten gern etwas zu essen.«

»Kommt gleich, Sir.«

Norman sah das Mitgefühl auf ihren Gesichtern. Diese jungen Offiziere verstanden, was für ein Schock es für die drei Überlebenden gewesen sein muß.

»Dr. Johnson? Meinen Sie, daß Sie jetzt mit uns reden können?«

»Reden?«

»Ja, Sir. Die Spezialisten, die die Videobänder aus dem Tauchboot auswerten, wollen Ihnen als den einzigen Überlebenden einige Fragen stellen.«

»Worüber?« fragte Norman, ohne besonderes Interesse zu zeigen.

»Nun, als man Sie herbrachte, hat Dr. Adams etwas von einem Kalmar gesagt.«

»Tatsächlich?«

»Ja, Sir. Nur ist auf den Bändern keiner zu sehen.«

»Ich kann mich auch an keinen erinnern«, sagte Norman verwirrt. Er wandte sich zu Harry um. »Haben Sie was über einen Kalmar gesagt, Harry?«

Der Angesprochene legte die Stirn in Falten. »Über einen Kalmar? Nicht, daß ich wüßte.«

Norman wandte sich dem Navy-Mann wieder zu. »Was ist auf den Bändern eigentlich drauf?«

»Sie zeigen alles bis zu dem Zeitpunkt, als die Luft im Habitat ... Sie wissen schon, der Unfall ...«

»Ja«, sagte Norman. »An den erinnere ich mich.«

»Von den Aufzeichnungen auf den Bändern glauben wir zu wissen, was geschehen ist. Vermutlich ist es zu einer Undichtigkeit in einer Wandung des Habitats gekommen, und die Zylinder der Gasreinigungsanlage sind naß geworden. Die Anlage ist ausgefallen, und die Luft in den Röhren wurde vergiftet.«

»Aha.«

»Es muß sehr plötzlich gekommen sein, Sir.«

»Ja«, sagte Johnson, »das ist es.«

»Sie sind also bereit, mit jemandem zu reden?«

»Ich denke schon. Ja.«

Norman wandte sich vom Bullauge ab. Er steckte die Hände in die Taschen seiner Jacke und stieß dabei auf ein Stück Papier. Er zog es heraus: Es war ein Foto. Neugierig betrachtete er es.

Es zeigte eine rote Corvette. Norman überlegte, woher das Bild stammen mochte. Wahrscheinlich gehörte der Wagen jemandem, der die Jacke vor ihm getragen hatte. Möglicherweise einem der Navy-Leute, die bei der Unterwasserkatastrophe umgekommen waren.

Ein Schauer überlief ihn. Er zerknitterte das Bild in der Faust und warf es in den Papierkorb. Er brauchte keine Erinnerungsstücke. Nur zu gut war die Katastrophe in sein Gedächtnis eingegraben, und er wußte, daß er sie sein Leben lang nicht vergessen würde.

Er sah zu Beth und Harry hinüber. Beide sahen müde aus. Beth starrte vor sich hin. Sie hing wohl ihren eigenen Gedanken nach. Doch ihr Gesicht war heiter. Trotz der schweren Zeit, die sie unter Wasser durchgemacht hatte, wirkte sie, fand Norman, fast schön.

»Weißt du, Beth«, sagte er, »du siehst hinreißend aus.«

Sie schien es nicht gehört zu haben, doch dann wandte sie sich ihm langsam zu. »Danke, Norman«, sagte sie.

Sie lächelte.


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