Chenaya räkelte sich im Bett, kaum daß die Sonnenstrahlen durch das Ostfenster ihres Schlafgemachs fielen. Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie wieder an ihre Begegnung mit Tempus Thaies dachte. Er war nicht so einfallsreich wie Hanse Nachtschatten, nicht halb so bezaubernd wie Enas Yorl, und der arme Irre war enttäuschend schnell gewesen. Wenn schon nichts anderes, so hatte sie eine weitere namhafte Freistätter Persönlichkeit auf ihre private Liste fügen können. Sie war froh, daß sie ihn gleich bemerkt hatte, als er im Garten herumschlich; froh, daß sie beschlossen hatte, ihm unauffällig über den Weg zu laufen.
Es war ja auch eine langweilige Party gewesen vor seinem Auftauchen.
Natürlich bildete er sich ein, er hätte sie vergewaltigt, und das erhöhte ihre Belustigung noch. Ihr spitzbübisches Lächeln wurde zu einem wahrlich boshaften Grinsen. Der arme Narr hatte keine Ahnung, was er für sein flüchtiges Vergnügen würde bezahlen müssen.
Sie setzte sich lässig auf, warf die dünne Decke zurück, erhob sich und schlüpfte in einen ärmellosen Morgenrock aus blaßblauer Seide. Auf einem kunstvoll geschnitzten Tischchen neben ihrem Bett lag ein Bronzekamm. Sie griff danach und fuhr damit durch die dichte blonde Lockenpracht, während sie ihr Gemach durchquerte und sich aufs Fensterbrett setzte. Die Sonne fühlte sich wunderbar warm an auf ihrer Haut. Es würde ein sehr heißer Tag werden.
Sie schloß die Augen und lehnte sich zurück. Ihre Gedanken wanderten zu dem seltsamen Treffen in der Rattenfalle. Es war das erste Mal, daß sie Zip, dem Führer der sogenannten Volksfront für die Befreiung Freistatts, begegnet war oder ihn überhaupt gesehen hatte. Zip war zur Zeit bei niemandem sonderlich beliebt, und wenn Freistatt von irgend etwas befreit sein wollte, dann von den blutigen, terroristischen Taktiken seiner Faktion.
Irgendwie hatte sie Zip in ihrer Vorstellung und nach den Geschichten, die sie gehört hatte, für gleichaltrig gehalten. Wahrscheinlich, weil ihn jeder immer Junge nannte. Es hatte sie überrascht, daß er um mehrere Jahre älter war als sie. Sie rief sich sein Aussehen ins Gedächtnis: dunkelhaarig, recht gutaussehend, ein hübsches Stirnband. Er hatte jedoch nicht viel von ihr gehalten, das hatten seine Augen nur zu deutlich verraten.
Tempus hatte im Garten nicht nur den einen amüsanten Antrag gemacht. Sowohl seine Stiefsöhne wie das 3. Kommando zogen von Freistatt ab, hatte er ihr erzählt. Dadurch würde die Stadt so gut wie schutzlos zurückbleiben, außer, jemand übernahm die Kontrolle über die VFBF, um mit ihr alle anderen Faktionen der Stadt zu vereinen.
»Benutz deine Gabe«, hatte er ihr ins Ohr gebrummt, während er an ihren Röcken herumfingerte. »Du bist unschlagbar. Übernimm die Kontrolle!«
Kontrolle, wahrhaftig. Sie war es gewesen, die die Dinge unter Kontrolle gehabt hatte, sogar, als er sie auf den Boden schob. Sie lächelte darüber. Es war offenbar ein Morgen des Lächelns für sie.
Tempus hatte sogar versucht, sie zu erpressen, damit sie seinen Vorschlag annahm. Offenbar war ihm klar geworden, daß sie und ihre Gladiatoren es gewesen waren, die Therons Barke angegriffen hatten, als der verdammte Usurpator unerwartet nach Freistatt gekommen war. Leider hatte der verschlagene alte Thronräuber so etwas vorhergesehen und einen bedauernswerten Pechvogel in seine Gewänder gesteckt, während er sich anderswo aufhielt. Ihr Angriff war erfolgreich gewesen, sie hatten nur den Falschen erwischt.
Trotzdem war des Geheimnisvollen Plan gar nicht so dumm, und ihr war des Nachts eine Idee gekommen wie ein Traum, wie die Stimme Savankalas persönlich, um sie zu leiten. Sie öffnete die Augen, blinzelte nachdenklich in die Sonne und widmete sich dann wieder dem Kamm und ihrem Haar.
Zwischen ihr und Kadakithis war es in letzter Zeit zu Spannungen gekommen, und Chenaya wußte durchaus, daß sie an dem Bruch ihrer kameradschaftlichen Bande schuld war. Sie hatte die vermißte Gemahlin ihres Vetters nach Freistatt zurückgebracht. Nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern um seine Vermählung mit der Beysiberin Shupansea zu verhindern. Trotz eines ranakanischen Gesetzes, das Scheidungen in der kaiserlichen Familie verbot, hatte Kadakithis offenbar die Absicht, Ende des Sommers sein Verlöbnis mit der Beysa bekanntzugeben.
Chenaya legte den Kamm auf ihren Schoß und lehnte sich zurück. Wenn sie nicht etwas unternahm, diesen Bruch wieder zu kitten, würde sich das herzliche Verhältnis zwischen ihnen nie mehr herstellen lassen. Sie ertrug es nicht, daß ihr kleiner Prinz böse auf sie war. Sie sah ein, daß sie wohl auch Frieden mit der fischäugigen Frau würde schließen müssen, die er heiraten wollte.
Tempus hatte ihr die Möglichkeit dazu gegeben. Sie blickte zur Sonne hinauf. Hab Dank, leuchtender Vater, hab Dank, daß du die Welt mit einer solchen Zahl von Narren gefüllt hast.
Wieder lächelte sie, stand auf und kleidete sich an. Es würde ein guter Tag für sie werden, voll unterhaltsamer Ereignisse.
Die Tür schwang auf, ohne daß die Besucherin geklopft hatte. Die dunkelhaarige Schönheit, die mit mürrischem Gesicht auf sie zukam, war wie ein rankanischer Gladiator gekleidet. Die Frau blickte Chenaya mißbilligend an. Dann gab sie die stolze Haltung auf; sie ließ die Schultern hängen, stöhnte, fiel theatralisch rückwärts, wohlweislich auf das Bett, wo sie liegenblieb. »Jeden Tag bei Morgengrauen aufstehen und hinaus auf den Übungsplatz, Ihr habt es mir ja oft genug gesagt.« Ein Seufzen entrang sich den vollen Lippen, und ein zierlicher Finger wie aus Elfenbein deutete anklagend: »Ihr seid nicht fertig, Herrin.« Aus ihrem letzten Wort troffen Sarkasmus und Anklage.
»Daphne, Euer schlechtes Benehmen kann mir diesen Tag nicht verderben«, sagte Chenaya, als sie einen scharlachroten Kampfkilt anzog und einen breiten Ledergürtel umlegte, dessen Schnalle in ihrem Gold glänzte.
»Seit Daxus habt Ihr mir keine Kehlen mehr ausgeliefert!« beschwerte Daphne sich.
Chenaya schnürte ihre Sandalen und log geduldig. »Ich habe es Euch schon gesagt. Die einzigen anderen Namen, die ich Euch geben könnte, sind die von Raggah. Daxus hat alle Information über Eure Karawane an diesen götterverdammten Wüstenstamm verkauft. Sie waren es, die Euch an die Piraten der Aasfresserinsel verkauft haben. Es gab keine Verschwörung, sich Eurer zu entledigen. Es war für die Raggah ein ganz und gar übliches Geschäft.«
Das stimmte nicht. Aber jene anderen in Freistatt, die sich tatsächlich verschworen hatten, Daphnes Karawane nicht in Ranke ankommen zu lassen, waren zu wichtig – wenn man die Bedrohung durch Theron bedachte –, als ihnen von Daphne die Kehle durchschneiden zu lassen. Trotz Chenayas Versprechen würde Daxus, den sie ihr ans Messer geliefert hatte, der einzige bleiben.
»Ach nein?« fauchte Daphne. »Ein ganz und gar übliches Geschäft also. Sie fingen sich nur durch Zufall eine rankanische Prinzessin ein – Kadakithis’ Gemahlin. Nichts Persönliches. Für wie dumm haltet Ihr mich eigentlich?«
»Ich bin sicher, ich muß Euch erst noch besser kennenlernen.« Chenaya griff nach ihrem Schwert, das auf einer hölzernen Truhe am Fußende ihres Bettes lag. »Wenn Ihr nichts Besseres zu tun habt, als über die Ungerechtigkeit des Lebens zu jammern, dann erhebt Euch und geht zum Übungsplatz. Leyn wird heute Euer Ausbilder sein.«
Daphne setzte sich bestürzt, verärgert auf. Dann machte sie wieder ihr mürrisches Gesicht. »Leyn?« rief sie. »Wo ist Dayrne? Er ist mein Ausbilder!«
»Er ist vergangene Nacht zu einer größeren Mission aufgebrochen«, erklärte Chenaya ihrer neuesten Schülerin. »Er hat so einiges für mich zu erledigen, das ihn quer durchs Reich führt. Während seiner Abwesenheit, bildet Leyn Euch aus.« Sie deutete mit einem Finger auf Daphne. »Und keinen Protest! Ihr habt heute schon genug gejammert. Selbst der niedrigste meiner Männer kann Euch noch eine Menge beibringen. Und jetzt geht, Prinzessin.« Sie betonte den Titel als Ermahnung, daß Daphnes Rang absolut nichts bedeutete, solange sie Kampfkleidung trug.
Daphne erhob sich aufreizend langsam und warf hochmütig das lange schwarze Haar zurück. »Wie die Herrin befiehlt«, erwiderte sie mit gespielter Untertänigkeit und ging zur Tür. Als sie hindurchtrat, sagte sie laut genug, daß Chenaya es hören konnte, »Miststück!«
Das entlockte Chenaya ein weiteres Lächeln. Sie bildete ja schließlich keine Roboter aus, sondern Gladiatoren. Und Kämpfer ohne Temperament würden nicht viel taugen. Sie hatte Daphne beobachtet, für eine Prinzessin machte sie gute Fortschritte.
Auch Chenaya wollte zum Übungsplatz, doch ehe sie auf dem Korridor weiter als zur nächsten Tür kam, prallte sie in ihrer Gedankenversunkenheit gegen ihren Vater. »Oh, Entschuldigung«, murmelte sie und stützte die Hand an die Tür, die er soeben hinter sich geschlossen hatte. »Ist das nicht Tante Rosandas Gemach?« Sie zwinkerte betont arglos, weil sie wußte, daß sie ihn damit ärgern würde.
Doch diesmal zwinkerte Lowan Vigeles zurück. »Wußte ich doch, daß deine teuren Hauslehrer sich bezahlt machen würden.« Er tippte ihr mit der Fingerspitze auf die Stirn. »Ich habe deiner Tante das Tablett mit dem Frühstück gebracht.«
Sie grinste ihn ironisch an.
Lowan holte geduldig tief Atem und schob die Tür auf. Lady Rosanda blickte verlegen in ihrem Bett auf, als ein Stück kalter Braten von ihren Lippen auf das Tablett auf ihrem Schoß fiel. Hastig kaute sie den Bissen im Mund hinter vorgehaltener Hand.
Lowan schloß die Tür von außen und bedachte seine Tochter mit dem Blick des zu Unrecht Verdächtigten.
Chenaya strich das Haar zurück und weigerte sich, zerknirscht dreinzuschauen. »Wie kann man nur so selbstsüchtig sein!« tadelte sie ihn. »Zu tugendhaft, um das anzubieten, was du hast? Hab doch Mitleid! Der einzige Mann, den sie viele Jahre lang gesehen hat, ist Onkel Molin.« Sie täuschte ein Schaudern vor.
Lowan Vigeles nahm sie am Arm und führte sie von Rosandas Tür eine breite Treppe zum Erdgeschoß hinab. »Ich habe Dayrne eine Vollmacht mitgegeben, das müßte die Dinge beschleunigen. Heute nachmittag werde ich mich nach Handwerkern umsehen, damit wir mit dem Bau der Kaserne und der Nebengebäude anfangen können; und Dismas und Gestus werde ich mit der Herstellung der Übungsmaschinen beauftragen.«
»Nicht diese beiden«, wehrte sie ab. »Ich brauche sie heute selbst. Du kannst Ouoijen dafür nehmen und Leyn, wenn er Zeit hat. Aber es eilt nicht. Es wird Wochen dauern, bevor irgend jemand kommt – falls sie dem Aufruf überhaupt folgen.«
Lowan schüttelte den Kopf, als sie das Haus zum hinteren Garten verließen, wo sich die Volieren für fast zwanzig Falken befanden. »Sie werden ihm folgen, Tochter. Meine Schule in Ranke hat so gut wie alle der besten Auctorati hervorgebracht, die je in den Spielen kämpften. Sie werden kommen, wenn ich rufe. Und Dayrne hat genug Geld dabei, jeden anderen Kämpfer einzukaufen, den er für geeignet erachtet.«
Sie nickte. Ihr würde Dayrne an der Seite fehlen, aber es gab keinen besseren Fachmann, wenn es darum ging, Kampfschüler und Gladiatoren auszusuchen. Und außer ihr selbst und Lowan könnte sie keinem anderen eine solche Mission anvertrauen.
»Ich muß zum Übungsplatz, Vater«, sagte sie plötzlich. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm voll Zuneigung einen Kuß auf die Wange. »Danach werde ich den ganzen Tag fort sein. Mach dir keine unnötigen Gedanken, falls ich heute nacht nicht zurückkomme.«
Lowan bedachte sie mit einem Zwinkern.
Sie stieß ihm kameradschaftlich in die Rippen. »Es ist geschäftlich.« Dann blickte sie kurz nachdenklich drein und bemerkte: »Nun, einiges davon ist geschäftlich. Anderes dürfte ein reines Vergnügen werden.«
Lowan Vigeles beäugte Chenaya argwöhnisch. »Möchtest du nicht über deinen Freund der kommenden Nacht sprechen?« Er seufzte.
Sie sagte nichts weiter zu ihrem Vater. Nach ein paar Tagen würde er ihr vergeben, wenn er herausfand, was sie getan hatte. Tempus andererseits… Aber was scherte sie sich um ihn? Sie grinste und genoß die blendende Stimmung, die sie heute erfüllte. Hatte sie reines Vergnügen gesagt? Sie kicherte.
Lowan blickte sie erstaunt an. Sie tätschelte seine Hand, zwinkerte ihm zu und ging zum Übungsplatz, wo Daphne und elf der besten Gladiatoren arbeiteten.
Die Sonne näherte sich dem Mittag, als Chenaya gestattete, für heute mit den Übungskämpfen Schluß zu machen. Sie schickte Daphne, Leyn und die anderen ins Haus zurück, während sie Dismas und Gestus zu sich rief. Die beiden waren ein Team und fast immer zusammen. Sie sahen sich mit ihrem sandfarbigen Haar, den gestutzten Bärten und den gewaltigen Muskeln sogar ähnlich.
»Interessiert an einem Spielchen, Freunde?«
Die beiden blickten erst sich und dann sie an und schwiegen. Sie konnten sich vorstellen, was sie meinte. Sie hatten ihr schon öfter bei ihren Spielchen geholfen.
»Niemand kann sich so unauffällig herumtreiben wie ihr zwei«, fügte sie hinzu. Tatsächlich waren die beiden das geschickteste Diebes- und Einbrecherpaar in Ranke gewesen, ehe man sie schließlich erwischt und zur Arbeit in Lowans Schule verurteilt hatte. »Und wenige können schneller rennen.«
Dismas verschränkte die Arme und unterdrückte ein Grinsen. »Ihr braucht uns nicht um den Bart zu streichen, Herrin«, sagte er in fließendem Rankene. »Es ist zu heiß, herumzustehen und Schmeicheleien auszutauschen, auch wenn sie stimmen.«
Chenaya trat zu Dismas und rieb ihren Körper gegen seinen. »Bist du nicht nett zu ihm?« zog sie Gestus auf. Sie tupfte auf den ledernen Lendenschutz unter Dismas’ Kilt. »Er ist heute so brummig.«
»Niemand schuld«, antwortete Gestus schulterzuckend. Das war das Seltsame an diesem Paar. So sehr sie sich auch in allem anderen ähnlich waren, Gestus war es nie gelungen, Rankene zu beherrschen, während Dismas es wie ein Höfling sprach.
Sie stellte sich wieder ein paar Schritte vor sie und wurde ernst. »Ich möchte, daß ihr jemanden für mich beschattet. Ich gebe euch ein pralles Säckel mit. Und falls er in ein Freudenhaus geht…« Sie zögerte und kratzte sich an der Schläfe. »Na ja, laßt euch etwas einfallen.« Jetzt verschränkte auch Gestus die Arme und grinste. Ganz offensichtlich hatte sie ihr Interesse geweckt. »Hauptsache, ihr paßt auf, daß ihr nicht auffallt.« Sie deutete mit einem Fingerschnippen auf ihre Nietengürtel. »Tragt etwas Unauffälligeres.«
Dismas nahm die Arme von der Brust, Gestus ebenfalls. »Der Name unseres Fuchses?« fragte er verschwörerisch.
»Kein Fuchs«, entgegnete sie. »Ein gefährlicher Puma. Kommt ihm ja nicht in die Quere! Ihr sollt ihn nur beschatten und mir berichten, was er unternimmt.« Sie winkte sie näher herbei und sie beugten sich hinab, um zu hören. Sie blickte in alle Richtungen, dann drückte sie einen Finger an die Lippen. »Und da ist noch was, das euch sicher Spaß macht. Ich möchte, daß mir einer von euch vor Sonnenuntergang einen halben Ziegel Krrf hierher bringt.«
Beide zogen die Augenbrauen hoch.
Sie sollte recht behalten, der Tag wurde glühend heiß, zu heiß für ihre übliche lederne Kampfkleidung. Aber sie wollte sichergehen, daß sie auffiel, deshalb zog sie eine weitfallende Hose und Bluse aus glänzend schwarzer Seide an, dazu spiegelblanke Stiefel, die fast bis an die Knie reichten, aber nicht so hoch, daß sie die Griffe der Dolche verborgen hätten, die sie in jeden Schaft gesteckt hatte. Über eine Schulter schlang sie einen Lederriemen, an dem mehrere bandaranische Wurfsterne so befestigt waren, daß eine einfache Drehung sie aus ihrer Nietenhalterung löste. An ihrer rechten Hüfte trug sie einen Gladius, ein Kurzschwert, dessen goldene Parierstange in Form von Vogelschwingen geschmiedet war. Zum Schluß, weil sie es bei Zip gesehen hatte, legte sie ein Schweißband aus blütenweißem Linnen um die Stirn.
Aller Blicke wandten sich ihr zu, als sie herausfordernd den Karawanenplatz Richtung Abwind überquerte. Sie lächelte und blinzelte den Gaffern zu, manchmal strich sie leicht über den Schwertgriff. Nur ein paar hatten soviel Mumm zurückzulächeln, die meisten blickten rasch irgendwoandershin und beschleunigten den Schritt.
Als sie sich der Schimmelfohlenbrücke näherte, stürmte eine Schar schmutzstarrrender Gassenkinder auf sie zu. Sie lächelte, steckte ihre Hand in den Beutel an ihrem Gürtel und warf eine Handvoll Münzen über die Schulter. Die Kinder verloren das Interesse an ihr und balgten sich um die glitzernden Münzen.
Lachend ging sie an dem verlassenen Wachthäuschchen vorbei und über die Brücke.
Kaum war sie an der Abwinderseite angekommen, versperrten ihr zwei Männer den Weg. »Wie wär’s, wenn du mit deinen restlichen Schätzen auch so großzügig bist?« sagte der links vor ihr und deutete auf ihren Beutel.
»Und mit deinen anderen Reizen ebenfalls?« meinte der andere.
Ein abfälliges Lächeln zuckte über Chenayas Züge, als sie vernahm, wie weitere hinter ihr herbeischlichen und mit leisem Scharren ihre Klingen aus den Scheiden zogen. Sie trugen keine Armbänder, gehörten demnach also nicht zu Zips Leuten. Aus ihrer Lumpenkleidung schloß sie, daß es Moruths Männer waren.
Moruth – der Bettlerkönig – war einer der Faktionsführer, der es gewagt hatte, sich der VFBF zu widersetzen. Nun, sie war nicht nach Abwind gekommen, um Moruths Gunst zu gewinnen. Es war Seines Bettelkönigs Pech, daß die Absicht sie hierhergeführt hatte, Zip zu becircen.
Sie machte sich gar nicht Mühe, sich nach den zweien hinter ihr umzudrehen. Ihr Atem und ihr ständiges Scharren mit den Füßen verrieten ihr genau, wo sie standen. »Ihr gebt die passenden Opfer ab«, sagte sie hart. »Ich werde euer Blut dem Führer der VFBF als Trankopfer darbieten.«
Der Mann, der als erstes gesprochen hatte, erbleichte, aber er wich nicht zurück. »Du gehörst zu den Vobfs?« fragte er mißtrauisch. »Du trägst kein Band um den Arm.«
»Verunstaltet die Seide«, antwortete sie. Sie wartete und forderte sie mit hochmütigem Blick auf, entweder ihren Zug zu machen oder ihr aus dem Weg zu gehen.
»Sie muß sich für ziemlich gut mit dieser Klinge halten«, sagte einer hinter ihr.
Chenaya hatte keine Lust, noch mehr Zeit zu vergeuden. »Paßt gut auf«, sagte sie ungeduldig. »Ich gebe Geschmeiß nicht oft Unterricht.« Ein gedämpfter Aufschlag war zu hören, dann ein Stöhnen der Verblüffung und Furcht, als der Wurfstern sich in den Hals des ersten grub. Sein Schwert fiel in den Schmutz und seine Leiche hinterher.
Noch ehe der Wurfstern einschlug, hatte Chenaya ihr Schwert gezückt. Brüllend schwang sie es gegen den Mann rechts vor ihr. In entsetzlicher Furcht riß er sein Schwert hoch, um seinen Kopf zu schützen. Ihre Klinge krachte zweimal von oben gegen seine, dann schwang sie im Bogen hinunter und schlitzte seinen Bauch auf. Beim Rückwärtsschwung schlug sie ihm das Schwert aus der Hand und trennte dabei ein paar Finger ab.
Sie hatte keine Zeit zuzusehen, wie er fiel. Sie wirbelte herum, duckte sich zur Abwehrhaltung, aber ihre Gegner waren Bettler, keine kampferprobten Krieger. Sie konnte nur noch ihre Rücken sehen, als sie hastig Schutz unter der Brücke suchten. Lachend warf sie einen zweiten Stern. Ein gellender Schrei zerriß die Luft, einer der zwei fliehenden Bettler stürzte kopfüber den Uferhang hinunter und in den Fluß. Vor Schmerzen brüllend zog er sich dann aufs Ufer und schleppte sich hinter seinem Kameraden her.
Wieder lachte sie – es war ein bitterer, herausfordernder Laut, der in ihrer Kehle schnarrte. Als sie über die Schulter blickte, sah sie gerade noch, wie die Straßenbahn-Gel, die von der anderen Brückenseite aus zugeschaut hatten, wie Schatten in der Sonne dahinschwanden. Auch auf der Abwinder Seite zogen sich ungewollte Zeugen hastig in Gassen und Eingänge zurück. Chenaya bückte sich, um ihre Klinge an den Lumpen eines Toten abzuwischen, dann hob sie ihren ersten Stern auf und säuberte auch ihn.
Zweifellos würde Zip rasch alles erfahren. Das war ihre Absicht gewesen. Deshalb war sie auf diese Senkgrubenseite der Stadt gekommen. Sie steckte den Gladius zurück in die Scheide und schritt weiter, ohne noch einen Gedanken an die Toten zu verschwenden, die sie zurückgelassen hatte.
Komm zu mir, Zip! dachte sie beschwörend. Komm zu mir!
Es gab Häuser in Abwind, die sich als Schenken ausgaben. Doch nur Mama Bechos konnte sich wirklich als eine ausweisen. Trotzdem gab es Säufer in Freistatt, die sich nicht herablassen würden, auch nur auf ihre Schwelle zu spucken, geschweige denn zu trinken, was dort angeboten wurde.
Chenaya trat durch den niedrigen, türlosen Eingang. Ihre Augen paßten sich rasch dem Halbdunkel an. Dutzend Augenpaare drehten sich nach ihr um und musterten sie. Das waren völlig andere Gäste als die Kunden des Wilden Einhorns. Im Einhorn waren die Mienen drohend oder verschwörerisch oder gleichgültig. Die Gesichter hier im Mama Bechos drückten nur Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit aus.
Chenaya dachte an die Männer, die sie an der Brücke hatten ausnehmen wollen. Sie hatten ihr Gold gewollt und dafür bezahlt. Sie sah hier im Mama Bechos Männer, die dasselbe getan und den Tod, den sie gab, begrüßt hätten. Warum auch nicht? Für ihresgleichen hatte das Leben wenig zu bieten, wenig, woran sie hingen.
»Willst du was, Schätzchen, oder bist du bloß wegen der schönen Aussicht hier?« Ein Berg von einer Frau in zerlumptem Kittel lehnte einen Ellbogen auf das Brett, das als Schanktisch diente, und grinste sie anzüglich an. Sie wischte einen Tonkrug mit einem schmierigen Lappen aus, der bestimmt seit Wochen kein sauberes Wasser mehr gesehen hatte.
»Schätzchen«, antwortete Chenaya Mama Becho lächelnd, »ich will zweierlei: erstens, einen Becher mit einem anständigen Trunk, am liebsten Vuksibah, falls es so was in diesem Loch gibt.« Aller Augen wandten sich ihr zu, ob wegen der Erwähnung dieses teuren Branntweins oder der Bekleidung, wußte sie nicht, aber es war ihr auch gleichgültig. »Wenn du keinen hast, dann einen guten Wein oder klares Wasser.« Sie lehnte sich auf das Brett gegenüber der fetten Wirtin und spürte, wie es sich unter ihrer beider Gewicht bog. Der Atem der Wirtin war schlimmer als faulig, trotzdem gelang Chenaya ein Grinsen. »Dann will ich Zip.«
Damit hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit aller gewonnen. Sie langte in ihren Beutel und holte wieder eine Handvoll Münzen heraus. Ohne einen Blick darauf oder ihren Wert auch nur zu schätzen, warf sie sie über die Schulter; eine nur legte sie auf das Brett. Es war eine glänzende Goldkrone.
»Ich wette, jemand hier weiß, wie man sich mit ihm in Verbindung setzen kann«, sagte sie zu Mama Becho, so laut, daß alle Anwesenden es hören konnten. »Und wenn er durch die Tür tritt, verstreue ich noch eine Handvoll Münzen.«
»Und was ist, wenn wir bloß dein Glitzer nehmen, Mädchen?« rief ein hagerer, verkrüppelter Mann, der in einer dunklen Ecke hockte. Er spielte mit einem Silberstück, das zu ihm gerollt war.
»Halt’s Maul, Haggit!« fauchte Mama Becho. »Siehst du nicht, daß wir eine feine Dame hier haben? Also paß auf deine Manieren auf!«
Chenaya warf Haggit die Goldkrone zu, und er fing sie geschickt. »Ich verschenke mein Gold, wenn ich es für richtig halte. Zwei, die es mir wegnehmen wollten, liegen tot an der Brücke.« Sie blickte ihn hart und durchdringend an. »Ich will Zip sprechen, und ich werde jeden anständig entlohnen, um ihn zu finden. Wenn du versuchst, ein falsches Spiel zu treiben, Haggit, wirst du dafür bezahlen!«
Haggit blickte sie einen langen Moment finster an, biß prüfend in die Goldkrone, dann stand er auf und ging hinaus. Einer nach dem anderen verließen auch die übrigen Gäste die Schankstube. Nicht eine von Chenayas Münzen war am Boden übersehen worden.
»Jetzt hast du mir meine Gäste vertrieben«, beklagte sich Mama Becho. Sie wischte immer noch den gleichen Krug mit demselben dreckigen Lappen aus. »Mach dir’s bequem, Schätzchen.« Sie deutete auf die tuchbedeckten Bretter auf Schragen, die als Tische dienten. »Wer weiß, wann Zip auftaucht. Der Junge kommt und geht, wie’s ihm Spaß macht.«
Chenaya blieb, wo sie war, als die alte Frau verschwand, um ihren Wein zu bringen. Zip würde kommen, daran zweifelte sie nicht. Sie hatte mit genug Geld um sich geworfen, um dafür zu sorgen, und einige seiner Feinde hatte sie auch getötet. Ja, er würde schon kommen, wenn auch vielleicht nur aus Neugier.
Sie holte tief Atem. Was war das für ein Geruch? Sie blickte auf die Türöffnung, durch die Mamo Becho gegangen war. Eine alte, fadenscheinige Decke hing davor; dünner Rauch trieb um die Seiten herein.
Krrfrauch!
Sie benetzte flüchtig die Lippen und fragte sich, wie Gestus und Dismas zurechtkamen.
Wenig später kam der Mann, auf den sie gewartet hatte, endlich herein. Den Geräuschen nach ließ er zwei seiner Leute als Wache in der Gasse zurück. Mama Becho begrüßte ihn mit einem knappen Nicken und wollte sich ins Hinterzimmer zurückziehen.
»Nein, es wird nicht gelauscht, weder durch den Vorhang noch durch einen Spalt in der Wand, Mama«, rief Zip und winkte sie zurück. »Bleib schön hinter der Theke – wo ich dich im Auge behalten kann.« Mama Becho bedachte ihn mit einem Blick gekränkter Unschuld.
Zip schlenderte zu Chenaya und musterte sie ungeniert.
»Deine Haltung ist bedeutend stolzer als bei unserer ersten Begegnung in der Rattenfalle«, bemerkte sie trocken.
Er blickte sie mit unverhohlener Arroganz an. »Und du hast viel weniger Muskelpakete bei dir«, antwortete er. »Was willst du, Chenaya? Hat dich Tempus geschickt?«
Sie lachte. Sie streckte die Hand nach seiner Schulter aus, dann ließ sie sie die Brust hinunterwandern, ehe sie die Finger wieder in ihren Gürtel hakte. Sie hatte harte, geschmeidige Muskeln unter seinem Kittel gespürt.
»Tempus Thaies ist nicht ganz der Drahtzieher, für den er sich hält.«
Zip lehnte sich über das Schankbrett und blickte sie lange an. »Ich würde ihm das nicht sagen – ich nicht.«
Er hatte ein nettes Gesicht, stellte sie fest. Jung und fest, von einem Schopf dunklen Haars gekrönt. Schweißspuren durchzogen seine Stirn und Wangen, und um seinen Hals waren Schmutzringe zu sehen. Er roch, aber es war männlicher Moschusgeruch, nicht der Gestank von Abwind. Sie blickte herausfordernd in seine Augen und lächelte.
»Oh, ich habe ihn gewogen«, sagte sie, »und für zu leicht befunden.«
»Er hört die Stimme des Sturmgotts«, warnte Zip mit angespanntem, rätselhaftem Lächeln.
»Und ob er Stimmen hört!« Sie faßte eine Falte seines Kittels und zog sein Gesicht näher zu sich heran.
Verschwörerischen Tones wisperte sie, doch trotzdem laut genug, daß alle, die es hören wollten, auch hören konnten. »Aber der Sturmgott?« Sie zuckte bedeutungsvoll die Schulter. »Ganz im Vertrauen, ich vermute, daß er nur ein verrückter, ganz gewöhnlicher Wahnsinniger ist. Er benutzt diese sogenannten Stimmen, um seine Sonderbarkeiten und Irrtümer zu entschuldigen. Man kann ihm schließlich nicht die Schuld geben – und er braucht die Verantwortung für seine Handlungen nicht zu übernehmen –, wenn ihn Gottesstimmen zwingen. Er ist nur ein armes Avatar.«
Chenaya glaubte das nicht wirklich. Sie zweifelte nicht daran, daß Tempus mit den Sturmgöttern verbunden war. Ihre eigene Erfahrung mit Savankala war Beweis genug, daß es solche Gott- Mensch-Verbindungen tatsächlich gab. Trotzdem war es ein herrliches Gefühl, ein solches Gerücht in die Welt zu setzen.
Zip hob den Krug, den Mama Becho vor ihn hingestellt hatte. Er nahm einen tiefen Schluck und betrachtete Chenaya über den Krugrand, dann stellte er den Krug zwischen sie. »Du hast eine Menge Geld weggeworfen, um mich zu finden, Mädchen«, sagte er schließlich. »Warum? Doch nicht bloß, um über den Geheimnisvollen zu klatschen.«
Sie bedachte ihn mit einem Unschuldsblick, griff nach seinem Krug und leerte ihn. »Ich will wirklich über Tempus reden«, versicherte sie ihm. »Zumindest über einen Vorschlag, den er mir gemacht hat.«
Sie winkte ihn wieder näher heran. »Dein Geheimnisvoller möchte, daß ich die Kontrolle über deine VFBF übernehme. Er glaubt, daß ich eine wirkungsvolle Verteidigungstruppe daraus machen kann, um seine Stiefsöhne und das 3. Kommando abzulösen, wenn er mit ihnen aus Freistatt abzieht.«
Ein Hauch Röte färbte Zips Wangen. Er richtete sich auf und wich einen Schritt von ihr zurück. »Du treibst gefährliche Spiele, Rankanerin.« Seine Augen funkelten. »Du willst also alles übernehmen? Bildest du dir ein, daß das so einfach ist?« Er grinste sie spöttisch an.
Sie holte mit der Faust nach seinem Gesicht aus. Zip hob den Arm, um zu parieren. Aber ihr Zug war nur eine Finte gewesen. Sie fing seinen Arm am Ellbogen, zog und trat gegen seinen Fuß, als er um sein Gleichgewicht kämpfte. Zip fiel und landete benommen auf dem Fußboden. Sie setzte sich rittlings auf seine Brust und legte die Spitze eines ihrer Stiefeldolche ganz leicht an seine Kehle.
Dann lächelte sie Zip an, und plötzlich preßten sich ihre Lippen auf seine. Es lag Kraft in ihrem Kuß; und es überraschte sie absolut nicht, als er ihn zu erwidern begann. Sie setzte sich auf, wischte sich den Mund ab und grinste.
»So einfach ist es, Zip, mein Schatz«, versicherte sie ihm. »Und Tempus weiß es. Deshalb ist er an mich herangetreten.« Sie fuhr mit den Fingern durch sein zerzaustes Haar und küßte ihn erneut.
Als sie sich aufsetzte, stieß die Spitze ihrer Klinge blitzend hinunter und bohrte sich tief in die Dielen neben Zips Ohr. Sie ließ sie dort auszittern, während sie die Bänder am Hals seines schmutzigen Kittels öffnete. »Aber ich bin nicht daran interessiert, deinen kleinen Verein zu leiten«, wisperte sie, »und was Tempus will, ist unwichtig.« Sie zog die Nägel sanft über die nun unbedeckte Stelle seiner Brust. »Ich habe jedoch ein paar eigene Vorschläge. Möchtest du sie hören?«
Seine Augen verrieten so viel: Unsicherheit, Trotz, Neugier, Begehren – und das alles unter einer Maske der Gleichgültigkeit. Er holte Luft. »Sieh verdammt zu, daß du von mir runterkommst!« Der Dolch zitterte noch neben seinem Ohr. Er hätte versuchen können, danach zu greifen – sein Blick war jedenfalls zu ihm gehuscht –, aber er tat es nicht.
Sie tätschelte seine Wange. »Bald, Liebster, wenn wir uns geeinigt haben. Aber inzwischen wird Mama Becho uns noch zwei Becher Wein bringen, nicht wahr, Mama?«
Die alte Wirtin schwieg, watschelte jedoch mit zwei Becher des sauren Weins herbei. Sie konnte sich nicht so tief bücken, um sie auf den Boden zu stellen, darum langte Chenaya hoch und nahm sie ihr ab. Mamo Becho murmelte etwas Unverständliches und zog sich zurück.
»Soll ich etwa im Liegen trinken?« fragte Zip bissig.
Chenaya holte einen Becher näher heran, tauchte einen Finger hinein und hielt ihn an seine Lippen. Nach kurzem Zögern spitzte Zips Zunge heraus und leckte die roten Tropfen ab, während ihre Blicke unverwandt aneinander hafteten.
»Ich weiß, daß eure nisibisische Geldquelle kürzlich versiegt ist.« Wieder tauchte Chenaya den Finger ein und hielt ihn ihm zum Ablecken hin. »Die VFBF braucht Geld wie jede andere Gruppe, und Geld habe ich reichlich. Wir haben auch gemeinsame Feinde, deshalb ist es nur natürlich, daß wir uns zusammentun.« Sie hielt lange genug inne, um einen Schluck aus ihrem eigenen Becher zu nehmen. »Du willst Freistatt frei von Rankanern und Beysibern.« Sie tippte auf seine Brust. »Auch ich will die Beysiber vertreiben. Aber es sieht ganz so aus, als müßte ich, um das zu bewerkstelligen, auch einen Rankaner loswerden.«
Einer von Zips Leuten huschte herein und wollte zu seinem Führer. Ein Wurfstern blitzte flüchtig in einem Sonnenstrahl, der sich durch einen Spalt in der Decke hereinverirrt hatte, und krallte sich mit seinen Widerhaken in die Wand. Der Mann hüpfte zurück. Chenaya schnalzte mit der Zunge und drohte mit dem Finger, da lehnte er sich widerstrebend an den Türpfosten.
»Kadakithis?« riet Zip. »Ist er denn nicht dein Vetter?«
Sie spuckte. »Trotz des rankanischen Gesetzes will er diese fischäugige Schlampe Shupansea heiraten. Schlimm genug, daß er das Fischvolk kampflos landen ließ. Schlimm genug, daß er die dumme Flunder mit ins Bett nimmt. Aber sie heiraten? Sie in die kaiserliche Familie aufnehmen? Zur Prinzessin von Ranke machen?« Wieder spuckte sie auf den Boden. »Auch Blut ist manchmal nicht dick genug, Liebster.«
»Es wäre schön, wenn du damit aufhören würdest!« brummte Mama Becho verärgert. »Jetzt muß jemand saubermachen, wenn ihr weg seid.«
Zip rührte sich unter ihr und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, den Arm hatte er dabei um ihren Dolch geschlungen. Er versuchte arglos dreinzusehen, und es gelang ihm auch fast, aber sein Blick war mißtrauisch. »Also gut, Liebste«, spöttelte er. »Was hast du vor?«
Sie zog den Dolch aus dem Holz, schob ihn in den Stiefelschaft zurück, erhob sich und streckte die Hand hinunter, um Zip hochzuhelfen. Es wunderte sie nicht, daß er sie ablehnte und ohne ihre Hilfe aufstand. Mit viel Getue bürstete er Mama Bechos Staub von seiner Kleidung.
»Komm morgen nacht mit allen deinen Männern – der gesamten VFBF – zu dem alten Marstall bei den Getreidespeichern.«
Zip runzelte die Stirn, bückte sich und hob den Becher auf, der stehengeblieben war. Er drehte ihn in den Händen, ohne zu trinken. »Das ist direkt gegenüber von den Verliesen.«
Chenaya grinste ihn spöttisch an. »Nur nicht nervös werden, Zip. Ich habe gehört, daß du ein Mann der Tat bist. Und bei mir kannst du zupacken.« Sollte er das auslegen, wie er wollte, dachte sie boshaft. »Zufällig ist mir der Posten gewogen, der morgen nacht am Tor der Götter Wache hält – Krrf sei Dank –, und ein Wort von mir wird dieses Tor öffnen.« Sie strich das Haar mit einer Hand zurück, stemmte sich mit der anderen vom Boden und goß den Rest des sauren Weins aus ihrem Becher in sich hinein. Dann öffnete sie die Finger und ließ den Tonbecher vor ihren Stiefeln auf dem Boden zerschellen.
»Und jetzt«, sagte sie herausfordernd, »kannst du mit deinen Spielgefährten weiter hilflosen Krämern und blutlosen Edelleuten auflauern und die Revolution in den Wind schreiben…« Sie nahm ihm den Becher ab, mit dem er herumgespielt hatte, leerte ihn in einem Zug und betrachtete ihn über den Rand hinweg. Einen Augenblick später lagen die Scherben bei den anderen auf dem Boden. »… Oder die VFBF kann endlich einen wirkungsvollen Schlag landen. Also, was sagst du?«
Zip blickte nachdenklich drein. »Auch wenn Kadakithis tot ist, brauchen wir eine wirkungsvolle Verteidigung gegen Theron.« Er kratzte sich am Kinn.
»Theron wird euch wahrscheinlich dankbar sein«, meinte sie. Sie konnte mit Sicherheit davon ausgehen, daß Zip den Thronräuber nie kennengelernt hatte und nichts von dem verschlagenen Verstand des alten Generals wußte. Theron wollte Freistatt als Bastion an Rankes Südgrenze. Nichts würde ihn überzeugen können, daß es besser wäre, die Stadt aus der eisernen Faust des Reiches zu lösen. Auch nicht die Hinrichtung des rechtmäßigen Erben der Krone, die er sich angeeignet hatte.
Doch das würde Zip nicht verstehen. Er war ein Kämpfer, kein Politiker.
»Unnötig, meine ganzen Leute mitzubringen«, entgegnete Zip. »Ein kleiner Trupp – zwei oder drei – sind genug, um hineinzuschleichen und zu tun, was getan werden muß.«
Chenaya trat näher. Sie war fast so groß wie Zip und hatte fast ebenso breite Schultern. Wieder atmete sie seinen Geruch ein und biß sich auf die Lippe. »Ein kleiner Trupp für den Prinzen und seine Fischliebste«, stimmte sie zu und nickte mit dem Kopf wie eine geduldige Lehrerin, deren Schüler sich Mühe gibt, aber etwas beschränkt ist. »Die übrigen werden sich jedes einzelnen Beysibers im Palast annehmen – und wer sich sonst in den Weg stellt.«
Ganz offensichtlich überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf. Er warf einen raschen Blick auf seinen Mann an der Tür. Der hatte jedes Wort gehört, und seine Augen glänzten vor Eifer, aber er verhielt sich still. Zip stiefelte hin und her und zertrat Tonscherben unter den Sohlen. »Und die Garnison?« fragte er. »Wie sieht’s mit einem Fluchtweg aus? Wie mit bewaffnetem Widerstand im Palast?«
Chenaya lachte verächtlich. »Tempus hat mir gesagt, daß du ein Mann bist, der weiß, wann man zuschlagen muß. Aber du hörst dich mit deinen endlosen Fragen wie Molin Fackelhalter an.«
Zip verstummte, stapfte jedoch weiter hin und her.
»Würdest du es tun, wenn Tempus euch führt?«
Er blieb mitten im Schritt stehen und blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. Er sagte auch jetzt nichts, aber es war unübersehbar, daß ihm Fragen auf der Zunge brannten.
Sie spuckte verächtlich, doch um Mama Bechos willen direkt auf Zips Stiefel. »Ich bin alles, was Tempus ist, Liebster«, sagte sie in grimmigem Spott über sein Zittern. »Und mehr. Vielleicht glaubst du das jetzt noch nicht, aber du wirst es bald.« Sie wandte ihm den Rücken zu und ging zum Schankbrett. »Hast du Würfel?« fragte sie Mama Becho.
Die alte Frau langte in ein Regal und brachte zwei vergilbte Elfenbeinwürfel zum Vorschein. Chenaya winkte Zip herbei. »Würfle«, befahl sie. »Die höheren Augen gewinnen.«
Er musterte sie und zögerte. Ihre Blicke hielten einander herausfordernd. Schließlich warf er die Würfel. »Elf«, stellte Chenaya fest. »Nicht schlecht.« Dann würfelte sie. »Zwölf.« Zip langte wieder nach den Würfeln und strahlte, als sie erneut mit elf schwarzen Augen liegenblieben.
Chenaya schaute gar nicht nach, als sie gewürfelt hatte.
Zip blinzelte.
Zwölf!
»Ich kann nicht geschlagen werden«, erklärte sie Zip, ohne den Blick von ihm zu nehmen. »Auf keine Weise!«
»Das nimmt dem Leben jeden Reiz, nicht wahr?« entgegnete er trocken.
Sie warf einen Blick über die Schulter. »Ruf deinen Mann«, befahl sie.
Zip tat es.
Der Mann, den sie mit dem Wurfstern fast rasiert hätte, kam herbei. »Wie wär’s mit dem schwarzen Fleck an der hinteren Wand«, sagte sie. Der Mann warf seinen Gürteldolch. Ein Messer aus ihren Stiefelschäften folgte. Es waren zwei gute Würfe, aber ihrer war dem Auge des Flecks näher.
»Gut, du hast also Glück und Geschicklichkeit«, sagte Zip. »Das heißt aber nicht, daß du dich mit dem Gott – oder Fluch, was immer es ist – des Geheimnisvollen messen kannst.«
Sie rollte die Augen und stieß einen langen Seufzer aus. »Ich wette um einen Kuß mit dir«, sagte sie schließlich. »Kennst du Rat-die-Zahl?« Sie wartete, bis er nickte. »Geh ans obere Ende des Schanktischs und kratz irgendeine Zahl zwischen eins und zehn ins Holz. Nein, wart. Machen wir’s spannender, zwischen eins und fünfundzwanzig.«
Mama Becho watschelte mit fliegendem Haar herbei. »O nein, das werdet ihr nicht!« schrie sie. »Ihr schneidet mir nicht in mein schönes Brett! Gar nicht so leicht, gutes Holz zu kriegen.«
Chenaya zog ihren Beutel vom Gürtel und leerte ihn auf die Theke. Die Münzen rollten in alle Richtungen. Sie ließ den leeren Lederbeutel auf das Häufchen fallen, das in der Mitte liegengeblieben war. »Mama«, sagte sie bedrohlich leise. »Halt’s Maul!«
»Also gut«, sagte Zip am anderen Ende des Schankbretts. Er verbarg die kratzende Hand mit der anderen. Schließlich warf er sein Messer nervös hoch und fing es wieder.
»Zweiundvierzig«, sagte Chenaya. »Betrüger!«
Zip starrte auf die Zahl, die er ins Holz gekratzt hatte, auf sein Messer, auf seinen Mann, auf sie. Wortlos ging er zu Chenaya und bezahlte seine Wettschuld.
Die glühende Sonne war längst hinter dem westlichen Rand der Welt verschwunden, und die schöne Sabellia, prächtig als volle Scheibe, streute die Bruchstücke eines Diamanten über das Meer. Chenaya ließ die Beine über den Kaiserpier baumeln, starrte auf das glitzernde Wasser und lauschte den gedämpften Lauten der beinahe stillen Diebeswelt. Der alte Pier knarrte sanft in der Brandung, Takelung und Gei der Fischerboote summten und sangen im Nachtwind. Viele andere Geräusche gab es nicht.
Hier war eines der Fleckchen, an die sie sich zurückzog, wenn sie Sorgen hatte. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, was sie so beunruhigte, aber es fühlte sich an, als ob ein düsterer Schatten auf ihre Seele fiel. Sie bemühte sich, dieses Gefühl zu verdrängen. Das Meer machte sie oft melancholisch. Aber das ungute Gefühl blieb.
Sie tastete nach dem Beutel, den sie an den Gürtel gebunden hatte. Er enthielt eine Mischung aus Zucker und dem hochwertigen Krrf, den Gestus für sie besorgt hatte. Sie drückte den Beutel in der Hand und grinste. Nein, das war bestimmt nicht der Grund ihrer Unruhe. Sie hatte vor, den kleinen Streich, den sie Tempus spielen würde, so richtig zu genießen.
Und dann?
Weit draußen auf dem Wasser blitzte etwas im Mondschein. Ein gedämpftes Platschen war zu hören. Sie strengte die Augen an und sah das Silberschimmern einer Finne, die durch die Wellen schnitt. Sie war nur flüchtig zu sehen, ehe sie untertauchte. Ein Delphin? fragte sie sich. Oder ein Hai?
Die Welt, vor allem die Diebeswelt, war voll von Haien. Sie dachte an Kadakithis und Shupansea, die sich im ihrem Palast verkrochen, und sie dachte an Zip und an den Verrat, den sie plante. Da erkannte sie plötzlich, was der Grund ihrer düsteren Stimmung war.
Aber es muß getan werden! sagte sie sich fluchend. Früher oder später würde es ohnehin geschehen.
Chenaya streckte den Arm aus. Die Metallringe ihrer Manica glänzten in Sabellias Pracht. Sie spitzte die Lippen und pfiff dünn und schrill.
Es war unmöglich, Reyk in der Dunkelheit zu sehen. Sie hörte nicht einmal seinen Flügelschlag. Wahrscheinlich hatte er unmittelbar über ihr gekreist und war auf ihren Pfiff hin heruntergestoßen. Sie spürte nur den plötzlichen Luftzug seines Flügelschlags an ihrer Wange, dann sein Gewicht auf ihrem Handgelenk.
Sie strich dem Falken sanft über den Rücken. »Hallo, kleiner Freund. Hast du gut gespeist?« Sie hatte Spuren von Beyarlfedern zwischen seinen Krallen erwartet. Einige der heiligen Vögel waren vor einer Weile über das Wasser geflogen. Aber Reyks Krallen waren sauber. Sie holte seinen Riemen aus ihrem Gürtel und schlang ihn um sein Bein.
Gemeinsam saßen sie still da und sahen zu, wie der silberne Prunkwagen der Göttin über das Meer segelte. Es störte Chenaya auch gar nicht, daß die Mondgöttin sie ebenfalls zu beobachten schien. Ihr Licht beruhigte sie, und Auge in Auge dankte sie Sabellia für diese kleine Erleichterung.
Reyk spreizte plötzlich die Flügel. Die Krallen spannten sich um ihren Arm; er stieß einen knappen, durchdringenden Ton aus.
Die scharfen Augen des Falken hatte Dismas entdeckt, ehe Chenaya seine Schritte auf dem Pier vernahm. Reyk beruhigte sich sofort, als er den Gladiator erkannte, der sich leise wie ein Dieb seiner Herrin näherte. »Jetzt, Lady«, flüsterte Dismas aufgeregt. »Zeit und Ort sind perfekt. Eine bessere Gelegenheit bekommen wir so schnell nicht wieder.«
Chenaya drückte den Beutel mit Krrf und Zucker erneut und spürte, wie ihr Puls plötzlich raste. Sie hatte hier auf dem Pier lange auf Dismas’ Meldung gewartet. »Was ist mit Walegrin und Rashan?« fragte sie und erhob sich.
»Sie müßten inzwischen bereits unterwegs nach Landende sein. Gestus hat Eure Botschaft abgegeben und ist zurückgekehrt, um aufzupassen, während ich Euch hole.«
Sie nahm Reyks Riemen wieder ab und steckte ihn mit einer Hand in ihren Gürtel. »Wo ist er?«
Der riesige Gladiator zögerte einen Moment und schluckte. »Bei der Vampirfrau Ischade.« Er wischte sich Schweiß von der Stirn. »Es ist nicht weit, aber wir sollten uns beeilen. Er ist bereits eine ganze Stunde dort.«
»Hoch, kleiner Freund.« Sie sandte Reyk in die Lüfte. Seine Schwingen schlugen einen gleichmäßigen Rhythmus, als er zum Nachthimmel aufstieg und verschwand. Wieder drückte Chenaya den Krrfbeutel. »Gehen wir.« Sie schlug Dismas kameradschaftlich auf den Arm. Aus ihrer Stimme schwang mehr als nur eine Spur Schadenfreude.
Dismas führte sie die Uferpromenade entlang, dann die Straße der Gerüche hinauf und durch eine Gasse, die sie nicht kannte. Und dann befanden sie sich in einer wahren Wildnis, dichter, als sie auf dieser Seite des Schimmelfohlenflusses für möglich gehalten hätte. In einem breiten Graben hielten sie an.
»Dort!« flüsterte er.
Die Fenster waren dunkel. Nichts ließ darauf schließen, daß sich jemand im Innern aufhielt. Aber Tempus Thaies’ mächtiges Trospferd war neben der Gartentür angebunden.
»Eine Stunde, hast du gesagt?« vergewisserte sie sich. »Wo ist unser anderer Partner?«
Er deutete stumm ins tiefere Dickicht.
Sie lächelte und warf einen bewundernden Blick auf Tempus’ prächtigen Hengst. Eine seltene Rasse, diese Tros. Kein anderes Pferd kam an Kraft, Ausdauer und Intelligenz auch nur annähernd an sie heran. Sie hatte in ihrem ganzen Leben bisher nur zwei andere gesehen. Es überraschte sie, daß Tempus das Tier unbewacht gelassen hatte.
Ja, eine seltene Rasse, diese Trospferde, und sie war entschlossen, sich auch eines zu verschaffen.
»Hol Gestus und seht zu, daß ihr so schnell wie möglich nach Landende zurückkehrt. Habt in der Stallung alles bereit, wenn ich komme. Und sorgt dafür, daß auch Walegrin und Rashan dort sind.«
»Aber Herrin!« protestierte Dismas. »Die Vampirfrau und der Geheimnisvolle – Ihr werdet vielleicht unsere Hilfe brauchen!«
Chenaya schüttelte den Kopf. »Ich werde mit ihnen fertig. Tu, was ich gesagt habe, und sieh zu, daß alles bereit ist. Und unauffällig! Ich möchte nicht, daß mein Vater etwas bemerkt.« Sie stieß ihm spielerisch die Hand auf die Brust. »Geh!«
Sie sah ihm nach, bis er wieder in der Nacht verschwunden war, dann lehnte sie sich in die Schatten zurück und holte tief Atem. Nun, da ihre Freunde aus dem Weg waren, konnte sie unbesorgt mit ihrem Streich weitermachen. Es wäre eine Beleidigung für die beiden guten Männer gewesen, wenn sie erklärt hätte, weshalb sie sie wegschickte. Aber sie kannte Tempus Thaies, und sie kannte auch die Geschichten über Ischade. Falls irgend etwas schiefging, wollte sie nicht, daß ihre Männer dafür bezahlen mußten.
Chenaya löste den Beutel mit Krrf und Zucker von ihrem Gürtel, lockerte seine Verschlußschnur und ging auf das dunkle Haus zu. Sie vermutete, daß das Trospferd ausgebildet war, Krieger zu erkennen. Sie jedenfalls hätte es ihm beigebracht, und das erwartete sie auch von Tempus. Aber sie war eine Frau und hatte in dieser Nacht ihre Waffen zu Haus gelassen. Reyk war Waffe genug – und ihr gottgegebenes Glück.
Sie näherte sich dem Tier langsam und murmelte sanfte Worte. Der Tros beäugte sie mißtrauisch und schnaubte einmal. Er verhielt sich jedoch still, und das ermutigte sie. Sie langte in den Beutel und holte eine Handvoll des Pulvers heraus. Sie wagte kaum zu atmen, als sie den letzten Schritt machte, der sie in Reichweite des Pferdes brachte.
Der Tros roch den Zucker, nicht aber den Krrf. Er leckte ihn eifrig aus ihrer Hand und wieherte nach mehr. Chenaya erfüllte ihm den Wunsch nur zu gern. Es war genug Krrf in dem Zucker, um mehrere kräftige Männer zu töten. Genug, hoffte sie, dieses Tier sehr, sehr glücklich zu machen.
Handvoll um Handvoll verleibte sich der Tros den gesamten Beutel ein. Chenaya spähte immer wieder über die Schulter zur Tür und den Fenstern von Ischades Haus, bereit, sofort wegzulaufen, wenn jemand herausschaute.
Die Augen des Pferdes wurden rasch glasig. Es leckte den letzten Rest Pulver von ihren Fingern und blickte sie auf eine Weise an, daß sie fast laut aufgelacht hätte. Wenn ein Pferd in den Himmel kommen könnte, wäre dieses Tier auf dem Weg dorthin.
Amüsier dich gut, Pferdchen, dachte sie grinsend, und mach mir keine Schwierigkeiten.
Sie unterschätzte Tempus und seinen Stolz nicht wirklich; so unbewacht das Pferd auch war, würde es doch nicht leicht zu stehlen sein. Vorsichtig löste sie die Zügel und streichelte den Hengst über den Widerrist, während sie gleichzeitig in sein Ohr murmelte. Der Tros rührte sich nicht und gab auch keinen Laut von sich. Sie hielt den Atem an, klammerte die Finger um den Sattelknauf und schwang sich rasch in den Sattel. Das Pferd zitterte, und seine Ohren zuckten. Chenaya wartete kurz, dann machte sie es sich im Sattel bequem und lächelte.
Mit einem Ruck flog ihr Kopf in den Nacken. Ihr Rückgrat bog sich nach hinten, peitschte dann nach vorn. Ihr rechtes Bein wurde aus dem Sattel gestoßen, und das Knie schlug ihr ins Auge.
Die Welt drehte sich wie verrückt. Waren diese blitzenden Sterne am Himmel oder in ihrem Kopf? Sie drückte mit den Schenkeln, so fest sie nur konnte, klammerte sich mit einer Hand an den Sattel, mit der anderen an die Zügel.
Ein metallisches Quietschen war zu hören, dann ein Krachen. Das Pferd stolperte und torkelte und zerstörte Ischades Zaun und Gartentür. Es bäumte sich auf und hämmerte mit den beschlagenen Hufen auf das verbogene Schmiedeeisen ein. Dann bäumte es sich aufs neue auf, raste davon und prallte gegen einen kräftigen Baum.
Es taumelte zurück und stierte mit großen, feuchten Augen auf das unverschämte Hindernis. Benommen, verwirrt machte es einen Schritt zur Seite, dann einen zweiten und blieb stehen.
Chenaya zögerte. Sie hatte Angst, den Sattel oder Zügel loszulassen. Ihr Herz donnerte gegen die Rippen. Blut sickerte über ihr Kinn, sie hatte sich in die Lippe gebissen. Kurz ließ sie den Sattel los und massierte den schmerzenden Rücken. Der Atem, den sie viel zu lange angehalten hatte, zischte durch ihre Zähne. Sie blickte zurück zu Ischades Zaun, lachte leise und streichelte den kräftigen Nacken des Tros.
»Das hat recht spaßig ausgesehen. Mach’s noch mal.«
Chenaya war die Stimme inzwischen vertraut. Sie hob die Augen, um nach dem Beobachter Ausschau zu halten. Er hockte auf einer bequemen Astgabel des Baumes, gegen den der Tros gerannt war.
»Weiß der Geheimnisvolle, daß du sein Pferd stiehlst?« fragte Zip spöttisch.
Sie drückte einen Finger auf die Lippen und schaute schnell zu Ischades dunklen Fenstern zurück. »Ich glaube, dazu ist er zu beschäftigt, der Vampirfrau näherzukommen, wenn du weißt, was ich meine.« Sie bemühte sich um den gleichen leichten Ton. »Was hast du heute nacht vor? Wie wär’s, wenn wir zusammen was unternehmen?«
Zip baumelte abwesend mit den Beinen, ganz so, wie sie es am Pier getan hatte.
Er rieb sein Kinn, ein kaum erkennbarer Schatten gegen den Sternenhimmel. »Nichts, was ich lieber täte. Es war ziemlich langweilig«, sagte er in affektiertem Rankene. »Man kann dir so leicht folgen.«
»Wenn ich es möchte«, bestätigte sie. »Ich nahm an, daß du mich nicht aus den Augen verlieren willst.« Sie spähte hinauf und mußte den Kopf zurücklegen. Sie fragte sich, was ihm durch den Kopf ging, während er sich auf die Astgabel stellte. Sie bewunderte seinen Mut, wenn auch nicht gerade seine Vernunft, als er zu balancieren begann.
»Zusammen, hast du gesagt?«
Sie streichelte den Tros wieder. »Was hältst du von einem Ritt?« Sie grinste breit. Zip trug die Schatten wie einen Umhang, während sie in Sabellias Licht eingehüllt war. Sie wußte, daß er ihr Grinsen sehen konnte. »Du kannst mir bei dem Streich helfen, den ich Tempus Thaies spiele. Aber überleg es dir rasch.« Wieder warf sie einen Blick über die Schulter zu dem verdunkelten Haus. Sie fragte sich, weshalb der Krach niemanden herausgelockt hatte. Aber sie wollte nicht warten, es herauszufinden – Zips wegen. »Das ist hier eine verrufene Gegend, wie ich hörte, und eine Dame muß auf ihren Ruf achten.«
»Erwartest du, daß ich mich hinter dich setze?« fragte er skeptisch. »Nach allem, was ich gerade gesehen habe?«
Chenaya beugte sich vor und kraulte das Pferd zwischen den Ohren. »Keine Angst. Wir sind inzwischen die besten Freunde, nicht wahr, Pferdchen?« Der Tros widersprach nicht.
Zip zauderte. Sie fragte sich, ob er überhaupt schon einmal geritten war, oder ob er Angst hatte, weil es Tempus’ Pferd war, zu dessen Diebstahl sie ihn einlud. Sie konnte auf jeden Fall nicht warten, bis er den Mumm dazu fand. Dismas hatte ihr versichert, daß Tempus in Ischades Haus war. Vielleicht schlüpfte er gerade in diesem Augenblick in seine Hose und langte nach seinem Schwert…
Sie blies Zip einen Kuß zu. »Bedauere, Liebster. Es ist entweder ja oder nein, aber keine Zeit zu überlegen – so ist es bei mir.« Sie raffte die Zügel mit beiden Händen. »Aber wie wär’s mit morgen nacht?« Sie versetzte dem Tros mit den Fersen einen Stoß und schnalzte mit der Zunge. Das Pferd galoppierte durch die Schlachthausgegend und bog auf den Landweg ein, ehe Zip noch ein Wort herausbrachte.
Lowan Vigeles Grundstück reichte zwar bis zum Fuchsfohlenfluß, aber der größte Teil seines Besitzes war von einer breiten Mauer mit Wehrgang umgeben. Im Süden befanden sich die Stallungen. Durch das Südtor ritt Chenaya. Dismas öffnete es rasch für sie und sprang hastig zur Seite, ehe der Tros ihn niedertrampeln konnte.
Chenaya riß mit aller Kraft an den Zügeln. Die Hufe des Streitrosses scharrten gewaltige Erdbrocken frei. Es bäumte sich auf und hätte sie fast abgeworfen, dann wurde es ganz still und zitterte.
Sie stieß erschöpft den Atem aus, schwang ein Bein über des Trospferds Nacken und rutschte auf den Boden. Dismas, Gestus, Walegrin und Rashan eilten an ihre Seite.
»Die verdammte Bestie hätte mich fast umgebracht!« fluchte Dismas. Er wischte sich den Staub von den Ärmeln und machte ein Gesicht, als würde er den Tros verschlingen, wenn man ihm nur Zeit ließ, ein gutes Feuer zu machen.
Chenaya strich das Haar aus der Stirn. Ihre goldenen Locken waren völlig zerzaust; Schweiß und Schmutz hatten Streifen über ihre Wangen gezogen. Sie wischte sich das Gesicht ab und reichte Gestus die Zügel. »Bring ihn in die Box zu Lowans Stute. Beeil dich! Sie ist brünstig, und der da hat genug Krrf in sich, die Lust einer ganzen Armee anzustacheln.« Sie klatschte dem Tros auf die hintere Flanke, als der Gladiator ihn wegführte. »Rashan, ich möchte, daß Ihr Savankalas Segen für diese Paarung erbittet. Die Stute muß empfangen. Ich brauche ein kräftiges Füllen von ihr!«
Des Priesters Augenbrauen zuckten hoch. »Ihr wollt, daß ich sich paarende Pferde segne?«
»Ihr seid doch ein Priester, Auge Savankalas, oder nicht?« Sie umarmte ihn und hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. Rashan hatte in Landende gewohnt, während er den Bau ihres privaten Tempels am Ufer des Fuchsfohlenflusses beaufsichtigte. Sie hatten sich zu der Zeit häufig bis tief in die Nacht hinein unterhalten, und er hatte sie viel gelehrt.
»Meinetwegen.« Er rollte die Augen. »Aber wir müssen heute nacht noch miteinander reden.« Er wandte sich ab, um Gestus zu folgen, sprach jedoch weiter über die Schulter. »Ich hatte wieder einen Traum. Ihr müßt Euch die Botschaft anhören. Es war die Stimme des Donnerers höchstpersönlich.«
Sie blickte ihm schweigend nach. Seine Worte beunruhigten sie. Sein Gang und seine Haltung waren die eines Kriegers, nicht eines Priesters, und seine Figur machte einem Rankaner Ehre. Aber er war ein Priester und der oberste von Savankalas Hierophanten. Beunruhigend war, daß Rashan in letzter Zeit besondere Träume hatte, Botschaften des Gottes, behauptete er, Visionen von Chenayas Zukunft und ihrer Bestimmung. Den ganzen Winter hindurch hatten sie über die Bedeutung seiner Träume argumentiert. Es waren überhaupt keine Botschaften, hatte sie ihn zu überzeugen versucht. Nur die Wunschträume eines alten Mannes, der sah, wie sein Reich zerfiel.
An diese Meinung klammerte sie sich nun, als er mit Gestus und dem Tros in der Stallung verschwand. Sie war nicht wirklich eine Sonnentochter, das war lediglich ein Beiname, den ihr die Zuschauer in der Arena und ihre Mitgladiatoren gegeben hatten. Nichts weiter.
Zur Rechten räusperte sich jemand. Sie hatte ihren anderen Gast völlig vergessen.
»Lady«, sagte Walegrin. »Es ist mitten in der Nacht. Euer Mann hat gesagt, daß Ihr über etwas von allergrößter Wichtigkeit mit mir sprechen müßt und daß ich in Zivil kommen soll. Da Ihr Lord Fackelhalters Nichte seid, eilte ich hierher, aber der Morgen…«
Sie unterbrach ihn brüsk. »Wenn Ihr nur Onkel Molins wegen gekommen seid, Kommandant, dann geht besser gleich wieder.« Sie blickte ihn durchdringend an, keineswegs von seiner Größe eingeschüchtert. »Seid Ihr jedoch gekommen, um Eure Laufbahn zu fördern oder um Eurem Prinzen einen großen Dienst zu erweisen, dann bleibt und hört mir zu!«
Seine Augen weiteten sich im Mondschein, aber sie wandte ihm den Rücken zu und sagte zu Dismas: »An einem Haken in der Stallung hängt ein Lederbeutel mit Rotwein. Hol ihn…«
Ein plötzlicher Lärm aus der Stallung unterbrach sie. Alle blickten zu dem niedrigen Gebäude. Ein Krachen war zu hören, Bersten von Holz, das klägliche Wiehern der Stute, Gestus’ Verwünschungen und über all dem das gebrüllte Gebet des Priesters.
»Hol den Wein«, wiederholte Chenaya und drückte Dismas’ Arm kameradschaftlich. »Auf dem Wandbrett findest du Pergament, Tintenfaß und Federkiel. Bring alles mit.«
Als sie allein waren, drehte sie sich wieder zu Walegrin um. »Ihr seid der Kommandant der Garnison in diesem Dreckloch«, sagte sie. Sie verschränkte die Arme auf der Brust und blickte ihn fest an. »Und Eure Truppe kommt Ordnungshütern hier in Freistatt noch am nächsten. Ich nehme es Euch nicht übel, daß Ihr mit meinem ränkeschmiedenden Onkel verkehrt. Schließlich wollen wir alle auf die schnellstmögliche Weise weiterkommen.«
»Wenn Euer Onkel Ränke schmiedet«, verteidigte ihn Walegrin, »dann zum Wohl der Stadt.«
Chenaya warf den Kopf zurück und lächelte spöttisch. »Molin Fackelhalter tut nichts, was nicht vor allem zu seinem eigenen Wohl ist. Aber ich habe Euch nicht hierhergebeten, um mich mit Euch über die Schwächen meines Onkels zu unterhalten. Und wie Ihr selbst hingewiesen habt, es ist spät.« Sie rieb ihr Kreuz. »Und ich hatte eine harte Nacht.«
Walegrin verschränkte ebenfalls die Arme und ahmte unbewußt Chenayas herausfordernde Haltung nach. Er blickte auf sie hinunter. »Und warum habt Ihr mich dann hierhergebeten?«
»Ihr seid die Ordnungshüter.« Sie hob die Stimme, um den Krach aus der Stallung zu übertönen. »Was ist zur Zeit Euer größtes Problem in der Stadt?«
Er kratzte sich am Kinn und dachte nach. »Zur Zeit?« Er schürzte die Lippen und bemühte sich um ein ernstes, strenges Gesicht. »Ich würde sagen, den Dieb von Tempus’ Pferd zu finden, bevor er die Stadt in Schutt und Asche legt!«
Sie blickte ihn geringschätzig an, wandte ihm den Rücken zu und folgte ihren Freunden. »Kehrt in Euer Bett zurück, Kommandant. Ich habe den Falschen ausgewählt! Ich werde Kadakithis selbst beschützen, wie ich es immer getan habe!«
Da eilte er ihr nach, faßte sie bei der Schulter. Chenaya wirbelte herum und schlug seine Hand zur Seite. »Wartet!« bat er, als sie ihn wieder stehenlassen wollte. »Was ist mit Kadakithis? Wenn Gefahr für ihn besteht, dann laßt mich helfen!«
Sie ließ abschätzend die Augen über seine Hünengestalt schweifen. Sie hatte ihn seit ihrer Ankunft in Freistatt im Auge behalten und fand, daß er einer der wenigen ehrlichen Menschen in der Stadt war. Er konnte mit seinen Waffen gut genug umgehen, war jedoch kein brillanter Kämpfer. Offenbar waren seine Männer ihm aber treu ergeben.
Sie brauchte seine Hilfe nicht nur, sie wollte sie.
»Die VFBF«, sagte sie schließlich und holte zur Beruhigung tief Atem, »hat damit angefangen, Rankaner und Beysiber kaltblütig zu morden. Männer, Frauen, Kinder – ganz gleich, ob sie bewaffnet waren oder nicht. Die Volksfront begann mit einer Schreckensherrschaft, die dazu führte, daß Freistatt wie ein großer Kuchen geteilt wurde. Und ihre Schandtaten haben ihr die Feindschaft von nahezu jedem Bürger der Stadt eingebracht.« Sie hielt inne, weil sie plötzlich an Zip dachte. »Ihr Führer glaubt immer noch an den Wunschtraum einer ilsigischen Befreiung, aber die übrigen töten nur um der Macht willen, die sie empfinden, wenn sie jemanden im Schmutz zertreten können.«
Dismas kehrte mit Weinbeutel, Pergament, Federkiel und Tintenfaß zurück. »Behalt das einstweilen«, sagte sie und nahm ihm nur den Lederbeutel ab. Sie zog den Stöpsel heraus, schluckte einen Mundvoll, wischte sich die Lippen und reichte den Wein an Walegrin weiter, der ihrem Beispiel folgte. »Wie geht es da drinnen?« fragte sie Dismas und deutete mit dem Kopf zur Stallung.
Der Gladiator grinste. »Eine solche Paarung habe ich noch nie gesehen! Hört doch selbst, wie die Stute es genießt. Ich hatte schon gedacht, sie würde die Box niedertrampeln, aber sie sind ganz versessen aufeinander.«
»Ich dachte, ich hätte Gestus fluchen gehört.« Sie nahm Walegrin den Wein ab und bot ihn Dismas an.
Der Gladiator hob den Beutel an die Lippen und trank. »Er hat einen Tritt auf die Hand abbekommen«, erklärte er. »Er wollte dem Tros den Sattel abnehmen, aber die Stute hatte bereits den Schweif in der Höhe.«
»Ich kenne Männer, die auch nicht warten konnten, bis sie ausgezogen waren«, spöttelte sie. »Ich glaube, ihr habt alle etwas von einem Pferd.« Dann zwinkerte sie.
»Die VFBF«, erinnerte Walegrin und bemühte sich um Geduld. »Und Kadakithis. Besteht Gefahr?«
Der Krach aus der Stallung endete plötzlich. Augenblicke später trat Rashan heraus und kam über den Rasen auf sie zu. Sie reichte ihm den Weinbeutel. Er trank durstig, dann nahm er die Schreibsachen, die Dismas ihm reichte, und blickte Chenaya fragend an.
»Tempus kam mit einem Vorschlag zu mir«, sagte sie zu Walegrin. »Einem von Bedeutung für ganz Freistatt. Ihr wißt, daß Theron versprochen hat, am Neujahrstag wieder hierherzukommen und die Stadt zu dem zu machen, worauf er versessen ist: zu einer Bastion des Rankanischen Reiches an seiner Südgrenze.« Sie blickte Dismas an, und die beiden tauschten eine stumme Botschaft aus. »Ihr wißt auch, daß ich gegen Theron bin.«
Walegrin ließ den Blick über die Gesichter der Anwesenden schweifen. »Ihr und Eure Gladiatoren wart es, die seine Barke überfielen und seinen Doppelgänger töteten.« Kein Zweifel klang aus seiner ruhigen Stimme.
Chenaya streckte die Hand hoch und tippte Walegrin auf die Stirn, genau wie ihr Vater es gern bei ihr tat. Sie hatte nie versucht, ein Geheimnis daraus zu machen, genausowenig hatte sie erwartet gehabt, daß es fehlschlagen würde. Ihr Armbrustbolzen hatte sein Ziel genau getroffen. Es war nur das falsche gewesen. Der Mann in Therons Prunkstaat war nicht Theron gewesen, und dem Thronräuber war es gelungen, die Stadt zu verlassen, ehe sie es noch einmal versuchen konnte.
Ihre Lippen verzogen sich spöttisch. »Tempus war so dumm, mich mit diesem Wissen erpressen zu wollen, das hier anscheinend ein offenes Geheimnis ist. Er wird bald mit seinen Stiefsöhnen und dem 3. Kommando abziehen.« Walegrin nickte. Der bevorstehende Abzug der beiden Truppen war keine Neuigkeit. »Nun, seine Idee war, daß ich die Kontrolle über die VFBF übernehme und sie benutze, die verschiedenen Faktionen zu einer Verteidigungstruppe für Freistatt zusammenzuschmieden.« Soweit stimmten ihre Worte, dann fügte sie ihre eigenen Gedanken und Pläne hinzu. »Und Theron damit Widerstand entgegensetze, wenn er kommt.«
Der Standortkommandant rieb sich das Kinn und wünschte sich, er hätte das nicht gehört. »Es ist Euch doch bewußt, daß Ihr ihn des Hochverrats anklagt?«
Chenaya zuckte die Schultern, nahm einen Schluck Wein und reichte ihm den Beutel wieder. »Ich würde nicht darauf beharren«, erklärte sie. »Tempus schuldet mehr Loyalitäten, als Ihr und ich uns auch nur vorzustellen vermöchten. Er schließt sich Theron an, verschwört sich jedoch gegen ihn. Wer kann seine Beweggründe schon durchschauen?« Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Nun, ich finde seine Idee an sich gar nicht schlecht – nur seine Art der Ausführung gefällt mir nicht so recht. Seht Euch um, Walegrin. Ihr erwartet doch nicht, daß diese Stadt ein weiterer folgsamer Untertan des Reiches wird, oder? Etwas tut sich hier. Nennen wir es ruhig Rebellion.«
Rashan gab den Wein an Dismal weiter, ehe er ruhig sagte: »Wenn Ihr bei Therons Rückkehr mit Widerstand rechnet, braucht Freistatt Verteidigungskräfte. Theron ist ein Mörder und ein Thronräuber. Loyale Rankaner sollten sich gegen ihn erheben!«
Chenaya winkte ab. »Loyale Rankaner haben mit dieser Sache wenig zu tun. Freistatt ist etwas völlig anderes, ein Schmelztiegel unterschiedlichster Interessensgruppen, von denen keine etwas von Theron hält. O ja, Tempus’ Idee ist gut, aber weil er Tempus Thaies ist und ein Narr, überschätzt er den Wert seiner Stiefsöhne und des 3. Kommandos. Auch ohne sie ist Freistatt keineswegs schutzlos. Und wir brauchen die VFBF gar nicht, um ihren Platz einzunehmen.«
Sie hob die Hand und begann ein paar Gründe an den Fingern abzuzählen. »Die Beysiber haben gut fünfhundert Krieger, und das ohne die Harka Bey, die eine unbekannte Größe sind. Die Garnison hat wenigstens sechzig Soldaten, die fast alle hier rekrutiert wurden und hier aufgewachsen sind. Dann sind da die Höllenhunde, die sich vom Reich im Stich gelassen fühlen, ich glaube, sie würden für uns kämpfen. Mit Jubal und seinen Männern muß man ebenfalls noch rechnen; falls Theron diese Region befrieden sollte, haben sie nichts zu gewinnen, wohl aber viel zu verlieren.« Sie tippte mit einer Hand auf ihre Brust und mit den Knöcheln der anderen auf Dismas’ Schulter. »Ich habe meine zwölf Gladiatoren, die namhaftesten in der Geschichte der Arena. Und bis Neujahr werden es hundert Mann mehr sein, die besten Kämpfer, die je aus rankanischen Schulen kamen.«
Walegrin blickte nachdenklich drein. Er schien zu vergessen, daß auch er Hochverrat beging, als er sagte: »Wir könnten noch weitere von der Straße rekrutieren. Und wir haben unsere Zauberer. Freistatt ist voll von Magiern.«
»Was wir nicht brauchen«, fuhr Chenaya fort, ermutigt durch seine Teilnahme, »ist die VFBF. Diese Gruppe hat zu viel Unfrieden verursacht und dadurch die Spaltungen gefördert, die so viele Leben kosteten. Am schnellsten können wir diese Faktionen vereinigen, wenn wir Zip und seiner blutdürstigen Bande ein Ende machen.«
Der Standortkommandant nickte bedächtig, denn er fand, daß sie recht hatte. Sogar Zips eigene Leute, der Großteil der ilsigischen Bevölkerung, hatte sich von den Ideen der VFBF abgewandt, als allgemein bekannt wurde, daß diese Gruppe von nisibischen Aufwieglern unterstützt wurde, die lediglich Aufruhr an Rankes hinterster Grenze stiften wollten, während ihre von Dämonen abstammenden Hexer ihre Eroberungszüge vom Hexenwall durch die Königreiche ringsum fortsetzten.
»Ohne das 3. Kommando waren wir nie imstande, an die Vobfs heranzukommen«, gab Walegrin zu bedenken. »Wieso glaubt Ihr, daß sich daran etwas ändern wird? Sie sind wie Ratten, und ihr Zuhause ist nicht bloß die Rattenfalle, sie haben auch das Labyrinth und Abwind in der Hand.«
Chenaya nahm einen weiteren tiefen Schluck, als der Beutel wieder bei ihr anlangte. »Jede Ratte kann mit dem richtigen Käse aus ihrem Loch gelockt werden«, antwortete sie. »Die Falle habe ich bereits gestellt. Ich brauche nur noch Eure Hilfe, sie zuschnappen zu lassen.«
Gestus führte den Tros aus der Stallung. Das mächtige Streitroß wirkte völlig verwirrt und stand noch unter dem Einfluß des Krrfs. Chenaya hätte geschworen, daß das Tier grinste. Sie deutete auf das Pergament und das Tintenfaß in Rashans Hand. »Schreibt für mich, Priester«, wies sie ihn an. »In Eurer schönsten Schrift.«
Rashan blickte über die Schulter, fand den Vollmond und setzte sich in sein bestes Licht. Er nahm den Federkiel, den er schon zuvor ins Tintenfaß gesteckt hatte, und hielt ihn bereit.
»Schreibt…« Chenaya hielt überlegend inne. »Danke für den Liebesdienst des Hengstes.« Da lachte sie, weil sie sich an ihre Begegnung mit dem Geheimnisvollen im Garten erinnerte. »Unterschreibt mit meinem Namen in großen Buchstaben.«
Rashan bedachte sie mit einem mißfälligen Blick, genau wie Lowan Vigeles in einem solchen Fall getan hätte. Sie achtete ebensowenig darauf, und er schrieb. Als er fertig war, nahm sie das Pergament und reichte es Gestus. »Befestige es am Sattel«, befahl sie, »und laß den Tros laufen.«
Der Gladiator blickte sie entsetzt an. Er war schließlich ein Dieb, und er hatte sich eingebildet, er hätte bei einem sehr schlauen und tollkühnen Diebstahl mitgeholfen. Ein guter Dieb gab seine Beute nicht zurück. »Pferd laufen lassen?« fragte er ungläubig.
»Es laufen lassen?« wiederholte Walegrin überflüssigerweise.
»Ich bin keine Närrin, Kommandant. Es macht mir zwar Spaß, Tempus ein wenig zu ärgern, aber ich unterschätze ihn nicht. Die Stute wird ein Fohlen bekommen, dann habe ich meinen eigenen Halbtros. Ich kann zwei Jahre warten. Würde ich jedoch den da behalten, käme es zur offenen Auseinandersetzung zwischen Tempus und mir.« Sie blickte zu Sabellia hinauf, die friedlich am dunklen Himmel dahinzog. »Wer weiß, welche kosmischen Kräfte das auslösen würde, ob es nicht zu einem Krieg zwischen den Göttern käme?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wenn ich dieses Risiko eingehe, dann für etwas Wichtigeres als ein Pferd, selbst einen Tros.«
Rashan machte das Zeichen seines Gottes. »Hoffen wir, daß Tempus ebenso vernünftig ist. Ihr kennt ihn besser als er Euch, Kind.«
Gestus führte den Tros zum Tor. Doch ehe er hindurch war, zerriß ein schriller, durchdringender Pfiff die Nacht. Chenaya schrie schmerzerfüllt auf und preßte die Hände an die Ohren. Durch tränenfeuchte Augen sah sie, daß die anderen das gleiche taten. Der Tros bäumte sich unerwartet auf und entriß dem Gladiator die Zügel. Wiehernd galoppierte er außer Sicht, wie in Erwiderung des seltsamen Pfiffes. Der Hufschlag fügte dem messerscharfen Pfeifen Donner hinzu.
Abrupt verstummte das Pfeifen. Chenaya richtete sich auf, trotz des Klingeins in ihren Ohren fand sie die Kraft zu lächeln. »Ich weiß nicht genau, was das war«, sagte sie, »aber ich glaube, unsere lebende Legende hat endlich bemerkt, daß sein Pferd verschwunden ist.« Sie rieb sich die Ohren. »Ich hoffe, der Zettel fällt nicht herunter.«
Walegrin wirkte völlig verwirrt. Er flüsterte dem Priester mit überlauter Stimme zu: »Wovon hat sie geredet? Götter und kosmische Kräfte und was noch alles! Ich glaube allmählich, daß Molin recht hat. Ihr seid alle verrückt!«
Rashan schüttelte den Kopf und tat sein Bestes, den erregten Kommandanten zu beruhigen. »Ihr werdet es bald genug erfahren. Tempus ist Hunderte von Jahren alt, erzählt man sich. Stellt Euch nun seine ganzen Kräfte in dieser jungen Frau vor.« Er verbeugte sich in Chenayas Richtung. »Sie ist wahrlich die Tochter der Sonne!«
Chenaya knirschte mit den Zähnen. »Hört damit auf, Rashan! Ich habe Euch gesagt, daß ich dieses Titels und Eurer Hirngespinste leid bin! Geht jetzt! Ihr habt Euren Teil in dieser Nacht getan, und ich muß mit dem Kommandanten noch einige Pläne besprechen.«
Rashan protestierte. »Aber der Traum!« erinnerte er sie. »Wir müssen darüber reden. Savankala fordert Euch auf, Eurer Bestimmung zu folgen!«
Sie winkte ab, und ihr Ärger wuchs. Solches Gerede war allein mit dem Priester schon beunruhigend genug. In Walegrins Gegenwart erfüllte es sie mit Zorn. »Ich habe gesagt, Ihr sollt gehen!« sagte sie scharf. »Wenn ich wirklich bin, was Ihr glaubt, werdet Ihr nicht wagen, Euch mir zu widersetzen. Also geht!«
Rashan blickte sie sorgenvoll an, geduldig, nicht ärgerlich, nicht enttäuscht. »Ihr glaubt es nicht«, sagte er sanft, »aber Ihr werdet es bald glauben. Er wird es Euch zeigen. Wenn Ihr in sein Antlitz blickt, werdet Ihr die Wahrheit erkennen.« Er hob einen Finger und deutete auf sie. »Blickt in sein Antlitz, Kind. Erschaut, wer Ihr seid.« Er drehte sich um und schritt durch das Tor.
Sie seufzte. Ihr Ärger wandte sich plötzlich gegen sie selbst. Rashan war ihr Freund, und er meinte es gut. Sie beschloß erneut, seine Einbildung nicht zwischen ihre Freundschaft kommen zu lassen. In so unruhigen Zeiten und in einer Stadt wie dieser waren Kameraden, denen man wirklich trauen konnte, dünn gesät.
Sie legte die Finger an die Lippen und stieß selbst einen schrillen Pfiff aus. Sie hatte Reyk abgerichtet, ihr überallhin zu folgen, wenn sie ihn frei fliegen ließ. Der Falke stieß herab und ließ sich auf ihrem Arm nieder. Sie nahm Fußriemen und Haube aus ihrem Gürtel und streichelte ihren kleinen Freund, ehe sie ihn Dismas übergab.
Dann nahm sie Walegrins Arm. »Kommt mit ins Haus, Kommandant. Da ist noch mehr Wein und etwas zu essen.« Sie rief den beiden ehemaligen Dieben zu: »Weckt die anderen auf, auch Daphne. Es geht sie alle an.«
Es war an der Zeit, über Hochverrat zu reden. Acht Mann. Das war alles, was von der Volksfront für die Befreiung Freistatts übrig war, versicherte ihr Zip. Mehr waren es nicht mehr. Und als sie ihm in die Augen schaute, glaubte sie ihm.
Sie waren ein zerlumptes, bunt zusammengewürfeltes Pack. Einige hatten weder Sandalen noch Stiefel, aber sie trugen gute Nisibisiwaffen. Sie waren jung, diese acht, doch während sie so in den tiefen Schatten des Alten Marstalls gegenüber den Getreidespeichern kauerten, ließ ihre Bewaffnung Chenaya mit Schaudern an den Verrat und das Chaos denken, für das sie verantwortlich waren.
Jetzt jedoch war Zeit für ihren eigenen Verrat. Sie führte sie rasch die Straße der Satten hinunter und in die Tempelallee. Dann schlichen sie lautlos zum Tor der Götter, diese großäugigen Ratten, die es nicht erwarten konnten, an den Käse heranzukommen.
Sie blickte zu Zips Gesicht, das in der Dunkelheit kaum zu sehen war, und empfand fast etwas wie Bedauern. Er allein unter diesen Meuchlern meinte es offenbar ehrlich mit seiner ilsigischen Befreiungsaktion. Aber er hatte Rankaner gemordet – ihre Landsleute – und so viele andere, hatte Greuel im Namen der Freiheit begangen. Sie drehte ihm den Rücken zu und klopfte leise an das verschlossene Tor. Sie war froh, daß Sabellia noch nicht aufgegangen war und ihren Silberschein auf diesen Augenblick warf.
Das Tor öffnete sich einen Spalt. Leyn spähte unter dem Metallrand eines Wachhelms hinaus. Er musterte Zips Bande mißtrauisch, getreu seiner Rolle, und streckte die Hand hinaus. »Die andere Hälfte meiner Bezahlung, Lady«, forderte er flüsternd. »Sobald ich sie habe, lasse ich euch ein.«
Chenaya holte einen schweren Säckel zwischen Lederharnisch und Kittel hervor. Er klingelte, als sie ihn aushändigte. Leyn wog ihn stirnrunzelnd in der Hand und kaute an einer Schnurrbartspitze.
Zip drängte sich ungeduldig vor. »Beeil dich, Kerl, solange du noch eine Hand zum Zählen hast!« Die anderen drängten nach und ließen keinen Zweifel daran, daß sie durch das Tor kommen würden, ob der Posten nun zufrieden war oder nicht.
»Ist es auch soviel wie abgemacht?« brummte Leyn. »Verdammt, dann hinein mit euch allen zu den verdammten dreckigen Beysibern!« Er zog das Tor weit auf und trat aus dem Weg. Mit einer spöttischen Verbeugung winkte er sie herein. »Ich wünsch’ euch viel Blut heut nacht, meine Herren, viel Blut.«
Chenays führte sie eilig hinein und geduckt über den Hof, auf des Statthalters Rasen und einen kleinen Eingang in der Westmauer des Palasts zu. Sie war schon einmal hiergewesen, während ihrer ersten Woche in Freistatt, um Kadakithis vor einem Attentäter zu schützen.[3] Diesen Weg hatte sie genommen. Sie empfand es als bittere Ironie.
Weil sie auf das Geräusch gewartet hatte, hörte sie, wie das Tor hinter ihnen geschlossen wurde und der Schlüssel sich im Schloß drehte.
Aber auch Zip hörte es. Sein Schwert glitt schlangenschnell aus der Scheide, als sich überall ringsum die Schatten vom Boden hoben, wo sie flach auf dem Bauch liegend im Dunkel gewartet hatten. Schrecken sprach aus seinen Augen, als er sie anblickte, und Grimm. Aber das schlimmste war die Anklage. Er erkannte Chenaya als das, was sie war, und sie wußte, daß er es wußte.
Das hielt sie nicht zurück. Wütend griff Zip an, seine Klingenspitze suchte ihr Herz. Chenaya wich seitwärts aus und zog ihren Gladius. Mit der gleichen Rückhandbewegung schmetterte sie den Schwertknauf gegen seine Schläfe. Der Rebellenführer fiel wie ein Stein vor ihre Füße und rührte sich nicht mehr.
»Tut mir leid, Liebster«, murmelte sie ehrlich und stellte sich dem nächsten, der soviel Mut hatte, daß er versuchen wollte, Zip zu rächen. Klingen schlugen klirrend in einem hohen Bogen zusammen, dann duckte sie sich und zog die Schneide über seinen ungeschützten Bauch. Als er sich schreiend krümmte, schnitt sie aufwärts durch seine Kehle.
Die Vobfs schrien wie Wahnsinnige, als die Gladiatoren auf sie zustürmten. Die Rankaner stießen ihren eigenen Kampfruf aus, einen rachsüchtigen Schrei, aus dem ihre ganze Wut über die Ermordung ihrer Landsleute gellte. Sie kannten kein Erbarmen, und Zips Bande dachte nicht daran, um Gnade zu winseln. Klingen blitzten und klirrten, daß weißblaue Funken sprühten. Blut spritzte dick und schwarz in der Nacht. Schreie und Ächzen und Röcheln füllte den Palasthof. Walegrins Männer kamen angerannt.
Dann brach die Hölle aus. Ringsum loderten Flammen auf. Inmitten des glühenden Geysirs schrie ein Rankaner gellend, warf hilflos die Arme in die Höhe und rannte flammenzuckend dahin wie ein Dämon.
Eine weitere Bombe explodierte. Feuer breitete sich wie eine tödliche Flüssigkeit auf dem Boden aus. Rankaner und Vobfs schrien und brannten gleichermaßen. Jemand kam brüllend, ganz in Feuer gehüllt, auf sie zugerannt. Ob Freund oder Feind, war unmöglich zu erkennen, aber sie schenkte ihm einen schnellen Tod.
Sie hatte vorgehabt, bei Zip zu bleiben, ihn zu bewachen und dafür zu sorgen, daß er von dem Gemetzel verschont blieb. Doch nun wirbelte sie herum und hielt Ausschau nach dem Bombenwerfer. Er stellte jetzt die größte Gefahr dar.
Sie entdeckte ihn, als er gerade eine weitere Flasche mit der seltsamen Flüssigkeit warf. Der Blitz blendete sie; Hitze versengte ihre linke Gesichtseite. Der Geruch von verbranntem Haar stieg beißend in ihre Nase – ihres eigenen Haares, wie sie plötzlich erkannte. Und obwohl sie wußte, daß sie auf diese Weise nicht sterben konnte – Savankala selbst hatte ihr gezeigt, wie sie den Tod finden würde –, empfand sie in diesem Augenblick Angst.
Mit dem blutigen Schwert in der Faust ging sie auf ihn zu.
Aber plötzlich weiteten sich die Augen des Burschen, und sein Mund öffnete sich zu einem gräßlichen Schrei. Er hob die Hände, als wolle er die Götter anflehen. Dann kippte er nach vorn und war tot.
Daphne blickte Chenaya über den Hof hinweg an. Von ihrem Schwert troff das Blut des Bombenwerfers, und ein von Wahnsinn zeugendes Grinsen breitete sich über ihr kleines Gesicht. Als sie sicher war, daß Chenaya sie beobachtete, warf die rankanische Prinzessin den dunkelhaarigen Kopf zurück und lachte grauenvoll.
Chenaya blickte über die Schulter auf den Palast. Lichter waren in bisher dunklen Fenstern zu sehen. Köpfe blickten hinaus auf das Gemetzel. Bewaffnete Beysiber, kaum bekleidet, rannten heraus, um sich ins Getümmel zu stürzen.
Danach war es rasch zu Ende. Gladiatoren, Standortsoldaten, nackte Beysiber schauten sich nach weiteren Feinden um und entdeckten keine.
Verschlossen wie immer wischten die Fischäugigen ihre Klingen an der Kleidung von Toten ab und kehrten zurück ins Bett. Walegrin erteilte Befehle, und seine Männer zerrten die Toten davon.
Leyn eilte an Chenayas Seite und gab ihr den Säckel mit Gold zurück. Er hatte den Wachhelm weggeworfen oder im Kampf verloren. Seine blonden Locken schimmerten im Glühen der noch brennenden Feuer. »Herrin«, meldete er schwer, »wir haben zwei unserer Männer verloren.« Er nannte ihr die Namen.
Chenaya holte tief Atem. »Durch Feuer oder Schwert?« fragte sie.
Leyn wandte den Blick ab. »Einen durchs Feuer, den anderen durchs Schwert.«
Ihr Herz verkrampfte sich vor Leid um den, der verbrannt war. Das war keine Todesart für einen Krieger. »Wenn es möglich ist, dann laß dir von Walegrin die Leichen geben. Wir wollen das Bestattungsritual in Landende selbst durchführen und ihre Asche dann in den Fuchsfohlenfluß streuen.«
Leyn ging, um ihren Befehl auszuführen. Als sie einen Augenblick allein war, kämpfte Chenaya gegen Tränen des Zorns an. Alle ihre Gladiatoren waren ausgewählte Männer, und sie hatte zwei von ihnen in den Tod geführt. Der Tod selbst war nichts Neues für sie, doch diese Verantwortung für das Leben anderer schon. Plötzlich empfand sie es als schwere Last.
Sie blickte zum Himmel und wünschte sich, Sabellia würde kommen, um ihre Welt zu erhellen. Es waren jetzt nur zwölf Glieder an ihrer Kette – nein, nun nur noch zehn, aber bald sollten es hundert sein. Hundert Mann, an die sie gebunden sein würde.
Sie kehrte zu dem bewußtlosen Zip zurück. Inzwischen hatte sich bereits ein Bluterguß an der Stelle gebildet, wo ihr Schwertknauf ihn getroffen hatte. Sie kniete sich nieder und tastete nach seinem Puls, aus Angst, sie könnte zu fest zugeschlagen haben.
»Lebt er?«
Sie blickte zu Walegrin auf. Der Standortkommandant war blutverschmiert, aber offenbar nicht von seinem eigenen Blut. Er bot einen gräßlichen Anblick, und sie mußte sich abwenden.
Da sah sie ihre Hände. Sie schauten nicht besser aus als seine.
»Er lebt«, antwortete sie schließlich. »Ich wollte, daß er am Leben bleibt.« Ein Luftzug ließ Zips schwarze Locken erzittern. Bewußtlos wirkten seine Züge fast unschuldig, so ruhig, so friedlich. »Er sollte für seine Verbrechen öffentlich vor Gericht gestellt werden«, sagte sie, erschüttert bis auf den Grund ihrer Seele. »Die Leute müssen wissen, daß die lange Schreckensnacht der VFBF zu Ende ist. Dann können wir die Stadt wieder zusammenhalten.«
Ein Lamm, dachte sie plötzlich von Zip. Das Lamm, dessen Opferung uns wieder gesund und heil machen wird. Sie nahm die stillen Hände in ihre, dann zog sie sie rasch zurück. Zum zweiten Mal in dieser Nacht verspürte sie Angst. Zip war auf sein Schwert gefallen, und eine lange Schnittwunde zog sich durch seinen Handteller. Sie war erleichtert, als sie keine ernsteren Verletzungen fand.
Nun klebte sein Blut im wahrsten Sinne des Wortes an ihren Händen.
Sie stand auf und versuchte, die Finger an ihrem Harnisch abzuwischen. »Nehmt ihn mit«, sagte sie zu Walegrin. »Und richtet Kadakithis und Shupansea folgendes aus«, sie blickte auf Zips ruhiges Gesicht, während sie sprach, als wären die Worte für ihn gedacht, »daß Zip mein Friedensangebot für sie und die Stadt ist. Ich werde die Beysa nicht mehr befehden, aber es ist nun ihre und Kadakithis’ Aufgabe, die Faktionen von Freistatt zu vereinen.« Sie zögerte, schluckte und fuhr fort: »Sagt ihnen auch, daß sie das nicht tun können, wenn sie sich hinter den Palastmauern verkriechen. Es ist Zeit, daß sie sich endlich unter ihr Volk begeben und es führen, wie Führer es tun sollten.«
Sie wandte den Blick von Zips Gesicht ab und ließ ihn über den Hof wandern. Die Toten, die noch erkennbar waren, wurden getrennt von jenen gelegt, die es nicht mehr waren. Der grauenvolle Geruch verbrannten Fleisches erfüllte die Luft. Ihre Gladiatoren arbeiteten Hand in Hand mit den Garnisonssoldaten. Sogar ein paar Beysiber, die nicht ins Bett zurückgekehrt waren, halfen mit.
»Sonst wäre all dies vergebens gewesen«, sagte sie zu Walegrin.
Dann verließ sie ihn, und Leyn, der den Schlüssel hatte, öffnete das Tor der Götter für sie. Als niemand sie mehr sehen konnte, ließ sie ihren Tränen freien Lauf, aber weil sie sich ihretwegen schämte, fing sie zu laufen an. Sie wußte nicht, durch welche Straßen, auch nicht, wieviel Zeit verging, bis ihr Leid und ihr Zorn nachließen. Schließlich saß sie wieder auf dem Pier wie in der Nacht zuvor, und ihre Beine baumelten über dem tiefen Wasser, als Sabellia ihre Wanderung über den Himmel begann.
Sie konnte immer noch Zips Augen in ihrem Rücken spüren.
Sie fröstelte und schlug die Arme um die Brust und wünschte sich Reyk zur Gesellschaft. Aber der Falke war in der Voliere, und sie war allein.
Allein.
So allein wie Tempus Thaies?