Chenaya fröstelte, zum einen weil sie nackt war, zum anderen aus Furcht, als sie die fadenscheinige Decke enger um sich wickelte. Furcht? Nein, eher nervöse Erwartung.
Das Ganze war bisher unwirklich, alptraumhaft gewesen. Zuerst das rauhe Erwachen, splitternackt, tief in Freistatts stinkende Bucht, dann die weite Strecke, die sie zum Ufer zurückschwimmen mußte, beflügelt von Gedanken an die hungrigen Meeresräuber in diesem Gebiet. Dann hatten drei Männer am Pier auf sie gewartet, einer mit der Decke, in die sie sich gehüllt hatte. Nervosität hatte sie veranlaßt, ungefragt ihren Namen zu nennen, einschließlich all ihrer Titel und Ränge, doch die Burschen beeindruckte das offenbar ebensowenig wie ihre Nacktheit. Die Decke war ein stummes Zeichen von Freundschaft oder zumindest Mitgefühl, trotzdem hielt sie es für ratsam, den dreien widerspruchslos zu folgen, als sie durch ein verwirrendes Labyrinth von Nebenstraßen und Gassen zu diesem großen Gemach eilten, wo sie jetzt saß.
Ohne auf die Kerzen und Öllampen zu achten, die flackernde Schatten um sich warfen, blickte sie wieder auf den thronartigen Sessel, der das Zimmer dominierte. Alles deutete darauf hin, daß sie endlich den Mann kennenlernen würde, den sie seit ihrer Ankunft in der Stadt treffen wollte. Nun, sie hatte ihm ja ausrichten lassen, daß sie Zeit und Ort ihm überlassen würde.
Ihre Gedanken wurden durch den Auftritt eines Mannes unterbrochen, der durch eine Tür schritt, die sie in den Schatten nicht bemerkt hatte. Obwohl seine Züge hinter einer blauen Falkenmaske verborgen waren, erkannte sie ihn sofort. Er war groß und mager und dunkel, sie hatte ihm oft in der rankanischen Arena applaudiert und neben ihm in dem »Tribunal« gestanden, das Tempus für Zip einberufen hatte.
»Jubal«, sagte sie voller Ehrfurcht.
Er hatte sie, während sie wartete, heimlich gemustert und wider Willen bewundert. Obwohl sie allein und nackt gewesen war, hatte sie keine Furcht gezeigt, nur Neugier. Es würde nicht leicht sein, bei diesem Gespräch die Oberhand zu behalten.
Ohne zu bestätigen oder zu leugnen, daß er es war, stellte er eine der beiden Tonflaschen, die er mitgebracht hatte, in ihre Reichweite.
»Trinkt!« forderte er sie auf. »Das hilft gegen die nächtliche Kälte.«
Sie wollte nach der Flasche greifen und zögerte. Ihr Blick kehrte zu ihm zurück, als er es sich in seinem Sessel bequem machte.
»Solltet Ihr das Getränk nicht vor mir kosten? Als gastliche Geste, daß es kein Gift enthält? Ich hörte, das sei hier so üblich.«
Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner eigenen Flasche, ehe er ihr mit einem freudlosen Lächeln antwortete. »Ich bin nicht gastlich. Der Wein, den ich trinke, ist ein viel besserer als Eurer. Ich habe dem billigen Zeug abgeschworen, als ich die Arena verließ, und ich beabsichtige nicht, diesen Schwur zu brechen, nur damit Ihr Euch wohler fühlt. Wenn Ihr mir nicht traut, dann trinkt eben nicht. Mir ist es völlig egal.«
Belustigt bemerkte er ihren flüchtigen Ärger. Chenaya war eine echte rankanische Edelfrau und nicht gewöhnt, daß jemand ihr ins Gesicht sagte, es interessiere ihn nicht, was sie tat oder ließ. Jubal erwartete fast, daß sie ihm den Wein ins Gesicht schütten und davonstürmen würde – oder es wenigstens versuchte. Aber sie war aus anderem Holz. Oder sie war erpichter auf dieses Treffen, als Jubal vermutet hatte.
Herausfordernd hob sie die Flasche an die Lippen und nahm ebenfalls einen tiefen Schluck. Es war der einfache Rotwein, den Gladiatoren tranken.
»Roter Mut«, stellte sie fest. So nannten die Arenakämpfer dieses Gesöff spöttisch. Sie wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und ließ die Decke über eine nackte Schulter rutschen. »Tut mir leid, Euch zu enttäuschen, aber ich bin nicht schockiert. Ich koste ihn nicht zum ersten Mal, tatsächlich mag ich ihn recht gern und trinke ihn oft mit meinen Männern.«
Jubal schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht enttäuscht. Ein bißchen verwundert, vielleicht. Arenasklaven trinken dieses Gesöff, weil sie nichts Besseres bekommen. Oder weil sie nie etwas hatten, mit dem sie es hätten vergleichen können. Warum jemand, der von hoher Geburt und Feineres gewöhnt ist, Roten Mut in sich hineinschüttet, wenn es so viel Besseres für die Kehle gibt, werde ich wohl nie begreifen. Aber Ihr habt wohl immer schon Dinge vorgezogen, über die andere Eures Standes die Nase rümpften.«
Seine Worte waren mit voller Absicht beleidigend, doch diesmal ließen sie Chenaya ungerührt.
»Ich verbeuge mich vor dem Meister.« Sie lächelte. »Denn wer versteht mehr von Dingen, über die andere die Nase rümpfen, als Jubal?«
Ohne daß sie es ahnte, hatte ihre schlagfertige Antwort Jubal an seinem empfindlichsten Punkt getroffen: seiner Eitelkeit.
»Ich wurde als Sklave geboren«, zischte er und lehnte sich in seinem Sessel vor. »Und in diesem Stand gibt es nur ein hartes Leben und nicht die feinsten Sitten. Ich habe gelernt, zu lügen und zu stehlen und schließlich auch zu töten, nicht als Sport, sondern um zu überleben. Es hat mir nicht gefallen, aber es war nötig. Sobald ich mir meine Freiheit errungen hatte, tat ich alles, um aufzusteigen, nicht weit in den Augen Hochgeborener, aber so hoch ich es konnte. Man sagt von mir, ich verachte jene unter mir, die sich nicht wie ich aufraffen konnten, sich aus der Gosse zu heben, und nicht die Zähigkeit hatten, es zu etwas zu bringen. Mag sein, aber ich achte sie mehr als Hochgeborene, die sich mit voller Absicht in der Gosse suhlen!«
Jubal biß sich auf die Zunge und verfluchte innerlich seinen Mangel an Beherrschung. Der Zweck dieses Treffens war keineswegs, Chenaya zu zeigen, wie sie ihn aus der Fassung bringen konnte. Ein solches Wissen könnte in den falschen Händen gefährlich sein.
Glücklicherweise war das Mädchen durch seinen Gefühlsausbruch eher bestürzt, als daß sie aufgehorcht hätte.
»Bitte«, sagte sie in ungewohnt entschuldigendem Ton. »Es ist nicht meine Absicht, Euch zu beleidigen oder gar herauszufordern. Ich – ich ließ Euch wissen, daß ich mich gern mit Euch treffen wollte, weil ich hoffte, daß wir zusammenarbeiten könnten.«
Das gefiel Jubal schon besser. Er hatte diesen Vorschlag auch erwartet, seit man ihn zum erstenmal darauf aufmerksam gemacht hatte, daß ihr an einem Treffen mit ihm lag.
»Sehr unwahrscheinlich«, entgegnete er grimmig. »Ich habe Euch beobachten lassen, seit Ihr in die Stadt gekommen seid, wie ich es bei allen tue, die über die Möglichkeiten verfügen, das gefährdete Gleichgewicht der Kräfte in dieser Stadt zu beeinflussen oder ins Schwanken zu bringen. Bisher habt Ihr mit allem, was Ihr getan habt, nur bewiesen, daß Ihr ein verzogenes Balg seid. Boshafte Streiche wechseln bei Euch mit kindischen Wutanfällen ab. Ich habe nichts an Euch entdeckt, das Euch als Verbündeten empfehlen würde.«
»Warum habt Ihr mich dann herbringen lassen?«
Jubal zuckte die Schultern. »Als ich von Eurer mißlichen Lage erfuhr, hoffte ich, daß Euch diese plötzliche Demonstration Eurer Verwundbarkeit, oder vielmehr Euer Schock darüber, zum Nachdenken anregen würde. Doch jetzt, da Ihr hier seid, sehe ich, daß Ihr noch viel zu sehr von Euch überzeugt seid, als daß Ihr anderen zuhören oder wenigstens mit ihnen, statt zu ihnen sprechen würdet. Euer Wert bleibt Null, so groß das Potential auch sein mag.«
»Aber ich habe viel zu bieten…«
»Ich habe keinen Bedarf an einer Hure oder einer Pferdediebin. Davon sind die Straßen voll, und die meisten sind in ihrem Gewerbe offenbar besser und schlauer als Ihr.«
Jubal erwartete eine wütende Entgegnung oder zumindest ein Argument, was ihren Wert als Verbündete betraf. Statt dessen versank das Mädchen in Schweigen und forschte anscheinend in sich, ehe sie antwortete.
»Wenn Ihr an mir als Verbündete nicht interessiert seid, kann ich Euch da vielleicht zumuten, mich zu beraten? Ihr habt mich beobachtet und wißt, was ich habe und was ich kann. Aber wo ich Kraft sehe, gesteht Ihr mir nur Potential zu. Dürfte ich Euch um Einblick in Eure Gedanken bitten, damit ich eventuell aus Eurer Erfahrung lernen kann?«
Der Unterweltkönig musterte sie, während sie aus ihrer Flasche trank. Vielleicht war Chenaya weiser, als er gedacht hatte.
»Das ist die erste vernünftige Äußerung, die ich von Euch höre. Nun gut, ich werde Eure Fragen beantworten, und sei’s nur, um Eure neue Bescheidenheit zu ermutigen.«
Während sie überlegte, nahm Chenaya wieder einen Schluck aus ihrer Flasche und verzog unwillkürlich das Gesicht, als schmeckte ihr der saure Wein nicht mehr.
»Unter meinem Befehl stehen fast ein Dutzend Gladiatoren, und ich werbe gegenwärtig weitere an. Ich war immer der Ansicht, daß Gladiatoren wie Ihr einer gewesen seid, die besten Kämpfer des Reiches waren. Habe ich recht?«
»Nein.«
Geschmeidig erhob Jubal sich aus seinem Sessel und stapfte hin und her. »Jede Kampftruppe oder -schule ist überzeugt, daß ihr Stil der beste ist. Das müssen sie, um das nötige Selbstvertrauen im Kampf aufzubringen. Euer Vater bildet Gladiatoren aus, deshalb seid Ihr in dem Glauben aufgewachsen, daß ein Gladiator es mit drei Gegnern ohne eine solche Ausbildung gleichzeitig aufnehmen kann.«
Er blickte sie fest an.
»In Wirklichkeit ist es jedoch so, daß bestimmte Personen besser für den Kampf geeignet sind als andere. Schlechte Kämpfer sterben bald, ob sie nun Gladiatoren sind oder Soldaten. Die Überlebenden, vor allem jene, die zahlreiche Schlachten überstanden hatten, sind durch den Prozeß der Ausscheidung die Besten, doch das liegt mehr am einzelnen selbst als an der Ausbildung.«
»Aber meine Beauftragten haben die strikte Anweisung, erfahrene Gladiatoren zu rekrutieren«, unterbrach ihn Chenaya. »Berufskämpfer, die aus unzähligen Kämpfen als Sieger hervorgegangen sind. Ist das nicht Garantie genug, daß ich die besten Kämpfer kriegen werde?«
Jubal bedachte sie mit eisigem Blick.
»Wenn Ihr mir gestattet, zu Ende zu sprechen, erfahrt Ihr die Antwort auf diese Frage. Ich dachte, Ihr wollt meine Meinung hören, nicht Eure eigene.«
Chenaya nickte nur stumm, um ihn weiter reden zu lassen.
Der Unterweltkönig wartete noch ein paar Augenblicke, dann lief er wieder hin und her. »Wie ich sagte, hängt es von den Fähigkeiten des einzelnen ab, wie gut er einmal als Kämpfer werden wird. Die Ausbildung bereitet ihn auf eine bestimmte Kampfweise vor. Gladiatorentraining ist gut für den Zweikampf in der Arena, doch es lehrt den Kämpfer nicht, auf Heckenschützen auf Dächern zu achten, wie es im Straßenkampf unabdingbar ist, oder mit manövrierenden Truppen fertig zu werden. Andererseits können in manchen Situation sogar militärische Manöver nutzlos sein, wie beispielsweise, als sich der Mob während des Pestaufruhrs sammelte. Jede Ausbildung ist von begrenztem Wert, wenn sie außerhalb ihres Elements genutzt wird.
Was Eure sogenannten Berufsgladiatoren betrifft, nun, ich mag sie nicht und würde nie meinem Namen und meinem Ruf damit schaden, daß ich ihresgleichen einsetze. Egal, wie Ihr dazu steht, Gladiator ist kein erstrebenswerter Beruf. Ein Soldat oder ein Dieb kann eine lange und erfolgreiche Laufbahn haben, ohne vielleicht überhaupt kämpfen zu müssen. Durch die Art, auf die ein Gladiator seinen Lebensunterhalt verdient, setzt er sein Leben regelmäßig im Kampf aufs Spiel. Wenn man Sklave ist, wie ich es war, ist es eine zweifelhafte Weise, sich Unterkunft und Verpflegung zu verdienen. Aber sich freiwillig dafür zu entscheiden, wie Eure ›Gladiatoren‹ es tun, ist undenkbar. Sie sind entweder Narren oder Sadisten, und weder mit den einen noch mit den anderen kann man sonderlich gut auskommen.«
»Ihr haltet mich also für töricht, daß ich Gladiatoren anstelle?«
»Wenn das Euer einziger Maßstab ist. Ich würde Euch zumindest raten, daß Ihr Euch auch die Männer gründlich anseht. Einige Eurer Leute haben fragwürdige Vorgeschichten. Kümmert Euch erst einmal darum, bevor Ihr zuviel Vertrauen in sie setzt. Außerdem würde ich Euch empfehlen, einen Ausbilder zu nehmen, der Eure Truppen in Taktiken drillt, die geeigneter für die Straße als für die Arena sind. Dann haben sie eine größere Chance zu gewinnen.«
»Ich – ich muß mir das alles durch den Kopf gehen lassen«, sagte Chenaya nachdenklich. »Was Ihr sagt, klingt vernünftig, aber es widerspricht allem, womit ich aufgewachsen bin.«
»Laßt Euch Zeit.« Jubal lächelte. »Ihr müßt alles gut durchdacht haben, ehe Ihr Euch festlegt. Männer in den Kampf zu schicken ist kein Spiel.«
Sie blickte ihn scharf an. »Mir ist, als höre ich eine verschleierte Warnung aus dieser letzten Bemerkung. Ich nehme an, Ihr habt von meiner besonderen Gabe gehört: daß ich nie verliere. Sie ist vorhanden, nicht nur potentiell, und ich würde meinen, diese Gabe rechnet sehr zu meinen Gunsten als Führerin – oder Verbündete.«
Der Unterweltkönig blickte sie nicht an, als er sich in seinen Sessel zurücksetzte.
»Ich habe davon gehört«, bestätigte er. »Nach meiner Meinung macht sie Euch sowohl arrogant wie verwundbar. Beides sind Eigenschaften, die ich bei jemandem, der mich führt oder mir den Rücken deckt, nicht schätze.«
»Aber…«
»Nehmen wir für den Augenblick an, daß es stimmt – daß Ihr nie verliert. Ich werde mich dessen später vergewissern, aber wir wollen es momentan für gegeben ansehen. Ihr werdet also jeden Wettkampf gewinnen. Na und? Denkt doch mal wie eine Erwachsene, nicht wie ein Kind. Das Leben ist kein Spiel. Ein Pfeil aus dem Dunkeln in Eurem Rücken ist kein Wettkampf. Ihr könnt Euren lückenlosen Siegesrekord behalten und trotzdem so tot sein wie jeder Verlierer.«
Statt ihm zu widersprechen, legte Chenaya nur fragend den Kopf schief.
»Das ist das zweite Mal, daß Ihr Schützen erwähnt, Jubal. Nur zur Befriedigung meiner Neugier, hattet Ihr etwas mit dem Pfeil zu tun, der Zip das Ohr geritzt hat?«
Jubal verfluchte sich insgeheim. Er mußte aufhören, dieses Mädchen zu unterschätzen, nur weil sie jung war. Sie hatte einen wachen Verstand, der selbst gar nicht zusammenhängende Bemerkungen festhielt und und zu einem Ganzen zusammenfügte.
»Nein«, entgegnete er vorsichtig, »aber ich weiß, wer den Pfeil abgeschossen hat. Sie hat früher für mich gearbeitet, und wenn ihre Geschicklichkeit inzwischen nicht sehr nachgelassen hat, dann war das getroffene Ohr auch tatsächlich das Ziel.«
Chenaya zog die Brauen hoch, und er erkannte zu spät, daß er unabsichtlich das Geschlecht des Schützen preisgegeben hatte. Es war Zeit, das Gespräch in weniger bedenkliche Bahnen zu lenken.
»Wir sprachen von Eurem unfehlbaren Glück. Ihr glaubt offenbar, daß Ihr nie versagt, nur weil Ihr nie verliert. Diese Einstellung ist gefährlich, sowohl für Euch als auch für jeden auf Eurer Seite. Etwas wie einen unaufhaltsamen Angriff oder eine undurchdringliche Verteidigung gibt es nicht. Es führt nur zur Selbstüberschätzung und Katastrophe, wenn man von dem einen oder dem anderen überzeugt ist.«
»Aber ich habe im Kampf immer Glück…«
»Wie bei Eurem Angriff auf Theron?« Der Unterweltkönig lächelte.
»Der Angriff war ein Erfolg. Wir hatten lediglich das falsche Ziel vor uns«, entgegnete sie eigensinnig.
»Erspart mir derartige Erklärungen. Jeder, der mit Magie oder Göttern zu tun hat, wird recht geschickt mit Ausreden. Ich weiß nur, daß übernatürliches Eingreifen einen Zoll fordert, der höher ist, als intelligente Menschen zu zahlen bereit sind.«
»Ihr sprecht natürlich mit dem Sachverstand, den Ihr Euch durch die verschiedensten Erfahrungen mit Göttern und Magiern erworben habt.«
Als Erwiderung nahm Jubal seine Maske ab.
Eitelkeit veranlaßte ihn, seine unnatürlich gealterten Züge vor allen, außer seinen nächsten Mitarbeitern, zu verbergen, doch in gewissen Momenten konnte sein Aussehen viel beredter sein als Worte.
»Ich hatte einmal mit Magie zu tun«, sagte er grimmig, »und das sind die Folgen. Der Preis dafür, daß ich kein Krüppel wurde, waren Jahre meines Lebens. Ich bereue diesen Handel zwar nicht, aber ich würde es mir gut überlegen, bevor ich einen neuen einginge. Ist Euch schon einmal der Gedanke gekommen, daß Ihr früher oder später für Euer Glück bezahlen müßt – für jeden Würfel, den Ihr so gleichmütig rollt, nur um mit Eurer sogenannten Gabe zu prahlen?«
Die Demonstration hatte die gewünschte Wirkung auf Chenaya. Sie schüttelte stumm den Kopf und wandte den Blick vom Gesicht des viel zu rasch gealterten Mannes ab, dem sie einst zugejubelt hatte.
»Eure edle Geburt sorgte für natürlichen Hochmut«, fuhr der Unterweltkönig unerbittlich fort und ließ seine Maske absichtlich auf dem Schoß. »Und Eure hochmütige Überzeugung, daß Ihr unfehlbar seid, sorgt dafür, daß es einem den Magen umdreht und man die Geduld mit Euch verliert. Ihr bildet Euch anscheinend ein, daß Ihr mit jedem tun könnt, was Euch gerade einfällt, ohne auch nur einen Gedanken an die Folgen oder Auswirkungen. Eure arroganteste Annahme ist vielleicht, daß Ihr glaubt, Euer undiszipliniertes Benehmen sei sogar bewundernswert. Die Wahrheit ist, daß die Leute Eure Kapriolen abwechselnd belustigend und beleidigend finden. Wenn ihre Duldsamkeit entweder ihre Grenze erreicht oder es Euch je tatsächlich gelingt, etwas auf die Beine zu stellen, was als wirkliche Bedrohung angesehen werden kann, dann werden die wahren Mächte dieser Stadt Euch zerquetschen wie einen Floh.«
Sein Spott riß Chenaya aus ihrem Schock. »Sollen sie es doch versuchen!« brauste sie auf. »Ich kann…«
Jubal beobachtete lächelnd ihr Gesicht, als sie sich mitten im Satz unterbrach, weil ihr ihre Arroganz zum ersten Mal selbst bewußt wurde.
»Seht Ihr, was ich meine? Und das, während Ihr nur in eine Decke gewickelt hier sitzt, nachdem Ihr mitten in die Bucht geschleudert wurdet. Ich nehme an, wer das getan hat, war lediglich verärgert. Wäre er wirklich zornig gewesen, hätte er Euch viel weiter draußen fallen lassen. Und trotzdem bildet Ihr Euch immer noch ein, daß Ihr Euch anlegen könnt, mit wem Ihr nur wollt.«
Chenaya hüllte sich fester in die Decke, als könnte die Decke sie vor Worten und der Wahrheit ebenso schützen wie vor der Kälte. »Bin ich wirklich so unbeliebt?« fragte sie, ohne aufzublicken.
Einen Augenblick lang empfand Jubal Mitleid mit dem Mädchen. Auch er hatte eine Zeit mitgemacht, da er sich verzweifelt Freunde wünschte, um dann feststellen zu müssen, daß seine Bemühungen mißachtet oder gar falsch ausgelegt wurden. Ein Teil von ihm wollte Chenaya trösten, aber statt dessen fuhr er unerbittlich fort und nutzte ihre Schwäche.
»Ihr habt anderen wenig Grund gegeben, Euch zu mögen. Durch unsere neuen beysibischen Bürger ist Geld in die Stadt geflossen, aber die alten Einheimischen erinnern sich noch allzu gut, wie knapp es war und wie schwer es ist, zu Geld zu kommen. Ihr werft damit herum, fordert mit voller Absicht Angriffe von Bedauernswerten heraus, die verzweifelt welches brauchen, nur damit Ihr Eure Geschicklichkeit und Euer Glück beweisen könnt, indem Ihr sie tötet. Sollte es einem von ihnen gelingen, Euch in dunkler Nacht die Kehle durchzuschneiden, bezweifle ich, daß man es irgendwo bedauern würde. Tatsächlich würden die meisten nur denken, daß Ihr es verdient habt. Und sicher gibt es auch einige, die insgeheim hoffen, es würde dazu kommen, um den rankanischen Edelleuten, die die Gefahr in dieser Stadt immer noch unterschätzen, eine heilsame Lektion zu erteilen. Dann sind da Eure sexuellen Ambitionen. Die Geschmäcker sind verschieden in der Stadt und häufig durch das Überangebot abgestumpft, doch selbst die billigste Hure, die in den Straßen um das Himmlische Versprechen um Freier wirbt, würde ihnen nicht gleich in aller Öffentlichkeit zwischen die Beine fassen.«
»Das sagt Ihr nur, weil ich eine Frau bin!« protestierte Chenaya. »Männer tun es…«
»Das macht es auch nicht bewundernswürdig«, unterbrach Jubal sie fest. »Ihr sucht Euch ständig die schlimmsten Beispiele für Euer Benehmen aus. Ihr habt Euch gegen weibliche Feinheit und für männliche Grobschlächtigkeit entschieden. Ich vermute, daß Ihr Gladiatoren in der Nacht vor ihren Arenakämpfen beobachtet habt, wenn man ihnen Frauen gegeben hat. Bedenkt, daß Gladiatoren von den meisten als viehisch erachtet werden. Sie wissen, daß sie den nächsten Tag möglicherweise nicht überleben werden, folgedessen verschwenden sie kaum einen Gedanken an die Zukunft, geschweige denn daran, einen guten Eindruck auf ihre Bettpartner zu machen. Dann ist da noch zu bedenken, daß Gladiatoren gewöhnlich mit Strafgefangenen Huren oder Sklavinnen zu tun haben. Wenn sie ihre üblichen Annäherungsversuche bei einer freien Frau in einer Schenke versuchten, bezweifle ich, daß diese oder die anderen Gäste es sich gefallen ließen. Wenn Ihr wollt, daß Euch jemand mag oder bewundert, dürft Ihr ihn nicht in aller Öffentlichkeit in peinliche Verlegenheit bringen – übrigens auch nicht, wenn Ihr allein mit ihm seid. Vergewaltigung ist nicht bewundernswürdig, egal, ob Mann oder Frau sie versucht.«
»Aber Tempus ist hochgeachtet, und er ist dafür bekannt, daß er Frauen Gewalt antut!«
»Tempus ist als Soldat geachtet, trotz – nicht wegen – seines Benehmens gegenüber Frauen. Ich habe noch nie gehört, daß jemand seine sexuellen Gewohnheiten bewundernswert findet. Erinnert Ihr Euch, was ich über den Preis gesagt habe, den Magie fordert? Wenn meine Information stimmt, gehört zu dem Preis, den Tempus für die Gunst der Götter bezahlen muß, daß er eine Frau nur mit Gewalt nehmen kann. Zumindest ist das die Entschuldigung, die er selbst für sein Benehmen gibt. Welche habt Ihr für Eures?«
Während er sprach, hatte Jubal Zeit, über die Ironie nachzudenken, daß ausgerechnet er Tempus verteidigte. »Verzeiht, wenn meine Kritik der Arroganz scheinbar kein Ende nimmt, aber es ist meine feste Überzeugung, daß sie der schlimmste Wesenszug ist, den jemand in Freistatt haben kann. Vor einer Weile habt Ihr nach meiner Erfahrung mit Magie gefragt. Nun, an Erfahrung mit Arroganz mangelt es mir keineswegs. Ich lernte ihre Gefahren am eigenen Leib kennen.«
Ungebeten schoben sich Bilder aus der Vergangenheit vor sein inneres Auge. Bilder, die sich gewöhnlich auf seine Träume beschränkten.
»Früher, ehe Euer Vetter nach Freistatt kam, hatte ich mit meinen Leuten die Zügel von Freistatt in der Hand. Der Statthalter und die Garnison waren korrupt und unfähig, sich durchzusetzen; und jeder, der stark genug war, konnte die Macht an sich reißen. Wir waren stark genug und konnten sie auch halten. Doch das führte uns dazu, vor allem mich, uns einzubilden, wir wären unbesiegbar. Wir flanierten durch die Straßen, prahlten mit unserer Macht und mißbrauchten sie auch gelegentlich. Dadurch kam es, daß wir für Tempus, als er in der Stadt ankam, zur Zielscheibe wurden, zunächst für ihn allein, dann, als sie sich ihm anschlossen, auch für die Stiefsöhne. Mein Landgut wurde überfallen und beschlagnahmt, meine Leute, die überlebt hatten, in alle Winde verstreut und ich mit den Verletzungen zurückgelassen, deren Heilung mich so viel kostete.[4] Und all das durch den einen Mann, den Ihr so gleichmütig mit Euren Spielchen herausfordert.«
»Und doch achtet Ihr Tempus und seid bereit, Euch mit ihm zu verbünden?« staunte Chenaya laut.
Abrupt wurde Jubal sich bewußt, wohin seine Erinnerungen ihn geführt hatten.
»Ihr begreift das Wesentliche nicht«, sagte er brüsk. »Es war meine Schuld. Es war meine offen zur Schau gestellte Arroganz, die mir diese sowohl unerwartete wie unerwünschte Aufmerksamkeit einbrachte. Wenn Ihr von Euch aus die Hand in eine Falle legt, haßt Ihr dann die Falle, weil sie zuschnappte, oder verflucht Ihr Eure eigene Dummheit, die Eure Hand überhaupt erst in Gefahr gebracht hat?«
»Ich würde meinen, daß Ihr Euch an dem rächen möchtet, der Euch so viel gekostet hat.«
»Ich gebe zu, daß ich keine große Zuneigung für Tempus empfinde. Falls sich mir irgendwann einmal die Gelegenheit bieten sollte, es ihm heimzuzahlen, ergreife ich sie wahrscheinlich.« Jubal gönnte sich ein flüchtiges Aufflammen des Hasses, den er sich so sehr zu unterdrücken bemühte. »Ganz gewiß aber werde ich es nicht zu meiner Lebensaufgabe machen. Rache ist eine verlockende Nebenstraße, die sich gewöhnlich als Sackgasse erweist. Sie lockt einen jedoch nur weiter vom eigentlichen Weg fort. Ihr tätet gut daran, bei Euren eigenen Absichten mit Theron daran zu denken.«
»Aber er hat meine Familie ermorden lassen!«
»Ist das nicht ein Risiko, mit dem jeder Edle rechnen muß?« Er zog eine Braue hoch. »Erinnert Ihr Euch, daß ich sagte, alles hat einen Preis? Eure Familie hat ein Leben in Luxus geführt, doch der Preis dafür war die Verknüpfung Eurer Zukunft mit der Machtstruktur im Reich zu der Zeit. Als sie fiel, fiel auch Eure Familie. Es war ein Glücksspiel. Eines, das Ihr verloren habt. Möchtet Ihr wahrhaftig den Rest Eures Leben damit zubringen, den Gewinner zu hassen und zu verfolgen?«
»Aber…«
Der Unterweltkönig hob abwehrend die Hand. »Ich bin noch nicht fertig, über meine eigene Arroganz zu sprechen. Wenn Ihr die Güte hättet, es mir zu gestatten.«
Chenaya biß sich auf die Lippe und nickte.
»Ich dachte, ich hätte meine Lektion gelernt. Als ich meine Organisation wieder aufbaute, gab ich mich damit zufrieden, im Verborgenen zu arbeiten, und hielt mich zurück, um nicht aufzufallen. Das funktionierte im großen und ganzen auch, und die verschiedenen Faktionen der Stadt beschäftigten sich miteinander. Ich schaute ihnen zu, wie sie Leichen häuften, und leckte mir die Lippen – ja, ich sorgte sogar unbemerkt dafür, daß sie einander nicht von der Kehle gingen. Ich hoffte, sie würden sich allmählich gegenseitig so schwächen, daß ich schließlich wieder über Freistatt herrschen könnte.«
Er hielt inne, um einen Schluck Wein zu trinken, während er sich erstaunt fragte, was an diesem Mädchen war, daß er ihr seine Gedanken und Pläne anvertraute.
»Erst als mich jemand kritisierte, ein alter Mann, dessen Meinung ich hoch achte,[5] wurde mir bewußt, daß ich der Arroganz wieder in die Falle gegangen war. Das Reich hat sich verändert und Freistatt hat sich verändert. Die Dinge werden nie wieder sein, wie sie waren, und es war töricht, es mir einzubilden. Ich werde nie wieder die Herrschaft über diese Stadt haben, und alle meine Machenschaften, meine Rivalen zu schwächen, haben Freistatt nur noch verwundbarer gemacht, wenn es zur unvermeidlichen Konfrontation mit Theron kommt. Deshalb war ich bereit, bei Tempus’ Plan mitzumachen, einen Waffenstillstand zwischen den sich bekriegenden Faktionen herbeizuführen. Es geht um viel mehr als um persönliche Rache oder Ehrgeiz.«
Er bemerkte, daß Chenaya ihn eigenartig anblickte. »Diese Stadt bedeutet Euch viel, nicht wahr?«
»Es ist ein Höllenloch oder eine Diebeswelt, wie die Geschichtenerzähler sie nennen, aber ich bin an sie gewöhnt, so wie sie ist. Ich möchte nicht, daß die Laune eines neuen Kaisers sie umkrempelt. Insoweit bin ich bereit, eine Zeitlang meine persönlichen Ambitionen und meinen Stolz zum Wohl der Stadt zu vergessen.«
Chenaya nickte, aber Jubal vermutete, daß sein Versuch, seine Gefühle für Freistatt abzuwerten, sie nicht im gerigsten getäuscht hatte.
»Tempus möchte, daß ich die Verteidigung der Stadt organisiere, sobald er und seine Truppen Freistatt verlassen.«
Jubal verzog das Gesicht bei dieser Erklärung, als hätte man ihm etwas aufgetischt, das nicht nach seinem Geschmack war.
»Unwahrscheinlich. Ein so schlauer Taktiker Tempus auch sein mag, das Herz Freistatts kennt er nicht. Er ist ein Fremder in der Stadt, genau wie Ihr. Die Bürger mögen es nicht, daß jemand von auswärts daherkommt, sich als Helfer aufspielt und ihnen sagt, wie sie ihre Probleme zu lösen haben. Sogar seine eigenen Männer beginnen gegen seine selbstherrlichen Entschlüsse nach so langer Abwesenheit aufzubegehren. Auf die Waffenruhe hat man sich geeinigt, weil sie vernünftig ist, nicht weil Tempus sie vorschlug. Ich bezweifle, daß Ihr die Einheimischen tatsächlich vereinigen könntet, weil Ihr für sie eine Fremde seid. Jegliche Zusammenarbeit wäre im besten Fall widerwillig.«
Er überlegte, ob er sie darauf aufmerksam machen sollte, daß sie sich durch ihren Verrat an Zip in den Augen aller, die davon wußten, in Mißkredit gebracht hatte, entschied sich aber dagegen. Sie kamen nun zu einem der Hauptgründe, weshalb er ihr diese Unterredung überhaupt gewährt hatte, und er wollte nicht, daß das Gespräch abschweifte.
»Wer dann? Ihr?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich sagte Euch bereits, daß ich nie wieder über diese Stadt herrschen werde. Ich bin ein Gesetzloser und ein ehemaliger Sklave. Selbst wenn das nicht ins Gewicht fiele, hegen doch zu viele der Faktionen alten Groll gegen mich und meine Leute. Nein, sie würden zwar Seite an Seite mit mir kämpfen, sich aber nicht von mir befehligen lassen.«
»Dann wäre also nach Eurer Meinung der beste Führer…«
Sie ließ die Frage in der Luft hängen. Jubal holte unmerklich tief Atem und wappnete sich.
»Euer Vetter, Prinz Kittycat. Er ist schon lange genug hier, daß er als Einheimischer angesehen wird, und er ist sehr beliebt bei den einfachen Leuten, mit denen er persönlich zu tun gehabt hat. Noch mehr zählt jedoch, daß er wahrscheinlich die einzige Machtperson ist, die nicht direkt gegen irgendwelche der Faktionen vorgegangen ist. Wenn das nicht genügt, hat er von allen in der Stadt auch noch die engste Beziehung zu den Beysibern, von den Fischern möglicherweise abgesehen. Die Stadt wird die Unterstützung der Fischäugigen brauchen, sowohl finanziell wie militärisch, wenn wir uns gegen Theron stellen wollen. Die angekündigte Vermählung Kadakithis’ mit Shupansea wird dieses Bündnis besser besiegeln als…«
»Ich weiß, aber ich muß ja nicht dafür sein.«
Chenaya war aufgesprungen. »Mein Vetter wird diese barbusige Monstrosität nie heiraten! Bei den Göttern, er ist kaiserlichen Geblüts…«
»Genau wie sie!« grollte Jubal und sprang ebenfalls zornig auf. »Eine solche Verbindung wäre nicht nur gut für die Stadt, sondern vielleicht sogar notwendig. Bedenkt das, Chenaya, bevor Ihr Eure Zunge von Eurer kindischen Eifersucht lenken laßt. Wenn Ihr Euch weiterhin gegen diese Verbindung stellt, könnten die Mächte von Freistatt eine so große Gefahr in Euch sehen, daß sie Eure Unbesiegbarkeit auf die Probe stellen.«
»Droht Ihr mir?« Furcht und Aufbegehren paarten sich in ihrer Stimme, als sie einander fixierten.
»Ich warne Euch – wie ich es schon versuche, seit Ihr hier seid.«
Einen Moment herrschte ein angespanntes Schweigen. Dann holte Chenaya tief und fast zitternd Luft.
»Ich glaube nicht, daß ich dieser Heirat meinen Segen geben könnte, so gut sie auch für die Stadt sein mag.«
»Ich habe nicht verlangt, daß Ihr sie billigt oder gar fördert«, entgegnete Jubal beruhigend und bemühte sich, seine Erleichterung nicht zu zeigen. »Hört nur ganz einfach auf, sie zu hintertreiben, und laßt die Dinge ihren natürlichen Lauf nehmen.«
»Ich werde nicht mehr versuchen, sie zu verhindern. Aber ich habe viel zum Nachdenken.«
»Gut.« Er nickte. »Es wird auch höchste Zeit, daß Ihr endlich nachdenkt. Und nun, glaube ich, habt Ihr für eine Nacht an Rat genug, den Ihr Euch durch den Kopf gehen lassen könnt. Meine Leute warten draußen, sie werden Euch nach Hause bringen – und sagt ihnen, sie sollen Euch etwas zum Anziehen geben. Es erscheint mir nicht schicklich, daß jemand von Eurem Stand nur in eine Decke gehüllt durch die Straßen schreitet.«
Chenaya bedankte sich mit einem Kopfnicken und ging zur Tür, doch dann, drehte sie sich noch einmal um.
»Jubal, darf ich – werdet Ihr mir auch in Zukunft mit Rat helfen? Ihr sagt mir ehrlich Dinge, über die andere schweigen oder hinwegsehen.«
»Vielleicht liegt das nur daran, daß Ihr bereit seid, mir eher zuzuhören als Euren anderen Beratern. Ich bin jedenfalls überzeugt, daß sich unsere Wege hin und wieder kreuzen werden.«
»Aber wenn ich Euch irgendwann einmal dringend sprechen muß…«
»Sollte das wirklich der Fall sein, so gebt im Wilden Einhorn Bescheid. Ich werde mich dann irgendwie mit Euch in Verbindung setzen.«
Es war eine ganz gewöhnliche Bitte, sagte sich Jubal. Es gab wahrhaftig keinen Grund, daß er sich geschmeichelt fühlen sollte.
»Also, was für einen Eindruck macht sie auf dich?«
Saliman hatte sich zu Jubal gesetzt, sie tranken Wein miteinander, den guten Wein, und unterhielten sich über Chenayas Besuch.
»Jung«, sagte Jubal bedächtig. »In vieler Weise jünger, als ich erwartet hatte. Sie hat viel zu lernen und niemanden, sie zu lehren.«
Jubals langjähriger Freund, seine rechte Hand und sein Adjutant, zog eine Braue hoch. »Sie scheint dich beeindruckt zu haben.«
»Was willst du damit sagen?«
»Du hast eine Zeitlang geradezu väterlich geklungen. Ich dachte, du wolltest dir ein Bild von ihr als mögliche Verbündete oder Gegnerin machen, aber sie nicht gerade adoptieren.«
Jubal wollte aufbrausen, doch dann lachte er statt dessen rauh.
»Ich habe mich ganz so angehört, nicht wahr?« Er verzog das Gesicht. »Das muß meine Reaktion auf fehlgeleitete Jugendliche sein. So wenig könnte einen so großen Unterschied machen. Aber du hast recht, das hat nichts mit unseren Zielen zu tun.«
»Also, was hältst du von ihr? Wird sie eine Führungsrolle übernehmen können?«
»Später vielleicht, aber nicht früh genug, um jetzt von Nutzen zu sein.«
»Was machen wir jetzt?«
Jubal starrte auf die Wand, ehe er antwortete.
»Wir können es uns ganz einfach noch nicht leisten, daß Tempus und seine Truppen abziehen. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, damit sie hierbleiben. Wenn wir es nicht durch andere arrangieren können, werden wir möglicherweise selbst eingreifen müssen.«
Saliman sog den Atem durch die Zähne ein.
»So oder so kann es teuer werden.«
»Nicht so teuer wie eine unwirksame Verteidigung. Wenn die Stadt sich gegen Theron stellt, muß sie gewinnen. Es zu versuchen und zu versagen wäre katastrophal.«
»Also gut.« Der Adjutant nickte. »Ich werde unsere Informanten beauftragen festzustellen, wer in Frage käme, und ob ihr Preis Gold oder die Befriedigung ihrer Rache ist.«
»Etwas habe ich noch nicht erwähnt, was Chenaya betrifft«, sagte Jubal beiläufig. »Ich habe mich einverstanden erklärt, sie in Zukunft zu beraten. Ich hielt es für angebracht, sicherzugehen, daß ihre Entwicklung einen Weg nimmt, der gut für unsere Ziele ist.«
»Natürlich.« Saliman nickte. »Es ist immer das beste, weit vorauszuplanen.«
Sie waren schon so lange beisammen, darum wußte Saliman, daß er Jubal jetzt nicht darauf aufmerksam machen durfte, daß er versuchte, sich der Logik zu bedienen, um seine Sentimentalität zu verbergen.