24

Es war kurz nach dem Einsetzen der Morgendämmerung, als Par Ohmsford zum erstenmal erwachte. Er lag regungslos auf seinem aus Decken bestehenden Lager und versuchte seine Gedanken zu sammeln. Es dauerte eine Zeitlang, bis er begriff, wo er sich befand. Er war in einem Lagerschuppen hinter einer Gärtnerei im Zentrum von Tyrsis. Damson Rhee hatte sie letzte Nacht in dieses Versteck geführt, nachdem…

Die Erinnerung kehrte unangenehm schnell zurück, Bilder schossen ihm mit schrecklicher Klarheit durch den Kopf.

Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und die Bilder verschwanden. Schwaches Licht drang durch die Ritzen der Fensterläden des Schuppens und verlieh den Gartengeräten, die wie Wachsoldaten an der Wand aufgereiht waren, vage Umrisse. Der durchdringende Geruch von Erde und Gras erfüllte die Luft. Jenseits der Wände ihres Verstecks war alles ruhig, die Stadt war noch nicht erwacht.

Vorsichtig hob er den Kopf und sah sich um. Neben ihm lag Coll, der im Schlaf tief und gleichmäßig atmete. Damson Rhee war nirgendwo zu sehen.

Er legte sich noch einmal hin und lauschte der Stille. Dann stand er auf, indem er sich behutsam aus seinen Decken wickelte. Sein Körper war steif und verkrampft, und der Schmerz, der seine Gelenke durchfuhr, ließ ihn zusammenzucken. Doch er konnte ohne Hilfe umhergehen.

Coll warf sich unruhig hin und her, um dann wieder ruhig weiterzuschlafen. Par beobachtete seinen Bruder kurze Zeit und trat dann an das nächste Fenster. Er war immer noch angekleidet; nur seine Stiefel hatte man ihm ausgezogen. Die Kühle des frühen Morgens kroch aus dem Bretterfußboden in seine nur durch Socken geschützten Füße. Er lehnte sich an das Fenster und versuchte durch eine Ritze im Fensterladen hinauszuspähen. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war bedeckt, und die Welt sah feucht und leer aus. Nichts bewegte sich in seinem Blickfeld. Wände, Dächer, Straßen und dunkle Erker starrten ihn aus dem Nebel heraus an.

Hinter ihm ging die Tür auf, und Damson Rhee trat vollkommen geräuschlos in den Schuppen. Kleine Wassertröpfchen glitzerten auf ihren Kleidern, und ihr nasses Haar hing herunter. »Was machst du denn da?« flüsterte sie mit Unmutsfalten auf der Stirn. Eilig durchschritt sie den Raum und packte Par, als ob er im Begriff wäre hinzufallen. »Du sollst noch nicht aufstehen! Du bist noch viel zu schwach. Geh sofort wieder ins Bett!« Sie führte ihn zu seinem Lager und zwang ihn, sich wieder hinzulegen.

»Damson, hör mir zu…«, setzte er an, aber sie legte ihm schnell eine Hand auf den Mund.

»Nein, du hörst mir zu, Elfenjunge.« Sie starrte auf ihn wie auf eine wunderliche Entdeckung hinunter. »Was ist bloß mit dir los, Par Ohmsford? Hast du nicht ein bißchen gesunden Menschenverstand? Du bist letzte Nacht gerade noch mit dem Leben davongekommen, und jetzt begibst du dich schon wieder in Gefahr. Ist dir dein Leben denn gar nichts wert?«

Sie holte tief Luft, und er ertappte sich plötzlich bei dem Gedanken daran, wie warm sich ihre Hand auf seinem Gesicht anfühlte. Sie schien seine Gedanken zu lesen und nahm die Hand weg.

Er faßte sie und hielt sie fest. »Es tut mir leid. Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich bin immer wieder von Alpträumen geplagt worden.« Ihre Hand fühlte sich in der seinen klein und leicht an. »Ich kann nicht aufhören, an Morgan und Padishar zu denken…«

Er sprach nicht weiter, weil der Gedanke zu furchtbar war, selbst jetzt noch.

Neben ihm schlug Coll die Augen auf und starrte ihn an. »Was ist los?« fragte er schläfrig.

Damson Rhees Finger hielten Pars Hand jetzt fest umklammert. »Dein Bruder scheint vor lauter Sorge um die anderen nicht schlafen zu können.«

Par blickte sie kurz an und fragte dann: »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten, Damson?«

Sie lächelte schwach. »Ich schlage dir ein Tauschgeschäft vor. Wenn du mir versprichst, daß du versuchen wirst, noch ein Weilchen zu schlafen – oder dich wenigstens auszuruhen –, verspreche ich, daß ich versuchen werde, eine Antwort auf deine Frage zu finden. Ist das ein faires Angebot?«

Der Talbewohner nickte.

Damson Rhee warf Coll einen Blick zu. »Ich verlasse mich darauf, daß du dafür sorgst, daß er sein Wort hält.« Sie ließ Par los und stand auf. »Ich werde auch etwas zu essen mitbringen.

Verhaltet euch nur ruhig. Hier wird euch niemand stören.« Sie verschwand durch die Tür.

Schweigen erfüllte den Raum. Die Brüder sahen einan- der stumm an, und dann sagte Coll leise: »Sie liebt dich.«

Par errötete und schüttelte eilig den Kopf. »Nein. Sie will mich nur beschützen, sonst nichts.«

Coll lehnte sich zurück, seufzte und schloß die Augen. »So, meinst du?« Par glaubte schon, er sei wieder eingeschlafen, als er plötzlich sagte: »Was ist letzte Nacht mit dir passiert, Par?«

Par zögerte. »Du meinst das Wunschlied?«

Colls Augen weiteten sich. »Natürlich meine ich das Wunschlied.« Er warf ihm einen raschen Blick zu. »Außer dir weiß ich besser als jeder andere, wie die Magie funktioniert, und ich habe so etwas noch nie vorher erlebt. Das, was du hervorgebracht hast, war keine Illusion, sondern Wirklichkeit. Ich hätte nicht geglaubt, daß du das fertigbringst.«

»Ich auch nicht.«

»Also?«

Par schüttelte den Kopf. Was war denn nun wirklich passiert? Kurz schloß er die Augen. »Ich habe da so eine Idee«, gestand er schließlich. »Erinnerst du dich daran, wie die Magie des Wunschliedes sich zum erstenmal gezeigt hat? Wil Ohmsford setzte die Elfensteine im Kampf mit dem Raffer ein. Er mußte sie benutzen, um das Elfenmädchen Amberle zu retten. Himmel noch mal, wir haben diese Geschichte doch oft genug erzählt, oder nicht? Es war gefährlich für ihn, weil nicht genügend Elfenblut in ihm floß. Sein Tun veränderte ihn auf eine Weise, die er sich zuerst nicht erklären konnte. Erst nachdem seine Kinder, Brin und Jair, geboren worden waren, begriff er, was er getan hatte. Ein Teil der Elfenmagie der Steine war in ihn eingedrungen. Und dieser Teil wurde in Form des Wunschliedes an Brin und Jair weiter- gegeben.«

Er stützte sich jetzt auf einen Ellbogen; Coll tat es ihm gleich.

»Cogline hat uns bereits in der ersten Nacht gesagt, daß wir die Magie nicht verstehen. Er sagte, daß sie auf verschiedene Weise wirkt, aber daß wir sie, solange bis wir sie verstehen, nur auf eine Weise nutzen können. Und später dann, am Hadeshorn, erzählte er uns, wie die Magie sich verändert und Wellen zurückläßt wie das Wasser eines aufgewühlten Sees. Er hat eine deutliche Anspielung auf Wil Ohmsfords Vermächtnis gemacht, auf die Magie, die sich schließlich in das Wunschlied verwandelt hat.«

Er hielt inne. Im Raum war es still. Als er wieder sprach, kam ihm seine eigene Stimme fremd vor. »Nehmen wir doch nur einmal an, daß er recht hat, daß die Magie sich tatsächlich ständig verändert, sich weiterentwickelt. Genau das ist schließlich passiert, als die Magie der Elfensteine von Wil Ohmsford auf seine Kinder übergegangen ist. Was wäre also, wenn sie sich erneut verändert hätte, und zwar dieses Mal in mir?«

Coll starrte ihn an. »Was meinst du?« fragte er endlich. »Wie könnte sie sich denn verändern?«

»Nehmen wir an, daß die Magie sich wieder in das verwandelt hat, was sie ursprünglich war. Der blaue Elfenstein, den Shea Ohmsford von Allanon erhalten hat, als sie nach dem Schwert von Shannara gesucht haben, verfügte über die Macht, das sichtbar zu machen, was dem Besitzer verborgen blieb. Vergangene Nacht hat sich die Magie auf völlig neue Art und Weise gezeigt. Ich konnte ihrer kaum Herr werden. Du hast recht, Coll; ihre Wirkung war auf keinen Fall eine Illusion. Sie hat das sichtbar gemacht, was ich nicht erkannt habe, und ich glaube, daß dies deshalb geschah, weil ich es unbewußt gewollt habe.« Er sprach mit erregter Stimme. »Coll, nehmen wir an, daß die Macht, die einst der Magie der Elfensteine eigen war, jetzt der Magie, die ich besitze, eigen ist!«

Ein langes Schweigen senkte sich über sie. Ihre Gesichter waren nicht mehr als eine Handbreit voneinander entfernt, ihre Blicke aufeinandergeheftet. Colls harte Züge waren voller Anspannung; die Bedeutung dessen, was Par soeben zum Ausdruck gebracht hatte, lastete auf ihm wie ein schwerer Felsbrocken. Aus seinen Augen sprach zunächst Zweifel, dann Zustimmung, dann plötzlich Furcht. Seine Züge strafften sich. Seine rauhe Stimme klang sehr weich. »Die Elfensteine besaßen darüber hinaus noch eine weitere Eigenschaft. Sie konnten den Besitzer vor Gefahren schützen. Sie konnten eine ungeheuer wirksame Waffe sein.«

Par wartete und blieb stumm, als wisse er bereits, was folgen würde.

»Glaubst du, daß die Magie deines Wunschliedes die gleichen Kräfte besitzt?«

Pars Antwort war kaum hörbar. »Ja, Coll. Ich bin mir so gut wie sicher.« Gegen Mittag hatte sich der Nebel aufgelöst, und die Wolken waren weitergezogen. Die Sonne schien auf Tyrsis herab, und bald herrschte glühende Hitze.

Das Gedränge an den Toren der äußeren Stadtmauer wurde immer dichter und schleppender. Die diensthabenden Föderationswachen, die man aufgrund der nächtlichen Begebenheiten verdoppelt hatte, schwitzten und waren gereizt, als der bärtige Totengräber auf sie zukam. Sowohl Reisende wie Händler traten bei seinem Herannahen zur Seite. Er war zerlumpt und ging gebeugt, und er roch, als käme er geradewegs aus einem Abwasserkanal. Er schob einen schweren Karren vor sich her; auf ihm lag ein Leichnam, der in Tücher gehüllt und mit Lederriemen verschnürt war.

Die Wachsoldaten sahen einander an.

»Heißer Tag zum Arbeiten, nicht wahr, meine Herren?« keuchte der Totengräber, und die Wachen wichen vor dem Gestank, der von ihm ausging, unwillkürlich zurück.

»Deine Papiere«, sagte einer.

»Aber ja, aber ja.« Eine schmuddelige Hand griff nach einem Papier, das aussah, als hätte es längere Zeit im Dreck gelegen. Der Totengräber deutete auf den Leichnam. »Muß ihn so schnell wie möglich begraben. Hält sich nicht lange bei diesem Wetter.«

Ein anderer der Wachsoldaten trat nahe genug heran, um den Leichnam mit der Spitze seines Schwertes zu berühren.

»Vorsicht, mein Herr«, riet ihm der Totengräber. »Selbst den Toten muß man Respekt zollen.«

Der Soldat warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, stieß das Schwert in den Leichnam und zog es wieder heraus.

Der Totengräber lachte gackernd. »Ich würde Euch raten, Euer Schwert zu reinigen, mein Herr – da ich gesehen habe, wie dieser da am Fleckfieber gestorben ist.«

Der Soldat trat eilig zurück. Der, der die Papiere des Totengräbers in Händen hielt, reichte sie ihm geschwind und bedeutete ihm weiterzugehen.

Der Totengräber zuckte die Schultern, bückte sich nach den Griffen des Karrens und fuhr den Leichnam die lange Auffahrt hinunter zur Ebene.

Was für ein Haufen von Narren, dachte Padishar Creel verächtlich. Als Padishar Creel die erste Reihe von Bäumen im Norden erreichte, dort, wo die Stadt Tyrsis nur noch als ferne graue Silhouette zu sehen war, ließ er den Karren stehen, schob den Leichnam, den er mitgeführt hatte, zur Seite, zog die Eisenstange heraus und begann, die Bretter des doppelten Bodens des Karrens zu lockern. Behutsam half er Morgan, sich aus seinem Versteck zu befreien.

»Nimm einen kleinen Schluck davon.« Der Anführer der Geächteten hielt Morgan den Bierschlauch hin und versuchte vergeblich, ihn nicht mißtrauisch anzuschauen. Morgan nahm das Gereichte wortlos an. Er wußte, was der andere dachte – daß er, Morgan, seit ihrer Flucht aus der Grube nicht ganz bei Sinnen war.

Sie ließen den Karren mit dem Leichnam stehen und wanderten ungefähr eine Meile bis zu einem Fluß, wo sie sich waschen konnten. Sie badeten, zogen die sauberen Kleider an, die Padishar Creel mit Morgan im doppelten Boden des Karrens versteckt hatte, und setzten sich, um zu essen.

Die Mahlzeit verlief schweigend, bis Padishar Creel, der sich nicht mehr länger beherrschen konnte, sagte: »Wir werden uns später darum kümmern, daß die Klinge wieder in Ordnung gebracht wird, Hochländer. Möglicherweise ist die Magie nicht verlorengegangen.«

Morgan schüttelte nur den Kopf. »Es handelt sich nicht um eine Klinge, die man wieder in Ordnung bringen kann«, erwiderte er mit monotoner Stimme.

»Nein? Nenn mir einen Grund. Erzähl mir, wie das Schwert funktioniert.« Padishar Creel war nicht geneigt, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Morgan tat wie geheißen, aber nicht, weil er besonders daran interessiert war, sondern weil dies der einfachste Weg war, um Padishar Creel zum Schweigen zu bringen. Er erzählte ihm, wie das Schwert von Leah zu seiner Zauberkraft gekommen war, wie Allanon die Klinge in die Wasser des Hadeshorns getaucht hatte, damit Rone Leah eine Waffe hatte, um Brin Ohmsford zu beschützen. »Die Zauberkraft lag in der Klinge, Padishar«, endete er. Es fiel ihm schwer, noch mehr Geduld zu zeigen. »Einmal zerstört, kann sie nicht wieder instand gesetzt werden. Die Zauberkraft ist verloren.«

Padishar Creel runzelte zweifelnd die Stirn und zuckte dann die Schultern. »Tja, sie hat dafür einen guten Zweck erfüllt, Hochländer. Schließlich hat sie uns das Leben gerettet.«

Morgan sah ihn mit gepeinigtem Blick an. »Du verstehst nichts. Es gab eine besondere Verbindung zwischen dem Schwert und mir. Als das Schwert zerstört wurde, schien es, als ob das Gleiche mit mir passierte. Ich weiß, daß das keinen Sinn ergibt – aber es ist trotzdem so. Als die Zauberkraft verlorenging, ging auch ein Teil von mir verloren.«

»Aber das glaubst du doch nur jetzt, mein Junge. Wie kann man denn wissen, daß sich das nicht noch ändert?« Padishar Creel lächelte ihm aufmunternd zu. »Laß dir etwas Zeit. Laß die Wunde heilen, wie man so schön sagt.«

Morgan, dem der Appetit vergangen war, hörte auf zu essen. Er dachte über die Erkenntnis nach, daß alles, was sie seit ihrer Entscheidung, in der Schlucht nach dem verschwundenen Schwert von Shannara zu suchen, schiefgegangen war.

Gereizt zog Padishar Creel die Augenbrauen in die Höhe. »Wir müssen gehen«, verkündete er unvermittelt und stand auf. Als Morgan keine Anstalten machte aufzustehen, sagte er: »Jetzt hör mir mal zu, Hochländer. Wir sind noch am Leben und wollen es auch bleiben. Schwert hin, Schwert her, ich lasse nicht zu, daß du dich weiterhin wie ein Hampelmann aufführst…«

»Genug, Padishar! Ich brauche deine Anteilnahme nicht!« Morgans Stimme klang härter als beabsichtigt, aber er konnte den Zorn, den er empfand, nicht verhehlen. Sein Zorn fand rasch eine Zielscheibe. »Warum kümmerst du dich nicht um Par und Coll? Hast du vielleicht eine Idee, was mit ihnen passiert sein könnte? Warum haben wir sie einfach zurückgelassen?«

»Ah, darüber zerbrichst du dir den Kopf! Nun, Hochländer, den Talbewohnern geht es höchstwahrscheinlich sehr viel besser als uns. Die Föderation ist nicht so dumm, daß sie den Bericht von den Ereignissen wie auch die Tatsache, daß zwei der sogenannten Wachen verschwunden sind, einfach übersieht. Sie haben unsere Beschreibung. Wenn wir nicht sofort aus der Stadt herausgekommen wären, wären wir wahrscheinlich niemals herausgekommen!« Er stieß Morgan mit dem Finger an. »Die Talbewohner dagegen hat keiner gesehen. Niemand wird ihre Gesichter wiedererkennen. Außerdem befinden sie sich sicherlich schon in der Obhut von Damson. Sie weiß, wie sie sie zum Zeigefinger führt. Sie wird sie, sobald sich eine Gelegenheit bietet, aus Tyrsis herausschleusen.«

Mit störrischer Miene schüttelte Morgan den Kopf. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Du warst dir auch sicher, daß es uns gelingen würde, das Schwert von Shannara zu holen, und du siehst, was passiert ist.«

Padishar Creel errötete vor Zorn. »Die Risiken, die wir eingegangen sind, waren beileibe kein Geheimnis.«

»Erzähl das mal Stasas und Drutt und Ciba Blue!«

Der große Mann packte Morgan. Seine Augen waren voller Zorn. »Die Männer, die dort gestorben sind, waren meine Freunde, Hochländer, und nicht deine. Das brauchst du mir nicht unter die Nase zu reiben! Was ich getan habe, habe ich für uns alle getan. Wir brauchen das Schwert von Shannara! Früher oder später müssen wir uns noch einmal hineinwagen – Schattenwesen hin oder her! Das weißt du so gut wie ich! Was die Talbewohner anbetrifft, behagt mir der Gedanke daran, daß wir sie zurücklassen, keineswegs besser als dir! Aber uns blieb, verdammt nochmal, keine andere Wahl!«

Morgan versuchte vergeblich, sich aus seinem Griff zu befreien. »Du hättest wenigstens nach ihnen suchen können!«

»Wo? Wo hätte ich suchen sollen? Glaubst du, sie verstecken sich an einem Ort, wo wir sie hätten finden können? Damson ist keine Närrin! Sie hat sie im hintersten Winkel von Tyrsis versteckt. Himmel nochmal, Hochländer! Begreifst du nicht, was dort vor sich geht? Wir haben ein Geheimnis gelüftet, das die Föderation mit allen Mitteln verbergen wollte. Ich bin mir nicht sicher, daß irgend jemand wirklich weiß, was all das zu bedeuten hat, aber es reicht, daß die Föderation glaubt, daß wir es wissen. Dafür wollen sie unseren Kopf… Ich habe, als wir durch die Tore gingen, einen Blick auf die kommenden Ereignisse geworfen. Die Föderationsregierung gibt sich nicht mehr damit zufrieden, nur die Wachen zu verdoppeln und die Patrouillen zu verstärken. Sie hat ihre gesamten Truppen mobilisiert! Wenn ich nicht vollkommen daneben liege, dann haben sie beschlossen, uns ein für allemal zu eliminieren – dich und mich und jedes andere Mitglied der Bewegung, das sie zu fassen kriegen. Wir sind für sie zu einer echten Bedrohung geworden, denn zum erstenmal fangen wir an zu begreifen, was es mit der Föderation wirklich auf sich hat – und genau das kann sie sich nicht leisten… Sie werden uns jagen, und wir sollten uns deshalb dorthin begeben, wo sie uns nicht finden.« Er stieß den Hochländer von sich weg und holte tief Luft. »Auf jeden Fall möchte ich darüber mit dir nicht streiten. Ich bin der Anführer. Du hast dich in der Grube tapfer geschlagen, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, meine Befehle in Frage zu stellen. Ich beherrsche die Kunst des Überlebens sehr viel besser als du, und du tätest gut daran, das nicht zu vergessen.«

Morgans Gesicht war weiß vor Zorn, aber er nahm sich zusammen. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, weiter zu streiten; der große Mann war nicht gewillt, seine Meinung zu ändern. Er wußte außerdem, wußte es tief im Inneren, wo er es sich eingestehen konnte, daß das, was Padishar Creel über die Suche nach Par und Coll gesagt hatte, die Wahrheit war. Er wandte sich von ihm ab und strich sorgfältig seine Kleider glatt. »Ich wollte nur sicher sein, daß wir uns darüber einig sind, daß die beiden nicht vergessen werden.«

Ein kurzes und hartes Lächeln überzog Padishar Creels Gesicht. »Keinen Augenblick, wenigstens nicht von mir. Du kannst tun und lassen, was du willst.« Dann drehte er sich um und verschwand zwischen den Bäumen.

Nach kurzem Zögern schluckte Morgan seinen Zorn und seinen Stolz hinunter und folgte ihm. Als Par zum zweitenmal aufwachte, war es bereits mitten am Nachmittag. Der Geruch von heißer Suppe durchzog ihre enge Behausung. Er blinzelte und setzte sich langsam auf. Damson Rhee stand neben einer kleinen Bank, wo sie die dampfende Suppe in Schüsseln schöpfte. Sie warf dem Talbewohner einen Blick zu und lächelte. Ihr leuchtendes Haar glänzte hell im spärlichen Sonnenlicht, das durch die Ritzen der Fensterläden drang, und Par verspürte ein fast unwiderstehliches Bedürfnis, seine Hand auszustrecken und es zu berühren.

Damson Rhee reichte den Talbewohnern die Suppe, danach frisches Obst, Brot und Milch, und Par hielt das Mahl für das köstlichste, das er je genossen hatte. Da sowohl Par als auch Coll hungriger waren, als sie dies für möglich gehalten hatten, aßen sie alles auf, was Damson Rhee ihnen gab. Par staunte, daß er noch einmal eingeschlafen war, doch zweifellos hatte er gut daran getan, denn sein Körper fühlte sich ausgeruht und fast frei von Schmerzen. Da sie während des Mahles nur wenig redeten, hatte er Gelegenheit nachzudenken. Fast unverzüglich nach dem Erwachen hatte es in seinem Kopf angefangen zu arbeiten; seine Gedanken waren schnell von der Erinnerung an die Schrecken der vergangenen Nacht zu dem, was vor ihm lag, vorausgeeilt – er würde die Informationen, die er gesammelt hatte, auswerten, würde das, was er vermutete, sorgfältig abwägen, würde Pläne schmieden für das, was er glaubte tun zu müssen.

Der Gedanke daran machte ihn schaudern. Ihm wurde klar, daß er Gefallen fand an der Möglichkeit, das Undenkbare anzustreben.

Als sie gegessen hatten, wuschen sie sich in einer Wanne mit frischem Wasser. Nachdem sie anschließend auf Wunsch von Damson Rhee wieder Platz genommen hatten, erfuhren sie, was mit Padishar Creel und Morgan geschehen war.

»Sie sind geflohen«, begann sie ohne Umschweife. In ihren grünen Augen spiegelten sich Freude und Bewunderung. »Ich habe keine Ahnung, wie sie es angestellt haben, aber es ist ihnen gelungen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich die Bestätigung hatte, daß sie wirklich entkommen sind, aber ich wollte sichergehen, daß ich keinem Gerücht aufgesessen bin.«

Par lächelte seinen Bruder voller Erleichterung an.

Coll zuckte die Schultern. »Wie ich die beiden kenne, haben sie sich wahrscheinlich einfach herausgeredet«, antwortete er.

»Wo sind sie jetzt?« fragte Par. Er fühlte sich, als wären ihm Jahre seines Lebens wiedergeschenkt worden. Padishar Creel und Morgan waren entkommen – das waren die besten Neuigkeiten, die er sich vorstellen konnte.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Damson Rhee. »Sie scheinen einfach verschwunden. Entweder haben sie in der Stadt ein Versteck gefunden, oder – und das scheint mir wahrscheinlicher – sie haben die Stadt verlassen und sind jetzt auf dem Weg zum Zeigefinger. Das Letztere scheint mir einleuchtender, weil die gesamten Truppen der Föderation mobilisiert sind, und es gibt dafür nur einen einzigen Grund. Sie haben die Absicht, im Parmakeil nach Padishar und seinen Männern zu suchen. Offensichtlich hat sie das, was er und ihr letzte Nacht angestellt habt, furchtbar erzürnt. Alle möglichen Gerüchte machen derzeit die Runde. Manche besagen, daß Dutzende von Föderationssoldaten am Wachhaus von Monstern getötet worden sind. Andere besagen, daß die Monster immer noch frei in der Stadt herumlaufen. Wie auch immer, Padishar hat sich seinen Reim darauf gemacht genau wie ich. Er wird die Stadt bereits verlassen haben und auf dem Weg nach Norden sein.«

»Bist du sicher, daß die Föderation ihn nicht doch gefangengenommen hat?« Par war noch immer in Sorge.

Damson Rhee schüttelte den Kopf. »Das hätte ich gehört. Aber jetzt bist du dran. Erzähl mir, was passiert ist, Par. Was habt ihr in der Schlucht gefunden?«

Mit Unterstützung von Coll erzählte er, was ihnen widerfahren war, und während er erzählte, beschloß er, Damson Rhee ebenso zu vertrauen, wie er dem Anführer der Geächteten vertraut hatte. Folglich berichtete er nicht nur von ihrem Zusammentreffen mit den Schattenwesen, sondern ebenfalls davon, auf welch unerwartete Weise seine Magie sich gezeigt hatte.

Als er alles berichtet hatte, sahen sie einander schweigend an, während sich jeder seine eigenen Gedanken darüber machte, was das Eindringen in die Schlucht ans Licht gebracht hatte und welche Bedeutung all dem beizumessen war.

Coll ergriff als erster das Wort. »Mir scheint, als hätten wir jetzt noch mehr offene Fragen als vorher.«

»Aber wir haben auch einiges erfahren«, widersprach Par. Ungeduldig beugte er sich vor. »Wir wissen, daß irgendeine Beziehung zwischen der Föderation und den Schattenwesen besteht. Die Föderation muß wissen, was sie dort unten hält; sie kann sich der Wahrheit nicht verschließen. Vielleicht hat sie sogar zum Entstehen dieser Monster beigetragen. So viel wir wissen, könnte es sich um Gefangene der Föderation handeln, die man genau wie Ciba Blue in die Schlucht geworfen hat, wo sie sich dann in das verwandelt haben, was wir vorgefunden haben. Und warum sind sie immer noch dort unten, wenn die Föderation sie nicht dort gefangen hält? Wären sie nicht schon längst geflohen, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätten?«

»Du siehst, mehr Fragen als Antworten, genau wie ich gesagt habe«, erklärte Coll.

Damson Rhee schüttelte den Kopf. »Irgend etwas stört mich an der Sache. Warum sollte die Föderation sich mit den Schattenwesen einlassen? Die Schattenwesen stehen für all das, was die Föderation bekämpft – Magie, die alten Bräuche, die Zerstörung des Südlandes und seiner Menschen. Wie kann die Föderation solch eine Beziehung überhaupt herstellen? Sie kann sich gegen die Magie der Schattenwesen nicht verteidigen. Wie sollte sie sich selbst schützen?«

»Vielleicht muß sie das gar nicht«, warf Coll ein. »Vielleicht liefert die Föderation den Schattenwesen andere Wesen als Nahrung, Wesen, für die die Föderation nichts übrig hat. Vielleicht ist es den Elfen so ergangen.« Er hielt inne. »Vielleicht ergeht es jetzt den Zwergen so.«

Sie blieben stumm, während sie über diese Möglichkeit nachdachten. Par hatte schon länger nicht mehr an die Zwerge gedacht, er hatte den Gedanken an die Schrecken von Culhaven und seine Bewohner in den vergangenen Wochen verdrängt. Jetzt erinnerte er sich wieder an das, was er dort gesehen hatte – an die Armut, an die Not und Unterdrückung. Die Zwerge wurden ausgerottet aus Gründen, die im Unklaren blieben. War es möglich, daß Coll recht hatte? War es möglich, daß die Föderation die Zwerge den Schattenwesen als Nahrung lieferte, weil dies Teil eines scheußlichen Handels zwischen ihnen war?

In seinem Gesicht spiegelte sich das Entsetzen wider. »Aber was könnte die Föderation als Gegenleistung erhalten?«

»Macht«, antwortete Damson Rhee auf der Stelle. Ihr Gesicht war leichenblaß.

»Macht über alle Rassen, über die Vier Länder«, pflichtete Coll mit einem Nicken bei. »Das ergibt einen Sinn, Par.«

Par schüttelte langsam den Kopf. »Aber was passiert, wenn nur noch die Föderation übrig ist? Ich bin sicher, daß sie auch daran gedacht haben. Was sollte die Schattenwesen davon abhalten, sich auch an ihnen gütlich zu tun?«

Keiner antwortete.

»Irgend etwas fehlt da noch«, sagte Par leise. »Etwas Wichtiges.« Er erhob sich, wanderte zum anderen Ende des Raumes, starrte eine Weile in die Luft, schüttelte endlich den Kopf, drehte sich um und kam zurück. Sein Gesicht drückte Entschlossenheit aus, als er sich wieder setzte. »Laßt uns noch mal zu den Schattenwesen in der Schlucht zurückkehren«, erklärte er, »denn das ist ein Rätsel, das wir vielleicht lösen können.« Er sah von einem zum anderen und sagte: »Ich glaube, daß der Grund, warum sie dort unten sind, der ist, daß sie jeden davon abhalten sollen, dem Schwert von Shannara zu nahe zu kommen.«

»Par!« versuchte Coll einzuwerfen, doch sein Bruder wies ihn mit einem Kopfschütteln zurück.

»Denk darüber nach, Coll. Padishar hatte recht. Warum sollte die Föderation sich die Mühe machen, den Volkspark und die Sendic-Brücke neu aufzubauen? Warum sollte sie die Überreste des alten Parks und der Brücke in dieser Schlucht verstecken, wenn nicht, um das Schwert zu verbergen? Und wir haben den Kuppelbau gesehen, Coll! Wir haben ihn gesehen!«

»Den Kuppelbau, ja, aber nicht das Schwert«, stellte Damson Rhee fest. Ihre grünen Augen leuchteten, als sich ihr Blick mit dem der Talbewohner kreuzte.

»Aber wenn nicht auch das Schwert in der Schlucht ist, warum sind dann die Schattenwesen dort?« fragte Par sogleich. »Sicherlich nicht, um einen leeren Kuppelbau zu bewachen. Nein, das Schwert ist immer noch dort, wo es schon vor dreihundert Jahren war. Deshalb hat Allanon mich auf die Suche geschickt – er wußte, daß es dort ist und nur darauf wartet, gefunden zu werden.«

»Er hätte uns viel Zeit und Ärger ersparen können, wenn er uns nur so viel gesagt hätte«, meinte Coll.

Par schüttelte den Kopf. »Nein, Coll. Allanon handelt nicht auf diese Weise. Denk an die Geschichte des Schwertes. Bremen hat es vor mehr als tausend Jahren Jerle Shannara gegeben, um damit den Dämonenlord zu vernichten, und der Elfenkönig konnte nicht damit umgehen, weil er nicht darauf vorbereitet war, das, was es von ihm forderte, auszuführen. Als Allanon Shea Ohmsford auswählte, damit er diese Aufgabe fünfhundert Jahre später vollbringe, beschloß er, daß sich der Talbewohner erst beweisen sollte. Sollte er nicht gewillt sein, sich ganz und gar der Aufgabe zu verschreiben, die mit der Suche verbunden war, dann war die Macht des Schwertes von Shannara auch für ihn zu stark. Und wenn dies eintreten würde, würde der Dämonenlord wieder einmal entkommen können.«

»Und er glaubt, daß es sich mit dir ebenso verhält«, schloß Damson Rhee. Sie sah Par auf eine Weise an, als sähe sie ihn zum allerersten Mal. »Wenn du nicht stark genug bist, wenn du nicht gewillt bist, genug von dir selbst zu geben, wird dir das Schwert von Shannara nichts nützen. Die Schattenwesen werden weiterhin ihr Unwesen treiben.«

Pars Nicken war kaum wahrzunehmen.

»Aber warum sollten die Schattenwesen oder die Föderation das Schwert all diese Jahre in der Schlucht lassen?« fragte Coll. »Warum haben sie es nicht einfach fortgeschafft, oder besser noch, warum haben sie es nicht zerstört?«

Par antwortete: »Ich glaube, daß weder die Föderation noch die Schattenwesen es zerstören können – keiner kann ein magisches Symbol, das so viel Macht besitzt, zerstören. Ich zweifle daran, daß die Schattenwesen es überhaupt berühren können. Der Dämonenlord konnte es nicht. Was ich nicht verstehe, ist, warum die Föderation es nicht an einer anderen Stelle versteckt hat… Aber das tut nichts zur Sache. Tatsache ist, daß das Schwert immer noch dort ist, immer noch im Kuppelbau.« Er hielt inne, blickte gerade aus. »Und auf uns wartet.«

Coll starrte ihn an, weil er zum erstenmal wirklich begriff, was Par damit andeutete. Einen Augenblick verschlug es ihm die Sprache. »Das kann nicht dein Ernst sein, Par«, brachte er schließlich ungläubig heraus. »Nach dem, was letzte Nacht passiert ist? Nachdem wir gesehen haben…« Er brach ab, um dann herauszuplatzen: »Du würdest keine zwei Minuten überleben.«

»Doch, das würde ich«, erwiderte Par. Aus seinen Augen sprach wilde Entschlossenheit. »Ich weiß, daß ich es könnte. So viel hat mir Allanon gesagt. Er sagte, daß wir die Kraft besitzen, unsere Aufgabe zu bewältigen – Walker, Wren und ich. Erinnerst du dich? Ich glaube, daß er in meinem Fall vom Wunschlied gesprochen hat. Ich glaube, er hat gemeint, daß die Magie des Wunschliedes mich beschützen wird.«

»Bis jetzt hat sie aber nicht viel genützt!« rief Coll.

»Ich hatte noch nicht begriffen, wozu sie in der Lage ist. Ich glaube, daß ich es jetzt begreife.«

»Du glaubst? Lieber Himmel, Par!«

Par blieb ruhig. »Was können wir denn sonst tun? Zum Zeigefinger zurücklaufen? Oder nach Hause? Sollen wir uns für den Rest unserer Tage verstecken?« Seine Hände zitterten. »Coll, mir bleibt keine andere Wahl. Ich muß es versuchen.«

In Colls Gesicht spiegelte sich ein Widerwille. Er wandte sich Damson Rhee zu, aber sie hielt ihren Blick fest auf Par gerichtet.

Coll knirschte mit den Zähnen. »Das heißt also, daß du in die Schlucht zurückkehren würdest aufgrund eines unbewiesenen und ungeprüften Glaubens. Du würdest dein Leben aufs Spiel setzen, nur weil du annimmst, daß das Wunschlied – eine Magie, die dich im Kampf mit den Schattenwesen bereits dreimal im Stich gelassen hat- dich schützen wird.« Langsam sog er die Luft ein. »Ich kann einfach nicht glauben, daß du so etwas tun könntest, etwas so… Dummes, um es milde auszudrücken!«

»Coll…«

»Nein, ich will nichts mehr hören! Ich habe dich überall hin begleitet, bin dir überall hin gefolgt, habe dich unterstützt, habe alles getan, um dich zu beschützen – und jetzt willst du dich so in Gefahr bringen! Einfach dein Leben wegwerfen! Begreifst du, was du da tust, Par? Du opferst dich! Du glaubst immer noch, daß du diese besondere Fähigkeit hast zu erkennen, was richtig ist. Du bist besessen!« Coll hielt Par die geballte Faust unter die Nase. Die Falten auf seiner Stirn und sein harter Gesichtsausdruck zeigten, wie sehr er mit sich kämpfte, um nicht zu schreien. »Jeder andere würde abwarten, würde alles noch einmal überdenken und dann nach Hilfe Ausschau halten. Aber du hast keine Geduld. Du hast dich bereits entschieden. Vergessen sind Padishar und Morgan oder sonst jemand. Du willst das Schwert haben! Du würdest sogar dein Leben dafür geben, um es zu besitzen, habe ich recht?«

»Ich bin nicht so blind…«

»Damson, rede du mit ihm!« unterbrach ihn Coll verzweifelt. »Ich weiß, daß du ihn magst; sag ihm, was für ein Narr er ist!«

Aber Damson Rhee schüttelte den Kopf. »Nein. Das werde ich nicht tun.«

Coll starrte sie entgeistert an.

»Ich habe nicht das Recht dazu«, schloß sie leise.

Coll verstummte. Keiner sprach. Das Tageslicht erhellte jetzt nur noch den äußersten Winkel des Schuppens, während die Schatten immer länger wurden. Vereinzelte Stimmen drangen von der Straße zu ihnen herauf, um dann wieder zu verstummen.

Der Vorwurf auf dem Gesicht seines Bruders tat Par weh. Aber er konnte nichts dagegen tun. Es gab nur eines, was Par hätte sagen können, um die Dinge zu ändern, und er hatte nicht die Absicht, es zu sagen. »Ich habe einen Plan«, erklärte er statt dessen. Er wartete, bis Coll die Augen hob. »Ich weiß, was du denkst, aber ich habe nicht die Absicht, mehr Risiken einzugehen als unbedingt notwendig.« Coll warf ihm einen ungläubigen Blick zu, ohne irgend etwas zu sagen. »Der Kuppelbau befindet sich unter den Mauern des alten Palastes. Wenn ich von der anderen Seite in die Schlucht hineinkäme, müßte ich nur eine kurze Entfernung zurücklegen. Wenn ich das Schwert erst einmal in der Hand hätte, könnten mir die Schattenwesen nichts mehr anhaben.« Er schluckte. »Der kleine Weg vom Wachhaus zum alten Palast ist eine gute Abkürzung.«

Coll schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Du hast wirklich vor, dich ein drittes Mal in das Wachhaus hineinzubegeben?« rief er aus.

»Alles, was ich brauche, ist eine List, mit der ich sie ablenken…«

»Hast du den Verstand verloren? Sie werden dich in weniger als zwei Minuten aufspüren…«

»Coll!« Par konnte sich nicht mehr beherrschen.

»Er hat recht«, sagte Damson Rhee ruhig.

Par wandte sich wütend zu ihr um, fing sich jedoch wieder. »Dann muß ich mir eben eine andere Möglichkeit ausdenken.«

Coll sah plötzlich erschöpft aus. »Die Wahrheit ist, daß es keine andere Möglichkeit gibt.«

»Vielleicht doch«, sagte Damson Rhee. »Als zu Zeiten Balinor Buckhannahs die Truppen des Dämonenlords Tyrsis belagerten, gelang es ihnen zweimal, in die Stadt zu gelangen – einmal durch die vorderen Tore und das andere Mal durch die Stollen, die hinter dem alten Palast verliefen. Möglicherweise existieren diese Stollen immer noch und ermöglichen den Zugang zur Schlucht vom Palast aus.«

Mit einem Ausdruck von Ekel wandte sich Coll ab. Alles, nur nicht das, hatte er von Damson Rhee erwartet.

Par zögerte, um dann vorsichtig zu sagen: »Das ist alles vor mehr als vierhundert Jahren geschehen. Ich hatte diese Stollen vollkommen vergessen – obwohl ich die Geschichten so oft erzähle. Weißt du irgend etwas darüber – wo sie sind, wie man hineinkommt, ob sie überhaupt noch begehbar sind?«

Damson Rhee schüttelte den Kopf. »Aber ich kenne jemanden, der es wissen könnte. Vorausgesetzt, daß er mit uns redet.« Dann begegnete sie Colls Blick. Der plötzliche weiche Ausdruck auf ihrem Gesicht überraschte Par. »Wir alle haben das Recht, für uns selbst zu entscheiden«, sagte sie leise.

Colls Blick war gespenstisch. Par betrachtete seinen Bruder einen Augenblick, während er überlegte, ob er irgend etwas zu ihm sagen sollte, drehte sich dann jedoch zu Damson Rhee um. »Kannst du mich zu dieser Person führen – heute abend?«

Sie stand auf, und die Talbewohner erhoben sich ebenfalls. Im Vergleich mit ihnen wirkte sie klein, fast zerbrechlich; aber Par wußte, daß der Eindruck täuschte. Sie schien zu überlegen, bevor sie sprach. »Das kommt darauf an. Zuerst mußt du mir etwas versprechen. Wenn du noch mal in die Schlucht hineingehst, wirst du Coll und mich mitnehmen.«

Die beiden anderen schwiegen vor Staunen.

»Es tut mir leid, aber ich muß darauf bestehen. Ich kann nicht anders. Du, Par, würdest dich verpflichtet fühlen, das Richtige zu tun, das heißt, du würdest uns zurücklassen, um uns keiner Gefahr auszusetzen – doch das wäre genau das Falsche. Du brauchst uns an deiner Seite.« Damson Rhee wandte sich an Coll. »Und wir müssen dabei sein, Coll. Begreifst du nicht? Nichts wird aufhören, gar nichts, nicht die Föderationsbesatzung oder das Grauen der Schattenwesen oder die Krankheit, die die Länder heimsucht, wenn nicht einer all dem ein Ende bereitet. Par hat vielleicht die Möglichkeit, genau das zu tun. Aber wir können ihn dabei nicht allein lassen. Wir müssen tun, was wir können, um ihm zu helfen, denn es ist auch unser Kampf.«

Coll blickte verwirrt drein.

Par sah Damson Rhee an. »Was passiert, wenn sich herausstellt, daß nur ich hineingehen kann?«

Damson Rhee kam auf ihn zu, nahm seine Hände und drückte sie. »Das wird nicht geschehen. Du weißt es.« Sie küßte ihn. »Seid ihr also einverstanden?«

Par atmete tief ein. Er setzte Colls und Damson Rhees Leben aufs Spiel, weil er nicht von dem Schwert lassen konnte. Er war so halsstarrig; er ließ sich allein von seinem Ehrgeiz leiten. Alles sprach dafür, daß dieses Unternehmen sie vernichten würde. Dennoch sagte er: »Einverstanden.«

Es folgte ein kurzes Schweigen.

Coll sah auf. »Einverstanden«, sagte auch er.

Damson Rhee berührte Pars Gesicht, ging dann auf Coll zu und drückte ihn an sich. Par war nicht schlecht erstaunt, als er sah, daß sein Bruder Damson Rhee ebenfalls an sich drückte.

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