25

Erst in der Abenddämmerung des folgenden Tages erreichten Padishar Creel und Morgan Leah den Zeigefinger. Beide waren erschöpft.

Sie waren, seit sie Tyrsis verlassen hatten, unaufhörlich gewandert und hatten nur Pausen eingelegt, um zu essen. Sie hatten in der vergangenen Nacht weniger als sechs Stunden geschlafen. Trotzdem hätten sie früher zurückkehren können, hätte Padishar Creel nicht darauf bestanden, jede noch so kleine Spur von ihnen zu beseitigen. Nachdem sie den Parmakeil betreten hatten, ging er immer wieder zurück, durch Schluchten, durch Flußbetten und über felsige Anhöhen, während er das hinter ihnen liegende Gebiet nicht aus den Augen ließ.

Morgan hielt die Vorsichtsmaßnahmen des Anführers der Geächteten für unnötig und hatte ihn, als er seine Ungeduld nicht mehr beherrschen konnte, dies schließlich wissen lassen. »Du lieber Himmel, Padishar – wir vergeuden nur unsere Zeit! Wer, glaubst du denn, verfolgt uns?«

»Niemand, den wir sehen können«, lautete die rätselhafte Antwort des anderen.

Der Abend war schwül, die Luft schwer und der Himmel dort, wo die Sonne als roter Feuerball am Horizont verschwand, dunstig. Während sie sich im Aufzug dem Gipfel des Zeigefingers näherten, konnten sie sehen, wie die Schatten der Nacht langsam den Wald in vollkommene Finsternis hüllten. Lästige Insekten, die vom Schweiß ihrer Körper angezogen wurden, umschwirrten sie unablässig. Die Hitze des Tages lag wie eine erdrückende Decke auf dem Land. Padishar Creel ließ seinen Blick immer wieder in Richtung Tyrsis gleiten, als könnte er ihre vermeintlichen Verfolger doch noch entdecken. Morgan folgte seinem Blick, konnte jedoch, wie schon zuvor, nichts und niemanden sehen.

Der große Mann schüttelte den Kopf. »Ich sehe es nicht«, flüsterte er. »Aber ich spüre es kommen.«

Er ließ keine Erklärung folgen, und der Hochländer stellte keine Fragen. Morgan war müde und hungrig, und er wußte, daß nichts, was Padishar Creel oder er tun würden, die Pläne dessen, was sie vielleicht verfolgte, ändern konnte. Ihre Reise war zu Ende, sie hatten alles Menschenmögliche getan, um ihre Spuren zu beseitigen, und es nützte nichts, sich jetzt noch zu sorgen. Morgan dachte an das Essen, das sie erwartete.

Das Mittagessen an diesem Tag war mehr als spärlich ausgefallen – ein paar Wurzeln, altes Brot, harter Käse und etwas Wasser. »Mir wird langsam klar, daß man als Geächteter praktisch von nichts leben können muß, aber du hättest sicherlich etwas mehr mitnehmen können!« hatte sich Morgan beklagt. »Das hier ist armselig.«

»Aber natürlich, mein Junge«, hatte der Anführer der Geächteten geantwortet. »Nimm’s nicht so schwer.«

Padishar Creel hatte ihre Auseinandersetzung fünf Minuten später bereits vergessen, und Morgan war bei Tagesende zu dem Schluß gelangt, daß alles wieder in Ordnung war. Widerwillig zollte er dem Mann Respekt – für seine draufgängerische und entschlossene Art, in der der Hochländer sich selbst wiedererkannte, für sein Selbstvertrauen und für die Art und Weise, wie er andere Menschen anzog. Padishar Creel trug die Abzeichen eines Führers, als seien sie sein Geburtsrecht, und irgendwie schien das vollkommen in Ordnung. Er war stark, das war nicht zu leugnen; und diese Stärke zog andere Menschen an. Aber er wußte, daß auch ein Führer seinen Gefolgsleuten etwas geben mußte. Da er klug genug war, sich über die Rolle Morgans bei der Reise von Par und Coll in den Norden im klaren zu sein, war er darauf bedacht, den Hochländer wissen zu lassen, daß seine Sorge um das Wohl der Talbewohner gerechtfertigt war. Er hatte sich nach ihrem Streit mehrere Male die Mühe gemacht, Morgan zu versichern, daß er Par und Coll niemals im Stich lassen würde, daß er dafür sorgen würde, daß sie in Sicherheit waren. Er war eine vielschichtige Persönlichkeit, und Morgan mochte ihn trotz seines Verdachts, daß er nicht in der Lage sein würde, alle seine Versprechen zu halten.

Auf jeder Station ihrer Auffahrt ergriffen die Geächteten Padishar Creels Hand zur Begrüßung. Wenn sie so sehr an ihn glauben, fragte sich Morgan, soll ich es dann nicht auch tun?

Aber er wußte, daß Glaube so vergänglich war wie Magie. Einen Augenblick kam ihm das zerbrochene Schwert, das er mit sich trug, in den Sinn. Glaube und Magie zusammengeschmiedet, in Eisen gelegt, um dann zu zerspringen. Er atmete tief ein. Der Schmerz über den Verlust war immer noch da, trotz seines Entschlusses, nicht mehr daran zu denken und die Wunde heilen zu lassen, so wie Padishar Creel ihm geraten hatte. Es gab nichts, was er tun konnte, um das, was geschehen war, ungeschehen zu machen, sagte er sich immer wieder; er mußte nach vorne blicken. Er hatte jahrelang ohne die Magie des Schwertes gelebt – ohne überhaupt zu wissen, daß sie existierte. Es ging ihm jetzt nicht schlechter als damals. Er war immer noch der Gleiche.

Als sie den Zeigefinger erreichten, wartete Chandos auf sie. Padishar Creels einäugiger Stellvertreter sah größer und dunkler aus, als ihn Morgan in Erinnerung hatte; sein bärtiges, entstelltes Gesicht war runzlig, sein Körper wirkte durch den weiten Umhang noch größer. Er ergriff Padishar Creels Hand und hielt sie fest. »Gute Jagd?«

»Gefährlich wäre ein besseres Wort«, antwortete der große Mann knapp.

Chandos warf Morgan einen Blick zu. »Die anderen?«

»Außer den Talbewohnern haben sie ihren letzten Kampf bestritten. Wo ist Hirehone? Hier oder zurück in Varfleet?«

Morgan warf ihm einen kurzen Blick zu. Padishar Creel suchte also immer noch nach dem Verräter, dachte er. Der Herr der Kiltan-Schmiede war nicht mehr erwähnt worden, seit Morgan erzählt hatte, daß er ihn in Tyrsis möglicherweise gesehen hatte.

»Hirehone?« Ein Ausdruck der Verwirrung lag auf Chandos’ Gesicht. »Er hat uns nach euch verlassen, noch am gleichen Tag. Ich nehme an, er ging nach Varfleet zurück, wie du ihm befohlen hast. Er ist nicht hier. Du hast aber Gäste.«

Padishar Creel gähnte. »Gäste?«

»Trolle, Padishar.«

Der Anführer der Geächteten war plötzlich hellwach. »Was du nicht sagst! Trolle? Sieh an, sieh an. Und wie kommt es, daß sie hier sind?«

Gemeinsam gingen sie auf die Feuer zu, Padishar Creel und Chandos nebeneinander, Morgan hinter ihnen. »Das wollten sie nicht sagen«, antwortete Chandos. »Sie traten vor drei Tagen aus dem Wald heraus, einfach so, als wäre es überhaupt nichts gewesen, uns hier zu finden. Sie kamen ohne einen Führer und fanden uns, als kampierten wir mit fliegenden Bannern mitten auf freiem Feld. Zwanzig an der Zahl, große Kerle, aus dem Charnalgebirge im Nordland. Sie nennen sich Kelktic Rock und standen einfach nur herum, bis ich hinging, um mit ihnen zu reden, und wollten dann mit dir sprechen. Als ich ihnen erklärte, daß du nicht da seist, sagten sie, sie würden warten.«

»Tatsächlich? Ziemlich beharrlich.«

»Kann man wohl sagen. Ich habe sie heraufgeholt, nachdem sie zugestimmt hatten, uns ihre Waffen auszuhändigen. Es schien mir nicht recht, sie dort unten am Parmakeil sitzen zu lassen, nachdem sie den weiten Weg gemacht hatten, um dich zu finden – und obendrein so erfolgreich waren.« Chandos schmunzelte. »Außerdem habe ich mir gedacht, daß ein paar hundert von uns mit einer Handvoll Trollen fertig werden würden.«

Padishar Creel lachte leise. »Vorsicht kann nie schaden, alter Freund. Wo sind sie?«

»Da drüben am Feuer.«

Morgan und Padishar Creel spähten durch die Dunkelheit. Ein Haufen gesichtsloser Schatten beobachtete ihr Nahen. Sie sahen riesig aus. Unbewußt faßte Morgan nach seinem Schwertknauf, und erst dann fiel ihm ein, daß der Knauf das einzige war, was ihm geblieben war.

»Der Anführer nennt sich Axhind«, schloß Chandos absichtlich leise. »Er ist der Älteste.«

Padishar Creel schritt auf die Trolle zu, die Müdigkeit war von ihm abgefallen und seine große Gestalt imponierend. Einer der Trolle kam ihm entgegen.

Morgan Leah hatte noch nie einen Troll gesehen. Er hatte natürlich Geschichten über sie gehört; alle erzählten Geschichten über die Trolle. Irgendwann, lange, bevor Morgan zur Welt kam, hatten die Trolle das Nordland, ihre ursprüngliche Heimat, verlassen, um mit den anderen Rassen Handel zu treiben. Eine Zeitlang hatten einige sogar unter den Menschen von Callahorn gelebt. Aber all das hatte mit dem Auftauchen der Föderation und ihrem Kampf um die Vorherrschaft im Südland ein Ende gefunden. Trolle waren südlich von Streleheim nicht mehr gern gesehen, und die wenigen, die in den Süden gekommen waren, hatten sich schleunigst wieder auf den Weg nach Norden gemacht. Da sie von Natur aus Einsiedler waren, waren keine großen Anstrengungen nötig, um sie in ihre Festung in den Bergen zurückzutreiben. Jetzt verließen sie sie überhaupt nicht mehr – wenigstens hatte Morgan noch nie gehört, daß sie sie verlassen hätten. Es war deshalb sehr ungewöhnlich, daß sich eine Gruppe so weit nach Süden vorgewagt hatte.

Morgan versuchte die Besucher nicht anzustarren, obwohl es ihm schwer fiel. Die Trolle waren muskulöse, fast grotesk wirkende Männer mit großen, breiten Leibern und nußbrauner Haut, die so rauh war wie Baumrinde. Ihre Gesichter waren flach und fast ohne charakteristische Züge. Ohren sah Morgan überhaupt nicht. Sie trugen Lederkleidung und schwere Rüstungen; ihre großen Umhänge lagen verstreut um das Feuer herum.

»Ich bin Baron Creel, Anführer der Bewegung.« Padishar Creels Stimme hallte in der Stille.

Der Troll ihm gegenüber murmelte etwas Unverständliches. Morgan hörte nur den Namen Axhind. Die beiden gaben sich kurz die Hand, dann bedeutete Axhind Padis- har Creel, sich bei ihnen am Feuer niederzulassen. Die Trolle traten zur Seite, als der Anführer der Geächteten und seine Gefährten zum Feuer kamen, um sich niederzulassen. Morgan blickte sich unbehaglich um, als die riesigen Gestalten sie umgaben. Er hatte sich noch nie so schutzlos gefühlt. Chandos schien völlig sorglos, während er es sich ein paar Schritte hinter Padishar Creel bequem machte. Morgan ließ sich neben ihm nieder.

Dann begann das ernsthafte Gespräch, von dem der Hochländer absolut nichts verstand. Es wurde in der kehligen Sprache der Trolle geführt, einer Sprache, die Morgan nicht kannte. Padishar Creel schien sich dabei wohlzufühlen, obwohl er, wenn auch nur selten, innehielt, um sich seine Worte zu überlegen. Morgan vernahm ein Grunzen, dazu ein Nuscheln, und viele Worte wurden von heftigen Gesten begleitet.

»Wie kommt es, daß Padishar ihre Sprache spricht?« flüsterte Morgan schon bald Chandos zu.

Der andere würdigte ihn nicht eines Blickes. »Wir in Callahorn kommen etwas weiter herum als ihr Hochländer«, sagte er.

Das Gespräch ging weiter. Padishar Creel schien mit dem Verlauf zufrieden.

»Sie wollen sich uns anschließen«, flüsterte Chandos nach einer Weile Morgan zu. »Nicht nur diese hier – die ganzen einundzwanzig Stämme! Fünftausend Mann! Sie wollen ein Bündnis schließen!«

»Mit uns? Warum?«

Chandos antwortete nicht sofort, sondern bedeutete Morgan zu warten. Dann sagte er: »Die Bewegung hat sich schon früher mit ihnen in Verbindung gesetzt und sie um Hilfe gebeten. Aber sie hielten sie immer für gespal- ten. Jetzt haben sie ihre Meinung geändert. Anscheinend sind sie jetzt der Meinung, daß Padishar die verschiedenen Lager hinreichend vereint hat. Sie suchen nach einer Möglichkeit, das Vordringen der Föderation in ihre Gebiete zu verlangsamen.« In seiner rauhen Stimme lag Befriedigung. »Himmel, das könnte unser Glück werden!«

Axhind reichte jetzt jedem einen Becher und füllte in jeden eine Flüssigkeit. Morgan nahm den Becher, der ihm gereicht wurde, und sah hinein. Die Flüssigkeit in dem Becher war pechschwarz. Er wartete, bis der Anführer der Trolle und Padishar Creel sich zugeprostet hatten, dann trank er. Er mußte sich beherrschen, um sich nicht zu übergeben. Was man ihm auch gereicht hatte, es schmeckte wie Galle.

Sie leerten ihre Becher, selbst Morgan, der feststellte, daß die Flüssigkeit seinen Hunger stillte. Dann erhoben sie sich, Axhind und Padishar Creel gaben sich nochmals die Hand.

»Habt ihr es gehört?« fragte Padishar Creel leise, als die Trolle zwischen den Schatten verschwanden. Langsam wurden Sterne am Himmel sichtbar, und auch das letzte Tageslicht war verschwunden. »Fünftausend Männer! Mit einer Streitmacht wie dieser könnten wir es mit der gesamten Föderation aufnehmen!« Er war begeistert. »Die Bewegung könnte weitere zweitausend oder mehr Männer aufbieten und die Zwerge noch einmal so viel! Beim Himmel!« Er ballte die Faust, doch dann klopfte er Chandos wie auch Morgan kräftig auf den Rücken. »Es ist an der Zeit, daß das Schicksal uns beisteht, meint ihr nicht auch?«

Morgan nahm danach sein Abendessen ein. Er saß al- lein an einem Tisch in der Nähe des Feuers; sein Appetit war durch die Gerüche, die aus den Kochtöpfen aufstiegen, gesteigert worden. Padishar Creel und Chandos hatten sich zurückgezogen, um über die Ereignisse während der Abwesenheit des ersteren zu sprechen, und Morgan sah keine Veranlassung, sich zu ihnen zu gesellen. Er sah sich nach Steff und Teel um, sah jedoch keines von beiden. Erst kurz vor Beendigung seiner Mahlzeit trat Steff aus der Dunkelheit heraus und ließ sich neben ihm zu Boden fallen.

»Wie war es?« fragte der Zwerg beiläufig, ohne Morgan zu begrüßen, während seine knorrigen Hände einen Bierkrug umfaßt hielten, den er mitgebracht hatte. Er sah überraschend mitgenommen aus.

In kurzen Worten berichtete Morgan von den Ereignissen der vergangenen Woche. Als er fertig war, rieb sich Steff seinen zimtfarbenen Bart und sagte: »Du hast Glück, daß du noch am Leben bist – ihr alle habt Glück.« Sein narbiges Gesicht sah abgehärmt aus. »Seit ihr uns verlassen habt, sind hier seltsame Dinge vor sich gegangen.«

Morgan schob seinen Teller beiseite, sah ihn an und wartete.

Der Zwerg räusperte sich und warf Morgan einen Blick zu, bevor er sprach. »Teel ist noch am gleichen Tag krank geworden. Man hat sie gegen Mittag bewußtlos am Abhang gefunden. Sie atmete zwar, aber sie war ohne Bewußtsein. Ich habe sie nach drinnen gebracht und in Decken gewickelt und saß dann fast die ganze Woche an ihrem Bett. Ich konnte nichts für sie tun. Sie lag einfach nur da, mehr tot als lebendig.« Er holt tief Luft. »Ich glaube, daß sie vergiftet wurde. Viele in der Bewegung sind den Zwergen nicht wohlgesonnen. Aber dann wachte sie schließlich auf, so schwach, daß sie sich kaum bewegen konnte. Ich habe sie mit Brühe gefüttert, um sie wieder zu Kräften zu bringen, und schließlich ging es ihr wieder besser. Sie weiß nicht, was passiert ist. Das Letzte, an das sie sich erinnert, ist, daß sie über Hirehone nachdachte… Sagt dir das irgendwas, Morgan?«

Morgan nickte schwach. »Vielleicht. Ich glaubte, Hirehone in Tyrsis gesehen zu haben, als wir dort ankamen. Eigentlich konnte er es gar nicht sein, und ich kam zu dem Schluß, daß ich mich geirrt hatte. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Irgend jemand hat uns an die Föderation verraten. Es könnte Hirehone gewesen sein.«

Steff schüttelte den Kopf. »Klingt irgendwie komisch. Warum gerade Hirehone? Er hätte uns ganz zu Anfang in Varfleet der Föderation übergeben können. Warum hätte er warten sollen?« Er rutschte hin und her. »Außerdem vertraut ihm Padishar vollkommen.«

»Vielleicht«, murmelte Morgan, während er sein Bier schlürfte. »Aber Padishar hat gleich, nachdem wir zurückgekommen sind, nach ihm gefragt.«

Steff dachte einen Augenblick nach. »Da steckt noch mehr dahinter. Vor zwei Tagen hat man am Rande des Abhangs zwei Wachen gefunden, tot, mit durchschnittenen Kehlen. Keine Spuren. Die Aufzüge waren oben, Morgan.«

Sie sahen einander an.

Morgan runzelte die Stirn. »Das heißt also, daß es jemand von hier war?«

»Scheint so. Aber was war das Motiv? Und wenn es jemand von draußen war, wie sind sie nach oben und wieder hinuntergekommen, ohne daß der Aufzug bewegt wurde?«

Morgan dachte nach, fand jedoch keine Antwort.

Steff erhob sich. »Ich wollte, daß du es weißt. Padishar wird es auf seine Weise erfahren, nehme ich an.« Er leerte seinen Bierkrug. »Ich muß zu Teel zurück; ich lasse sie nach all dem, was passiert ist, nicht gern allein. Sie ist immer noch furchtbar schwach.« Er rieb sich die Stirn und schnitt eine Grimasse. »Auch ich bin nicht ganz auf dem Damm.«

»Also ab mit dir«, sagte Morgan, der sich jetzt ebenfalls erhob. »Ich werde euch morgen früh besuchen. Jetzt muß ich unbedingt Schlaf nachholen.« Er hielt inne. »Weißt du von den Trollen?«

»Von ihnen wissen?« Steff zog ein schiefes Gesicht. »Ich habe bereits mit ihnen gesprochen. Axhind und ich sind alte Bekannte.«

»So, so. Erzähl mir bitte morgen davon, ja?«

Steff wandte sich ab. »Morgen, abgemacht. Aber nimm dich in Acht, Hochländer.«

Genau das hatte Morgan Leah vor. In dieser Nacht schlief er tief und fest und fühlte sich am nächsten Morgen ausgeruht. Die Sonne beschien die Baumwipfel, und Morgan spürte, daß es ein heißer Tag werden würde. Im Lager herrschte allerlei Treiben, mehr als gewöhnlich, und Morgan wurde von Neugier gepackt. Einen Augenblick dachte er, daß Par und Coll zurückgekehrt seien, tat diese Möglichkeit jedoch schnell ab, weil er sicher war, daß man ihn in diesem Fall geweckt hätte. Er schlüpfte in seine Kleider und Stiefel, rollte seine Decken zusammen, wusch sich, aß und machte sich dann auf den Weg zum Abhang. Dort fiel sein Blick auf Padishar Creel, der, wieder in sein rotes Gewand gekleidet, seinen Männern Befehle erteilte.

Der Anführer der Geächteten blickte auf, als der Hochländer sich näherte, und brummte: »Ich sehe, daß der Lärm dich nicht aufgeweckt hat.« Er wandte sich ab, um Männern, die sich bei den Aufzügen befanden, Anweisungen zuzurufen, bevor er in einem normalen Ton fortfuhr: »Es täte mir leid, wenn du in deinem Schlaf gestört worden wärst.«

Morgan murmelte etwas in seinen Bart, hielt jedoch inne, als er den neckischen Ausdruck auf dem Gesicht des anderen bemerkte.

»Komm, komm. Sollte nur ein Scherz sein, Hochländer«, beschwichtigte ihn dieser. »Wir wollen den Tag doch nicht auf dem falschen Fuß beginnen – wir haben genug anderes zu tun. Ich habe Fährtensucher ausgeschickt, die den Parmakeil durchkämmen, damit ich endlich sicher sein kann, daß mich mein Gefühl nicht getäuscht hat, das mir sagt, daß irgend etwas dort draußen lauert. Und ich habe außerdem nach Hirehone geschickt. Dann werden wir ja sehen. In der Zwischenzeit warten die Trolle. Das gestern war nur ein Vorspiel. Heute reden wir über das Warum und Wie der ganzen Sache. Willst du mitkommen?«

Morgan nickte. Während er die Scheide umschnallte, in der die Überreste des Schwertes von Leah steckten, das er jetzt aus reiner Gewohnheit mit sich trug, folgte er Padishar Creel zum Lager, wo die Trolle sich bereits versammelt hatten. Erwartungsvoll hielt er Ausschau nach Steff und Teel, konnte aber keines von beiden sehen. Er nahm sich vor, sie später aufzusuchen.

Als sie zu den Trollen kamen, umarmte Axhind den Anführer der Geächteten, grüßte den Hochländer mit einem ernsten Nicken und einem Händedruck und bedeutete beiden, Platz zu nehmen. Wenige Augenblicke später tauchte Chandos mit einigen Morgan unbekannten Männern auf, und die Verhandlungen wurden aufgenommen.

Sie dauerten den ganzen Morgen und den größten Teil des Nachmittags. Wieder einmal sah sich Morgan außerstande, dem, was gesprochen wurde, zu folgen, und dieses Mal war Chandos von dem Gespräch zu sehr in Anspruch genommen, als daß er sich hätte um ihn kümmern können. Morgan hörte dennoch aufmerksam zu; er beobachtete die Gesten der bärtigen Trolle und versuchte aus ihren ausdruckslosen Gesichtern wenigstens einen Teil ihrer Gedanken zu lesen. Seine Bemühungen blieben größtenteils ohne Erfolg. Die Trolle sahen wie große, lebendig gewordene Baumstümpfe aus; die meisten taten nichts weiter, als das Geschehen wortlos zu verfolgen. Diejenigen, die etwas sagten, gingen mit ihren Worten sparsam um, selbst Axhind.

Die über den Horizont wandernde Sonne füllte den Tag mit drückender Hitze. Nur zur Mittagszeit wurde eine kurze Pause eingelegt, während der sie Bier und Wein tranken.

Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu, als ein atemloser Läufer auftauchte, dem der Schreck im Gesicht geschrieben stand. Als Padishar Creel seiner ansichtig wurde, runzelte er, verärgert über die Unterbrechung, die Stirn und entschuldigte sich. Gespannt lauschte er den Worten des Läufers, zögerte, sah dann zum Hochländer hinüber und winkte ihn herbei. Morgan erhob sich unverzüglich. Der Ausdruck auf Padishar Creels Gesicht gefiel ihm ganz und gar nicht.

Als Morgan zu ihnen trat, entließ Padishar Creel den Läufer. »Man hat Hirehone gefunden«, sagte er leise. »An der Westseite des Parmakeils, in der Nähe des Weges, dem wir bei unserer Rückkehr gefolgt sind. Er ist tot. Die Wachen, die ihn gefunden haben, sagten, er habe ausgesehen, als hätte man sein Inneres nach außen gekehrt.«

Morgan schluckte bei dem Gedanken daran. »Was ist hier los, Padishar?« fragte er.

»Vergiß nicht, es mir zu sagen, wenn du die Antwort weißt, Hochländer. Indessen habe ich noch schlechtere Nachrichten. Keine zwei Meilen von hier steht eine Föderationsarmee – die Garnison von Tyrsis. Sie kommen uns holen, mein Junge. Sie sind nicht einen Deut von ihrem Ziel abgewichen. Auf irgendeine Weise haben sie entdeckt, wo wir uns befinden – und ich nehme an, wir beide wissen, wie sich das zugetragen haben könnte, meinst du nicht?«

Morgan war sprachlos. »Wer?« Das Wort war kaum hörbar.

Padishar Creel zuckte die Schultern und lachte. »Spielt das jetzt noch eine Rolle?« Er sah über seine Schulter. »Zeit, daß wir die Zelte hier abbrechen. Es paßt mir gar nicht, daß ich Axhind und seinen Männern von den Ereignissen berichten muß, aber es hätte wenig Sinn, sie hinters Licht führen zu wollen. Wenn ich sie wäre, würde ich schneller von hier verschwinden als ein Hase in seinen Bau.«

Die Trolle waren jedoch anderer Ansicht. Als die Verhandlungen abgebrochen wurden, machten Axhind und seine Gefährten keine Anstalten zu gehen. Sie verlangten statt dessen ihre Waffen zurück, setzten sich und begannen in aller Ruhe, die Klingen zu wetzen. Es schien, als warteten sie nur auf einen Kampf.

Morgan machte sich auf, die Zwerge zu suchen. Sie lagerten in einem kleinen Kiefernhain, wo ihnen ein Felsvorsprung einen natürlichen Schutz vor Wind und Wetter bot. Steff begrüßte ihn ohne große Begeisterung. Teel saß auf der Erde; ihr verhülltes Gesicht gab nichts von ihren Gedanken preis, obwohl ihre Augen wachsam glänzten. Sie sah erholter aus; ihr dunkles Haar war zurückgekämmt und ihre Hände ruhig, als sie sie Morgan zum Gruß hinstreckte. Er redete kurz mit ihr, doch sie erwiderte nur wenig. Morgan erzählte ihnen von Hirehone und dem Herannahen der Föderationsarmee. Steff nickte ernst; Teel zeigte überhaupt keine Reaktion. Als er sie verließ, fühlte er sich seltsam unzufrieden mit dem ganzen Besuch.

Die Föderationsarmee verteilte sich bei hereinbrechender Dunkelheit unterhalb des Zeigefingers. Zu Tausenden strömte sie aus dem Wald hervor, mit wehenden Fahnen und glänzenden Waffen. Standarten wurden vor jeder Kompanie gehißt – das schwarze Banner mit einem roten und einem weißen Streifen als Zeichen für gewöhnliche Soldaten, das strahlend weiße Wolfskopfabzeichen als Zeichen für Sucher. Zelte wurden aufgeschlagen und Feuer angezündet. Fast gleichzeitig fingen ganze Abteilungen an, Belagerungsmaschinen zu bauen, und das Geräusch von Sägen, mit denen Bäume gefällt, und von Äxten, mit denen Äste abgehauen wurden, erfüllte die Luft.

Die Geächteten, die zur Verteidigung gerüstet waren, beobachteten die Vorgänge aus sicherer Höhe. Morgan gesellte sich zu ihnen. Sie schienen entspannt und ruhig. Ihre Zahl betrug nur dreihundert, doch der Zeigefinger war eine natürliche Befestigungsanlage, die einer Armee hätte widerstehen können, die fünfmal so groß war wie diese. Die Aufzüge waren bereits hochgezogen worden, und die einzige Möglichkeit, jetzt noch heraufzukommen, bestand darin, die Felshänge emporzuklettern. Dies konnte nur mit Leitern oder Greifhaken bewerkstelligt werden. Doch schon eine Handvoll Männer hätte diesem Unterfangen ein Ende bereiten können.

Es war bereits stockdunkel, als Morgan wieder Gelegenheit hatte, mit Padishar Creel zu sprechen. Sie standen bei den Aufzügen, die jetzt scharf bewacht wurden, und sahen auf die vielen Lagerfeuer hinunter. Die Männer der Föderation arbeiteten auch jetzt noch, und ihr Lärm stieg aus den dunklen Wäldern in die nächtliche Luft auf.

»Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, daß mir dieser ganze Aufwand ziemliche Sorgen bereitet«, murmelte der Anführer der Geächteten mit hochgezogenen Brauen.

Morgan runzelte ebenfalls die Stirn. »Selbst mit ihrer Belagerungsausrüstung können sie doch nicht annehmen, hier heraufzukommen.«

Padishar Creel schüttelte den Kopf. »Das stimmt. Aber gerade das bereitet mir Sorgen.«

Sie sahen dem Treiben eine Weile zu, bevor Padishar Creel Morgan an ein geschütztes Plätzchen führte, wo er ihm zuflüsterte: »Ich muß dich ja nicht daran erinnern, daß wir jetzt zweimal verraten worden sind. Wer uns auch verraten hat, er ist immer noch da – vermutlich mitten unter uns. Sollte der Zeigefinger eingenommen werden, wird dies meiner Meinung nach genau auf die gleiche Weise geschehen… Ich werde alles tun, was ich tun kann, um den Zeigefinger zu schützen. Aber auch du, Hochländer, solltest die Augen offen halten. Es ist möglich, daß du Dinge siehst, die ich nicht sehe. Beobachte alles ganz genau, und wenn du etwas entdeckst, stehe ich tief in deiner Schuld.«

Nachdem sie ihr Gespräch beendet hatten, begab er sich zum Waffenmeister und bat um ein Breitschwert. Er suchte sich eines aus, das ihm gefiel. Dann machte er sich auf die Suche nach einer unbenutzten Scheide, bis er eine fand, die das Schwert von Leah aufnehmen konnte. Er kürzte die Scheide auf die Länge des kurzen Schwertes, band sie am unteren Ende zusammen und schnallte sie sich um.

Zum erstenmal seit Tagen fühlte er sich wieder wohl. Auch in dieser Nacht schlief er tief und fest – obwohl die Föderation die Belagerung weiter vorbereitete. Als die Sonne am Himmel aufging, wurden die Arbeiten eingestellt. Die plötzlich eintretende Stille ließ ihn aufwachen; er schlüpfte in seine Kleider, schnallte seine Waffen um und begab sich eiligst hinunter zum Rande des Abhangs. Die Geächteten bezogen mit kampfbereiten Waffen Stellung. Padishar Creel befand sich ebenfalls dort, bei ihm Steff, Teel und das Aufgebot der Trolle. Jeder einzelne verfolgte schweigend die Vorgänge unter ihnen.

Die Föderationsarmee trat an, Abteilungen formierten sich zu Kompanien. Sie waren gut ausgebildet, und ihre Aufstellung ging ohne Schwierigkeiten vonstatten. Sie umzingelten den Fuß des Zeigefingers, breiteten sich von einem Ende der Felswand zum anderen aus. Sturmleitern und Seile mit Greifhaken wurden herbeigeholt. Belage- rungstürme standen bereit, obwohl sie unfertig aussahen und kaum ein Drittel so hoch waren wie die Felshänge. Anführer riefen ihren Untergebenen Befehle zu, und langsam füllten sich die Zwischenräume zwischen den Kompanien.

Morgan berührte Steff an der Schulter. Der Zwerg sah ihn unsicher an, nickte und sah wieder weg.

Morgan runzelte die Stirn. Steff trug keine Waffen bei sich.

Hörner erschallten, und die Föderationsreihen schlossen sich zusammen. Plötzlich wurde es totenstill. Die im Osten aufgehende Sonne tauchte Rüstungen und Waffen in ein gleißendes Licht. Tau glitzerte auf Blättern und Gräsern, das Gezwitscher der Vögel erhob sich fröhlich in die Lüfte, das Geräusch von plätscherndem Wasser drang von weit her an ihr Ohr, und es schien Morgan Leah, als gliche dieser Morgen den vielen, die er, während er zu Hause in den Bergen umhergezogen war und gejagt hatte, willkommen geheißen hatte.

Doch dann bemerkte er, wie sich ganz hinten zwischen den Bäumen, hinter den langen Reihen der Soldaten, irgend etwas bewegte. Er sah, wie sich Äste und Baumstämme bewegten, und hörte, wie Baumrinde abgekratzt wurde. Plötzlich teilten sich die Föderationsreihen in zwei Lager und schufen einen Durchgang, der gut und gerne dreißig Meter betrug.

Das Etwas trat jetzt aus den schwindenden Schatten hervor. Es war riesig, eine Kreatur von gewaltigen Ausmaßen, eine Erscheinung, die aus den schrecklichsten Überresten eines Aasfressers bestand. Es setzte sich zusammen aus Haar, Sehnen und Knochen, aber gleichzeitig aus Metallplatten und Stäben. Es besaß scharfe Kanten und glänzende Oberflächen, Eisen, das in Fleisch eingepflanzt war, und Fleisch, das in Eisen hineingewachsen war. Es sah wie ein riesiges, mißgestaltetes Krustentier oder wie ein Wurm aus, doch war es keins von beiden. Es wackelte vorwärts, während seine funkelnden Augen nach oben zum Rand der Höhe wanderten. Augendeckel schnappten wie Messer, und Klauen kratzten achtlos am rauhen Stein.

Kurz dachte Morgan, es handle sich um eine Maschine. Doch bereits in der gleichen Sekunde wurde ihm klar, daß dieses Etwas lebendig war.

»Dämonenblut!« schrie Steff zornig und erschreckt auf. »Sie haben einen Kriecher mitgebracht!«

Langsam und behäbig arbeitete sich der Kriecher durch die Reihen der Föderationsarmee auf sie zu.

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