TEIL 1

Kapitel 1

Arri war so gut wie tot. Und das wusste sie auch.

Das Gemurmel der Männer, die über ihr Schicksal bestimmten, das Plätschern der Wellen, die die Pfähle der Holzkonstruktion umspielten, auf der ihre Hütten ruhten, das leise Seufzen und Knarren des Einbaums, auf den man den Herrscher der Raker für die letzte Reise gebettet hatte - all dies vermischte sich auf eine entsetzliche Weise mit dem fernen Totengesang der Klageweiber. Sie versuchte das Gewicht auf die rechte Seite zu verlagern, um ihre schmerzhaft verkrampften Nackenmuskeln zu entlasten. Aber das ließen die Fesseln nicht zu, mit denen man sie hier festgezurrt hatte. Trotz des Stechens im Nacken verdrehte sie so weit wie möglich den Kopf, um zu dem schwarzen Einbaum hinabzublicken, den Taru im zerrissenen Widerschein der nächtlichen Uferfeuer an einem Pfahl angebunden hatte.

Niemals würde sie den Blick vergessen, mit dem er sie gemustert hatte, bevor er sich von ihr abwandte. Dieses Gesicht, das dem seines Vaters so sehr ähnelte: schmal war es, mit einem kraftvollen Kinn und energischen Wangenknochen; dann der nackte Oberkörper, auf dem Wassertropfen perlten, wie sie es auch an Dragosz so geliebt hatte, die wie zum Schlag erhobene rechte Faust - er war in diesem Augenblick so sehr das Abbild seines Vaters gewesen, dass sie hätte schreien können.

Doch dann dieser Blick. Der Hass. Die Abscheu. Das Verlangen, die junge Frau seines Vaters an den Haaren zu packen und ins Wasser hinabzuziehen, sie zu ersticken, zu vernichten, sie aus ... zu ... löschen. Es lag ein Versprechen in diesem Blick, und es bestand nur aus einer einzigen Drohung: Bald, Arianrhod. Schon sehr bald werde ich kommen und dich töten!

»Taru!«

Arri zuckte bei der Erinnerung an den Ausruf zusammen, mit dem Abdurezak den Jungen zur Räson gebracht hatte. Sie schämte sich ihrer Gefühle. Sie schämte sich auch dafür, dass sie zu schwach gewesen war, das Unglück aufzuhalten. Letztlich schämte sie sich sogar, überhaupt geboren worden zu sein.

Und jetzt saß sie hier allein mit ihrer Scham und ihrem Entsetzen, gefesselt, jedoch weniger durch die Stricke, die man ihr angelegt hatte, als durch ihre eigenen Gedanken. Nur ganz langsam begriff sie, dass ein neuer Tag begann, der erste Tag ohne Dragosz, also ohne den Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens hatte verbringen wollen - und sie begriff, dass dieser Tag für die Welt um sie herum nicht anders beginnen würde als schon unzählige Tage zuvor.

Sie öffnete den Mund zu einem verzweifelten Schrei - und schloss ihn dann wieder, ohne dass auch nur ein einziger Laut über ihre Lippen gekommen wäre. Alles war so sinnlos geworden. Sie und die Welt - das passte nun nicht mehr zusammen.

Wie der kalte Atem des Todes hingen zerrissene Nebelschwaden über dem Wasser, durchdrungen vom schwachen Rosarot der Morgenröte. Auch dieser Morgen würde sich durch nichts davon abhalten lassen, so zu werden, wie es ihm bestimmt war: schön, heiß und strahlend. Im Licht der gemächlich aufgehenden Sonne drängten sich Arri Einzelheiten auf, die die anscheinend endlos währende Nacht verborgen gehalten hatte. Sie wollte nichts sehen, wollte auch gar nicht zu dem Einbaum hinüberblicken, der sanft auf den Wellen schaukelte. Mit aller Gewalt zwang sie ihren Blick darum zu Boden. Sie hatte dieses Boot schon immer gehasst: weil es das Symbol für Dragosz’ Tod war.

Doch je mehr sie versuchte, den Einbaum aus ihren Gedanken zu verdrängen, umso mehr Macht schien er über sie zu gewinnen. Sie war sich schmerzhaft bewusst, dass er in seiner Art einmalig war, nicht vergleichbar mit den anderen Booten, die ein Stück weiter auf den rauen Ufergrund gezogen worden waren. Er wirkte breiter als üblich und gerade so lang, dass ein hochgewachsener Mann darin liegen konnte. Überdies war er statt aus Buchenholz aus einem wuchtigen Eichenstamm geschlagen worden, jenem Holz also, von dem es hieß, es überdauere die Ewigkeit.

Alle im Dorf hatten gewusst, warum Dragosz selbst mit Hand angelegt hatte, als die Männer den gedrungenen Einbaum im Frühjahr ausgebrannt und behauen hatten. Er sollte ihm einmal für die letzte Reise über den Frykr dienen - aber doch nicht schon jetzt, und nicht nach einem so erbärmlichen Tod! Dragosz war der beste Herrscher, den sich die Raker nur hatten wünschen können! Er hatte sein Volk aus Hunger und Not herausgeführt, und er wollte mit Arris Unterstützung eine Weihestätte für die Himmelsscheibe errichten: größer und mächtiger sogar als das sagenumwobene Goseg - damit sie alle zusammen auch künftig in Frieden und Wohlstand leben konnten. Und er war doch ihr Leben! Er verkörperte all das, was sie sich für ihre Zukunft ersehnt hatte.

Wie hatte das nur alles geschehen können? Mit Kyrill hatte sie ihrem Mann in einer Uferhütte den ersehnten Nachfolger geschenkt, das äußere Zeichen ihrer Liebe, die ihr altes Wissen und Dragosz’ Tatkraft in einer Person miteinander verschmolz.

Sie hatte geglaubt, ihr gemeinsames Glück in dem schon fast vollständig errichteten Pfahldorf sei damit fest begründet. Doch jetzt war ihr Leben zerstört, und niemals wieder würde die Sonne für sie scheinen, die Freude nie wieder in ihr Herz einkehren.

Aber was war mit ihrem Sohn? Was sollte nach Dragosz’ Tod nur aus ihm werden?

Arri schluchzte auf, als sie an das kleine Bündel dachte, das sie gestern noch in den Armen gehalten hatte. Und dann schluchzte sie noch einmal, als ihr bewusst wurde, dass es vielleicht das letzte Mal gewesen war, dass sie Kyrill an ihre Brust gedrückt hatte. Ihr Schluchzen hallte ungewöhnlich laut über den Steg, bevor es vom Nebel wie von einem gierigen Raubtier verschluckt wurde. Wie sehr sie Kyrill schon jetzt vermisste!

Kyrill und Dragosz. Ihren Sohn und ihren Mann.

Dragosz, seine Stärke, seine Lebendigkeit! In allen wichtigen Lebensfragen hatte sie sich mit ihm besprochen, und das hätte sie auch jetzt getan, bei der Frage nach Kyrills Schicksal. Es war ihr Sohn gewesen, den ihr der Schmiedegehilfe Rar so grob aus den Armen gerissen hatte, als wollte er ihn schon im nächsten Augenblick ins Schmiedefeuer werfen. Alles fühlte sich so entsetzlich sinnlos an. Dragosz hatte immer Rat gewusst oder sie darin ermutigt, selbst eine Lösung zu finden. Sie waren einander die wunderbarste Ergänzung gewesen: Sie, die von ihrer Mutter Lea in Dingen unterrichtet worden war, für die die Raker noch nicht einmal Worte hatten, und Dragosz, der große Visionen umzusetzen verstand und auf dem Weg dorthin alle Hindernisse aus dem Weg räumte: die einen mit guten Worten, die anderen allerdings ... mit Gewalt.

In dem schmerzlichen Augenblick ihrer größten Trauer war es die niederschmetternde Heimtücke des Schicksals gewesen, die sie fast mehr erschüttern konnte, als Dragosz in der Totenbarke aufgebahrt zu sehen. Der Herrscher der Raker war ein Krieger, und wenn es ihm schon nicht vergönnt war, alt und ehrenhaft inmitten seiner Sippe den letzten Atemzug zu tun, dann hätte ihm doch zumindest der Tod auf dem Schlachtfeld bestimmt sein sollen. Aber wie ein tollwütiger Hund mit Schaum auf den Lippen zu verrecken, das war ja noch schlimmer als alles andere, das hatte er nicht verdient!

Sie beugte sich noch ein Stück weiter vor, die Beinfesseln schnitten sich wie schartige Bronzeklingen in ihre Haut ein. Der Schmerz war jedoch auch fast so etwas wie ein Freund, nur dazu da, sie ins Leben zurückzuholen. Aber statt ihn zu beachten, wanderte ihr Blick über den Toten, über die ebenmäßigen Gesichtszüge des Mannes, der sie bei ihrer ersten Begegnung vor einem angriffslustigen Wolf gerettet hatte, und der ihr seitdem immer beigestanden hatte, auch in der schweren Zeit, als ihr die Raker mit unverhohlener Verachtung begegnet waren.

Nun wurde ihr Liebster zum letzten Mal vom Licht der Morgensonne liebkost. Es schnürte ihr fast das Herz ab, ihn in seiner vollen Kriegermontur auf einem von schlichtem Leinen bedeckten Podest aufgebahrt zu sehen. Sein Gesicht war blass, fast fahl, die Ringe unter seinen Augen wirkten so, als wären sie mit Asche nachgezogen worden, und um seinen Mund, der von einem einsamen Lichtstrahl umspielt wurde, lag ein bitterer Zug. Es sah aus, als sei der Herrscher der Raker lediglich in einen tiefen Erschöpfungsschlaf gefallen.

Einen Schlaf allerdings, aus dem er nie wieder erwachen würde.

Arri streckte die Hände vor, als sie ihren Liebsten so daliegen sah, und nun schnitten sich auch die Lederriemen, mit denen Taru die Handgelenke seiner verhassten Stiefmutter zusammengezurrt hatte, schmerzhaft tief in ihre Haut ein. Sie hätte nichts lieber getan, als Dragosz noch einmal zu berühren, ihm das lange Haar zurückzustreichen und seine Wange zu streicheln - so, wie sie es gewohnt war, wenn er sich von einem langen, harten Tag erschöpft zu ihr gesellt hatte - aufs Lager. Ihr das jetzt, nach seinem Tod, zu verwehren, fühlte sich so fürchterlich an, dass es ihr den Atem verschlug.

Die aufgebrachten Männer und Frauen, die sie im wilden Fackellicht hierher geschleift hatten, hätten sie am liebsten gleich an Ort an Stelle wie eine räudige Katze ersäuft; und vielleicht wäre es auch besser gewesen, wenn Arri ihr Leben schon in der Nacht ausgehaucht hätte, wenn sie gefühlt hätte, wie das Wasser in ihre Lungen drang, und wie ihr dann die Sinne geschwunden wären. Es wäre so viel besser gewesen, als die nicht enden wollende Demütigung der Fesselung zu ertragen. Dabei waren es gar nicht die harten Stricke, die ihr zu schaffen machten, obwohl sie ihre Haut wund scheuerten und in ihr Fleisch einschnitten. Sie hatte in ihrem kurzen Leben schon schlimmere Schmerzen ertragen.

Aber sie konnte sich an nichts erinnern, das schlimmer gewesen wäre als dies: Menschen, die sich vor Schmerzen krümmten, die sich erbrachen, die Schaum vor dem Mund hatten, die am Strand zusammenbrachen oder in verzweifelter Hoffnung auf die Hütte der Heiler zutaumelten. Ihren Schmerz zu spüren, ihre Wut und ihre Empörung, um dann zu begreifen, dass ja sie es war, der man die Schuld für die Katastrophe geben konnte. Noch jetzt spürte sie das Brennen auf der Kopfhaut - voller Brutalität hatte der kraftstrotzende Schmiedegehilfe Rar sie an den Haaren gepackt und hierher geschleift. Und noch jetzt glühten ihre Wangen von den harten Ohrfeigen der Frauen, die eine Wahrheit aus ihr hatten herausprügeln wollen, eine Wahrheit, die es doch gar nicht gab, nicht geben konnte.

Und dann hatten sie sie in ihrem Elend liegen lassen.

Irgendwann waren ihre Tränen schließlich versiegt, und sie war in etwas hinübergeglitten, das gar nicht weit von dem Todesschlaf entfernt schien, in den Dragosz schon seit gestern Abend versunken war. Erst das Plätschern von Wasser hatte sie wieder aus ihrer Erstarrung gerissen, und als sie dann den Kopf gehoben hatte, war ihr das große Feuer am Ufer aufgefallen, in dessen flackerndem Licht einige Männer damit beschäftigt waren, alles für die Todeszeremonie vorzubereiten. Mit brennenden Augen hatte sie beobachtet, wie Taru mit nacktem Oberkörper ins Wasser gestiegen war, um das Totenschiff mit einem rohen Tau hinter sich herzuziehen und es dann unmittelbar unter ihr zu vertäuen. Es schien endlos zu dauern, bis der Junge damit fertig war und sich unter dem wehklagenden Gesang der alten Weiber von seinem Vater verabschiedet hatte. Arri hatte - zur Untätigkeit verbannt - mit ansehen müssen, wie er zum Schluss mit übertriebener Sorgfalt noch den schlichten Umhang gerichtet hatte, bevor er ihr einen letzten hasserfüllten Blick zuwarf und dann zur Zeremonienhütte hinüberschwamm.

Fast gewaltsam riss sie den Blick von Dragosz’ Gesicht los, von den ebenmäßigen und doch so wild wirkenden Zügen, die sie von Anfang an angezogen hatten. Erst da begriff sie, was ihr insgeheim schon längst aufgefallen war: Sein Umhang war in Unordnung geraten und halb verrutscht. Sie biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass sie augenblicklich das Blut schmeckte. Fast sah es so aus, als hätte Dragosz mitten in der Nacht noch einmal seine mächtigen Muskeln angespannt, um sich hochzustemmen, als habe er sich in dem Einbaum aufrichten wollen, bevor ihn das Gift übermannt und er endgültig in sich zusammengebrochen war.

Arri zog ihre zitternden Hände so weit wie möglich zurück. Die Feuchtigkeit war mit dem Nebel gekommen, der sich in der Nacht über den See gelegt hatte, war in sie hineingekrochen und hatte die Hitze vertrieben, die sie zuvor erfasst hatte. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Mit dem Pulsschlag ihres hämmernden Herzens stieg etwas ganz Neues in ihr hoch, das die Hitze zurückbrachte: eine verrückte Hoffnung, alles könnte doch ganz anders sein, als sie geglaubt hatte. Was denn, wenn Dragosz tatsächlich noch nicht tot gewesen war, wenn sie sich geirrt und nur geglaubt hatte zu sehen, wie sein Blick brach und wie mit dem schmalen Speichelfaden, der sein Kinn hinablief, auch die letzte Lebenskraft aus ihm entwich?

Das Zittern ihrer Hände verstärkte sich, während ihr beängstigende Gedanken durch den Kopf schossen. Dragosz war gestern Abend in ihren Armen gestorben, und hätte man sie nicht mit Gewalt weggezogen, so würde sie seinen Kopf jetzt noch immer in ihrem Schoß halten und sein verschwitztes Haar streicheln.

Das war jedoch etwas, das sie nie wieder tun würde. Obwohl sie dies nicht zum ersten Mal dachte, erschien es ihr plötzlich so schmerzhaft und unfassbar, dass sie einen erstickten Laut von sich gab und ein weiteres Stück in sich zusammensackte.

Dragosz war tot, war unwiederbringlich von ihr gegangen. In dieser Nacht war kein Leben mehr in ihm gewesen, er hatte tot dagelegen - in dem Einbaum, hingestreckt von einem heimtückischen Gift, das seinen Körper hatte verkrampfen lassen und ihm den Schaum auf die Lippen getrieben hatte. Er hatte keinen Atemzug mehr tun können, hatte nicht die Hand nach ihr ausstrecken, sie nicht anlächeln und sie auch nicht mit einem scharfen Wort zurechtweisen können ...

Das Gefühl des Verlustes wurde übermächtig. Von ihrer Unterlippe lösten sich ein paar Blutstropfen und platschten leise vor ihr aufs Holz. Plötzlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Was würde sie nicht alles dafür geben, Dragosz noch einmal in die Arme nehmen zu können, um das heiße, pulsierende Leben zu spüren, das ihn bis gestern wie selbstverständlich durchströmt hatte!

»Dieser Abend wird etwas ganz Besonderes«, hatte Dragosz kurz vor dem Fest zu ihr gesagt. »Wir feiern nicht nur den Bau des Pfahldorfs, sondern auch den Beginn eines neuen Lebens. Und gleich am nächsten Morgen werde ich die Himmelsscheibe aus ihrem Versteck holen, und wir wollen zusammen mit Abdurezak versuchen, ihr Geheimnis zu ergründen. Ich verspreche dir, dass die Zeit des Leidens und der Entbehrungen damit endgültig vorbei sein wird!«

Die Zeit des Leidens und der Entbehrungen sollte vorbei sein? Nein, Dragosz, dachte sie jetzt, sie fängt doch gerade erst an.

Und das nur, weil sie gescheitert war. Dabei hatte sie alles versucht, um Dragosz wiederzubeleben. Sie hatte das geheime Wissen ihrer Mutter angewendet, um das Gift aus seinem Körper zu zwingen - aber es hatte nichts genützt. Sie hatte als seine Frau versagt, und ebenso als Heilerin - und jetzt würde sie auch noch als Mutter versagen.

»Warum nur, Dragosz?«, flüsterte sie. »Warum bist du nur von mir gegangen?«

Taru hatte ihn hier im Totenschiff aufgebahrt, auf dem Wasser, noch bevor das Licht des Mondes mit den Wellen zu spielen begonnen hatte. Doch dann waren dunkle Wolken aufgezogen und hatten den frischen Wind mit sich gebracht, der Arris Haar zerzauste und sie frösteln ließ. Es hatte nicht länger gedauert, als einen Holzeimer an einem Seil in einen Brunnen hinabzulassen und Wasser zu schöpfen; aber lang genug, um all dies wieder durcheinanderzubringen, was Taru so sorgfältig in Ordnung zu bringen versucht hatte.

Dabei war nichts in Ordnung. Überhaupt nichts.

Dragosz war tot, sein halbwüchsiger Sohn von Hass zerfressen.

Und das Dorf von einer fürchterlichen Katastrophe getroffen, und dies war ausgerechnet während des ausgelassenen Fests geschehen, mit dem sie die geglückte Neugründung der Siedlung am See hatten feiern wollen, den friedlichen Neubeginn nach einer zermürbend harten Zeit der Kämpfe und Hungersnächte. Eine heitere, ausgelassene Stimmung war das gewesen. Der Geruch von Gebratenem war verlockend durchs Pfahldorf gezogen, die Kinder hatten fröhlich herumgetobt, die harten Züge der älteren Männer und Frauen, in die sich die Strapazen der langen Wanderung eingegraben hatten, hatten schon angefangen sich zu entspannen. Vom Ufer her war Musik über den See gezogen, das eintönige Schlagen auf fellbespannten Trommeln, der lang gezogene, manchmal fröhlich überkippende Gesang, später untermalt von hellen Flötenklängen, dem Geklapper von Knochenratschen und Schildkrötenrasseln. Und dann hatte es natürlich auch das Stampfen der Tänzer gegeben, die das Uferfeuer umtanzten.

Krüge waren herumgereicht worden, die großen für das einfache Volk, während Dragosz und dem Rat die kleinen kostbaren Krüge gereicht wurden, die die Raker aus ihrer weit entfernten Heimat mitgebracht hatten. Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, der Rhythmus der Musik wurde lauter, fordernder, die Luft vibrierte vor Anspannung und Aufregung, Gelächter und Geschnatter vermischten sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm, der die Männer anspornte, alles aus ihren Instrumenten herauszuholen und die ausgelassene Menge doch noch zu übertönen. Überall waren fröhliche Gesichter zu sehen gewesen, am Ufer, wo von drei großen Feuerstellen Qualm und der Duft gebratenen Fleisches aufstiegen, auf den Stegen des Pfahldorfs und in den Hütten, wo gesungen und getanzt wurde, und selbst in der Zeremonienhütte, wo die Ältesten zusammenhockten und Rauchkraut inhalierten.

Arri hatte zum ersten Mal das Gefühl gehabt, wirklich angekommen zu sein. Die Erinnerung an ihre Mutter und das Dorf der Flussleute war genauso verblasst wie die Gewissheit, als letzter Abkömmling einer untergegangen Kultur etwas ganz Besonderes zu sein. Dragosz und die ausgelassenen Menschen um sie herum waren ihr so nah erschienen, als hätte sie schon immer zu ihnen gehört. Es waren nur flüchtige Berührungen gewesen, die sie mit ihrem Liebsten hatte austauschen können. Aber auch sein Lächeln hatte zum ersten Mal seit langer Zeit befreit gewirkt, und dann hatte er sie gepackt und in den Kreis der Tanzenden gestoßen, die das Hauptfeuer umtanzten. Er selbst hatte nicht mitgetanzt, aber am Rand gestanden und beobachtet, wie sie ihren Rhythmus dem der anderen Tänzer anpasste, während ein gelöstes Lächeln seine Züge umspielt hatte.

Bis die Kinder gekommen waren.

Sie hatten die Krüge in ihren Händen gehalten. Ihre Augen glänzten, ihre Bewegungen wirkten angespannt, denn man hatte ihnen eingeschärft, nur keinen Schluck der leicht alkoholischen Flüssigkeit zu verschütten, die von Arri und ihren Helfern mit allerlei Kräutern und geschabten Pilzen verfeinert worden war. Dragosz hatte sich zu ihnen umgedreht und ihnen mit einer befehlenden Handbewegung Einhalt geboten.

»Wo wollt ihr hin?«, hatte er gefragt.

»Zum Kreis der Tänzer«, hatte ein hochgewachsener Junge mit fester Stimme geantwortet. »Wir wollen ihnen von dem Trunk bringen, der den Göttern zu Ehren gebraut wurde.«

Dragosz hatte ernsthaft genickt und angeordnet, dass jeder einen Schluck des Opfertranks zu sich nehmen sollte. Damit hatte das Unglück seinen Lauf genommen. Die Kinder reichten die Krüge herum, die Musik setzte aus und die Tanzenden kamen zur Ruhe. Es wurde genippt, getrunken, und Dragosz bekam den schönsten der kleinen Krüge gereicht, die sie aus dem Land seiner Vorväter mitgebracht hatten. Auch er setzte ihn an die Lippen und trank einen kräftigen Schluck von diesem ganz besonderen Wasser, und dabei sah er zu ihr hinüber, mit einem Lächeln in den Augen ... das sich veränderte, nur allzu bald, und einem Erschrecken Platz machte, das sie sogleich entsetzte. Und dann brach auch schon ein Mann neben Arri zusammen, und ein anderer taumelte stöhnend davon ...

Jetzt bäumte sich Arri in ihren Fesseln auf, als könne sie damit die Erinnerung abschütteln. Wie hat das alles nur passieren können?, hämmerte es in ihrem Kopf. Wie hat das Gift in die Zeremonienkrüge gelangen können? Wer hat das Wasser geschöpft, wer hat den sorgfältig zubereiteten Opfertrank vergiftet, wer hat Dragosz getötet und die anderen, die sich gleich ihm in Krämpfen gewunden hatten?

Wer hatte ihr Leben zerstört?

Das Entsetzen über den schrecklichen Verlust war so groß, dass es den Hass und die Wut überdeckte, die tief in ihrer Seele auf eine Gelegenheit zum Ausbruch lauerten. Doch das würde sich sehr schnell ändern. Die Zeit würde kommen, in der all ihre Empörung, all ihr Schmerz explodierte und jeden anderen Gedanken hinwegwischte, bis auf den einen: die zu strafen, die ihr und den anderen dies angetan hatten.

Sie würde jeden töten, der in den feigen Mord verstrickt war. Die Zeit der Rache würde kommen.

Arris Blick wanderte an dem schweren Bronzeschwert entlang, das man ihrem Mann für die Reise in die Ewigkeit mitgegeben hatte. Es war eine aufwendig gefertigte Waffe mit einer zweischneidigen Klinge, schwerer und ausladender als die wenigen anderen Schwerter, die die Raker in ihrem Besitz hatten. Der Griff war mit den gezackten Ornamenten des Kriegsgottes Wurgar verziert, der Knauf ein offener Kreis: das Zeichen für die Kraft, die Wurgar der Hand des Kämpfers verleihen konnte, wenn er ihm wohlgesonnen war.

Es war eine hervorragende Waffe, und doch nichts gegen das von ihrer Mutter geerbte Schwert, das Arri sorgfältig in einer nahegelegenen Höhle verborgen hielt, damit man es ihr nicht stahl. Aber darauf kam es nicht an. Dragosz’ Schwert wäre die richtige Waffe, um ihren Liebsten zu rächen.

Der Gedanke an Rache zerstob jedoch, als Arris Blick auf die Fingerknöchel der Hand fiel, mit denen der Tote die schwere Waffe umklammerte. Sie traten so weiß und spitz hervor, als würden sie den Griff im Todeskampf fest umklammern, um sich auf einen letzten Kampf vorzubereiten. Wenn es doch nur so wäre! Wenn sich Dragosz noch einmal erheben würde, hier und jetzt, und nicht erst im Reich der Toten! Wenn er sie mit einem Lächeln begrüßte, oder auch mit einem grimmigen Blick, wenn er sich hochzöge, um der verdammten Todesbarke einen Tritt zu verpassen! Wenn er auf die Planken spränge, um ihre Fesseln mit einem Schwerthieb zu zertrennen, damit sie dann gemeinsam ans Ufer stürmen konnten, denjenigen entgegen, die ihren Herrscher hatten tot sehen wollen ...

Es war eine so kindische und lächerliche Vorstellung, dass es ihr fast das Herz zerriss. Dragosz war tot, und er würde niemals wieder etwas umklammern, weder ihren Arm, um sie an sich heranzuziehen, noch den Griff einer Waffe. Und schon gar nicht würde er aufspringen, um gemeinsam mit ihr seine Feinde zu bekämpfen.

Erst ganz langsam begriff sie, was überhaupt geschehen war. Sie hatte geglaubt, dass gestern der schlimmste Tag ihres Lebens gewesen sei, schlimmer noch als der Tag, an dem ihre Mutter blutüberströmt in ihren Armen das Leben ausgehaucht hatte. Die Zeremonie des Opfertrunks, die Tonkrüge, die sie hatten herumgehen lassen, auf dass sich jeder mit dem Wasser die Lippen benetzte. Die Mächtigsten unter ihnen hatten einen kräftigen Schluck aus den geweihten Krügen der Ygdra zu nehmen ... Die Männer und Frauen, plötzlich der Schaum vor dem Mund, und kurz darauf hatten sie sich in Krämpfen gewunden... Das Chaos, die Schreie, das Stöhnen; Dragosz, der auf sie zugetaumelt war, von einem Grauen erfüllt, das sie noch nie zuvor in seinen Augen gesehen hatte ...

Das war entsetzlich gewesen. Alles, was sie sich hier an diesem abgelegenen See zusammen aufgebaut hatten, in der neuen Heimat der Raker, all das, was sie sich an gemeinsamer Zukunft mit Dragosz und ihrem gerade erst geborenen Sohn erträumt hatte, alles, was sie vorgehabt hatten, um mithilfe der Himmelsscheibe die Hungersnot in der Zeit großer Dürre einzudämmen - mit einem Schlag hatte das Schicksal es hinweggewischt.

Doch das, was sie jetzt durchmachte, war erst der Auftakt zu etwas noch viel Schlimmerem. Zu begreifen, dass sie selbst es war, die versagt hatte. Zu begreifen, dass sie den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren hatte, obwohl sie ihn doch eigentlich hätte retten können. Zu wissen, dass zahlreiche Männer und Frauen gestorben waren und andere um ihr Leben gerungen hatten, ohne dass sie dem Einhalt geboten hatte, wie es ihre Pflicht als Heilerin gewesen war. Ja, sie hatte schon versucht zu lindern und zu helfen, sie hatte all das geheime Wissen aufgeboten, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte. In aller Eile hatten sie und Isana einen Entgiftungstrank zu brauen versucht, etwas, das die Eingeweide reinigt und alles Giftige von innen herausspült. Wenn sie nur die richtigen Kräuter zur Hand gehabt hätte, wenn sie in den letzten Tagen nur nicht so nachlässig gewesen wäre, ihrer Pflicht nachzugehen, wenn sie sich nur weniger um Kyrill, ihren Sohn gekümmert hätte, wenn sie ...

Sie riss die Hände hoch und hämmerte sich mit den zusammengebundenen Fäusten gegen die rechte Schläfe, als könne sie diese Nachlässigkeit damit ungeschehen machen. Ein Windzug fegte wie zur Antwort über das feuchte Holz, auf dem sie seit Anbeginn der Nacht hockte. Und irgendwo in der Ferne donnerte es, als zöge dort ein Gewitter auf. Das Gemurmel der alten Männer, die sich in der großen Zeremonienhütte am Nachbarsteg versammelt hatten, verstummte, um dann umso lauter wieder einzusetzen. Arri ließ die Hände sinken und starrte in den Himmel. Keine Spur von einem Gewitter, und doch, sie war sicher: Das war ein Donnerschlag gewesen. Ein Zeichen der Götter womöglich, die im Gegensatz zum Ältestenrat schon längst ihr Urteil über sie gesprochen hatten?

Wie zur Antwort krächzte in diesem Augenblick direkt über Arri ein Vogel. Es war ein so schauerlicher Laut, dass sie erschrocken die Hände sinken ließ und den Kopf nach oben riss. Ein großer schwarzer Vogel flog über sie hinweg, und für die Dauer eines Lidschlags sah es so aus, als blicke er aus dunklen tückischen Augen auf sie herab: so höhnisch, kalt und grausam, als labe er sich an ihrem Schmerz. Arri hatte das Gefühl, von einer kalten Hand gestreift zu werden. Aber dann flog der schwarze Vogel auch schon auf die offene Fläche des Sees zu, und als er das jetzt kräftigere Rot der Morgensonne erreichte, sah es aus, als würde er mit seinem dunklen Gefieder in einen Strom von Blut eintauchen. Arri starrte ihm ungläubig hinterher. Es gab hier viele Vögel, die meisten waren klein und bunt, und auch einige Reiher und Schwäne, aber keine Krähen - und erst recht keine Raben. Dies hier aber war der größte und widerlichste Rabe, den sie jemals gesehen hatte.

Jetzt war sie sich sicher, dass die Götter ihr Urteil gefällt hatten. Von Lea wusste sie, dass es Raben gab, die mehr waren als nur große Vögel, dass sie mächtig waren, manchmal auch weise, zumeist aber hart und grausam: Boten der Götter, die im Vorfeld eines großen Unglücks geschickt wurden, vielleicht, um die Menschen zu warnen, vielleicht aber auch nur, um sie zu verhöhnen.

Mit einem Schaudern wandte sich Arri wieder ab und blickte zu dem Mann hinab, mit dem sie seit zwei Sonnenwenden das Lager geteilt hatte, und der nun tot und aufgebahrt unter ihr lag. Ein einzelner Sonnenstrahl tastete sich durch das Schilf und glitt mit einer fast zärtlich wirkenden Geste über Dragosz’ Gesicht. Fast schien es ihr, als blinzele er, durch die Helligkeit geweckt, und ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Was, wenn er nun doch die Augen aufschlug, sie mit kaltem Blick musterte, um sich dann von seinem Totenlager zu erheben? Was, wenn er das kostbare Schwert, das zur Vorbereitung für einen letzten Kampf in der Ewigkeit neben ihm lag, noch fester packte? Was, wenn er sie damit enthaupten wollte - zur Strafe dafür, dass sie so schrecklich versagt hatte?

Eine Träne lief ihr über die Wange, ganz langsam und fast zögernd. Während dann Sonnenstrahl auf Sonnenstrahl durch das Schilf brach und mit seinen Ausläufern über Dragosz’ Gesicht und Körper glitt, streckte sie allmählich die Hand aus und beugte sich ein Stück weiter vor, zwischen Angst und Hoffnung zerrissen.

Da ... da zuckte ein Mundwinkel ... Da rührte sich ein Finger ... Da ... streckte sich ein Arm ...

Dann brach das Gemurmel der alten Männer in der Zeremonienhütte ab.

Kapitel 2

Zakaan spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen, ein Gefühl an der Wahrnehmungsgrenze, so zart und sacht, dass er es fast nicht bemerkt hätte. Lange Zeit hatte er auf diesen Augenblick gewartet, viel zu lange schon, und obwohl er oft genug versucht hatte, in die Szene, die ihn jetzt erwartete, hineinzutauchen, war ihm doch so, als entglitte ihm nun alles, als verflüchtige sich mit jedem Atemzug ein Stück seiner Sicherheit.

Wie schon unzählige Male zuvor saß er am Feuer, und doch war alles ganz anders als sonst. Es war nicht Tag, es war nicht Nacht, es war die Zeit dazwischen, die Zeit im Nirgendwo, in der der Mond gerade noch als fahle gelbe Sichel sichtbar war und sich die Sonne doch schon zaghaft vorschob, um die Welt in das gleiche Blutrot zu tauchen, das ein Kind sah, bevor es Ygdra aus dem Schoß seiner Mutter als Neugeborenes in die Welt entließ. Und Ygdra war es auch, die ihm als Göttin der Fruchtbarkeit das Fleisch der Göttin angeboten hatte. Doch dazu hatte er erst einmal die ganze Nacht über mit großer Sorgfalt alle notwendigen Rituale vollziehen müssen, um sich dann im Licht der blutigen Morgensonne ganz der geheimen Pilzmischung der Göttin hingeben zu können.

Zakaan tat dies mit aller Vorsicht, und auch nur dann, wenn er es als wirklich notwendig empfand. Der Pilzgenuss konnte schlimme Folgen haben, zu Krämpfen führen, zu dauerhaften Wahnvorstellungen, oder sogar tödlich enden. Doch dieses Wagnis musste er eingehen. Es gab so vieles, was er zu klären hatte, und so viele Antworten, die ihm Ragok der Bezwinger vollkommen zu Recht abverlangte, um zu entscheiden, wie es im Kampf um Urutark weitergehen sollte.

Und ganz nebenbei wäre er auch bereit, sein eigenes, ohnehin schon viel zu lange währendes Leben zu opfern, wenn sein Volk dadurch nur endlich zur Ruhe kam. Und vielleicht auch nur, wenn es irgendwie weiterging, wenn wieder gesunde Kinder geboren wurden und zumindest die Chance hatten, in einer Welt aufzuwachsen, die lebenswert war und so fest gefügt, dass sie auch das Erwachsenenalter erreichen konnten. Es durfte so nicht mehr weitergehen, es musste sich etwas ändern, und zwar ganz schnell!

Ragok sah es ganz genau so. Bei ihrer Ankunft hier vor zwei Tagen hatte der Herrscher des zusammengeschmolzenen Haufens nach oben geblickt und gesagt: »Siehst du das da oben, alter Freund? Es sieht ganz danach aus, als würdest du dort nach langer Zeit endlich wieder Steine für einen Kreis der Ygdra finden. Dies ist ein gutes Omen. Ygdra wird dir dabei helfen, den Beistand der Stammväter zu erflehen. Und wenn du es richtig anstellst, wird sie dir zeigen, wo wir die Himmelsscheibe finden können, um mit ihrer Hilfe den Sieg zu erringen!«

Zakaan hatte nur genickt, während sich Ragok weiter umgesehen hatte, um zu entscheiden, wo sie für die nächsten Nächte lagern und vielleicht sogar ein paar einfache Hütten errichten konnten. Es war beschlossene Sache, mit allen weiteren Schritten auf die Rückkehr der Kundschafter zu warten, die sowohl nach Urutark als auch nach Arianrhod und der Himmelsscheibe Ausschau halten sollten. Und fast noch wichtiger für eine glückliche Wendung ihres Schicksals war, dass er sich selbst mit dem Geist der Stammväter verband und mit ihnen um das künftige Schicksal seines Volkes rang, bevor sie sich auf das Abenteuer einer Auseinandersetzung mit Dragosz einließen.

»Also geh nach oben, lass dir von allen verfügbaren Männern und Frauen helfen, und baut einen Steinkreis«, befahl Ragok. »Und lasst euch nicht zu viel Zeit damit. In den nächsten Tagen stehen große Entscheidungen an.«

Zakaan war der Aufforderung gefolgt, so gut es ging. Sie hatten bereits etliche Findlinge zusammengetragen, den Steinkreis selbst aber mit den wenigen helfenden Händen, die ihnen zur Verfügung standen, noch nicht errichten können. Es fehlte ihnen an allem, an Trommeln, Rasseln und Pfeifen, an der farbenfrohen Kleidung, die auf ihren heimatlichen Webstühlen gefertigt wurde: mit den Bronzeknöpfen und den Vasennadeln, mit denen die weiten Obergewänder der Tänzer zusammengehalten wurden, die sich bei Drehbewegungen so sehr aufblähten, als würden sie jeden Augenblick von einem Windzug davongetragen werden. Vor allem aber mangelte es ihnen an Menschen, die zupacken konnten und sich in den Dienst des Ritus stellten. Die meisten Männer und Frauen waren damit beschäftigt, das zusammenzutragen, was fürs Überleben notwendig war: Nahrung und Baumaterial für die einfachen Hütten, die eigentlich eher Zelte waren: auf die Schnelle mit allem errichtet, was sich in der unmittelbaren Umgebung auftreiben ließ.

»Wir müssen siegen«, hatte Ragok zu ihm gesagt und ihn an der Schulter gepackt, als wolle er ihn durchschütteln. »Verstehst du das? Wir müssen einfach siegen!«

Es lagen gleichzeitig Schwäche und Stärke in seiner Stimme, und ein unduldsamer Unterton, der Zakaan hatte erschaudern lassen.

»Ich werde meinen Sohn Lexz mit ein paar Männern losschicken. Sie sollen nach Urutark Ausschau halten - und nach meinem Bruder.« Das letzte Wort spie Ragok aus, und es lag der ganze Hass darin, den er seinem jüngeren Bruder Dragosz gegenüber empfand.

»Und sie müssen auch nach der Himmelsscheibe Ausschau halten«, gab Zakaan zu bedenken. »Die Stammväter haben mir aufgetragen, nach ihr zu suchen - und nach der Frau, die sie jetzt in ihrem Besitz haben soll ...«

Ragok hatte ihn wieder losgelassen, und als sich der Schamane an den hasserfüllten Blick seines Herrschers erinnerte, fand er in die Wirklichkeit zurück.

Er atmete tief durch. Wie hatte das alles nur geschehen können? War es wirklich richtig gewesen, trotz der Dürre so lange in der alten Heimat auszuharren, statt mit Dragosz’ Leuten gemeinsam aufzubrechen?

Er wusste es nicht. Damals, nach dem heftigen Streit zwischen Ragok und Dragosz, war ihm alles ganz anders erschienen. Sie hatten geglaubt, einfach ein Stück weiter nach Westen ziehen zu müssen, um in Urutark wieder an ihr altes Leben anzuknüpfen.

Was für eine Fehleinschätzung. Erst auf der Wanderung war ihnen dann klar geworden, wie gut ihr altes Leben gewesen war - und wie unerreichbar fern es war. Statt sich wie in letzter Zeit auf ein wechselhaftes Jagdglück und das Sammeln von Beeren, Früchten und Pilzen verlassen zu müssen, hatten sie damals hauptsächlich von dem leben können, was die üppigen Felder abwarfen, und was die Fischer im Fluss und in den nahegelegenen Seen fingen. Statt auf harter Erde zu nächtigen, hatten sie in gut gebauten Langhäusern gewohnt. Statt vor Durst fast wahnsinnig zu werden, hatten sie immer genug Trinkwasser in der Nähe gehabt.

Und nicht nur das. Die meisten Kinder, die geboren wurden, hatten die ersten gefährlichen Wochen überlebt, und nur wenige Mütter waren bei der Geburt gestorben. Die Gemeinschaft war ständig gewachsen, hatte neuartige Webstühle mit immer mehr Webgewichten gebaut, auf denen sich ihre Kleidung schneller als je zuvor hatte herstellen lassen. In ihrer geräumigen Schmiede hatten sie Waffen und Werkzeuge aus Bronze hergestellt, sowie Ringe, Rasiermesser, Halsschmuck, Gürtelschnallen und allerlei Kleinodien. Ihre Keramik war reich verziert gewesen, und ein begehrtes Handelsgut, das sie gegen Bronzebarren oder Erz hatten eintauschen können.

Eine glückliche Zeit. Und jetzt? Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich für die große wichtige Aufgabe zu sammeln, die vor ihm lag. Und sich dafür auch auf die Kraft zu besinnen, die ihm die erschöpften, vom Schicksal geschundenen Menschen seines Volkes gaben, die zum ersten Mal seit Langem ein halbwegs bequemes Nachtlager gefunden hatten.

Das Lager lag ein gutes Stück unter ihm, klug gewählt an einer Stelle, an der ein Felshang Schutz auf der einen Seite versprach, und auf der anderen verdeckte ein üppig zugewucherter Hang die Sicht auf sie selbst; zudem sprudelte ganz in der Nähe beständig frisches Wasser aus einer Quelle - ein Luxus, der ihnen während der großen Wanderung nicht ein einziges Mal vergönnt gewesen war. Zakaan wusste, dass sich die anderen auf den weichen Waldboden gebettet hatten, und dass sie dort besser und länger schlafen würden als auf dem harten ausgetrockneten Untergrund, mit dem sie in letzter Zeit viel zu oft hatten vorlieb nehmen müssen. Doch er ahnte auch, dass Ragok bereits lange wach war und zu ihm nach oben starrte, um sich dann durch den kunstvoll gerichteten Bart zu fahren, den Kopf zu schütteln und in die Richtung zu blicken, in der sie alle miteinander Urutark vermuteten. Er spürte die Nähe seines Herrschers und die der anderen Menschen, seiner Menschen, seines Volkes, für das er sich viel verantwortlicher fühlte, als es irgendein anderer je vermocht hätte - Ragok selbst einmal ausgenommen.

Er wusste und spürte dies alles - und doch war es ihm so fern, dass es ihm seltsam fremd vorkam.

Die Wirklichkeit war inzwischen jedenfalls eine andere: das sachte Kribbeln in seinen Fingern, die von Rauchkraut satt geschwängerte Luft, das rituelle Murmeln der drei Männer, die versuchten, die bösen Geister auch ohne das bunte Treiben von Tänzern und Trommlern zu vertreiben, die feierliche, gelöste Stimmung, die ihn ergriff, nachdem er sich durch das Fleisch der Götter in einen Zustand der Empfängnis versetzt hatte. Und der Mond, der als Sichel so groß und deutlich sichtbar über dem Tal hing, als wäre er nicht viel ferner als einen Pfeilschuss.

Mit der Sonne, die ein Stück weiter weg über den Bäumen aufgehen würde, war es etwas anderes. Obwohl es wieder ein heißer Tag werden würde, wärmte sie noch nicht. Und doch brodelten schon jetzt die Kräfte des Feuers in ihr, mit dem sie über die Welt gekommen war, als würde sie sie bis zum letzten Winkel ausbrennen wollen. Die Sonne war ein Gott mit zwei Gesichtern. Lebensspender nannten ihn die Menschen, wenn er ihnen die notwendige Wärme schenkte, Verderber flüsterten sie dagegen hinter vorgehaltener Hand, wenn sie mit unbarmherziger Kraft auf die Wiesen und Äcker niederbrannte, bis alles verdorrt und vertrocknet war.

Ein Schwarm Vögel stob über die Bäume hinweg, und Zakaan spürte den Freiheitsdrang, der sie erfasst hatte. Doch statt in den Himmel hinaufzusehen, in dessen Unendlichkeit der Schwarm entschwand, sah er auf die Erde hinab. Sie war feucht und satt, nicht so hart und ausgetrocknet wie der Boden, über den sie sich viel zu lange vorwärtsgequält hatten. Langsam und vorsichtig senkte er die Hände. Er spürte seine Arme kaum. Sie waren so schwer, als wären sie mit Steinen gefüllt, und doch hatte er keine Mühe, sie langsam und vorsichtig zu bewegen.

Als seine Fingerkuppen die weiche, von Tannennadeln spärlich bedeckte Erde berührten, verstärkte sich das Kribbeln. Zakaan stöhnte auf. Das Murmeln der Männer, die um ihn herum saßen, wurde lauter und dabei so eindringlich, als spürten sie, wie nahe er dem Übergang war. In Ermangelung von Trommeln begannen sie jetzt auf den Boden zu klopfen und mit den Füßen aufzustampfen.

Zakaans Augen fielen ihm von selbst zu, seine Empfindungen verengten sich weiter, blendeten alles aus, was um ihn herum geschah. Er war nicht müde und nicht wach, er war in Trance - und auch wieder nicht. Er saß auf dem alten Fuchsfell, das er seit seiner Jugend besaß, und saß doch nicht darauf ... weil er sich ganz leicht mit den Fingerspitzen hochdrückte, weil er sich ablöste aus der Wirklichkeit, weil er schon fast schwebte ...

... und in etwas eintauchte, das er lange nicht gesehen hatte. Grünes, durchbrochenes Licht, das Summen von Insekten ...

Es war eine andere Welt, die er in Gedanken betrat, eine Welt, die aus Erinnerungen bestand, aus vielfältigen Eindrücken, die er im Lauf seines langen Lebens gesammelt hatte - und aus den Ahnungen dessen, was gerade andernorts geschah, oder vielleicht auch erst geschehen würde. Er glitt über eine sonnendurchflutete Lichtung hinweg, spürte die Wärme so angenehm auf seiner Haut, wie das auch früher gewesen war, bevor die schlimme Hitze gekommen war und das Land versengt hatte. Seine Körperempfindungen waren die eines jungen Mannes, leicht und befreit, und seine Augen schienen wieder in der Lage zu sein, die ganze Farbenvielfalt einzufangen, die ihn umgab. So ist das also, wenn man jung ist, dachte er erstaunt ...

Er spürte, wie ihn ein Luftzug erfasste und ein Stück hochtrieb, und er musste sich zusammenreißen, um sich nicht ganz diesem wunderbar schwebenden Gefühl zu ergeben. Es war nicht das erste Mal, dass ihn ein Trancezustand weit weg entführte und auf eine Reise mitnahm, von der er am liebsten nicht mehr in die Wirklichkeit zurückgekehrt wäre.

Aber diesmal war es anders. Auf der einen Seite lockte da die Leichtigkeit, die ihn in unbekannte, verlockende Gefilde mit sich nehmen wollte, und auf der anderen Seite gab es etwas Düsteres, das wie eine dunkle Gewitterwolke an seiner Wahrnehmung zerrte.

Er konzentrierte sich auf seine Atmung, auf das ruhige Ein und Aus, gleichmäßig und befreit von allen anderen Gedanken - und sank langsam wieder hinab. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die unmittelbare Umgebung ... und plötzlich wurde sein Atem flach und hektisch, seine Kehle verkrampfte sich schmerzhaft ...

Er kam so hart auf dem Boden auf, dass seine Gelenke knackten. Sein tatsächliches Alter hatte ihn wieder eingefangen, und mit ihm das Gebrechen und all die kleineren und größeren Einschränkungen, die es mit sich brachte. Es war ein fürchterliches Gefühl, sich nach der Befreiung nun wieder uralt zu fühlen, und es war nicht nur der hämmernde Schmerz in seinem Kopf und die schmerzenden Knie, die ihn gemahnten, vorsichtig zu sein, sondern auch das Wissen, dass er sich nicht übernehmen durfte, wollte er nicht einen Zusammenbruch herausfordern.

Es war die Gestalt, die am Rande der Lichtung stand, und fast mit dem Waldrand verschmolz. Ein Mädchen, oder vielmehr eine junge Frau, eine Gestalt, die sich nicht wirklich mit Blicken einfangen ließ, und andererseits doch so überaus gegenwärtig war, dass er ihre körperliche Anwesenheit wie eine düstere Ausstrahlung spürte. Zakaan wusste, dass er sich nicht wirklich hier befand, sondern körperlos in diese andere Zwischenwelt hinübergeglitten war, wie in einem düsteren Traum, der den Schlaf zur Qual werden lassen konnte.

Die Gestalt schien einen Schritt vorzutreten, das Licht floh vor ihr, und gleichzeitig wirkte es, als verschmelze die Gestalt noch mehr mit dem Wald, und das alles geschah gleichzeitig, unfassbar selbst für ihn, der sich schon so oft im Land der Schatten befunden hatte.

»Wer bist du?«, fragte er, oder vielmehr: Er dachte es, allerdings auf eine so kraftvolle Art, dass seine Gedanken wie ein Luftzug von ihm wegströmten und Grashalme und Blumen zum Erzittern brachten.

»Das weißt du«, antwortete die Gestalt. »Und wenn du ehrlich zu dir selbst bist, wirst du feststellen, dass du das schon immer gewusst hast. Selbst damals, als du noch zu jung warst, um einen Krug aufzuheben und zu begreifen, dass die Welt um dich herum aus mehr besteht als nur aus dem, was dir deine Augen zeigen und was deine Ohren an dich herantragen.«

Ihre Stimme klang mädchenhaft zart, und doch gewaltig. Das konnte doch nicht sein ... der Verdacht, der sich in Zakaan regte, war so schrecklich, dass er ihn gleich wieder wegschob.

»Du suchst mich«, fuhr die mädchenhafte Gestalt fort. »Und du hattest mich sogar damals schon gesucht.«

Zakaan zögerte. Es war die Wahrheit, die er suchte, und das Land seiner Ahnen. Es waren fruchtbare Felder, die er suchte, Gewässer, die sie mit frischem Wasser und mit Fischen versorgten, Wiesen, auf denen sie Schafe und Rinder grasen lassen konnten. Es war ein einfaches sesshaftes Leben, das er suchte, nicht für sich, sondern für sein Volk: für die Kinder, die hoffentlich in großer Zahl geboren wurden, sobald sie erst einmal wieder sesshaft geworden waren.

Doch das alles hatte nichts mit der Gestalt zu tun, die ihm jetzt gegenüberstand. Sie meinte etwas anderes.

»Ich habe dich vielleicht gefunden«, sagte Zakaan. »Aber ich habe dich nicht gesucht.«

Die Gestalt nickte. »Ja. Du warst schon immer sehr geschickt darin, Ausflüchte zu finden, Schamane. Dabei weißt du doch seit einer ganzen Zeit, dass wir uns eines Tages wieder begegnen würden.«

»Wieder begegnen ...« Zakaan fühlte, wie ihn der ferne Hauch der Vergangenheit streifte. Er sah sich selbst am Fluss stehen, er betrachtete den Strom, der erst viele, viele Sommer später versiegen sollte, in einer Zeit, die länger von diesem Augenblick entfernt war als eine gewöhnliche Lebensspanne. Damals war noch alles friedlich gewesen - friedlich und einfach. Nicht weit entfernt vom Fluss hatten Schafe gegrast, von der Wiese daneben war das Blöken der Kälber zu ihm herübergeweht, und vom Dorf her Kindergeschrei und das Lachen der Frauen, die auf dem Dorfplatz gesessen hatten, um ihren alltäglichen Verrichtungen nachzugehen. »Ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind.«

»Du glaubst es nicht nur«, hauchte die mädchenhafte Gestalt, »du weißt es sogar.«

Zakaan kniff die Augen zusammen. Ja. Sie hatte auf der gegenüberliegenden Seite des Ufers gesessen, doch damals war sie ihm nicht mädchenhaft erschienen, damals war sie eine erwachsene Frau für ihn gewesen.

Plötzlich erschien wieder alles so nah, dass er das Gefühl hatte, ganz und gar in die Vergangenheit einzutauchen. Er spürte die sanft wärmende Sonne auf seiner Haut, hörte das Zirpen der Grillen und das leise Rascheln der Blätter und Zweige in der lauen Brise, die über das fruchtbare Land strich, und all die unbekümmerten Laute des träge dahinlaufenden Dorflebens. Es war damals eine so unbeschwerte Stimmung gewesen, dass er jetzt laut hätte aufschreien können.

Was, ihr Götter, hatte er nur verloren? Die Unbeschwertheit der Jugend war Stück für Stück unter der Last des Lebens weggebrochen, und sie war durch Ernsthaftigkeit ersetzt worden, durch den Willen zur Macht, das brennende Verlangen, seinem Volk zu helfen, wo und wie auch immer das möglich sein mochte. Und jetzt war er alt, fast gebrochen durch das Leid, das seinem Volk wie eine Strafe auferlegt worden war. Wenn es ihm nicht gelang, endlich das Richtige zu tun, würde er bis zu seinem Lebensende mit ansehen müssen, wie alles verloren ging, was von den Generationen vor ihm aufgebaut worden war.

Er verschluckte den Schrei, der sich aus seiner Kehle drängen wollte. Es war schrecklich, den Verlust der kindlichen Unbekümmertheit so schlagartig vor Augen geführt zu bekommen, und es war unglaublich, dass er nun wieder einer Erscheinung begegnete, die ihn damals, als Kind, so aufgeschreckt hatte.

Aber all das spielte keine Rolle. Es ging nur darum, alles zu tun, was er tun konnte, um seinem Volk zu helfen.

»Du hast mich gesucht«, wiederholte die mädchenhafte Gestalt.

»Nein, das habe ich nicht«, widersprach Zakaan. »Du bist gekommen, ohne dass ich dich gerufen hätte.« Er zögerte, bevor er die nächste Frage aussprach. »Was wolltest du damals von mir?«

»Das Gleiche wie jetzt«, antwortete die Gestalt.

Zakaan nickte. Es war genau die Art von Antwort, mit der er hatte rechnen müssen.

»Schickt dich Ygdra?«

Die Gestalt antwortete nicht, und eigentlich war das Antwort genug.

Nein, Ygdra, die Göttin der Fruchtbarkeit und des Lebens hatte sie nicht geschickt. Das hätte sie auch gar nicht gekonnt, denn dieses Wesen da vor ihm stand nicht auf der Seite des Lebens.

Sondern auf der Seite des Todes.

»Bist du gekommen, um mich zu holen?«

Das Licht veränderte sich, und mit ihm die Gestalt und alles um ihn herum. Es war eine erstickende Düsterkeit, die damit einkehrte, und Zakaan hatte das Gefühl, als streife ihn die kalte Hand des Todes.

»Ich hole dich nicht«, antwortete das mädchenhaft zarte Wesen endlich. »Und ich kann dir auch nicht sagen, wann die Zeit für dich gekommen ist.«

Zakaan nickte, er fühlte sich auf eine fast absurde Art erleichtert, denn schließlich hatte er schon längst mit seinem Leben abgeschlossen. Zumindest hatte er das geglaubt. Aber vielleicht stimmte es auch nicht.

»Ich bin aus einem ganz anderen Grund hier«, fuhr die Gestalt fort.

Zakaan nickte abermals. Es gab viele Wesen, die die Welt der Toten bevölkerten, und etliche von ihnen waren so unvorstellbar grässlich, dass sie noch nicht einmal einen Namen hatten. Andere wiederum waren von lichter, kaum wahrnehmbarer Gestalt. Ganz anders als dieses Mädchen, das etwas gleichermaßen Zartes wie Unnachgiebiges besaß. Zakaan war sich jetzt sicher, wen er da vor sich hatte: ein Wesen, das die Altvorderen Todessyre genannt hatten.

»Du musst dich entscheiden, ob du stark genug bist, dich der Wahrheit zu stellen«, fuhr die Todessyre fort.

Stark genug? Zakaan hätte beinahe laut aufgelacht. Er war Zeit seines Lebens stark genug gewesen, jede Art von Wahrheit zu ertragen. Aber er hatte oft damit gerungen, wie viel er davon an sein Volk weitergegeben konnte.

»Was weißt du?«, fragte er, und seine Stimme hatte plötzlich wieder die alte Stärke und Kraft, die in alten Zeiten sogar das rituelle Trommeln am Dorffeuer übertönen konnte, wenn er es darauf angelegt hatte. »Kannst du mir sagen, ob wir wirklich Urutark vor uns haben? Ob unsere Reise dort endet?«

»Eure Reise wird nicht dort enden, wo ihr Urutark vermutet«, antwortete die Todessyre rätselhaft. »Sondern dort, wo eure Ahnen beheimatet waren.«

»Ich weiß schon lange, dass wir dorthin müssen«, sagte Zakaan ungeduldig. »Aber niemand hat mir bislang genau sagen können, wo Urutark wirklich zu finden ist!«

Die Todessyre nickte. »Das liegt in der Natur der Wahrheit. Aber auch in diesem Punkt weißt du schon längst, was dir den Weg weisen wird: die Himmelsscheibe.«

Zakaan hatte erneut das Gefühl, als streife ihn eine kalte Hand. »Die Himmelsscheibe, von der uns Dragosz nach seiner ersten Reise in den Westen berichtet hat?«

»Kennst du sonst noch eine Scheibe, die den Himmel in das Metall zu bannen vermag?«

Zakaan runzelte die Stirn. »Natürlich nicht. Aber warum sollte gerade die Himmelsscheibe über das Wohl und Wehe unseres Volkes entscheiden?«

»Ich soll dir mehr sagen, als du schon selbst weißt?« Die Todessyre schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Und das weißt du auch ganz genau. Ich kann dir nicht mehr sagen, als du selbst tief in deinem Herzen schon weißt - oder zumindest erahnst.«

Ja. Das war das Wesen all dessen, was ihn erwartete, wenn er vom Fleisch der Götter geleitet ins Schattenreich geglitten war.

»Die Himmelsscheibe«, fuhr er dennoch fort, »soll aus Bronze und Gold bestehen. Doch unsere Vorfahren kannten das Geheimnis der Metallherstellung noch nicht. Wie kann sie uns also von ihnen hinterlassen worden sein?«

»Das, was dir deine Vorfahren hinterlassen haben, trägst du um den Hals«, antwortete die Todessyre. »Es ist der Rentierknochen, auf dem die alten Jäger das Geheimnis der jährlichen Rentierwanderungen eingeritzt haben.«

Zakaans Hand fuhr unwillkürlich zum Hals und tastete nach dem flachen Knochen, auf dem die Altvorderen mit scharfen Steinen die für sie überlebenswichtigen Kenntnisse in Form von Zeichen eingeritzt hatten. »Die Himmelsscheibe ist für uns also das, was für unsere Stammväter dieser abgewetzte Rentierknochen war?«

Er bekam keine Antwort. Aber er wusste sie ja selbst. »Die Himmelsscheibe soll uns präzise sagen können, wann wir säen müssen, und wann wir die Ernte einzufahren haben«, sagte er. »Zumindest ist es das, was uns Dragosz darüber berichtet hat. Aber wie kann sie uns helfen, unseren Platz auf dieser Welt zu finden?«

Die Todessyre lachte hell auf. »Du stellst dir eine Frage und gibst dir selbst die Antwort darauf. Und du merkst es noch nicht einmal.«

Zakaan starrte sie verblüfft an. Er selbst sollte sich die Antwort gegeben haben? Aber das war doch unmöglich.

»Dragosz«, setzte er an, um sich von einer anderen Richtung an das scheue Wild der Wahrheit anzupirschen, »hat Lea getroffen, die ihm vom Geheimnis der Himmelsscheibe berichtete.«

»Das stimmt«, bestätigte die Todessyre. »Dragosz hat die Ahnen getroffen.«

»Nicht die Ahnen«, widersprach Zakaan. »Sondern Lea, die Hüterin der Himmelsscheibe. Und ihre Tochter Arianrhod.«

»Doch: die Ahnen«, beharrte die Todessyre. »Du hast die Ahnen gerufen, damit sie dir helfen. Und die Ahnen haben dich erhört.«

Das wäre eine gute Nachricht gewesen, hätte sie nur irgendeinen Sinn ergeben. Aber das tat sie nicht. Zumindest nicht in Zakaans Ohren.

»Die Stammväter sind mir immer wohlgesonnen gewesen«, antwortete er deshalb möglichst unbestimmt. »Und dafür bin ich ihnen dankbar.«

»Es ist gut, dass du ihnen dankbar bist.« Durch die Todessyre ging ein leichtes Sirren, das wie ein Zeichen von Ungeduld wirkte. »Aber es ist nicht gut, dass du sie nicht erkennst, wenn sie sich in anderer Form zeigen, als du erwartest.«

»Als ich erwarte?« Zakaan dachte angestrengt nach, aber immer, wenn er einen Gedanken - oder zumindest eine Idee - zu fassen glaubte, entwischte er ihm wieder. Es war sinnlos. Er musste es anders versuchen. »Dragosz hat uns alles erzählt, was er von Lea und der Himmelsscheibe wusste.«

»Und er hat euch auch von ihrer Tochter erzählt«, sagte die Todessyre. »Er hat euch alles Wichtige über sie berichtet - ohne selbst auch nur zu ahnen, dass er dir damit das Wissen in die Hand gegeben hat, um dein Volk zu retten - jetzt.«

Zakaan spürte eine Woge heißen Zornes in sich hochsteigen. »Ich kenne diese Lea nicht und weiß von ihrer Tochter kaum mehr als den Namen. Was also sollte mir das weiterhelfen?«

Als er auch diesmal wieder keine Antwort bekam, fügte er lauter hinzu: »Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst! Arianrhod ist für uns eine Fremde, sie hat nichts mit unserem Volk und unseren Ahnen zu tun! Wie sollte uns dann ausgerechnet diese Fremde helfen, unser Volk vor dem Untergang zu bewahren?«

»Bedauerlich«, sagte die Todessyre, und es klang beinahe so, als spucke sie das Wort voller Verachtung aus. »Erst näherst du dich der Wahrheit - und dann entfernst du dich wieder Stück für Stück von ihr. Du hast nicht im Geringsten verstanden, was dir die Ahnen sagen wollen. Du hast immer noch nicht begriffen, dass es ausgerechnet Arianrhod sein wird, die über euer aller Schicksal entscheidet.«

Zakaan ballte die Hand zur Faust. »Dann sag es mir!«, verlangte er. »Sag mir, was ich wissen muss, um mein Volk zu schützen!«

Die Todessyre schien sich ein weiteres Stück zurückzuziehen, und Zakaan spürte, dass er schon im Begriff war, sie zu verlieren. Er musste sich zusammenreißen. Wut war etwas, das einem im Kampf helfen konnte, aber nicht hier und nicht jetzt.

Er atmete tief ein und aus und versuchte seinen Mittelpunkt zu finden. Es gelang ihm allerdings nur sehr unvollkommen. Doch immerhin spürte er, wie ihn die Wut mit jedem Atemzug ein Stück mehr verließ, und wie eine Ruhe in ihn einzuströmen begann. »Bitte«, flüsterte er. »Bleib bei mir. Rede mit mir!«

Das rätselhafte Wesen aber schwieg. Doch dann, gerade als Zakaan schon die Hoffnung aufgeben wollte, schärften sich die Umrisse der Todessyre wieder. Und dann sagte sie einen Satz, der Zakaan fast mehr erschütterte als alles zuvor: »Arianrhod ist der Schlüssel zu allem.«

»Arianrhod?«, echote er ungläubig. »Aber wie kann das sein?«

Die Todessyre schien zu zögern, und Zakaan wartete darauf, dass sie fortfuhr. Seine Geduld wurde belohnt.

»Es wird so sein, wie es die Urväter bestimmt haben«, verkündete die Todessyre. »Und du wirst dabei sein, wenn du auf dem Pfad der Wahrhaftigkeit bleibst.«

»Die Urväter ...« Zakaan versuchte, irgendeinen Sinn in den Worten der Todessyre zu finden, »Der Pfad der Wahrhaftigkeit ...«

»Du wirst erleben, dass Arianrhod das Schwert in die Hand nimmt, um über ihre Feinde zu kommen«, fuhr die Todessyre fort, »und sie wird euch damit bei eurem Kampf unterstützen, wenn ihr die Zeichen rechtzeitig zu sehen bereit seid«, ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern, »aber wenn ihr die Zeichen nicht richtig zu deuten versteht, dann werdet ihr untergehen.«

Zakaan fühlte sich benommen, seine Gedanken und Empfindungen drohten abzudriften. Als er erst ein Stampfen und Klopfen hörte und dann ein Gemurmel vernahm, durchzuckte ihn ein jäher Schrecken. Er begriff, dass er dabei war, den Kontakt mit der Todessyre zu verlieren - und damit auch die Aussicht, die Antworten auf die weiteren drängenden Fragen zu erhalten, die in ihm brannten.

»Bleib hier«, bat er. »Bitte, bleib bei mir! Hilf mir, das zu verstehen, was mir die Stammväter sagen wollen!«

»Das werde ich«, antwortete die Todessyre. Die Geräusche um Zakaan herum schienen anzuschwellen, die Vögel sangen lauter, die Insekten summten deutlicher, und auch die Blumen und Pflanzen erstrahlten plötzlich in frischem Glanz. »Aber nur, wenn du dich wahrhaftig daran erinnerst, was du hörtest, als du mich zum ersten Mal gesehen hast.«

»Gehört?« Als er am Fluss gestanden hatte, als kleiner Junge, und zu der Fremden hinübergeblickt hatte, die ihm dort erschienen war?

Er versuchte all die wieder erstarkten Eindrücke um sich herum zurückzudrängen, die übertrieben kräftigen Farben und das überbordende Leben. Er war ja nicht wirklich hier, er saß auf einem alten Fuchsfell auf einer Anhöhe über einem Lager mit einem Häuflein verlorener Menschen zusammen, und er war in eine Trance gefallen - dieses unwirkliche Reich irgendwo zwischen der Welt der Menschen und der der Götter würde ihn nicht daran hindern, in eine Vergangenheit zurückzureisen, die er schon vergessen geglaubt hatte.

Aber so sehr er sich auch darum bemühte, es wollte ihm doch nicht gelingen, wieder in diese frühere Erinnerung zurückzufinden. Es gelang ihm nicht, die Sorgen und Ängste abzustreifen, die ihn wie eine Geisel gefangen nahmen. Zumindest anfangs. Doch dann überfielen ihn die Bilder der Vergangenheit, die er gerufen hatte, mit ungestümer Kraft, und er spürte auch wieder die Leichtigkeit und Lebendigkeit in sich, die ihn als kleinen Jungen vorangetragen hatten.

Damals, als er gerade allein durch die Wiesen hatte laufen dürfen ... als er zu einem Ausflug zum Fluss aufgebrochen war ... Er erinnerte sich wieder, als wäre es gestern passiert ...

Die Todessyre hatte auf der anderen Seite des Flusses gestanden, ein lichtes Wesen, das ihm wie hingezaubert erschienen war, ohne dass er auch nur im Entferntesten etwas von dem Geheimnis ihrer Existenz geahnt hätte. Und nun hatte ihm das gleiche Wesen aufgetragen, auf die Geräusche zu achten, die er damals gehört hatte ...

Die alltäglichen kleinen Laute aus dem Dorf und den Weiden waren zu ihm herübergeweht, das Rauschen des Windes und auch das Plätschern der Wellen ... aber nichts anderes ...

Oder doch ... Er erinnerte sich daran, dass jemand seinen Namen gerufen hatte. Nicht seine Mutter war das gewesen, sondern eine schwache, helle Stimme: die seines Bruders.

»Ja«, er nickte, »da war Abdur. Er hätte das Dorf gar nicht verlassen dürfen, dazu war er noch viel zu klein.«

Er versank in seine frühe Kindheitserinnerung. »Zakaan!«, hörte er seinen Bruder rufen. »Wo bist du?«

Zakaan riss den Blick von der Fremden auf der anderen Seite des Ufers los und sprang auf, um dem kleinen Abdur entgegenzublicken, der mit zwar ungelenken, aber zielsicheren Bewegungen herangewackelt kam. »Zakaan! Zakaan! Ich hab Angst um dich!«

Zakaan schüttelte den Kopf. »Geh zurück!«, verlangte er. »Wenn dich Onkel Woratz hier sieht, gibt es Ärger.«

Abdur gehorchte nicht, sondern beschleunigte ganz im Gegenteil seine Schritte noch einmal. Seine kleinen nackten Füße blieben irgendwo hängen, dann stieß er einen hellen, schrillen Schrei aus, streckte die Hände vor und fiel in die größte Schlammpfütze, die sich zwischen ihm und dem Fluss befand.

»Obrrraoh«, gurgelte er, als er wieder aufsprang und jede Menge Brackwasser ausspuckte. »Ich hatte einen schlimmen Traum! Da war jemand. Ein Mädchen. Das stand am Fluss und sah zu dir herüber ... und es wollte deinen Tod!«

»Nein, Abdurezak«, flüsterte er, plötzlich wieder zwischen ferner Vergangenheit und einer viel zu nahen Gegenwart hin und her gerissen. »Sie wollte doch nicht meinen Tod. Sie hat mir nur gezeigt, was mit mir passieren könnte, wenn ich nicht den richtigen Weg einschlage.«

Das Gesicht vor ihm schien zu flackern, und als es dann wieder eine feste Gestalt annahm, glaubte Zakaan tatsächlich in die alten, traurigen Augen Abdurezaks zu blicken, der sein Bruder gewesen war - und den man in seiner Kindheit Abdur gerufen hatte.

»Ich muss mit Dragosz gehen«, sagte Abdurezak. »Ich habe keine andere Wahl. Ich habe ihm die Treue geschworen. Er ist unser Herrscher.«

Zakaan starrte seinen Bruder wortlos an. Sie standen wieder am Fluss, wie vor einer Ewigkeit schon. Aber jetzt war es nicht mehr der kleine Abdur, der für ein Gespräch auf Leben und Tod zu ihm gekommen war, sondern der vom Alter gebeugte Erwachsene, den man schon seit Ewigkeiten nur noch Abdurezak nannte.

»Dragosz ist nach den alten Gesetzen unser Herrscher«, antwortete Zakaan heiser. »Aber nach den alten Gesetzen hätte er seinem Bruder niemals die Frau nehmen dürfen.«

Abdurezak nickte. »Das ist richtig. Und es ist fürchterlich, was Dragosz getan hat. Es ändert aber nichts daran, dass ich mit Dragosz und Surkija gehen werde.«

Zakaan starrte ihn eine ganze Zeit wortlos an. Er und sein Bruder hatten sich noch nie für längere Zeit getrennt. Und jetzt wollte ihn Abdurezak verlassen, und das vielleicht für immer?

»Du gehst mit den Abtrünnigen?«, fragte Zakaan. »Ist es wirklich das, was du willst?«

»Abtrünnige ...« Abdurezak schüttelte den Kopf. »Das ist ein merkwürdiges Wort für diejenigen, die ihrem Herrscher folgen.«

»Nicht merkwürdig ist es«, schnappte Zakaan. »Es ist sogar das einzig richtige, das einzig treffende Wort. Oder wie nennst du diejenigen, die einem Rechtsbrecher folgen?«

»Ich nenne Dragosz keinen Rechtsbrecher, und uns selbst nicht Abtrünnige«, sagte Abdurezak traurig. »Und das, obwohl ich deine Sicht der Dinge verstehen kann.«

»Und warum teilst du sie dann nicht?«, fragte Zakaan bitter.

»Weil ich sie nicht teilen kann«, antwortete Abdurezak rasch. »Denn ich urteile nicht aus der Sicht des Schamanen, sondern aus der des Ältestenrates. Und in diesem Fall unterscheiden sich unsere beiden Einstellungen so sehr wie die eines Fuchses und eines Hahns, der sein Gelege verteidigen muss.«

Zakaans Gesicht verdunkelte sich. »Sind dir denn Ehre und Anstand nichts mehr wert, Bruder?«

»Doch«, antwortete Abdurezak. »Sie sind mir vielleicht sogar mehr wert, als du erahnen magst. Aber zu allererst geht es mir um das Schicksal unseres Volkes. Unseres gemeinsamen Volkes, Zakaan! Und so beschwöre ich dich: Sprich noch einmal mit Ragok. Mach ihm klar, dass er sein Leben - und das all derjenigen, die in Treue zu ihm stehen - gefährdet, wenn er nicht mit uns zu der großen Wanderung aufbricht!«

Zakaan wich ein Stück vor diesen Worten zurück. »Das kann ich nicht«, flüsterte er dann. »Und du weißt es! Ragok würde eher sterben, als seinem verräterischen Bruder zu folgen!«

»Und dafür lieber seinen Tod in Kauf nehmen? Und den der ihm anvertrauten Menschen?« Abdurezak schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Das darf nicht sein!«

»Und doch ist es so ...« Zakaan machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber noch sind wir nicht tot. Die Stammväter werden mir einen Weg weisen, wie wir die Dürre überstehen können.«

»Mach dir doch nichts vor!« Abdurezak deutete auf den Fluss hinter Zakaan, auf dessen anderer Seite vor Ewigkeiten eine Todessyre gestanden hatte. »Dort fließt schon lange kein Wasser mehr. Die Wiesen und Felder sind ausgetrocknet. Und es gibt kaum noch jagbares Wild. Wie lange, glaubst du, werdet ihr das noch überstehen können, Bruder?«

»Eine Ewigkeit, wenn es sein muss, Bruder«, antwortete Zakaan. »Denn die Götter sind mit uns.«

Abdurezak starrte ihn schweigend an, sein Gesicht verfinsterte sich zunehmend. »Du selbst hast uns vorhergesagt, dass wir das Land unserer Vorväter finden müssen, wenn wir die Dürre überstehen wollen.«

Zakaan nickte. »Ja, das habe ich«, sagte er mit erstickter Stimme. »Aber das entbindet mich nicht des Eides, den ich Dragosz’ Bruder gegenüber geleistet habe. Ich werde Ragok folgen. Und wenn es sein muss, auch in den Tod, und sogar darüber hinaus.«

Abdurezak starrte ihn schweigend an. »So soll also ein tödlicher Zwist unter zwei anderen Brüdern dafür sorgen, dass auch wir uns nach all der Zeit entzweien?«

Zakaan hätte darauf geantwortet, wenn er es gekonnt hätte. Aber die Worte blieben ihm im Hals stecken.

»Alles, was ich tun konnte, war, hier und jetzt einen offenen Kampf zu verhindern«, fuhr Abdurezak fort. »Alles, was ich tun kann, ist, die verfeindeten Parteien zu trennen. Für alles andere musst du selbst sorgen.«

Zakaan rang um Worte. »Dann leb wohl, Bruder«, sagte er schließlich. »Und lass uns darauf hoffen, dass wir uns bei der nächsten Begegnung nicht mit dem Schwert in der Hand gegenüberstehen!«

Abdurezak schüttelte den Kopf. »Niemals! Niemals werde ich zulassen, dass sich Brüder und Schwestern mit dem Schwert bekämpfen!«

»Nein«, flüsterte Zakaan. »Auch ich werde das niemals zulassen!«

Es war nicht mehr das Gesicht Abdurezaks, in das er starrte. Es war das der Todessyre. Und zum ersten Mal zeichnete sich so etwas wie ein zufriedenes Lächeln auf ihren Zügen ab. »Die Vergangenheit«, sagte sie, »die Zukunft. Die Gegenwart. All das vermischt sich.«

»Ja.« Zakaan hätte genickt, wenn er es noch gekonnt hätte. Aber das war nicht der Fall. Sein Körper fühlte sich nicht mehr einfach nur schrecklich alt an, sondern uralt, wie der eines Mannes, der längst seine eigene Lebensspanne überlebt hatte. Er wusste, was diese Empfindung bedeutete, ebenso wie die Schwäche und die Verwirrung, die mit ihr Hand in Hand gingen. Das Fleisch der Götter forderte seinen Tribut. Es saugte seine Lebenskraft aus. Jeder Atemzug, den er länger in Trance verharrte, würde ihn dem endgültigen Zusammenbruch näherbringen.

Also musste er die Trance abbrechen. Sofort. Sonst war er verloren.

Und dennoch zögerte er. Zakaan hätte sich auf das Trommeln und Murmeln seiner Begleiter konzentrieren können, auf das gleichmäßige An- und Abschwellen ihrer rituellen Begleitung, er hätte versuchen können, sich mit ihrer Hilfe von der Trance zu lösen, um wieder in die Leichtigkeit zurückzukehren. Aber das wollte er nicht. Es wäre ein Fehler gewesen. Es gab noch so vieles, was er in Erfahrung bringen musste.

»Deine Ahnen sind auch die Ahnen deiner Gegner«, fuhr die Todessyre fort, als bemerke sie gar nicht, dass er nahe daran war, ihr ins Reich des Todes zu folgen. »Und das ist es, was du endlich begreifen musst!«

»Was ...«, brachte Zakaan mühsam hervor. Er spürte, wie er nach vorne zu sacken drohte, und riss sich mit äußerster Willensanstrengung zusammen. »Was muss ich begreifen?«

»Dragosz ist nicht dein Gegner«, sagte die Todessyre. »Und schon gar nicht dein Bruder.«

»Natürlich nicht.« Warum auch sollte Abdurezak sein Feind sein? Nur, weil er zu Dragosz hielt? Das war kein Grund, so etwas wie Feindschaft für ihn zu empfinden.

»Dragosz war wie ein Sohn für dich«, fuhr die Todessyre fort. »Und das war er auch für Abdurezak.«

Es dauerte eine Weile, bis Zakaan die Worte verstand. »Was heißt das?«, fragte er mit brüchiger Stimme. »Warum spricht du in der Vergangenheit? Warum sagst du, dass Dragosz wie ein Sohn für uns war? Das ist er doch immer noch!«

Das Licht schien vor ihm zu fliehen, und die blühenden Blumen ließen die Köpfe hängen, das Zwitschern der Vögel klang plötzlich nicht mehr fröhlich, sondern bedrohlich. Tod, dachte Zakaan entsetzt. Das bedeutet: Tod! Deswegen war ihm auch die Todessyre erschienen. Nicht, um ihn mit sich ins Totenreich zu nehmen - sondern weil sie von dort eine schaurige Botschaft für ihn mitbrachte.

»Soll das etwa heißen ...« Seine Stimme versagte, und die zarte, mädchenhafte Gestalt sowie der ganze Wald begannen vor seinen Augen zu flackern, »soll das etwa heißen, dass ...«

»Dragosz tot ist?« Die Todessyre nickte. »Allerdings. Er ist gestorben, weil die Ahnen seinen Tod erzwingen mussten. Dragosz hätte sonst alles zerstört und alles vernichtet, was die lange Ahnenkette vor ihm aufgebaut hat.«

Zakaan spürte, wie ein bitterer Kloß in seiner Kehle hochstieg. Der Ort, von dem aus er in dieses Zwischenreich hinübergeglitten war, war kein Halt mehr für ihn, nichts, wohin er wieder zurückkehren wollte. Zumindest nicht, wenn es stimmte, dass Dragosz tot war.

»Was redest du da von den Stammvätern?«, fragte er scharf. »Die Stammväter weisen uns den rechten Weg. Sie verderben doch nicht die ihren!«

»Ja«, sagte die Todessyre, »aber die Ahnen weisen all ihren Nachfahren den Weg. Und jetzt ist ein Punkt gekommen, wo sich die Linien im Streit kreuzen. Und an dem derjenige weichen muss, der Schuld auf sich geladen hat.«

Zakaan wartete darauf, dass die Todessyre weitersprach. Aber das tat sie nicht. So blieb ihm nichts anderes übrig, als selbst weiterzudenken und weiterzuempfinden - ganz für sich allein, und mit all der Last seines Alters und seines Wissens.

»Die Linien von Ragok und Dragosz haben sich bereits im Streit gekreuzt«, sagte er schließlich, als die Stille beinah unerträglich geworden war. »Und jetzt könnte es zu einem schlimmen Kampf zwischen uns und unseren Brüdern und Schwestern kommen. Ist es das, was du meinst?«

»Ja. Und nein.« Die Stimme der Todessyre war kaum noch zu verstehen. »Der Ursprung des Streits liegt viel länger zurück. Es begann in einer Zeit, als die Werkzeuge aus Knochen und Steinen bestanden.«

Eine sanfte Bö nahm ihre Stimme mit und zerriss sie in kleine Fetzen, sodass Zakaan Mühe hatte, den Sinn zu erfassen.

»Steine und Knochen.« Er nickte. Ja, hauptsächlich daraus hatten die Ahnen ihre Werkzeuge gefertigt. Kupfer oder gar Bronze hatten sie noch nicht gekannt. »Aber welcher Streit kann damals begonnen haben - und heute neu aufleben?«

»Dragosz hielt das Werkzeug in der Hand«, antwortete die Todessyre rätselhaft. »Aber mit seinem Tod ist es ihm entglitten.«

»Welches Werkzeug?«, fragte Zakaan alarmiert. Und als die Todessyre nicht gleich antwortete, setze er nach. »Ein Werkzeug aus Stein und Knochen?«

»Nein.« Durch die Todessyre ging ein Flackern, und es sah aus, als werde sich das luftige Wesen schon im nächsten Augenblick vollkommen auflösen. »Es besteht aus Kupfer, Zinn und Gold. Und es enthält die ganze Weisheit Urutarks.«

Zakaan schwankte. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte das Gleichgewicht verloren. »Die Himmelsscheibe«, flüsterte er. »Du meinst also, dass letztlich die Himmelsscheibe Dragosz zum Verhängnis geworden ist ...«

»Nicht die Scheibe selbst ist Dragosz zum Verhängnis geworden«, berichtigte ihn die Todessyre. »Sondern sein Verlangen nach der Heilerin Surkija, dem Weib seines Bruders. Er hat die Frau begehrt und sich die Heilerin genommen - und damit den Bruch einer Gemeinschaft heraufbeschworen, die zuvor fester gefügt war als Zinn und Kupfer, wenn sie zur Bronze verschmolzen sind.«

»Aber welches Geheimnis hütet die Himmelsscheibe nun wirklich? Und was hat das mit Dragosz zu tun?«

Die Todessyre schien ein Stück in sich zusammenzuschrumpfen. Zakaan merkte es kaum. Er war so aufgewühlt wie schon lange nicht mehr.

»Dragosz verbindet alles miteinander«, sagte das rätselhafte Wesen. »Er verbindet die Vergangenheit und die Zukunft. Er verbindet auch die verschiedenen Blutlinien. Und er öffnet das Tor zum Leben.«

»Aber ich denke, Dragosz ist tot!«, erwiderte der Schamane.

Durch das rätselhafte Wesen - das ihm vielleicht auf eigenen Wunsch hin erschienen war, vielleicht aber von den Stammvätern geschickt worden sein mochte, um ihn auf irgendetwas längst Vergessenes aufmerksam zu machen - ging erst ein Zittern, und dann flackerte es auf und glitt so schnell in den Wald zurück, dass es nur noch als vager Umriss zu erkennen war.

»Aber was bedeutet es, dass Dragosz die Blutlinien miteinander verbindet?« Zakaans Stimme überschlug sich jetzt fast. »Was hat das zu bedeuten? Sag es mir! Ich muss es wissen!«

Es war ganz verkehrt, eine Todessyre anzuschreien, falsch und töricht. Aber Zakaan konnte die Worte nicht mehr zurückholen, die ihm wie ohne sein Zutun entschlüpft waren, und erst recht konnte er die Erregung nicht verbergen, die ihn gepackt hatte.

»Du hast Ragoks ältesten Sohn in den Tod geschickt«, wirbelten die Worte der Todessyre fast unverständlich heran. »Lexz soll Ragoks Rache vollziehen. Doch das ist der falsche Weg. Das ist immer der falsche Weg. Rache führt nie zu etwas. Dadurch kann niemand sein Lebensglück erzwingen, und schon gar nicht wird Lexz in der Lage sein, Nakur dadurch wieder zum Leben zu erwecken. Sondern ganz im Gegenteil: Wenn er nicht aufpasst, wohin er seinen Fuß setzt, wird er seinem Bruder schon sehr bald ins Totenreich nachfolgen.«

Die Stimme war kaum verständlich, ihr Sinn dafür umso mehr.

»Lexz ist in Gefahr?« Der Schamane hatte das Gefühl, nun komplett den Halt zu verlieren. Lexz war nicht nur Ragoks einzig verbliebener Sohn, er war viel, viel mehr. Zakaan ahnte schon seit Langem, dass Lexz gewaltige Prüfungen bevorstanden und er sie vielleicht nicht bestünde. Aber das alles spielte im Augenblick keine Rolle.

Wenn Ragok die Vergangenheit war, dann war sein Sohn Lexz die Zukunft. Und wenn es etwas noch Wichtigeres gab, als der Vergangenheit treu ergeben zu sein, dann, der Zukunft alle Tore zu öffnen.

»Lexz ist in Gefahr«, bestätigte die Todessyre. »Er ist sogar in großer Gefahr. Denn das Geheimnis, das er aufdecken will, vernichtet all die, die sich ihm öffnen.«

Die Worte brannten sich fast Zakaan ein. Sie klangen widersinnig, kaum verständlich. Aber sie berührten den Schamanen tief in seinem Innersten ...

»Sag mir, wie ich ihm helfen kann!«

Nun geschah genau das, was er befürchtet hatte: Die Todessyre zog sich so schnell zurück, wie sie gekommen war. Aber sie verschwand nicht einfach, sie verschmolz mit dem Wald - und riss dabei ihre ganze Umgebung mit in einen Strudel, der alles aufsaugte, die Wiese, die Sträucher, den Himmel. Zakaan schlug die Hände vors Gesicht, unfähig mit anzusehen, wie sich die geheime Welt auflöste, in die er mit Hilfe des Rauchkrauts und der geheimen Pilzmischung eingetaucht war.

Und Zakaan schrie auf, als er begriff, was das für Lexz bedeutete ...

Kapitel 3

Lexz war wütend. Es war eine Wut, die sich tief aus dem Inneren speiste, aus der Quelle der Kraft, die den Krieger ausmacht und ihn befähigt, jede Form von Schmerz und Qual auszuhalten und an dem Ziel festzuhalten, das, einmal gesteckt, ihn immer weiter antrieb: bis er entweder dieses Ziel erreicht hatte oder tot war.

Seine Füße flogen geradezu über den Waldboden, trampelten über Insekten und Ameisen, knickten Halme, rissen dünne Zweige ab. Seine Hände wischten dürres Geäst beiseite, verscheuchten Schmetterlinge und Mücken und rissen eine Schneise in Ranken und Gestrüpp, wo immer das nötig war. Sein Herz schlug hart und gleichmäßig. Von seiner Stirn stoben Schweißperlen davon.

Die Schmach über das, was Dragosz seinem Vater angetan hatte, saß tief. Es war ein Schmerz wie der einer alten Verletzung, den man noch so oft bis an den Rand der Wahrnehmung verdrängen konnte, und der doch immer wieder hervorbrach: und dies meist dann, wenn man ihn am wenigsten erwartete.

Sein Vater war ein harter Mann, der ihn und alle anderen so heftig antrieb, als hänge ihrer aller Leben davon ab, dass jeder Einzelne jeden Tag Höchstleistungen vollbrachte. Lexz hatte ihn oft verdammt und alles versucht, um seinen übertriebenen Anforderungen so weit wie möglich zu entgehen - was meist vergebens gewesen war, denn Ragok war nicht nur unerbittlich, er besaß auch das Geschick, jede noch so kleine Verfehlung oder Nachlässigkeit zu bemerken. Jetzt aber begann er zu begreifen, dass die Alte Geierkralle, wie ihn einige Frauen hinter seinem Rücken nannten, recht gehabt hatte.

Die Dürre, die sie gezwungen hatte, ihre einst fruchtbaren Wiesen und Wälder zu verlassen, weil ihre Ernte vertrocknet und jeder Bach versiegt war, schien wie ein Fluch über sie gekommen zu sein. Sie hatten alles versucht, um in ihrer Heimat zu bleiben. Aber nachdem auch noch das letzte kümmerliche Bächlein ausgetrocknet war, die letzten saftlosen Beeren verzehrt und nicht nur der letzte Höhlenlöwe, der letzte Hase, sondern sogar auch noch das letzte Eichhörnchen erlegt worden war, wie er sich voller Ingrimm erinnerte, war ihnen gar nichts anderes übrig geblieben, als nach Westen aufzubrechen, dorthin, wohin ihnen die Stammväter den Weg gewiesen hatten.

Lexz keuchte laut auf, als er sich an die Feuerwalze erinnerte, in die sie zu Beginn ihrer Wanderung hineingelaufen waren. Er sprang über einen Stein, der ihm im Weg lag, duckte sich unter einem ausladenden Zweig hinweg und schlug so hart mit der flachen Hand gegen den Stamm einer ausladenden Ulme, dass ein scharfer Schmerz durch seinen Unterarm jagte.

In den ersten drei Tagen waren sie gut vorangekommen, aber dann war es nicht nur ein ständiger Brandgeruch gewesen, der ihm von Ferne in die Nase gestiegen war, sondern auch beißender Rauch. Sie hatten versucht, ihn so gut es ging zu umgehen, und Lexz erinnerte sich daran, wie auch damals schon eine Mutter neben ihrem fünfjährigen Kind zusammengebrochen war und sich nicht mehr rührte, als der Schamane sie an der Schulter gepackt hatte ...

Das war der Anfang vom Untergang gewesen.

Lexz duckte sich unter einem ausladenden Zweig hinweg, und zwei, drei kleine bunte Vögel stoben auf und flatterten unter wildem Geschnatter davon, von einer großen schweren Amsel gefolgt ...

Der Anblick des schwarzen Vogels traf Lexz wie ein Messerstich. Er erinnerte ihn schmerzhaft an die Vögel, die am vierten Tag ihrer Wanderung über ihren Köpfen hinweggezogen waren: wie die Vorboten eines von den Göttern verhängten Strafgerichts. Zum Schluss waren es schwarze Vögel gewesen, dick und sattgefressen, die ihren Weg gekreuzt hatten, Raben, wie der Schamane erklärt hatte. Und als er dann einen mit einem Pfeil vom Himmel hatte holen wollen, war plötzlich der Schamane neben ihm gewesen.

»Tu das nicht«, hatte Zakaan befohlen. »Raben sind Unglücksvögel.«

»Dann ist es doch umso besser, wenn ich sie töte«, hatte Lexz widersprochen, und einen Pfeil auf die Sehne des kostbaren Bogens gelegt, den er damals noch besessen hatte.

»Bei Ygdra, nein!« Der Schamane war ihm regelrecht in den Arm gefallen. »Wer einen Raben tötet, wird seines Lebens nie wieder froh werden!«

Lexz hatte das für übertrieben gehalten, zumal ein paar fettgefressene Vögel vielleicht verhindert hätten, dass nach der jungen Mutter auch noch andere an Entkräftung zusammenbrachen - aber er hatte es nicht gewagt, Zakaan zu widersprechen. Der Schamane stand den Göttern näher als irgendein anderer - sein Wort galt.

Dass die Raben tatsächlich gefiederte Unglücksboten waren, hatte er erst begriffen, als es fast zu spät gewesen war. Dabei war zunächst etwas geschehen, was er sich die ganze Zeit über gewünscht hatte, nachdem ihre Felder und Äcker verdorrt und ihre Teiche ausgetrocknet waren: Das Wild war zu ihnen gekommen, ohne dass sie sich hatten anstrengen müssen. Wie in der wilden Phantasie eines verzweifelten Jägers, der die Spuren von Rehen oder Wildpferden bereits seit Tagen vergeblich verfolgte, hatten sie plötzlich ein Hufgetrappel gehört, das direkt auf sie zuzuhalten schien. Ragok und der Schamane hatten sich mit ein paar schnellen Sätzen verständigt, während sich Lexz, Larkar und die anderen jungen Männer darauf vorbereitet hatten, schnelle Beute zu machen.

Als sein Vater zu ihnen herübergekommen war, hatte ihm Lexz jedoch bereits angesehen, dass etwas nicht stimmte.

»Wir ziehen weiter«, hatte Ragok kurz und knapp befohlen, »aber erst einmal ein Stück in Richtung Süden, in Richtung der Berge. Wir müssen von dem Feuer weg.«

Er hatte nicht viel erklären müssen, denn sie alle hatten gespürt, dass sich die wabernde Hitze wie eine Faust um sie zu schließen begann. In aller Eile waren sie aufgebrochen, mitsamt der wenigen Wasservorräte und Habseligkeiten, die ihnen geblieben waren.

Und obwohl sie kaum Rücksicht auf die Alten und die Kinder genommen hatten, waren sie nicht schnell genug gewesen. Dem Hufgetrappel folgten die ersten versprengten Gruppen von Wildpferden und Rehen, dann kamen Füchse, Dachse und ein riesiger zotteliger Bär, der geifernd und knurrend auf sie zutrabte, kurz vor ihnen aber abschwenkte und wie die meisten anderen Tiere in Richtung des ausgetrockneten Flussbetts davonlief, ohne dass sie ihn verfolgen durften - weil Jagdglück und Feuertod unweigerlich aufeinandergefolgt wären.

Es waren keine großen Rudel gewesen, die ihnen entgegenkommen waren - was ja auch kaum ein Wunder gewesen war, schließlich hatten sie im Bereich mehrerer Tagesreisen alles leergejagt. Aber sie waren voller Panik. Rauch verdunkelte den Horizont, und in der Luft hatte ein ganz merkwürdiger Geruch gelegen: zunächst streng, dann fast beißend, und zum Schluss war da etwas, das alles andere überlagert hatte. Kurz darauf wehte der Wind einen dichten, dicken, schwarzen Qualm heran, wahrscheinlich den Vorboten von etwas viel Schlimmerem, das sie hatte keuchen und verzweifelt nach Luft schnappen lassen.

Sie hatten versucht, ihm mit einem abermaligen Richtungswechsel zu entgehen, und jeder Gedanke ans Jagen oder an ihren beißenden Hunger war wie weggeblasen. Sie wollten jetzt nur fort von dem Flächenbrand, der sich mit atemberaubender Geschwindigkeit auf sie zubewegt hatte. Doch vergeblich. Schon bald hatten die Flammen sie so einzukesseln begonnen, als wollten sie die Götter an Ort und Stelle für Dragosz’ Frevel bestrafen.

Aber vielleicht wollten sie ja nicht nur das. Vielleicht wollten sie ja auch gleich alle Raker auslöschen, weil ihnen die wenigen kargen Opfergaben nicht gereicht hatten, die sie ihnen in letzter Zeit dargeboten hatten.

Lexz’ Erinnerung brach in sich zusammen, als ihn ein einzelner Lichtstrahl traf, harmlos, verglichen mit allem, was ihn an grellem Licht in der letzten Zeit gepeinigt hatte, und doch hell genug, um die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben. Dem einzelnen Lichtstrahl folgten weitere, als er eine Lichtung erreichte, die so voller Leben war, dass es schon fast eine Unverschämtheit bedeutete. Bunte Schmetterlinge stoben auf, Bienen schwirrten zwischen farbenprächtigen Blüten umher, irgendetwas huschte auch zwischen seinen Beinen davon, und überall war ein Summen, Rascheln und Schwirren. Ehe er sich versah, stob ein Heer gieriger Mücken von einem Baum auf, der reich mit im Sonnenlicht glänzenden Früchten beladen war, und jagte auf ihn zu, um ihn gierig zu umschwirren und den einen oder anderen Angriff auf ihn zu starten.

Lexz verzichtete darauf, die Mücken beiseite zu wischen, rannte stattdessen weiter über die saftige Wiese und spürte die kühle, regennasse Luft auf seiner Haut. Er konnte einfach nicht glauben, dass sich ihre Strapazen doch gelohnt haben sollten. Am Ende, als bis auf Zakaan kaum noch jemand daran geglaubt hatte, hatten die Stammväter wohl doch recht behalten, und alles, was ihnen der Schamane über das gelobte Land im Westen berichtet hatte, erwies sich eher als Untertreibung statt als Prahlerei.

Wahrlich, es war eine Wunderwelt, in die er hier eintauchte, ein Ort, wie er ihn sich zusammen mit seinem Waffenbruder Larkar und den anderen jungen Männern immer wieder voller Sehnsucht ausgemalt hatte, wenn sie hungernd und verschwitzt eine viel zu heiße Nacht auf einer leergebrannten Wiese verbracht hatten.

Und ob er es wollte oder nicht, schon wieder stieg Bitterkeit in ihm auf. Im Angesicht der blühenden Natur um ihn herum musste er erneut an die Zeit der schweren Prüfungen denken, die nun hinter ihnen lag. Dass die große Wanderung schon nach ein paar Tagen fast in der fürchterlichen Feuersbrunst geendet hätte, die wie ein unbarmherziges Strafgericht über sein Volk gekommen war, hatte selbst den immer fröhlichen Larkar schließlich zunehmend einsilbig gemacht. Und nun das! Wie recht hatte doch der Schamane mit seinen Ermahnungen gehabt, sorgfältig auf alle Zeichen der Götter zu achten, auf alles, was ihnen Wind, Wolken, Sonne und auch die Erde unter ihren Füßen sagen konnten, und dies sorgfältig mit dem abzuwägen, was die Ahnen von ihnen verlangten: das gelobte Land Urutark im reichen, satten und grünen Westen zu suchen.

Er hatte Dragosz verflucht, als sie bei ihrer Wanderung immer wieder durch Qualm und Rauch gezogen waren, bis sie geglaubt hatten, ersticken zu müssen. Er hatte seinen Namen hasserfüllt hervorgestoßen, als sein jüngerer Bruder Nakur vor Schwäche gestolpert war und sich nicht mehr hatte erheben können. Und er hatte vor Schmerz und Zorn gewimmert, als jener jämmerlich verendet war, obwohl sein Vater und er ihn tagelang durch eine Albtraumlandschaft getragen hatten, bis sie selbst die Kräfte verlassen hatten.

Dragosz!

Verdammnis über die Seele des Mannes, der ihm seinen Bruder genommen hatte!

Sein jüngerer Bruder war nicht der Erste gewesen, der auf ihrer großen Wanderung einen jämmerlichen Tod gestorben war, und schon gar nicht der Letzte. Die Umstände waren einfach gegen sie gewesen, und das vielleicht nur, weil sie viel zu viele Tage gezögert hatten, Dragosz zu folgen, und stattdessen ihr altes Leben hatten bewahren wollen. Dafür waren sie von den Göttern bestraft worden, als seien sie die Sünder, und nicht der, der die Werte ihrer Gemeinschaft in den Dreck getreten hatte.

Tagelang hatten sie verkohlte Tierkadaver vorgefunden, verbrannte Siedlungen und entstellte Leichen - aber nichts Essbares und nur selten brackiges, kaum genießbares Wasser. Als sie dann Tage später mit dem ersten Grün auch auf die ersten lebenden Menschen gestoßen waren, war schließlich das entbrannt, was ihr Leben von da an bestimmen sollte: der Kampf um jagdbares Wild, um Fischgründe und Kornkammern. Hitze und Dürre waren ihnen dabei wie ein mordlüsternes Bruderpaar gefolgt, und so sehr es sie auch beschämen mochte: Im Überlebenskampf waren sie selbst zu Mördern und Totschlägern geworden.

Sie waren keine Eroberer, die kamen, um zu verheeren und zu töten: Aber es war ihnen seit dem letzten Sommer kaum etwas anderes übrig geblieben, als sich wie Barbaren zu verhalten, wenn sie ihre Familien schützen wollten. Der Winter war hart gewesen, und von den drei Frauen, die Kinder zur Welt gebracht hatten, waren zwei gestorben. Von den Kindern aber hatte kein einziges überlebt.

Wachsende Wut, brodelnder Hass, das war die einzige Reaktion, die Dragosz dafür verdient hatte. Er hatte seinem Vater alles genommen, und damit auch allen, die zu ihm gehalten hatten. Als Jüngstgeborener war es sein Recht gewesen, die Führung über sein Volk zu übernehmen - doch seinem mehr als zehn Sommer älteren Bruder hätte ein Platz an seiner Seite gebührt. Schlimmer noch, es hatte eine alte Verabredung zwischen Ragok und Dragosz gegeben, die Raker gemeinsam in bessere Zeiten zu führen. Dragosz hatte diese Verabredung wie einen alten, trockenen Zweig gebrochen. Er war zu keiner gemeinsamen Lösung durch eine Vermittlung des Ältestenrates und des Schamanen bereit gewesen. Er hatte noch nicht einmal zu verstehen versucht, warum sein Vater und ein Großteil ihres gemeinsamen Volkes nicht mit ihm ziehen wollten. Er war auch zu keiner Geste der Demut oder gar der Einsicht bereit gewesen. Und damit hatte er indirekt sogar das Todesurteil über seinen Neffen Nakur gefällt, den einzigen Bruder von Lexz, mit dem er sich stärker verbunden gefühlt hatte als mit jedem anderen Menschen.

Dafür verdiente er die härteste Strafe, die die Stammväter für diese Fälle vorgesehen hatten.

Den Opfertod.

Ein Zweig peitschte in Lexz’ Gesicht, dann riss der Ausläufer eines Astes einen blutigen Streifen in seine Wange, und nur wenige Schritte weiter drohten sich seine Füße in einem Dornengebüsch zu verfangen. Keuchend hielt er an. Der Bereich des Waldes, in den er gerade wie besinnungslos gelaufen war, wirkte dichter und dunkler als der Teil, den er vor der Lichtung durchquert hatte. Das war gar nicht gut. Immer wieder hatte der Schamane von ihm verlangt, er solle sich nicht von seiner Wut zu etwas hinreißen lassen, was er später bereuen konnte.

Es wurde Zeit, dass er zur Besinnung kam. Schließlich war er hier nicht allein. Vor zwei Tagen hatte er mit Larkar am Feuer gesessen und darüber gesprochen, welche Route sie wählen sollten, um die Gegend zu erkunden, in der Dragosz zusammen mit seiner Horde Abtrünniger eine neue Heimat gefunden haben sollte. Larkar und er waren nicht nur gleich alt, sie waren auch unzertrennlich: Larkar, der Speerträger, und Lexz, der Bogenschütze. Wie oft sie sich schon gegenseitig das Leben gerettet hatten, hätte Lexz gar nicht mehr sagen können.

Beim letzten Mal war es Larkar gewesen, der Lexz in einem Kampf gegen mehrere Männer beigesprungen war. Er hatte einen von ihnen mit seinem Speer aufgespießt und einem anderen den Ellbogen so heftig ins Gesicht gestoßen, dass er blutüberströmt zurückgetaumelt war. Lexz hatte aus den Augenwinkeln gesehen, wie ein dritter Mann mit gezogenem Schwert von hinten angegriffen hatte, und er hatte versucht, dazwischenzugehen: aber zu spät. Der Kerl hatte Larkar das Schwert in den Leib rammen wollen, und als dieser im allerletzten Augenblick noch zurücksprang, hatte jener wenigstens einen vernichtenden Streich gegen seine Beine geführt.

Seitdem humpelte Larkar.

Und das war auch der Grund, warum er jetzt nicht an seiner Seite war.

»Verdammt!« Lexz fuhr herum und starrte so weit zurück, wie er es konnte - was nicht sehr weit war, denn die Bäume standen hier dicht und ihre Äste und Zweige bildeten ein natürliches Spalier, das er zwar mühelos hatte durchbrechen können, das ihm jetzt aber die freie Sicht nahm.

Niemand war zu sehen, natürlich nicht. Der dicke Torgon war zwar wesentlich schneller, als seine Körperfülle vermuten ließ, und Sedak und Ekarna konnten es im Laufen auf freier Strecke durchaus mit ihm aufnehmen - aber schließlich bestimmte Larkar, der humpelnde Speerträger, das Tempo der Gruppe.

»Larkar!«, rief Lexz so laut, dass es ihn beinahe selbst erschreckt hätte, »wo bist du?«

Irgendwo raschelte es, als ein Tier davonstürmte, als habe es Angst, er könne es mit seiner Stimme erlegen. Und von den Zweigen einiger nahe stehender Bäume stob etwas auf, das fast wie eine Schar Fledermäuse aussah. Ärgerlich ballte Lexz die Faust. Vorzulaufen war schon ein Fehler gewesen, und quer durch den Wald den Namen seines Freundes zu rufen, als könne hier kein anderer unterwegs sein als sie selbst, das war ein zweiter und wahrscheinlich sogar noch größerer Fehler gewesen.

Was, wenn Dragosz’ Leute gehört hatten, wie er einen der üblichen Raker-Namen in das Dickicht hineinbrüllte? Dann wussten sie nicht nur, dass hier jemand außer ihnen im Wald unterwegs war, sondern gleich auch noch, dass es Raker waren - und den Rest konnten sie sich dann denken. Großartig.

Torgon, der von seinem Vater zu so etwas wie seinem Aufpasser bestimmt worden war, würde ihm die Ohren dafür langziehen. Und das zu Recht. Dragosz und seine Leute durften auf keinen Fall wissen, dass sie ihnen auf den Fersen waren. Lexz konnte sich lebhaft vorstellen, was geschehen würde, wenn sein Vater davon erfuhr.

Aber vielleicht hatte ihn ja niemand gehört. Dann würde ihn Torgon nur für seinen unbeherrschten Waldlauf schelten. Und Lexz würde das einmal mehr über sich ergehen lassen und sich dabei zum wiederholten Mal fragen, wie es der Dicke trotz größter Hungersnot bis auf den heutigen Tag geschafft hatte, seine Leibesfülle fast auf dem alten Stand zu halten - und ob er nicht mit einer entsprechenden Anspielung von seinem Leichtsinn ablenken konnte.

Lexz’ Wut war noch nicht ganz verraucht, das konnte sie auch gar nicht sein, dafür saß sie viel zu tief. Aber immerhin hatte er sich weit genug beruhigt, um seine Erregung wieder einigermaßen im Griff zu haben. Eigentlich hätte er den anderen entgegenlaufen müssen, aber das hätte bedeutet, Fehler zugeben zu müssen, die ja vielleicht doch vollkommen bedeutungslos waren. Und es war gegen seine Natur. Besser, er wartete hier ab, bis die anderen zu ihm aufgeschlossen hatten, und versuchte in der Zwischenzeit herauszubekommen, ob sie überhaupt noch in der richtigen Richtung unterwegs waren: Dann konnte er immerhin behaupten, er wäre vorausgelaufen, um den kürzesten Weg aus dem Urwald heraus zu finden.

Er legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben. Ganz so, wie er erwartet hatte: Der Himmel war von hier aus kaum zu sehen, und damit auch nicht die Sonne, an deren Stand sie sich im freien Gelände zuverlässig hatten orientieren können. Sie mussten weiter nach Norden, in die Richtung, in der irgendwann einmal das große Meer kam, da waren sie sich sicher. Irgendwo zwischen ihnen und dem Meer musste dann die Seenplatte beginnen, zu der Dragosz in der Hoffnung geflohen war, ihnen damit dauerhaft entgehen zu können. Aber da kannte er Ragok schlecht. Die Alte Geierkralle würde ihre Klauen in sein Fleisch schlagen und ihn für das büßen lassen, was er mit dem Verrat an seinem eigenen Volk ausgelöst hatte: den Tod so vieler Menschen während der Wanderung.

Und auch den seines jüngsten Sohnes!

Der Blick nach oben gab Lexz’ Wut neue Nahrung. Regen, das war alles, was sie gebraucht hätten. Der Schamane hatte alles getan, was er hatte tun können, jeden Zauber beschworen, jeden Flehspruch tausendmal gesprochen, sich selbst gegeißelt, bis sein Rücken eine einzige blutige Masse war. Anschließend hatte Zakaan die großzügigen Opfergaben der Gemeinschaft in aller Feierlichkeit dem heiligen Feuer übergeben, und sie alle zusammen hatten die Göttin der Fruchtbarkeit angefleht, sie doch endlich zu erlösen. Sie hatten das Feuer umtanzt, in dem ihr letztes Schwein als Opfergabe an Asad und Ygdra in sich zusammenschmolz. Das Fett war ins Feuer getropft, das brennende Fleisch hatte seinen starken Geruch verströmt, und sie waren fast wahnsinnig vor Hunger geworden ...

Und während dieser ganzen Zeit waren die Regenwolken hierhin gezogen, und hatten ihre schwere Last über diesem Teil des Landes abgeliefert? Hatte die mächtige Göttin der Fruchtbarkeit von Anfang an nichts anderes vorgehabt, als den Haufen verzweifelter, hungernder Menschen zu verhöhnen, die sie inständig um das lebenspendende Nass angefleht hatten?

Lexz ballte die Hände so heftig zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervorstachen. Dragosz. Es war alles Dragosz’ Schuld. Er hatte etwas Schreckliches getan, und Asad hatte sein Volk für diesen Frevel bestraft.

Aber warum hatten die Götter dann nicht gleich Dragosz und die Abtrünnigen zerschmettert, die sich auf seine Seite geschlagen hatten? Diese eine Frage hatte Lexz seinem Vater so oft hingeschleudert, bis er eine Antwort bekommen hatte: »Weil sie uns prüfen wollen, mein Sohn. Weil nicht sie es sein werden, die Dragosz richten, sondern wir. Wir werden Dragosz und seine Brut finden, und sie werden die Strafe erhalten, die sie verdienen. Und das nicht nur für Dragosz’ Verrat - sondern für jeden einzelnen Toten, den wir auf der großen Wanderung zu beklagen hatten.«

»Und für Nakurs Tod!«

»Ja.« Ragoks Stimme hatte wie das Knurren eines angreifenden Höhlenlöwen geklungen. »Er wird für Nakurs Tod bezahlen - da kannst du sicher sein! Wir werden ihn und seine Brut aus Urutark vertreiben. Und dann werden wir dort leben und das Gesetz unserer Stammväter erfüllen. Und noch unsere Kindeskinder werden von der großen Wanderung in das Land der Vorväter erzählen. Unsere Heldentaten werden auf ewig leben!«

Das hatte Ragok der Bezwinger gesagt, ohne wissen zu können, ob Dragosz Urutark tatsächlich vor ihnen erreicht hatte - und ohne das üppige Grün und die wild wuchernden Pflanzen und Triebe hier zu sehen, die Lexz wie blanker Hohn erschienen, je tiefer er in den Urwald eindrang. Ragok konnte sagen, was er wollte, er konnte von künftigen Heldentaten erzählen, über die ihre Nachfahren einmal schwärmen mochten - das alles war doch nur eine billige Entschuldigung für die unfassbare Ungerechtigkeit, die ihnen widerfuhr! Nicht Ragok hatte den alten Schwur zwischen den Brüdern gebrochen, sondern Dragosz, der alte Bock, der seine Hände nicht von der Auserwählten seines Bruders hatte lassen können.

Ragok und Surkija waren einander seit Ewigkeiten versprochen gewesen, der wagemutige junge Krieger und die Tochter der Heilerin. Doch dann hatte sich Dragosz an Surkija herangemacht und sie so lange umgarnt, bis sie seinem Werben schließlich nachgegeben hatte. Wie hatte er nur glauben können, dass die Götter diesen Frevel so einfach hinnahmen?

Lexz’ Hand öffnete und schloss sich mehrmals hintereinander, wie im Krampf. Die Blätter und Nadeln der Bäume hier waren satt und grün, ganz anders als in den übrigen Teilen des Landes, durch das ihr beschwerlicher Weg sie geführt hatte, wo jeder einzelne Baum, jeder Strauch und jede Pflanze Spuren der großen Dürre aufwies, wenn nicht ohnehin schon alles verdorrt und vertrocknet war. Der Anblick wurde von Atemzug zu Atemzug unerträglicher für ihn. Heftige Wellen der Wut und Empörung stiegen erneut in ihm auf und drohten jeden Gedanken an Mäßigung und Besonnenheit mit sich zu reißen. Urutark. Das Land ihrer Ahnen. Dragosz hatte seinen Getreuen geschworen, sie dorthin zu führen: und damit in ein sattes, unbeschwertes Leben. Wenn das stimmte, was der Kundschafter ihnen erzählt hatte, dann musste er es tatsächlich gefunden haben. Was für eine Ungerechtigkeit! Warum taten ihnen die Götter das nur an?

»He!«, hörte er eine Stimme hinter sich. »Warte auf uns!«

Lexz zuckte zusammen und drehte sich dann um. In seiner Empörung war er so schnell gelaufen, dass die anderen offensichtlich alle Mühe hatten, zu ihm aufzuschließen. Drei Männer und eine Frau hatte ihm sein Vater mitgegeben, eine kleine, aber schlagkräftige Truppe, die kampferprobt und durch die Strapazen der letzten Zeit abgehärtet war. Auch wenn er zuerst am liebsten allein losgezogen wäre, um Dragosz’ Lager auszukundschaften, war er jetzt mehr als froh, die alten Freunde zu sehen, mit denen zusammen er schon mehr als eine gefährliche Situation gemeistert hatte.

Als Erster tauchte der dicke Torgon auf, wie sie alle mit schwarz angemalten Augen und bedrohlich wirkender Kriegsbemalung. Er walzte wie ein Auerochse durchs Unterholz, schlug beiseite, was er mit seinen fleischigen Händen erreichen konnte, und knallte mit dem Kopf das weg, was übrig blieb. Kurz dahinter brach Ekarna durch das Gebüsch, dünn wie eine Bohnenstange und mit ungewöhnlich langen Zähnen, die sie schon mehr als einmal in das Fleisch eines Gegners geschlagen hatte, was Lexz innerlich erschauern ließ - dies hätte er allerdings niemals zugegeben. Im Zweifelsfall hätte er sich lieber mit Torgon als mit der Raubkatze angelegt, wie man sie hinter ihrem Rücken nannte.

Wer die beiden auf seiner Spur durchs Unterholz brechen sah, konnte meinen, dass es ein einfältiges Waldläuferpaar sein mochte, das sich von jeder Höhlenhyäne austricksen ließ. Dies wäre aber ein fataler Fehler gewesen. Ekarna hatte das Zeug zur Heilerin, was viel bedeutete, denn die Heilerinnen konnten es im Wissen um die menschliche Natur und die Geheimnisse des Lebens mit jedem Schamanen aufnehmen. Torgon dagegen war bislang nicht nur im Zweikampf unbesiegt geblieben, sondern hatte mit seinem scharfen Verstand auch schon mehr als einmal einen Ausweg aus einer scheinbar hoffnungslosen Situation gewusst.

Das Wichtige für seinen Vater aber war: Die beiden zeigten sich ihm treu ergeben. Und sie würden ihr Leben opfern, wenn Lexz in eine ernsthafte Bedrängnis geraten sollte. Genau das hatten sie auch geschworen, bevor der Schamane begonnen hatte, ihnen die traditionelle Bemalung derer aufzutragen, die für ihr Volk in den Kampf zogen. Während er ihnen die schwarze Farbe um die Augen herum aufgemalt hatte, die Ruß zwar ähnelte, aber viel süßlicher roch, hatte Torgon gespottet, dass Larkar nun überhaupt nicht mehr wie ein Mensch aussah. Das war auch nicht ganz falsch. Nach seiner schweren Verletzung hatte sich der Speer die rechte Hälfte seines Schädels kahl geschoren und seine Haare in einer feierlichen Zeremonie den Göttern geopfert. Anschließend hatte ihm der Schamane einen eigentümlichen Ohrenschmuck angelegt. Dadurch sah Larkar auf eine merkwürdige Weise fremd und bedrohlich aus.

Das gab Torgon aber noch nicht das Recht, über Larkar herzuziehen. Wäre der Schamane nicht gewesen, wären er und Lexz wohl in einen heftigen Streit darüber geraten, während Larkar nur abgewunken und sich ein Stück von ihnen entfernt hatte.

»Lass ihn«, hatte er anschließend zu Lexz gesagt. »Der Dicke weiß es nicht besser. Er ist dem Tod noch nie so nahe gewesen wie ich. Das verändert alles.«

Ja, dachte Lexz bitter. Er ist fast gestorben, nur weil er mir das Leben retten wollte. Und wie danke ich es ihm? Indem ich ihn im Stich lasse.

Ein paar Tropfen benetzten sein Gesicht, und als er aufsah, wurde ihm bewusst, dass sich der Himmel erneut verdunkelt hatte. Vorhin hatten sie Donnergrollen gehört, und irgendwo in der Ferne hatten auch Blitze den Himmel zerrissen: Es war das Zeichen, dass die Götter in Aufruhr waren. Als Kind hatte er die unbeherrschte Kraft ihrer Schöpfer gefürchtet, die Blitz und Donner auf sie herabschleuderten, als wollten sie Menschen und Tiere wieder auslöschen, die sie einmal aus einer Laune heraus aus Lehm und Dreck erschaffen hatten. Doch dann begann er zu begreifen, dass Zakaan vielleicht doch recht hatte: »Sie verwüsten mit Unwettern Landstriche, aber sie spenden mit ihnen auch Leben«, glaubte er die tiefe, knarrende Stimme des Schamanen zu hören. »Tod und Leben sind oft nur eine Handspanne voneinander entfernt. Es obliegt den Menschen, das Beste daraus zu machen.«

Lexz sah das etwas anders, und er zweifelte mittlerweile auch daran, dass Weisheit in all dem lag, was die Götter taten. Aber zumindest jetzt waren sie ihnen wohlgesonnen. Es war kein trockenes und damit brandgefährliches Gewitter, das dort aufzog. Nein, dieses Gewitter war von Ygdra gesegnet. Wenn das Unwetter tatsächlich zu ihnen herüberzog, würde der Himmel alle Schleusen öffnen und das Land unter Wasser setzen.

Als er seinen Blick wieder senkte, waren Torgon und Ekarna schon herangekommen, und in der Ferne glaubte er Larkar zu sehen, der an Sedaks Seite so schnell wie möglich zu ihnen aufschloss.

Lexz setzte dazu an, erneut nach seinem Freund zu rufen, brach dann aber schnell wieder ab und starrte stattdessen dorthin, wo er ihn eben noch zu sehen geglaubt hatte.

Da war es wieder: ein Farnstrauch, der erzitterte, Zweige, die wegknickten, und ein dunkler Schatten, der durchs Unterholz drängte.

»Larkar?«, flüsterte Lexz.

Irgendetwas stimmte da nicht. Larkar bewegte sich doch ... anders. Vorsichtiger, wenn es sein musste, zielgerichteter, wenn es nur darum ging, jemanden schnell einzuholen, der ohnehin schon eine Bresche durch den Wald geschlagen hatte. Und außerdem hatte er die Bewegung nicht in der Schneise wahrgenommen, die erst er selbst und dann vor allem Torgon in den Wald geschlagen hatte, sondern weiter rechts, inmitten dicht stehender Tannen und Fichten.

»Ich weiß ja nicht, wen du in mir siehst, alter Weggefährte.« Torgon tippte auf den schweren Bronzehammer, der in seinem Rindsledergürtel steckte, warf einen Blick in die Runde und wandte sich erst dann Lexz zu. »Aber ich bin Torgon der Hammer. Nicht Larkar der Speer.«

Lexz nickte flüchtig. »Ich weiß. Das ist ja nicht zu übersehen. Aber wo sind Larkar und Sedak?«

»Irgendwo hinter uns«, antwortete Ekarna anstelle des Dicken. Sie wischte sich mit der Hand über den Mund und machte »Bah!« Dann spuckte sie Lexz ein fingernagelgroßes Insekt vor die Füße.

Torgon blickte stirnrunzelnd auf den Boden. »Wie kann man Essen nur so einfach wegspucken?«, fragte er missmutig und wischte sich etwas von der schwarzen Farbe aus dem Gesicht, die von seiner Augenbemalung herabgelaufen war. Dann schüttelte er zur Bekräftigung ein weiteres Mal den Kopf. »Und noch dazu, da diese kleinen Viecher wahre Leckerbissen sind!«

Ekarna beachtete ihn gar nicht. »Ich habe gerade einen Schrei gehört«, der Blick ihrer graugrünen Raubtieraugen bohrte sich in Lexz’ Augen, »es klang fast nach deiner Stimme. Und ich glaube, auch den Namen Larkar verstanden zu haben.«

Lexz zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Ich habe nichts gehört.«

»Nein«, stellte Torgon fest, »weil du selbst der Schreihals warst, nicht wahr?« Plötzlich ließ er die rechte Hand vorschnellen - Lexz dachte schon, er wollte ihm einen Schubser verpassen. Doch stattdessen riss er einen Zweig heran, packte mit der anderen zu - und hielt etwas Zappelndes, Grünes zwischen den Fingern, von dem Lexz gar nicht so genau wissen wollte, was es war.

Ein paar Augenblicke später hätte er es auch nicht mehr sagen können. Denn da war das zappelnde Etwas schon zwischen Torgons fleischigen Lippen verschwunden.

»Man schreit nicht in fremden Wäldern herum«, fuhr Torgon schmatzend fort, schluckte krampfhaft und hustete kurz auf, als bekäme er sonst die Kehle nicht frei von seiner merkwürdigen Zwischenmahlzeit. »Schon gar nicht, wenn Dragosz’ Leute in der Nähe sein könnten.«

»Oder irgendeine Fremde, die eine Himmelsscheibe durch die Gegend schleppt«, ergänzte Ekarna.

»Genau«, schmatzte Torgon. »Ich möchte mal wissen, warum unser Schamane uns eigentlich diese Arianrhod suchen lässt. Selbst wenn sie hier irgendwo wäre, würde sie uns wohl kaum freudig entgegenlaufen, sobald sie uns hört.« Er warf Lexz einen bezeichnenden Blick zu. »Wobei du ja dafür gesorgt hast, dass man uns nicht überhören kann.«

Lexz hatte gerade den Mund geöffnet, um zu sagen, dass er jemanden an einer besonders wenig einsichtigen Stelle des Waldes hatte herumschleichen sehen. Aber ... vielleicht hatte er sich ja auch getäuscht. Oder es war tatsächlich Larkar gewesen, der zusammen mit Sedak irgendetwas entdeckt hatte, das sie aus der Nähe erkunden wollten.

Jedenfalls wäre es unklug gewesen, Torgon jetzt davon zu erzählen. Das hätte das Feuer seiner Empörung über Lexz’ unbedachtes Verhalten nur vollends entfacht. Auf der anderen Seite ... vielleicht wäre es der dritte Fehler, wenn er seine Beobachtung jetzt verschwieg. Denn wenn er sich nicht getäuscht hatte, und tatsächlich ein Fremder dort gewesen war ...

Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, berührten ihn die ersten Tropfen des Regens, der sich die ganze Zeit über schon angekündigt hatte, und Torgon wandte sich ab und sah zurück in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.

»Geht es jetzt endlich los?«, fragte Ekarna hoffnungsfroh und leckte sich einen Tropfen von den Lippen, kaum dass sie sich neben Torgon gegen einen Baum gelehnt hatte.

»Sieht ganz danach aus«, brummte Torgon. Er wandte sich wieder um, und Lexz schien es, als zögere er. Hatte er vielleicht auch etwas entdeckt ... und war sich jetzt - genauso wie Lexz - unsicher, was für eine Art Leben sich in den Tiefen des Waldes verbergen mochte?

Torgon atmete tief aus und schüttelte den Kopf, als wolle er damit zugleich einen störenden Gedanken wegschütteln. »Regen ist ein gutes Zeichen. Der Schamane hat behauptet, dass die Luft voller Feuchtigkeit sein wird, sobald wir uns Urutark nähern.«

»Jedes Kind weiß, was uns Zakaan prophezeit hat.« Lexz ließ die Bäume nicht aus den Augen, zwischen denen er vorhin die Bewegung wahrgenommen zu haben glaubte. »Also lasst uns keine Zeit verschwenden. Suchen wir die beiden anderen - und dann nichts wie raus aus diesem Wald.« Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. »Hier gefällt es mir nicht.«

»Mir auch nicht«, pflichtete ihm Ekarna bei. »Im Dickicht kann sich alles Mögliche verbergen. Und damit meine ich nicht unbedingt eine Fremde mit einer Himmelsscheibe.«

»Über die zu reden ohnehin nicht lohnt, weil sie sich bestimmt bei Dragosz findet, und nicht hier.« Torgon sah sich in allen Richtungen um. »Immerhin müssen wir Larkar nicht entgegengehen. Der klebt doch sowieso immer an Lexz’ Fersen. Er wird gleich hier sein.«

»Der klebt überhaupt nicht an meinen Fersen«, empörte sich Lexz. »Nur, weil wir beide schon so manchen Kampf gemeinsam ausgefochten haben ...«

»Aber seit eurem letzten Kampf humpelt er doch ein bisschen, dein alter Kampfgefährte«, flüsterte Ekarna. »Und da fragt man sich, warum er uns überhaupt begleitet.«

Lexz spürte, wie erneut eine Welle puren Zorns in ihm hochstieg. »Willst du damit etwa sagen, dass Larkar ein Krüppel ist, Raubkatze?«

»Nenn mich nicht Raubkatze!«

»Warum denn nicht?«, gab Lexz zurück. »Das ist doch dein Beiname. So wie der Beiname von Larkar der Speer ist, und nicht der Krüppel ...« Er trat einen Schritt auf das Mädchen zu. »Ich hoffe, das ist dir klar.«

Ekarna erwiderte seinen Blick, und wenn ihre Augen vor Empörung oder Wut gefunkelt hätten, so hätte Lexz das verstanden. Aber es war viel schlimmer. Ihre Augen waren voller Trauer. »Viele gute Männer sind gestorben, und damit sind die alten Regeln auch nicht mehr gültig«, sagte sie so leise, dass er sie kaum verstehen konnte. »Und nur deshalb hat Ragok der Bezwinger zugestimmt, dass Frauen und Krüppel auf einen Erkundungsgang mitgehen können. Aus keinem anderen Grund.«

Lexz öffnete den Mund, um ihr eine wütende Bemerkung entgegenzuschleudern - und schloss ihn dann wieder. Ekarna hatte ja recht. Sie hatten viele Opfer bringen müssen, und zahlreiche gute Männer und Frauen waren gestorben, nicht nur sein über alles geliebter Bruder. Jetzt durften sie nicht mehr wählerisch sein. In den alten Zeiten wäre es undenkbar gewesen, eine Frau auf einen Spähtrupp mitzunehmen - oder auch jemanden, der eine frische Verletzung noch nicht ausgeheilt hatte.

»Und wenn dir so viel an Larkar, dem Speer, liegt«, fuhr Ekarna unbarmherzig fort, »dann solltest du demnächst auf ihn warten, statt wie ein angestochener Auerochse durch den Wald zu stürmen.«

Auch damit hatte sie recht, und diesmal spürte Lexz, wie seine Wut vollends zusammenbrach und etwas anderem Platz machte, für das er keine Worte hatte.

»Ich weiß nicht«, murmelte Torgon. »Ich kenne diese Gegend ja nicht - und ich bin auch keine Wälder mehr gewöhnt, in denen es vor Leben nur so wimmelt. Aber ...«

Ekarna löste ihren Blick von Lexz und atmete tief durch, bevor sie sich umwandte und in die Richtung starrte, in die auch Torgon blickte. »Hast du etwas gesehen?«

»Ja. Nein.« Voller Unbehagen zuckte Torgon mit den Schultern. »Natürlich habe ich etwas gesehen. Der ganze Wald ist ja voller Leben.«

»Du weißt genau, was ich meine«, fauchte die Raubkatze. »Unbedingt müssen wir die Siedlung der Verräter erreichen, bevor uns das Unwetter daran hindern kann.«

»Meinst du denn, es wird tatsächlich noch eines geben?«, fragte Torgon.

Ekarnas Blick wanderte sehnsüchtig nach oben. »Ich wünschte mir, der Regen wäre nicht so schnell vor uns geflohen. Er soll wiederkommen. Ich bin schon lange nicht mehr bis auf die Knochen nass geworden.«

Torgon nickte bedächtig. »Ja, das klingt ganz nach dir. Wahrscheinlich würdest du es noch genießen, wenn man dich in einem See versenkte.«

»Für eine Weile bestimmt«, gab Ekarna zu. »Aber ich habe keine Lust, mit Fischen um die Wette zu schwimmen.«

»Ich auch nicht.« Torgon leckte sich über die fleischigen Lippen. »Fische sind zum Essen da, für nichts anderes.«

Lexz winkte ab, als Ekarna auf Torgons Worte reagieren wollte. »Wir werden Essen im Überfluss haben, und das schon bald.« Er kniff die Augen zusammen. Was, bei Wurgar, war dort hinten los? Knackten da nicht schon wieder ein paar Zweige? »Wir werden erst einmal Dragosz zermalmen«, stieß er hervor. »Wo auch immer wir ihm oder seinen Männern auch begegnen mögen. Das wird die Götter schon besänftigen!«

Ekarna zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob wir den Kampf mit Dragosz wirklich schon jetzt aufnehmen sollten, so erschöpft und ausgelaugt, wie die meisten von uns sind ...«, sie ließ ihren Blick über Torgon schweifen, »na ja, vielleicht nicht alle von uns, aber eben doch die meisten ...«

Torgon sah einem farbenfrohen Schmetterling hinterher, als überlege er, ob der für eine weitere kleine Zwischenmahlzeit tauge, und grinste dann. »Du bist ja bloß neidisch.«

»Unsinn«, widersprach Ekarna. »Ich glaube nur, dass wir nichts übereilen sollten. Wenn wir hier auf üppiges, reiches Land stoßen, dann sollten wir es erst einmal in Besitz nehmen - und später sehen, dass wir wieder zu Kräften kommen, bevor wir über Dragosz herfallen.«

»Üppiges, reiches Land lässt sich nicht so einfach in Besitz nehmen.« Torgon stieß einen kleinen Seufzer aus, als der Schmetterling aus seiner Sicht verschwand. »Es gibt immer irgendjemanden, der Ansprüche daran stellt. Und den muss man erst davon überzeugen, dass man selbst die besseren Argumente hat.« Er klopfte auf den Bronzehammer, der aus seinem gut gespickten Waffengürtel hervorstach, als warte er nur darauf, hervorgezogen zu werden, um auf dem Kopf eines Feindes zerschmettert zu werden.

»Es gibt kein besseres Argument als Hunger.« Ekarna blinzelte Torgon zu. »Oder willst du mir da etwa widersprechen, Dickerchen?«

»Ja, macht euch nur alle lustig über mich«, gab Torgon mürrisch zurück. »Nur weil ich Dinge esse, die kein anderer von euch herunterbekommt.«

»Gegen Insektenlarven und Regenwürmer habe ich ja gar nichts mehr einzuwenden«, bemerkte Ekarna. »Aber gerösteter Krötendung, das ist doch wirklich ekelhaft.«

»Einem knurrenden Magen ist jede Mahlzeit willkommen«, meinte Torgon lakonisch. »Außerdem macht es die Mischung. Oder was hältst du von einer feinen Suppe aus zerstoßenen Vogelhirnen, Rattenschwänzen und Augäpfeln?«

Lexz hatte den immer gleichen Streit zwischen den beiden jetzt nicht verfolgt und war stattdessen ein paar Schritte vorgetreten und drückte ein paar ausladende Zweige auseinander. Er war ein guter Späher und normalerweise durch nichts zu verwirren. Warum wollte es ihm bloß jetzt nicht gelingen, das mit den Augen zu erfassen, was da ein gutes Stück weit entfernt von ihnen geschah? Zakaan hatte ihm beigebracht, wie man Bewegungen durch einen geheimen Ahnen-Zauber verbergen konnte: Und auch, wenn Lexz das selbst noch nie wirklich gelungen war, so bezweifelte er doch nicht, dass es möglich sein musste.

Was nun, wenn sich da jemand an sie heranschlich, der mit seinen Ahnen im engsten Bunde stand - und dadurch tatsächlich in der Lage war, sich selbst seinem wachsamen Blick zu entziehen?

»Gegen Augäpfel habe ich ja gar nichts«, sagte Ekarna. »Aber Rattenschwänze ...«

»Hört doch endlich mal damit auf«, unterbrach sie Lexz ärgerlich. »Ich fürchte, wir haben andere Sorgen, als uns um unseren Speiseplan Gedanken machen zu müssen ...« Er brach ab, als er ein Geräusch zu hören glaubte, das diesmal näher wirkte. Er wirbelte in die Richtung herum, aus der sie gekommen waren.

»Das ist doch ekelhaft, was du alles in dich hineinstopfst«, begehrte Ekarna gerade auf, ohne auf Lexz’ Worte einzugehen. »Und alles nur um dick und fett zu bleiben ...«

»Während andere verhungern?« Torgon nickte ernsthaft. »Aber verstehst du das denn nicht? In der Not muss man versuchen alles herunterzuwürgen, was irgendwie nahrhaft ist, und wenn sich der Magen noch so sehr dagegen sträubt.« Torgon mustere Ekarna mit einem anzüglichen Blick. »Wer das nicht tut, ist selbst schuld, wenn er vor Entkräftung so dürr wie ein dünner Fichtenstamm wird und irgendwann auseinanderbricht.«

»Also, hör mal, das ist ja wohl eine Frechheit, du Vielfraß! Wer auf aufgeblasenen Füßen durch die Welt stampft und mit jedem Schritt einen Fettklecks hinterlässt, sollte den Mund lieber nur beim Essen und nicht beim Sprechen voll nehmen!«

Da war es wieder. Ein leises Knacken, als breche ein Zweig, gefolgt von einem Geräusch, das klang, als werde Gestrüpp unter einem Fuß zusammengedrückt. Ekarna bemerkte es jetzt offensichtlich auch. Sie reagierte sofort und legte Torgon einen Finger auf die Lippen, als der zu einer Antwort ansetzen wollte.

»Wo sind die anderen?«, flüsterte Lexz. »Wo, bei Wurgar, ist Larkar?«

Torgon kniff die Augen zusammen, was seine Augenbrauen nach unten wandern und ihn wie ein zu groß geratenes Kind aussehen ließ. Und Ekarnas Hand strich kurz über seine rundliche Wange, bevor sie ihm eine leichte Ohrfeige versetzte und sich von ihm abwandte. Die angespannte Stellung, die sie einnahm, erinnerte Lexz nicht im Geringsten an einen dürren Fichtenstamm, der gleich auseinanderbricht, sondern eher an eine sprungbereite Raubkatze, die gerade Witterung aufnimmt. »Larkar und Sedak waren kurz hinter uns«, hauchte sie.

Torgon hatte die Hand zur Wange hochgenommen, und jetzt wirkte er noch mehr als zuvor wie ein Kind, und zwar wie eines, das gerade von seiner Mutter abgestraft worden war. »Wir hätten auf sie warten müssen«, bemerkte er unnötigerweise. »Es ist nicht klug, sich hier zu trennen. Wie ich Dragosz kenne ...«

Er brach ab, denn jetzt knackte es erneut, diesmal aber noch näher und auch lauter. Lexz lief ein kalter Schauer über den Rücken. Torgon hatte leider nur zu sehr recht. Sich zu trennen, war immer ein Risiko - dies aber zu tun, nur weil einen die Wut übermannte, war ein ganz unverzeihlicher Fehler. Er konnte nur hoffen, dass Larkar deswegen nicht in Gefahr geraten war.

»Da schleicht sich jemand an uns heran«, flüsterte Ekarna. »Und ich wüsste nur allzu gern, ob das Larkar und Sedak sind.«

»Das sind sie natürlich nicht.« Torgon ließ die Hand auf den Griff seines Bronzehammers sinken und starrte aus zusammengekniffenen Augen ins Halbdunkel. »Die müssten sich doch nicht wie Diebe durchs Gebüsch drücken.«

»Es sei denn, sie hätten einen besonderen Grund dafür«, flüsterte Lexz. »Und das würdet ihr auch wissen, wenn ihr zusammengeblieben wärt.«

»Da hast du allerdings recht«, gab Torgon leise zurück. »Aber du musstest ja unbedingt losrennen, als wolltest du einen Wettbewerb gewinnen. Was ist da eigentlich in dich gefahren? Du weißt doch, was dir dein Vater immer wieder eingeprägt hat ...«

Ekarna legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Still, ihr Quassler. Streiten können wir später.« Sie zog die Steinaxt aus dem Gürtel, die sie so selbstverständlich begleitete wie Lexz das Bronzeschwert, das er auf dem Rücken trug. Auch Torgon zog jetzt eine Waffe, ein schartiges Schwert mit aufwendig gefertigtem Griff, dem man ansah, dass es sein Träger schon in mancher Auseinandersetzung auf den Schädel eines Gegners hatte krachen lassen.

Lexz wunderte sich ein wenig, dass er gerade diese Waffe wählte und nicht seinen gefürchteten Hammer, dem er auch seinen Kampfnamen der Hammer verdankte. Aber er sagte nichts dazu. »Wartet hier auf mich«, befahl er stattdessen, und ohne sich auf eine weitere Diskussion einzulassen, schlich er sich vorsichtig zu dem Pfad zurück, den sie selbst ins Unterholz getrampelt hatten. Torgon hatte natürlich recht. Es war unverantwortlicher Leichtsinn gewesen, wie ein wildgewordener Bulle durch den Wald zu trampeln, ein Leichtsinn, für den er eine wesentlich heftigere Ohrfeige verdient hatte als die, die der Hammer gerade für seine freche Bemerkung kassiert hatte. Wenn Larkar und Sedak deswegen in Gefahr geraten waren, oder schlimmer noch: wenn sie in einen Hinterhalt geraten waren, so würde er sich ewig Vorwürfe machen.

Und sein Vater würde ihm den Kopf abreißen.

Irgendwo tief in seinem Innersten gab es etwas, das Lexz unbarmherzig vorantreiben würde, solange auch nur noch ein Atemzug Leben in ihm war. In das Herz seines Vaters hatte sich nach dem Verrat seines Bruders die Bitterkeit eingenistet, und nach Nakurs Tod war etwas viel Schlimmeres daraus geworden: der unbändige Wunsch nach Rache und Vergeltung, und sei es auch durch eine bestialische Bluttat. Lexz hätte nie zuvor geglaubt, dass er einmal genau so empfinden könnte. Aber der Tod seines Bruders hatte alles geändert.

»Rache ist ein schlechter Ratgeber«, hatte Zakaan immer wieder zu beschwichtigen versucht. »Sie vergiftet jeden Gedanken - und lässt einen schlimme Dinge tun.«

Ja, alter Mann, dachte Lexz hasserfüllt. Sie lässt einen schlimme Dinge tun. Zum Beispiel, den Bruder seines Vaters zu töten. Und das so grausam und so schnell wie nur möglich.

Er brannte darauf, es dem Verräter heimzuzahlen. Erst danach konnte er wieder richtig leben und sich anderen Dingen widmen. Er wollte sich eine Frau nehmen und Kinder zeugen, er wollte seine eigene kleine Welt zimmern, und er wollte in Frieden leben. Und genau das hatte Dragosz ihm und Nakur verwehrt, indem er sie beide gezwungen hatte, bei ihrem Vater in der alten Heimat zu bleiben, bis es für die Flucht aus Dürre und Hungersnot fast zu spät gewesen war.

Eine Woge kalten Hasses stieg in ihm hoch, als er erneut ein Geräusch hörte, und diesmal blieb es nicht dabei, diesmal sah er etwas zu seiner Rechten, eine huschende Bewegung, die gleich darauf wieder vom Graugrün ihrer Umgebung aufgesogen wurde. Ein Mensch? Oder war es vielleicht doch etwas anderes, ein Raubtier, ein Höhlenlöwe möglicherweise, der auf leichte Beute aus war?

Er wusste es nicht, aber alles in ihm reagierte auf die Gefahr, und plötzlich lag das Schwert in seiner Hand, und er duckte sich hinter eine mächtige Eiche, die ihn mit weit ausladenden Zweigen und einem dichten Meer sattgrüner Blätter schützte. Er musste nicht erst zurücksehen, um zu wissen, dass ihm seine beiden Gefährten folgten. Gut, dass er jetzt nicht allein war. Irgendetwas ging hier vor, das er nicht erfassen konnte, noch nicht ... aber er war sich sicher, dass er es bald wissen würde, und dass es ihm gewiss nicht gefiele.

Ein merkwürdiger Geruch lag plötzlich in der Luft, nicht nur der nach feuchter Erde und sprießenden Gewächsen, sondern etwas Muffiges und gleichzeitig leicht Süßliches, das ihn unweigerlich an den Bären denken ließ, den er im letzten Winter im tiefsten Schlaf überrascht hatte. Der Bär war dann erwacht, bevor er und seine Begleiter ihm den Schädel einschlagen konnten.

Wenn es hier tatsächlich einer der zottligen, mannshohen Bären war, der auf Nahrungssuche durch die Wälder tappte, dann würde sich das sehr schnell herausstellen: Bären pflegten sich nicht wie eine Kriegermeute anzuschleichen, sondern plötzlich loszupoltern. Und selbst wenn es sich um ein ungewöhnlich großes Exemplar handeln sollte, würde es ihnen doch kaum ernsthaft gefährlich werden können, denn mit drei ausgewachsenen und zu allem entschlossenen Menschen legte sich ein einzelner Bär nur dann an, wenn man ihm die Möglichkeit zum Rückzug nahm.

Ekarna holte ihn auf ihre leichtfüßige Art ein, kaum dass er ein paar weitere Schritte tiefer ins Unterholz eingedrungen war. »Das gefällt mir nicht«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Er nickte, sein Blick wanderte über seine Umgebung und versuchte den Schatten etwas Handfestes zu entreißen, hinter den Ranken und dem Geäst, den Büschen und Gräsern etwas zu erkennen, was ihnen gefährlich werden konnte. Der Wind, der die Regentropfen mit sich gebracht hatte, gaukelte ihnen ein Huschen im Unterholz vor, und in das Flattern der Blätter und das Biegen dünner Zweige konnte man alles Mögliche hineindeuten, auch Krieger, die sich ihren Blicken geschickt zu entziehen versuchten.

»Siehst du etwas?«, fragte er.

Ekarna antworte nicht, sondern schlich mit schlagbereiter Streitaxt an ihm vorbei, spähte nach rechts und links - und zuckte dann mit den Schultern. Das war ungewöhnlich. Normalerweise wusste sie sehr genau, was um sie herum geschah, doch nun erlebte Lexz sie zum ersten Mal unsicher.

Er warf einen Blick zurück. Torgon war ein Stück hinter ihnen zurückgeblieben und starrte gerade in die Richtung einiger mächtiger Ulmen, die sich aus einer Senke heraus weit über das übrige Blätterdach hinausreckten. Seine angespannte Haltung verriet, dass er dort etwas entdeckt zu haben glaubte.

Lexz’ Sinne waren so angespannt wie die eines Raubtiers, und der Griff, mit dem er das Schwert hielt, schien wild und entschlossen. In seiner Anspannung hätte er keine Angst empfinden dürfen, aber das Gegenteil war der Fall. Etwas stieg in ihm auf, etwas Ungutes, die Vorahnung, dass dort, wohin sich nun Torgon bewegte, etwas Unfassbares lauerte, nur um über sie herzufallen und sie niederzumachen, so wie es das vielleicht bereits vorher mit ihren beiden verschwundenen Gefährten getan hatte.

»Das gefällt mir nicht«, wiederholte Ekarna, und dann, etwas lauter: »Ganz und gar nicht.«

Und damit stürmte sie auch schon auf eine Stelle zu, an der verschiedenste Büsche und Farne ein wildes Durcheinander bildeten, als wollten sie sich in üppigem Wuchern überbieten. Lexz konnte nicht erkennen, was sie aufgeschreckt haben mochte, aber er wollte ihr hinterher - und wäre auch sofort losgelaufen, wenn Torgon nicht in diesem Augenblick einen Kampfschrei ausgestoßen hätte und mit erhobenem Schwert auf die Senke zugestürzt wäre, an die er sich zuvor angeschlichen hatte.

Lexz’ Schwert zuckte in die Richtung herum, in die Torgon auf einen für ihn unsichtbaren Feind zulief, und dann wieder zurück in Ekarnas Richtung. Doch noch immer konnte er nichts erkennen, was die Reaktion der beiden gerechtfertigt hätte, schon gar nicht einen Angreifer.

Er hätte etwas tun müssen, sich entscheiden müssen, ob er Ekarna folgte oder Torgon, doch stattdessen blieb er nur unschlüssig stehen und ließ zu, dass ihm die Angst das Rückgrat hochkribbelte und ihm den Atem nahm. Das war neu und erschreckend für ihn: Bislang hatte er immer gewusst, gegen wen oder was er kämpfte, und nie war ein Zögern in ihm gewesen, wenn es darum ging, die richtigen Dinge zu tun.

Ekarna stieß einen schrillen Kampfschrei aus und sprang über einen zugewucherten Graben, und da, endlich, sah Lexz, was sie aufgeschreckt hatte: Es war eine Gestalt, die plötzlich hinter einem Baum hervorsprang, und eine weitere, die aus der anderen Richtung heraneilte, ein großes Etwas in dunklem Gewand, das eher einer viel zu groß geratenen Fledermaus ähnelte als einem Menschen. Der Geruch, den er zuvor schon wahrgenommen hatte, stob ihm nun in einer Wolke entgegen und drohte ihm den Atem zu nehmen; er war süßsäuerlich und leicht muffig. Die Gestalt drehte sich zu Ekarna herum, das Gewand verrutschte etwas ...

Und Lexz blickte nicht in das Gesicht eines Menschen, sondern eines Dämons. Geschwungene Augenbrauen, die viel zu buschig waren, ein riesiger Mund, eine verzerrte Fratze, und irgendetwas, das dort herabhing, wo eigentlich die Ohren hätten sitzen müssen.

Das war keiner von Dragosz’ Männern, ganz gewiss nicht. Ekarna schien über den Anblick genauso erschrocken zu sein wie er selbst, aber sie reagierte trotzdem blitzschnell und ohne jedes Zögern. Als die Gestalt ausholte, um mit etwas auf sie einzuschlagen, das eher wie eine große, schwarze Stange aussah als wie ein gewöhnlicher Knüppel, tauchte sie unter der Schlagwaffe hinweg und machte einen schnellen Ausweichschritt, der sie in den Rücken ihres Angreifers brachte. Dieser reagierte allerdings auf eine Art und Weise, wie Lexz sie noch nie gesehen hatte: Er sprang hoch und nach vorn. Sein Gewand bäumte sich auf, als der Wind daruntergriff, und Lexz erwartete beinahe, dass er nicht wieder auf dem Boden aufsetzen, sondern nun endgültig abheben und sich wie ein riesiger schwarzer Vogel in die Lüfte erheben würde.

Lexz zögerte nicht mehr länger, er sprang los, riss sein Schwert schlagbereit hoch und war mit ein paar Sätzen an der Stelle, an der Ekarna gerade eben noch gewesen war - und damit um den Hauch eines Augenblicks zu spät.

Ekarna führte mit der zweiten Gestalt, die sie unglücklicherweise selbst aufgestöbert hatte, einen wilden Tanz auf, und diesmal hatte sie nicht so viel Glück wie beim ersten Mal. Etwas Kupferfarbenes fuhr auf sie zu, eine Streitaxt ungewöhnlicher Form und Machart, oder etwas, das die Dämonen aus dem Zwischenreich mit in die Welt gebracht hatten. Ekarna taumelte zurück, als die Axt sie streifte und ihr fast das Ohr abgerissen hätte. Sie schrie auf, vielleicht vor Schmerz, oder auch nur vor Empörung, und sprang in die Gestalt hinein, die bereits zum zweiten, vernichtenden Schlag ausholte.

Lexz wartete nicht ab, wie der ungleiche Kampf ausgehen würde, sondern stürzte sich seinerseits mit einem Schrei auf den ersten Angreifer, der sich inzwischen wieder gefangen hatte und Ekarna von hinten die Stange über den Kopf ziehen wollte. Als er jedoch Lexz bemerkte, reagierte er erneut ganz anders, als es in einem herkömmlichen Kampf üblich war: Er sprang zur Seite, wehrte Lexz’ Schwerthieb mit seiner Stange fast spielerisch ab, wandte sich dann um und rannte davon.

Lexz sah ihm verblüfft nach und wäre ihm sicherlich gefolgt, wenn die ganze Lage nicht so unübersichtlich gewesen wäre. Er wusste nicht, wer oder was das war, was ihnen hier aufgelauert hatte, und ob außer den beiden, die vor ihnen Reißaus genommen hatten, nicht zusätzlich noch ein ganzer Trupp von diesen Ungeheuern im Wald lauern mochte. Wenn dies hier irgendetwas mit Dragosz zu tun hatte, dann konnten sie sich allerdings noch auf einiges gefasst machen.

Wie zur Bestätigung dieses Gedankenfetzens ertönte ein markerschütternder Schrei hinter ihm. Er fuhr herum und starrte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war.

Torgon stand mitten in der Senke und schwankte leicht. Das Schwert, das er in der rechten Hand hielt, baumelte kraftlos herab, und seine gefährlichste Waffe, der Bronzehammer, steckte immer noch in seinem Gürtel, ganz so, als sei er zu kraftlos, um ihn hervorzuziehen und mit ihm unter ihre Feinde zu fahren. Lexz glaubte schon, er sei schwer getroffen - doch als Torgon zurücktaumelte, das Schwert mit zitternden Händen in seinen Gürtel steckte und sich gehetzt umsah, entdeckte er weder Blut noch sonst etwas, das auf eine Verletzung hindeutete.

Torgon war nicht getroffen worden. Stattdessen war er wohl auf etwas gestoßen, hatte etwas entdeckt, das ihn vollkommen erschüttert haben musste. Lexz warf einen raschen Blick zu Ekarna hinüber, aber schon aus den Augenwinkeln erkannte er, dass sie den zwar kurzen, aber heftigen Kampf tatsächlich für sich entschieden hatte. Einer der Angreifer war bereits verschwunden, der andere brach torkelnd durch das Unterholz, wohl von nichts anderem als dem Wunsch beseelt, der menschlichen Raubkatze zu entkommen, mit der er sich leichtsinnigerweise angelegt hatte.

Ekarna hatte offensichtlich vorgehabt, ihn zu verfolgen, doch Torgons Schrei hatte sie ebenso wie Lexz erschrocken herumfahren lassen. Jetzt tauschten sie einen schnellen Blick, nickten sich als Zeichen eines stillen Einverständnisses kurz zu und liefen auf die Senke zu.

Torgon kam ihnen entgegen. Er winkte ab. Sein Gesicht war kalkweiß und sein Blick von Entsetzen gezeichnet, aber seine Stimme klang erstaunlich gefasst, als er sagte: »Geht dort besser nicht hin. Wir können ihnen ohnehin nicht mehr helfen.«

Lexz sparte sich jede Frage, drängte ihn kurzerhand beiseite und überwand mit einem mulmigen Gefühl den kurzen Abstand, der ihn noch von der Senke trennte.

Seine Vorahnung hatte ihn nicht getrogen. Der Anblick, der sich ihm nun bot, hätte auch weitaus weniger empfindlichen Naturen den Magen umgedreht.

Kapitel 4

Arri riss den Kopf hoch, als sie die Schritte hörte, die auf sie zuhielten, das Trampeln leichter Füße, die über die Planken huschten, gefolgt von den schwerfälligen Schritten der Männer des Ältestenrates. Und erst da begriff sie, dass sie fast in einen Dämmerschlaf hinweggeglitten war, der irgendwo zwischen Trance und Tod angesiedelt sein mochte.

»Da sitzt sie!«, rief Taru, der wie selbstverständlich die Führung übernommen hatte. »Da sitzt sie neben meinem Vater, als wäre nichts geschehen! Dabei hat sie ihn heimtückisch vergiftet!«

Verzweifelt zerrte Arri an ihren Fesseln. Sie hatte niemanden vergiftet, schon gar nicht Dragosz, warum begriffen sie das nicht? Mit einer torkelnden Bewegung kam sie hoch, wollte auf Taru zueilen, um ihn in die Schranken zu verweisen. Aber das war nicht möglich. Abdurezak hatte ihre Fußgelenke noch vor Anbruch der Nacht mit einem Hanfseil zusammengebunden. So geriet sie ins Torkeln, als sich das Seil anspannte, und stürzte hart und ungeschickt zu Boden. Ihre Schläfe schlug auf den erst im letzten Sommer geschlagenen Planken auf, ein-, zweimal, bevor es ihr gelang, den Kopf wieder hochzureißen und vom feuchten Holz wegzudrehen.

»Lass das sein, mein Junge«, hörte sie in ihrer Benommenheit Abdurezak mit scharfer Stimme sagen. »Es steht dir nicht an, mit ihr zu sprechen.«

Aus glasigen Augen sah sie nun, wie Taru noch zwei, drei Schritte weiter lief, als wolle er sich über den Befehl des Ältesten hinwegsetzen und auf sie eintreten. Doch dann hielt er in angespannter und lauernder Haltung an, von einem Fuß auf den anderen wippend, als bereite er sich auf einen Kampf vor, und starrte zu ihr hinab. In seinen Augen funkelte blanker Hass, und seine Hand strich sicherlich nicht nur zufällig über den Griff des scharf geschliffenen Knochenmessers, das in einer Schlaufe seines Hirschledergürtels steckte. Taru hatte Arri nur Spott und Verachtung entgegengebracht, und sie konnte sich vorstellen, wie sehr er diese Lage jetzt genoss. »Was willst du mit dem Kind?«, hatte er seinem Vater entgegengeschleudert, als Dragosz sie mit ins Sommerlager der Raker gebracht hatte. »Soll sie etwa meine neue Mutter werden?«

Was für ein lächerlicher Gedanke. Wie hätte sie denn Taru die Mutter ersetzen können, sie war ja kaum älter als er! Stattdessen hatte sie sich wie eine ältere Schwester gefühlt, die sich um ihren kleineren Bruder sorgte, nicht mehr und nicht weniger. Aber auch das war bei Taru auf Widerstand gestoßen: Mehr als ein Mal hatte er unverhohlen gedroht, sie solle sich aus seinem Leben heraushalten, sonst werde sie etwas erleben.

Und genau jetzt, in ihrer tiefsten Trauer, war der Zeitpunkt für Tarus Rache gekommen. In seinen Augen las sie nicht nur Fassungslosigkeit angesichts der Katastrophe, die ihm den Vater genommen hatte, sondern auch noch etwas anderes: brodelnden, tief empfundenen Hass, der sich in einer Gewalttat entladen wollte.

Abdurezak schien das genauso zu sehen. Statt sich um sie zu kümmern, wie es zweifellos zunächst seine Absicht gewesen war, legte er Taru in einer beruhigenden Geste die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Junge reagierte darauf, wie es für einen Jungen seines Alters - und für ihn im Besonderen - ganz üblich war: mit Trotz. Sein Kopf fuhr zu Abdurezak herum.

»Nein«, zischte er. »Das tue ich nicht.«

Abdurezak antwortete gar nicht darauf. Er sah Taru nur an. Alles verspannte sich in dem muskulösen Jungen, und einen flüchtigen Augenblick lang sah es fast so aus, als werde er den alten Mann packen und ins Wasser stoßen. Doch dann trat er einen raschen Schritt zur Seite und lehnte sich an das Geländer aus roh zurechtgezimmerten Ästen.

Abdurezak trat mit einer erstaunlich schnellen und sicheren Bewegung an ihm vorbei. Auf seinem verwitterten Gesicht zuckte kein Muskel, als er seine dichten weißen Haare zurückstrich, bevor er sich zu ihr hinabbeugte.

»Diese Nacht konnte ich dir gewähren, Arianrhod«, flüsterte er ihr zu. »Mehr nicht.«

Arri sah verwirrt zu ihm auf. Aus der Totenwacht war sie noch immer nicht vollkommen in die Wirklichkeit zurückgekehrt, und fast schien es ihr, als griffe jetzt Dragosz nach ihr, um sie zurückzuhalten und sie zu sich herabzuziehen in den Einbaum, um sie auf die einsame Reise über den Frykr mitzunehmen: hinab ins Reich der Toten.

»Du musst Abschied nehmen«, fuhr Abdurezak fort. »Hier und jetzt.«

Arri schüttelte den Kopf. Ein Gespinst aus Selbstvorwürfen, Verzweiflung und Trauer hielt sie wie ein engmaschiges Netz gefangen, in das sie sich nur umso tiefer verstrickte, je verzweifelter sie sich daraus zu befreien versuchte. Aber sie wusste, was sie auf keinen Fall wollte: hier und jetzt von dem Mann Abschied nehmen, der ihr das Leben bedeutet hatte.

»Ich will dich nicht in deiner Trauer stören«, sagte Abdurezak so leise, dass seine Worte im Rascheln seines Gewandes beinahe untergingen. »Aber ich fürchte, wir müssen Dragosz jetzt für seine letzte Reise vorbereiten, auf dass er seinen Ahnen reinen Herzens gegenübertreten kann. Und dabei störst du, Arianrhod, du, deren Vorfahren weit entfernt von uns lebten und Geheimnisse hatten, die uns nun zu verderben drohen.«

Arri riss den Kopf hoch. Bis auf Taru gab es niemanden, der sie bei ihrem alten Namen Arianrhod nannte. Aber nicht das war es, was sie aufschreckte. »Ich störe?«, fragte sie fassungslos.

Der alte Mann nickte, und die Trauer in seinen Augen schien dabei stärker zu sein als alles Entsetzen über das, was gestern geschehen war. »Ja. Ich fürchte, du bist fehl am Platz, wenn wir Dragosz für die Reise über den Frykr vorbereiten.«

»Ich bin fehl am Platz?« Arris Herz raste, als sie zu dem alten Mann hochsah, für den sie bislang nichts anderes als Hochachtung empfunden hatte. »Aus welchem Grund sollte gerade mein Platz nicht an der Seite meines Mannes sein?«

Abdurezak richtete sich langsam auf, und jetzt sah er auch zu dem Einbaum hinüber - und wie es Arri schien, versenkte sich sein Blick in den des toten Kriegers. Seit sie ihre alte Heimat verlassen hatten, um das gelobte Land ihrer Ahnen zu suchen, waren Abdurezak und Dragosz fast so etwas wie Vater und Sohn gewesen. Der Schmerz, den der alte Mann über seinen Tod empfand, mochte kaum weniger brennend sein als der ihre.

»Warum sollte denn gerade ich dabei stören?«, wiederholte sie störrisch. »Ich bin doch seine Frau!«

Abdurezak schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Das bist du nicht mehr. Wir haben die Totenzeremonie durchgeführt. Ich selbst habe aus den Eingeweiden eines frisch getöteten Speerreihers Dragosz’ Schicksal gelesen.«

»Wie ...?«, fragte Arri ängstlich. »Und was hast du dort gelesen?«

Beschwichtigend hob Abdurezak die Hand. »Beruhige dich, Kind. Dragosz’ Reise über den Frykr und hinab ins Reich der Toten, sie wird glücken, und er wird dort auf ewig als großer Krieger geehrt werden. Dort wird er sich erneut mit Surkija vermählen. Dir selbst ist aber ein anderes Schicksal zugedacht.«

»Mit Surkija vermählen?« Zuerst verstand Arri überhaupt nicht, was der alte Mann damit meinte. Doch dann tröpfelte der Sinn seiner Worte langsam in ihre Seele. »Aber das ist doch nicht möglich! Ich bin jetzt seine Frau! Wir beide sind für die Ewigkeit bestimmt!«

»Nein.« Wieder schüttelte der alte Mann den Kopf, und eine ehrliche Trauer lag in seinen Zügen. »Surkija ist Dragosz’ Gefährtin für die Ewigkeit. Es war ein großes Unglück, dass sie bei der Geburt von Dragosz’ zweitem Sohn starb, zumal das Kind ihren Tod nur um wenige Wochen überlebte. Doch jetzt wird Dragosz die beiden wiedersehen. Sie werden sich als Familie wiedervereinen, das habe ich in den Eingeweiden des Vogels ganz deutlich erkennen können.«

Vogeleingeweide. Lächerlich. Was hatten die mit ihr und Dragosz zu tun?

»Du weißt, was das bedeutet?«, setzte Abdurezak nach.

»Nein, das weiß ich nicht«, flüsterte Arri zwar, aber eigentlich hätte sie sagen müssen: »Nein, das will ich nicht wissen.«

»Das bedeutet, dass wir dir hiermit den Rang als rechtmäßige Frau von Dragosz, unserem Herrscher, für immer und alle Zeiten aberkennen«, fuhr Abdurezak unbarmherzig fort. »Das Gleiche gilt auch für deinen Rang als Heilerin.«

Heilerin? Das kümmerte sie gar nicht. Alles, was sie im Augenblick interessierte, war Dragosz!

»Das könnt ihr nicht tun!« Die letzten Worte schrie sie fast heraus. »Ich soll nicht mehr seine Frau sein? Und das sagst ausgerechnet du, der in der Zeremonie der Ehe die heiligen Worte gesprochen hat?«

Abdurezak nickte traurig. »Ja, das sage ausgerechnet ich. Weil ich auch der Einzige bin, der das wieder trennen kann, was ich im Namen der Götter zusammengefügt habe.«

»Das ist doch gar nicht möglich«, stammelte Arri. »Niemand kann uns auseinanderbringen.«

Abdurezaks rechte Augenbraue wanderte nach oben. »Noch nicht einmal der Tod?«

»Ganz sicher nicht der Tod«, Arri deutete mit den gefesselten Händen auf das Boot, »wo auch immer Dragosz ist, ich werde nicht aufhören, ihn zu ehren und zu lieben.«

»Aber nicht mehr als seine Frau«, sagte Abdurezak sanft. »Seine Frau ist Surkija.«

»Surkija ist tot!«, begehrte Arri auf.

»Ja. Und das bist du auch bald.« Als sich Abdurezak bei diesen Worten straffte, huschte ein Schatten über sein von Falten und Runzeln überzogenes Gesicht. »Du wirst die nächsten Schritte alleine gehen müssen. Der Bund mit Dragosz ist getrennt. Endgültig. So sei es.«

»Nein«, wimmerte Arri. »Ich bin seine Frau.«

»Du wirst fortan ... nichts mehr sein«, beschied sie der Alte. Über sein Gesicht lief eine Welle des Unmuts, und plötzlich sah er noch älter aus, als er ohnehin schon war: fast wie eine Totenfratze. »Jedes weitere Wort dazu wäre Verschwendung«, sagte er nun grob. »Es ist entschieden. Wenn wir die Fesseln lösen, wirst du dich als freie Frau erheben.«

Arri war jetzt völlig verwirrt. »Als freie Frau?«, wiederholte sie. »Aber ... ich dachte ...«

»Du wirst dich ohne Fesseln erheben, und dann werden wir dir den Prozess machen.«

Arri hatte geglaubt, dass es nicht noch schlimmer kommen konnte. Aber das stimmte nicht. Dass sie ihr den Prozess machen wollten, dass sie sie bestraft sehen wollten - damit hatte sie ja schon gerechnet. Aber ihr nach dem lebenden Dragosz auch noch den toten Dragosz zu nehmen, das war ... unfassbar.

Und alles zusammen war mehr, als sie ertragen konnte.

»Ich ... ich verstehe das nicht«, murmelte sie. »Von mir aus richtet mich. Schlagt mich tot, steinigt mich, verbrennt mich bei lebendigem Leib. Aber das ... das könnt ihr doch nicht tun ... ihr könnt mir doch nicht Dragosz nehmen!«

»Wir nehmen dir nur das, was du dir selbst schon genommen hast«, berichtigte sie Abdurezak, und dabei schwang eine Traurigkeit in seiner Stimme mit, die sie fast noch mehr traf als seine Worte zuvor.

»Was soll das heißen?«, fragte sie atemlos.

»Das weißt du ganz genau.« Abdurezak runzelte die Stirn, als sein Blick auf einen Blutstropfen fiel, der von Arris zerbissener Lippe hinabrann. »Aber warum? Warum hast du es nur getan?«

»Aber was denn?«, flüsterte Arri. »Was soll ich getan haben?«

»Das weißt du selbst sehr genau«, antwortete der Alte.

Arri antwortete nicht, sondern kauerte sich stattdessen so weit wie möglich zusammen und starrte auf den See hinaus. Der Tag war nun vollends erwacht. Das Sonnenlicht spiegelte sich gleißend auf dem Wasser, ein Vogelschwarm stob vom Ufer auf und glitt wie selbstvergessen über den See. Über dem Schilf begannen die ersten Mücken zu tanzen. Gestern noch war es ihr vollkommen selbstverständlich erschienen, dass Tag auf Tag folgte und das Leben jedes Mal an dem gleichen Punkt begann, an dem es am Abend zuvor Abschied genommen hatte.

Jetzt war das anders. Zum ersten Mal in ihrem Leben begriff sie wirklich, dass nichts, aber auch gar nichts selbstverständlich war. Man konnte sich gestritten oder geliebt haben, man konnte am Feuer gedöst oder auf der Jagd gewesen sein, man konnte mit Fremden um Ware gefeilscht haben oder in eine Rauferei verwickelt gewesen sein - immer und überall konnte alles enden.

Und wenn man Pech hatte, dann verlor man das Liebste in seinem Leben.

»Du weißt genau, was ich meine«, wiederholte der Alte.

Arri nickte. Natürlich wusste sie es. Es war ihre Aufgabe gewesen, über den Opfertrank zu wachen, während er verfeinert und später in Krüge abgefüllt wurde. Sie war keine Fremde mehr im Dorf, aber sie gehörte auch nicht wirklich zu der uralten Gemeinschaft der Raker. Dragosz’ Volk hatte ihr von Anfang an misstraut, und zwar nicht nur, weil sie eine Fremde war, sondern auch, weil sie als Heilerin aus einer anderen Kultur über ein manchmal unverständlich anmutendes Geheimwissen verfügte. Wäre sie nicht von Anfang an Dragosz’ Gefährtin gewesen, so hätte man sie wahrscheinlich schon am ersten Tag mit Schimpf und Schande vertrieben.

Fast gewaltsam riss Arri den Blick von der friedlichen Spätsommerstimmung los, die über dem See lag. Sie ahnte, dass sie diesen Anblick nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Man würde sie ans Ufer bringen, dorthin, wo unter mächtigen Bäumen Gericht gehalten wurde. Oberster Gerichtsherr war Dragosz gewesen, doch auch er hatte kein Urteil gegen den Ältestenrat fällen können.

Und diesmal konnte er sie nicht in Schutz nehmen.

»Kind«, begann Abdurezak, und sie sah verwundert zu ihm hoch. Ihre Welt verengte sich dabei vollkommen auf das Gesicht des alten Mannes. Die Fältchen um seine Augen kündeten davon, dass er gerne und viel lachte, aber um seine Mundwinkel hatten sich auch tiefe Kerben eingegraben, die von Kummer und Leid kündeten.

»Du hast getötet«, fuhr Abdurezak fort. »Und nicht nur deinen Mann. Die gute alte Amara, der kränkliche Joguw, der erst vor Kurzem seine Frau verloren hat, und der kleine Prytio - sie alle sind in der Nacht qualvoll gestorben.«

»Das ist ...« Arris Stimme brach ab, dann fing sie sich wieder. »Das ist schlimm.«

»Ja, mein Kind. Schlimm.« Abdurezak seufzte. »Und so vollkommen unnötig. Hatten wir nicht schon eine Zeit schwerster Entbehrungen hinter uns? Hat es nicht gereicht, dass viele von uns auf der großen Wanderung an Hunger und Entbehrungen gestorben sind?«

»Doch«, antwortete Arri. »Das hat gereicht. Ich und Dragosz ... wir wollten euch ein besseres Leben schenken. Mit der neuen Weihestätte kann man die richtige Zeit für Aussaat und Ernte viel besser bestimmen als bislang. Und außerdem ...«

»Diese Weihestätte ist gestern Abend gestorben, mein Kind«, sagte Abdurezak leise, »zusammen mit Dragosz.«

Arri nickte langsam. Es war ihr gleich. Ihre Welt war nach Dragosz’ Tod eng und kalt geworden. Was interessierte sie da noch die Weihestätte, was die Himmelsscheibe? »Was habt ihr mit mir vor?«, fragte sie schließlich.

»Darauf gibt es nur eine Antwort.« Abdurezak richtete sich wieder auf und wandte sich zu dem zweitältesten Mitglied des Ältestenrates um. Der Mann war mittlerweile hinter ihm herangekommen. »Sie will wissen, was mit ihr geschehen wird. Und ich denke, sie hat auch ein Recht, es zu erfahren.«

Arri sah auf. Sie hatte vergessen, wo sie war. Während sie mit Abdurezak gesprochen hatte, war die Wirklichkeit Stück für Stück weggebrochen. Erst jetzt wurde sie sich wieder der Schmerzen an ihren wundgescheuerten Gelenken bewusst, und auch der Morgensonne, die ihr Gesicht nicht liebkoste, sondern mit ihren harten Strahlen attackierte, als wolle sie sie mit ihrer zunehmenden Hitze wegbrennen.

Ihr Blick fiel auf das Boot, in dem Dragosz lag. Ihr Dragosz, ihr Geliebter, der Mann, dem sie überall hin gefolgt wäre, bis auf den höchsten Berg, und wenn es hätte sein müssen, auch auf den Meeresgrund. Dragosz sah nun nicht mehr aus, als schliefe er. Im harten Licht der gnadenlosen Sonne schien es ihr eher so, als werde er jeden Augenblick blinzeln, tief durchatmen, sich keuchend aufrichten - um dann Abdurezak zu fragen, was der Unsinn denn eigentlich sollte, den er aus den Gedärmen eines Vogels herausgelesen haben wollte.

»Wenn sie unbedingt zu meinem Vater will, dann lasst sie doch«, hörte sie eine gehässige Stimme hinter sich sagen. »Schmeißt sie doch einfach ins Wasser - so, wie sie ist!«

Fast widerwillig löste Arri den Blick von Dragosz. Taru, richtig. Es befand sich nicht nur der alte Mann auf dem Steg, der sie mit seinen bitteren Worten gequält hatte, sondern auch der Junge, der sie mehr hasste als irgendetwas sonst auf der Welt.

Abdurezak murmelte ein paar Silben, die Taru mit einem halblauten Fluch beantwortete. Dragosz aber rührte sich nicht. Er blinzelte nicht, er atmete nicht tief durch, er rührte sich überhaupt nicht.

Er war tot.

Arri wandte endgültig den Blick von Dragosz ab. Es war, als wäre ihr Geliebter gerade zum zweiten Mal gestorben, als hätte Abdurezak ihr endgültig den Mann genommen. Und Arri begriff endgültig, dass auch sie selbst tot war, gestorben in dem Augenblick, in dem Dragosz seinen letzten Atemzug getan hatte.

Taru machte erneut eine hämische Bemerkung, aber diesmal verzichtete Abdurezak darauf, ihn zurechtzuweisen. Vielleicht gab er Dragosz’ Sohn ja insgeheim recht.

Aber nicht das war es, was Arris Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war ein hagerer alter Mann mit tief gefurchtem Gesicht und einem Gebiss, das löchriger als ein Sieb schien. Der Alte hatte sich an Abdurezak vorbeigedrängt und starrte jetzt aus müden, blutunterlaufenen Augen auf sie herab. Dabei nickte er so langsam, dass die Bewegung kaum wahrnehmbar war.

»Rechte hat nur der, der auch das Recht hat, seine Rechte einzuklagen«, sagte er mit einer Stimme, die so rau klang, als würden Uferkiesel miteinander verrieben.

Arri musste sich erst räuspern, bevor sie ein »Was?« herausbrachte.

»Du hast keine Rechte mehr, weil du nicht das Recht hast, sie einzuklagen«, fuhr der Hagere fort, und während Abdurezak einen tiefen Seufzer ausstieß, fiel Arri wieder ein, wie man den Alten hinter seinem Rücken nannte: den Schwätzer. Auch seinen richtigen Namen hätte sie wissen müssen, aber er wollte ihr beim besten Willen nicht einfallen: Vielleicht auch einfach deshalb nicht, weil Schwätzer so gut zu ihm passte.

»Es hat inzwischen nicht nur drei, sondern fünf Tote gegeben«, stieß der Alte anklagend hervor. »Karan, der Halbwaise, und der kleine Juri, sie haben den Morgen nicht überlebt. Und noch immer winden sich zahllose andere in Krämpfen. Willst du denn nicht dein Gewissen erleichtern und uns endlich verraten, mit welchen bösen Kräutern du den Opfertrank versetzt hast?«

Arri zog es vor, nicht darauf zu antworten. Sie hatte nichts getan. Warum also sollte sie sich verteidigen?

»Gib zu, dass du eine Drude bist«, fuhr der Schwätzer fort, »dass du mit den bösen Geistern ein finsteres Bündnis geschmiedet hast, um uns alle zu verderben!«

Müde schüttelte Arri den Kopf. »Ich bin keine Drude. Und ich verwende auch keine bösen Kräuter ...«

Der Schwätzer schnitt ihr mit einer ärgerlichen Handbewegung das Wort ab. »Spar dir deine dummen Ausflüchte. Ob giftige Kräuter, verdorbene Pilze oder die galligen Eingeweide eines tollwütigen Tieres - es bleibt sich letztlich gleich, womit du das Wasser entweiht hast.«

»Ich habe gar nichts getan. Nur die üblichen Wurzeln hineingerieben, ganz so, wie es euer Brauch verlangt ...«

Arri brach ab, als sich Taru von dem Geländer abstieß und sich neben dem Schwätzer in einer typischen Dragosz-Pose aufbaute, was bei ihm aber eher anmaßend als kraftvoll wirkte. »Du sollst Kaarg nicht unterbrechen!«, stieß er erregt hervor. »Oder hat dir vielleicht jemand das Wort erteilt?«

Kaarg, der Schwätzer, zuckte zusammen, und Abdurezak stieß erneut einen tiefen Seufzer aus, bevor er sich zu dem Jungen umwandte und ihn ruhig musterte. »Ich habe Verständnis für deine Erregung«, sagte er schließlich. »Aber andererseits erinnere ich mich auch nicht, dass wir dir das Wort erteilt hätten.«

»Ja, aber, ich, äh ...« Taru verhaspelte sich und sah unsicher zu seinem toten Vater hinüber, und in diesem Augenblick tat er Arri fast leid. Doch dann straffte sich der Junge, und in dieser Entschlossenheit sah er seinem Vater mit einem Mal sehr ähnlich. »Wir brauchen einen neuen Herrscher, Abdurezak. Willst du das werden?«

»Rede keinen Unsinn«, antworte Kaarg. »Abdurezak ist unser Oberhaupt, bis ein neuer Herrscher bestimmt wird - und keinen Tag länger.« Er zögerte kurz, bevor er fortfuhr: »Vielleicht sogar ein paar Tage weniger, denn schließlich kann niemand wissen, wann Abdurezak die Reise über den Frykr antritt. Aber keine Sorge. Dann bin ich auch noch da.«

Genauso, wie es Dragosz in einer solchen Situation gemacht hätte, stemmte Taru die Hände in die Hüften und legte den Kopf schief. »Dann bin ich doch dafür, dass wir ganz schnell einen neuen Herrscher bestimmen«, sagte er leise. »Einen, der nicht schon mit eineinhalb Beinen im Grab steht.«

Der Schwätzer hob den Kopf und ließ ihn dann ganz langsam wieder sinken. Danach riss er den Mund auf, entblößte damit seine drei letzten, schon halb verfaulten Zähne, und gähnte herzhaft. »Entschuldigung.« Er wischte sich mit dem Handrücken einen Speichelfaden aus dem Mundwinkel. »Es war eine lange Nacht für einen alten Mann, der nur noch gelegentlich aus seinem Grab hervorkrabbelt.«

Wütend kniff Taru die Lippen zusammen. »Vielleicht hilft dir ja ein kühles Bad dabei, deine Lebensgeister wiederzufinden«, zischte er dann. »Soll ich dir vielleicht dabei helfen?«

Abdurezak trat an Kaarg vorbei und sah Taru ganz genauso an, wie eine Mutter ein widerspenstiges Kleinkind ansieht. »Du wirst niemandem helfen«, sagte er scharf. »Und wage es nicht noch einmal, ein Mitglied des Ältestenrats zu bedrohen!«

»Und warum nicht?«, gab Taru patzig zurück. »Weil ich dann auch vergiftet werde?«

»Hüte deine Zunge, Knabe«, sagte der Schwätzer. »Die Giftmischerin wird gerichtet ...«

»Was ich auch hoffen will.« Taru wollte an Abdurezak vorbeitreten, besann sich dann aber doch eines Besseren. »Warum werfen wir sie nicht einfach ins Wasser? Gefesselt ist sie schon, da kann es nicht lange dauern, bis sie ertrinkt. Und ich finde, das ist für jemanden, der das ganze Dorf mit einem Gifttrunk auslöschen wollte, ein gerechter Tod!«

»Ist das die Anklage, die du gegen sie erheben willst?« Abdurezak nickte, als wollte er damit gleich seine eigene Frage beantworten. »Das scheint mir allerdings gerecht zu sein. Dein Vater wurde ermordet, also vertrittst du auch die Anklage.«

Es war eine Leichengrube abscheulichster Art, die sich vor ihren Füßen auftat. Ekarna schlug die Hand vor den Mund und gab ein würgendes Geräusch von sich, und Lexz spürte, wie etwas Galliges in ihm nach oben drängte. Sie alle waren den Anblick des Todes gewöhnt, der immer und überall zuschlagen konnte, sie alle nahmen regelmäßig Tiere aus, was ein gleichermaßen widerliches wie anstrengendes Handwerk war, oder kümmerten sich um Schwerverletzte mit zerschmetterten Gliedmaßen - wie erst vor Kurzem, als eine der Frauen auf der Suche nach etwas Essbarem von einem Gesteinshagel getroffen worden war und mit zerschmetterten Gliedmaßen in einer Lache dunkel geronnenen Blutes so lange dagelegen hatte, bis sie sie endlich gefunden hatten. Aber das hier war ... etwas anderes.

»Bei Asad«, keuchte Torgon. Er hatte eine Hand gegen einen Baum gedrückt, als müsse er Halt suchen. »Was ist hier geschehen?«

Seine Frage war mehr als berechtigt. Lexz zwang sich, genau hinzusehen, und er suchte nach Worten, um das zu beschreiben, was er sah - doch es wollte ihm nicht gelingen.

»Warum ... warum muss man denn die Haut abziehen?«, fragte Ekarna fassungslos. »Ich meine nicht so wie bei Opfertieren. Sondern so ... wie hier?«

»Du meinst, bei lebendigem Leib.« Torgon atmete so laut und schwer, als wäre er von einem Berglöwen hierhin gehetzt worden. »Ja. Das frage ich mich auch. Oder auch nicht.«

Ekarna trat einen Schritt zurück und schlug das Dreieck, das Abwehrzeichen gegen jegliche Art bösen Zaubers.

»Was meinst du damit?«, fragte Lexz.

»Was?« Torgon richtete sich ein wenig auf. »Dass ich mich auch frage, was dies hier ist, und auch wieder nicht?«

Lexz nickte benommen. Der Gestank, Torgons wirres Gerede, und das, was er da vor sich sah ... er hatte das Gefühl, als drehe sich alles um ihn, und sein Magen gleich mit.

»Das heißt eben, dass ich es nicht genau weiß.« Er winkte ungeduldig ab, als Lexz ihm einen ungeduldigen Blick zuwarf. »Es sind alte Geschichten. Verrückte Geschichten. Geschichten, die man besser nicht glaubt, wenn man nicht selbst verrückt werden will.«

»Das hilft uns weiter«, murrte Ekarna gereizt. »Alte Geschichten - aber über was denn? Kannst du uns das wenigstens sagen?«

»Na, über die Zeit ...« Torgon rang sichtlich nach Worten, »über die Zeit, als die Menschen noch nicht in Höhlen lebten, oder gar in Häusern.«

»Wo sollen sie denn sonst gelebt haben?« Lexz starrte auf seine Hände und sah, dass sie ganz sacht und leicht zitterten - so wie Gras in einem unregelmäßigen Luftzug. »Vielleicht in den Bäumen?«

»Vielleicht, ja«, gab Torgon zurück. »Aber es heißt, dass es damals viel heißer war.«

»Als in letzter Zeit?« Ekarna wischte sich eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht. »Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Vielleicht nicht wie in letzter Zeit«, gab Torgon zu. »Aber stellt euch ein weites Land vor, angenehm warm, mit genügend Wasserstellen und reichlich Nahrung.«

»Bitte nicht ausgerechnet jetzt vom Essen sprechen«, würgte Ekarna. »Mir ist so übel. Und ich glaube auch nicht, dass uns irgendwelche alten Geschichten weiterhelfen werden.«

»Doch, natürlich. In alten Geschichten steckt die Weisheit von Generationen ...« Torgon brach ab und machte mit der Hand eine Geste des Erschreckens, als Ekarna seine Antwort mit einer ärgerlichen Bewegung beiseitewischte und einen todesmutigen Schritt nach vorne tat. »Nein, Ekarna. Bleib von der Grube fern. Siehst du nicht, wie da die Käfer und Würmer krabbeln? Wie sie aus ...«

»Aus den Augenhöhlen krauchen, ja.« Ekarna machte einen weiteren Schritt auf die Grube zu, und dann noch einen und noch einen - bevor sie direkt am Rand stehen blieb und trotz des Gestanks ganz tief die Luft einsog und kurz darauf wieder angewidert ausstieß. »Meint ihr, dass das Menschen waren?«, fragte sie schließlich.

»Was?« Auch Lexz wollte einen Schritt nach vorne machen, besann sich dann aber anders und blieb stehen, wo er war. »Wer sollte es denn sonst gewesen sein?«

»Ich weiß nicht.« Ekarna ging in die Hocke und beugte sich ein Stück vor. Unwillkürlich hielt Lexz die Luft an. »Der gleiche modrige Gestank geht von der Grube aus wie von den beiden Kerlen, die mich angegriffen haben. Und wenn ihr mich fragt: Die sahen so gar nicht wie Menschen aus.« Sie deutete nach vorn. »Seht ihr? Das Schulterstück, dort. Es ist doch ganz anders geformt als bei Menschen. Fast ... fast ...«

»Wie ein Flügelansatz«, beendete Torgon ihren Satz. »Das ist es ja, was ich euch die ganze Zeit über sagen wollte.«

Ein Flügelansatz! Beinahe hätte Lexz laut aufgelacht, als Torgon dieses Wort in den Mund genommen hatte. Das Lachen verging ihm allerdings, als Ekarna aus der Hocke hochkam, Torgon mit einem Blick musterte, der von vornherein jede Gegenwehr im Keim erstickte, und sagte: »Dann wollen wir uns das doch mal aus der Nähe ansehen.«

Vorsichtig streckte sie den rechten Fuß aus, fand Halt und begann mit kleinen vorsichtigen Schritten in die Senke hinabzuklettern.

Nein, Senke war eigentlich nicht das richtige Wort. Eher war es eine Grube. Eine Grube, dachte er angewidert, und vollgestopft mit Leichenteilen. Sein Blick versuchte sich an Einzelheiten festzuhalten, aber das wollte ihm nicht gelingen. Zersplitterte Knochen und offene Wunden waren die eine Sache. Aber diese Leichenteile, die sich in unterschiedlichen Stadien der Verwesung befanden, das war mehr, als er ertragen konnte. Schwarze, aufgeplatzte Beulen, Eiter, geronnenes Blut, schwärende Wunden, abgerissene Gliedmaßen, zerschmetterte Gesichter, angefressene Augenhöhlen, und über all dem auch noch ein Gewimmel von schwarzen Käfern, Schmeißfliegen und Maden, die sich überall dort hineinbohrten, wo sie Nahrung zu finden hofften. Das Schlimmste aber war das, was aus Augen, Mund und Ohren herauskroch, das, was die Haut wölbte oder aufplatzen ließ - dieses ganze Gewimmel, das die Leichen in immerwährender Bewegung hielt.

Torgon starrte mit offenem Mund in Ekarnas Richtung, und er hätte wohl schon längst etwas gesagt, wäre er durch den grausamen Anblick nicht genau so gelähmt gewesen wie Lexz.

»Das ist ja ekelhaft«, sagte Ekarna. »Nur gut, dass ich nicht barfuß unterwegs bin.«

Lexz starrte dorthin, wohin ein Zug großer roter Ameisen unterwegs war: an den Rand der Grube, in die Ekarna gerade die Bärenfellsohle ihres linken Schuhs versenkte. Sofort machten sich einige der Ameisen daran, das aus mittlerweile zerschlissenem Hirschfell zusammengenähte Oberleder hochzuklettern. Das aber war noch Ekarnas kleinstes Problem. Viel schwerer wog, dass der Schuh in etwas versank, das auf den ersten Blick hätte Schlamm sein können, in Wirklichkeit aber etwas war, das sich Lexz gar nicht vorstellen wollte.

»Vorsicht, du versinkst da in ...«, sagte Torgon unnötigerweise.

»Ich weiß«, antwortete Ekarna gepresst. »Fragt sich nur, wie tief.«

Lexz hielt die Luft an, als Ekarna das Gewicht vorsichtig auf das linke Bein verlagerte. Irgendetwas blubberte neben ihr, dann zerplatzte etwas Grüngelbliches und besprenkelte das Hirschleder. Mehrere Ameisen wurden davon getroffen; sie verloren den Halt und rutschten ab. Ungläubig beobachtete Lexz, wie sich diese Ameisen wanden und ihre dünnen Beinchen zitterten, bevor sie in den Schleim fielen und mit kleinen schmatzenden Geräuschen von ihm aufgesogen wurden.

Das war aber erst der Anfang. All das weiche Zeug unter Ekarna begann zu blubbern und sich zu bewegen. Dicke Blasen wölbten sich, bis sie platzten, und Lexz stieg ein unangenehm scharfer Geruch in die Nase, der noch schlimmer war als der muffige süßliche Gestank, der aus der Grube heraufstieg.

»Ich glaube, du solltest da ganz schnell wieder rauskommen«, drängte Torgon.

Ekarna hörte jedoch nicht auf ihn. Sie beugte sich vor und streckte die Hand aus, als wolle sie nach etwas greifen. »Das hier könnte ein Flügel sein«, sagte sie. »Ein großer schwarzer Flügel.«

»Ja«, presste Torgon hervor. »Es könnte aber auch ein Umhang sein - so einer, wie ihn deine Angreifer getragen haben.«

»Glaub ich nicht.« Ungeachtet der Tatsache, dass ihr linker Fuß immer tiefer in dem blubbernden, sabbernden Schleim versank, beugte sich Ekarna so weit vor, dass sie das Gleichgewicht fast ganz verlor. »Ich will nur mal sehen, ob es etwas Lebendiges war - oder tatsächlich nur ein Stück toter Stoff.«

Oder vielleicht Sedak, dachte Lexz voller Panik. Oder Larkar!

»Komm jetzt da raus!« Torgon schrie fast. »Du versinkst gleich ganz. Und irgendwas stimmt mit diesem Zeug auch nicht. Das saugt dich auf!«

Und nicht nur das. Das hier war eine Falle, eine verfluchte Falle ...

Lexz sah sich nach allen Seiten um. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Die Gefahr war körperlich spürbar, sie zog sich wie ein Netz um sie zusammen. Und mehr noch. Lexz hatte plötzlich das Gefühl, Larkar und Sedak müsse etwas Schreckliches passiert sein. Was nun, wenn sie gleich ihnen in einen Hinterhalt geraten waren, man sie überfallen und in diese schreckliche Falle gedrängt hatte?

Auch Ekarna wirkte inzwischen mehr als nur ein wenig besorgt. Sie runzelte die Stirn und starrte auf die glitschige Stelle, in der sie ihren Fellschuh abgesetzt hatte. »Das gefällt mir nicht«, sagte sie, und wie es ihre Art war, wiederholte sie den Satz noch einmal: »Das gefällt mir ganz und gar nicht!«

Sie versuchte den Fuß wieder herauszuziehen. Aber das war nicht mehr möglich. Ein Zittern und Beben ging durch den Schleim, als wäre er etwas durch und durch Lebendiges, und fast sah es so aus, als bilde sich allmählich etwas Festes in ihm - und wollte nach ihrem Knöchel greifen.

Lexz sprang aus dem Stand nach vorn, war schon bei Ekarna, und noch ehe er selbst richtig begriff, was er vorhatte, war er auch bereits in die Hocke gegangen, streckte die Arme unter ihren Achseln durch und verschränkte sie vor ihrer Brust. Er spürte ihre Brustwarzen, die so hart und steif waren wie bei einer Frau, die plötzlich mit kaltem Wasser übergossen wurde - oder die durch ihren Liebhaber erregt wurde. Dann spürte er sie auch wieder nicht, zu sehr war seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet, einen möglichst festen Stand zu haben und seine ganze Kraft für den Augenblick aufzusparen, in dem er Ekarna herausziehen konnte.

Sie spannte sich auf ihre Raubkatzenart an, und Lexz spürte seinerseits, wie er von starken Armen gepackt wurde, als Torgon herangekommen war.

»Und ... jetzt!«, schrie Torgon.

Sie waren so eingespielt, dass ihre Kraft tatsächlich wie die eines einzigen Wesens mit sechs Armen und sechs Beinen explodierte. Ekarna kam auch ein Stück hoch, glitt dann aber wieder - wie von einem starken Mann in die andere Richtung gezogen - ein Stück zurück, und Lexz und Torgon verdoppelten ihre Anstrengungen, während sich Ekarna wand und bog und dann den linken Fuß mit einem Ruck hervorzog.

Ein fürchterliches Geräusch antwortete ihr, fast so etwas wie ein Aufschrei, eingeleitet von einem bedrohlich klingenden Blubbern, dem eine Explosion mit solcher Wucht folgte, als würde ein falsch unterfüttertes Schmiedefeuer hochgehen, und grünlichgelber Schleim spritzte in einer Riesenfontäne hinauf, begleitet von mehreren kleineren Eruptionen und Spritzern, die ihre ekelhafte Ladung in alle Richtungen verteilten.

Ekarna keuchte und schrie auf, bevor sie endlich freikam, und Lexz und Torgon torkelten mit ihr rückwärts, ein paar Schritte weit, ehe sie alle drei das Gleichgewicht verloren. Lexz stürzte auf Torgon, und Ekarna auf ihn, und Lexz hatte plötzlich einen spitzen Ellbogen im Gesicht, bevor sich die Raubkatze über ihm hinwegdrehte und mit einem keuchenden Laut neben ihm ins Gras fiel.

Lexz blieb erst einmal dort liegen, wo er war: auf dem dicken Torgon. Dass diese Lage nur für ihn selbst bequem war, begriff er aber erst, als das Fett unter ihm zu schwabbeln begann.

»Bei allen verfluchten Sumpfgeistern«, keuchte Torgon. »Fang bloß nicht an, es dir auf mir bequem zu machen!«

»Was ist denn?«

Torgon packte Lexz an der Schulter und zerrte an ihm herum. »Sieh zu, dass du von mir runterkommst«, stieß Torgon gepresst hervor, und Lexz tat es Ekarna nach, ließ sich auf die andere Seite gleiten und fiel auf den feuchten Boden, der aber trotzdem ausreichend Widerstand bot.

Als er dann wieder hochsah, flogen mehrere Schmeißfliegen von seinem Gesicht auf, und da erst bemerkte er das Brennen auf seinen Wangen, seinem Hals und seinen Händen, also überall dort, wo sein Körper nicht von der Kleidung geschützt war. Das musste das Zeug sein, das von der Grube hochgespritzt war, als sie Ekarna aus ihr herausgerissen hatten.

Lexz wollte aufstehen, aber es gelang ihm nicht. Ihm war schwindlig, und sein Atem ging nicht so gleichmäßig, wie er es eigentlich sollte, sondern hart und heftig. Was war bloß mit ihm los? Er fühlte sich benommen, fast wie berauscht.

»Reiß dich doch zusammen«, herrschte ihn Torgon an.

»Was?«, fragte Lexz.

»Reiß dich zusammen«, wiederholte die Stimme, und da erst begriff er, dass es gar nicht Torgon gewesen war, der ihn angefahren hatte, sondern Zakaan. Die Stimme in seinem Kopf, die immer da war, wenn er etwas falsch machte - und das auch dann, wenn der Schamane in Wirklichkeit eine Tagesreise entfernt im Lager zurückgeblieben war, so wie es auch jetzt der Fall war.

Lexz hatte immer einen leichten Druck auf den Schläfen verspürt, wenn der Schamane zu ihm gesprochen hatte, und sein Atem war niemals so selbstverständlich geflossen, wie es Zakaan von ihm verlangt hatte. Dabei hatte er immer das Gefühl gehabt, schon im Ansatz etwas falsch zu machen - so wie ein Jäger, der sich mit dem Wind an eine Beute anzuschleichen versucht, statt den Wind für sich arbeiten zu lassen.

Wenn Zakaan von ihm verlangte, sich auf etwas wirklich Wichtiges zu konzentrieren, waren seine Gedanken abgeschweift. Wenn er erwartete, dass Lexz ruhig war, hatte sein Herz besonders laut zu pochen begonnen, und wenn er ihm geraten hatte, seine ganze Kraft in seine Hände und Augen zu schicken, um in einem bevorstehenden Kampf gewappnet zu sein, dann hatte er nur mit Mühe ein Zittern unterdrücken können, das von seinem ganzen Körper Besitz ergreifen wollte.

Und wenn er von ihm verlangt hatte, alles aus reinem Herzen aufzunehmen, was ihm der Schamane beibrachte, dann hatte Lexz nie das Gefühl gehabt, seinen Ansprüchen wirklich gerecht zu werden.

Er war ein unwürdiger Schüler des großen Schamanen, und seinem Vater ein unwürdiger Sohn, nicht wert, jemals seine Nachfolge anzutreten. Dieses Wissen hatte er so tief in seinem Herzen vergraben, dass er meist selbst vergaß, wie nutzlos und unwürdig er eigentlich war.

Dazu allerdings war er jetzt nicht mehr imstande. Er hätte schneller, geschickter und beherrschter sein müssen als alle anderen jungen Männer seines Volkes. Doch dazu hätte er seinen Atem mit dem Atem der Götter verbinden müssen - und das vermochte er nicht. Nicht ein einziges Mal hatte er es wirklich geschafft. Immer, wenn er geglaubt hatte, sein Atem schwinge nun im gleichen Rhythmus wie der der Götter, war irgendetwas passiert, das ihn abgelenkt hatte. Meist war es etwas vollkommen Lächerliches und Nutzloses gewesen. Ein Krampf in seiner Wade zum Beispiel. Oder eine Mücke, die über sein Kinn spazierte und in seine Lippe biss, sodass er sie mit einer schnellen Bewegung tötete, statt sich zu beherrschen.

Das Schlimmste daran war, dass alle anderen scheinbar mühelos genau das schafften, was ihm noch nicht einmal mit größter Anstrengung gelang. Doch keiner wagte ihn darauf anzusprechen - bis auf Zakaan natürlich, der ihn öfter schalt als ihn die Läuse zwicken konnten.

Nur mit Mühe gelang es Lexz, sich von den sinnlosen Gedanken zu lösen und in die Wirklichkeit zurückzufinden.

Das war allerdings gar keine Erleichterung. Voller Unbehagen sah er Ekarna und Torgon zu, wie sie ein paar Schritte zurück in Richtung Grube gingen, und dann wieder stehen blieben, unschlüssig und in einer Haltung, die wenigstens Unsicherheit verriet, vielleicht sogar Angst. Was auch kein Wunder war. Das Blubbern und Glucksen wurde zunehmend lauter, und da war inzwischen noch etwas anderes hinzugekommen, eine Art schmatzendes Geräusch, das sich mit jedem Schritt veränderte, den die beiden auf die Grube zumachten, und in dem etwas ... Hämisches mitschwang. Die beiden blieben wie auf ein geheimes Kommando gleichzeitig stehen, sahen sich unschlüssig an, und dann drehte sich Torgon zu ihm um und warf ihm einen besorgten Blick zu.

»Weg da!«, hätte ihnen Lexz am liebsten zugerufen. »Diese Grube ist ein Ort voller Verderben. Begreift ihr das denn nicht?«

»Was ist?«, fragte Torgon, während er das Kunststück versuchte, gleichzeitig mit der linken Hand den rechten Handrücken und mit der rechten den linken Handrücken zu kratzen. Es gelang ihm sogar. Und sah so aus, als wäre er gerade dabei, den Verstand zu verlieren. »Kommst du?«

»Ich ... ich ...«, stammelte Lexz, und eine Woge der Übelkeit ergriff ihn so, dass er sich vorbeugte und in dem Versuch, sich nicht zu übergeben, keuchte.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Torgon. »Ist alles mit dir in Ordnung?«

Sein Gesicht schien zu verschwimmen und machte Zakaans alten, zerfurchten Gesichtszügen Platz, um sich dann wieder zu festigen. Lexz blinzelte. Er wusste auch nicht, was mit ihm los war. Es ging ihm nicht gut, das war klar, und sein Körper reagierte nicht so, wie er es sollte. Aber das war auch nichts Neues für ihn. Hunger und Durst, Verletzungen und Entbehrungen, all das hatte ihm schon oft so zugesetzt, dass er seine letzten Kräfte hatte freisetzen müssen, um nicht einfach aufzugeben und sich dem Schatten der Todesnacht anzuvertrauen, wie es so viele andere seines Volkes schon getan hatten.

Aber warum ließ ihn die Stimme des Schamanen jetzt nicht los?

Noch bevor er diesen Gedanken jedoch richtig fassen konnte, glaubte er die mahnende Stimme des Alten erneut zu hören: »Reiß dich zusammen, Lexz, Sohn des Ragok, Ahne derer, die das Geschlecht der Raker begründet haben.«

Lexz nickte. Er war ja bereit sich zusammenzureißen. Aber er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Zu der Sorge um Larkar und Sedak, die beiden Gefährten, die sie verloren hatten, weil er vor Wut immer tiefer in den dichten Wald hineingelaufen war, gesellte sich nun auch noch die Angst um Torgon und Ekarna.

Sie sollten doch nicht dahin gehen - nicht zu dieser schleimigen, ekelhaften Grube, die Ekarna gerade fast verschlungen hatte!

»Du weißt alles, was du wissen musst«, bedrängte ihn die alte knarzige Stimme des Schamanen. »Ich habe dir doch alles beigebracht. Und nun hilf deinen Gefährten - und dir selbst!«

Lexz stieß keuchend die Luft aus und richtete sich ruckhaft wieder auf. »Weg da! Dieses Zeug, das uns besudelt hat ...«, begann er, aber da fuhr der Dicke schon herum und starrte alarmiert auf die Grube, als hätte er dort etwas wahrgenommen, was nicht in Lexz’ Blickfeld war.

»Was ist?«, fragte Lexz besorgt, während er sich mit beiden Händen abstützte und - vergeblich - versuchte, wieder hochzukommen.

Ekarna hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bewegen. Ihr Gesicht richtete sich nach wie vor auf den blubbernden Tümpel, ihr Kinn war leicht angehoben, ihr ganzer Körper sprungbereit; und in diesem Augenblick hatte sie vielleicht mehr von einer Raubkatze an sich, die gerade Witterung aufgenommen hatte, als je zuvor.

»Großer Gott, was ist das bloß für ein Gestank?«, ächzte Torgon. »Und was ist ...?«

Er verstummte, sog zwischen den Zähnen scharf die Luft ein und verzog dann angewidert das Gesicht. »Das ist ja ekelhaft!«

»Nun«, sagte Ekarna, während sie zu Lexz’ Entsetzen einen weiteren Schritt vorwärts machte. »Das ist doch jetzt nichts Neues mehr. Aber ich will auch endlich wissen, was hier los ist!«

Lexz hatte schon Sorge, sie werde blindlings losstürzen, ein Verhalten, das er ihr durchaus zutraute. Doch offensichtlich siegte ihre Erfahrung über ihr Temperament, und aus einem ersten raschen Schritt wurde ein deutlich vorsichtigerer zweiter, bevor sie dann wieder lauernd stehen blieb und das scharf geschliffene Bronzeschwert mit der breiten Klinge zog.

Lexz wollte nichts weiter als aufstehen und seinen Gefährten hinterherlaufen. Aber sein Körper versagte ihm den Dienst. Er fühlte sich fast wie bei den Zeremonien, in denen Trinkgefäße mit berauschenden Substanzen herumgereicht werden: benommen und auf eine Weise außer Gefecht gesetzt, die vielleicht im Schutz der Gemeinschaft statthaft war, aber nicht, wenn man sich als Kundschafter in einer gefährlichen Situation wiederfand.

»Es ist völlig sinnlos, dagegen anzukämpfen«, sagte der Schamane.

Lexz blinzelte. Er sah Ekarna und Torgon, er spürte ihre Anspannung, er bemerkte auch die Waffen in ihren Händen, und er wusste, dass sie sich auf den Kampf vorbereiteten, den sie würden führen müssen. Aber da war auch noch etwas anderes.

Ein alter Mann, der ihm gegenübersaß und ihn über das prasselnde Feuer hinweg anstarrte, um das herum sie ihre Gespräche zu führen pflegten.

»Kampf bedeutet doch immer auch zu riskieren, dass man verliert«, fuhr der Schamane fort, und jetzt glaubte Lexz sogar die Hitze des Feuers wahrzunehmen und die Funken zu spüren, die von den Holzscheiten und dem Geäst aufstoben und in seine Wangen bissen.

Es waren aber gar keine Funken, es war das ekelhafte Zeug, mit dem er besudelt worden war: etwas, das er gleichzeitig wusste und auch wieder nicht. Und auch etwas, das im Augenblick keine Rolle spielte.

»Du musst sicherstellen, dass du diesen Kampf gewinnst«, fuhr der Schamane endlich fort. »Wenn du ihn verlierst, wirst nämlich nicht nur du sterben, sondern auch dein Volk.«

»Ja.«

Er richtete sich mit einem Ruck auf, da wurde ihm schwindlig, sein Herz klopfte bis zum Hals, und bunte Flecken tanzten vor seinen Augen.

»Lexz, Vorsicht!«, schrie Ekarna.

»Was?« Träge drehte er sich zu Ekarna um, und die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Ihm war schrecklich übel, und wahrscheinlich wäre er in das Schattenreich der Bewusstlosigkeit abgeglitten, wenn er nicht eben gerade Bewegungen zwischen den Bäumen wahrgenommen hätte, ein Huschen und Schleichen, als werde der Wald plötzlich lebendig - oder als stiegen nun die Sumpfgeister aus dem feuchten Boden auf, angelockt von ihrem Leid und der vorlauten Bemerkung, mit der Torgon sie herausgefordert hatte.

Lexz kam torkelnd hoch, seine Hand fuhr zur Waffe und seine Augen versuchten das geisterhafte Treiben einzufangen ...

Es schien endlos zu dauern, bis Abdurezak, Taru und Kaarg endlich verschwunden waren, um sie wieder allein ihrem Schicksal zu überlassen. Taru sollte ihr den Prozess machen? Das war doch lächerlich. Es gab wohl niemanden unter den Rakern, der sie mehr hasste als Dragosz’ Sohn. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was er ihr entgegenschleudern mochte, und wie er versuchen würde, alles in den Dreck zu ziehen, wie er ihr unterstellen würde, dass sie von Anfang an nichts anderes vorgehabt hatte als alle Raker zu vergiften ...

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff, dass der Totengesang der Klageweiber verebbt war. Das Geräusch der zirpenden Grillen und das Plätschern der Wellen hallte unangenehm laut in ihren Ohren wider. Es dauerte eine ganze Weile, bis Arri es wieder als das wahrnahm, was es in Wahrheit war: den ewigen und immerwährenden Gesang des Sees, der sie eingeladen hatte, in Frieden und Ruhe an ihm zu leben.

Immer wieder hatte sie ihren Liebsten betrachtet, jetzt aber riss sie den Blick von ihm los. Es war so schrecklich, ihn dort liegen zu sehen und zu glauben, er könne sich jederzeit wieder erheben. Und es war Unfug. Es war das Spiel der Wellen, die das Totenboot schaukelten, und das Licht der Morgensonne, das winzige Bewegungen vorgaukelte, wo gar keine waren.

Fast gewaltsam hob sie den Kopf und sah zum Ufer hinüber. Von der Stelle aus, an der Rar sie auf dem noch frisch riechenden Holz des lang geschwungenen Stegs, der zu dem neuen Pfahldorf gehörte, abgesetzt hatte, konnte sie nur einen kleinen Teil des Ufers einsehen. Sie stieß einen zittrigen Seufzer aus. Alles wirkte auf schreckliche Weise unverändert: die kleine, halb eingefallene Anlegestelle, die ihnen die alten Seebewohner hinterlassen hatten, zwei der von ihnen in aller Eile errichteten Hütten, die ihnen damals wie ein großer Luxus erschienen waren und jetzt nur noch schäbig wirkten, und dahinter der kleine Ausschnitt eines fruchtbaren Ackers, den sie erst vor Kurzem wieder urbar gemacht hatten.

Sie erinnerte sich noch genau daran, wie es gewesen war, als sie mit Dragosz und den Kundschaftern zum ersten Mal das Ufer abgeschritten hatte, immer darauf gefasst, dass gleich jemand käme, um seine Ansprüche auf den See und die alte Siedlung geltend zu machen. Sie hatte all dies hier als ein reines Wunder empfunden. Eine frische Brise war über das Wasser gestrichen, nicht zu warm und nicht zu kalt, Vögel hatten sich träge vom Wind tragen lassen, und surrende Libellen waren dagewesen, die wie die Mücken, Fliegen und andere Insekten vom reich gedeckten Tisch des Seeufers lebten.

Es war ein unbeschwerter, glücklicher Augenblick gewesen; und trotzdem hatte eine Art böse Vorahnung in ihr mitgeschwungen. Sie hatte gelernt, auf ihre Vorahnungen zu achten, und wahrscheinlich verdankte sie ihnen schon mehr als einmal ihr Leben. Aber diesmal suchte ihre Hand die von Dragosz, um sie fest zu drücken, und als sie ihn anlächelte, schalt sie sich innerlich eine Närrin, dass sie sich im Anblick eines großen Glücks schon wieder Sorgen zu machen anfing.

Das Wunder des Sees hatte sie beide überwältigt. Sie waren wie zwei kleine Kinder durch das ufernahe Wasser getobt und hatten die schwirrenden, summenden und brummenden Insekten und all die blühenden Pflanzen und grünen Triebe staunend wahrgenommen, die ihnen nach der Zeit der Entbehrung in ihrer Üppigkeit ebenso wie ein Wunder vorgekommen waren wie die vom Ufer aus ansteigenden brachliegenden Äcker, auf denen wildes Korn und andere Pflanzen trieben. Außer ihnen war keine Menschenseele zu sehen, und darin hatte vielleicht sogar das größte Wunder von allen gelegen. Was war nur geschehen, dass die ursprünglichen Seebewohner diese unfassbar schöne und reiche Gegend verlassen hatten?

Dieses Rätsel hatten sie weder an diesem noch am nächsten Tag lösen können, als sie erneut zum See aufgebrochen waren, um einen geeigneten Platz für ihre eigene Siedlung auszusuchen. Staunend hatten sie dort immer wieder neue kleinere und größere Wunder entdeckt, bis sie sich liebestrunken in eine schmale Bucht verirrt hatten ...

Schon in früheren Zeiten hatten Menschen um und mit dem See gelebt, natürlich, und überall hatten sie die Hinterlassenschaften aus verschiedenen Epochen gefunden: einen im Wasser vermoderten Einbaum, mehrere Feuerstellen, Steinwerkzeug, Pfeilspitzen und Lederriemen, verbogenen Kupferschmuck, angeschlagene Trichterbecher und allen möglichen Unrat, der im Schlick gelegen hatte. Dragosz hatten natürlich am meisten die morschen Pfähle im See beeindruckt, die verfaulenden Planken und auch die Überreste von Hütten auf dem Seegrund, die so aussahen, als hätte eine riesige Faust so lange auf sie eingeschlagen, bis sie unter der rohen Gewalt schlicht und einfach in sich zusammengebrochen waren.

Angriffe, Kämpfe, Tod und Verderben - alles dies war die Sprache, die Dragosz während der großen Wanderung gezwungen war zu sprechen. Und wenn er sich mit seinen Getreuen beriet, hatten sie manchmal das Gefühl, es ginge ihm in Wirklichkeit gar nicht darum, einen friedlichen Platz für sich und sein Volk zu finden, sondern er wolle vielmehr auf ewig Krieg führen.

»Wir werden ein Pfahldorf bauen«, hatte er entschieden. »Das lässt sich wesentlich besser gegen Angreifer verteidigen. Außerdem kann sich dann niemand unbemerkt an uns anschleichen.«

»Aber warum?«, hatte sie gefragt. »Warum sollte uns überhaupt jemand angreifen?«

Dragosz hatte sie nur ruhig angesehen, und Arri erinnerte sich noch heute daran, dass er dann ganz leise gesagt hatte: »Begreifst du denn nicht, wie unglaublich wertvoll der See und seine Umgebung ist? Hast du nicht gesehen, wie weit sich die Felder einst erstreckt haben, und das auf bestem Ackerboden? Und sind dir die Überreste der Koppeln ganz entgangen, auf denen man Vieh gehalten hat?«

»Natürlich habe ich all das auch gesehen«, hatte sie genauso leise zurückgeben. »Und deswegen habe ich geglaubt, dies hier sei Urutark - das Land eurer Prophezeiung.«

»Vielleicht ist es das ja auch«, antwortete Dragosz leise, »aber nur, wenn wir es dazu machen.«

Arri hatte damals nicht verstanden, warum er dabei nicht fröhlich oder zumindest hoffnungsvoll ausgesehen hatte. Sein Blick hatte sich aber ganz im Gegenteil getrübt, und sie hatte das Gefühl gehabt, er blicke weit zurück - vielleicht in das Land seiner Ahnen, die ihm aufgetragen hatten, sein Volk aus Hungersnot und Dürre in ein reiches Land zu führen, in das Land der alten Prophezeiungen, eben nach Urutark.

»Dieser See und seine Umgebung - es ist Urutark«, so hatte er gesagt. »Und deswegen macht es mir Angst.«

Arri war zusammengezuckt. Sie erinnerte sich noch ganz genau daran. Dragosz und Angst? Das passte so wenig zusammen wie Sommer und Winter. Und das war auch nicht das Einzige, was sie erschreckte. Es war sein Gesichtsausdruck, und dann seine Stimme. Er sah plötzlich viel älter aus, und seine Stimme hatte geklungen wie die von Abdurezak, wenn er mit großer Besorgnis über die Gefahren eines lang anhaltenden Winter sprach, und über seine Sorge, dass sie alle zusammen verhungern könnten, wenn kein Wunder geschah.

Dragosz war in diesem Augenblick nicht mehr Dragosz gewesen, da war sie sich auch nach all der Zeit noch ganz sicher. In diesem Augenblick hatte sie in das Gesicht eines alten Mannes geblickt, in das eines Weisen, eines Ältesten - in das eines der Stammväter von Dragosz, der seinem Geschlecht in früherer Zeit aufgetragen hatte, das Volk der Raker aus allen Gefahren heraus in ein neues Land zu führen.

»Dies hier war schon immer ein reiches Land«, fuhr Dragosz in der gleichen ungewohnten Art fort. »Und wer viel hat, dem wird auch viel geneidet. Ich weiß nicht, warum hier zurzeit niemand wohnt. Aber ich habe im Schlick Skelette liegen sehen - und nicht weit entfernt die Überreste eines Steinbeils. Etwas, das einmal ein Speer gewesen sein könnte. Du weißt, was das heißt.«

»Du meinst, um das Land hier wäre früher gekämpft worden?«, fragte Arri unsicher, »und dass man auch uns angreifen könnte?«

»Nein.« Dragosz’ Stimme klang ungewohnt ernst. »Ich meine es nicht nur. Ich weiß es ganz sicher.«

»Aber die Menschen hier ... ich meine, die Menschen, die hier früher gelebt haben. Sie sind doch freiwillig gegangen?«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.«

»Aber natürlich sind sie freiwillig gegangen«, beharrte Arri. »Sonst würden doch jetzt andere Menschen hier leben!«

Dragosz zuckte mit den Schultern. »Das ... kann ich mir auch anders vorstellen.«

»Aber wie?«

Dragosz war einen Schritt zurückgetreten. Er hatte auf den See hinausgestarrt, der sich im Licht der untergehenden Sonne blutrot gefärbt hatte. Wie kraftvoll er dabei ausgesehen hatte, so stark und männlich - und doch auf seine ganz eigene Weise verletzlich.

Schließlich hatte er sich aber wieder zu ihr umgedreht.

»Und was ist, wenn sie zurückkommen?«, flüsterte Dragosz. Er hatte Arri hart an den Armen gepackt. »Was ist, wenn die alten Siedler zurückkommen? Und vielleicht sogar in Begleitung meines Bruders?«

»Aber ... ich glaube nicht ...«

»Du glaubst nicht, dass Ragok kommen wird.« Dragosz nickte. »Aber das wird er. Verlass dich darauf. Und dann wird es zu dem Kampf zwischen uns beiden kommen, den wir vielleicht schon früher hätten austragen müssen.«

Dann hatte er etwas getan, das Arri noch mehr erschüttert hatte als alles andere zuvor: Er hatte sich zu ihr hinabgebeugt und sie so ungestüm in die Arme genommen und gedrückt, als wolle er sich für die ganze Ewigkeit von ihr verabschieden.

Kapitel 5

Ekarnas Warnung kam zwar rechtzeitig, aber Lexz war einfach nicht schnell genug. Bevor er sein Schwert aus der ledernen Rückenhalterung reißen konnte, stieß Torgon schon ein markerschütterndes Brüllen aus, drehte sich wild herum und rannte auf irgendjemanden zu, den Lexz bislang nicht einmal bemerkt hatte. Als Lexz den Kopf in die andere Richtung riss, erkannte er gleich mehrere vollkommen ... unmögliche Gestalten, die sich auf Ekarna stürzten.

Sumpfgeister? Wohl kaum. Es waren Menschen aus Fleisch und Blut, die sie angriffen. Und doch schien dieser Anblick so unglaublich, dass Lexz einen vollen Herzschlag lang einfach nur wie erstarrt zusah, bis er nach vorne sprang und noch in der unsicheren, torkelnden Bewegung seine Waffe endgültig hervorriss.

Ekarna wurde angegriffen, aber nicht von den Gestalten in den Kapuzen, den Dämonen, wie Torgon sie genannt hatte. Aus dem Wald brach eine Horde noch ganz anderer Angreifer hervor: Untersetzte Kerle mit wilden Bärten und noch wilderen Blicken. Die Männer trugen keine gewebte Kleidung, sondern steckten in grob zusammengenähten Bären- oder Wolfsfellen, die wie Überbleibsel aus einer anderen, längst vergangenen Welt aussahen. Dazu passte auch ihre Bewaffnung aus wuchtigen Holzkeulen und massiven Steinäxten, die sie drohend schwangen, während sie sich mit einem tierisch klingenden Gebrüll auf sie stürzten.

Höhlenmenschen.

Was, bei allen Göttern, taten denn Höhlenmenschen hier? Lexz war der Meinung gewesen, dass es sie schon seit vielen, vielen Generationen nicht mehr gab. Schließlich lebten sie in der Zeit von Webstühlen, Bronzewaffen und Langhäusern, und nicht in den harten alten Zeiten, als die Menschen den wilden Tieren noch die Höhlen streitig machen mussten, um sich vor den Naturgewalten zu schützen.

Die Zeit, die Lexz mit diesem nutzlosen Gedanken verschwendete, reichte Torgon, um mit seinem Hammer unter die Angreifer zu fahren. Und das keinen Augenblick zu früh, denn Ekarna war bereits getroffen und taumelte zurück. Bevor ihre Angreifer ihre Schwäche ausnutzen konnten, war Torgon unter ihnen. Mit ungestümer Wut warf er sich gleich zwei der ungepflegten Langbärte entgegen, ließ seinen Hammer auf den Arm des einen knallen, dass es ein fürchterlich dumpfes Geräusch gab und dem Kerl die Keule aus der Hand geprellt wurde, während er dem anderen aus der gleichen Drehung heraus den Ellbogen ins Gesicht stieß.

»Lasst Ekarna in Ruhe!«, brüllte er dabei. »Die steht unter meinem Schutz!«

Der Mann, den er mit dem Ellbogen erwischt hatte, spuckte zwar Blut, zeigte sich dadurch aber nicht sonderlich beeindruckt. Ohne Aufschrei, dafür aber mit der brutalen Kraft eines Bären, der durch einen Treffer bis aufs Äußerste gereizt war, sprang er vor - und packte mit beiden Händen Torgons Hammer. Lexz beobachtete ungläubig, wie er den Dicken an seinem eigenen Hammer so mühelos hin und her schwenkte, als hätte er einen Fuchs am Schwanz erwischt und würde ihn nun herumwirbeln, um ihn dann an einem Felsen zu zerschmettern.

»Nein!«, schrie Lexz.

Er war immer noch unsicher auf den Beinen, aber die Angst um seine beiden Gefährten verlieh ihm neue Kraft. Jetzt war er es, der wie ein leibhaftiger Dämon über sie kam. Sein aufwendig gefertigtes Bronzeschwert unterlief den kraftvollen, aber plumpen Keulenschlag eines Höhlenmenschen, der sich im letzten Augenblick dazwischenwerfen wollte, und erwischte den Kerl, der meinte, Torgon ungestraft herumschleudern zu dürfen. Seine Klinge ritzte die Schulter des Mannes auf und schrappte über seine Kehle, dann brüllte der Kerl auf und sprang zurück.

Wenn Lexz aber gedacht hatte, dass er jetzt aufgeben werde, dann sah er sich getäuscht. Der Bärtige hielt den Hammer weiterhin so fest umklammert, und das würde er wahrscheinlich selbst dann noch tun, wenn er schon tot war.

Torgons Augen quollen fast aus den Höhlen, als er sich mit beiden Füßen in den Boden stemmte, um seinen über alles geliebten Bronzehammer wieder an sich zu bringen. Er schien es einfach nicht fassen zu können, dass jemand stärker sein sollte als er selbst. Doch im Augenblick zumindest schien ihm der Angreifer überlegen zu sein. Er machte zwei, drei Schritte rückwärts und zog Torgon dabei wie ein kleines Kind mit sich.

Lexz setzte nach, um dieses lächerliche Schauspiel mit einem Schwertstreich zu beenden. Bevor er aber dazu kam, waren schon zwei andere Höhlenmenschen herangestürmt, um ihn mit vereinten Kräften anzugreifen. Sie waren untersetzt und einen halben Kopf kleiner als er, doch die Muskeln ihrer nackten Arme beeindruckten ihn; außerdem waren sie kampferfahren und schnell.

Obwohl sich Lexz dessen durchaus bewusst war, hätte er die beiden doch noch beinahe unterschätzt. Die Keule des Ersten rauschte so knapp an seinem Kopf vorbei, dass er fast sein Ohr eingebüßt hätte, und der Zweite setzte fast zeitgleich mit einem kraftvollen Schlag gegen seinen Waffenarm nach, dem er nicht mehr ganz ausweichen konnte. Die Keule erwischte ihn am Unterarm. Es war ein Gefühl, als hätte ihn der Huf eines Auerochsens getroffen - und die Waffe wäre ihm auch aus der Hand geprellt worden, wenn er nicht einen Teil der Schlagkraft in eine Drehbewegung aufgenommen hätte, die ihn ein Stück von seinen Angreifern entfernte.

Er drehte sich herum, vollendete die Drehbewegung mit einem kleinen Seitwärtsschritt und stand den beiden dann auch schon wieder in der leicht nach vorne gebeugten Kampfhaltung gegenüber, die ihm sein Vater in endlosen Übungsstunden eingehämmert hatte. Dass ihm das Schwert dabei doch noch fast aus der Hand geglitten wäre, weil sich seine Finger durch den pochenden Schmerz in seinem Unterarm nicht mehr mit voller Kraft zu einem festen Griff bewegen ließen, brauchten sie ja nicht zu wissen.

Um seine Schwäche zu überspielen, rang er sich ein breites Grinsen und ein einladendes Nicken ab. Die beiden Wuschelbärte tauschten einen überraschten Blick. Wahrscheinlich hatten sie ihr kleines Manöver schon öfter mit nachhaltigem Erfolg vollzogen und waren es nicht gewohnt, dass sich jemand so wenig davon beeindrucken ließ.

Lexz hätte beinahe laut aufgelacht. Keulen aus Eichen- oder Lärchenholz! Ihre Schlagkraft war zwar nicht zu unterschätzen, aber sie waren doch auch plump und unhandlich, und war der erste Schlag erst einmal danebengegangen, so waren sie denkbar ungeeignet, um einen geübten Schwertkämpfer damit in Bedrängnis zu bringen.

Als der eine Mann wie ein Höhlenlöwe knurrte, der im nächsten Augenblick sein Opfer anspringen will, und der andere sein Gesicht auf eine Art verzog, die Lexz unangenehm an ein siegessicheres Grinsen erinnerte, begriff er, dass er einen Fehler gemacht hatte.

Bevor er dazu kam zu überlegen, welche Art von Fehler es gewesen sein könnte, erahnte er auch schon eine Bewegung hinter sich, und gleichzeitig spürte er den heißen Atem eines gereizten Kämpfers in seinem Nacken. Er versuchte, nach vorn abzutauchen, um dann an den beiden anderen vorbeizuspringen und auf diese Weise in ihren Rücken zu kommen. Aber er brachte es nicht einmal ansatzweise fertig, seine Bewegung zu vollenden. Seine Oberarme wurden von einem Riesen gepackt, zumindest kam es ihm so vor, und zur gleichen Zeit wurde er auch schon nach hinten gerissen. Um ein Haar hätte er jetzt doch noch seine Waffe fallen gelassen, aber dann schleuderte ihn der Kerl von sich weg, auf die Grube zu.

Er kam auf dem Boden auf, riss das Schwert ganz an sich heran und rollte sich über den Boden. Noch bevor er die Bewegung vollendet hatte, erkannte er, dass er damit den anderen Idioten, die noch immer nicht von Torgon abgelassen hatten, zu nahe kam.

Weit weniger elegant als geplant kam er hoch. Er sah sich jetzt von mehreren Männern eingekreist, und aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, dass Torgon noch immer verzweifelt um seinen Hammer kämpfte und es dabei mit Ausweichschritten versuchte, die ihn wie einen tapsigen Bären wirken ließen, der seine Pfote versehentlich zu tief in eine Honigwabe versenkt hatte und sie nun wieder losbekommen wollte.

Nur, dass es in seinem Fall kein Honigtopf war, sondern ein Hammer, und er ihn auch nicht loswerden wollte, sondern ihn wieder in seinen Besitz zu bringen versuchte.

Lexz fuhr zu ihm herum, um ihm beizustehen, und begriff zugleich, dass die anderen darauf nur gewartet hatten. Johlend und Keulen oder Steinäxte schwingend setzten sie ihm nach, und was er ihnen an Beweglichkeit voraushatte, konnten sie in jedem Fall mit purer Körperkraft ausgleichen.

Sie würden ihn einfach überrennen.

Er sprang zur Seite, kam aber nicht weit; auch dieses Manöver hatte einer der Bärtigen vorausgesehen und schnitt ihm nun den Weg ab. Bevor er sich angemessen um ihn kümmern konnte, setzten die anderen nach. Mit wütenden Schlägen trieben sie Lexz zurück und immer weiter auf die Grube zu. Er hatte alle Mühe, den scharf geschliffenen Steinäxten und aus Hartholz geschnitzten Keulen auszuweichen. Er musste sich aus der Umklammerung befreien, aber sie ließen ihm keine Gelegenheit für einen Gegenangriff oder ein Ausweichmanöver. Immer wieder gelang es Lexz, unter einer der Waffen wegzutauchen oder rechtzeitig zur Seite zu springen. Aber dabei kam er auch mit jedem Schritt der Grube näher.

Er versuchte einen Ausfallschritt, erwischte einen der Bärtigen mit seiner Klinge und trat einem anderen die Steinaxt weg, die daraufhin in einem langgezogenen Bogen davonsauste und mit einem platschenden Geräusch inmitten der halb verwesten Leichenteile in der Grube aufschlug. Dafür handelte er sich einen harten Treffer im Nierenbereich ein.

Keuchend stieß er die Luft aus, wurde von einer bronzeharten Faust getroffen, die ihn an der Schulter erwischte, und taumelte zurück. Die Grube befand sich in seinem Rücken! Er musste hier fort, bevor er einen Schritt zu weit zurücktaumelte und in den fürchterlich blubbernden Leichenpfuhl fiel.

Doch es war hoffnungslos. Die Angreifer heulten wie ein Wolfsrudel auf, und er begriff, dass sie ihn jetzt genau dort hatten, wo sie ihn von Anfang an hatten haben wollen. Mit der Grube im Rücken hatte er kaum mehr eine Chance, dem nächsten Angriff mit einer schnellen Ausweichbewegung zu entgehen. Vor seinen Augen tanzten blutige Schleier, und die Luft brannte wie Feuer in seinen Lungen.

Aber sie hatten die Rechnung ohne Ekarna gemacht. Lexz sah aus den Augenwinkeln, wie sie den Mann beiseitestieß, mit dem sie gerade noch selbst beschäftigt gewesen war, und wie dann ein Rachekobold herangehetzt kam. Ihre tiefschwarz umränderten Augen blitzten voller Wut und Kampfeslust auf. Einer der Fellgekleideten fuhr herum und holte mit seiner Keule aus, und ein anderer tat es ihm mit seiner Steinaxt gleich. Lexz hielt unwillkürlich die Luft an und glaubte schon, mit ansehen zu müssen, wie die Raubkatze geradewegs in ihr Verderben lief.

Doch etwas anderes geschah. Ekarna sprang auf die beiden zu, in der Rechten ihr zwar kurzes, aber robustes Bronzeschwert, und in der Linken die Steinaxt, die im Vergleich zu denen ihrer Gegner nun plötzlich beinahe elegant wirkte. Ihr Schwert zuckte vor, und der Wuschelbart, der gerade erst seine gewaltige Keule auf sie hatte niedersausen lassen wollen, taumelte zurück.

Lexz hatte noch nicht einmal gesehen, dass Ekarnas Schwert vorgezuckt war. Dafür sah er umso genauer, dass jetzt auch von der Seite einer der Höhlenmenschen auf sie zustürmte. Zu seinem Entsetzen war er aber nicht mit einer Keule oder einer Axt bewaffnet, sondern mit einem Speer!

Ekarna musste dies auch gesehen haben. Sie reagierte vollkommen anders, als Lexz es erwartet hatte: Die Steinspitze des Speers sauste auf sie zu, und sie blieb einfach stehen - um dann im allerletzten Augenblick noch den Oberkörper so biegsam wie eine junge Esche zurückzubiegen. Der Speer rauschte an ihr vorbei, nein ... Ekarna packte ihn mit beiden Händen und riss ihn an sich heran. Ihr Kopf schnellte vor, und Lexz sah ihre Zähne aufblitzen, als sie sie in den Hals des Höhlenmenschen schlug.

Der Mann brüllte vor Schmerz und Überraschung auf. Seine Hand fuhr nach oben, dorthin, wo augenblicklich Blut hervorsprudelte.

Alle - Lexz, Torgon und die Höhlenmenschen - erstarrten. Ekarna sprang zur Seite und wischte sich über den blutverschmierten Mund, während ihre grünen Augen blitzten. Dabei sah sie wegen ihrer kriegerischen Bemalung so aus, als wäre sie gerade der Unterwelt entstiegen, um sich aus der Welt der Lebenden neue Opfer zu holen.

Der Mann, den sie in den Hals gebissen hatte, rammte den Speer in den Boden, machte dann zwei, drei hilflose Schritte, drehte sich zu der Raubkatze um und zog eine Streitaxt hervor, machte wieder einen Schritt auf Ekarna zu ... und brach dann ganz langsam und mit einem schrecklich gurgelnden Geräusch zusammen.

Aus seiner Halswunde pulste nun deutlich helleres Blut hervor, erst langsam, dann immer schneller.

Als wäre dies ein geheimes Signal, kam Bewegung in seine Kampfgefährten. Der Kerl, der Torgons Bronzehammer umklammert hielt, ließ ihn nun los, als wäre er plötzlich siedend heiß geworden, und stürzte zu dem Verletzten hin. Die anderen taten es ihm so schnell nach, dass Lexz zunächst gar nicht begriff, was hier eigentlich geschah.

Dann packten zwei der Männer den Verletzten, zogen ihn hoch und schleppten den nach wie vor heftig Blutenden mit sich fort. Seine Füße schleiften dabei wie die eines Toten über den Boden, aus seinem Mund aber kamen noch immer schreckliche gurgelnde Geräusche.

Lexz packte seine Waffe fester, als sich die anderen Männer zu ihnen umdrehten. Nein, nicht zu ihm, wie er sich schnell verbesserte. Einer von ihnen deutete auf Ekarna und sagte etwas in einer gutturalen Sprache, die trotz aller Fremdheit in Lexz’ Ohren seltsam vertraut klang; vielleicht weil sie auf einer Art Ursprache beruhte, die allen anderen Sprachen zugrunde lag.

Die anderen nickten mit einer Ernsthaftigkeit, ja schon fast einer Ergriffenheit, die Lexz vollkommen unverständlich blieb. Dann richtete der Größte von ihnen seinen Blick plötzlich in weite Ferne, sah aus verengten Augen noch einmal zu Ekarna hinüber, machte eine drohende Handbewegung ... und dann drehten sich die Männer um und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.

Lexz starrte den Höhlenmenschen hinterher, die auf nackten Füßen fast lautlos über das Gras liefen und schon kurz darauf von den Bäumen verschluckt wurden. Sein Herz raste, auch sein Atem hatte sich nicht beruhigt. Als er zu Torgon hinüberblickte, sah er den Schweiß, der von der Stirn des Dicken perlte, und auch sein Atem ging schneller und lauter als sonst. Aber immerhin schien er unverletzt zu sein.

Lexz zögerte, bevor er sich zu Ekarna umdrehte. Er wusste nicht, was er zu sehen erwartet hatte. Aber bestimmt nicht, dass Ekarna seinen entsetzten Blick mit noch größerem Entsetzen in den Augen erwiderte. Sie hob die Hand, sah das Blut darauf, und schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich ab und schwankte auf die Grube zu.

»Nicht!«, schrie Lexz. Und sie blieb stehen.

»Ich weiß nicht, was mit dir los ist«, fuhr Lexz fort. »Aber tu jetzt nichts Unüberlegtes.«

»Ich wüsste nicht, was ich tun sollte«, antwortete Ekarna mit brüchiger Stimme.

»Aber hoffentlich weißt du, was du getan hast«, sagte Torgon. Er klang kaum weniger erschüttert als Ekarna selbst. »Ich verstehe das nicht.«

»Dass man mich die Raubkatze nennt.« Ekarna drehte den Kopf nur so weit, dass man ihr Profil sehen konnte. Sie wirkte ... merkwürdig. Traurig. So, als hätte sie eher einen Kampf verloren, und nicht gewonnen. »Ihr wisst doch, warum man mir diesen Namen gegeben hat.« Sie wischte sich einen Blutfaden vom Kinn und wandte das Gesicht dann wieder ab. »Es heißt, ich hätte schon als kleines Kind jeden gebissen, der sich nicht schnell genug aus dem Staub gemacht hat.«

Lexz nickte. In einem anderen Zusammenhang wäre diese Äußerung für Torgon Anlass für einen gutmütigen Spott gewesen. Aber jetzt brachte der Dicke kein Wort raus - und Lexz hatte es endgültig die Sprache verschlagen.

Er wandte sich ab und blickte zu dem Wald hinüber, in dem die Höhlenmenschen gerade verschwunden waren. Er verstand weder, wo sie hergekommen sein mochten, noch, warum sie ihren Angriff nach Ekarnas Beißattacke so schlagartig abgebrochen hatten.

Aber irgendwie konnte er sich des unangenehmen Gefühls kaum erwehren, dass es gewiss nicht die letzte Begegnung mit den Bärtigen bleiben würde.

»Zakaan«, keuchte die alte Amara. »Ich will, dass Zakaan kommt!«

Isana biss sich auf die Unterlippe. Sie war ans Krankenlager der alten Frau gerufen worden, weil es hieß, dass diese im Sterben liege. In aller Eile hatte sie zusammengerafft, was sie für eine solche Situation für hilfreich hielt, und breitete dies nun auf einer Decke neben dem Lager der Kranken aus.

»Zakaan kann nicht kommen«, sagte Abdurezak begütigend. Er hatte sich neben Amara gehockt und hielt ihre Hand umklammert. »Aber ich bin ja da.«

Die alte Frau wand sich in Krämpfen, Schweiß stand auf ihrer Stirn. Ihr Gesicht wirkte fahl und eingefallen, doch ihr Blick war klar. »Zakaan ist bei Ragok, nicht wahr?«

Abdurezak nickte, und auf seinem Gesicht lag ein Schmerz, den er wohl selbst dann nicht hätte verleugnen können, wenn er es versucht hätte. Isana sah kurz zu ihm hoch und dann wieder zu der alten Frau. Vermutlich war Abdurezak ein paar Jahre älter als Amara, doch sie waren damals noch gemeinsam aufgewachsen. Isana spürte eine tiefe, wortlose Verbindung zwischen ihnen und begriff, dass sie gerade dabei waren, voneinander Abschied zu nehmen.

Rasch wandte sich die junge Heilerin wieder den Gegenständen zu, die sie mitgebracht hatte: Eine Schale mit Heilwasser, eine Holzschale mit getrockneten Kräutern, Tongefäße mit Ölen und Harzen - und auch die von Surkija geweihte Hasenpfote sowie ein Bernsteinauge, dem magische Heilkräfte innewohnten. Im Dämmerlicht der Hütte schien alles zu verschwimmen, und der schlechte Geruch, den die Kranke verbreitete, schürte den leisen Brechreiz, der sie schon beim Betreten der Hütte überkommen hatte, sodass sie überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

Vielleicht war es am besten, wenn sie erst einmal für Licht und frische Luft sorgte.

»Was ist nun mit dem Kümmelsud«, fragte Abdurezak, und sie begriff, dass er diese Frage nicht zum ersten Mal gestellt hatte.

»Habe ich schon ...«, Isana brach jedoch ab, als sie merkte, dass sie sich vor lauter Aufregung verhaspelte. »Ich habe einen großen Topf Kümmelsud gekocht, und an alle Kranken verteilen lassen.«

Eigentlich stimmte das nicht so ganz. Es war Arri gewesen, die den Sud aufgesetzt hatte, und Isana hatte ihn nur verlängert und neu aufgekocht. Aber solche Feinheiten interessierten Abdurezak wohl kaum.

»Aber du hast hier keinen ...?« Als Isana den Kopf schüttelte, fuhr Abdurezak fort: »Dann eile dich. Hol Kümmelsud für Amara.«

Isana sprang sofort auf. Doch sie zögerte wieder, als Amara ein »Nein!« hervorpresste.

»Keinen ... Sud mehr«, fügte Amara kaum hörbar hinzu. Ein erneuter Krampfanfall schüttelte sie und schnitt ihr die Worte ab, die sie offensichtlich noch hatte hinzufügen wollen.

Isana sah Abdurezak fragend an, doch als dieser den Kopf schüttelte, hockte sie sich wieder hin. Sie war ratlos. Seitdem man Arri weggeführt hatte, war sie es gewesen, die als ihre Gehilfin zu den Kranken gerufen wurde. Eigentlich war sie sicher gewesen, dass sie dieser Aufgabe gewachsen war, schließlich hatte sie sich von Arri all das abgeguckt, was ihr Surkija zuvor nicht hatte beibringen können.

Aber jetzt fühlte sie sich zwischen all den Kranken, denen sie Linderung verschaffen sollte, hin und her gerissen. Der Kümmelsud war die eine Sache. Aber was sollte sie tun, wenn er seine Heilkräfte nicht weit genug entfaltete? Wann war es richtig, ein magisches Ritual auszuführen, und wann, auf eine der Substanzen zurückzugreifen, denen man heilende Wirkung zusprach?

»Zakaan ... ist bei Ragok«, stieß Amara hervor. »Und Ragok und Dragosz sind Feinde. Sie müssen sich wieder vertragen, Abdurezak, hörst du?« Die alte Frau richtete sich in ihrem Lager auf, und Abdurezak beeilte sich, sie zu unterstützen. »Versprich mir, dass du dafür sorgst, dass sie sich wieder vertragen?«

Ihre Stimme wirkte jetzt genauso klar wie ihr Blick, und die Krämpfe blieben gerade einmal für eine Weile aus.

Isana sah, wie es in Abdurezaks Gesicht arbeitete. Offensichtlich hatte er es bislang vermieden, Amara zu sagen, wem der Klagegesang der alten Weiber gegolten hatte. Offensichtlich glaubte sie noch immer, Dragosz sei am Leben. Und so wie es aussah, wollte ihr Abdurezak auch nicht verraten, was mit Arris Mann geschehen war.

Isana konnte dies nur zu gut verstehen. Warum eine Sterbende mit quälenden Wahrheiten konfrontieren?

»Ich werde alles tun, was nötig ist, damit wir uns wieder vereinen«, sagte Abdurezak. »Ragok und Zakaan sind auf dem Weg hierher, das spüre ich. Und wenn sie kommen ...«

»Kein Krieg!«, jammerte die Alte. »Kein Kampf! Versprich mir das!«

Abdurezak zögerte kaum merklich, dann nickte er: »Ich werde es nicht zu einem Bruderkampf kommen lassen«, versprach er.

Die Stimme der Sterbenden sank zu etwas herab, das kaum mehr als ein Wimmern war. »Und was ist mit der Himmelsscheibe? Hat Arianrhod sie dir gegeben, wie sie es dir versprach?«

Die letzten Worte waren kaum mehr verständlich gewesen, aber Isana erschreckte sich so, dass sie das Bernsteinauge fallen ließ, das sie gerade in der Hand gehalten hatte.

Die Himmelsscheibe? Arri sollte sie Abdurezak versprochen haben? Aber wenn das so war ... hatte sie dann nicht einen schrecklichen Fehler begangen?

»Du phantasierst«, sagte Abdurezak begütigend. »Arianrhod hat mir gar nichts gegeben. Und das wollte sie auch nie.«

»Aber du und Dragosz ...«

Abdurezak schüttelte wieder und wieder den Kopf. »Das können wir alles besprechen, wenn du wieder gesund bist.«

»Nein«, stöhnte Amara. »Ich werde nicht mehr gesund.« Sie ließ sich auf ihr Lager zurücksinken. »Ich gehe zu den Urahnen. Aber ich will ihnen in Frieden gegenübertreten ... und nicht mit Furcht im Herzen.«

»Das wirst du«, Abdurezak wandte sich an Isana. »Geh schnell, und hol die Dillpaste!«

»Aber soll ich nicht lieber«, Isana hielt Abdurezak das Bernsteinauge hin, »ein beruhigendes Ritual ausführen? Ich glaube nämlich kaum, dass Dill ...«

»Tu, was man dir aufträgt«, sagte Abdurezak barsch. »Und nun geh, Isana!«

»Isana«, brachte Amara hervor, und Isana wollte sich ihr schon zuwenden. »Aber warum ist denn Isana hier?« Sie brach ab, als sie von einem Hustenkrampf geschüttelt wurde, und fuhr danach mühsam fort: »Warum ist denn Arianrhod nicht bei mir? Warum hat sie nur diese Kleine geschickt?«

Diese Kleine? Isana hätte beinahe laut aufgeschrien. Sie war doch mehr als nur diese Kleine!

Mit einem enttäuschten Laut wandte sie sich ab und eilte aus der Hütte.

Arri spürte, dass die Müdigkeit wie eine Feuchtigkeit in ihr hochkroch, die nach einem heftigen Regenguss Einzug in die Kleidung hielt. Trotzdem wäre sie nicht in der Lage gewesen, auch nur für einen Moment die Augen zu schließen. Wenn Dragosz noch leben würde ... Der Tag nach dem Fest hatte der erste Tag eines neuen Lebens sein sollen. Um das zu besiegeln, hatten sie sich heute beide mit Abdurezak treffen wollen, um endlich die Dinge zu besprechen, die sie viel zu lange schon vor sich hergeschoben hatten. Wahrscheinlich hätte Dragosz sie gerade jetzt am Arm berührt und gesagt: »Komm nun. Abdurezak wartet bestimmt schon auf uns.«

Am Abend vor dem Fest hatte ihr Dragosz gestanden, dass er Abdurezak von der Himmelsscheibe erzählt hatte. Arri hatte das zuerst als Vertrauensbruch betrachtet, aber Dragosz hatte ihr klargemacht, dass sie gar keine andere Chance hatten, als den Ältesten in das Geheimnis der Scheibe einzuweihen.

»Du brauchst dich nicht aufzuregen«, hatte Dragosz sie zu beruhigen versucht. »Er wusste ohnehin schon davon.«

»Von der Himmelsscheibe?« Arri hatte betroffen den Kopf geschüttelt. »Aber wie denn?«

»Von seinem Bruder«, hatte Dragosz erklärt. »Von Zakaan.« Als sie das nicht verstanden hatte, hatte er erklärt, dass er dem Schamanen alles erzählt hatte, was Arris Mutter einst Dragosz anvertraut hatte. Dabei waren Dinge gewesen, die selbst Arri nicht gewusst hatte.

Und jetzt war das alles so unwichtig. Die Himmelsscheibe, das Heiligtum, das sie mit den Monolithen hatten aufbauen wollen - war nichts weiter als feuchter Schnee, der vom Wind weggewirbelt wurde.

Ihr Blick wanderte wieder zu Dragosz, und dort blieb er haften. Sie fiel in einen Zustand zwischen Wachen und Schlaf, in denen Szenen aus ihrem gemeinsamen Leben mit ihrem Liebsten ineinander verschmolzen und sie mit sich trugen. Vielleicht war sie in diesem Augenblick dem Tod sogar näher als dem Leben, vielleicht war es auch nur ein Zustand, in den man kurz vor einem Zusammenbruch hineingleitet, bevor die sanften Schatten der Ohnmacht sie in einen gnädigen Schlaf mitnahmen.

Bis sie das Plätschern von Wasser hörte.

Dann ging alles so schnell, dass ihr gar keine Zeit zum Reagieren blieb.

Es war wohl weniger das Plätschern, das sie aus ihrem Dämmerzustand riss, obwohl es gleichermaßen kraftvoll und bedrohlich klang, wie ihr erst mit einiger Verspätung bewusst wurde. Vielmehr war es ein leise gezischter Befehl, und dann die Erschütterung der Holzplanken unter ihr, die sie aufrüttelten. Sie versuchte die Benommenheit wegzublinzeln und richtete sich aus ihrer so in sich versunkenen Haltung auf ...

Und sah, wie sich jemand mit nacktem Oberkörper aus dem See heraus hochzog und zu ihr kam.

Sie schreckte so fürchterlich zusammen, dass ein scharfer Schmerz augenblicklich durch ihren Nacken jagte. Es war Dragosz, der sich da zu ihr nach oben zog und sie dabei so unverschämt lebendig angrinste, als wäre jeder Gedanke an seinen Tod nur ein lächerlicher Spuk gewesen.

»Damit hast du wohl nicht gerechnet, du verdammte Drude, oder?«

Arris Herz machte einen gefährlichen Hüpfer, und bevor es wieder zu schlagen begann, jagten die unterschiedlichsten Gedanken durch ihren Kopf. Keiner von ihnen ergab aber irgendeinen Sinn.

Dragosz zog sich nun gänzlich hoch und schüttelte seinen Kopf. Unzählige Tropfen sprangen von seiner langen Mähne, und nicht wenige davon landeten auf Arris Gesicht.

Sie war fassungslos. Das war nicht Dragosz, natürlich nicht. Die Ähnlichkeit mit ihrem Liebsten verschwand endgültig, als sie in diese kalten, triumphierenden Augen blickte.

So hatte Dragosz sie nie angesehen. Aber Taru.

»Was ...«, sie musste sich räuspern, »was willst du?«

Tarus Grinsen wurde noch breiter, und da erkannte Arri, dass Dragosz’ Sohn nicht allein gekommen war. Ein zweiter junger Mann zog sich zu ihr hoch. Er hatte beeindruckende Muskeln und brutale Gesichtszüge: eine Mischung, die Arri noch nie gefallen hatte.

»Rar«, hauchte sie.

Der Schmiedegehilfe nickte, grinste aber nicht. Er starrte sie nur finster an, und in seinem Blick lag ein Versprechen, von dessen Inhalt Arri gar nichts wissen wollte.

»Ganz allein hier?« Taru hatte sich vollständig aus dem Wasser gezogen, und jetzt richtete er sich auf und starrte auf sie hinab. »Das ist aber gar nicht klug von dir.«

»Ganz genau.« Rar nickte, als er sich neben Taru aufbaute. »Gar nicht klug.«

Arri war noch immer nicht ganz in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Doch immerhin begriff sie, dass die beiden nicht im Auftrag des Ältestenrates gekommen waren, um sie zu holen. Sie hatten etwas ganz anderes vor.

»Taru«, sagte sie. »Eines musst du mir glauben: Ich habe deinem Vater nichts getan!«

»Ach so.« Taru stieß Rar in die Seite. »Hast du das gehört? Sie hat meinem Vater nichts getan.«

»Aha.« Rar trat einen Schritt vor, Arri aber drehte sich so weit wie möglich von dem groben Schmiedegehilfen weg. »Und warum liegt er da tot in dem schwarzen Einbaum?«

Arri spannte sich an und wartete darauf, dass Rar noch ein kleines Stück näher kam. Aber leider tat er ihr nicht den Gefallen.

»Jaaaa«, sagte Taru gedehnt. Er strich sich mit einer langsamen Geste die nassen Haare zurück, auch das war eine von Dragosz’ typischen Gesten. »Ich weiß nicht ... Es ist ja nicht erst seit gestern. Die Drude vergiftet schon seit ewigen Zeiten das Essen meines Vaters.«

»Das ist nicht wahr!«, wehrte sich Arri. »Ich habe deinem Vater nie etwas getan.«

»Na gut, wenn das so ist.« Taru ließ den Fuß vorschnellen und trat ihr so hart in die Seite, dass ihr die Luft aus den Lungen wich. »Ich hab doch selbst gesehen, wie du Pilze gesammelt hast«, seine Stimme klang plötzlich ganz schrill, »und anschließend hast du sie klein geschabt und ins Essen meines Vaters gestreut! Damit hast du seine Sinne verwirrt und ihn gefügig gemacht, bis er gar nicht mehr er selbst war!«

»Wie kannst du es nur wagen, so etwas zu behaupten«, erwiderte Arri. »Ich habe deinen Vater geliebt!« Und das tue ich noch immer, fügte sie in Gedanken hinzu.

Aber das musste Taru nicht wissen.

»Du warst doch schon früher eine Giftmischerin«, sagte Taru scharf. »Und du hast nur auf den passenden Zeitpunkt für den entscheidenden Schlag gewartet: der kam mit unserem Fest, mit dem wir unser neues, besseres Leben feiern wollten!«

Das war eine solch unglaubliche Unterstellung, dass Arri spürte, wie ihr vor lauter Empörung das Blut in den Kopf schoss. »Ich bin Heilerin, falls du das vergessen haben solltest«, stieß sie hervor. »Und alles, was ich getan habe, war, deinem Vater zu helfen, wenn er Schmerzen hatte!«

»Mein Vater und Schmerzen?«, fauchte Taru. »Wovon sprichst du, Drude? Mein Vater hatte niemals Schmerzen!«

Er holte erneut aus, um ihr einen zweiten Fußtritt zu versetzen. Aber diesmal war sie darauf vorbereitet. Im allerletzten Augenblick rutschte sie ein Stück zur Seite und ließ ihre zusammengebundenen Hände mit der ganzen Kraft ihrer Empörung auf seine Zehen niedersausen.

Taru stieß einen überraschten Laut aus und hüpfte zurück. »Na warte«, seine Stimme zitterte vor Zorn. »Das sollst du mir büßen!«

Er riss den Bronzedolch hervor, der gestern noch in Dragosz’ Gürtel gesteckt hatte, wie sich Arri voller Schmerz erinnerte. Pure Mordlust blitzte in seinen Augen.

»Erstech mich doch«, sagte Arri ganz leise und mit einem so drohenden Unterton, dass Taru mitten in der Bewegung erstarrte. »Mach mich doch hier gleich an Ort und Stelle nieder. Vielleicht versteht Abdurezak das ja. Vielleicht findet er es auch gut. Aber wenn nicht ...«

Taru zögerte. Er wusste ganz genau, was Arri andeutete: Wenn er sie hier niederstach, würde man ihr nicht mehr den Prozess machen können - aber ihm würde man ihn machen können, weil ein Mord etwas war, das die Raker unter keinen Umständen duldeten.

Rar hingegen begriff wieder einmal gar nichts. »Nun mach doch schon«, sagte er ungeduldig. »Stich die Drude ab. Das will sie doch sogar selbst. Dann haben wir es endlich hinter uns!«

Taru zögerte. »Nein«, er rammte den Dolch so unbeherrscht in den Gürtel zurück, dass sich die Klinge in sein Gewand schnitt. »Ich denke ja gar nicht daran.« Er gab Rar einen Wink. »Hilf ihr auf die Füße. Wir verschwinden.«

Rar wirkte zuerst verwirrt, doch dann nickte er.

»Wag es nicht, mich anzufassen«, fauchte ihm Arri entgegen. »Geh zurück in die Schmiede und lass dich hier niemals wieder blicken.«

»Ach was«, knurrte Rar. »Du hast mir gar nichts zu sagen ...«

»Und der Ältestenrat auch nicht?«, gab Arri zurück. Sie deutete mit dem Kopf in die Richtung, in der die Ältesten die ganze Nacht über in einer Hütte beratschlagt hatten, was nun zu tun sei - und in der Abdurezak und Kaarg auch wieder verschwunden waren, nachdem sie ihr den kleinen Besuch abgestattet hatten. »Abdurezak wird sicherlich gleich noch einmal nach mir sehen wollen. Und was meinst du, was passiert, wenn er dich hier erwischt?«

»Gar nichts wird passieren«, sagte Taru böse. »Schließlich hat Abdurezak selbst gesagt, dass ich dir den Prozess machen soll.«

»Aber doch nicht so, wie du das jetzt vorhast«, widersprach Arri. »Das hast du ja auch sicher nicht mit dem Ältestenrat abgesprochen, oder?« Bevor Taru etwas dazu sagen konnte, fügte Arri hinzu: »Aber das kannst du ja gleich selber mit ihnen klären.« Mit dem Kopf machte sie eine Bewegung in Richtung Ufer. »Wenn ich mich nicht täusche, kommt er da schon.«

Taru fuhr herum und starrte ans Ufer zurück. »Irgendjemand scheint da tatsächlich zu kommen«, flüsterte er.

»Die Drude hat wohl wieder einen ihrer Zauber ausgesprochen«, sagte Rar ärgerlich. »Aber das lass ich ihr nicht durchgehen.« Mit zwei Schritten war er bei Arri und bückte sich herunter, um sie zu packen und zu sich hochzuziehen.

Arri hatte genau das erwartet. In ihrem Herzen kämpften Trauer und Empörung miteinander, und fast hätte sie alles mit sich geschehen lassen. Aber dann siegte ihr angeborener Kampfeswille.

Ihr Kopf zuckte mit der Geschwindigkeit einer angreifenden Schlange vor, und ihre Zähne gruben sich in Rars Hand. Der kräftige Junge schrie auf und hieb mit der anderen Hand nach Arris Kopf. Aber sie hatte nicht vor, sich schlagen zu lassen. Gerade noch rechtzeitig ließ sie wieder los und bog den Kopf zum zweiten Mal schlangengleich, jetzt aber in genau die andere Richtung.

Rar stolperte an ihr vorbei. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre ins Wasser gestürzt. Keuchend hielt er sich am Geländer fest und fuhr dann wieder zu Arri herum. »Verfluchte Drude«, zischte er. »Das wirst du mir büßen!«

Lexz betrachtete zum wiederholten Mal seine Hände. Sie zitterten nur ganz leicht: wie Farnwedel, die sich in einem lauen Sommerwind wiegen. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn er dem Zittern hätte Einhalt gebieten können.

Aber das vermochte er nicht.

Hier, auf der kleinen sonnendurchfluteten Lichtung, zur der sie hingestolpert waren, bevor sie sich ins knöchelhohe Gras hatten fallen lassen, war das leise Blubbern und Gluckern aus der Grube kaum noch zu hören. Aber es schien noch da zu sein. Irgendetwas war dort in der Grube, etwas, das eigentlich tot sein sollte, und doch auf unvorstellbare Weise lebendig schien: etwas, das die ganze Zeit über auf ein leichtsinniges Opfer gewartet hatte, voller Gier und Lust zu töten, was auch immer so unvorsichtig sein würde, ihm zu nahe zu kommen. Lexz wusste, dass er sich darum kümmern musste, dass er nachsehen musste, was in dieser Grube vor sich ging, gleichgültig wie schrecklich es auch sein mochte.

Aber er konnte es nicht. Er war wie gelähmt.

Seine Gedanken drehten sich um die zwei Überfälle, die sie nur mit Mühe und Not überstanden hatten, und die ihn nun mehr erschütterten, als er zunächst hatte wahrhaben wollen. Vielleicht lag es an dem, was Ekarna getan hatte, vielleicht aber auch an der Grube, an der beide Kämpfe stattgefunden hatten.

Zwei Kämpfe? Waren es denn wirklich zwei Kämpfe gewesen? Lexz konnte es gar nicht fassen. Missgestaltete Kreaturen in Umhängen, die mit Stangen auf sie eingedroschen hatten, und dann Höhlenmenschen, die mit einer Wucht auf sie losgegangen waren, als hätten sie eine ganze Mammutherde vor sich gehabt.

»Alles in Ordnung?«, fragte jemand.

Er sah auf. Zuerst glaubte er, es sei Ekarna, die da vor ihm stand, aber dann erkannte er seinen Irrtum. Das Mädchen, das, fast gänzlich von Zweigen und Blättern verborgen, am Rand der Baumgruppe stand, die gerade noch Torgon Schutz geboten hatte, schien viel kleiner als Ekarna zu sein, und fast noch zierlicher. Es hatte leicht schräg stehende Augen, in denen eine bange Frage zu lesen war, und sein Mund war leicht geöffnet, so wie bei jemandem, der gerade etwas Schreckliches gesehen hat.

Lexz wusste, dass er die Kleine kannte, aber kam nicht darauf, woher. Vielleicht aus einem Traum ... oder aus den alten Geschichten über Todessyren, die einem Krieger in der Gestalt zierlicher Mädchen erschienen, bevor sie im Kampf erschlagen wurden ...

»Alles in Ordnung?«, wiederholte das Mädchen.

Seine Stimme klang wie die eines Menschen, und doch auch wieder nicht; sie war ein wenig tiefer und gleichzeitig schriller - vollkommen unmöglich, dass sie zu einem menschlichen Wesen gehörte.

»Was ist ...?«, stammelte er, und ein eiskalter Schauer rann ihm über den Rücken.

Das Mädchen nickte, als hätte es damit seine Frage beantwortet. Dann drehte es sich um und war schon kurz darauf zwischen den Bäumen verschwunden.

Vielleicht war es ja tatsächlich eine Traumerscheinung ...

Oder doch eine Todessyre ...

Zakaan taumelte hoch. Die Geschichten über die Todessyre waren uralt, gingen in die Zeit zurück, als die Menschen noch in Höhlen lebten und Eis und Schnee selbst im Sommer kaum zurückgingen. Man erzählte sich, dass damals noch andere Menschen hier gelebt hatten, die zu keinem ihrer Völker gehört hatten: bärtige, grobe Gesellen, die unglaublich stark gewesen sein mussten und viel besser geeignet gewesen waren als sie, der Kälte und dem Schnee zu trotzen. Aber dann war etwas geschehen, das die Höhlenjäger wie eine dunkle Wolke immer weiter zurückgedrängt hatte, bis sie keinen Lebensraum mehr gefunden hatten.

Die Todessyre hatte sie berührt.

Zakaan kannte diese Geschichten weit besser als jeder andere seines Volkes, denn sie wurden ausschließlich von Schamane zu Schamane weitergereicht. Es war auch gut so, dass kein anderer sie erfuhr. Denn sie waren unverständlich und grausam. Und sie endeten damit, dass eine ganze Menschenrasse untergegangen war.

Partuk, einer der Männer, die ihm bei der Zeremonie beigestanden hatten, packte ihn am Arm und stützte ihn.

»Was ist mit dir?«, flüsterte er.

»Lexz ...« Der Schamane schüttelte den Kopf. »Lexz ist in Gefahr.«

Der alte Krieger beobachtete ihn aufmerksam. Zakaan streifte seine Hand ab und wandte sich mit unsicheren Bewegungen ab. Er konnte jetzt keinen Menschen ertragen, schon gar nicht diesen Partuk mit seinem Augenleiden, das ihn ständig blinzeln ließ - und das umso schlimmer wurde, desto aufgeregter er war.

Und jetzt schien er ziemlich aufgeregt zu sein.

Als Partuk wieder etwas sagen wollte, hob Zakaan die Hand. »Ich muss nachdenken.«

Er ging ein paar Schritte, nur fort von dem Platz, von dem aus er in die andere Welt eingetaucht war.

Lexz war in Gefahr, das traf zu. Aber das war noch nicht alles. Es waren dunkle Wolken, die über ihrer aller Schicksal aufzogen. Dass ihm die Todessyre erschienen war, mochte auch mit seinem bevorstehenden Tod zu tun haben. Er ahnte schon seit Langem, dass seine Zeit gekommen war. Es war nichts, was ihn wirklich beunruhigen konnte.

Da gab es ganz andere Sachen.

Mit einer wackligen Bewegung ließ er sich nieder, mitten unter zwei Bäumen, die ihn mit ihrem dichten, im Wind raschelnden Blätterdach schützten. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte, und nur allmählich gelang es ihm, seinen Atem halbwegs zu beruhigen und seine Gedanken auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig schien.

Es hieß, dass die bärtigen Höhlenjäger nicht durch äußere Gewalt vernichtet worden seien. Damals gab es wenig Streit zwischen den verschiedenen Menschengruppen, dazu waren sie zahlenmäßig einfach zu klein und zu sehr mit ihrem eigenen Überleben in einer feindlichen Umgebung beschäftigt. Eher war es etwas gewesen, das sie von innen heraus zerfressen hatte. Über Generationen hatten sie sich tapfer gegen diese so wenig greifbare Gefahr gewehrt, von der Zakaan allenfalls eine ganz undeutliche Vorstellung hatte, und am Ende doch verloren.

»Die Vergangenheit«, murmelte Zakaan. »Die Vergangenheit und die Zukunft ... Alles ist noch viel inniger miteinander verwoben, als ich gedacht hatte.«

»Ja«, sagte Partuk. »In den alten Geschichten steckt mehr Weisheit, als man meinen sollte.«

Der Schamane sah überrascht hoch. Er hatte gar nicht bemerkt, dass ihm Partuk gefolgt war. Es war schon bedenklich, dass er sich nicht mehr auf seine Sinne verlassen konnte.

»Das ist zwar nicht gerade das, was ich gemeint hatte«, antwortete er. »Aber du hast recht. In den alten Geschichten steckt sehr viel Weisheit.«

Partuk ließ sich neben ihm nieder, und unter dem Gewicht seines Körpers knackten dünne Zweige weg. Zakaan musste daran denken, dass brechende Knochen ein ganz ähnliches Geräusch machten. Wie kam er bloß auf solche Gedanken?

»Und warum bekümmert dich das so, Schamane?«

Ja, was bekümmerte ihn eigentlich so? Partuk hatte eine merkwürdige Art, Fragen zu stellen. Aber meist legte er mit ihnen eine Wunde frei, die noch nicht verschorft war.

»Hat es nur mit Lexz zu tun?«, fragte Partuk weiter, »oder mit uns allen?«

Zakaan gab ein unbestimmt brummendes Geräusch von sich, starrte vor sich auf den gesunden braunschwarzen Boden, über den die Käfer krabbelten und Ameisen mit ihrer Beute entlangzogen, so wie sie es schon immer getan hatten und auch noch tun würden, wenn ihrer aller Gebeine längst vermodert waren. Fast gewaltsam riss er sich von diesem Anblick los und wandte sich wieder Partuk zu: »Nun, was meinst du?«

»Ich?« Partuk wirkte überrascht, aber dann nickte der alte Krieger. »Du fragst mich wohl, weil meine Augen weit mehr gesehen haben als die der meisten von uns.«

Es waren nicht gerade die Augen, auf die der Schamane zu sprechen kommen wollte - ganz gewiss nicht. Wann immer es nur ging, mied er Partuks Blick. Das ständige Augenzucken stimmte ihn ganz unruhig.

Diesen Gedanken behielt er aber besser für sich. Stattdessen sagte er laut: »Ich frage dich, weil du die Geschichte unseres Volkes besser kennst als jeder andere - mich einmal ausgenommen. Du hast Ragok und Dragosz zusammen aufwachsen sehen und weißt, dass sie einst unzertrennlich waren ...«

»Allerdings. Sie waren wie zwei Wölfe, die gemeinsam jagen und jede Beute, die einer von ihnen reißt, teilen.« Partuk nickte grimmig. »So lebensfroh wie Dragosz und so finster wie Ragok - das war etwas Einmaliges. Warum nur haben die Götter das, was doch eigentlich unzertrennlich war, getrennt?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Zakaan eher zu sich selbst als zu dem alten Krieger, »dass dies die Götter gewesen sind.«

»Surkija war seit Menschengedenken Ragok versprochen«, sagte Partuk heftig. Er richtete sich ein Stück auf und massierte seine Finger, bis es dabei knackte und knirschte, als würde er sie gleich zerbrechen. »Warum hat Dragosz das nur nicht hingenommen? Warum hat er sich nicht eine andere Frau gesucht - vielleicht sogar von einem anderen Stamm oder einem anderen Volk, die Tochter eines Herrschers oder eines Schmieds? Warum musste er sich ausgerechnet an unserer Heilerin vergreifen?«

»Wenn es jemandem zu wohl ist, so vergiftet er seine eigene Wasserstelle«, murmelte der Schamane.

»Du meinst, Dragosz war es zu wohl?« Partuk schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich war dabei, als er und Ragok von dem schrecklichen Jagdunfall hörte, bei dem ihr Vater ums Leben kam. Da war kein Platz für Übermut, als man Kubilay mit den Füßen voran ins Dorf getragen hatte.«

»Ja, ich erinnere mich ...«

Kubilay, der Vater dieses ungleichen Brüderpaars Dragosz und Ragok, das war ein harter Mann gewesen. Zakaan kannte ihn seit frühester Jugend, und sooft er auch mit ihm aneinandergeraten war, so sehr hatte er sich ihm doch auch verbunden gefühlt. Ihn mit zerschmettertem Schädel zu sehen, es war so schrecklich gewesen. Zakaan war an seinen alten Weggefährten herangetreten und hatte die Wärme gespürt, die der gerade erst Verstorbene nach wie vor ausstrahlte. Die rechte Faust Kubilays hielt den Schaft eines abgebrochenen Speers so fest umklammert, als wolle er ihn ins Reich der Toten mitnehmen.

»Und ich erinnere mich an den feierlichen Schwur von Dragosz und Ragok, als hätten sie ihn erst gestern gesprochen«, sagte Partuk bedrückt. »Sie haben sich geschworen, gemeinsam über ihr Volk zu wachen und das Erbe ihres Vaters zum Wohle aller gemeinsam auszuüben.«

»Ja«, gab ihm Zakaan recht. »Es war ein großer Augenblick. Einem Schwur, der am Lager eines gerade Gestorbenen gesprochen wird, wohnt eine ganz besondere Kraft inne.«

»Und alle haben diesen Schwur als das genommen, was er war: ein feierliches Versprechen, das niemals gebrochen werden darf, wenn nicht über uns alle ein Unglück kommen soll.« Partuk schüttelte sich. »Du hast ihn als Schamanen im Namen der Stammväter angenommen und feierlich den Göttern übergeben. Hast du denn nicht geahnt, was kurz darauf geschehen würde?«

Geahnt? Partuk hatte eine wahrhaft merkwürdige Art, Fragen zu stellen. Natürlich hatte er geahnt, dass es nicht gut gehen würde. Dragosz war als der jüngste Sohn Kubilays der legitime Nachfolger des Herrschers der Raker, und er war damals jung gewesen, stark und aufbrausend, alles andere als ein Schwächling, der die unterstützende Hand seines älteren Bruders brauchte, um seine Herrschaft ausüben zu können. Hätte sich Dragosz in Ruhe mit ihm beraten, so hätte ihm Zakaan nicht dazu geraten, die gerade erworbene Macht unter keinen Umständen zu teilen. In wichtigen Fragen konnte es immer nur einen Einzelnen geben, der eine Entscheidung traf.

»Ich habe Dragosz und Ragok ermahnt, einen Streit niemals öffentlich auszutragen«, erinnerte sich der Schamane. »Ich habe ihnen geraten, sich verschiedene Bereiche zu suchen, damit dort jeder für sich die notwendigen Entscheidungen treffen kann.«

»Ja.« Partuk nickte. »Ragok sollte sich um den Handel kümmern, und um die Fischerei. Dragosz um die Felder, um die Jagd, um das Dorf und um alle wichtigen Streitfälle. Aber Dragosz ist ein Hitzkopf. Ich habe schon damals befürchtet, dass er seinen Bruder nicht einfach gewähren ließe. Aber was dann passiert ist ...«

Er beendete den letzten Teil seines Satzes nicht, doch der Schamane wusste auch so, was Partuk meinte. »Ja, das hat auch mich überrascht.«

Partuk machte eine ärgerliche Handbewegung. »Nur gut, dass ihr Vater nicht noch miterlebt hat, wie Ragok kurz darauf Dragosz mit Surkija im Heu erwischte«, seine Stimme zitterte vor Empörung, »und wie sich seine Söhne daraufhin an die Gurgel gingen! Wer weiß, was passiert wäre, wenn du nicht dazwischengegangen wärst!«

»Gewiss nichts, was den Göttern gefallen hätte.« Der Schamane versuchte die Erinnerung zurückzudrängen, aber das wollte ihm nicht gelingen. Ja, es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre es zwischen Dragosz und Ragok zu einer tätlichen Auseinandersetzung gekommen. Er war dazwischengegangen, hatte sich Ragok in den Arm geworfen und ihn abgedrängt, weniger durch pure Muskelkraft als durch die Autorität, die ihm seine Stellung verlieh.

Ragoks Gesicht war hassverzerrt gewesen, und Dragosz, eben noch schuldbewusst und zerknirscht, hatte begonnen sich auf eine ganz fürchterliche Art aufzuregen - auf eine Art, die ihn dazu bringen konnte, Dinge zu tun, die er sich später selbst nicht mehr verzieh.

»Nein!«

Surkijas Schrei hallte noch heute in Zakaan wider. Dieses Entsetzen. Dieses Wissen, dass sie es war, die einen tödlichen Streit unter den Brüdern ausgelöst hatte. Sie, die makellose Heilerin, die immer allen hatte helfen können, nur am Ende nicht sich selbst.

»Ja.« Zakaan musste sich fast gewaltsam zusammenreißen, um in die Gegenwart zurückzufinden, die zu einer langen Kette unglücklicher Vorfälle - von dem Bruderzwist ausgehend bis ins Hier und Heute - reichte. »Und genau das ist der Punkt.« Er nahm einen dürren Zweig auf und brach ihn in der Mitte durch. »Das ist mit unserem Volk passiert. Es wurde in zwei Teile zerbrochen. Aber ohne den jeweils anderen Teil kann keiner von ihnen auf Dauer bestehen - oder sogar den Ort finden, von dem aus unsere Stammväter vor vielen, vielen Generationen aufgebrochen sind, um der Kälte und dem ewigen Eis zu entgehen. Und zu dem sie nun zurückkehren müssen, um der Hitze zu entkommen, die ihre neue Heimat ausgedörrt hat.«

»Dort, wo die Gebeine unser Väter und Mütter liegen«, zitierte Partuk, »dort haben die Götter mächtige Steinkreise errichtet, größer und prächtiger als alles, was sich von Menschenhand erschaffen ließe. Und diesen Ort, den Ort unseres Ursprungs, müssen wir wiederfinden - oder wir werden untergehen.«

Der Schamane nickte. Er hatte das selbst immer und immer wieder gesagt. Es war die tiefe Überzeugung von ihnen allen, dass sie den Ort wiederfinden mussten, an dem man ihre Stammesväter zu Grabe getragen hatte.

Aber das ist noch nicht alles, dachte er. Die Todessyre war ihm als Zeichen dafür erschienen, dass ihr Volk dem Untergang geweiht war - so wie einst die Höhlenjäger. Nur, dass es diesmal nicht wie bei den Höhlenjägern viele Generationen bis zum Untergang dauerte, sondern viel, viel schneller gehen würde.

Aber nicht, wenn er es verhindern konnte.

»Ich brauche jetzt meine Ruhe, Partuk«, fuhr Zakaan fort. »Ich muss mich mit dem Geist der Ahnen verbinden.«

Partuk starrte auf den zerbrochenen Zweig in Zakaans Händen, nickte dann fast widerwillig und erhob sich, um ohne ein weiteres Wort zu gehen. Zakaan starrte ihm nach, ohne ihn wirklich zu sehen.

Das, was er vorhatte, würde seine ganze Kraft fordern. Und dabei war er so müde, so unendlich müde. Wie sollte er es nur schaffen, über die auseinandergebrochenen Hälften seines Volkes zu wachen, wenn es ihm noch nicht einmal gelang, Lexz zu beschützen?

»Lexz, ich gebe dich nicht auf«, murmelte er vor sich hin. »Ich weiß, dass du in großer Gefahr bist. Aber ich werde einen Weg finden, dir zu helfen!«

Es war nicht besonders klug, jemanden mit aller Kraft zu beißen, wenn man selbst gefesselt war. Arri begriff das spätestens in dem Augenblick, als Rar erneut ausholte.

Diesmal war sie eine Spur zu langsam. Die schwielige Hand des Jungen streifte nur ihr Gesicht. Trotzdem hatte sie das Gefühl, es träfe sie ein Bronzehammer. Ihr Kopf wurde zurückgeschleudert. Bunte Flecken tanzten vor ihren Augen, und dann verschwand die Welt wie hinter einem Dunstschleier.

Als sie wieder zu sich kam, stand Rar noch immer drohend vor ihr. Sie erwartete, dass er sie gleich ein weiteres Mal schlüge. Aber Rar dachte gar nicht daran. Statt auf sie hinabzustarren, blickte er in Richtung Ufer.

»Da hinten tut sich tatsächlich etwas«, hörte sie Taru sagen. »Wenn ich das richtig sehe, kommt Kaarg dort gerade angewackelt.«

»Den brauche ich bloß mit dem Blasebalg anzublasen, dann fliegt er hundert Schritte weit«, murrte Rar.

»Unterstehe dich, so etwas auch nur zu denken!« Taru fuhr zu ihm herum und schenkte ihm einen bösen Blick. »Alle Mitglieder des Ältestenrates stehen unter meinem ganz persönlichen Schutz. Sie verdienen den höchsten Respekt.«

Rar starrte ihn entgeistert an, dann verzog er das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Klar. Die alten Männer müssen dich ja als Herrscher bestätigten.«

Taru schüttelte den Kopf. »Nein, Rar, du Kindskopf. Manche Entscheidungen der Ältesten mögen uns vielleicht nicht passen. Aber das ändert noch nichts daran, dass sie das sind, was sie sind: das Bindeglied zu den Stammvätern. Das bringen sie ebenso mit ein wie die große Weisheit ihrer Erfahrungen. Ohne einen Ältestenrat ist keine Gemeinschaft auf Dauer überlebensfähig.«

Rar wirkte ein wenig verunsichert. »Du redest schon genauso wie dein Vater.«

Taru nickte. »Allerdings. Ich bin ja auch sein Nachfolger. Das ist dir doch klar, oder?«

»Aber natürlich«, beeilte sich Rar zu bestätigen. »Du bist sein Nachfolger. Und Kyrill ist ...«

Mit einer ärgerlichen Handbewegung brachte ihn Taru zum Schweigen. »Kyrill ist ein Nichts und Niemand. Ich bin der einzige legitime Sohn von Dragosz.«

Rars Schlag hatte Arris Sinne getrübt, aber jetzt schreckte sie aus der dumpfen Benommenheit auf. Kyrill sollte ein Nichts und Niemand sein? Ihr Sohn nichts weiter als ein Stein auf dem Spielfeld der Macht, den Taru so einfach beiseiteschieben zu können glaubte? Das würde sie nicht zulassen, niemals!

»Und jetzt müssen wir hier weg«, fuhr Taru fort. »Und das sofort.«

Rar nickte und bückte sich hinab, um Arri wie ein Reisigbündel aufzunehmen. Taru fiel ihm in den Arm. »Wir können nicht über den direkten Weg zurück. Wir müssen über den See.«

Jetzt wirkte Rar endgültig verwirrt. »Aber die Drude kann doch nicht mit ihren Fesseln schwimmen!«

»Ja, das ist wahr.« Taru wirkte gehetzt. Vom Ufer erscholl lautes Gerede herüber, es konnte also nicht mehr lange dauern, bis man sie hier bemerkte. »Ab ins Wasser«, befahl Taru. »Sie dürfen uns hier nicht sehen.«

Manchmal wirkte Rar zwar ausgesprochen begriffsstutzig, diesmal aber reagierte er sofort. Mit einer schnellen Bewegung ließ er sich ins Wasser gleiten. »Wir brauchen ein Boot für die Drude ...«

»Denk nicht mal daran«, sagte Taru scharf. »Das Totenboot meines Vaters ist unantastbar. Wir werden es auf keinen Fall anrühren ...«

Sein Blick wanderte hinaus bis zu dem verzweigten Geflecht der Stege, und dann schien er einen Entschluss getroffen zu haben. »Da hinten, das ist ein Boot. Los jetzt. Komm wieder raus aus dem Wasser, und dann nichts wie weg hier!«

Kapitel 6

Einsamkeit und Zurückgezogenheit waren eine Notwendigkeit für jeden Schamanen, wenn er sich der Welt der Geister und Götter öffnen wollte. Zakaan hielt nicht viel von den Geisterbeschwörungen, wie sie bei anderen Völkern praktiziert wurden, und auch nichts von Tier- oder gar Menschenopfern, von denen so manch ein Reisender erzählt hatte. Wenn es notwendig war, dann las er die Zukunft aus den Eingeweiden eines frisch getöteten Vogels, oder hantierte mit den Tinkturen und Pülverchen, die seine Vorväter ersonnen hatten, um die Aufnahmefähigkeit des Geistes herzustellen - oder auch, um die Leistungsfähigkeit zu steigern.

Im Großen und Ganzen hielt sich der Schamane aber lieber an sich selbst. Die Versenkung war seiner Meinung nach die beste Methode, um mit den Toten und den Lebendigen in Kontakt zu treten. Dabei nutzte er alles, was eine Versenkung unterstützen konnte. Steinkreise waren die besten Orte, um in sich zu gehen, aber Plätze an Quellen oder unter Bäumen, die einem wohlgesonnen schienen, konnten sich ebenso gut dafür eignen. Und die Bäume, unter denen er Schutz gesucht hatte, waren ihm durchaus wohlgesonnen. Er spürte ihre Freundlichkeit, ihre Sanftheit und gleichzeitig die Beharrlichkeit ihres Alters, das bereits viele Menschenleben währte.

Nachdem Partuks Schritte verklungen waren, schloss Zakaan die Augen und konzentrierte sich ganz auf seine Atmung. Es war ihm immer leicht gefallen, den Atem nach und nach in sich einströmen zu lassen und ihm die nötige Zeit zu geben, sich bis in den letzten Winkel seines Körpers auszubreiten, bevor er ihn langsam wieder ausstieß. Diesmal fühlte sich jedoch alles anders an. Schon das Einatmen bereitete ihm Mühe. Ihm schien, sein Körper wolle den Odem der Götter gar nicht erst annehmen.

Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass der Widerstand gar nicht von außen kam, sondern von innen, also aus ihm selbst. Es war, als stemme sich in ihm etwas dagegen, das frei fließen zu lassen, was ihn dem Willen der Götter näher bringen konnte.

Es waren Bilder. In einem anderen Zusammenhang hatte er sie immer wieder gesehen, aber niemals zuvor so unruhig und zerrissen: Szenen aus dem früheren Leben seiner Stammväter. Sie hockten um ein Feuer herum, beratschlagten sich, sie waren mit Speeren und Steinäxten unterwegs auf der Jagd, sie standen im Steinkreis und sprachen feierlich die Worte, mit denen sie einen der ihren aus dem Leben entließen, auf dass er im Reich der Toten ein ruhiges und reiches Leben führen möge ...

Männer und Frauen in gewebten Kleidern, in Gewändern, die mit Nadeln oder einem Dorn zusammengehalten wurden, manche mit Bronzearmbändern oder Ketten aus Bernstein oder mit fein gearbeitetem Kupferblech geschmückt ...

Die Bilder liefen übereinander, vermischten sich, sein Atem wurde noch unruhiger als zuvor, und dann sah er wieder, wie Männer und Frauen einen Toten auf seinem letzten Weg verabschiedeten, hörte den Totengesang der Klageweiber, das langsame Schlagen der Trommeln, und dann lag da der Tote, aufgebahrt ...

Jetzt war alles ganz anders. Zakaan konnte es spüren, schmecken und riechen. Es war so eindringlich wie selten zuvor. Er tauchte in eine ganz andere Welt ein, besuchte auf der Reise durch die Welt der Stammväter einen anderen Ort, eine andere Zeit, etwas, das er bislang noch nicht einmal entfernt gestreift hatte.

Kalt.

Es war das Gefühl von Kälte, das ihn als Erstes zu überwältigen drohte. Sie kam gleichermaßen von außen wie von innen. Sie war allumfassend, drohte ihn zu überwältigen, und es bedurfte seiner ganzen Anstrengung, diese Empfindung zurückzudrängen und sich anderen Eindrücken zu öffnen.

Die Luft war klar. Umso stärker roch der leicht süßliche Geruch des Todes, den er wahrnahm, und der nach einer Mischung aus Kräutern und anderen Substanzen, die er nicht einordnen konnte, duftete. Er glaubte den leicht bitteren Geschmack von Schierlingskraut und Tollkirsche auf seiner Zunge wahrzunehmen.

Seine Umgebung wirkte zunächst verschwommen, und erst langsam schälten sich Konturen aus dem Grauweiß heraus. Er hatte eine Begräbnisszene vor sich, schwebte so auf sie zu, als sei sein Geist vollkommen losgelöst von seinem Körper. Ganz langsam nur begriff er, dass man hier einen Mann bestattete - dies aber auf eine Art, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Die Hände des Toten lagen gefaltet auf seinem Bauch, dabei umklammerten die gelblich fahlen Finger seiner rechten Hand eine Steinaxt. Der Atem des Schamanen stockte ganz, als er die Steinplatten gewahrte, mit denen das passgenaue Grab des Toten in die Erde eingelassen worden war. Ihm wurde bewusst, dass er keine Kleidung trug, die auf einem Webstuhl entstanden war, sondern in ein schwarzes, grob zusammengenähtes, an einigen Stellen abgeschabtes Wolfsfell gekleidet war, das seine mächtigen Oberarme trotz der Kälte frei ließ.

Offensichtlich war es ein Eiszeitjäger. Ein Mann, der in einer Höhle gelebt hatte, nicht in einem Haus, ein Mann, der sich ganz der Jagd verschrieben hatte, nicht dem Ackerbau.

Zakaan war weit zurückgereist diesmal, und das gefiel ihm nicht. Er spürte, dass er besser nicht hier sein sollte. Der Tote mochte ein Vorfahre von ihm sein. Seine Wirklichkeit wurde jedoch von einer ganz anderen Umgebung geprägt als seine eigene, also von Umständen, die der Schamane nicht einmal ansatzweise verstehen konnte.

Mit ruhigen Atemzügen und einer Rückbesinnung auf seine eigene Wirklichkeit versuchte sich Zakaan gegen das zu wehren, was er hier wahrnahm. Aber das wollte ihm nicht gelingen. Die Trance hatte ihn nicht nur wesentlich weiter zurückgeführt als jemals zuvor, sie gab ihm auch das Gefühl, einen Ort erreicht zu haben, an dem der Tod allgegenwärtig schien.

Nicht nur einen beliebigen Ort, sondern einen Steinkreis. Die ungewöhnlich großen Monolithen waren von einer dünnen weißen Schicht bedeckt, was ihnen etwas ungewohnt Lichtes und Leichtes gab, so als wären sie weniger massiv, als sie es eigentlich sein sollten. Aber das war noch nicht alles: Der Schatten eines riesigen Vogels fiel auf das Grab, und als Zakaan erschrocken in seine Richtung blickte, glaubte er in die kalten Augen einer riesigen Krähe zu blicken, die anklagend auf ihn hinabstarrte.

Schaudernd riss sich Zakaan von diesem Anblick los und starrte nach vorn.

Die Männer und Frauen, die das frisch angelegte Grab umstanden, trugen Rentierfellmäntel und Biberkappen. Sie sahen müde und erschöpft aus, und man sah ihnen die Strapazen an, in einer Umgebung überleben zu müssen, die eigentlich nicht für Menschen gemacht war.

Der Kreis schließt sich, dachte der Schamane. Diese Menschen hier hatten fast den Kampf gegen die Kälte und das Eis verloren, so wie er selbst und Ragok denjenigen gegen die Hitze und das Feuer. Vielleicht war er an diesen Ort zurückgekehrt, weil es damals eine Zeit gewesen war, zu der alles hätte enden können, wenn sich mutige Männer und Frauen nicht gegen ihr Schicksal aufgelehnt hätten.

Genauso wie jetzt.

Einige der Menschen konnten sich kaum auf den Beinen halten, so erschöpft waren sie. Ihre Kleidung mochte zwar zweckmäßig und warm sein, aber sie machte auch einen erbärmlichen Eindruck: abgewetzt, an vielen Stellen kahl gescheuert. Als Schmuck trugen einige von ihnen allenfalls eine Kette aus Rentierzähnen oder mühsam bearbeiteten Knochenperlen, jedoch nichts aus Kupfer oder Bronze. Und trotzdem hatten sie sich die Mühe gemacht, in dem frostharten Boden ein Grab auszuheben und es mit Steinen auszukleiden. Das zeugte von großem Respekt gegenüber dem Toten.

Vielleicht war es ein Mann wie Ragok gewesen. Jemand, der es verstand, auch unter den widrigsten Umständen immer noch einen Weg zu finden, auf dem es weiterging.

Das war vielleicht auch eine Erklärung für die ungute Stimmung unter den Eiszeitjägern, die hier zusammengekommen waren, um ihrem verstorbenen Stammesfürsten die letzte Ehre zu erweisen: Sie wussten nicht, wie es jetzt weitergehen sollte.

Zakaan versuchte die Eindrücke beiseitezuschieben, die ihn schon zu überwältigen drohten, um in seinen ganz eigenen Atemrhythmus zurückzufinden. Seitdem er ein kleines Kind gewesen war, war ihm das immer gelungen. Auch diesmal würde er es schaffen, dessen war er sich ganz sicher. Und trotzdem ...

Einer der Eiszeitjäger drehte sich zu ihm um - und schien ihn zu sehen. Zakaan erschrak. So etwas hatte es noch nie zuvor gegeben.

Der Eiszeitjäger runzelte die buschigen Augenbrauen. Sein Blick begegnete dem Zakaans, und in seinen dunklen, fast schwarzen Augen funkelte etwas, das dem Schamanen gar nicht gefiel.

»Was tust du hier?«, fragte der Mann.

Zwar sprach er nicht seine Sprache, aber die Worte waren dem Schamanen verständlich. Langsam, ganz langsam nur kroch ein so eiskalter Hauch seinen Rücken hinauf, dass er jetzt nicht nur Kälte empfand, sondern sein Körper auch anfing zu zittern. Die Atemluft, die er ausstieß, bildete eisgraue Dunstwolken, die sich kaum auflösen wollten.

Was geschah hier?

Der Mann machte einen Schritt auf ihn zu. Zakaan hörte ganz deutlich das Gemurmel der Männer und Frauen um ihn herum, er hörte auch, wie der kalte Wind über das Land pfiff und sich in die Kleidung und in jede ungeschützte Körperstelle biss - und spürte sie dann selbst, die kalte Hand der Götter, die nichts und niemanden verschonte. Schon oft hatte der Schamane in Trance etwas vor sich gesehen, und zwar so klar, als wäre es tatsächlich vorhanden. Und schon oft war er in eine frühere Epoche eingetaucht, hatte seinen Ahnen bei alltäglichen Arbeiten zugesehen, oder Zeremonien beigewohnt. Doch niemals war er mehr als ein heimlicher Beobachter gewesen, und niemals hatte er wirklich sicher sein können, ob das, was er zu sehen glaubte, in der Vergangenheit auch wirklich passiert war.

Das aber schien ihm jetzt ganz anders.

»Was du hier tust, habe ich gefragt ...«, rief der Eiszeitjäger. »Und warum sitzt du unter dem Lebensbaum?«

Zakaan schluckte hart. Er war so verwirrt wie selten zuvor in seinem Leben. »Wo bin ich?«, fragte er.

Der Eiszeitjäger blieb stehen, und Zakaan sah den Frost, der sich mit kleinen Eisklümpchen in seinem dunklen Bart festgebissen hatte. Aber er sah auch, wie die Hand des Mannes zu seinem Gürtel fuhr - der aus Rentierleder gefertigt war, auf eine grobe und doch sehr sorgfältige Art. Im Gürtel steckte eine Axt und daneben ein Steinmesser, wie es Zakaan schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte: aus einer Feuersteinknolle geschlagen, glatt geschliffen und poliert - und damit eine starke Waffe, die einem modernen Messer aus Bronze in der Gefährlichkeit kaum nachstand.

Allmählich wurde Zakaan unbehaglich zumute. Stand dieser Mann da wirklich vor ihm, oder war er nur ein Geschöpf der Trance? War es vielleicht jemand, der hier zufällig vorbeigekommen war und ihn nun zurückführte, in die Gegenwart, ohne dass Zakaan sich ganz aus seiner eiszeitlichen Versenkung reißen konnte?

Vermutlich wäre es ganz einfach herauszufinden: Er brauchte nur aufzustehen und den Mann zu berühren.

Sein Gegenüber schien ganz ähnliche Gedanken zu haben. Statt eine seiner Waffen zu ziehen, trat er noch einen Schritt näher an Zakaan heran und berührte ihn an der Schulter. Der Schamane spürte die Berührung ganz genauso, wie man eine Berührung spüren sollte.

Aber nicht eine Berührung in Trance.

»Die Todessyre«, murmelte Zakaan.

Anders konnte er es sich nicht erklären. Durch die Begegnung mit der Todessyre war irgendetwas geschehen, das alles durcheinandergebracht hatte.

»Was?«, murmelte der Eiszeitjäger. »Was machst du hier, alter Mann? Und was trägst du für eine lächerliche Kleidung?«

Zakaan sah an sich herunter. Ja. Seine Kleidung war gewebt, der Rock ebenso wie das Oberteil, und obwohl es nicht mehr lange dauern konnte, bevor das alles auseinanderfiel, sah man ihm doch die gute Qualität noch an. Allerdings war es keine winterfeste Kleidung, sie schien allenfalls geeignet, kühle Herbstnächte ohne Unterkühlung zu überstehen. Was den Schamanen aber noch mehr erschreckte, war die dünne Schneedecke, auf der er hockte.

Hier ging etwas ganz und gar Unvorstellbares vor sich.

»Ich habe noch nie zuvor einen so alten Menschen wie dich gesehen«, stellte der Eiszeitjäger fest. »Und auch noch nie einen, der so merkwürdig gekleidet gewesen wäre. Von welchem Stamm bist du? Etwa von den Leuten, die hinter den Bergen leben?«

Zakaan schüttelte den Kopf. »Ich bin von keinem Stamm aus deiner ... Umgebung. Ich bin ...« Er zögerte, das Wort auszusprechen. Er wusste nicht, wie dieser Jäger darauf reagieren würde, wenn er ihm sagte, dass er ein Schamane war.

Das Murmeln im Hintergrund veränderte sich, wurde erst leiser und schwoll dann wieder an. Das war auch so eine Merkwürdigkeit. Nur dieser eine Mann hatte ihn entdeckt, und nur er sprach mit ihm - ohne dass irgendjemand sonst davon Kenntnis nahm.

»Die Stammväter haben mich gerufen«, sagte der Schamane.

Das Misstrauen in den Augen des Eiszeitjägers verschwand nicht vollständig. Aber es machte etwas anderem Platz: einer Art Respekt.

»Die Stammväter haben uns alle gerufen«, sagte er, »um Uaert bei seinem Übertritt ins Reich der Götter angemessen zu begleiten.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und Zakaan begriff mit einiger Verspätung, dass er ihn gerade anlächelte. »Gut, dass du dem Ruf deiner Ahnen gefolgt bist, alter Mann. Dann ist noch nicht alles verloren.«

Noch nicht alles verloren? Zakaan war sich dessen nicht so sicher. Tief in seinem Herzen wusste er, dass sie gerade an einem ähnlichen Punkt standen wie jemand, der einen steilen Hang hinaufkletterte. Ein einziger Fehltritt konnte den Tod bedeuten.

»Ich sehe, dass du das Richtige denkst«, fuhr der Mann fort.

Das Richtige ... denken? Aber wie konnte dieser Eiszeitjäger denn wissen, was wer dachte?

»Wer bist du?«, fragte Zakaan.

Der Mann wischte sich ein paar Eiskristalle aus dem Bart. »Ich bin der Schamane unseres Stammes. Derjenige, der in den Geist der Vergangenheit eintaucht, in das Land unserer Urväter.«

»Der Schamane ...« Zakaan schüttelte den Kopf. Der Mann sah gar nicht wie ein Schamane aus. Aber das spielte keine Rolle. Es war die innere Einstellung, die einen Schamanen ausmachte, nicht sein Aussehen.

Was ihn aber viel mehr erschreckte, war die Vorstellung, dass dieser Mann von seinen Urvätern sprach. Er selbst verkörperte für Zakaan eine Vergangenheit, die für ihn unvorstellbar weit zurücklag. Dass es aber auch für diesen Schamanen wieder eine Vergangenheit geben konnte, die von ihm aus ebenfalls so weit zurücklag - das ließ ihn schwindeln.

»Unser Schicksal wird sich in den nächsten Tagen entscheiden«, fuhr der eiszeitliche Schamane fort. »Hier gibt es kein Wild mehr, das wir jagen könnten, und keine Wurzeln, die wir ausgraben könnten, und überhaupt nichts, was wir sammeln könnten. Wir müssen unser Land verlassen, wenn wir wollen, dass unsere Kinder eine Zukunft haben.«

Das also war es ... Zakaan spürte den Sog der Zeit, den er schon seit Langem wahrgenommen hatte. Ihnen ging es ganz ähnlich. Sie hatten zwar nach einer Weile harter Entbehrungen eine Gegend erreicht, die ihnen üppig Nahrung bot. Aber das änderte nichts daran, dass er spürte, wie sich alles um sie herum zusammenzog, wie sich die Entwicklungen überschlügen und schreckliche Dinge nach oben drückten ...

Die möglicherweise ihren Ursprung in einer wesentlich früheren Epoche hatten. Vielleicht in der, in die ihn die Trance dieses Mal geführt hatte.

»Wir müssen in das Land unserer Vorväter zurück«, murmelte er.

Der eiszeitliche Schamane nickte. »Ich weiß. Ihr müsst hierher. Aber ihr seid dreigeteilt.«

»Dreigeteilt?«, gab Zakaan verwundert zurück.

Der andere nickte abermals. »Dann aber hob Wurgar seinen Hammer und ließ ihn auf das Volk niedersausen. Und das Volk zerbrach in drei Teile. Ein Teil nur blieb im alten Land, ein anderer Teil zog nach Norden, einer nach Osten.«

Er sprach das so ruhig aus, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Und - das war es ja auch. Der Eiszeit-Schamane sprach nicht von den Rakern, die sich zurzeit in zwei Teile geteilt hatten, einer angeführt von Ragok, der andere von Dragosz. Er sprach von einer anderen, von einer wesentlich tiefgreifenderen Trennung, die viel, viel früher stattgefunden haben musste.

»Unsere alten Geschichten«, sagte Zakaan selbstvergessen. »Sie erzählen, dass wir einst aus dem Westen kamen, aus dem Land der Stammväter. Und dass wir dorthin auch wieder zurück müssen.«

»Das müsst ihr«, antwortete der Eiszeit-Schamane, »wenn ihr nicht in alle Winde zerstreut werden wollt, bis ihr untergeht.«

»Und die nächsten Tage ...«, begann Zakaan.

»Die nächsten Tage werden darüber entscheiden, ob ihr fortbesteht oder nicht«, sagte der eiszeitliche Schamane. »Gewaltige Prüfungen kommen auf euch zu, und Schreckliches wird euch widerfahren.«

Zakaan nickte. Es war nichts Neues für ihn, und wenn er auch nicht wusste, welcher Art die Prüfungen sein würden, denen sie sich stellen mussten, so hatte er es doch Ragok, Lexz und allen anderen immer wieder eingehämmert.

»Aber wie finden wir das Land unserer Väter?«, fragte er.

»Das weißt du doch schon längst«, sagte der Mann aus der fernen Vergangenheit. »Und dein Bruder weiß noch mehr darüber. Geh zu ihm und löse gemeinsam mit ihm das Rätsel eures Ursprungs.«

»Ja, das werde ich tun«, flüsterte Zakaan. »Aber was hat das mit der Himmelsscheibe zu tun? Warum deuten alle Zeichen darauf hin, dass wir sie finden und richtig deuten müssen, um nach Urutark zu kommen?«

»Genau das müsst ihr herausfinden«, sagte der Eiszeit-Schamane. »Und nun geh und suche deinen Bruder!«

Zakaan erschauerte. Es waren nicht so sehr die Worte des Eiszeitjägers, die ihn berührten, als vielmehr die feierliche Art, in der er sie aussprach.

Ihm war kalt, und er wusste, dass er es in der bitteren Kälte nicht mehr lange aushalten würde. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Sein Blick wanderte nach oben, zur Krone der mächtigen Eiche, unter der er saß: dem Lebensbaum, wie ihn der Jäger genannt hatte.

»Bruder«, sagte er. »Abdurezak. Wo bist du? Ich vermisse dich so!«

Der Lebensbaum war nicht kahl, er trug ein dichtes Blätterdach, auf dem eine pulvrige, aber dichte Schneeschicht lag. Es war also nicht Winter, sondern allenfalls Herbst. Und trotzdem war es so schrecklich kalt ...

Dennoch durchzuckte den Schamanen ein heißer Schrecken, als er das sah, was hinter dem Baum aufragte: ein riesiger, grauschwarzer Stein, von Menschenhand behauen und vollkommen schneefrei. Er ragte aufrecht in den Himmel.

Und er war nicht der einzige, der dies tat, wie er mit einem raschen Blick in die Runde feststellte. Sie waren von Monolithen geradezu umzingelt, von so riesigen Steinen, dass sie wie die Zähne eines unvorstellbar großen Riesen aussahen.

Er befand sich in einem riesigen Steinkreis.

»Urutark«, murmelte er. »Das muss Urutark sein - die Heimat meiner Väter!«

»Kannst du erkennen, wer da am Steg steht?«, fragte Taru vom Wasser aus. Er war hinabgestiegen, um den Einbaum loszubinden, der hier in einer abgelegenen Ecke so einladend angebunden war, als warte er nur auf sie. Arri hoffte nur, dass er ein Loch hatte und absaufen würde, sobald sich die beiden Dummköpfe dort hineingesetzt hatten. Dann würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als ihren lächerlichen Fluchtplan aufzugeben.

Das Schlimme war allerdings, dass sie zur Untätigkeit verurteilt war. Der Schmiedegehilfe hatte sie unsanft an der Hüttenwand abgesetzt, und sie hatte eine ganze Weile gebraucht, bevor sie auch nur eine halbwegs bequeme Position hatte einnehmen können, bei der sie nicht das Gefühl hatte, sich selbst die Rippen in die Lungen zu bohren. Jetzt bekam sie endlich wieder einigermaßen Luft. Aber als sie den Mund geöffnet hatte, um nach Hilfe zu schreien, hatte Taru sie nur angesehen, ganz knapp mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: »Tu das besser nicht. Mit durchschnittener Kehle schreit es sich schlecht.«

Da hatte er leider recht. Mit ihrem eigenen Leben hatte Arri längst abgeschlossen. Aber nicht mit dem ihres Sohnes.

Taru hatte einen Fehler gemacht, als er so abfällig über Kyrill gesprochen hatte. Einen sehr großen Fehler. Wenn Arri ein Messer in die Hand bekam, dann sollte sich Taru besser um seine eigene Kehle Sorgen machen.

Mit durchschnittener Kehle würde es ihm schwerfallen, Dragosz’ Nachfolge anzutreten.

Im Augenblick war es aber geradezu lächerlich, sich in solche Phantasien hineinzusteigern. Alles, was sie tun konnte, war, auf eine Gelegenheit zur Flucht zu warten. Und sich in der Zwischenzeit so weit zurückzunehmen, dass ihr der Einfaltspinsel Rar nicht noch jeden einzelnen Zahn lockerschlug - oder sogar Schlimmeres.

Rar drückte sich so eng an ihr vorbei, dass sein Gewand sie berührte. Ganz, ganz kurz war sie versucht, vorzuschnellen und ihm ins Bein zu beißen. Aber das würde ihre Chance auf eine Flucht wohl kaum verbessern.

Ein Stück hinter der lehmverputzten Hütte, in deren Schatten er sich gedrückt hatte, steckte Rar die Nase hervor ... und zuckte sofort wieder zurück.

»Bei Moron«, stöhnte er auf. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«

»Was darf denn nicht wahr sein?«, entfuhr es Arri. »Hast du dir aus lauter Blödheit die Zunge abgebissen, oder warum antwortest du nicht«, setzte sie nach, als Rar lediglich ein unterdrücktes Stöhnen hervorbrachte.

Sie verfluchte sich dafür, dass sie nicht einfach den Mund hatte halten können, und erwartete, dafür einen Fußtritt zu kassieren. Aber Rar reagierte auf ihre vorlaute Bemerkung überhaupt nicht.

»Was macht der denn bloß hier?«, murmelte er nach einer Weile. »Ich dachte, der verhandelt mit den Leuten von Goseg!«

Taru ließ von dem Einbaum ab und sah auf. »Wer verhandelt mit den Leuten von Goseg?«

»Na, Kenan, Isanas Vater«, antwortete Rar unglücklich. »Er will Erz kaufen - und alles andere, was nötig ist, um die Schmiede wieder in Betrieb zu nehmen.«

»Kenan?«, wunderte sich Taru. Er richtete sich auf, darauf bedacht, den Sichtschutz der Hütte nicht zu verlassen. »Bist du sicher, dass da Kenan aufgetaucht ist? Und dass es nicht zufällig Kaarg ist, oder Abdurezak oder sonst jemand vom Ältestenrat?«

Unglücklich schüttelte Rar den Kopf. »Nein. Leider bin ich mir sicher.«

Arri sah zu dem Schmiedegehilfen hoch, und sie konnte sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen, als sie sah, wie die schiere Panik in Rars Augen aufflackerte. Kenan war ein hochgeachteter Mann, der zu gelegentlichen Wutanfällen neigte, bei denen dann die Schmiedehämmer tief flogen.

»Kenan sucht mich«, stieß Rar hervor. Er drehte sich wie wild zu Taru herum. »Oder dich.« Dann machte er wieder eine Drehung in die andere Richtung. »Oder Abdurezak. Oder wen auch immer.«

»Ganz ruhig«, versuchte ihn Taru zu beruhigen. »Für uns ist es doch nur ein Vorteil, wenn niemand vom Ältestenrat auftaucht. Vielleicht merkt Kenan ja nicht einmal, dass Arianrhod verschwunden ist.«

»Ja ... aber«, Rar verschluckte sich fast. »Der geht jetzt auf den Steg ... Das ist doch ... Oh ...«

»Was, oh?« Taru drückte sich an Rar vorbei und starrte selbst in die Richtung des Stegs, auf dem Arri gerade noch gesessen hatte. »Ja, du hast recht.« Taru knirschte mit den Zähnen. »Das ist Kenan. Und jetzt geht er wieder. Ich hoffe nur ...«

Rar tippte Taru an die Stirn. »Der weiß doch wahrscheinlich noch nicht einmal, was passiert ist!«, sagte er ganz aufgeregt. »Aber er will gleich zur Schmiede. Und wenn ich dann nicht da bin ...«

Sein Blick fiel auf Arri. »Findest du das vielleicht lustig?«, fragte er und riss die Faust nach oben.

Im Augenblick fand Arri überhaupt nichts lustig. Schon gar nicht, dass Rar erstarrte, als Taru hervorstieß: »Der dreht um und geht weg. Aber dafür sehe ich da Kaarg ... und Isana ...«

»Die hinterhältige Tochter des Schmieds, ja?« Rar schüttelte den Kopf, und nun endlich ließ er die Faust sinken. »Egal. Ich muss sofort nach Hause, in die Schmiede. Wenn Kenan merkt, dass ich nicht da war - der reißt mir doch den Kopf ab!«

Ein Windstoß fuhr über das mit Sand und Kies bedeckte Ufer, wirbelte Laub auf und brachte Isanas Haare durcheinander. Sie bemerkte es jedoch kaum. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den alten Mann gerichtet, in dessen Gesicht sich so tiefe Furchen eingegraben hatten wie in einen Acker, der mit dem Pflug bearbeitet worden war.

»Ich soll wirklich als Heilerin bestätigt werden?«, fragte Isana. Sie war so aufgeregt, dass sie fast wie ein kleines Kind von einem Fuß auf den anderen gehüpft wäre. »Aber wozu denn? Und warum gerade jetzt? Und weshalb so schnell?«

»Ob schnell oder nicht, mein Kind«, sagte Kaarg. »Eines steht fest: Du wirst die Heilerin sein. Und wozu und warum?« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich wünschte mir, Surkija würde noch leben.«

Isana nickte. Ja, Surkija war eine gute Heilerin - und Dragosz eine gute Frau gewesen. Aber sie war früh gestorben und hatte damit Arri den Weg frei gemacht - und das sowohl als Heilerin als auch als die Frau an seiner Seite.

»Surkija hätte nicht nach dem Wozu und Warum gefragt«, fuhr Kaarg fort. »Sie hätte ihre Sachen zusammengesucht und den Menschen geholfen, die ihrer Hilfe bedurft hätten, statt hier bloß rumzuhüpfen und Löcher in die Luft zu starren.«

»Ohh«, machte Isana.

»Ja«, antwortete der Schwätzer grimmig. »Sie hätte auch nicht Ach und Och gemacht.«

»Habe ich doch auch nicht«, widersprach Isana. »Ich habe Ohh gemacht. Und nicht Ach und Och.«

»Kind, Kind, Kind!« Kaarg wandte sich ab und ging auf das Feuer des Lebens zu, das nach wie vor am Ufer brannte und nicht im Pfahldorf - was schließlich auch viel zu gefährlich gewesen wäre, denn sollten Funken auf die bislang nur unvollkommen mit Lehm und Schilf verkleideten Holzhütten überspringen, würde die ganze auf Pfählen errichtete Siedlung noch wie eine riesige Fackel in Flammen aufgehen.

»Du bist fast so etwas wie Surkijas Tochter gewesen ...«, fuhr der Schwätzer fort.

»Ihre Nichte«, berichtigte ihn Isana.

»Ob Nichte oder Tochter«, winkte der Alte ab, »das ist ganz gleich. Jedenfalls fließt Heilerinnenblut in deinen Adern. Und Surkija hat dir alles beigebracht, was du wissen musst, um den Menschen zu helfen.«

»Das mag ja sein«, sagte Isana. »Aber Arianrhod hat nicht umsonst die Stellung der Heilerin zugesprochen bekommen.«

»Für die du auch schon einmal im Gespräch gewesen bist.« Kaarg winkte ab. »Aber lassen wir das. Ich weiß, dass du Arianrhod immer unterstützt hast. Warum, das wissen die Götter. Doch nun ist die Zeit gekommen, da du selbst zur Heilerin berufen wirst. Und dafür musst du dich natürlich von der Drude lossagen.«

Isanas Gedanken überschlugen sich. Es gab so vieles, was sie jetzt hätte sagen können. Und das meiste davon wäre ganz schrecklich.

»Der Ältestenrat betraut dich erst einmal vorläufig mit dieser Aufgabe. Aber ich sehe keinen Grund, warum das später nicht so bleiben sollte - vorausgesetzt natürlich, du sagst dich von Arianrhod, dieser falschen Schlange, wirklich los«, plapperte Kaarg auf seine übliche geschwätzige Art weiter. »Und ihr da geht mir gefälligst aus dem Weg.«

Er fuchtelte mit den Händen herum, um die beiden Dorfhunde zu vertreiben, die sich wie wild um einen stinkenden Fischkopf balgten. Wie auf ein geheimes Kommando ließen die Hunde gleichzeitig von dem Fischkopf ab, wandten sich zu Kaarg um und knurrten ihn an. Ihre Zähne erinnerten Isana unangenehm an die von Wölfen, während ihre Schwänze eher wie Fuchsschweife aussahen. Isana kannte die beiden gut, schließlich hatten sie und Arri sie oft genug mit Essensresten versorgt, die den meisten anderen viel zu schade erschienen wären, um sie an räudige Köter zu verfüttern, wie sie sie immer wieder nannten.

»He!« Kaarg fuchtelte noch stärker mit den Händen herum, was die rotbraunen, stämmigen Kläffer nur noch mehr anstachelte zu zeigen, was an wölfischem Ursprung in ihnen steckte.

Die beiden Dorfhunde wichen zähnefletschend zurück, dabei wedelten aber ihre Schwänze, was ihre Drohgebärde als plumpe Lüge enttarnte. Isana war mit einem leichtfüßigen Satz bei dem nicht mehr richtig appetitlich aussehenden Fischkopf, nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger auf und schleuderte ihn in Richtung Ufer.

Die Hunde reagierten darauf, wie Hunde eben reagieren: Wild kläffend stürmten sie in langen Sätzen aufs Ufer zu und verfolgten den Fischkopf, als könnte dieser, wenn er mit Wasser in Berührung kam, plötzlich wegschwimmen.

Die drei Männer, die am Ufer saßen und aus dem Schilfgeflecht Reusen zu flechten versuchten, fanden das nicht sehr lustig. Einer der Hunde rannte in eine halbfertige Reuse hinein und riss sie und den Mann, der sie festzuhalten versuchte, ein Stück mit sich, bis es dem Fischer zu bunt wurde und er dem Hund mit der flachen Hand auf den Rücken schlug. Die Wirkung war vielleicht nicht ganz so, wie er es sich erträumt hatte, aber immerhin kam er frei: Der Hund zerriss jaulend die Reuse und stürmte mit dem Korbgeflecht ins Wasser, dass es nur so spritzte.

Kaarg stemmte seine Hände in die Hüften und lachte auf eine lächerlich gackernde Art. Der Fischer fuhr herum und drohte mit der Faust.

»Was erdreistet du dich, du dummes Gör, die Köter auf uns zu hetzen?«

Kaarg hörte auf zu lachen - wofür ihm Isana wirklich dankbar war - und setzte eine grimmige Miene auf. Gleichgültig, ob der Fischer gemerkt hatte, dass Isana schuld daran war, dass sich die Hunde wie toll verhalten hatten, oder ob er Kaarg für den Verursacher des Missgeschicks hielt: Er hätte es niemals gewagt, jemanden aus dem Ältestenrat zu beschimpfen.

Schuldbewusst schrumpfte Isana ein Stück in sich zusammen. »Das tut mir leid ...«

»Das tut dir leid?« Der Fischer hielt die Überreste der Reuse hoch. »Kannst du mir vielleicht sagen, welcher Fisch sich darin noch verfangen soll?«

Die beiden anderen Männer hatten ebenfalls von ihrer Arbeit abgelassen, und während die Hunde ein gutes Stück weiter so ausgelassen und wild kläffend im ufernahen Wasser herumtollten, als hätten sie von vergorenen Trauben genascht, blickten sie nun ebenfalls drohend zu Isana hinüber.

»Ich weiß nicht«, sagte sie kleinlaut.

»Aber dass du uns den Schaden ersetzen musst, das weißt du schon, oder?«, fragte einer der anderen Männer.

»Oder willst du etwa, dass wir deinem Vater davon erzählen?«, setzte der Erste nach.

Isana wand sich. Als Schmied war ihr Vater der wichtigste Mann nach Abdurezak, und er war nicht nur deshalb hoch angesehen, weil er sein Handwerk besser beherrschte als jemals einer vor ihm, sondern auch, weil er ein Mann von Ehre war.

Außerdem glaubte er, seine Tochter so hart erziehen zu müssen als sei sie ein Junge, und noch dazu ein besonders schwieriger. Entsprechend ahndete er jede noch so kleine Verfehlung, die von ihrer Seite kam, entsprechend hart.

»Ach ja.« Kaarg stemmte die Hände in die Hüften, und Isana befürchtete schon, er bliese nun auch noch ins gleiche Horn wie die Fischer. »Soll euch Kenan vielleicht Reusen aus Bronze schmieden?«

Der Fischer wirkte verblüfft. »Wäre das denn möglich?«

Kaarg schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht. Genauso wenig, wie Reusen aus Schilf zu flechten. Oder zumindest nicht so, wie ihr es macht.«

Der Fischer sperrte den Mund auf und kratzte sich am Kopf, was ihn nicht unbedingt wie einen Ausbund an Geist erscheinen ließ. »Aber wie soll es denn sonst gehen?«

»Reusen müssen aus besonders haltbarem Stoff geflochten werden«, antwortete Kaarg auf seine wie immer rechthaberische Art. »Und man muss sie für jede Fischart eigens anfertigen, damit sie sich auch wirklich in den Maschen verfangen können. Denn im Grunde sind das ja nur Fischfallen. Aber hier im See wird das schwerlich gelingen ... ich glaube, ihr solltet es lieber weiter mit Angeln versuchen.«

Der Fischer hörte auf, sich am Kopf zu kratzen. »Aber Dragosz hat doch gesagt, wir könnten mit Reusen und Netzen viel mehr Fische fangen.«

»Ja«, sagte Kaarg. »Das hat er. Aber wie wollt ihr denn haltbare Netze fertigen, wenn ihr noch nicht einmal eine Reuse herstellen könnt, die einem übermütigen Hund standhält?«

Die Augen des Fischers verengten sich, dann starrte er Isana so böse an, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Du hast den Hund auf uns gehetzt. Du musst so oder so den Schaden ersetzen.«

Isana öffnete den Mund, um zu widersprechen. Aber Kaarg legte beruhigend die Hand auf ihren Arm und schüttelte ganz leicht den Kopf, bevor er sich an den Fischer wandte. »Ich will dir deine Frechheit noch einmal durchgehen lassen, da du es nicht besser wissen kannst.«

»Meine Frechheit?« Ungläubig schüttelte der Mann den Kopf. »Warum sagst du das? Nicht ich bin es doch, der sich etwas herausgenommen hat, sondern«, und er deutete mit dem Zeigefinger anklagend auf Isana, »diese Göre da!«

Kaarg der Schwätzer schüttelte ganz langsam den Kopf. »Nein, mein Freund. Das ist keine Göre. Das ist die neue Heilerin.«

Dem Fischer verschlug es die Sprache, sein Blick irrte zwischen Kaarg und Isana hin und her. »Die neue Heilerin«, krächzte er schließlich.

Isana nickte. »Hast du was dagegen?«

»Aber nein, natürlich nicht«, überschlug sich der Mann. »Ich dachte nur ...«

»Dass es länger dauert, bis sich der Ältestenrat dafür entscheidet, wer demnächst die wichtige Aufgabe der Heilerin unserer Gemeinschaft übernimmt.« Kaarg nickte. »Du hast ja recht, mein Freund. Sonst würden wir uns dafür auch mehr Zeit lassen. Aber nicht jetzt, da so viele von uns der Hilfe einer Heilerin bedürfen.«

Er wartete gar nicht erst die Reaktion der Fischer ab, sondern wandte sich weg, um weiter in Richtung des Hauptfeuers zu gehen. Isana dagegen genoss den Anblick der drei Fischer, die sie allesamt anstarrten, als sähen sie sie zum ersten Mal.

So ist das also, wenn man die Heilerin ist, dachte sie. Trotz aller widrigen Umstände durchfuhr sie ein heißes Triumphgefühl.

Das aber nur ein paar Augenblicke anhielt. Dann fiel ihr Blick auf die Hunde, die nach wie vor wild im Wasser umhertobten, und wanderte ein Stück weiter zu den Frauen, die die zerschlissenen Wickelröcke, Gewänder und Mäntel wuschen, die noch auf dem Webstuhl in ihrer alten Heimat gewebt worden waren, bis er schließlich an der unübersichtlichen Ecke des Pfahldorfs hängen blieb, wo sich zwei Stege kreuzten ...

Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Da schleppten zwei Männer - im Schatten der Hütten nur schemenhaft zu erkennen - ein zusammengeschnürtes, heftig hin und her zappelndes Bündel in ihrer Mitte.

»Arri«, hauchte sie. »Bist du das?«

Sie schüttelte den Kopf. Das kann doch nicht sein, dachte sie, als die Männer anhielten und das Bündel absetzen, das nun gänzlich mit den Schatten zu verschmelzen schien. Und trotzdem ... Wen sollten sie da sonst mit sich schleppen? Es konnte einfach niemand anderes als Arri sein!

»Arri«, flüsterte sie. »Was ... was tun sie denn mit dir?«

Kapitel 7

Ohne Zweifel war ein Einbaum nicht dazu gedacht, drei Personen aufzunehmen. Das hatten auch Taru und sein einfältiger Gehilfe Rar einsehen müssen. Zuerst hatte Taru Rar ins Wasser gestoßen, dann Arri so ungestüm in den Einbaum gezerrt, dass das Boot erst tief ins Wasser eingesunken war, um sich schließlich auf die Seite zu legen und kräftig Wasser aufzunehmen, bevor es den beiden Jungs gelungen war, das Gefährt wieder auszubalancieren. Eigentlich hatte Taru mitfahren wollen, es dann aber doch gelassen, weil er nicht mehr an Bord gekommen wäre, ohne das Boot erneut in eine gefährliche Schräglage zu bringen.

»Schneller!«, rief Rar, der beim Schwimmen ein erstaunliches Tempo vorlegte. »Wir müssen ...«, er tauchte ins Wasser ein und kam prustend wieder hoch, »unbedingt ... vor Kenan ... in der Schmiede sein.«

»Dann lass mich doch nicht allein mit dem Einbaum«, schimpfte Taru. »Der schwimmt ja nicht von selbst.«

Arri starrte zum Ufer hinüber. Sie glaubte, dort irgendetwas gehört zu haben, was das Prusten der beiden Jungen und die platschenden Geräusche übertönte, mit denen sie das Wasser mehr schlugen als dass sie es durchpflügten.

»Nur gut ... dass Ragok darauf bestanden hat ... wir alle mögen das Schwimmen lernen«, brachte Rar hervor. Er ließ sich ein Stück zurückfallen und klinkte sich auf die andere Seite des Einbaums ein, sodass die beiden Jungen das kleine Boot jetzt gemeinsam mit sich fortbewegen konnten.

Arri ließ das Ufer in der Zwischenzeit nicht aus dem Auge. Sie hörte aufgeregtes Hundegebell, und jetzt schrie auch irgendjemand etwas; es klang aufgeregt und vorwurfsvoll.

Tarus dunkler Schopf tauchte vor ihren Augen immer wieder auf und versperrte ihr den Blick. Aber sie glaubte, Frauen bei der Wäsche im Uferschlick stehen zu sehen, und ein Stück weiter eine Gruppe von Fischern. Doch da drückte Taru das Boot mit seinem Paddel in eine scharfe Kurve, und sie verlor den Blick aufs Ufer und war nicht mehr in der Lage, ihn zurückzugewinnen, so sehr sie sich in ihren Fesseln auch wand.

»Die haben die Hunde auf uns gehetzt!«, schrie Rar. »Hörst du das nicht?«

»Doch«, gab Taru knapp zurück. »Ich sehe sie sogar.«

»Verdammt«, jammerte Rar. Jetzt begann er so kräftig an dem Einbaum zu zerren, dass sich das Boot in eine scharfe Kurve legte, »Kenan hat uns gesehen ... und jagt uns!«

»Blödmann«, prustete Taru. »Du musst bloß Kurs halten. Wenn du so weitermachst, ziehst du den Einbaum noch unter Wasser.«

»Ja, und? Das wäre doch gar nicht mal so schlecht! Dann wären wir Arianrhod wenigstens los!«

Taru antwortete diesmal nicht, und Arri wurde kräftig durchgeschaukelt, als Rar den Kurs mit purer Körperkraft erneut änderte. Kurz darauf verklang das Bellen der Hunde, und das Boot schnitt ruhig und in gleichmäßiger Fahrt durchs Wasser, als die beiden Jungen zunehmend in einen gemeinsamen Rhythmus fanden.

Jetzt sah Arri auch, worauf sie zuhielten: auf den Fluss, der den See speiste.

Das ergab auch Sinn. Die Schmiede lag in der aufgegebenen alten Siedlung unterhalb der Hügel, und der Fluss führte genau daran vorbei. Die Frage war nur, was die beiden dann mit ihr vorhaben mochten.

Als hätte sie die Frage laut ausgesprochen, sagte Taru plötzlich: »Wir müssen Arri irgendwo verstecken ... Und dann gehst du zur Schmiede ... und siehst zu, dass du da alles in Ordnung bringst.«

»Ja, das mache ich ganz bestimmt«, antwortete Rar. »Ich weiß bloß nicht ... wann ich da wieder wegkomme.«

Taru antwortete nicht darauf, sondern schien sich ganz auf das gewiss anstrengende Ziehen des Bootes zu konzentrieren. Arri fand es ausgesprochen gut, dass sich die beiden dabei zunehmend verausgabten.

Schließlich erreichten sie die zerklüftete Flussmündung, die von vielen kleinen Bächen und Verzweigungen zerfurcht war. Die alten Seesiedler hatten hier einmal Stege angelegt, von denen jedoch zum Teil nicht mehr als ein paar verrottete Pfosten übrig geblieben waren, die anklagend aus dem Wasser ragten. Arri ließ ihren Blick über das Ufer schweifen. Sie war überrascht, hier bereits frische Spuren einer Bearbeitung erkennen zu können. Dragosz’ Leute hatten offensichtlich nicht viel Zeit verstreichen lassen, um dieses Gebiet wieder in Besitz zu nehmen. Wahrscheinlich ließen sich hier besonders leicht Fische mit Lanzen und Knochenharpunen stechen oder auf andere Art fangen.

»Das Ganze kann natürlich nur gelingen, wenn man uns nicht gesehen hat«, sagte Taru, während er das Boot an Land zog.

»Aber die Hunde«, erinnerte ihn Rar, der dem Heck des Einbaums einen letzten kräftigen Schubs gab, der es ins feuchte Gras gleiten ließ, »sie haben doch die Hunde auf uns gehetzt! Also müssen sie uns doch auch gesehen haben!«

Taru schüttelte den Kopf, trat ans Boot, griff Arri am Arm und zerrte sie hoch und über den Rand des Bootes hinweg. Arri versuchte, die Bewegung zu unterstützen - was mit gefesselten Armen und Beinen alles andere als einfach war. Und doch wäre sie fast über die Bordwand gestürzt und in den Schlick gefallen.

»Warum schlagen wir ihr nicht einfach den Schädel ein«, fragte Rar, »und drücken sie dann in den Schlamm?«

»Weil sie dann irgendwann hochkommt und in den See treibt«, sagte Taru. »Und wenn uns vielleicht doch jemand gesehen hat - dann wird es schwierig für mich, den Platz als Nachfolger meines Vaters einzunehmen.« Er maß Rar mit einem nachdenklichen Blick. »Und dich werden sie dann wahrscheinlich auch gleich gefesselt neben der Drude versenken.«

Rar kratzte sich am Kopf. »Ach so«, sagte er. Dann stutzte er allerdings. »Aber warum nur mich? Und nicht dich auch?«

»Weil ich Dragosz’ Sohn bin, und du nicht«, sagte Taru.

»Du magst ja Dragosz’ Sohn sein«, sagte Arri. »Aber das ändert doch nichts daran, dass du dumm wie Bohnenstroh bist.«

Arri konnte gar nicht so schnell sehen, wie Taru ausholte und ihr eine schallende Ohrfeige verabreichte. Ihr Kopf ruckte herum, und dann biss sie die Zähne zusammen, um nicht laut aufzustöhnen. »Ihr seid solche Feiglinge, ihr beiden«, stieß sie hervor, als sich Taru schon wieder abgewandt hatte. »Mehr als eine gefesselte Frau schlagen, das könnt ihr wohl nicht.«

Taru drehte sich herum, seine Augen blitzten hasserfüllt auf. Er hatte die Faust zum Schlag erhoben, und es sah so aus, als wolle er diesmal wirklich auf Arri losgehen. Aber jetzt war es ausgerechnet Rar, der ihm in den Arm fiel und sagte: »Was soll das denn? Eine gefesselte Frau zu schlagen, das ist wirklich keine Heldentat.«

Rar hätte Arri mit diesem Satz nicht mehr überraschen können, als wenn er auf sie zugegangen wäre, um ihre Fessel durchzuschneiden. Taru schien das genauso zu sehen. »Arri ist doch gar keine Frau«, fuhr er Rar an. »Sie ist eine Drude!«

Rar starrte ihn vollkommen verblüfft an. Taru versetzte ihm einen kleinen Klaps auf den Hinterkopf, und Rar antwortete irgendetwas darauf. In Tarus Erwiderung lag mehr als nur eine Spur von Ungeduld. Arri achtete nicht länger auf den Wortlaut der beiden, sondern mehr auf den Tonfall. Und der klang so, als würden sie sich gleich beide gegenseitig an die Gurgel gehen.

Umso besser für sie. Nach langer Zeit hatte sie nun zum ersten Mal wieder festen Boden unter den Füßen, und auch wenn der feucht und modrig war und ihre nackten Füße in ihm einsackten, so war das nach der schrecklichen Bootsfahrt doch eine Wohltat. So gut es ging, setzte sie einen Fuß vor den anderen - was ihr allenfalls Trippelschritte erlaubte - und entfernte sich so weit wie möglich unbemerkt von den beiden in Richtung einer kleinen Brücke, die zwei winzige Inseln miteinander verband. Sie wäre mit Sicherheit noch etwas schneller vorangekommen, wenn sie wie ein Häschen gehoppelt wäre. Aber das wäre ihr nicht nur lächerlich erschienen, sondern auch viel zu laut und auffällig gewesen.

»Du hältst dich also für was Besseres als mich!«, brüllte Rar gerade, und Taru konterte mit: »Nein. Ich weiß sehr gut, dass ich auch wirklich etwas Besseres bin. Und ehe du dich versiehst, werde ich der Herrscher der Raker sein - und sollten Ragok und seine Leute hier auftauchen, dann bin ich auch der Herrscher aller Raker!«

Vorausgesetzt, du tötest vorher meinen Sohn, du Schweinekerl, dachte Arri.

Der Gedanke gab ihr neue Kraft. Zu ihrem Glück gehörte es, dass direkt vor ihr ein paar dichte in sich verfilzte Büsche standen, die ihr genug Sichtschutz geben würden, um sich in aller Ruhe von ihren Fesseln zu befreien - vorausgesetzt natürlich, man ließe ihr diese Zeit.

Danach sah es aber im Augenblick allerdings nicht unbedingt aus.

»Wo ist jetzt die Drude?«, hörte sie Rar aufbrüllen, und Taru antwortete nicht weniger leise: »Hast du sie etwa laufen lassen, du Dummkopf?«

Rars Antwort darauf endete mit einem erstickten Keuchen, und Arri konnte sich lebhaft vorstellen, dass ihm Taru gerade einen heftigen Klaps auf den Kopf versetzt hatte. Aber das war noch nicht alles. Von der anderen Seite her, also von dort, wo die flache Uferböschung in den schroff zu den Hügeln ansteigenden Bereich überging, erklang ein lauter Schrei. Arris Kopf fuhr herum. Sie wusste, dass die Männer oft tagelang auf ausgedehnten Jagdausflügen unterwegs waren, weil die Felder noch nicht genug abwarfen. Vielleicht brachen sie gerade wieder zu einem dieser Züge auf, und vielleicht hatte sich dabei jemand verletzt ...

Es war ein müßiger Gedanke, denn dem ersten Schrei folgte ein zweiter, und dieser klang so verzweifelt, dass sich Arri instinktiv ganz weit in den Busch hineindrückte, hinter dem sie Schutz gesucht hatte. Ihr Blick irrte über den Boden. Sie brauchte einen scharfkantigen Stein, mit dem sie die rauen Stricke, mit denen man sie gefesselt hatte, aufritzen konnte. Und dann musste sie hier unbedingt schnell weg, am besten in Richtung Steinbruch, zu ihrem Geheimversteck, in dem das Schwert lag. Und wenn sie erst einmal ...

»Ich finde ihre Spuren nicht«, fluchte Rar, und Taru zischte böse: »Vielleicht noch ein bisschen lauter. Das hilft beim Anschleichen.«

Da. Kein Feuerstein, aber etwas ähnlich Hartes. Arri drehte sich in die Richtung ihres Fundes und hangelte mit beiden Händen danach. Als sie es endlich in den Händen hielt, glaubte sie ganz in der Nähe ein Geräusch zu hören - und sie erstarrte mitten in der Bewegung, als ein Vogel nicht weit entfernt von ihr aufflatterte und sich mit schnellen Schwingbewegungen in den Himmel hinaufschraubte.

Es war gar nicht so leicht, den Stein so zu verkeilen, dass sie mit dem Strick, der um ihr Handgelenk festgezurrt war, darüberschaben konnte. Als der Stein endlich fest genug saß, war von Taru und Rar überhaupt nichts mehr zu hören. Sie konnte von Glück sagen, dass das Gras hier am See von zahlreichen Tieren niedergetrampelt war, die dieses flache Gelände offensichtlich als Tränke benutzten - sonst hätten die beiden wohl kaum ihre Fährte verloren.

Ihr Atem ging schnell und hektisch, und sie war aufgeregt, aber diesmal aus einem ganz anderen Grund als zuvor. Weder auf dem Steg, noch bei der abenteuerlichen Fahrt im Einbaum war ihr ernsthaft der Gedanke an Flucht gekommen. Jetzt sah das allerdings ganz anders aus. Sie hatte die Gelegenheit, und sie würde sie auch nutzen - und dafür sorgen, dass Taru niemals Kyrill in die Finger bekam.

Ihre Verzweiflung ließ sie schneller und mit mehr Kraft arbeiten, als es vielleicht gut war. Mehr als einmal rutschte sie von dem Strick ab und ritzte sich das Handgelenk. Und schließlich lief Blut den Strick hinab und tropfte vor ihr auf den Boden. Sie hatte Angst. Dragosz, die schrecklichen Ereignisse am See - das spielte jetzt alles keine Rolle. Sie musste fliehen und Taru und Rar loswerden, alles Weitere würde sich weisen.

Da! Faser nach Faser ging auf, und sie verdoppelte ihre Anstrengung, um den verfluchten Strick loszuwerden. Doch die letzten Fasern widersetzten sich ihren Anstrengungen noch, und so musste sie all ihre Kraft und ihr ganzes Geschick aufwenden, um ...

»So wird das nichts«, sagte eine Stimme über ihr.

Arri schrak zusammen, riss gleichzeitig den Kopf und die immer noch zusammengebunden Hände nach oben, dazu bereit, den Stein als Schlagwaffe einzusetzen.

Es hätte ihr wohl nicht viel genutzt. Der Mann, der da über ihr stand, sah fürchterlich aus: Die eine Seite seiner Haare war lang, die andere so kurz, als sei sie gerade erst vollständig geschoren worden. Seine dunklen Augen waren von noch tieferem Schwarz umrahmt, und in der Nase und dem rechten Ohr hatte jemand kleine Schmuckstücke eingebracht, wie Arri sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er wippte ungeduldig auf dem rechten Fuß, war verschwitzt und hatte einen wirren Blick, der nur kurz auf ihr ruhte, bevor er unruhig über die Umgebung schweifte.

Arri verfluchte sich für ihren Leichtsinn. Sie hätte sich nicht so lange auf den dummen Strick konzentrieren sollen.

»Ich hoffe, ich tue jetzt nichts Falsches.« Der Mann zog ein Bronzemesser, woraufhin Arri ein zweites Mal erschrak: Es sah fast so aus wie die Waffe, die Taru heute Morgen bei sich getragen hatte.

Der Mann beugte sich zu ihr hinab, und bevor Arri noch recht wusste, wie ihr geschah, schnitt er ihr die Fesseln endgültig ab. »Du bist nicht zufällig eine Drude, was?«

»Wie?« Arri starrte zu dem Mann empor, der nicht auf eine Antwort gewartet hatte, sondern sich einmal im Kreis drehte, bevor er sich dann wieder ihr zuwandte.

»Na, Druden sagt man nicht gerade das Beste nach«, plapperte der Fremde weiter drauflos, »und sie gefesselt im Wald auszusetzen, das wäre das Mindeste, was man ihnen antun könnte ...«

Arri kam mit einer torkelnden Bewegung hoch. Sie hatte keine Ahnung, wovon dieser Kerl da redete - aber allein das Wort Drude beunruhigte sie schon. »Was willst du von mir?«, fauchte sie.

Etwas an ihrem Blick - und vielleicht auch an der Art, wie sie den Stein hielt - musste ihn erschreckt haben, denn er wich zurück.

»Ich will gar nichts von dir«, stieß er hervor. »Außer, du kannst mir sagen, wo Sedak geblieben ist.«

»Sedak?« Arri schüttelte den Kopf. »Ich kenne keinen Mann dieses Namens. Aber ich muss weg ...«

»Ja, ich auch. Aber nicht ohne Sedak.« Er musterte Arri. »Und du hast wirklich niemanden gesehen? Keinen Mann mit schwarz gezeichneten Augen, der hier vorbeigehetzt ist?«

Arri fuhr sich mit der Hand durch die Haare, eine Bewegung, die zu ihr gehörte und auf die sie nun schon viel zu lange hatte verzichten müssen. »Nein. Ich habe überhaupt niemanden gesehen. Bis auf Taru natürlich, und Rar.«

Der Mann packte sie am Handgelenk - und ließ sie dann erschrocken wieder los, als sie vor Schmerz zusammenzuckte, weil er dabei ihre frischen Schnittwunden zusammengepresst hatte. »Taru? Du meinst doch nicht etwa Dragosz’ Sohn?«

Arri stolperte zurück, bis sie mit dem Rücken in einem Dornenbusch hängen blieb. Natürlich. Alles passte zusammen. Wäre sie nicht so abgelenkt gewesen, sie hätte gleich bemerken müssen, dass der Fremde nicht nur die gleiche Sprache sprach wie sie, sondern dass er auch die Worte genau in der gleichen Art aussprach wie Dragosz, Taru und all die anderen Dorfbewohner. Das konnte doch nichts anderes bedeuten, als dass auch er ein Raker war.

»Du ...«, stammelte sie, »du gehörst zu Ragoks Männern!«

Die Augen des Fremden verengten sich, sein Mund wurde zu einem fest zusammengekniffenen Strich. Hätte Arri weiter ausweichen können, dann hätte sie es jetzt getan. Aber der Busch hinter ihr hielt sie in einem nicht minder festen Griff als das kurz zuvor noch Rar getan hatte. Und als sie jetzt die Hand hob, mit der sie den Stein nach wie vor umklammert hielt, hörte sie, wie Stoff riss.

Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Ja!« Der Fremde kam weiter auf sie zu. In seinen Augen funkelte jetzt etwas, das Wut sein konnte, oder aber auch kalter Hass. »Ich gehöre zu den Männern, die zu Ragok gehalten haben, nachdem ihn sein schändlicher Bruder entehrt hat. Und du musst zu denen gehören, die Dragosz während seines Zugs nach Westen aufgegriffen hat.«

Aufgegriffen hat! Was für eine abfällige Art, das auszusprechen. Aber nichts war unwichtiger, als sich jetzt darum Gedanken zu machen.

»Wenn du weiter so rumbrüllst, werden Taru und Rar gleich hier sein.« Sie machte einen befreienden Schritt nach vorn, zumindest wollte sie das, aber die Dornen hatten sich so in ihr Gewand gebissen, dass es an allen Ecken knirschte. Na wunderbar.

»Ja.« Der Fremde senkte seine Stimme so weit, dass Arri Mühe hatte, die nächsten Worte überhaupt zu verstehen. »Du hast recht. Wir müssen leise sein. Aber sag mir eines: Bist du meine Feindin?«

Seine Feindin? Arri konnte nicht anders, als in das offene Gesicht des Fremden zu sehen. Er war jung, kaum älter als Taru. Aber quer über seine Stirn verlief eine Narbe, und um seinen Mund und seine Augen hatten sich bereits feine Furchen eingegraben, die davon kündeten, dass er harte Zeiten hinter sich hatte. Seine Kleidung bestand aus dem gleichen fein gewebten Stoff, wie ihn die anderen Raker trugen, unter denen Arri in der letzten Zeit gelebt hatte. Aber sie war deutlich zerschlissen und mit frisch wirkendem Blut und Dreck verschmiert.

»Warum sollte ich deine Feindin sein?«, fragte Arri. »Ich kenne dich ja gar nicht.«

»Nein, das tust du nicht«, antwortete der Mann grimmig. »Aber du wirst Geschichten von mir und den meinen gehört haben.«

»Um das beurteilen zu können, müsste ich erst einmal deinen Namen wissen.«

Der Fremde nickte. »Also gut.« Er klopfte sich gegen die Brust. »Ich bin Larkar der Speer.« Bitter verzog er das Gesicht. »Nur leider ist mir mein Speer abhanden gekommen. Wir sind in einen Hinterhalt geraten. Waren das deine Leute?«

»Meine Leute?« Arri deutete auf den Strick, der an ihrem rechten Handgelenk herabhing. »Sieht das denn so aus, als wäre hier jemand in der Nähe, der zu meinen Leuten zählt?«

Larkar schüttelte den Kopf. »Nein. Und wenn es Taru war, der dich in diese Lage gebracht hat, dann bist du nicht unbedingt mein Feind.«

»Das war er, ja«, versicherte ihm Arri, obwohl dies nur bedingt stimmte.

»Und wie stehst du zu Dragosz?«, fragte Larkar.

Das war ein Stich, der Arri mitten ins Herz traf. Sie öffnete den Mund, setzte zu einer Antwort an, und schloss ihn dann wieder.

»Dragosz ist ...«, sagte sie schließlich.

Sie kam jedoch nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Etwas zischte, und ein Pfeil sauste so nah an Larkars Gesicht vorbei, dass Arri im ersten Augenblick glaubte, er hätte ihm die Nasenspitze abgerissen.

Larkar reagierte blitzschnell. Statt sich einfach umzudrehen und davonzulaufen, was er ohne Zweifel hätte tun können, sprang er auf Arri zu, packte sie bei beiden Armen und riss sie an sich heran. Der Stoff in Arris Rücken hatte kaum Zeit zu knirschen, da riss er schon an etlichen Stellen. Dann war sie frei.

»Lauf«, zischte ihr Larkar zu.

Arri hätte dieser Aufforderung gar nicht bedurft, um loszulaufen. Sie hätte schreien können vor lauter Wut über die Ungerechtigkeit, die ihr nun aufzwang, vor irgendjemandem davonzulaufen, mit dem sie doch gar keinen Streit hatte. Sie musste diesen Larkar erst ganz schnell loswerden und sich dann erst einmal irgendwo verstecken.

Larkar lief merkwürdig. Eigentlich war es gar kein richtiges Laufen, sondern eher ein unrhythmisches Hüpfen. Der Mann war angeschlagen, entweder durch einen Kampf, der erst ein paar Stunden zurückliegen konnte, oder einer alten Verletzung wegen.

»Arri!«, schrie jemand, als sie die Hügel erreichte und zwischen eine Baumgruppe eintauchte. »Bleib stehen! Du kommst ohnehin nicht weit!«

»Das ist doch ...«, Larkar blieb so abrupt stehen, dass Arri beinahe in ihn hineingelaufen wäre, »Taru!«

Arri stöhnte auf. Jetzt fehlte es noch, dass sich die beiden wie alte Freunde begrüßten und dann gemeinsame Jagd auf sie machten. Sie sprang an Larkar vorbei, umrundete einen moosbewachsenen Findling und duckte sich in seinen Schatten. Ihr Atem ging rasselnd. Sie musste zu Luft kommen, und dann nichts wie weg hier.

»Larkar!«, hörte sie Taru rufen, was nicht gerade erfreut klang. »Was tust du denn hier? Ich dachte, deine Beine sind längst irgendwo verrottet und dein Schädel von der Sonne verdorrt!«

Das klang nicht gerade nach Freundschaft. Arri richtete sich in ihrem Versteck ein wenig auf und spähte zurück. Larkar stand da - und wahrscheinlich lieferten er und Taru sich gerade ein Blickduell.

»Ich habe dich gesucht, Taru«, sagte Larkar, »dich und deinen verräterischen Vater. Und wie es aussieht, habe ich euch jetzt gefunden!«

»Ach, Larkar«, antwortete Taru abfällig. »So, wie es aussieht, kannst du dich kaum noch auf den Beinen halten. Das ist ja auch kein Wunder. Du hättest mit uns kommen können. Aber nein, du musstest ja bei der alten Geierkralle bleiben ...«

»Nenn ihn nicht so!«, brüllte Larkar. »Ragok ist ein Mann von Ehre - was man von deinem Vater ja nun wirklich nicht sagen kann.«

»Mein Vater war ein großer Mann«, sagte Taru kalt. »Aber nun ist er tot. Und ich bin sein Nachfolger.«

»Du sein Nachfolger?«, fragte Larkar rasch, aber Arri sah aus ihrem Versteck, wie sehr ihn die Nachricht von Dragosz’ Tod getroffen haben mochte. »Das bist du nicht«, fuhr er beharrlich fort. »Ragok wird die Geschicke unseres Volkes lenken ...«

»Und du bist sein Kundschafter, ja?«, unterbrach ihn Taru. Mit einem Mal klang seine Stimme so kraftvoll und überheblich wie die von Dragosz, wenn er sich ein Wortgefecht mit einem fremden Händler geliefert hatte, der für seine Waren zu viel verlangt haben mochte. »Dann bin ich mal gespannt darauf, wie viele Männer er aufbieten kann, um mich zu überzeugen, dass ich mein Haupt vor ihm beuge.«

Auch das war ein Dragosz-Satz, und Arri sah, wie sich Larkar anspannte. Doch dann bemerkte er irgendetwas außerhalb von Arris Blickfeld und duckte sich. Und zwar keinen Augenblick zu früh: Ein Pfeil sauste über ihn hinweg und schlug hinter ihm in den Stamm einer Esche ein.

»Hast du dir gleich auch noch deine eigenen Feinde mitgebracht?«, fragte Taru höhnisch.

Larkar antwortete ihm nicht. Im Zickzack lief er los, ungleichmäßig und humpelnd, aber dennoch erstaunlich schnell. Arri stöhnte auf, als sie begriff, dass er den Findling ansteuerte, hinter dem auch sie Schutz gesucht hatte.

Sie wollte schon aufspringen, um davonzulaufen, besann sich dann aber im letzten Augenblick eines Besseren. Hinter dem Stein war sie vor Pfeilen einigermaßen sicher. Und da sie nicht die geringste Ahnung hatte, wer hier mit Pfeil und Bogen unterwegs war - und ob es nicht vielleicht eine ganze Horde sein mochte, die es nur darauf anlegte, jeden abzuschießen, der ihr zu nahe kam - war es besser, erst einmal abzuwarten, was nun geschah.

Larkar erreichte den Findling mit einem letzten Satz. Dabei wirkte er nicht sehr überrascht, sie hier vorzufinden. »Dragosz ist tot?«, fragte er sofort, während er sich neben Arri in den Schutz des Steins sinken ließ.

»Ja«, stieß Arri hervor. »Er ist tot. Und damit du es nur weißt: Er war mein Mann!«

Überrascht stieß Larkar die Luft aus. »Dein Mann? Aber Surkija ...?«

Arri starrte ihn wortlos an. Was wollte dieser humpelnde Speerträger, der seinen Speer verloren hatte, eigentlich von ihr? Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen, und er überfiel sie gleich mit den unangenehmsten Fragen.

»Ich werde jetzt bestimmt nicht mit dir über Surkija sprechen«, sie schnitt ihm mit einer ärgerlichen Handbewegung die Entgegnung ab, die ihm sichtbar auf der Zunge gelegen hatte. Und das Ende des Stricks, das immer noch an ihrem Handgelenk hing, fuhr wie eine Peitsche an seinem Gesicht vorbei, »und auch über sonst nichts. Ich will nur hier weg.«

Larkar nickte. »Ja, ich will hier auch weg. Doch vorher muss ich noch ein paar Dinge wissen.«

»Aber warum?«

»Warum?« Taru wäre in einer Situation wie dieser vor Wut explodiert, aber Larkar verhielt sich da ganz anders. Eher wirkte er traurig. »Du hast keine Ahnung davon, was wir hinter uns haben, oder?«

Arri zuckte mit den Achseln. »Nein.«

»Und erst recht weißt du nicht, was vor uns liegt.« Larkar nickte, ohne eine Bestätigung von ihr abzuwarten. »Die Vergangenheit und die Zukunft sind miteinander verwoben. Und dabei spielt Surkija eine große Rolle.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte Arri, und plötzlich sah sie das Bild ihrer Mutter vor sich.

Lea: kraftvoll und energisch, immer in der Lage, alle Probleme zu lösen. Sie hatte Arri das Gefühl vermittelt, für immer und ewig bei ihr zu sein - und sie zu beschützen.

Und vielleicht war sie das ja auch. Vielleicht war sie sogar gerade jetzt bei ihr. Arri hatte jedenfalls das Gefühl, als wäre sie ihr ganz nah, und als rate sie ihr, in diesem Augenblick hier zu verharren und vor diesem ernsthaften jungen Krieger, der so schrecklich erschöpft wirkte, dass es ihr Heilerinnenherz rührte, nicht wegzulaufen.

Aber über Surkija sprechen? Ausgerechnet über die Frau, die ihr Dragosz noch im Tod wegnehmen wollte?

»Was genau ist denn mit Surkija geschehen?«, wollte Larkar wissen. »Warum war sie nicht mehr an Dragosz’ Seite?«

»Du meinst die Frau, wegen der sich Ragok und Dragosz so erbittert gestritten haben, dass sie darüber das Wohl ihres Volkes vergaßen und es ins Unglück stürzten?« Arri lachte rau auf, doch es lag nichts Fröhliches in ihrer Stimme, sondern nur Bitterkeit. »Nein! Verstehst du denn nicht? Surkija ist gestorben, noch bevor Dragosz die alte Heimat mit den Seinen ganz verlassen hatte! Alles war umsonst. Der ganze Bruderzwist. So sinnlos.«

Larkar starrte sie an - und ganz allmählich veränderte sich die Farbe seines Gesichts. »Ich kann das nicht glauben. Dragosz ist tot - und Surkija auch? Aber wie ist das geschehen?«

Arri zuckte mit den Schultern. »Von Surkijas Tod habe ich verschiedene Geschichten gehört. Die einen behaupten, eine Schlange habe sie gebissen. Andere sagen, es wäre ein Fieber gewesen, ausgelöst durch verdorbenes Wasser. Jedenfalls hat sie sich selbst nicht heilen können. Nach drei Tagen ist sie gestorben.«

»Ja, aber das ...«, Larkar schüttelte den Kopf, »warum ist Dragosz dann nicht zurückgekehrt?«

»Um was zu tun?« Arri schüttelte den Kopf. Sie hätte Larkar noch viel erzählen können. Zum Beispiel von ihm und ihrer Mutter. Lea hatte Dragosz schon lange gekannt, und es waren mehr als nur Worte gewesen, die sie ausgetauscht hatten. Dragosz mochte Surkija aufrichtig geliebt haben: Aber er war nicht immer treu gewesen.

Das alles spielte jetzt aber keine Rolle mehr.

»Um was zu tun?«, wiederholte Arri. »Hätte Dragosz etwa vor seinen Bruder treten und sagen sollen: Tut mir leid. Ich habe unser Volk auseinandergerissen, dich betrogen und dann durch Unachtsamkeit die Frau getötet, die du geliebt hast?«

Larkar starrte sie fassungslos an. »Und nach Surkija hat Dragosz dich zur Frau genommen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, woran Dragosz gestorben sein mag. Aber ich weiß doch, welches Glück er gehabt hat, nach Surkija eine Frau wie dich zu finden.«

Arri hatte eigentlich noch etwas hinzufügen wollen, aber Larkars Worte verschlugen ihr die Sprache. Und schlimmer noch, sie ließen sie die volle Wucht des Verlustes spüren, den sie gerade erst erlitten hatte.

»Du hast Tränen in den Augen.« Larkar nickte. »Das verstehe ich. Dragosz ist wohl noch nicht lange tot ... und du hast ihn geliebt.« Er löste den Blick von ihr und starrte nach oben in den Himmel. Sein schmales, hageres Gesicht kündete von den Entbehrungen, die er erlitten hatte. Hunger und Schmerz, das war es, was sich in sein Gesicht eingebrannt hatte - und zwar in deutlich stärkerem Maße als bei den Menschen, die mit Dragosz gezogen waren.

Arri konnte nicht verhindern, dass sie laut aufschluchzte. Ihre Gefühle verwirrten sich vollkommen. Dragosz’ Tod - aber auch das, was er Ragok und denjenigen angetan hatte, die den Bruderverrat nicht einfach hatten hinnehmen wollen. All das war so schrecklich.

Jetzt wandte sich Larkar ihr nicht mehr zu. Er war wohl mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, und da konnte ihn Arri nur zu gut verstehen. Denn es waren eine Menge Neuigkeiten, die er da gerade erfahren hatte - und das während einer Flucht vor einer Meute, die ihn und seinen Weggefährten offensichtlich schon seit geraumer Zeit jagte und gerade erst aufs Wildeste Pfeile verschossen hatte.

Als sich Arri endgültig abwenden wollte, um nach einem Fluchtweg Ausschau zu halten, drehte sich Larkar wieder zu ihr um. »Dann bist du eine von uns, obwohl ich dich noch gar nicht kenne.«

»Von uns?«, fragte Arri überrascht.

Larkar nickte ernsthaft. »Von uns Rakern.«

Arri brauchte eine Weile, um zu begreifen, was er damit meinte. »Eigentlich bin ich keine von euch«, sagte sie. »Meine Mutter stammt aus einem Land, das in den Fluten vor der Küste des großen Meeres im Norden längst versunken ist.«

»Und dein Vater?«

»Mein Vater?« Verwirrt schüttelte Arri den Kopf. »Ich weiß nichts von ihm. Ich bin in einem kleinen Dorf an einem friedlichen Fluss aufgewachsen ...«

Lexz schüttelte den Kopf. »Es kommt nicht darauf an, wo du aufgewachsen bist. Sondern darauf, für wen dein Herz schlägt.«

Ja, dachte Arri. Genauso war es wohl. Und als sie das dachte, hatte sie einmal mehr das Gefühl, ihrer Mutter ganz nah zu sein.

Das war seltsam. In ihrem Schmerz hatte sie Lea fast vergessen. Warum nur fühlte sie sich ausgerechnet in der Anwesenheit dieses fremden Kriegers Lea so nah?

»Unser Volk steht vor einer großen Prüfung«, sagte Larkar, als sie nicht antwortete. »Unser Schamane hat uns vorausgesagt, dass sich in den nächsten Tagen entscheiden könnte, ob wir weiterleben werden oder nicht. Ob uns auch künftig ein Leben in Frieden und Wohlstand beschieden sein wird, oder ob wir jämmerlich untergehen werden.«

Arri schreckte aus ihren Gedanken hoch. »Ich verstehe das nicht«, bekannte sie. »Welcher Schamane denn?«

»Hat dir denn Dragosz gar nichts von ihm erzählt?«

Arri schüttelte den Kopf. »Wir haben einen Ältestenrat, ja. Aber keinen Schamanen.«

»Ja«, bestätigte Larkar. »Ihr habt keinen Schamanen, weil Zakaan bei uns geblieben ist und nur sein Bruder Abdurezak mit Dragosz ging.« Er stockte, bevor er fortfuhr, und ließ seinen Blick erneut über ihre Umgebung schweifen. Offensichtlich rechnete er jederzeit mit einem weiteren Angriff. »Zakaan ist der wahrscheinlich größte und weiseste aller Schamanen, die jemals in der Mitte unseres Volkes gelebt haben. Er sieht Dinge, die kein anderer zu sehen vermag, und versteht Zusammenhänge, die kein anderer begreifen kann. Und er hat eine sehr kluge Art, mit Ragok umzugehen - der in diesen harten Zeiten zu allzu harten Entscheidungen neigt.«

»Ja«, sagte Arri. »Du hast recht. Dragosz hat mir kaum etwas von ihm erzählt.«

»Und das aus gutem Grund«, sagte Larkar. »Denn Zakaan hat seinen Untergang vorhergesagt und ihn gewarnt, Surkija zur Frau zu nehmen - und dadurch den Bruch mit Ragok zu riskieren.« Erschöpft schloss er die Augen, und Arri begriff, dass er nun am Ende seiner Kräfte war. Sie hatte in der letzten Zeit viel Leid und Elend gesehen, und wann immer möglich hatte sie zu helfen versucht.

»Du brauchst Ruhe«, stellte sie fest.

»Ruhe?« Es war fast ein Aufschrei. »Ich brauche vor allem etwas zu trinken. Meine Kehle ist vollkommen ausgedörrt.«

Arri zeigte hinter sich. »Dort ist der Fluss. Und da ist genug Wasser.«

»Ja. Und dazwischen sind Taru und die Dämonen.«

»Die Dämonen?«, echote Arri überrascht. »Welche Dämonen?«

Larkar winkte ab. »Das spielt im Augenblick keine Rolle. Ich muss wissen, wo ihr lagert. Habt ihr Urutark gefunden?«

Arri zögerte. Sie kannte nur Dragosz’ Version des Bruderzwistes, aber auch diese hatte sie nicht wirklich zufriedengestellt, bei aller Liebe zu Dragosz nicht. Sie hatte keine Ahnung, was wirklich vorgefallen war - und was er getan hätte, wenn er auf die verloren gegangene Hälfte seines Volkes gestoßen wäre.

Ihr Zögern schien Larkar gar nicht zu gefallen. Er beugte sich vor, und Arri fürchtete schon fast, er wolle sie schlagen. »Ich muss wissen, ob da Urutark ist!«

Arri hielt seinem Blick stand und schüttelte den Kopf. »Woher soll ich das denn wissen? Ich bin doch noch nicht einmal von eurem Volk.«

»Aber ...« Larkar brach ab und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Still. Da ist doch ...«

»Die ... Dämonen?«, fragte Arri leise.

Larkar zuckte mit den Schultern. »Ob es Dämonen sind, weiß ich nicht ... aber ... Vorsicht!«

Das letzte Wort zischte er. Doch es war zu spät. Arri hatte sich schon halb aufgerichtet und lugte nun hinter dem Felsen hervor - und erstarrte, als sie sich einem Mann gegenübersah. Nein, keinem Mann, sondern einem seltsam verkrümmt dastehenden Wesen, dessen Gesicht fast vollständig von einer Kapuze verdeckt wurde.

Der Missgestaltete hatte nicht in ihre Richtung geblickt. Aber jetzt sah er zu ihr hin. Sein Gesicht ... irgendetwas stimmte mit seinem Gesicht nicht ... buschige, geschwungene Augenbrauen, eine missgestaltete Nase über einem riesigen Mund, eine verzerrte Fratze und irgendetwas, das dort hinabhing, wo eigentlich die Ohren hätten sein müssen.

Arri wollte den Schrei unterdrücken, der aus ihr hervorzubrechen drohte. Aber es gelang ihr nicht ganz. Doch statt zurückzuspringen oder sonst irgendetwas Dummes zu tun, tat sie das einzig Richtige: Sie sprang vor, riss den Stein in ihrer Hand nach oben und ließ ihn mit voller Wucht in die fürchterlich missgestaltete Fratze hineinfallen.

Die Abwehrbewegung der Kreatur kam zu spät. Sie riss den Arm hoch, und Arri sah etwas Metallisches aufblitzen. Doch bevor sie die Waffe treffen konnte, taumelte der grauenvolle Angreifer schon zurück.

Der Stein hatte ihn unter dem Auge erwischt und eine tiefe Furche in die Haut geschlagen. Blut spritzte hervor, und dann noch etwas anderes. Arri musste vollkommen sinnloserweise daran denken, was Larkar gerade gesagt hatte: dass sich ihrer aller Schicksal in den nächsten Tagen entscheiden werde.

Sie taumelte an dem Verletzten vorbei und sah etwas, das sie fast noch mehr erschütterte als die Kreatur, die eben so plötzlich vor ihr gestanden hatte. Nur ein kleines Stück unter ihr war Taru durch das Gehölz gebrochen, vielleicht angelockt durch das Gespräch, das sie und Larkar geführt hatten.

Es hatte ihm kein Glück gebracht. Mehrere der Kapuzenkreaturen schienen ihn bereits erwartet zu haben, und jetzt drangen sie mit Stangen auf ihn ein.

Taru war schnell, das musste Arri ihm lassen, und er kämpfte genauso geschickt und rücksichtlos, wie ihm das Dragosz beigebracht hatte. Eine wuchtig geschlagene Stange sauste haarscharf an seinem Kopf vorbei, er tauchte darunter weg und stieß dem Angreifer den Fuß in die Magengrube, während er sich bereits umdrehte und der Kreatur, die ihm eben noch das Rückgrat hatte zerschmettern wollen, das Messer in den Hals stieß.

Der Getroffene jaulte auf wie ein Hund, dem man auf den Schwanz getreten hatte, und torkelte zurück, aber da war auch schon der nächste heran. Zu ihrem Erschrecken erkannte Arri, dass er mit einem Schwert statt mit einer Stange bewaffnet war.

Taru begriff die Gefahr im allerletzten Augenblick. Er tauchte nach links ab - und die Klinge schrammte an seiner Schulter vorbei. Arri konnte nicht erkennen, ob - und wenn ja, wie schwer er getroffen war. Doch sie ahnte, dass er der Übermacht nicht mehr lange würde standhalten können. Taru hatte kein Schwert mit sich geführt, als er bei ihr aufgetaucht war. Und das rächte sich jetzt.

Aber wo blieb Rar? War er etwa geflohen - oder lag er schon getroffen am Boden?

Arri blieb keine Zeit, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Mit einem Schrei setzte sie der Gestalt nach, die sie selbst verletzt hatte, packte die Stange, die sie nach wie vor umklammerte, und versuchte sie ihr zu entwinden.

Die Kreatur ließ das nicht zu, selbstverständlich nicht. Arri hatte sie überraschen können, aber jetzt hatte sie sich zu etwas verleiten lassen, das sie auf keinen Fall gewinnen konnte: einer reinen Kraftprobe.

Der Kapuzenmann scheuchte sie mit der Stange mühelos herum, und mehr als einmal verlor sie den Bodenkontakt und schwebte mehr als eine Handbreit über dem Boden, bevor sie wieder schmerzhaft aufsetzte und mit den nackten Füßen über Felsen scheuerte. Sie konnte nicht loslassen, denn dann hätte ihr der Angreifer sofort die Stange über den Kopf gezogen. Aber während ihr Gegner die Waffe immer heftiger schwang, Blut von seinem Gesicht spritzte und sie selbst besudelte, erlahmten ihre Bewegungen erschreckend schnell. Es konnte nicht mehr lange dauern ...

Da war Larkar heran. Sein Schwert zuckte so schnell vor, dass Arri es erst wahrnahm, als es schon wieder zurückgezuckt war. Dem Missgestalteten schien es ähnlich zu ergehen. Sein Kopf ruckte zu Larkar heran, dann stieß er ein tiefes Grollen aus ... und nun ließ er die Stange los, griff sich an den Hals und taumelte rückwärts.

Arri wäre gestürzt, wenn Larkar sie nicht mit einer Hand aufgefangen und in der gleichen Bewegung mit sich gerissen hätte.

»Was sollte das denn?«, zischte er ihr ins Ohr, während er ihr einen kräftigen Stoß in den Rücken versetzte, »wolltest du die Dämonen etwa im Alleingang fertigmachen?«

»Nein«, stieß Arri hervor. Verzweifelt versuchte sie, die Stange nicht zu verlieren, die sie in der rechten Hand hielt, und mit der anderen Hand wollte sie die Reste ihrer Kleidung zusammenhalten, die ihr bei dem Hin- und Hergeschwinge fast vollständig vom Leib gerissen worden waren. »Aber ich musste doch Taru helfen!«

Larkar versetzte ihr einen zweiten Schubser, und dieser wirkte nun gar nicht mehr freundlich, sondern ließ sie fast das Gleichgewicht verlieren. »Taru! Hast du den Verstand verloren?«

Ja, dachte Arri. Ich muss den Verstand verloren haben. Warum sonst habe ich mein Leben in Gefahr gebracht, nur um demjenigen zu helfen, der mir am liebsten den Schädel einschlüge?

Isana hatte Mühe, Kaarg einzuholen. Das lag zum einen daran, dass der Schwätzer seine Schritte auf eine ganz eigene und merkwürdige Weise beschleunigt hatte, die ihn so aussehen ließ, als zwinge er seine alten Knochen zu einem entenähnlichen Watschelgang, und auf der anderen Seite daran, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war.

Wollte Arri fliehen? Hatte sie Verbündete, von denen sie, ihre engste Vertraute, nichts wusste? Oder ging da etwas ganz anderes vor sich?

Isana war so verwirrt, dass sie erst gar nicht bemerkte, dass Kaarg sie ansprach, als sie ihn gerade eingeholt hatte. »Ich hoffe, du bist mit allem vertraut, was nötig ist, um mit deiner Arbeit beginnen zu können«, sagte Kaarg mindestens zum zweiten Mal.

»Wie?« Isana hob beruhigend die Hand, als der alte Mann schon ungeduldig auffahren wollte. »Natürlich. Surkija hat mir von Kindesbeinen an alles gezeigt, was nötig ist, um Wunden zu heilen und Verletzungen zu lindern. Und seit zwei Sommern helfe ich ja auch schon Arianrhod ...«

Sie brach ab, als sie begriff, wo sie war und wer ihre Worte hören konnte, wenn sie nicht aufpasste.

Ohne dass es ihr wirklich aufgefallen war, hatte sie den Platz zwischen den Hütten erreicht, auf dem das Feuer des Lebens brannte. Es war der Mittelpunkt ihrer Gemeinschaft, jener Ort, wo man zusammenkam, um Mahlzeiten zuzubereiten und Wichtiges wie Nebensächliches in bunt gemischten Gruppen zu besprechen. Hier, in der Mitte ihrer Gemeinschaft, waren alle willkommen, Junge und Alte, Frauen und Männer, Bauern, Fischer und Jäger - oder was immer zum Arbeitsleben der Einzelnen gehörte.

Auch jetzt hockten wieder zahlreiche Frauen am Feuer, während sich die Männer ein Stück weiter entfernt in mehreren kleinen Gruppen zueinandergesetzt hatten.

Isana blieb neben Kaarg stehen und sah sich mit Unbehagen um. Alle Gespräche waren verstummt, als sie in die Nähe des Feuers gekommen waren, und etliche Augenpaare richteten sich auf sie.

Hier Arris Namen auszusprechen, war so ziemlich das Dümmste, was sie hatte tun können. Über mehr als ein Gesicht war ein Schatten gelaufen, als sie den Namen Arianrhod ausgesprochen hatte, wie sie mit einem heißen Schreck begriff.

Kaarg wollte wohl etwas sagen, aber zumindest diesmal war Isana schneller als der Schwätzer.

»Ich bin gekommen, um euch zu helfen«, sagte sie. »Ihr alle kennt mich als die Tochter des Schmieds. Doch die meisten werden sich auch daran erinnern, dass sich Surkija meiner wie einer Tochter angenommen und mir alles beigebracht hatte.«

Der einzige Mann, der am Feuer saß, war Furlar, der schon in ihrer alten Heimat die schönsten Töpferarbeiten angefertigt hatte. Er nahm die Finger von dem Gefäß, das aus braunem schweren Ton bestand, das er gerade erst zurechtgeformt hatte, und sagte auf seine langsame und bedächtige Art: »Du warst mit Arianrhod zusammen, als sie das Gift gemischt hat, um uns alle umzubringen.«

Die anderen murmelten zustimmend, und es klang auf eine Art beängstigend, dass es Isana fast die Luft abschnürte. Ihr Blick wanderte zu den beiden Frauen, die auf ihren Mahlsteinen Korn zu Mehl verarbeiteten, und blieb Hilfe suchend bei der alten Josa hängen, der sie früher oft zur Hand gegangen war. Die Hände der alten Frau ruhten auf dem Getreideteig, der aus den wild wachsenden Einkornpflanzen gemischt worden war, die auf den zahlreichen Äckern der alten Seesiedler gewachsen waren, und den sie gerade als Fladenbrot für die nächste Mahlzeit zubereitete.

Alles sah so friedlich und vertraut aus. Gleich würde Josa den Brotteig über den schon vorgeheizten Stein des Lehmofens legen, und Furlar würde ein weiteres Gefäß vorbereiten, um sie dann später zusammen in dem Ofen zu brennen. Die anderen würden fortfahren, die Gewänder auszubessern, die zuvor im See gewaschen worden waren, oder aber die Beeren und Pilze zuzubereiten, die sie gesammelt hatten; und später, wenn die Fischer kamen, würden sie die wenigen Fische, die die Männer auf ihre umständliche Art dem See abgerungen hatten, für die Mahlzeit waschen. Es waren viele kleine und große Handgriffe, die hier am Feuer getätigt wurden, und sie alle waren notwendig, damit die Gemeinschaft einigermaßen gestärkt und gut vorbereitet in den Winter ging.

Isana hätte sich am liebsten zu den Frauen gesetzt und wie in ihrer Kindheit beim Körbeflechten geholfen oder Korn gemahlen, oder auch jede andere Hilfsarbeit übernommen, gleichgültig, um was es sich handelte.

»Was ist mit dir, Kind?«, fragte Josa nach einer Weile, und Isana fuhr wie ertappt zusammen.

»Es ist alles so ... schrecklich.«

Wieder murmelten die Frauen ihre Zustimmung, aber Josa sagte mit ihrer rauen, kratzigen Stimme: »Wo warst du, als der kleine Prytio gestorben ist?«

Isana spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. »Ich habe doch geholfen, wo ich konnte«, murmelte sie. Unruhig nestelte sie an dem Feuersteinring herum, den ihr Kaarg zum Zeichen ihrer neuen Würde als Heilerin überreicht hatte. »Ich kann doch nicht überall sein!«

»Das ist keine Antwort«, sagte Josa. »Surkija hat nie jemanden alleine sterben lassen. Und schon gar kein Kind.«

»Nein ... natürlich nicht«, antwortete Isana. Sie fühlte sich schrecklich hilflos. Eine Korbflechterin sah zu ihr hoch, und sie entdeckte den Vorwurf in ihren Augen. »Ich war bei der alten Amara«, beeilte sie sich zu antworten. »Ich habe ihr beigestanden, so gut ich es konnte.«

Josa seufzte und streifte die Finger an dem Stein ab, auf dem sie das Fladenbrot hatte vorbereiten wollen. »Ja, das glaube ich dir. Aber ein Kind oder eine alte Frau - da fällt doch wohl die Entscheidung nicht schwer, um wen du dich zu kümmern hast, nicht wahr?«

Isana beeilte sich zu nicken. Josa hatte ja recht.

»Die meisten Kinder erreichen nicht einmal das fünfte Lebensjahr«, sagte Josa. »Aber wir brauchen Kinder. Sie sind doch unsere Zukunft!«

Isana hätte sich am liebsten umgedreht und wäre davongelaufen. Aber sie zwang sich stehen zu bleiben und Josa offen anzublicken, auch wenn sie spürte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. »Du hast ja recht«, sagte sie leise. »Ich habe versucht zu helfen, so gut es ging. Leider war das nicht genug. Es sind gute Menschen gestorben ...«

»Ja, und das alles nur wegen dieser Arianrhod«, sagte Furlar.

»Selbst Dragosz hat sie umgebracht, die Drude«, rief die Korbflechterin heftig und spie aus. »Ihren eigenen Mann! Wir sollten sie holen und hier ins Feuer werfen, damit sie bei lebendigem Leib verbrennt!«

Isana schreckte jetzt doch zurück. Mit ganz kurzen Bewegungen entwich sie ein Stück.

»Schluss jetzt mit dem Gerede«, sagte Kaarg barsch. »Die Drude hat die Nacht neben ihrem toten Mann verbracht, gefesselt und gut verschnürt. Und sobald Dragosz den langen Weg über den Frykr antritt, werden wir ihr den Prozess machen.«

Isana verschluckte sich fast. Arri war nicht mehr gefesselt, sondern auf der Flucht. Und offensichtlich war sie die Einzige, die das wusste; zumindest musste sie das vermuten, sonst hätte es wohl schon längst ein großes Geschrei gegeben. Sie hätte den anderen jetzt unbedingt ihre Beobachtungen mitteilen müssen, aber sie brachte kein Wort hervor.

»Du musst doch erfahren haben, was Arianrhod vorhatte«, sagte Furlar, der ihr Erschrecken wohl falsch deutete. »Schließlich hast du sie bei den Vorbereitungen für das Fest unterstützt.«

»Ja«, sagte Isana hitzig. »Genauso wie die meisten anderen von euch auch.«

»Von uns?« Furlar runzelte die Stirn und schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich habe Arianrhod bestimmt nicht geholfen.«

»Nein?« Isana zog eine Augenbraue hoch. »Hast du nicht eigens für das Fest Krüge und Töpfe gefertigt? Tragen nicht sogar die Opferkrüge, in denen das vergiftete Wasser gereicht wurde, dein Zeichen?«

Furlar war alles andere als ein Hitzkopf, aber jetzt lief ein Schatten von Unmut, fast schon von Zorn, über sein Gesicht. »Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«

»Nichts«, antwortete Isana rasch. »Genauso wenig wie mit den Beeren und Pilzen, die die Frauen gesammelt haben. Und auch nicht mit den einfachen Hilfshandlungen, mit denen ich und andere die Vorbereitungen für das Fest unterstützt haben.«

»Ja.« Furlar nickte. »Also war alles allein Arianrhods Werk. Dann müssen wir uns auch an sie halten, um die Toten zu rächen.«

Isana wand sich. Sich zu verteidigen, war die eine Sache, Arri anzuklagen aber eine ganz andere Sache.

»Wir werden Arianrhod schon ihrer gerechten Strafe zuführen, da könnt ihr sicher sein«, sagte Kaarg. In seinen müden alten Männeraugen lag plötzlich ein merkwürdiger Glanz. »Und seht zu, dass ihr das Tageslicht nutzt, um mit eurer Arbeit voranzukommen. Die Tage werden schon kürzer, und es ist noch viel zu tun, wenn wir den ersten Winter in Urutark überstehen wollen!«

Ja, dachte Isana, das ist wohl wahr. Der erste Winter würde der härteste werden, denn noch hatten sie keine Ernte einfahren, kein Obst trocknen, keine Fische räuchern, kein Fleisch pökeln - und keinen auf Kieselsteinen erhitzten Mehlbrei in Schafsdärme füllen können, damit er sich bis weit in die kalte Jahreszeit hinein hielt.

»Und du kommst jetzt mit mir«, fuhr Kaargs Stimme in ihre Gedanken hinein. »Wir holen Arri von dem Steg herunter. Und dann machen wir ihr den Prozess!«

Kapitel 8

Arri versetzte Larkar einen Schubser, der ihn in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit den steilen schmalen Pfad hinunterschlittern ließ, der sich vor ihnen auftat. »Da runter jetzt«, zischte sie. »Und dort unten bleibst du gefälligst auch, hast du verstanden?«

Larkar hätte zunächst auch gar nichts anderes tun können, als dort zu bleiben, wo Arri ihn haben wollte. Kleinere und größere Steine rutschten nach, als er mit wild rudernden Armen auf dem Geröllbett hinabrutschte. Und dann folgte auch schon Arri, die auf der kleinen Gerölllawine ritt und mehr als einmal das Gefühl hatte, sie würde gleich von den Füßen gerissen werden.

»Vorsicht!«, schrie Larkar, kaum dass er unten angekommen war und sich umgedreht hatte, um ihr entgegenzustarren. »Da, der Ast!«

Arri hatte ihn schon selbst gesehen. Trotzdem hatte sie Mühe, dem ausladenden Ast einer verkrüppelten Eiche auszuweichen. Unter ihren Füßen polterten die Steine hinab und rissen sie mit sich. Sie konnte gerade noch rechtzeitig den Oberkörper so weit verbiegen, dass sie nicht mit voller Wucht mit dem Kopf gegen den Ast knallte.

»Upps«, machte sie, dann war sie aber auch schon unten angekommen.

Larkar sprang vor, fing sie auf, riss sie noch in der gleichen Bewegung aus der Rinne heraus und setzte sie auf einem Vorsprung ab. Zum Dank stieß ihn Arri mit einer Hand zurück und fauchte: »Was ist los, spinnst du?«

Der humpelnde Speerträger musterte sie mit einem ganz merkwürdigen Blick, während sie mit beiden Händen die Überreste ihres Wickelrocks, der sich gerade selbstständig machen wollte, zurückhielt. Die Dornen, die Flucht und nicht zuletzt dieser Teufelsritt hatten nicht nur ihren Rock zerfetzt, sondern auch die aufwendig gefertigte Leinenbluse eingerissen, die der ganze Stolz jeder Heilerin war.

»Vorsicht!«, schrie jetzt Arri, und Larkar begriff sofort, was sie meinte. Mit einem Satz war er aus der Rinne heraus, durch die nun immer größere Gesteinsbrocken donnerten, wobei einige auch bis auf Kniehöhe hochsprangen und unmittelbar neben ihr landeten.

Um ein Haar hätte Arri ihn erneut zurückgestoßen, doch dann begriff sie, dass der Vorsprung, auf dem sie nun beide standen, einfach nicht groß genug war, um auch noch auf Abstand zu gehen. Aber das spielte jetzt auch keine große Rolle mehr. Sie und Larkar waren gemeinsam geflohen, und die Idee, sich von ihm zu trennen und ihr Glück allein zu versuchen, war spätestens in dem Augenblick verflogen, als ein Pfeil sie erneut nur knapp verfehlte.

Arri raffte die Reste ihrer Bluse so gut es ging zusammen (was nicht besonders gut war, denn um sie wieder halbwegs zu flicken, brauchte sie mindestens einen halben Tag, und das auch nur, wenn sie eine Bronzenadel zur Verfügung hatte). Dann rückte sie so weit es ging von Larkar ab. Den Stock, den sie ihrem missgestalteten Gegner abgenommen hatte, hielt sie dabei so fest umklammert, dass Larkar hoffentlich begriff, wie wenig wehrlos sie war.

Der Speer packte sie dennoch am Handgelenk und zog sie an sich heran, und obwohl er das nicht besonders feinfühlig tat, war ihm Arri nach dem ersten Schreck äußerst dankbar dafür, denn ihr rechter Fuß hatte schon über dem Nichts gebaumelt.

»Nun komm doch endlich mal zur Ruhe!«, fauchte er.

»Zur Ruhe?« Arri hätte beinahe laut aufgelacht. Diese ganze Flucht war eine einzige Katastrophe, und wenn das in dieser Geschwindigkeit so weiterging, würde vor Einbruch der Dunkelheit nicht nur ihr Gewand in alle Einzelteile zerfallen, sondern sie auch so erschöpft und außer Atem sein, dass ihr die Aussicht auf ihren eigenen Tod eher wie eine Erlösung vorkäme.

»Du bist mir einige Erklärungen schuldig!«, schrie ihr Larkar ins Ohr.

Vielleicht sagte er das auch in ganz gewöhnlichem Tonfall, aber da sich sein Mund direkt neben ihrem Ohr befand, empfand sie es als unerträgliches Geschrei.

»Ich bin dir wirklich dankbar, dass ich jetzt nicht nur Taru und Rar fürchten muss«, antwortete Arri, »sondern es auch noch mit einer Horde leibhaftiger Dämonen zu tun habe.«

»Taru!«, stieß Larkar hervor.

Dabei klang seine Stimme so hasserfüllt, dass Arri ihn fragend ansah.

»Ich konnte Taru noch nie leiden«, stieß er gereizt hervor. »Er hat immer schon geglaubt, etwas Besonderes zu sein, nur weil er Dragosz’ Sohn ist. Früher habe ich ihm noch ab und zu eine kleine Abreibung verabreicht, damit er nicht allzu übermütig wird.«

»Viel hat das nicht genutzt«, gab Arri leise zurück. »Ganz im Gegenteil. Er ist eher noch unangenehmer geworden.«

Larkar nickte, bevor er sie von der Seite aus musterte. »Und weshalb hast du Streit mit ihm?«

»Nun«, antwortete Arri ausweichend, »das ist eine lange Geschichte. Und ich erzähle dir sie auch wirklich gerne. Vorausgesetzt, ich habe mich zuvor noch in ein neues Gewand einkleiden können, und mir fliegen nicht andauernd Pfeile um die Ohren.«

Die Reise zur Begräbnisstätte seiner Urahnen hatte Zakaan vollkommen aus der Fassung gebracht. Er schloss die Augen, unfähig zu begreifen, was geschehen war. Konnte es denn wirklich sein, dass er aus der Trance heraus direkt nach Urutark gelangt war, in das Land seiner Stammväter, dorthin, wo sich einst aus einer wilden Horde ein Stamm gebildet hatte, und aus diesem dann das Volk, dem die Menschen angehörten, die er so liebte? Aber wie sollte das denn möglich sein?

»Nein!«

Er schreckte auf und streckte die Hand aus. Seine Finger zitterten und sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er dem Wort nachlauschte, das er selbst ausgestoßen hatte. Er fühlte sich so verloren und hilflos.

Dabei war sonst wieder alles so, wie es sein sollte. Da gab es keinen in Felle gekleideten Schamanen mehr, der Eiskristalle im Bart hatte, und der Boden unter ihm strahlte zwar nicht gerade Hitze aus, war aber immerhin auch nicht mit Schnee bedeckt. Er befand sich wieder in der Zeit, in die er gehörte. Es war ein warmer Tag nach einem viel zu heißen, alles versengenden Sommer, und kein von Schnee und Eis geprägter Übergang in die kalte Jahreszeit, wie ihn seine Urahnen Jahr für Jahr erlebt haben mochten.

Er musste sich beruhigen. Und er wusste auch, wie er das erreichen konnte. Zumindest ungefähr.

Der Odem der Götter verband alles miteinander: Menschen, Tiere und Pflanzen, Wasser, Feuer, Luft und die Erde, deren Atem in ihrem ganz eigenen Rhythmus floss. Viel Übung gehörte dazu, all diese verschiedenen Arten zu erspüren, mit denen sich alles Lebendige den Odem der Götter teilte. In den alten Zeiten, in denen der Schamane oft genug Zeit und Ruhe gehabt hatte, um sich ganz zu versenken, war er oft vollkommen in dem Gefühl aufgegangen, seinen Atem mit dem der ganzen Welt zu verbinden.

Genau das versuchte er, und zwar immer und immer wieder. Aber irgendetwas störte ihn. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, in den richtigen Atemrhythmus zu kommen. Wenn er einatmete, hüpften seine Gedanken davon wie ein Kiesel, den man in einem flachen Winkel aufs Wasser warf, und beim Ausatmen stieß er die Luft zu flatterig aus, ungefähr so wie ein löchriger Blasebalg.

Schließlich musste er den Versuch abbrechen. Fast widerwillig öffnete er die Augen und legte den Kopf in den Nacken, um nach oben zu starren. Das Blätterdach der Bäume war so dicht, wie er es auch in Erinnerung hatte, aber die riesigen grauschwarzen Monolithen, die er zu sehen geglaubt hatte, gab es gar nicht. Er starrte in jede Richtung, schwenkte rasch den Kopf von rechts nach links und spürte, wie ihn ein starkes Schwindelgefühl ergriff. Die Baumkronen schienen sich um ihn zu drehen, und das Rascheln des Laubes verwirrte ihn ebenso wie das Gezänk von ein paar Rohrspatzen, die zwischen den Ästen umherjagten.

Das Entscheidende aber war, dass dort gar keine Monolithen waren, nirgendwo, weder in der direkten Umgebung noch irgendwo sonst in seinem Sichtfeld. Das einzig Dunkle waren die Schatten, die die Bäume warfen - aber bei genauerem Hinsehen hatten sie auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit großen grauschwarzen Steinen.

Zakaan schüttelte den Kopf. Was war nur mit ihm los? Für gewöhnlich konnte er sehr gut zwischen der Wirklichkeit und dem unterscheiden, was er in einer Versenkung zu sehen glaubte. Diesmal jedoch war alles anders gewesen.

Dabei war er an einem guten Ort, an einem Ort, der von Lebensenergie nur so durchpulst wurde. Aber dies hier war nicht Urutark, ganz gewiss nicht.

Wie hatte er sich nur so täuschen können?

Weil der Wunsch diesmal so groß gewesen war, dass sich seine Wahrnehmung getrübt hatte. So einfach war das.

Erst hob er die Hände ... und dann ließ er sie langsam wieder sinken. Sie zitterten, und das taten sie auch beim zweiten und beim dritten Mal. Aber allmählich fand er wieder Zugang zu sich selbst. In seinem Kopf herrschte nach wie vor ein Schwindelgefühl, das ihn wohl niedergerungen hätte, hätte er gestanden. Aber sein Atem fing wieder an zu fließen, ganz so wie er es wollte.

Die Kraft des Lebens ist in allem, das wusste er besser als jeder andere seines Volkes. Sie durchfließt auch alles, die Steine genauso wie das Gras, das Wasser ebenso wie den Wind, die Ameise wie auch das Urrind. Sich in den uralten Fluss der Lebensenergie hineinfallen zu lassen, sich über den Atem mit ihr zu verbinden, das war immer und überall seine Lösung gewesen.

Und es glückte auch jetzt wieder. Doch gleichzeitig begriff er, was ihn gestört hatte: Es waren die Bilder am Rande seiner Wahrnehmung. Bilder von Dingen, die er nicht verstand, schreckliche Bilder. Er sah Tote, verwesende Leichen, aufgedunsene Körper und einen Leichenpfuhl mit der Ansammlung unaussprechlichen Grauens.

Zwei, drei Züge lang drohte sein Atem wieder davonzuflattern, dann streckte er die Hände vor, legte die Fingerspitzen aufeinander und öffnete langsam die Hände. Sofort spürte er, wie Ruhe in sie einfloss und all das verdrängte, was seinen Geist mit den schrecklichen Bildern mitreißen wollte.

Diese Leichen ... und Lexz und die anderen, die in einem unbekannten dichten Urwald unterwegs waren ... all dies gehörte irgendwie zusammen ...

Ob Lexz ... tot war?

Der Schamane lauschte in sich hinein, doch er bekam keine Antwort. Aber er spürte noch deutlicher als zuvor, dass sie sich in Gefahr befanden, Torgon, Lexz, Ekarna und Sedak. Sie waren vom Weg abgekommen und drohten sich in etwas zu verstricken, was noch schlimmer sein konnte als der Tod.

Allmählich wurde es Zeit, dass er etwas unternahm. Er musste Lexz die Kraft des Lebens schicken. Und er konnte nur hoffen, dass der Junge auch in der Lage - und in der Stimmung - war, um sie zu empfangen.

Es war kühler geworden, der Wald finsterer, und wo immer es möglich war, folgten Lexz und seine Gefährten Wildpfaden oder hielten sich an Bäche, deren Ufer meist licht und aufgebrochen waren. Ihre Augen schienen dabei überall zu sein. Vögel, die aufflatterten, Kleintiere, die weghuschten, das Surren und Summen der Insekten: Der Wald barst vor prallem Leben.

Aber keine Spur von Larkar und Sedak.

Sie alle drei waren gut im Spurenlesen, und es schien mehr als unwahrscheinlich, dass ihnen auch nur das kleinste Anzeichen dafür entgehen mochte, dass hier in letzter Zeit jemand anderer als sie entlanggekommen war. Zwei-, dreimal entdeckten sie auch tatsächlich alte Spuren, die von Menschen kündeten, und eine ganze Zeit lang verfolgten sie einen Pfad, der nicht nur von Tieren, sondern ganz offensichtlich auch von Menschen plattgetrampelt worden war.

Aber dieser Pfad verlor sich dann zwischen Findlingen und kleinen und größeren Steinen, die jetzt zunehmend in den Wald eingestreut lagen. Danach hatten sie keine Spuren von Menschen mehr gefunden.

Noch nie zuvor in seinem Leben hatte sich Lexz so verloren gefühlt. Larkar war schon immer wie ein Bruder für ihn gewesen, und nach Nakurs Tod war das Band zwischen ihnen noch enger geworden. Wenn er ehrlich war, war Larkar sogar der Einzige, der ihm wirklich nahestand. Was, wenn er durch die eigene Unbeherrschtheit seinen Tod auf dem Gewissen hatte?

Das Gefühl des Verlustes wurde mit jedem Schritt, den sie zurücklegten, übermächtig. Aber es war nicht nur die Angst um Lexz, die sein Herz zusammendrückte, es war all das, was ihnen in den letzten Stunden passiert war - und die Gewissheit, dass auch noch die eine oder andere Überraschung auf sie wartete.

»Schritt für Schritt rennen wir tiefer in den Wald hinein, ohne eine Spur von Larkar und Sedak zu finden«, hatte Torgon geschimpft. »Das gefällt mir nicht. Wir sollten zurück zu Ragok, um ihm Bericht zu erstatten. Er muss doch unbedingt von den beiden Überfällen wissen! Es wäre gar nicht auszudenken, was es bedeutet, wenn Ragoks Lager angegriffen wird - oder auch nur Jäger oder Sammler, die er losgeschickt hat.«

»Das stimmt«, hatte Ekarna geantwortet. »Wir müssen so schnell wie möglich zu ihm. Aber nicht ohne unsere Gefährten!«

Genau.

Nicht ohne ihre Gefährten.

Und doch war dann alles anders gekommen.

Nach Stunden vergeblicher Suche hockten sie nun an einem Bach, erschöpft und jeder für sich in düstere Gedanken versunken. Die wenigen Sätze, die sie während ihrer zügigen und anstrengenden Suche gewechselt hatten, hatten sich alle ausnahmslos um die Geschehnisse an der Grube und um ihre vermissten Gefährten gedreht. Es waren schmerzhafte Gesprächsfetzen gewesen, die zu nichts geführt hatten, außer dazu, ihre Verzweiflung noch weiter zu schüren.

Inzwischen griff die Nacht mit dunklen Schatten nach ihnen, und jetzt weiterzumarschieren, das wäre ein unverzeihlicher Leichtsinn gewesen. Lexz hatte zwischendurch immer wieder das unangenehme Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Vielleicht waren es die Höhlenmenschen, die sie nach Ekarnas raubtierhaftem Eingreifen nicht vollständig aus den Augen gelassen hatten, vielleicht waren ihnen aber noch die Kapuzenmänner auf den Fersen. Das alles wirkte so ... verwirrend, um es ganz vorsichtig auszudrücken.

Und auf keinen Fall durften sie in ihrer Wachsamkeit nachlassen.

Jetzt hockten sie beieinander - und auch wieder nicht. Sie hatten eine leicht erhöhte Stelle am Bach gewählt, weil diese sich im Notfall leichter verteidigen ließe als jeder andere Ort, und jeder von ihnen behielt einen anderen Abschnitt im Auge. Zumindest tat Ekarna das, und auch Lexz bemühte sich, in seiner Wachsamkeit nicht nachzulassen. Torgon dagegen richtete seine Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderes: nämlich auf das, was er zwischendurch eingesammelt hatte, um es jetzt zu verspeisen.

»Greift ruhig zu«, forderte er die beiden anderen auf.

Lexz warf einen flüchtigen Blick auf alles, was Torgon da vor ihnen auf dem Waldboden ausgebreitet hatte. Es waren Beeren dabei, Wildäpfel und farnähnliche Blätter von einer merkwürdigen Farbe, die fast einen Stich ins Rötliche hatte. Aber dazwischen zuckte und krabbelte es, und Lexz sah schnell wieder weg.

»Hier können wir nicht bleiben«, stellte Larkar fest.

Da konnte ihm Arri nur recht geben. Sie waren so in Eile gewesen, dass sie ihrer Umgebung etwas zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Die Schlucht schnitt scharf in den Hügel ein, auf den sie auf der Suche nach einem Versteck zugehalten hatten. Nicht weit entfernt von hier lag der Steinbruch, und dort befand sich auch die Höhle, in der sie ihr Schwert versteckt hatte. Nur hatte sie leider nicht die geringste Ahnung, wie sie dahin kommen sollte, ohne dass ihr Larkar an den Fersen klebte - und sie möglicherweise in Taru, Rar oder irgendwelche wild gewordenen Bogenschützen oder Dämonen hineinlief, die ihre Stangen schwangen.

»Wenn ich das richtig sehe, müssen wir den gleichen Weg, den wir gekommen sind, wieder zurück«, stellte Larkar gerade fest.

Das war eine sehr hilfreiche Bemerkung. Arri drehte sich einmal um die eigene Achse und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, und fast hätte sie dabei mit der Hand nach oben gedeutet, in die Richtung des Pfades, den sie entdeckt zu haben glaubte. Doch dann besann sie sich rechtzeitig, dass ihre Bluse wohl vollends über ihre Schultern gerutscht wäre, und sie schüttelte nur noch einmal, und diesmal mit deutlich mehr Nachdruck, den Kopf. »Da müssen wir rauf. Und dann nach links. Wenn ich mich richtig erinnere, kommen wir dort wieder von den Hügeln runter.«

Larkar spähte in die angegebene Richtung und zuckte dann mit den Schultern. »Möglich. Also lass uns das versuchen.«

»Und dann?«, fragte Arri. »Versteh mich nicht falsch - aber unsere Wege werden sich trennen, sobald wir die Schlucht verlassen haben.«

»Ja.« Larkar drehte sich langsam um, darauf bedacht, ihr dabei nicht zu nahe zu kommen. »Und wo willst du hin?«

Das geht dich gar nichts an, dachte Arri, und offensichtlich konnte man ihr ihre Gedanken auch deutlich genug ansehen, denn Larkar zuckte abermals mit den Schultern. »Natürlich ist es deine Sache, was du tust. Aber wenn du willst, kannst du mit mir kommen.«

»In Ragoks Lager?« Arri schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«

»Ja, vermutlich nicht.« Larkar seufzte und wandte sich wieder von ihr ab. »Es spielt ohnehin keine Rolle. So schnell werden wir nicht zurückkehren können. Zuerst müssen wir Sedak suchen.« Arri spürte, wie er sich anspannte. »Wir haben uns getrennt, um den Bogenschützen kein so leichtes Ziel zu bieten.«

»Aha.« Arri rückte noch ein weiteres kleines Stück von Larkar ab, und ihr rechter Fuß drohte abzugleiten, bevor sie ihn mit einer entschlossenen Bewegung wieder heranzog. »Und was sind das für Leute, die euch mit Pfeilen beschießen? Sind es die gleichen, die auch mit den Stangen auf uns losgegangen sind?«

»Du meinst ... diese ... diese Kapuzenmänner?«, fragte Larkar.

Arri entging nicht, dass er es vermied, das Wort Dämonen auszusprechen. Das war Arri nur recht. Bislang hatte sie sich geweigert, auch nur ernsthaft darüber nachzudenken, wem sie die schwarze Stange entrissen hatte. Oder woraus sie gefertigt war. Bronze? Das konnte doch nicht sein, genauso wenig wie Kupfer oder irgendetwas anderes.

Es sei denn, es bestand aus dem gleichen Material wie ihr Schwert ...

Sie verwarf den Gedanken, als Larkar plötzlich sagte: »Eigentlich waren wir zu fünft. Aber wir sind durch ... unglückliche Umstände getrennt worden.« Sein Gesicht verzog sich dabei, als hätte er in etwas Saures gebissen. »Also schlag mit der Stange bitte nicht gleich jedem den Schädel ein, auf den wir stoßen. Es könnten auch meine Gefährten sein.«

Arri nickte. »Ich werde versuchen, daran zu denken.« Sie deutete nach unten. »Und jetzt los. Dieser wunderschöne kleine Steinschlag, den wir ausgelöst haben, ist zur Ruhe gekommen. Also nichts wie weg hier. Bevor uns die Bogenschützen wieder aufstöbern!«

»Ich habe keinen Hunger«, antwortete Lexz, als Torgon nicht aufhörte ihn zu bedrängen und ihm eine Köstlichkeit nach der anderen anbot.

»Aber du musst doch etwas essen«, sagte Torgon, und Lexz glaubte, in dem nicht zu überhörenden Schmatzen jetzt auch ein leises Fipsen zu hören, das plötzlich abbrach. »Essen hält Geist und Seele zusammen«, fuhr Torgon genüsslich kauend fort. »Frag Zakaan.«

»Ja, ich fürchte, da hast du recht«, sagte Ekarna und klaubte einen Apfel hervor. »Wo hast du die eigentlich her? Ich habe gar keine Obstbäume gesehen?«

Lexz rückte ein Stück von den beiden ab. Er hatte seinen Durst an dem frischen Wasser gestillt, das der Bach mit sich führte. Das reichte fürs Erste. Dabei war es noch nicht einmal Torgons fragwürdiges Essverhalten, das ihn hatte abrücken lassen, sondern eher der Umstand, dass er den Namen des Schamanen erwähnt hatte.

Der Wind strich so sanft wie eine beruhigende Hand über ihn hinweg, aber Lexz hockte weiter in einer angespannten und verkrampften Haltung da. Er dachte an seinen toten Bruder Nakur, und außerdem dachte er an Larkar. Es wurde Zeit, dass das Sterben aufhörte.

Genau das Gleiche hatte auch Zakaan in letzter Zeit immer wieder gesagt. Kein Wunder, dass seine Gedanken jetzt zu dem alten Schamanen wanderten, der ihm immer eine Stütze gewesen war. Zakaan hatte ihm geholfen, wann immer er sich schwach und unsicher gefühlt hatte.

Und genau das tat er auch jetzt: sich schwach und unsicher fühlen.

»Einer Gefahr aus dem Weg gehen, das kann man doch erst, wenn man sie auch wirklich kennt«, glaubte er die Stimme Zakaans zu hören, als er sich endlich mit dem Rücken an einen Baum gelehnt hatte, um erst einmal etwas zur Ruhe zu kommen.

So gut es im verblassenden Sonnenlicht ging, sah er durch das dichte Unterholz hindurch und in die sich leicht im Wind wiegenden Gräser und Sträucher hinein. Der Anblick erinnerte ihn an eine andere, glücklichere Zeit. In ihrem Heimatdorf hatte er oft am Feuer gesessen, in dem funkensprühend die Opfergaben verbrannten, die sie ihm zuvor übergeben hatten - in den guten alten Zeiten, als sie noch genug hatten erübrigen können, um den Göttern ein angemessenes Opfer darbieten zu können ...

Lexz versuchte die Augen offen zu halten und nach allem Ausschau zu halten, was verdächtig sein konnte. Aber das wollte ihm nicht gelingen. Es war Zakaans Stimme, die er jetzt hörte, und nicht mehr das Rauschen des Windes und das Rascheln der Blätter. Er hörte den leicht knarrenden, dumpfen Unterton, der vor allem dann die Worte des Schamanen begleitete, wenn er den jungen Kriegern etwas Wichtiges mit auf den Weg gab. Etwas nämlich, das ihnen helfen sollte, die Gefahren zu bestehen, die in der unbekannten Welt lauern mochten, in die sie sich auf der langen Wanderung und Suche nach Urutark aufmachten.

»Wann immer du nicht mehr weiterweißt, werde ich dir helfen können«, hatte Zakaan damals gesagt. »Ich werde in deinen Gedanken sein, wann immer du mich brauchst. Alles, was du dafür tun musst, ist, dich auf meine Stimme zu konzentrieren. Und auf deine Atmung.«

Lexz wusste, dass Zakaan recht hatte. Allein war man verloren. Es war das Wissen und die Weisheit der Ahnen, die einen stark machten. Das Wissen, das durch den Schamanen sprach, und für das man sich öffnen musste, wollte man in dieser Welt bestehen, in der doch alles drunter und drüber ging.

»Konzentriere dich auf deine Atmung«, hatte ihm Zakaan auch dann immer gesagt, wenn er allein mit ihm am erlöschenden Feuer gesessen hatte, nachdem die anderen bereits längst verschwunden waren und sich für eine weitere Nacht auf dem harten Untergrund einer fremden Welt gebettet hatten. »Dein Atem spendet dir die Kraft, die die Götter zum Beginn der Zeiten auf die Welt geblasen haben, als sie Menschen und Tiere erschufen. Dein Atem verbindet dich mit dem Atem der Tiere, die du jagst. Er verbindet dich mit den Menschen, die du liebst, und ebenso mit den Menschen, die du hasst. Vor allem verbindet er dich aber mit dem Atem der Götter.«

»Der Atem der Götter«, flüsterte Lexz. »Wir müssen uns auf den Atem der Götter besinnen.«

Aber ob das half, wenn man eine zarte mädchenhafte Erscheinung gesehen hatte, deren Anblick den eigenen Tod verkündete?

Torgon drehte sich zu ihm um und sah ihn stirnrunzelnd an. Lexz konnte in diesem Augenblick nichts anderes denken als: ob er überhaupt richtig atmen kann, so dick wie er ist? Und warum muss er eigentlich ständig irgendetwas in sich hineinstopfen?

»Zakaans kluge Ratschläge helfen uns hier nicht weiter.« Torgon schüttelte besorgt den Kopf. »Wir müssen selbst entscheiden, was jetzt zu tun ist.«

»Ja, das sehe ich auch so«, pflichtete ihm Ekarna bei, bevor Lexz etwas sagen konnte. Sie wandte ihren Kopf nach rechts. »Habt ihr das vorhin auch gesehen? An der Grube? Kurz bevor wir losgegangen sind?«

»Ja, ich habe jemanden gesehen«, sagte Torgon schmatzend. Er nahm etwas Undefinierbares auf, roch daran und biss dann herzhaft hinein. »Einen muskelbepackten Kerl mit wildem Bart und einem noch wilderen Funkeln in den Augen, der eine riesige Keule in der Hand hatte. Und dann war da noch einer, der mit einem Speer auf uns losgehen wollte. Aber dem hast du ja einen gehörigen Schrecken eingejagt, dadurch, dass du deine Zähne in ihn vergraben hast.«

Es war wohl mehr als nur ein Schrecken gewesen, dachte Lexz, sprach jedoch die Worte nicht aus. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Ekarna.

Und dann sagte sie fast unhörbar genau den Satz, von dem er schon gefürchtet hatte, dass sie ihn sagen würde: »Nein, das meine ich nicht.«

»Aha«, machte Torgon. »Und welchen von unseren vielen anderen Angreifern meintest du dann?«

Ekarna zögerte. »Keinen der Angreifer«, sagte sie schließlich.

Nein, wisperte eine Stimme in Lexz’ Gedanken, etwas viel Schlimmeres. Eine Todessyre.

Aber warum hatte Ekarna sie dann auch gesehen? Stand etwa auch ihr der Tod bevor? Waren sie denn beide todgeweiht?

»Was ist nun?«, drängte Torgon. »Wen hast du gesehen?«

Ekarna antwortete darauf etwas, das Lexz nur zu gut verstand. Denn wenn sie das Gleiche wie er gesehen hatte, ein zartes Mädchen, fast durchsichtig, das mit einer Stimme sprach, die keinem menschlichen Wesen gehören konnte, dann würde sie dies aus dem gleichen Grund verschweigen wie er selbst.

Weil es nichts war, über das man sprechen sollte.

»Ich weiß nicht, wen oder was ich gesehen habe«, sagte Ekarna. »Und ich weiß auch nicht, was uns getroffen hat ... Dieses Zeug aus der Grube ...«

»Meinst du, nachdem uns die Dämonen und bevor uns die Höhlenmenschen angegriffen haben?« Torgon spuckte etwas aus und verzog angewidert das Gesicht - was Lexz mehr als gut verstehen konnte. Denn das, was er ausgespuckt hatte, schlängelte sich nun davon. »Da wollte mich das kleine Mistvieh doch in den Mund beißen!« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich das richtig zähle, war das damit der dritte Angriff heute.«

Ekarna antwortete nicht, sondern stierte nur vor sich auf den Boden.

»Gut, ich habe verstanden.« Torgon sortierte etwas aus seinen Essvorräten aus und warf es davon. »Heute also kein Lebendfutter mehr.« Er wandte sich an Ekarna, und sein Gesichtsausdruck wirkte jetzt deutlich ernster als sein lockeres Gerede hatte vermuten lassen. »Du meinst etwas anderes. Und etwas, das auch nicht appetitlich ist.«

»Ja. Oder nein.« Ekarna zuckte mit den Schultern. »Ich will jetzt gar nicht über diese ... Grube reden. Und das, was da hochgespritzt ist.«

»Schleim«, unterbrach sie Torgon. »Ekelhafter, gelbgrüner Schleim. Ich habe das Zeug schließlich ins Gesicht bekommen. Und überall, wo es mich getroffen hat, hat es gebrannt und gejuckt, als hätte mir jemand Brennnesseln ins Gesicht geschlagen. Was ist das?«

»Ich weiß es nicht«, wiederholt Ekarna. Ihre Stimme klang flach, der Blick ihrer grünen Augen flackerte. »Es ist ... wie ein Zeichen der Götter ...«

»Klar«, Torgon nickte, »all das sind Zeichen der Götter. Aber welcher Götter, Ekarna? Unserer - oder der unserer Feinde?«

Lexz fand, dass das eine sehr gute Frage war.

Wer hatte ihm die Todessyre geschickt? Vielleicht die Götter seiner Feinde?

»Das ist die falsche Frage«, glaubte er Zakaan antworten zu hören. »Dragosz’ Leute sind nicht unsere Feinde. Sie gehören zu uns. Sie müssen sich aber erst wieder darauf besinnen.«

»So wie ich mich auf meinen Atem besinnen muss«, murmelte Lexz.

Ekarna warf ihm einen schrägen Blick zu, aber Torgon achtete gar nicht auf ihn. Er stellte Ekarna eine ganze Menge Fragen zu der Leichengrube, und das wohl hauptsächlich deshalb, weil Ekarna ersatzweise die Funktion einer Heilerin übernommen hatte und viele Dinge wusste, für die er und Lexz noch nicht einmal Worte hatten. Ekarna hatte jedoch keine schnelle Erklärung bereit und war offensichtlich mit ihren Gedanken auch ganz woanders - was Torgon jedoch nicht daran hinderte, immer wieder auf sein augenblickliches Lieblingsthema zurückzukehren.

Aufs Essen.

»Ganz still jetzt«, zischte Ekarna plötzlich.

Lexz sah überrascht hoch. »Habe ich zu laut geatmet?«

»Oder habe ich zu laut geschmatzt?«, ergänzte Torgon.

»Still, ihr Kindsköpfe.« Ekarna erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. »Da ist irgendjemand.«

Lexz lauschte. Doch er hörte nur das Geräusch, mit dem Ekarna ihr Schwert zog, und das Rascheln von Torgons Kleidung, als er sich erhob. Lexz folgte seinem Beispiel.

Es war zwar noch nicht vollständig dunkel, aber es kündete sich bereits eine stockfinstere Nacht an. Und obwohl Lexz nichts hörte, nahm er doch etwas wahr. Er hätte nicht sagen können, was es war, vielleicht ein Geruch, oder etwas, das sanft und kaum merklich über seine Haut strich.

»Das gefällt mir nicht«, murmelte Ekarna, »das gefällt mir ganz und gar nicht.«

Lexz hätte ihr gern widersprochen. Aber das konnte er nicht.

»Wir sollten besser nicht hierbleiben«, flüsterte Torgon. »Vielleicht hätten wir doch lieber unser Lager in der Senke aufschlagen sollen, die wir vorhin ...«

Ekarna hob den Arm, und ein schwacher Glanz schimmerte dort, wo sich das wenige verbliebene Licht auf ihrem Schwert widerspiegelte. Ihre langen Haare wirbelten auf, als sie eine schnelle Bewegung machte, und dann rief sie: »Lauft!«

Torgon und Lexz brauchten keine weitere Aufforderung mehr. Wie auf ein geheimes Kommando hin wandten sie sich alle in die gleiche Richtung und stürmten los.

Ein vielstimmiger Laut war die Antwort auf ihre Flucht, ein Grollen, ein Klappern, ein Schrillen, das Lexz durch Mark und Bein ging. Diesmal war es keine Wut, die ihn antrieb, diesmal war es die nackte Angst. Wie eine durchgehende Herde, die vor einer Feuersbrunst floh, so stürmten sie durch den Wald. Zweige peitschten in Lexz’ Gesicht, dorniges Gestrüpp peitschte seine Beine. Er hörte Ekarna und Torgon dicht hinter sich, aber nicht nur sie. Da waren unzählige Füße, die über den Boden trampelten, so kam es ihm zumindest vor, und die schrecklichen Kriegslaute verfolgten sie und trieben sie an ...

Er begriff die Gefahr erst, als es schon zu spät war. Wie selbstverständlich war er am Bach entlanggelaufen, denn nur dort konnte man im Dunkeln einigermaßen gut vorankommen. Aber genauso selbstverständlich hatten jene das vorhergesehen, die sie überfielen.

Ein Schemen tauchte vor ihm auf, Lexz riss sein Schwert empor. Er war bereit, sein Leben in einem Kampf so teuer wie möglich zu verkaufen.

Aber dazu kam es gar nicht mehr. Bevor er auch nur mehr als die Umrisse des Angreifers ausmachen konnte, der ihm in den Weg sprang, wurde er von einem fürchterlichen Schlag auf dem Hinterkopf getroffen. Er stolperte noch einen Schritt nach vorn, machte eine lächerlich fuchtelnde Bewegung mit seinem Schwert, drehte sich einmal um die eigene Achse und stürzte dann schwer zu Boden.

Augenblicklich wurde es um ihn herum dunkel.

Ihr Gewand zu flicken war einfacher, als Arri geglaubt hatte. Im Schutz eines Felsens hatte sie die Bluse ausgezogen und sie hastig begutachtet. Larkar hatte auf der anderen Seite gestanden, angeblich, um aufzupassen, dass nicht ausgerechnet in diesem für Arri so schwierigen Augenblick ein Angriff erfolgte. Aber Arri hatte, bevor sie mit Dragosz zusammengekommen war, auch schon so manche Erfahrungen gemacht, die ihren Glauben an die Aufrichtigkeit von Männern nachhaltig zerstört hatte.

Also hatte sie den eingerissenen Stoff der Bluse in aller Eile an zwei Stellen verknotet und hier und da etwas glatt gestrichen, bevor sie sie wieder schnell übergestreift hatte. Die Bluse war dreckig und blutbesudelt, und dennoch: Arri fühlte sich danach wieder so viel wohler.

Als sie den Schutz des Felsens verließ, hatte sie auch den Wickelrock wieder gerichtet (was bei diesem einfachen Kleidungsstück auch kein großes Kunststück bedeutete). Wenn sie jetzt auch noch einen kleinen Abstecher zum Fluss hätte machen können, um sich Blut und Dreck aus dem Gesicht und von den geschundenen Handgelenken zu waschen, dann hätte sie sich schon wieder beinahe wie ein Mensch gefühlt.

Aber das war nicht möglich, denn Larkar trieb sie zur Eile an. Nicht, dass das nötig gewesen wäre: Auch wenn sie sich gern noch gewaschen hätte, verspürte Arri eine so große Unruhe in sich, dass sie am liebsten auf eigene Faust losgestürzt wäre, um die Höhle zu suchen, in der sie ihre Schätze versteckt hatte.

»Was hast du jetzt eigentlich vor?«, fragte Larkar, als sie einen schmalen Pfad entlangstapften, der sie entgegen ihrer früheren Erwartung nicht hinab-, sondern noch ein gutes Stück hinaufführte. »Willst du dich jetzt allein durch die Wälder schlagen?«

»Nein«, brummte Arri unwillig.

»Aber was dann?«, bohrte Larkar nach. »Hast du irgendeinen Ort, zu dem du gehen kannst?«

Arri schüttelte den Kopf und versuchte ihre Schritte so weit zu beschleunigen, dass der hinkende Speer nicht mehr mitkam. Es gelang ihr anfangs auch ganz gut, doch dann hatte Lexz in seinen eigenen Rhythmus gefunden und schloss wieder zu ihr auf.

»Also«, fragte Lexz hartnäckig. »Wo willst du nun hin?«

Zu meinem Kind, dachte Arri. Bei dem Gedanken an Kyrill verkrampfte sich ihr Magen so sehr, dass sie sich zunächst vor Schmerzen krümmte.

»Vorsicht«, sagte Lexz. »Nicht, dass du noch mal ein paar Steine lostrittst. Ich habe keine Lust, hier wieder runterzurutschen.«

Die Bemerkung konnte zwar nicht ernst gemeint sein, aber sie erreichte doch ihren Zweck: Arri blieb stehen und sah zurück.

Von hier oben aus hätte man zum Fluss hinunterblicken können, wenn er nicht hinter dem dicken Grün von Baumwipfeln verschwunden wäre. Aber immerhin reichte der Blick ziemlich weit. Und was sie sah - oder besser gesagt: was sie nicht sah -, wirkte beruhigend.

Niemand war zu sehen. Kein Taru, kein Rar, und auch keine Gestalten in schwarzen Gewändern. Allerdings gab sie auch ein ziemlich gutes Ziel ab, falls jemand aus der Ferne sie mit einem Pfeil treffen wollte.

Sie drehte sich wieder um und eilte weiter. Larkar war schon weitergegangen, und gerade jetzt erreichte er eine Abzweigung, die hinter einer Baumgruppe lag, und verschwand mit ein paar humpelnden Schritten aus ihrem Sichtfeld.

Arri wollte ihm gerade nachgehen, als sie hörte, wie Larkar einen überraschten Laut ausstieß. Jetzt hielt sie nichts mehr. Sie packte ihre Stange fester und eilte los. In ihrer Phantasie sah sie Larkar schon in einen heftigen Kampf verstrickt, doch als sie die Baumgruppe erreichte und den abzweigenden Weg einschlug, bot sich ihr ein ganz anderes Bild.

Statt seine Waffe zu ziehen, hatte Larkar die Hände in die Hüften gestemmt und starrte in das Tal hinab, das sich vor ihnen auftat. Es war auch gar nicht unbewohnt. Mitten in der Talsohle befand sich ein reetgedecktes Langhaus, dessen Dach tief heruntergezogen und das selbst mit massiven Stämmen erbaut war, und dahinter standen ein paar deutlich kleinere Häuser mit Flechtwänden, die ebenfalls Reetdächer trugen. Einen überdachten Lehmbackofen gab es, einen Feuerplatz und daneben eine Mulde, in der allerlei Gerätschaften lagen.

Ein verlassenes Dorf, so nahe am See? Arri verstand das nicht. Ihr Blick versuchte dem, was sie da sah, jedes noch so kleine Detail zu entreißen. Sie kannte auch schon andere Ortschaften wie diese, hatte immer und immer wieder einzelne Langhäuser gesehen, die nur von wenigen Nebengebäuden umgeben waren, oder auch größere Dörfer, in denen mehrere Langhäuser standen, manchmal in offener Formation, manchmal aber auch wehrhaft geschlossen. In jedem dieser Häuser konnten ein paar Dutzend Menschen wohnen, und für gewöhnlich lebten sie dort im Winter mit ihrem Vieh. So vermochten sich Tier und Mensch gegenseitig so viel Wärme wie möglich zu spenden.

Das alles war auch gut und richtig so. Aber doch nicht hier, gar nicht weit vom See entfernt und ganz in der Nähe des Steinbruchs mit seinen Monolithen. Wie konnte es nur sein, dass Arri nichts von der Existenz dieses Dorfes wusste?

»Was ist das ... hier?«, fragte Larkar.

Arri zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich war noch nie hier.«

Larkar hatte allerdings gar keine Antwort abgewartet, sondern war schon einmal losgehumpelt. Seine Bewegungen wirkten gleichermaßen eckig wie flüssig, jetzt aber vor allem sehr energisch. Obwohl ihm Arri gleich folgte, hatte sie große Mühe, ihn einzuholen.

»Du verschweigst mir etwas«, sagte Larkar, als sie auf gleicher Höhe mit ihm war.

»Warum sollte ich das?«, gab sie knapp zurück.

Larkar zuckte mit den Schultern. Die Haare auf seiner unverbrannten Seite flatterten im Wind, der ihnen vom Dorf aus scharf entgegenblies. »Das weiß ich nicht.«

Mehr sagte er nicht, aber in seinen Augen lag ein Funkeln, das Arri gar nicht gefiel.

Sie beschloss, keine Rücksicht mehr auf ihn zu nehmen. So leichtfüßig sie konnte stürmte sie los. Ihre Bewegungen wirkten dabei eine Spur eckiger und verkrampfter als sonst, was auch kein Wunder war, nachdem sie die ganze Nacht gefesselt auf dem Steg verbracht hatte. Aber im Gegensatz zu Larkar konnte sie kurzfristig noch ein wenig schneller werden.

Als sie den Rauch hinter dem Langhaus aufsteigen sah, begriff sie, dass dies nicht unbedingt eine gute Idee gewesen sein musste. Sie war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass das Dorf unbewohnt sein würde. Aber was nun, wenn das nicht zutraf?

»Warte auf mich«, rief ihr Larkar hinterher, und das hätte sie wahrscheinlich auch getan, wenn er es ihr nicht nachgerufen hätte. Sie war es langsam leid, sich bevormunden zu lassen.

Mit jedem Schritt, den sie dem Dorf mit wehendem Rock geradezu entgegenflog, fühlte sie sich unbehaglicher. Rauch. Ja. Sie hatte sich nicht getäuscht. Hinter dem Langhaus stieg tatsächlich eine dünne, kaum wahrnehmbare, fast weiße Säule auf, die vom Wind zerrissen wurde. Vielleicht war es Birkenholz, das da verbrannt wurde, denn sie meinte einen leicht süßlichen Geruch wahrzunehmen.

Ihre Augen jagten den Weg entlang, glitten über die kleineren Häuser hinweg und wieder zum Langhaus zurück. Sie nahm immer mehr Einzelheiten wahr, die ihr zunächst entgangen waren. Auf der linken Seite, gleich unterhalb eines recht steil ansteigenden Hanges, lag ein halb zerstörter hölzerner Eimer im Gras, und nicht weit davon entfernt ein zerschlissenes Seil. Das passte ins Bild. Auf dem Weg spross Unkraut, und dazwischen lag allerlei Unrat, Tonscherben, abgenagte Knochen, Vogelfedern, abgesplitterte Holzstücke, und mittendrin sogar ein paar Bronzenägel und etwas, das wie ein Armreif aussah.

Was mochte hier geschehen sein? Arri konnte sich nicht vorstellen, dass hier noch jemand wohnte, sonst hätte zumindest der Brunnen in einem deutlich besseren Zustand sein müssen. Aber es sah aus, als wären die Bewohner Hals über Kopf geflohen. Irgendetwas musste geschehen sein, dass sie sogar so wertvolle Gegenstände wie Schmuck und Nägel zurückgelassen hatten. Und noch merkwürdiger schien, dass in der Zwischenzeit niemand hier gewesen war, um zumindest die wertvollen Sachen einzusammeln.

Aber auch wenn das Dorf nicht mehr bewohnt wurde, bedeutete es ja noch nicht, dass es nicht vielleicht gerade jetzt von jemandem heimgesucht wurde, der ganz andere Interessen hatte, als ein paar wertvolle Bronzeteile einzusammeln. Wenn sie Pech hatte, dann waren es sogar die geheimnisvollen Bogenschützen.

Da, hinter dem Langhaus ... etwas bewegte sich, und sie erwartete, jeden Augenblick eine Gestalt hervortreten und mit Pfeil und Bogen auf sie anlegen zu sehen. Sie bremste so schnell ab, dass der Schotter unter ihren Füßen hochspritzte, und riss die Stange nach oben ...

Eine kleine, magere Wildkatze sauste hervor, jagte einem Blatt hinterher, bemerkte sie und schoss in die entgegengesetzte Richtung davon. Aber das erleichterte Auflachen blieb Arri im Hals stecken, als sie ein Geräusch aus dem Langhaus hörte und sich die Tür knarrend ein Stück bewegte.

»Jetzt bleib doch endlich stehen, verdammt«, sagte Larkar unnötigerweise, als er herangehumpelt kam. Schließlich hatte sie nicht vor, auch nur einen weiteren Schritt in dieses Gespensterdorf hinein zu machen.

Entsprechend gereizt drehte sie sich zu ihm um. Er sah wirklich sehr merkwürdig aus. Vom Ruß geschwärzte Augenringe, die ungewöhnliche Frisur und dann der Schmuck in seinen Ohren und in der Nase: So richtig gewöhnt hatte sie sich daran immer noch nicht. Dennoch durchströmte sie ein warmes Gefühl, als sie ihm entgegensah.

»Ich glaube, im Langhaus ... da ist jemand«, raunte sie ihm zu.

Larkar nickte. »Und dahinter hat einer ein Feuer entzündet. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«

Bei diesen Worten überlief seine Züge ein ganz leichtes Lächeln, und als ihn Arri fast ärgerlich darauf aufmerksam machte, dass dies jetzt vielleicht etwas fehl am Platz wäre, sagte er: »Das gefällt mir ganz und gar nicht, das ist etwas, das die Raubkatze immer in solchen Augenblicken wie diesem sagt ...«

»Die Raubkatze?«

Larkar winkte ab. »Ekarna. Sie hat den Beinamen die Raubkatze, so wie Torgon der Hammer ...«

Er brach ab und humpelte auf das Langhaus zu. »Vielleicht sind sie es ja.«

»Sie?« Arri konnte nicht verhindern, dass ihre kurze Frage wie ein erschreckter Ausruf klang. »Du meinst doch nicht ...?«

Ohne auf sie zu achten, beschleunigte Larkar seine Schritte. Es war genauso, wie schon ein paarmal zuvor: Wenn es darauf ankam, bewegte er sich mit einer Eleganz, die im krassen Widerspruch zu der Verletzung stand, die ihn sonst langsamer machte. Arri zögerte. Hier stehen zu bleiben, wäre nämlich so ungefähr das Dümmste, was sie hätte tun können. Entweder, sie machte auf dem Absatz kehrt und ließ Larkar allein im Langhaus nach seinen Freunden suchen, oder sie begleitete ihn.

Der Speer hatte schon fast das Haus erreicht, als sie sich endlich zu einer Entscheidung durchrang und ihm folgte. Ohne sich nach ihr umzusehen bedeutete ihr Larkar mit einer Handbewegung, auf die andere Seite der Tür zu treten. Dann atmete er tief durch und machte einen letzten Schritt ...

Und Arri sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung ... als sie dann herumfuhr, musste sie erfahren, dass es diesmal kein so mageres Kätzchen war, das vor ihr davonjagte, sondern etwas ganz anderes, etwas, das hinter dem Brunnen hervorkam ...

Larkar stieß die Tür auf, bückte sich unter dem tief gezogenen Reetdach hinweg und trat in das Gebäude hinein. Arri nahm den muffigen Geruch wahr, der aus dem Haus hervorstieg: wie aus einer Gruft.

»Das ist doch ...«, murmelte sie.

Ein Windstoß fuhr in das Ding, das hinter dem Brunnen aufgetaucht war, und es wirbelte hoch. Im allerersten Augenblick glaubte Arri, es sei ein riesiger schwarzer Vogel, und sie meinte, gierig funkelnde Augen zu sehen und Flügel, die sich ausbreiteten. Doch dann erkannte sie, dass es nur ein dunkles Kleidungsstück war, das vom Wind hochgewirbelt wurde, vielleicht einer der Mäntel, die die Entstellten bei ihrem Angriff getragen hatten.

Es bliebt ihr jedoch keine Zeit, erleichtert aufzuatmen: Sie fühlte sich von Larkar am Arm gepackt und ins Haus hineingerissen, und hätte sie nicht noch im letzten Augenblick den Kopf heruntergerissen, dann hätte sie sich das Gesicht an dem getrockneten Schilfrohr aufgerissen, aus dem das Reetdach zur besseren Wärmedämmung bis über den Türansatz hinausgezogen worden war. Irgendetwas in ihr wusste ganz genau, was gerade geschah. Aber ein anderer Teil reagierte panisch: Sie hätte die Eisenstange hochgerissen, hätte Larkar sie nicht gerade rechtzeitig wieder losgelassen.

»Was soll das?«, zischte sie. »Warum zerrst du mich hier rein? Ich kann selbst gehen.«

Larkar schüttelte den Kopf und deutete nach draußen. »Da ist jemand«, hauchte er fast unhörbar.

Ärgerlich schüttelte Arri den Kopf. »Nein. Nur ein Gewand oder ein Rock, der vom Wind hochgewirbelt wurde ...«

Sie brach ab, als Larkar ihren Kopf ohne viel Feingefühl ergriff und in Richtung Tür drehte. Ihr wütender Protest kam nicht einmal über den Ansatz hinaus.

Es mochte ja sein, dass es tatsächlich ein Kleidungsstück gewesen war, das sie gesehen hatte. Aber jetzt glaubte sie zu erkennen, wie jemand vom Brunnen weglief und zwischen den Baumreihen unterhalb des Hanges verschwand.

Jemand? Klein, zierlich, fast zerbrechlich, mehr ein Schemen als ein Mensch, nicht fassbar ... Arri schluckte hart, und dann war der Spuk auch schon verschwunden.

Trotzdem ... irgendwie war ihr diese ... diese Erscheinung seltsam bekannt, ja, fast vertraut vorgekommen. Was ging hier bloß vor?

»Hast du es jetzt auch gesehen?«, fragte Larkar.

»Ja.« Zischend stieß Arri die Luft aus. »Aber wer ...?«

Sie ließ den Satz zwar unbeendet, aber Larkar verstand sie auch so. »Ich habe keine Ahnung, wer das ist. Vielleicht einer der Bogenschützen.«

Arri starrte ihn verblüfft an. »Wie kommst du ausgerechnet darauf?«

»Weil das mit Sicherheit nicht Taru war«, antwortete Larkar. »Und keiner von den Kerlen, die uns mit den Stangen angegriffen haben.«

»Aber kann das überhaupt ...?«

»Ein Mensch gewesen sein?« Larkar starrte sie an, und seine ohnehin schon dunklen Augen schienen plötzlich tiefschwarz zu werden. »Vielleicht ein Kind ... oder ...«

»Oder?«

Larkar winkte ab. »Nichts, nein.« Er schlug den Blick nach unten, und als er sie dann wieder ansah, versuchte er sich ein Lächeln abzuringen. Es misslang jedoch kläglich. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Das mag sein«, sagte Arri rasch. »Aber du vermutest doch etwas!«

Statt zu antworten starrte sie Larkar schon wieder auf die gleiche unheimliche Weise an wie eben. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und sagte: »Dann später. Was sollen wir tun? Verschwinden wir oder sehen wir uns das Haus an?«

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der dunkelhaarige Krieger von dem lösen konnte, was seine Gedanken offensichtlich ganz und gar gefangen nehmen wollte. Er schüttelte den Kopf und schob sie sanft von sich. »Besser, du bleibst hier an der Tür und behältst den Dorfplatz im Auge, während ich mich hier drinnen ein bisschen umsehe.«

Der Vorschlag mochte ganz vernünftig sein - aber Arri zögerte, Larkars Aufforderung Folge zu leisten. Ihr Blick wanderte zum Brunnen, und dann den Weg hinab bis zur Feuerstelle. Alles war ruhig hier, sah man einmal davon ab, dass der Wind Blätter und Unrat aufwirbelte.

Fröstelnd zog sie sich ein Stück tiefer ins Haus zurück. So viele Bilder stoben in ihrem Kopf auf, als hätte der Wind auch ihre Gedanken durcheinandergewirbelt. Dragosz. Ihre Mutter. Kyrill. Isana. Alles Menschen, mit denen sie sich tief verbunden fühlte. Und dazwischen spukte auch immer noch Taru herum, wie ein böser Geist, der alles durcheinanderbringen wollte.

Sie hielt es hier nicht mehr länger aus. Mit einem letzten sichernden Blick zog sie sich aus dem Eingang zurück, ließ die Tür aber einen Spalt offen.

Als sie in den Raum hineintrat, begriff sie erst, wie groß so ein Langhaus war. Die kleinen Hütten, die sie am See erbaut hatten, waren im Vergleich zu diesem riesigen Gebäude winzig. In dem spärlichen Licht, das durch die Öffnungen drang, die man im Winter sorgfältig zu schließen pflegte, konnte sie sich immerhin einen raschen Überblick verschaffen.

Wie üblich gab es in dem Haus keine durch Wände abgetrennten Räume, sondern nur Verschläge an den Wänden, in denen man Rinder, Ziegen, Schafe und Schweine unterbringen konnte. Die Kochstelle befand sich zu ihrer Linken, die Treppe, die ins obere Stockwerk führte, auf der anderen Seite.

Larkar hockte auf dem Lehmboden und kramte in den Dingen herum, die dort lagen. Arri wäre ja zu ihm gestürzt, um zu fragen, was er dort vorgefunden hatte. Aber da hörte sie über sich ein Geräusch, und etwas rieselte zwischen den Bohlen des oberen Stockwerks hindurch.

»Raus hier!«, schrie sie.

Larkar sprang auf - und knickte gleich wieder ein; wahrscheinlich hatte er sein verletztes Bein falsch belastet. Arri war mit einem Satz bei ihm und wollte ihm schon hochhelfen, aber Larkar stieß sie zurück, in Richtung Tür.

»Schnell«, keuchte er. »Sie werden gleich hier sein!«

Es bedurfte keiner Erklärung, was er damit meinte. Über ihnen donnerten Schritte, und jetzt rieselte an vielen Stellen der Dreck durch die Decke. Arri meinte, Waffengeklirr zu hören und ein Kommando, das die Männer über ihr anspornte, die Falle zuschnappen zu lassen, in die sie sich zusammen mit dem fremden Krieger gerade eben selbst begeben hatte.

Ohne zu zaudern drehte sich Arri um und stürzte auf die Tür zu.

Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Aber sicherlich nicht das, was da vor dem Haus auf sie lauerte.

Kapitel 9

Alles ist verloren. Das war der erste Gedanke, den Lexz hatte, als er wieder zu sich kam. Er lag genau dort am Boden, wo man ihn niedergestreckt hatte. Ein gutes Stück entfernt hörte er Kampfschreie und das dumpfe oder auch klirrende Geräusch, mit dem Waffen aufeinanderschlugen. Und er glaubte, die Stimme Ekarnas herauszuhören. Sie klang schrill und verzweifelt. In seiner Phantasie sah er seine beiden Gefährten in einen heftigen Kampf verstrickt, bereits mehrfach getroffen, blutend und verzweifelt, und kurz davor, ebenfalls zu Boden zu gehen.

Er musste ihnen helfen. Mit aller Gewalt versuchte er sich hochzustemmen, seine Arme wollten ihm jedoch nicht gehorchen. Zwar schmerzten sie nicht, aber mehr als die Hände zu Fäusten zu ballen und anschließend wieder zu spreizen, wollte ihm bei aller Anstrengung nicht gelingen.

»Nein!« Er schüttelte den Kopf. So durfte es doch nicht enden. Ekarna und Torgon wurden gerade von einer Übermacht überwältigt, und er lag hier wie ein Gefangener seines eigenes Körpers und konnte ihnen nicht zu Hilfe eilen?

Das durfte nicht sein.

Erneut strengte er sich an, atmete tief ein und drückte sich so gut es ging ab. Diesmal kam er tatsächlich ein kleines Stück nach oben, aber es war nur ein winziges, lächerliches Stückchen, und gleichzeitig durchpulste seinen Kopf und Nacken ein harter und hämmernder Schmerz.

»Verdammt noch mal!«

Lexz biss die Zähne so hart aufeinander, dass es wehtat, und verdoppelte gleichzeitig seine Anstrengungen. Der Erfolg war lächerlich. Das Pochen verstärkte sich, aber er kam nicht wesentlich weiter hoch als zuvor. Dafür begannen nun seine Finger zu kribbeln und ein brennender Schmerz breitete sich in seinen Armen aus.

Das konnte er nicht zulassen. Er spürte, wie ihn eine Mischung aus Wut und Verzweiflung durchpulste. Das war gut so. Er musste diese Kraft nutzen, um endlich hochzukommen.

Die Kampfgeräusche, die an sein Ohr drangen, waren erst heftiger geworden. Jetzt jedoch ließen sie nach. Er konnte Ekarna nicht mehr hören. Was, wenn sie bereits getroffen war, wenn sie ein Schlag niedergestreckt hatte ...

Alles purzelte in ihm durcheinander, Gedanken und Gefühle, Selbstvorwürfe sowie die Angst, zu spät zu kommen. Und in all dem Durcheinander war noch etwas anderes: die knarzende alte Stimme des Schamanen, die sich mal wieder bemerkbar machte.

Diesmal nicht, dachte er. Der Schamane hatte doch gar nichts mit diesem Kampf zu tun. Es ging hier um Leben und Tod, darum, ob er seinen Gefährten beistehen konnte oder nicht. Von solchen Dingen verstand Zakaan nichts. Schließlich war er kein Krieger.

»Als ob ein Schamane nichts vom Kämpfen weiß«, glaubte er Zakaans Stimme zu hören. »Wir Schamanen haben die gleiche Aufgabe wie das Auge eines Orkans: mitten im Sturm die Ruhe zu bewahren. Das ist aber nicht ohne äußere und innere Kämpfe möglich.«

Wenn er gekonnt hätte, hätte sich Lexz mit beiden Fäusten gegen die Schläfen geschlagen, um diese Stimme zu vertreiben. Allmählich war er es leid. Irgendwann musste mit dieser ständigen Bevormundung durch einen alten Mann Schluss sein, einen Alten, der es auf irgendeine geheimnisvolle Weise immer wieder schaffte, in seinen Kopf einzudringen.

»Deine Gedanken verwirren sich schon wieder«, tadelte ihn der Schamane. »Besinne dich endlich auf das, was wirklich wichtig ist. Schöpfe die Kraft aus dir selbst! Sei wie das Auge des Wirbelsturms, nicht wie der Sturm selbst!«

»Ja, danke schön!« Lexz nahm Schwung und rollte sich herum. Seine Arme waren noch immer nicht wirklich einsatzfähig, und die brennenden Schmerzen wurden dadurch auch nicht gerade gelindert - aber er spürte immerhin, wie etwas Leben in seine Arme und Beine zurückkehrte.

»Wut kann helfen«, sagte der Schamane. »Aber du darfst dich nicht von ihr leiten lassen. Du musst den Dingen die Zeit lassen, die sie brauchen. Besinne dich stattdessen auf die Kraft, die in der Ruhe liegt.«

»Ja«, schimpfte Lexz. »Ich lasse den Angreifern die Zeit, Torgon und Ekarna in aller Ruhe zu erschlagen. Eine wirklich gute Idee.«

»Willst du ihnen denn tatsächlich in deinem jetzigen Zustand gegenübertreten?«, fragte der Schamane in seinem Kopf.

Nein, das wollte er natürlich nicht.

»Du würdest nichts weiter nützen, als deine Gefährten von ihrem eigenen Kampf abzulenken«, gab Zakaan zu bedenken. »Sie müssten dich beschützen. Das würde sie schwächen.«

»Unsinn«, murmelte Lexz. »Im Gegenteil, ich würde ihnen doch beistehen!«

Wenn er erwartet hatte, dass er jetzt eine Antwort bekam, sah er sich getäuscht. Die Stimme in seinem Kopf schwieg, als wolle sie ihm Gelegenheit bieten, selbst zu erkennen, dass er groben Unsinn redete.

Und das tat er. Was hatte sein Vater ihm immer wieder gesagt? Wenn man in einem Kampf nicht bestehen kann, dann sollte man ihm besser aus dem Weg gehen.

»Lass Ekarna und Torgon ihren Kampf austragen«, sagte Zakaan. »Und finde du zu dir selbst. Lass dir dazu all die Zeit, die du brauchst. Und gib deinen Gefährten die Chance, ohne dich zu bestehen.«

Lexz hörte Zakaans Stimme. Aber er war durch das, was von dem Kampf zu ihm hinüberdrang, abgelenkt. Und dabei begriff er seinen Irrtum.

An sein Ohr drangen nicht die Laute eines schnellen Gemetzels, begleitet von Schmerzensschreien oder sogar dem Geräusch berstender Knochen, sondern die eines sich lang hinziehenden Kampfes. Und der fand auch nicht nur an einem Ort statt, sondern zog sich am Bach entlang und entfernte sich dabei von ihm. Wahrscheinlich waren Ekarna und Torgon auf der Flucht und wurden dabei immer wieder angegriffen. Dazu passte auch, dass er zwischendurch nichts weiter hörte als ein fernes Rascheln, dann wieder Kampflaute, hin und wieder ein Wimmern und schließlich das Stampfen von Füßen auf dem Waldboden.

Erneut biss Lexz die Zähne zusammen, stützte die Hände auf - und schaffte es diesmal, sich hochzustemmen. Sein Herz hämmerte wie wild und seine Umgebung vollführte einen wilden Tanz um ihn.

»Sehr gut«, lobte ihn der Schamane. »Jetzt kannst du über deine nächsten Schritte entscheiden.«

Und das im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Lexz, denn statt das Gleichgewicht zu halten und die kurze Entfernung zu überwinden, die ihn noch vom Ufer trennte, stand er nur weiter unsicher und schwankend da.

So nicht, dachte er, und stolperte los ... bis seine Knie nachgaben und er so schnell in sich zusammensackte, als wäre er niedergeschlagen worden.

»Nur der Dumme verschwendet seine Kraft in unnützen Handlungen«, bemerkte Zakaan überflüssigerweise.

Lexz ballte die rechte Faust so fest er konnte. Es war nicht besonders fest. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm.

»Ich hoffe, du bist nicht dumm«, fuhr der Schamane fort, »und du besinnst dich endlich auf den immer gleichen Rat, den ich dir auch jetzt wieder gebe: Achte auf deinen Atem. Verbinde ihn mit dem Atem der Götter.«

»Ja, aber wie soll ich das denn tun?« Lexz hatte die Worte viel zu laut hervorgestoßen, und nun dämpfte er seine Stimme. »Ich schaffe es doch nicht. Ich habe das noch nie geschafft.«

»Nein«, widersprach ihm der Schamane. »Das stimmt nicht. Du glaubst nur, dass du es noch nie geschafft hast. In Wirklichkeit hast du es sogar immer und immer wieder geschafft. Oder, warum meinst du, überträgt dir dein Vater das Kommando über solche Männer und Frauen wie Torgon und Ekarna?«

Lexz schüttelte den Kopf. So hatte er das noch nie gesehen. Und obwohl er die Worte des Schamanen nicht einfach als zutreffend annehmen konnte, spürte er doch in der Tiefe seines Herzens, dass etwas Wahres daran war.

»Ich lasse gerade meine Freunde im Stich«, murmelte er.

»Weil du dich hast niederschlagen lassen?« Lexz glaubte, jetzt das alte, zerfurchte Gesicht des Schamanen vor sich zu sehen. Und es lag nicht nur Kummer darin, sondern auch Zuversicht. »Nein. So etwas geschieht, und so etwas wird auch immer wieder geschehen. Aber solange du nicht tot bist, geht es immer weiter. Es gibt keinen Tag, an dem nicht eine neue Herausforderung auf dich warten wird, ob im Großen oder Kleinen. Und nur, wenn du es schaffst, diese Herausforderungen auch anzunehmen, wirst du an Stärke gewinnen. Sonst bleibst du ein Hohlkopf.«

Ein Hohlkopf. Das saß. Aber vielleicht lag auch darin etwas Wahres.

»Eines Tages werde ich nicht mehr da sein«, sagte der Schamane. »Und dann musst du selbst in der Lage sein, zu dir zurückzufinden. Und zu den Weisheiten, die dir die Stammväter vermitteln können. Also fängst du am besten jetzt gleich damit an.«

»Was?«

Der Schamane antwortete nicht. Und Lexz begriff, dass er das auch nicht mehr tun würde - zumindest jetzt nicht, und vielleicht auch niemals wieder.

Plötzlich spürte Lexz eine Art des Verlustes, wie er ihn noch nie zuvor empfunden hatte, noch nicht einmal nach dem Tod seines Bruders. Er war allein. Torgon und Ekarna entfernten sich immer mehr von ihm, und das, was jetzt noch an sein Ohr drang, war viel zu fern, als dass er irgendeine Schlussfolgerung hätte daraus ziehen können.

Eine Falle war nur dann vollkommen, wenn sie kein Schlupfloch ließ. Das wusste Arri, und wenn es irgendeine andere Möglichkeit gegeben hätte, als das Haus durch den Vordereingang zu verlassen, dann hätte sie sie mit Sicherheit gewählt. Aber so blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als die Tür aufzustoßen und aus dem Halbdunkel heraus auf den Weg hinauszuspringen ...

Nein!, schrie irgendetwas in ihr, und sie bremste noch vor dem Ausgang ab, verhielt mitten in der Bewegung wie ein Reh, das von Jägern in eine Schlucht gehetzt worden ist und nun keinen Ausweg mehr sieht. Ihr Blick irrte im Raum umher, ihr Herzschlag überschlug sich fast, und sie wusste nicht, was sie tun sollte: durch die Tür stürzen oder wieder zurück in den Raum, sich mit Larkar beraten, oder einfach auf eigene Faust handeln ...

Als hinter ihr die ersten Männer die Treppe hinunterpolterten und der Lehmboden unter ihr erzitterte, konnte sie gar nicht mehr anders ... nun stieß sie die Tür doch auf und stürmte hindurch, ihre Stange zum Zuschlagen bereit.

Es wartete jedoch keine zweite Gruppe bewaffneter Männer auf sie, auf die sie hätte einschlagen können und müssen, es war niemand da - bis auf ein kleines mageres Kätzchen, das ihr den Weg versperrte und sie aus schielenden Augen anstarrte.

Arri versuchte, über das Kätzchen hinwegzuspringen. Aber sie war schon so nah. Ihr Fuß jagte auf die Katze zu, und das Schielen der Katze verstärkte sich noch, was Arri absurderweise überdeutlich und wie verlangsamt bemerkte. Und dann kreischte das kleine Wesen auf. Aus dem Kreischen wurde noch etwas anderes, Schlimmeres, als Arris Fuß das Kätzchen traf und wie ein altes Wollknäuel wegtrat.

Arri stolperte vorwärts. Es war nicht so sehr das Kätzchen, das sie zum Stolpern brachte, als vielmehr ihr eigener Schwung und die zum Schlag erhobene Stange, dies aber so heftig, dass sie lang hinschlug.

Es hatte nicht lange gedauert, bis Lexz begriffen hatte, wie er zu sich selbst finden konnte. Unterwegs pflegte sich der Schamane auf einen ruhigen Platz unter kräftigen alten Bäumen zurückzuziehen, sonst aber bevorzugte er einen Platz inmitten eines magischen Steinkreises. Wann immer Lexz versucht hatte, ihm das nachzumachen, war er gescheitert. Und das war auch kein Zufall.

Kein ruhiges Sitzen half ihm, zu sich zu finden, sondern Bewegung.

Lexz hatte eine unruhige Nacht hinter sich, in der er immer wieder aufgeschreckt war. Aber jetzt, gestärkt durch das frische Wasser des Baches und ein paar Beeren, die er in aller Eile von den Sträuchern am Wegesrand abgerissen hatte, war er in einen ruhigen und einigermaßen gleichmäßigen Lauf gefallen. Die teilweise Lähmung, die ihn in der Nacht so erschreckt hatte, war einem leicht tauben Gefühl in Armen und Beinen gewichen. Entgegen seiner Befürchtung musste er aber nicht schon bald wieder eine Rast einlegen, sondern fühlte sich ganz im Gegenteil mit jedem weiteren Schritt ein kleines Stück mehr von der Last befreit, die ihn niedergedrückt hatte.

Die frische Luft tat ihm gut und klärte seine Gedanken. Noch immer war er in großer Sorge um seine Gefährten. Doch jetzt war noch etwas anderes hinzugekommen: die Gewissheit, dass sie nicht tot waren.

Er war sicher, dass er es gespürt hätte, wenn Torgons und Ekarnas Lebensfaden gerissen wäre. Leider bezog sich dieses Gefühl aber nur auf die beiden, nicht auf Larkar und Sedak.

An einigen Stellen, die er passierte, waren regelrechte Breschen ins Unterholz geschlagen worden. Es waren Spuren des Kampfes, der hier mit heftiger Wucht ausgetragen worden war. Lexz stieß jedoch auf keinen Toten, und auch auf sonst nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass irgendjemand während des Kampfes ernsthaft zu Schaden gekommen war.

Er hätte aufgeregt sein und seine Besorgnis hätte mit jedem Schritt zunehmen müssen, den er nicht auf seine Gefährten traf. Aber das Gegenteil war der Fall. Es schien so, als hätte sein gestriger Zusammenbruch erst das Tor zu ihm selbst aufgestoßen. Und als wäre damit auch eine Ruhe in ihn eingekehrt, die er zuvor so noch nie gespürt hatte.

»Dragosz«, murmelte er. Diesmal war kein Hass in seiner Stimme, nicht einmal Verachtung. Er sprach den Namen eher nachdenklich aus und verknüpfte mit ihm Erinnerungen, die lange - vielleicht allzu lange - in ihm verschüttet gewesen waren.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten sich Dragosz und er sehr nahe gestanden. Lexz tauchte unter den tief hängenden Zweigen einer Weide durch, und während er das tat, erinnerte er sich daran, wie er einst zusammen mit Dragosz unter den Zweigen einer anderen Weide gesessen hatte.

»Die Himmelsscheibe«, hatte er Dragosz immer wieder gefragt. »Wie sieht sie aus?«

Dragosz hatte erst geseufzt und ihm dann Dinge anvertraut, die er nach seinen eigenen Worten bislang niemand anderem erzählt hatte. Lexz hatte aber weder damals noch heute begriffen, ob Dragosz die Himmelsscheibe jemals selbst zu Gesicht bekommen hatte, oder ob er sie etwa nur aus den Erzählungen der geheimnisvollen Lea kannte.

Während sich Lexz weiter am Bach entlang der Kampfspuren vorarbeitete, tauchte das Bild der Himmelsscheibe vor seinen Augen auf, so wie er sie sich immer vorgestellt hatte: eine große runde Scheibe aus Bronze, die den Himmel in all seiner unfassbaren Pracht darstellte. Und auf ihr waren die Sterne aufgetragen, funkelnd, aus wertvollem Gold gefertigt, und jeder für sich beeindruckend. Zusammen aber mit all den Kleinigkeiten, die jede Sternenposition ganz genau angaben, war die Scheibe ein Meisterwerk. Lexz sah sie so klar vor sich, dass er schon meinte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um die Finger über die kleinen Erhebungen des Goldbleches gleiten lassen zu können, die ein genialer Schmied auf der Scheibe angebracht hatte.

»Die Himmelsscheibe ist einmalig«, hatte Dragosz gesagt. »Es gibt nichts Vergleichbares auf der Welt.«

Lexz wusste das, und er wusste auch, dass die Himmelsscheibe alles andere als nur ein Schmuckstück war. Wer auch immer sie gefertigt haben mochte: Er hatte das größte Geheimnis der Raker in sie eingearbeitet.

Das Geheimnis ihrer Herkunft.

»Lea hat es mir erklärt«, hatte ihm Dragosz in der lauen Sommernacht unter einer alten Trauerweide anvertraut. »Die Himmelsscheibe gibt die Position an, von der unsere Stammväter einst aufgebrochen sind, um dem ewigen Schnee und Eis zu entkommen.«

Lexz war damals noch nicht in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen worden. Aber das hieß nicht, dass er den Widerspruch in Dragosz’ Worten nicht sofort bemerkt hatte.

»Wie soll das denn möglich sein?«, hatte er protestiert. »Diese Lea ist doch keine Rakerin. Wenn ein Schmied ihres Volkes die Himmelsscheibe gefertigt hat: Warum soll die Scheibe dann ausgerechnet zeigen, wo wir das Land unserer Urväter finden können? Warum zeigt es nicht den Standort der Heimat ihrer eigenen Ahnen an?«

Dragosz hatte ihn ganz ernst angesehen und dann gesagt: »Was ich dir jetzt anvertraue, darfst du niemals jemandem weitererzählen, hörst du?«

Er hatte genickt, und Dragosz hatte gesagt: »Die Stammväter von Leas Volk und dem unseren, es waren die gleichen.«

Arri wusste nicht, wie lange sie im Staub gelegen hatte. Aber sehr lange konnte es nicht gewesen sein, denn die dunklen Schatten einer Ohnmacht hatten sie nur gestreift, und die Männer aus dem Haus waren noch nicht da.

Mit einem wütenden Keuchen stand sie auf und angelte nach der Stange. Diese verfluchte Katze. Sie hatte alles erwartet, eine Gruppe von Männern, die auf sie zustürzten, um sie zu erschlagen, Bogenschützen, die sie mit einem Pfeilhagel eindeckten - aber eine kleine streunende Katze? Das war lächerlich.

Hinter ihr drangen Geräusche aus dem Haus, wie von einem Kampf, und zwei, drei hämmernde Herzschläge lang war sie versucht, herumzufahren und wieder ins Haus zurückzukehren, um Larkar beizustehen. Doch dann siegte die Vernunft - oder besser gesagt: ihre Sorge um Kyrill, den sie unbedingt vor Taru in Sicherheit bringen musste. Dann warf sie einen Blick in die Richtung, aus der sie das Tal betreten hatte.

»Nein«, stöhnte sie auf, als sie ausgerechnet Taru mit wutverzerrtem Gesicht heranstürmen sah, und kurz hinter ihm kam Rar, dessen Schritte so kraftvoll wie die eines Riesen wirkten, der ein ganzes Gebirge zum Erbeben zu bringen vermochte. »Nicht das auch noch!«

Sie drehte sich um und lief in die andere Richtung los, und dies keinen Augenblick zu früh. Die Tür hinter ihr flog mit lautem Krachen beiseite, und einer der Männer, die ihrer habhaft werden wollten, stürzte mit einem triumphierenden Aufschrei hindurch und rasierte sich an dem vorspringenden Schilfdach fast den Kopf ab, wie sie aus den Augenwinkeln heraus feststellte. Das verschaffte ihr allenfalls zwei Schritte Vorsprung, denn hinter dem ersten folgten schon weitere Männer.

»Bleib stehen, Drude!«, donnerte Rar hinter ihr her. »Oder ich schlage dir den Schädel ein!«

Arri warf einen Blick über die Schulter zurück. Taru war deutlich schneller als Rar, und er verschwendete seine Kraft auch nicht damit, ihr irgendwelche sinnlosen Drohungen hinterherzuschreien. Gerade nahm er die letzte Kurve des gewundenen, von den Hügeln hinabführenden Pfads, und würde gleich auf den Dorfplatz einbiegen.

Als sie zur Tür hinüberblickte, verrenkte sie sich fast den Hals und wäre um ein Haar wieder gestolpert. »Wenn du je vor einem Feind davonlaufen musst«, glaubte sie Dragosz’ Stimme zu hören, »dann konzentriere dich auf jeden einzelnen deiner Schritte.«

Ja, ja, vielen Dank für diesen Ratschlag, dachte sie wütend. Dragosz hatte dabei wahrscheinlich nicht an schielende Katzen gedacht, die ihr in den Weg liefen, oder an seinen Sohn, der sie voller Hass im Herzen verfolgte.

Trotzdem. Sie musste ihre Kraft sparen und durfte sich nicht verzetteln ...

So dachte sie. Und dann wurden all ihre Gedanken davongerissen, und dies ausgerechnet darum, weil sie wieder nach vorn blickte.

»Nein«, stöhnte sie auf.

Es reichte nicht, dass sie in dem Langhaus auf eine Gruppe von Männern gestoßen waren, die zu allem entschlossen schienen und nun zu ihrer Verfolgung ansetzten. Nein, im gleichen Augenblick tauchten auch Taru und Rar auf, die es offensichtlich geschafft hatten, ihre Fährte bis ins Dorf zu verfolgen ... da erschien auch vor ihr eine Gruppe von zwei, drei - nein, gleich vier! - Männern.

Das durfte doch nicht wahr sein! So viel Pech konnte ein einzelner Mensch gar nicht haben!

Aber leider war es nur zu wahr. Diejenigen vor ihr, das waren Männer aus ihrem Dorf, die vor der großen Wanderung die Felder bewirtschaftet hatten, inzwischen aber ihre Zeit hauptsächlich mit der Jagd verbrachten.

Ergh, Quoal, Setar und Franwar. Sie kannte jedes einzelne ihrer Gesichter nur zu gut, dazu auch mindestens einen Großteil ihrer Lebensgeschichte und viele Einzelheiten, die nur eine Heilerin in Erfahrung bringen konnte. Noch vor zwei Tagen hätte sie es begrüßt, wenn sie auf Raker gestoßen wäre, und noch dazu, wenn sie Waffen trugen wie jene vier, die nun gerade von der anderen Seite des Dorfes aus den Weg entlangschritten. Jetzt war es ganz anders.

Einer der Männer trug ein Wildbret über den Schultern, ein anderer hielt einen toten Hasen an den langen Ohren gepackt und schwenkte ihn bei jedem Schritt müde hin und her. Es waren Jäger, die ihre Beute zurück zum Pfahldorf brachten. Und warum auch immer sie den Weg über dieses verlassene Dorf gewählt hatten, und warum auch immer sie ausgerechnet jetzt hier entlangkommen mussten - für Arri war es die denkbar schlechteste aller vorstellbaren Möglichkeiten.

Trotzdem hielt sie vorerst weiter auf die Männer zu. Dabei schweifte ihr Blick in aller Hast über die beiden Seiten des Tals und suchte einen Ausweg ohne böse Überraschung. Links ging es so steil nach oben, dass es fraglich schien, ob man da überhaupt hochklettern konnte, rechts dagegen wirkte es so zerklüftet, dass ein Aufstieg zwar kein Problem wäre, aber sehr viel Zeit kosten mochte - undenkbar, dass sie dort in ihrem angeschlagenen Zustand schnell genug vorankam, bevor der eine oder andere sie einholte.

Ja, Dragosz, dachte sie. Und was nun?

Augen zu und durch, hätte Dragosz vielleicht geantwortet, oder auch: Man muss wissen, wann man verloren hat.

»Schnappt euch die Drude!«, schrie Taru hinter ihr. »Lasst sie nicht entwischen.«

Franwar, der Mann, der den Hasen umklammert hielt, bewegte sich als Erster. Während die anderen Jäger sie noch mit einer Mischung aus ungläubigem Entsetzen und unverhohlenem Zorn anstarrten, warf er seine Beute bereits zu Boden und stürmte ihr entgegen.

Lexz tat es gut, immer weiter und weiter zu gehen und sich gleichzeitig von Erinnerungen treiben zu lassen, die bislang vollständig in ihm verschüttet gewesen waren. Das Leben im alten Dorf lag so lange zurück, dass es ihm wie eine vollkommen andere Welt erschien. Jeder Schritt, der ihn auf den Spuren seiner Gefährten weiter am Ufer entlangführte, lenkte ihn auch tiefer in die Vergangenheit zurück.

Es war ein so anderes Leben gewesen als jenes, das sie jetzt führten. Und es waren auch ganz andere Gefühle damit verknüpft. Dragosz war ihm immer wie ein strahlender Held erschienen, und die Art, wie er Problemen begegnete, hatte ihn beeindruckt. Es war die Mischung aus Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit gewesen, die ihn angezogen hatte.

Sein eigener Vater hatte dagegen etwas zu viel der Ernsthaftigkeit mitbekommen. Es geschah selten, dass er sich einmal ein Lächeln abgerungen hatte, selbst in den guten alten Zeiten.

Dragosz hatte ihm so manches von seiner Reise in den Westen erzählt. Von Lea. Von dem Dorf, in dem sie lebte. Von dem Leben, das die Menschen dort führten. Aber auch von den Gefahren und Kämpfen. Von Goseg, dem alten Heiligtum, das unter dem strengen Regiment seines Hohepriesters zu neuer Blüte aufgestiegen war.

Goseg, das Dorf der Flussschiffer, Lea, die Himmelsscheibe - all das hatte seine Phantasie angeregt. Aber nicht nur das.

Er erreichte eine Stelle, an der der Bach in einem scharfen Bogen abknickte. Auf der anderen Seite stieg grauweißer, bröckeliger Fels auf, und hier hatte sich auch so etwas wie ein kleiner See herausgebildet.

Es war die richtige Stelle, um sich niederzusetzen. Lexz verspürte einen Anflug schlechten Gewissens, weil er den Spuren der Hetzjagd nicht weiter folgte, die hier gestern Nacht stattgefunden hatte. Aber noch deutlich spürte er, wie wichtig es jetzt war, sich hier an diesen Ort zu setzen.

Also ließ er sich am Ufer nieder und starrte ins Wasser. Da war noch eine andere Erinnerung in ihm, zart und zaghaft. Sein Blick wanderte über das leicht gekräuselte Wasser, das an einigen Stellen kleine Wirbel bildete, und er sah einen Schwarm winziger schwarzbrauner Fische, die an einer flachen Stelle gegen die Strömung ankämpften. Sehr lange war es her, dass er so etwas gesehen hatte. In ihrer Verzweiflung hatten sie während ihrer großen Wanderung auch brackiges und schmutziges Wasser getrunken. Dieses Wasser hier wirkte dagegen so klar und rein, wie Wasser nur sein konnte, und es sprudelte, gluckste und zischte dermaßen fröhlich, als gäbe es keine Schmerzen und kein Leid.

Lexz befand sich in einer ganz ungewohnten Stimmung. Sein Vater, die alte Geierkralle, war weit weg, und auch der Schamane spielte in diesem Augenblick keine Rolle mehr für ihn. Er genoss die frische Waldluft und das fröhliche Spiel des Wasserlaufs vor sich, und dann spürte er, wie sich sein Atem wie von selbst mit dem seiner Umgebung verband.

Dem Atem der Götter.

Etwas anderes konnte es nicht sein.

Dragosz hatte ihm von vielem erzählt, was er in der fremden Welt erlebt hatte. Vielleicht hatte er ihm sogar mehr berichtet als seinem eigenen Sohn Taru. Lexz hatte das alles aufgesogen wie ein ausgetrocknetes Stück Holz das Wasser. Aber da war auch etwas gewesen, das ihn noch mehr berührt hatte als alles andere.

Arri.

»Lea macht sich viele Gedanken um ihre Tochter«, hatte Dragosz gesagt. »Sie ist die einzige Überlebende ihres ganzen Volkes ...«

»Das eigentlich ein Teil unseres Volkes ist«, hatte Lexz damals eingewandt.

Noch heute erinnerte sich Lexz an das kleine Lächeln, das Dragosz’ Mundwinkel bei diesem Einwand umspielt hatte.

Dragosz hatte ihm recht gegeben. Aber mehr noch. Er hatte ihm mit wenigen Sätzen von dem fremden Mädchen erzählt, von der Tochter Leas, die Arianrhod hieß, von ihrer Mutter aber nur Arri genannt wurde.

Ja. Nur ein paar Sätze waren es gewesen.

Aber sie hatten sich in Lexz eingebrannt.

In mondhellen Nächten, wenn er wieder mal wach gelegen hatte, hatte er immer an dieses fremde Mädchen denken müssen. An Arri. Mit der Zeit war sie ihm so vertraut geworden, als wenn sie mit ihm im gleichen Dorf lebte.

Und merkwürdig: Während der großen Wanderung hatte er überhaupt nicht an sie gedacht. Doch jetzt, da er zum ersten Mal seit Langem wieder zu sich selbst fand, überkam ihn die Erinnerung an sie mit einer Wucht, der er nichts entgegenzusetzen hatte.

Arri war ihm zu einer Vertrauen geworden, mit der er alle Dinge hatte besprechen können, die ihm auf der Seele lagen. Sie war ihm so sehr ans Herz gewachsen, als wäre sie die Frau, die Ragok für ihn erwählt hatte.

Ihn überkam ein kaltes Frösteln, als er ins Wasser starrte. Es lag nicht an dem Wind, der aufgefrischt hatte und über kurz oder lang Regenwolken herantragen würde. Eher lag es daran, dass er ein Gesicht zu sehen glaubte, das sich auf der unruhigen Wasseroberfläche spiegelte.

Ein schmales Mädchengesicht, eingerahmt von hellen Haaren.

Arris Gesicht.

Kapitel 10

Arri konnte sich nicht daran erinnern, das Pochen ihres Herzens jemals zuvor so laut gehört zu haben. Sie hatte Angst, war verzweifelt. Vor allem aber war sie enttäuscht, dass ihre Flucht ein so jähes Ende genommen hatte. Wenn sie es nur noch geschafft hätte, ihr Schwert aus dem Versteck in der Höhle zu holen - dann hätte sie sich nicht mehr so leicht einfangen lassen!

Aber so kam alles viel schlimmer, als sie sich das hatte vorstellen können. Von Larkar war keine Spur zu sehen, was sie auf der einen Seite erleichterte, ihr andererseits aber auch einen scharfen Stich versetzte. Obwohl sie den Speerträger gerade erst kennengelernt hatte, schien er ihr doch schon so vertraut wie ein Bruder, auf dessen selbstverständliche Unterstützung man sich verließ.

Leider erwartete sie aber auch ein anderer, der ihr nur zu vertraut war. Taru. Und bei ihm konnte sie sicher sein, dass er schon wieder den nächsten Racheplan ausheckte.

Dragosz’ Sohn grinste dann auch dreckig, als Franwar sie wie eine dreckige Diebin, die man auf frischer Tat geschnappt hatte, den Weg hinaufstieß. Dabei konnte sie nicht verhindern, dass ihr eine Träne die Wange hinablief. Mit einer ärgerlichen Handbewegung wollte sie sie wegwischen. Aber Franwar packte ihr Handgelenk und drückte es brutal herab. Wahrscheinlich hatte er geglaubt, sie wolle sich aus seinem Griff lösen.

»Verdammte Drude«, schimpfte einer der anderen Jäger. »Hast du noch nicht genug Unheil angerichtet? Musst du jetzt auch noch uns angreifen?«

Dieser ungerechte Vorwurf war ein weiterer Pfeil, der ihre Seele traf. Sie hatte überhaupt kein Unheil über irgendjemanden gebracht. Es war doch allein sie, der man beständig Unrecht angedeihen ließ!

»Das ist ja eine schöne Überraschung«, rief Taru, als sie auf das Langhaus zusteuerten, vor dem er wie ein Herrscher, dem man Tribut zollen musste, mit verschränkten Armen stand.

Dummerweise sah er dabei ziemlich kümmerlich aus. Jedenfalls im Vergleich zu dem ebenfalls noch recht jungen Mann, der eben gerade aus dem Haus getreten war. Er hatte langes, lockiges blondes Haar und weiche Gesichtszüge, die durch einen sorgfältig gestutzten Bart eher betont als verdeckt wurden. Gekleidet war er auf eine ganz und gar ungewöhnliche Art: in ein braunes Gewand aus aufwendig gefertigtem Stoff, das mit goldbestickten Borten verziert war. Etwas Ähnliches hatte Arri erst ein einziges Mal gesehen, und zwar im großen Heiligtum von Goseg, als man sie und ihre Mutter durch die Holzpalisaden hindurch auf den inneren Kreis der Steinmonolithe geführt hatte, um sie Nor, dem greisen Hohepriester, vorzuführen.

Das war sehr, sehr lange her, und doch kehrten plötzlich Erinnerungsfetzen an jenes Gefängnis in ihr hoch, in das sie Nor hatte sperren lassen. Sie glaubte die muffige Luft des winzigen Raumes wieder zu riechen, in dem sie tagelang eingesperrt gewesen war - mit ungewissem Ausgang. Stand ihr jetzt ein ähnliches Schicksal bevor?

Der Mann, der er ihr entgegensah, hatte bis auf seine Kleidung allerdings überhaupt nichts von den Menschen, die sie in Goseg zu Gesicht bekommen hatte - und schon gar nichts von Nor. Sie erinnerte sich noch ziemlich gut daran, welchen Schreck sie bekommen hatte, als sie dem uralten Hohepriester vorgeführt worden war. Er hatte ein von Runzeln und Falten übersätes, aber vollkommen haarloses Gesicht gehabt, bei dem selbst die Augenbrauen fehlten und anstelle der Wimpern lediglich zwei Reihen kaum wahrnehmbarer, verkümmerter schwarzer Streifen zu erkennen waren. Arri hoffte inständig, diesem Mann nie wieder begegnen zu müssen.

Der Mann aber, der sie hier erwartete, sah dagegen jung und auf eine Art gut aus, die gewiss viele Frauen in seinen Bann zog. Das schien er auch durchaus selbst zu wissen und entsprechend einzusetzen. Der Blick seiner braunen Augen war fast freundlich auf Arri gerichtet, so als wäre sie ein lang erwarteter Besuch, den es respektvoll zu begrüßen galt. Rechts und links neben ihm hatten sich zwei langhaarige Männer aufgebaut, die über ihren dunklen Wickelgewändern schwarze Mäntel trugen. Kein Zweifel konnte bestehen: So kleideten sich nur Krieger Gosegs.

Im Gegensatz zu ihrem Herrn blickten die beiden Krieger allerdings alles andere als freundlich. Sie bemühten sich mit Erfolg um einen Gesichtsausdruck, den man durchaus als finster bezeichnen konnte.

Rar, der sich ein wenig hinter Taru aufgebaut hatte, versuchte es ihnen gleichzutun. Es musste wohl an seiner Art liegen, dass er dabei eher etwas dümmlich wirkte. Immerhin hatte er ohne Zweifel die breitesten Schultern und die stärksten Oberarme von allen.

»Gut gemacht, Männer«, sagte Taru, als ihr Franwar einen Stoß gab, der sie vorwärtstaumeln ließ. »Ich dachte schon, ich müsste der Drude bis zum Ende der Welt nachlaufen!«

Damit wollte er offensichtlich die gekonnt leichte Art nachahmen, mit der es Dragosz verstanden hatte, auch eine verfahrene Lage zu entspannen. Bei ihm klang der Satz allerdings eher so, als spräche ihn ein Fünfjähriger aus.

Der Mann mit den langen Lockenhaaren blickte nun Taru an, und ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Du musst Dragosz’ Sohn sein«, stellte er fest. »Dein Vater hat mir schon so manches von dir erzählt.«

Tarus Unterkiefer klappte herunter, dann rettete er sich in ein Lächeln, wie es Rar kaum dümmlicher hinbekommen hätte.

»Warum ist dein Vater nicht gekommen?«, fragte der Mann aus Goseg. Irgendwie sah er dabei wie ein großer Raubvogel aus, der eine Beute erspäht hatte und nun überlegte, wie er sie am besten packen konnte. »Warum schickt er dich?«

»Das ist, weil ...«, Rar deutete mit dem Zeigefinger auf Arri, »weil die da ...«

Taru hob die Hand, auch das war eine Bewegung, die er sich von seinem Vater etwas besser hätte abschauen müssen, damit sie nicht wie das ziellose Herumgefuchtele eines Kleinkinds aussah.

Rar brach mitten im Satz ab und Tarus Gesicht verfinsterte sich. »Ich bin wirklich Taru, der Sohn von Dragosz und sein legitimer Nachfolger. Und ich bin gekommen, um meinen Vater zu vertreten.«

Das war frech gelogen, denn Taru hatte gewiss nicht gewusst, dass sich sein Vater gerade hier mit einem Vertreter Gosegs hatte treffen wollen. In Wahrheit hatte er nichts anderes versucht, als die Frau seines toten Vaters erst zu entführen und dann umzubringen.

Der Fremde konnte aber davon nichts wissen. Trotzdem huschte ein Schatten über sein Gesicht. »Also stimmt es, was man sich erzählt. Dragosz ist tot.«

»Ja!« Rar spie das Wort beinahe aus. »Er ist tot, weil die da ...«

Taru wandte sich zu ihm um. »Schweig still.« Seine Stimme schallte zwar laut über den Platz, doch es schwang auch eine Art von Unsicherheit darin mit, die seinen Worten einen Großteil der erhofften Wirkung nahm. »Es steht dir nicht zu, einfach das Wort an dich zu reißen!«

Es hätte nur noch gefehlt, dass er dabei mit dem Fuß aufgestampft hätte, fand Arri.

Rar starrte Taru nur verblüfft an. Wahrscheinlich verstand er nicht einmal, was der andere von ihm wollte. Dass aus seinem Raufbruder nun plötzlich der Herrscher der Raker geworden sein sollte, das leuchtete ihm wohl genauso wenig ein wie Arri.

Aber das wird wohl auch die einzige Gemeinsamkeit, die wir jemals haben werden, dachte Arri.

»Die da«, der Mann aus Goseg wandte sich an Arri, »das musst wohl du sein. Wer bist du?«

»Ich«, Arri musste sich räuspern. »Ich bin Arianrhod. Die Heilerin ...«

»Du warst die Heilerin«, unterbrach sie Rar. »Jetzt bist du nichts weiter als ...«

»Halt die Klappe«, sagte Taru, ohne sich umzudrehen.

Wäre die Lage eine andere gewesen, hätte es Arri wahrscheinlich genossen zu sehen, wie das Gesicht des Schmiedegehilfen von unten herauf rot anlief.

»Die Heilerin«, fuhr Arri erhobenen Hauptes fort, »und Dragosz’ Frau.«

Der Mann strich sich über den Bart und nickte leicht. »Ja, ich habe gehört, Dragosz’ Frau sei sehr jung. Aber«, er lächelte auf eine merkwürdige Art, die freundlich wirkte und Arri dennoch einen kalten Schauer über den Rücken jagte, »ich hatte nicht gewusst, dass du so jung bist.«

»Nun«, antwortete Arri gedehnt, »du bist doch selbst kaum älter als ich. Findest du mich etwa zu jung?«

Der Unbekannte sah sie erst verblüfft an - und lachte dann auf. »Sieh an, eine Wildkatze, die selbst dann noch ihre Krallen ausfährt, wenn sie schon am Boden liegt.«

Er deutete eine leichte Kopfbewegung an. »Aber gestatte mir, dass ich mich erst einmal vorstelle. Ich bin der Hohepriester von Goseg, mein Name ist Amar.«

»Der Hohepriester von Goseg?«, fragte Arri überrascht. »Aber das kann nicht sein. Ich habe ihn ja schon kennengelernt. Er ist ein alter Mann ...«

»Ein alter hässlicher Mann mit verschrobenen Ideen, sprich es ruhig aus«, unterbrach sie Amar ungerührt. »Nor ist tot. Und das schon seit zwei Sommern. Inzwischen hat sich in Goseg viel verändert.« Er schenkte Arri ein freundliches Lächeln. »Goseg war schon immer mächtig, selbst schon zu der Zeit, als die Menschen gerade begonnen hatten, die ersten Häuser zu bauen. Doch erst unter meiner Herrschaft ist es das bedeutendste Handelszentrum der ganzen Region geworden. Wir unterhalten Verbindungen zur ganzen Welt - zu den Stämmen in den Schneebergen, in die sich das ewige Eis zurückgezogen hat, und sogar zu den Völkern, die hinter den Bergen an einem großen Meer leben. Von dort beziehen wir Gewürze, Schmuck, Erze, Öle und vieles andere ...«

»Ja«, antwortete Arri verwirrt. »Aber ...«

Amar hob die Hand und winkte ab. »Kein Aber«, sagte er scharf. »Wir kontrollieren den Handel. Und damit kontrollieren wir praktisch alles zwischen dem Nordmeer und den Schneebergen.«

Arri nickte. Das mochte ja alles so stimmen, und wenn Dragosz noch lebte, wäre es jetzt auch an der Zeit gewesen, sich ein paar Gedanken zu dem zu machen, was ihr der Hohepriester hier eröffnete.

»Wir verlangen Tribut«, fuhr Amar unbekümmert fort, »und das von jedem, der in unserem Einflussgebiet siedelt.«

Taru gab ein leises ächzendes Geräusch von sich, doch als Amars Kopf in seine Richtung herumfuhr, war er nicht in der Lage, seinem Blick standzuhalten, geschweige denn, ihm eine halbwegs vernünftige Erwiderung entgegenzuschleudern.

Kindskopf, dachte Arri. So geht man nicht mit Männern um, die die alleinige Macht für sich beanspruchen.

Und das tat Amar ganz offensichtlich.

Ob er wirklich ein Hohepriester war oder nicht, das wagte Arri nicht zu beurteilen. Auf jeden Fall war er aber jemand, der trotz seiner freundlichen Art alles andere als zimperlich wirkte, wenn es um seine ureigensten Interessen ging.

»Dragosz hat sich am See der tausend Fische niedergelassen, ohne mich zu fragen«, sagte Amar leise. »Aber was ich dazu gesagt habe, wirst du als seine Frau wohl wissen ...«

See der tausend Fische ... das klang sehr schön. Alles andere aber nicht. Abgesehen davon begann Arri gerade zu begreifen, dass ihr Dragosz wohl die eine oder andere Kleinigkeit verschwiegen hatte.

Amar schien weiter auf eine Antwort zu warten. Als sie ihm die schuldig blieb, deutete er mit einer leichten Kopfbewegung in Tarus Richtung. »Stimmt denn das, was sie behaupten? Hast du Dragosz getötet?«

Arri hob die Hand ans Gesicht und wischte sich die Träne weg, die mittlerweile schon fast ihr Kinn erreicht hatte. »Nein«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich habe weder Dragosz noch irgendjemand anderen getötet ...«

»Das stimmt überhaupt nicht!«, brüllte Rar unbeherrscht dazwischen. »Sie hat versucht, uns alle zu vergiften!«

»Verdammt!« Taru trat einen Halbschritt zurück und stieß Rar den Ellbogen in die Rippen. »Wirst du endlich still sein, du Hornochse?«

»Aber warum denn?«, jammerte Rar. Er rieb sich die Seite. »Es stimmt doch. Sie hat das Wasser ...«

Taru drehte sich zu ihm um und versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Still jetzt, du Einfaltspinsel.«

Rar öffnete noch einmal den Mund, schnappte jetzt aber nur nach Luft. Er begann wohl langsam zu begreifen, dass sich das Verhältnis zwischen ihm und Taru grundlegend geändert hatte.

Aber dabei wird es nicht bleiben, schwor sich Arri. Kyrill ist Dragosz’ Nachfolger. Und Taru kann dann das tun, was er am besten versteht: zusammen mit Rar und ein paar anderen Idioten Unsinn anstellen.

Es war Lexz schwer gefallen, sich von dem kleinen See loszureißen und dem gewundenen Pfad am Bach zu folgen. Er hatte sich Arri so nahe gefühlt. Und jetzt hatte er das verrückte Gefühl, sich mit jedem Schritt, den er hier entlanghetzte, weiter von ihr zu entfernen.

Das war verwirrend. Er kannte dieses Mädchen doch gar nicht - das inzwischen längst zur Frau herangewachsen sein musste. Aber sie erschien ihm in diesem Augenblick wirklicher als die Menschen, die er im Lager seines Vaters zurückgelassen hatte. In den letzten Jahren hatte er so manchem Mädchen beigewohnt, und manchmal war auch eines dabei gewesen, das ihm wirklich gefallen hatte. Aber niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, sich fest zu binden.

Weil es diese Unbekannte gab, von der ihm Dragosz nicht mehr als ein paar Sätze gesagt hatte.

Je weiter er jetzt dem zunehmend gewundenen Verlauf des Baches folgte, desto mehr verlor sich auch das Gefühl für die Unbekannte. Stattdessen gewann in ihm wieder etwas Altbekanntes die Oberhand: die Angst um seine Gefährten.

Die Spuren waren hier weniger heftig, als sie es noch vor dem See gewesen waren. Ein paar abgerissene Zweige, niedergetrampeltes Gras, zerdrücktes Gebüsch. Und trotzdem begann er sich mit zunehmender Besorgnis zu fragen, was hier eigentlich geschehen sein mochte. Ein Kampf war eine Sache, eine Flucht aber eine andere. Doch das sah hier weder nach dem einen, noch nach dem anderen aus. Oder vielleicht war es erst ein Kampf gewesen, und dann eine Flucht? Aber warum waren dann Ekarna und Torgon nicht in einem Bogen wieder zu ihm zurückgekehrt? Waren sie überhaupt noch am Leben?

Aufgeregtes Vogelgeschrei alarmierte ihn, und wie von selbst zog er seine Waffe und schlich in angespannter Wachsamkeit weiter. Der Pfad wurde breiter, der Boden trockener, und die Pflanzen sahen hier nicht mehr ganz so üppig aus wie eben noch. Das Nächste, was ihm auffiel, war das Laub, das dort lag ... und von den Bäumen über ihm herabgeregnet war. Der Herbst schien nicht mehr fern, aber so viel Laub ...

Dann stieß er auf den ersten Toten.

Es geschah so plötzlich, dass er zurücksprang und die Waffe nach oben riss. Zuerst hatte er nichts weiter als eine Hand gesehen, die aus einem Gebüsch herausragte. Als er dann jedoch ein Stück näher herantrat, erkannte er auch den Körper des Mannes, der hier niedergestreckt lag.

Seine erste Befürchtung, dass es sich um Torgon handeln könnte, zerstob sofort, als er sah, dass der Mann in Felle gekleidet war. Es war einer der Höhlenmenschen. Lexz hätte sich denken können, dass sie sich durch Ekarna nicht wirklich hatten vertreiben lassen. Sie mussten sie bis zu ihrem Nachtlager verfolgt haben, und dann hatte sie erst ihn niedergeschlagen und ...

Ein Vogelschwarm stob auf, ganz nah, und dann glaubte Lexz das Geräusch von Schritten zu hören. Er fuhr herum.

Torgon torkelte zwischen den Bäumen hervor. Er sah fürchterlich aus.

Als wollten die Götter persönlich eingreifen, so verdunkelte sich auf einmal der Himmel. Wolken zogen auf, wie sie Arri noch nie zuvor gesehen hatte: dräuende, schwarzgraue, in sich verwirbelte Ungetüme, die von allen Seiten auf das Tal eindrangen, bis sie es ganz umschlossen hatten. Nur über dem Tal selbst schien der Himmel noch frei, lediglich ein paar lichte weiße Wolken blieben dort so unbeweglich stehen, als ginge direkt über ihnen noch nicht einmal ein laues Lüftchen.

»Da entlang«, sagte Rar mürrisch.

Er wollte Arri in die Richtung schubsen, in die Amar und Taru vorangegangen waren. Aber Arri tauchte unter seiner zupackenden Hand hinweg und machte einen so schnellen Schritt zur Seite, dass die Hand des Schmiedegehilfen einmal mehr ins Leere griff.

Es ging ihr nicht darum, sich mit Rar anzulegen. Sie konnte nur einfach den Himmel nicht aus den Augen lassen. Etwas Merkwürdiges geschah dort. Einzelne graue Finger griffen in den hellen Fleck über dem Tal, griffen gezielt dort hinein. Wie dichter, schwerer Rauch wirbelten Ausläufer der dunklen Wolken heran und drangen in die hellen Flecken hinein. Grau, weiß, schwarz, all das vermischte sich, und dann schoss plötzlich ein Vogelschwarm aus den dunklen Wolken hervor. Als würde er von einem kräftigen Wind nach unten gedrückt, so sauste er herab.

Krähen, dachte Arri, das sind Krähen.

Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Krähen waren doch schwarz. Und auch in diesem Schwarm gab es pechschwarze Krähen, aber mindestens genauso viele waren eher von hellem Grau als von einem tiefen Schwarz, und hier und da glaubte Arri sogar weiße Streifen auf den schwarzen Flügeln aufblitzen zu sehen.

»Das ist merkwürdig«, murmelte Rar. »Vögel sollten sich nicht so verhalten.«

Arri wusste nicht, was sie mehr verblüffte: das, was sich da über ihnen am Himmel abspielte, oder Rars Bemerkung. Sie hatte ihm bislang nicht einmal zugetraut, auch nur ansatzweise über seinen eigenen Schatten hinausschauen zu können.

Die Krähen stiegen wieder hoch, glitten in einer langgestreckten Kurve über das Langhaus und drehten dann in Richtung See ab. Arri konnte sich des verrückten Gefühls nicht erwehren, dass sie etwas suchten. Voller Unbehagen musste sie an den großen Raben denken, der über sie hinweggeflogen war, als sie gefesselt am See gesessen hatte. Ob das in einem Zusammenhang stand?

»Was sind das für seltsame Vögel?«, fragte Rar.

»Krähen«, antwortete Arri ganz leise. »Aber merkwürdige Krähen. Und ...«

»Jetzt kommen sie wieder zurück!«

Er hatte recht. Der Schwarm war in die dunklen Wolken eingetaucht, doch ... als ob sie sie ausspucken wollten, schossen einzelne Vögel wieder daraus hervor. Es dauerte nicht lange, dann folgte auch der Rest.

Die Krähen flogen schneller als eben noch. Sie wirkten ... geradezu aufgeregt.

Bislang hatte sich Arri noch nie Gedanken darum gemacht, ob Vögel etwas fühlten. Diesmal war es anders. Die drohenden Wolken umschlossen das Tal wie die Faust eines zornigen Gottes, der sie jederzeit schließen und sie damit erdrücken konnte. Und die Vögel waren die Sendboten eben jenes Gottes, und sie ...

»Rar!« Das war Tarus Stimme. Dragosz’ Sohn klang so, als bekäme er gleich einen Wutanfall. Und wenn Arri ehrlich war, dann konnte sie ihn sogar ein wenig verstehen.

»Ja.« Rar versetzte ihr einen schmerzhaften Schubser in die Seite. »Los, Drude! Auf jetzt zu Amar und Taru! Dein Zauber verfängt bei mir nicht!«

Arri riss sich von dem Anblick der Krähen los und stolperte gehorsam los. Eine Zeit der Prüfungen, dachte sie. Das alles waren Anzeichen für eine Zeit der Prüfungen. Aber was für Prüfungen, bei allen Göttern, warteten denn jetzt noch auf sie? Was konnte man ihr noch nehmen?

Die Antwort kannte sie selbst: Kyrill. Ihr Kyrill zu nehmen, ihren neugeborenen Sohn zu töten, das würde allerdings die schlimmste Prüfung sein, die man ihr noch auferlegen konnte.

Aber dazu würde es nicht kommen. Nicht, solange ihr Herz noch schlug und ihre Hände noch die Kraft hatten, eine Waffe zu nehmen.

Trotzdem war sie voller Verzweiflung, als sie auf das fröhlich prasselnde Feuer hinter dem Langhaus zustolperte, an dem die anderen Männer standen. Tarus Gesicht hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe, irgendetwas zwischen Leichenblass und Lindgrün. Amar wirkte dagegen ganz vergnügt.

Aber das war etwas, das Arri nur am Rande wahrnahm. Ihr Blick richtete sich auf die zwei Karren, die hinter dem Haus abgestellt waren, und ihre Gedanken überschlugen sich. Ochsenkarren, hier? Sie waren aus ebenmäßig bearbeiteten Holzbohlen gefertigt, als Deichsel dienten schlanke, fein geschliffene Stämme junger Bäume, an denen die Geschirre befestigt waren. Sie waren in deutlich besserem Zustand als der Karren, mit dem sie vor Ewigkeiten mit ihrer Mutter über das Land gezogen war, und wurden wie dieser jeweils von einem Ochsen gezogen.

Die Ochsen grasten ganz in der Nähe. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sich Rar gleich zu ihnen gesellen können.

»Warum kommst du nicht?«, fragte Taru. Es klang wie das gereizte Knurren eines Berglöwen. »Hast du immer noch nicht verstanden, worin deine Aufgabe besteht?«

»Doch, natürlich«, beeilte sich Rar zu sagen. »Aber die Drude hat ...«, er deutete nach oben, »sie hat dunkle Kreaturen zu Hilfe gerufen.«

Amar blickte von der Kiste auf, die einer seiner Männer gerade durchwühlt hatte, und blickte nun auch nach oben. Sein Blick verdüsterte sich. »Krähen. Kein gutes Zeichen. Wenn sie sich wie toll verhalten, schlägt das Wetter um.«

»Ich brauche keine Krähen dazu, um das zu sehen«, sagte Taru nervös. »Siehst du denn nicht die Wolken, die dort aufziehen?«

»Die ziehen nicht auf«, berichtigte ihn Amar, »die ziehen sich rund um das Tal zusammen. Das liegt an der besonderen Kessellage hier. Und das ist nebenbei bemerkt ein kleiner, aber nicht unwesentlicher Unterschied.«

»Es soll also an der Tallage liegen, dass über uns der Himmel erst so friedlich wie an einem schönen Sommertag aussieht, und sich dann rings herum dunkle Wolken auftürmen?« Taru schüttelte trotzig den Kopf, und seine Stimme, die ohnehin schon jede Festigkeit verloren hatte, klang nun plötzlich ganz kläglich. »Ich bin zwar kein Schamane«, fuhr er fort. »Aber dass da etwas nicht stimmt, sehe auch ich.«

»Die Götter wollen Arianrhod bestrafen«, mischte sich Rar ein. »Es kann gar nicht anders sein. Damals, als ...«

»Damals?« Amar fuhr zu ihm herum und musterte ihn mit einem Blick, unter dem Rar regelrecht zusammenschrumpfte. »Als man dir erlaubt hatte, einfach das Wort an dich zu reißen?«

Rar blinzelte. »Was ... ich ...«

»Taru hat mir berichtet, du seist der neue Gehilfe eures Schmieds«, unterbrach ihn Amar. »Das ist nicht viel mehr als der Dreck unter meinem Fingernagel.«

Rar öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder und starrte beschämt zu Boden.

»Aber tröste dich«, sagte Amar gut gelaunt. »Wenn du erst einmal selbst die unter allen Völkern so hochgeachtete Stellung des Schmieds bekleidest, kannst du gerne mitreden. Aber bis dahin hast du zu schweigen, wenn unsereins«, er zeigte erst auf sich, dann auf Taru, »miteinander redet.«

Arri nahm die Demütigung des Schmiedejungen nur am Rande wahr. Ihr Blick irrte über die Rückseite des Hauses, die vom Flackern des Feuers in ein unruhiges Licht getaucht wurde. Es sah genauso aus wie von vorne, mit dem gleichen Dach, das tief über die massive Holzwand aus Eichenbohlen gezogen war. Der einzige Unterschied war, dass es hier keine Tür gab.

Was aber war dann mit Larkar geschehen? Arri hatte bis jetzt angenommen, dass er noch im letzten Augenblick hatte entkommen können. Das wäre ihm aber nur möglich gewesen, wenn es irgendwo ein weiteres Schlupfloch in der Hauswand gegeben hätte, durch das er in die Freiheit hätte gelangen können.

»Auch du darfst mit uns reden«, wandte sich Amar deutlich freundlicher an Arri. »Aber wie ich deinem Blick entnehme, bist du an ganz anderen Dingen interessiert.«

»Was?« Arri zuckte zusammen und wandte sich zu dem jungen Hohepriester von Goseg um. »Was hätten wir denn zu besprechen?«

»Vielleicht das, was mit dem Mann geschah, der dich bei deiner dreisten Flucht unterstützt hat«, antwortete Amar. »Mein neuer Freund Taru hat mir davon erzählt. Und es scheint ihn sehr erzürnt zu haben, dass du dich ausgerechnet mit einem seiner ältesten Freunde verbündet hast.«

Arri hätte vor Wut aufschreien können. Amar hatte eine Art, das Wort an sich zu reißen, die sie nicht nur durcheinanderbrachte, sondern die auch deutlich werden ließ, wie wenig sie noch ausrichten konnte.

Aber es ging nicht darum, ob sie sich klein und hilflos fühlte. Eher darum, die Flucht fortzusetzen, die ein vorläufiges Ende gefunden hatte. Und dann Kyrill ...

»Schade«, durchbrach Amar ihren Gedankengang. »Fast hätte ich geglaubt, du seist an einem aufrichtigen Gespräch mit mir interessiert. Aber deine Gedanken sind wohl bei diesem«, er sah Taru fragend an, und dieser beeilte sich zu antworten:

»Bei Larkar.«

»Bei Larkar, ja genau«, er seufzte. »Es heißt, er sei ein Speerträger ohne Speer. Und er humpele.« Er strich sich durch den Bart, eine Geste, die wohl genauso zu ihm gehörte wie die Art, mit seinen Worten das Gegenüber zu verunsichern. »Ist das auch der Mann, dem zuliebe du Dragosz getötet hast?«

Arri starrte ihn entgeistert an. Die Funken des Feuers zu ihrer Linken stoben auf, und als sie hinüberblickte, sah sie, wie zwei Männer in schwarzen Gewändern gebratene Rebhühner von einer Halterung nahmen, die ungewöhnlicherweise aus Metall gefertigt sein musste, sonst hätte sie doch unweigerlich Feuer gefangen.

»Willst du mir nun antworten«, hakte Amar nach, »oder schweigst du zum Zeichen, dass du deine Schuld anerkennst - und Larkar dein Komplize war?«

Arris Kopf ruckte wieder zu Amar herum. Sie und Larkar sollten sich also nicht nur schon länger kennen, sondern auch gemeinsam geplant haben, ihren Liebsten aus dem Weg zu räumen? Das war ... einfach zu ungeheuerlich.

»Ja, natürlich, entschuldige«, sagte Amar, der ihren Blick zum Feuer wohl missgedeutet hatte. »Du musst hungrig sein. Selbstverständlich darfst du aber erst etwas essen, nachdem du deine abscheulichen Verbrechen gestanden hast.«

Arri schnappte nach Luft. Die Formulierung war so ungeheuerlich, dass es selbst ihr das Wort verschlug.

Ganz anders als Taru, der die Rolle des Kleinkinds offensichtlich konsequent weiterzuspielen gedachte.

»Ich fürchte, diese Einladung wird die Drude nicht annehmen können«, sagte er kühl. »Wir werden sie jetzt nämlich wieder in Fesseln legen und mit uns nehmen.« Er wandte sich an Rar. »Ruf Franwar und die anderen. Sag ihnen, dass wir aufbrechen.«

»Nicht ganz so hastig, mein Freund«, erwiderte Amar in fast gelangweiltem Ton. »Ich glaube, wir haben da noch das eine oder andere zu besprechen.«

»Ja, das denke ich auch.« Arris Blick war inzwischen weitergeschwenkt. Ihre Augen hatten die Spuren verfolgt, die die beiden Wagen in den Boden gedrückt hatten. Sie führten nicht nach vorne und um das Haus herum, sondern zu einem Weg zu ihrer Linken, der sanft anstieg und hinter einer Biegung verschwand. Wenn sie es schaffte, sich einen kleinen Vorsprung zu verschaffen, und wenn sie dort dann so schnell wie möglich hinauflief ...

»Nun«, sagte sie, während sie sich dem ungewöhnlichen Hohepriester von Goseg wieder zuwandte. »Ich glaube tatsächlich, dass wir das eine oder andere zu besprechen haben.« Sie machte einen Schritt auf Taru zu, und es musste so viel Entschlossenheit und Abscheu in ihrem Blick funkeln, dass er beinahe wie ein kleiner Junge zurückgewichen wäre, der von seiner Mutter gescholten wird.

»Dieser kleine Aufrührer hier«, sie tippte so schnell auf Tarus Brust, dass er ihre Hand nicht einfangen konnte, »hat sich nicht nur den Anordnungen des Ältestenrates widersetzt. Sondern er hat mich auch noch entführt. Er wollte mich im See versenken.«

»Aha«, machte Amar. Er sah jetzt nicht nur nachdenklich, sondern auch ein wenig ärgerlich aus. »Stimmt das, Taru, der du Dragosz’ Sohn und sein Nachfolger bist?«

»Nun, ich ... ich habe bestimmt nicht ...« Taru warf Arri einen bösen Blick zu und wandte sich dann mit einer übertriebenen Geste von ihr ab und dem Hohepriester zu. »Nichts dergleichen habe ich getan!«

Amar legte den Kopf schief und wartete offensichtlich darauf, dass sich Dragosz’ Sohn näher erklärte. Dass Taru dies aber nicht tat, überraschte Arri überhaupt nicht. Schließlich hätte es vorausgesetzt, dass ihm auf die Schnelle etwas Geistreiches hätte einfallen müssen.

»Dann sei doch bitte so nett, mir zu erklären, was du sonst getan hast«, bohrte Amar nach.

»Ja, aber ich ...«, Taru schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für langwierige Erklärungen«, erklärte er mit erstaunlich fester Stimme.

Amar zog eine Augenbraue hoch. »Und du meinst, das hättest du zu bestimmen, und nicht ich?«

Taru zuckte zusammen. Für einen Augenblick strahlte er einen solchen Zorn und eine solche Angriffslust aus, dass Arri schon glaubte, er werde eine Dummheit begehen.

Wenn sie jedoch erwartete, Amar werde mit Wut darauf reagieren, oder auch in der abscheulichen Art Nors, der seine Gegenüber mit seinen Blicken fast aufgespießt hatte, um seine verkrümmten Hände dann zu heben und sie wie die Krallen eines Raubvogels auf die Lehnen seines aus Korb geflochtenen Stuhles zu schlagen, so sah sie sich getäuscht.

Dagegen stahl sich der lauernde Ausdruck einer Schlange, die auf die passende Gelegenheit zum Zuschnappen wartet, auf das Gesicht des neuen Hohepriesters.

Taru musste das auch bemerkt haben. Aber immerhin brachte er es irgendwie fertig, seinen schlichten Bemerkungen und haltlosen Unterstellungen keine weitere Dummheit hinzuzufügen. Aber weniger gut hatte er seinen Blick und seinen Körper unter Kontrolle.

Er machte einen zaghaften Schritt auf Arri zu, und dann noch einen und noch einen. Dabei lag in seinen Augen ein Flackern, das jede Frau in die Flucht geschlagen hätte. Arri fand, dass ihr im Augenblick gar nichts Besseres passieren konnte, und im Stillen dankte sie Amar dafür, dass er ihr mit seinen beharrlichen Nachfragen unwissentlich zu Hilfe kam.

Sie wich weiter zurück als sie es gemusst hätte, aber auch nicht so weit, dass irgendjemand hätte misstrauisch werden können. Die ganze Zeit über ließ sie Taru nicht aus den Augen. Dass ihre Erregung mit jeder Bewegung zunahm, brauchte sie dabei noch nicht einmal zu überspielen.

Dabei dachte sie jedoch gar nicht an eine mögliche Konfrontation, sondern an den Weg, in den sich die Spuren der beiden Holzkarren eingefressen hatten. Hier, hinter dem Haus, hielt sich nur eine Handvoll Männer auf. Die meisten von ihnen waren damit beschäftigt, die Wagen zu entladen oder die Mahlzeit vorzubereiten, zu der Amar sie eingeladen hatte. Die Einzigen, die sie die ganze Zeit über im Blick hatte, waren Taru und Amar - und Rar, aber der hatte sich schmollend zurückgezogen und sich im Schatten des langen Daches auf dem Boden niedergelassen.

Arri beschloss, das Wagnis einzugehen und ihre letzte Trumpfkarte auszuspielen. »Taru hat genau das getan, was ich gesagt habe«, begann sie. »Aber das aus gutem Grund. Denn es ist mein Sohn Kyrill, der Dragosz’ Nachfolge antreten wird.«

»Dein Sohn?« Amar runzelte die Stirn. »Aber wie soll das geschehen? Er müsste doch noch ein kleines Kind sein.«

»Das ist richtig«, bestätigte Arri. »Aber bei uns Rakern ist die Erbfolge anders geregelt als bei den meisten anderen Völkern. Bei uns ist es der jüngste Sohn, dem die Nachfolge zufällt.«

»Ja, natürlich« Taru verschluckte sich fast, ein Speichelfaden lief sein Kinn herab. Mit einer ärgerlichen Bewegung wischte er ihn beiseite. »Mal ganz abgesehen davon, dass Kyrill ein dreckiger kleiner Bastard ist«, höhnte er, »ein nach Mama schreiender Winzling kann uns wohl kaum anführen!«

»Nun«, sagte Amar. Er gab den Männern, die die Rebhühner vom Feuer genommen hatten, ein fast unmerkliches Zeichen. »Das sind aber wirklich bedenkenswerte Argumente.«

Seine Männer trugen die gebratenen Vögel an ihm vorbei und verschwanden hinter dem Haus. Wahrscheinlich bereiteten sie dort alles für ein besonders reichhaltiges Essen vor. Umso besser. Je mehr Männer Amar wegschickte, umso größer war die Chance, dass ihr die Flucht gelang.

»Wie kommst du darauf, dass ein Sohn deines Vaters ein Bastard wäre!«, wandte sich Amar an Taru.

»Nun, nein, natürlich nicht«, sprudelte Taru hervor. Es sah aus, als bekäme er gar nicht mehr richtig Luft, und auf seinem Gesicht breiteten sich plötzlich rote Flecken aus. »Aber das, was Arianrhod von der Erbfolge sagt, stimmt nicht im Geringsten«, quetschte er mit dem letzten Rest seiner Beherrschung hervor. »Sie ist ja noch nicht einmal eine Rakerin!«

»Sondern was?«

»Sondern ...« Taru atmete tief aus und blieb stehen. »Ich glaube, es ist besser, wir gehen jetzt«, seine Stimme zitterte, »unser Volk ist in tiefer Trauer über den Tod meines Vaters.«

»Ja«, sagte Amar. »Nach allem, was ich gehört habe, muss er ein ungewöhnlicher Mann gewesen sein.«

Taru blieb stehen und wandte sich überrascht zu dem Hohepriester um. »Du kennst ihn gar nicht?«

»Nicht persönlich ...«

Es waren ganz kleine Bewegungen, mit denen sich Arri rückwärts bewegte. Sie hörte den beiden ungleichen jungen Männern zwar nicht richtig zu, aber sie achtete auf jede Regung von ihnen. Sobald einer auch nur im Geringsten erkennen ließe, dass er ihre Fluchtabsichten durchschaute, würde sie sich umdrehen und so schnell wie es nur möglich war den Hang hinauflaufen.

»Vielleicht ist es besser, ich rede einmal mit eurem Ältestenrat«, sagte Amar schließlich.

Arri erschrak. Es war nicht so sehr der Vorschlag Amars, der schon fast etwas von einem Befehl hatte, als vielmehr die Tatsache, dass sich das Gespräch seinem Ende zuneigte.

Sie machte noch einen Schritt rückwärts - und erstarrte, als ihr jemand auf die Schulter klopfte.

»Na, Drude«, säuselte ihr Rar ins Ohr. »Wohin des Wegs?«

Rar versuchte sie an der Hand zu packen. Aber Arri entwand sich seinem Griff, drehte sich um und stürmte los ...

Kapitel 11

»Lexz!«, ächzte Torgon, während er auf ihn zuschwankte. »Wo warst du? Warum hast du uns nicht geholfen?«

Lexz taumelte zurück. Sein Blick war an Torgon vorbeigewandert und auf die junge Frau gefallen, die ihm auf den Fersen gewesen war, jetzt aber plötzlich stehen blieb. Er hatte natürlich Ekarna erwartet. Umso mehr überraschte es ihn, dort eine kleinere und vollkommen anders gekleidete Frau zu sehen.

Als sie die Hand vor den Mund schlug, schien die Luft zwischen den Zweigen zu flirren und ein sanfter, warmer Lufthauch zu ihm zu wehen. Lexz hatte das Gefühl, als verliere er den Halt unter den Füßen. Für die Dauer von drei endlosen, schweren Atemzügen starrte er die Fremde nur an, und plötzlich hatte er das Gefühl, niemals einen schöneren Menschen gesehen zu haben, niemals eine Frau, die vollendeter war, und niemals ein Wesen, dessen Gestalt mehr Liebreiz und Anmut ausstrahlte.

Aber das war noch nicht alles, was ihn in den Bann schlug. Auf der einen Seite saugte er jede Einzelheit von ihr auf, bemerkte jede noch so kleine Einzelheit, auf der anderen Seite hätte er sie nicht beschreiben können, wenn er es gemusst hätte. Das Einzige, das er aber mit Sicherheit sagen konnte, war, dass in ihren dunklen Augen eine Art Erkennen aufblitzte, und dass dieses Wunder ganz tief in seinem Innersten etwas berührte.

Die hübsche junge Frau musterte ihn mit nicht minder großer Überraschung. Sie griff nach dem Ring aus poliertem Feuerstein, den sie um den Hals trug, und drehte ihn in den Fingern. Lexz’ Verwirrung steigerte sich noch weiter ins Unermessliche. Der Ring, die Kleidung ... all das hatte Surkija getragen, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war sie mit Dragosz mitgegangen und hatte damit den Zwist besiegelt, der seinen Vater und Dragosz endgültig auseinandergebracht hatte.

Aber das dort war nicht Surkija. Und trotzdem kannte er diese Frau. Wenn er nur wüsste, woher ...

Die Frau ließ den Ring durch die Finger gleiten, und dann fiel er herunter, wurde von dem Lederband aber festgehalten und bewegte sich über ihrem verrutschten Gewand hin und her. Lexz sah den Ansatz ihres blanken Busens hervorschimmern, ein Anblick, der eigentlich nichts Besonderes war in einer Zeit, in der sie alle mit zerschlissener Kleidung herumliefen, immer wieder irgendetwas verrutschte und man mehr zu sehen bekam, als eigentlich angemessen schien. Aber diesmal war es etwas anderes. Er starrte auf den hellen Brustansatz, und tief in ihm regte sich erneut etwas.

Vollkommen unpassend, und ... die Frau bemerkte seinen Blick, aber wohl nicht nur diesen. Sie strich sich mit einer hastigen Geste die Haare aus dem Gesicht und drehte sich um. Als sie mit ein paar leichtfüßigen Schritten zwischen den Bäumen verschwand, wollte Lexz ihr folgen. Er musste wissen, wer diese Frau war. Sie kam ihm so bekannt vor. Und nicht nur das. Er spürte ein Verlangen in sich, das er nicht wahrhaben wollte, und noch viel stärker das Gefühl einer unendlichen Sehnsucht, wie er sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr empfunden hatte ...

... sah man einmal von dem merkwürdigen Erlebnis an dem Bachausläufer heute Morgen ab.

Lexz wollte an Torgon vorbei. Aber dieser packte ihn an den Schultern und drehte ihn zu sich herum. »Wo warst du?«, herrschte er ihn an. »Wir sind angegriffen worden!«

»Ja«, stieß Lexz hervor. »Und wer ist die Frau?«

Torgon winkte ab. »Irgendein Mädchen aus dem Dorf. Aber darum geht es jetzt nicht. Wo warst du denn? Warum hast du uns im Stich gelassen?«

»Weil ich auch angegriffen worden bin«, antwortete Lexz ungeduldig. »Und nun sag mir endlich, wer das Mädchen ist!«

»Aber wie ...«, Torgon strich sich die wirren Haarsträhnen aus der Stirn, »wann bist du angegriffen worden? Wir haben gar nichts gehört. Du warst nur plötzlich weg.«

»Und da hast du gedacht, ich wäre mal wieder weggelaufen«, Lexz versuchte Torgons Hand abzustreifen, doch der Dicke hielt ihn weiter fest umklammert. »Lass uns gleich darüber reden. Ich muss erst dieser Frau hinterher.«

»Der Kleinen aus dem Dorf?«

»Ja, Arri ...«

»Arri?« Torgon schüttelte verwirrt den Kopf. »Wen meinst du? Ich kenne keine Frau namens Arri.«

Natürlich nicht. Wie hatte er nur diesen Namen aussprechen können? Das Bild der Unbekannten. Die Verbundenheit, die er am See gespürt hatte. All das war doch reine Phantasie, pure Einbildung, die mit uralten Schwärmereien zu tun hatte, mit den Träumen eines kleinen Jungen, der sich die große Liebe ausgemalt hatte. Wie kam es nur, dass er dieses Gefühl jetzt mit der Unbekannten dort verband?

»Aber falls du dich auch nur im Entferntesten für das Schicksal von Ekarna interessierst«, fuhr Torgon anklagend fort, »die war gerade noch an meiner Seite. Sie muss also auch gleich hier sein. Und außerdem ...«

Lexz hatte jetzt keine Zeit für langwierige Erklärungen.

»Schön, dass Ekarna wohlauf ist«, sagte er rasch. Er streifte Torgons Hand ohne viel Feingefühl ab und wollte schon losrennen, der Unbekannten hinterher, die er aus einer ihm selbst unverständlichen Eingebung heraus Arri genannt hatte.

Aber da hatte er die Rechnung ohne Torgon gemacht. Der Dicke packte ihn am Kragen und schleuderte ihn zu sich herum, bis sich ihre Gesichter so nahe waren, dass Lexz in seine weit aufgerissenen Augen starren konnte.

Er erschrak. Torgon sah schlecht aus, und das hatte er noch nicht einmal bemerkt. Soweit er feststellen konnte, war er zwar nicht verwundet - zumindest nicht ernsthaft -, aber auf seinem Hemd sah man frische Blutspitzer, und da war auch ein Funkeln in seinen Augen, das Lexz gar nicht gefiel.

»Du bist nie da, wenn man dich braucht«, sagte der Vertraute seines Vaters ärgerlich. Sie standen sich so nah, dass Lexz seinen schlechten Atem roch und die Schweißtropfen auf seiner Stirn sah, von denen einige rötlich schimmerten. Waren das auch Blutsprenkel? »Und jetzt bleibst du einfach mal hier, verdammt noch mal!«

Das war genau der Tonfall, den Lexz jetzt überhaupt nicht hören wollte. Kein Zweifel, er hatte von Anfang an große Fehler gemacht, und vielleicht hatten Larkar und Sedak das inzwischen sogar mit ihrem Leben bezahlt. Aber deswegen konnte er sich hier doch nicht von Torgon festnageln lassen!

»Die bärtigen Barbaren mit den riesigen Holzkeulen haben uns überfallen«, fuhr Torgon ärgerlich fort. »Wir hätten deine Unterstützung wirklich gut brauchen können!«

»Ja, aber ich ...«, Lexz zerrte an Torgons Hand, aber diesmal schien der Dicke darauf vorbereitet zu sein, und offensichtlich war er nicht bereit, ihn so einfach davonkommen zu lassen, »ich habe ... ich bin ... nun lass mich doch endlich los!«

»Ich habe, ich bin!« Torgon schüttelte den Kopf. »Dein Vater hat dir unser Leben in die Hände gelegt! Nun verhalte dich endlich auch entsprechend!«

Lexz versuchte sich erneut aus dem festen Griff zu winden. »Ja, das tue ich doch. Ich muss jetzt aber ... nur der Frau hinterher ...«

»Der Frau hinterher?« Torgon ächzte auf seine typische Art. »Willst du schon wieder einfach davonrennen? Und dann auch noch wegen eines Dorfmädchens?«

»Nein, natürlich nicht«, widersprach Lexz heftig. »Ich bin ja gleich wieder da!«

»Wenn sich ein Fünfjähriger bei seiner Jungjäger-Prüfung so verhielte wie du jetzt gerade, dürfte er anschließend noch nicht einmal mehr die Waffen der anderen pflegen!«, brüllte ihm Torgon ins Ohr und verdrehte dabei seinen Arm so kräftig, dass ein scharfer Schmerz durch Lexz’ Schulter fuhr.

»Aber was faselst du da von irgendeinem Dorfmädchen!«, empörte sich Lexz. »Du spinnst doch! Wir suchen wie wild nach einer Spur von Dragosz’ Leuten - und dann taucht ein Mädchen auf, das mit ihm gezogen ist. Und du lässt es so einfach entkommen?«

»Ich lasse überhaupt niemanden entkommen«, hielt Torgon dagegen. »Aber erstmal geht es darum, dass du nicht wieder wie ein kleiner Rotzjunge wegrennst!«

»Du verstehst ja überhaupt nicht, worum es geht«, fuhr ihn Lexz an - und das, obwohl er dies selbst nicht begriff, wenn er ehrlich war. »Und jetzt lass mich endlich los!«

»Das werde ich nicht tun«, schimpfte Torgon. »Wir hätten gestern Abend unbedingt zusammenbleiben müssen. Zu dritt wären wir viel eher in der Lage gewesen, uns unserer Haut zu erwehren!«

»Ja!«, schrie Lexz. »Und jetzt lass los!«

»Einen Dreck werde ich tun!«, gab Torgon in der gleichen Lautstärke zurück. »Jedenfalls nicht, solange du dich nicht endlich zusammenreißt und die Ehre deines Vaters nicht weiter mit Füßen trittst!«

Seine Worte trafen Lexz heftig, und das wohl deshalb, weil viel mehr Wahrheit in ihnen lag, als er im Augenblick vertragen konnte. Nur mit Mühe und Not konnte er sich zusammenreißen und verhindern, dass ihm etwas sehr, sehr Dummes herausrutschte.

»Lass mich durch, bitte«, sagte er stattdessen in einem fast sanften Tonfall. »Ich bin gleich wieder da.«

Zu seiner Verblüffung gab ihn Torgon tatsächlich frei. »Du musst ja wissen, was du tust«, brüllte er hinter ihm her, als er schon losgespurtet war. »Aber erwarte nicht, dass ich das anschließend vor deinem Vater beschönige!«

Lexz hörte die Worte. Doch sie interessierten ihn im Augenblick überhaupt nicht.

Irgendein Dorfmädchen? Torgon war wohl verrückt geworden. Das war nicht irgendein Dorfmädchen. Das war die Liebe seines Lebens.

Mit einem Satz war er bei den Bäumen und tauchte ins Unterholz ein.

»Das ist dafür, dass du einfach hast fliehen wollen«, brüllte Taru und verpasste Arri eine so heftige Ohrfeige, dass ihr Kopf zur Seite flog. »Und wenn du das noch einmal tust, werde ich dich an Ort und Stelle töten!«

In seiner Stimme schwang so viel Hass mit, dass Arri auch nicht einen Augenblick lang an seinen Worten zweifelte. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Lippen nicht aufgeplatzt waren, und sah Taru herausfordernd an.

»Ich dachte immer, du würdest deinem Vater Ehre machen wollen«, zischte sie. »Aber wie es aussieht, bist und bleibst du nicht mehr als ein kleiner, mieser Raufbold!«

Mit einem kurzen spitzen Aufschrei stürzte sich Taru auf sie. Doch statt sie zu schlagen - worauf Arri vorbereitet gewesen wäre -, krallte er sich in ihre Haare ein und zerrte sie mit sich. »Und wenn ich dich den ganzen Weg bis zum See zurück an den Haaren schleifen muss«, schrie er. »Du wirst mir nicht noch einmal entkommen!«

»Lass das sein«, donnerte Amar, und aus den Augenwinkeln sah Arri, dass er seinen Männern einen Wink gab.

Taru war nur ganz kurz abgelenkt, aber das reichte. Arri rammte ihm mit voller Wucht das rechte Knie zwischen die Beine. Taru stieß ein überraschtes Grunzen aus, ließ ihre Haare los und machte einen unbeholfen torkelnden Schritt zur Seite, bevor er mit einer schon fast lächerlich langsamen Bewegung in die Knie ging und die Hände viel zu spät schützend vor den Unterleib brachte.

Da waren auch schon zwei von Amars Kriegern herangekommen. Ihre Mäntel wehten ebenso wie ihre langen Haare, und Arri erwartete, dass sie ihre Waffen ziehen und sie auf der Stelle erschlagen würden. Mit einer Mischung aus ruhiger Gefasstheit und Angst starrte sie ihnen entgegen - und zuckte zusammen, als sie wie auf ein geheimes Kommando noch im letzten Augenblick die Richtung änderten, Taru unter die Arme griffen, um ihn hochzureißen und mit sich zu zerren.

»Tu das nie wieder«, sagte Amar mit Zorn in der Stimme. Und etwas leiser fuhr er fort: »Wenn du deine Unbeherrschtheit nicht in den Griff bekommst, wird deine Herrschaft nicht einmal ein paar Tage währen.«

Es dauerte eine Weile, bis Arri begriff, dass Amar gar nicht sie angesprochen hatte, sondern Taru, den die beiden Krieger jetzt wieder von sich stießen. Dragosz’ Sohn taumelte ein paar Schritte weiter, bis er vor Amar in die Knie ging. Es war ein Bild des Jammers.

Aber auch Arri kam nicht ungeschoren davon.

»Solltest du jemals so etwas mit mir versuchen«, sagte Amar, während er sich zu ihr umwandte und sie mit einem Blick maß, aus dem jede Wärme verschwunden war, »schneide ich dir die Kehle durch.«

Es dauerte nicht lange, bis Lexz auf das Mädchen stieß. Es hockte an einem kleinen Seitenarm des im Sonnenlicht flirrenden Baches und kühlte die nackten Füße im frischen Wasser, das so unbekümmert und verschwenderisch über flache Kiesel und gefallenes Gezweig hinweggluckste, als hätte es in letzter Zeit nicht einmal im Entferntesten das Anzeichen für einen lebensbedrohenden Wassermangel gegeben. Auch hier fiel Lexz wieder auf, wie viel Laub die Bäume bereits verloren hatten. Dies allerdings aus einem ganz besonderen Grund.

Das Mädchen hockte mit ihrem Rock auf einem Bett aus rotgelben Blättern. Es sah so malerisch und verführerisch aus, dass Lexz’ Herz einen kleinen Sprung machte.

»Ach, Lexz«, sagte sie, als er hinter ihr stehen geblieben war. Sie wandte ihm den Kopf zu und lächelte ihn an. »Willst du dich nicht zu mir setzen?«

Und ob Lexz das wollte! Trotzdem zögerte er. Es erschien alles ... so unwirklich. Als würde gerade ein alter, immer wieder geträumter Traum Realität werden, als wären die Grenzen zwischen dem täglichen Überlebenskampf und dem in unruhigen Nächten verspürten Verlangen nach Liebe plötzlich aufgehoben.

»Wer bist du?«, fragte er, und ehe er es sich versah, setzte er mit der entscheidenden Frage nach: »Bist du Arri?«

»Arri?« Über das Gesicht des Mädchens lief ein Schatten. »Wie kommst du gerade auf sie? Du kannst sie doch nicht einmal kennen!«

Diese Antwort verwirrte Lexz vollständig. Wenn das Mädchen nicht Arri war - und so verstand er ihre Worte -, dann kannte es aber trotzdem diesen Namen? Wie sollte das möglich sein? Arri war nicht von seinem Volk, sondern lebte irgendwo ganz anders. Wenn ihm Dragosz nicht von ihr und ihrer Mutter Lea erzählt hätte, hätte sich ihr Name auch niemals in seinem Kopf festgesetzt.

»Du stehst da und starrst mich an, als sei ich ein Gespenst«, schmollte das Mädchen.

»Wie ...?« Lexz schüttelte leicht den Kopf. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht anstarren.«

»Dann ist es ja gut.« Das Mädchen klopfte einladend neben sich aufs Laub. »Und jetzt setz dich endlich zu mir.«

Lexz atmete tief ein, und erst als er ganz langsam wieder ausgeatmet hatte, wagte er es, der Einladung Folge zu leisten. Sein Herz klopfte viel zu laut und viel zu schnell, als er sich neben die Unbekannte setzte, die seine Seele dennoch so berührte, als kenne er sie schon ewig.

»Ich benehme mich wie ein Dummkopf«, rutschte es aus ihm heraus, obwohl er eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen.

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Sagen wir mal: wie jemand, der in letzter Zeit ganz andere Dinge im Kopf hatte, als mit einem Mädchen am Bach zu sitzen. Wobei du wahrscheinlich in letzter Zeit beides nicht zu Gesicht bekommen hast.«

»Was?«

»Einen Bach - und ein Mädchen wie mich.« Sie sah ihn von der Seite an, und ihr Gesichtsausdruck erschien ihm wieder ein wenig vorwurfsvoll. »Eigentlich sollte ich dir ja böse sein. Warum fragst du nach Arri? Und warum erkennst du mich nicht?«

Das waren zwei Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Er rettete sich in ein verlegenes Lächeln. Dass dabei sein Blick über den noch immer halb freigelegten Brustansatz des Mädchens glitt, trug nicht gerade dazu bei, dass sich seine Gedanken klärten.

»Wir sind gemeinsam aufgewachsen«, half das Mädchen nach. »Nur dass ich damals noch nicht die Heilerin war.«

»Du bist die Heilerin ...?« Lexz schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Natürlich! Entschuldige! Du bist Isana - die Tochter von Kenan, dem Schmied.«

»Erstaunlich, dass dir das noch eingefallen ist«, schmollte Isana. »Ich dachte schon, du hättest mich ganz vergessen.«

»Aber nein, wie könnte ich ...« Lexz rang sich ein verlegenes Lächeln ab. »Aber als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch ein Kind. Jetzt bist du eine Frau«, er bekam einen roten Kopf, »und eine wunderschöne dazu!«

Isana lächelte nun auch. Aber sie rückte ein kleines Stück vor - und damit auch etwas von ihm ab - und beugte sich zu dem Bachausläufer hin, um mit der hohlen Hand etwas Wasser zu schöpfen und sich ihr Gesicht damit zu kühlen. »Das tut gut. Ich bin so weit gelaufen ... und dann bin ich plötzlich auf Torgon gestoßen.«

»Das heißt, euer Dorf liegt ganz in der Nähe?«, fragte Lexz.

Er konnte noch immer nicht begreifen, dass er Isana nicht erkannt hatte. Ganz zweifellos hatte sie sich verändert, sie war schöner und fraulicher geworden. Aber wie blind musste er sein, dass er jemanden aus seinem Heimatdorf nicht erkannte, mit dem er doch aufgewachsen war! Da half auch kaum die Ausrede, dass sie außerhalb der Gemeinschaft in der abgelegenen Schmiede bei ihrem Vater groß geworden war.

Er hätte sie dennoch erkennen müssen.

Isana verfolgte vielleicht ganz ähnliche Gedanken, denn sie antwortete ihm nicht. Aber möglicherweise gab es ja auch noch einen anderen Grund für ihr Schweigen. Vielleicht wollte sie ihm einfach nicht verraten, wo Dragosz und die anderen gesiedelt hatten.

»Das Dorf«, sagte Lexz sanft. »Ihr wohnt doch in einem Dorf?«

Isana nahm eine schwarze Haarsträhne in den Mund und kaute darauf herum. Als sie den Blick bemerkte, mit dem er sie musterte, hörte sie sofort damit auf.

»Dorf ist vielleicht zu viel gesagt«, antwortete sie. »Wir richten uns erst ganz langsam in ein neues Leben ein.«

»Und wo ist das, wo ihr euch einrichtet?«, bohrte Lexz nach.

Isana zuckte mit den Schultern. »Bist du nicht im Streit mit Dragosz?«

»Weil ich dir diese Frage stelle?« Lexz brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. »Nein. Ich will doch nicht herausbekommen, wo euer Dorf ist, um dann dort hinzuschleichen und Dragosz in der Nacht die Kehle durchzuschneiden, wenn du das meinst.«

Isana sah ihn ganz merkwürdig an. Sie schien etwas sagen zu wollen, blickte dann aber stumm ins Wasser.

»Es ergibt doch keinen Sinn, wenn wir uns bekämpfen«, sagte nun Lexz, und zu seiner eigenen Überraschung meinte er diese Worte in diesem Augenblick durchaus ernst. »Wir können nur überleben - sagt unser Schamane.«

»Zakaan?« Isana sah ihn wieder an und ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Züge. »Ja, Zakaan ist jemand, der die Menschen zusammenführt, nicht trennt.«

»Das kann man wirklich so sagen«, bestätigte Lexz. »Aber jetzt verrate mir wenigstens, ob ihr hier in der Nähe lebt.«

»Aber ja.« Isana ließ ihre Hände wieder durchs Wasser gleiten. Sie warf ihm einen scheuen Blick zu - und spritzte ihm dann mit einer schnellen Handbewegung Wasser ins Gesicht. »Arri wohnt hier auch - ganz nah!«

»Arri«, sagte Lexz unbehaglich, während er sich mit der Hand durch das benetzte Gesicht fuhr. »Ein seltener Name.«

Isana warf ihm einen ganz kurzen Seitenblick zu und platschte dann weiter im Wasser. »Du kennst Arri also?«

Lexz zögerte kaum merklich, bevor er den Kopf schüttelte. »Nein. Ich kenne sie nicht.«

»Und doch verwechselst du mich mit ihr?« Isanas Gesicht umwölkte sich, und mit einer schnellen Bewegung nahm sie die Hände aus dem Wasser und trocknete sie sich an ihrem Rock ab. »Findest du das nicht etwas merkwürdig?«

»Ja«, antwortete Lexz mit Unbehagen. »Vielleicht. Natürlich. Aber es ist ...« Erneut fuhr er sich mit der Hand durchs Gesicht. Hätte er doch bloß Arris Namen nie genannt! »Dragosz hat mir einst von ihr erzählt. Von dem Mädchen, das ganz anders aussieht als alle anderen. Mit hellen Haaren und hochgewachsen, fast so groß wie ein Mann.«

»Während ich dunkle Haare habe und so klein bin wie alle Frauen unseres Volkes.« Isana nickte. Als sie Lexz jetzt zum zweiten Mal einen schnellen Seitenblick zuwarf, lag wenig Zuneigung darin.

Eigentlich gar keine, eher Zorn.

Lexz konnte sie ja verstehen.

»Und mich hast du ganz vergessen?«, fragte Isana. »Habe ich dir denn gar nichts bedeutet?«

»Doch«, sagte Lexz, diesmal etwas zu schnell, um wirklich überzeugend zu sein. Er fühlte sich zunehmend unbehaglich. »Ich ...«

»Jetzt sag bloß nicht, du hättest mich nie vergessen«, erwiderte Isana beleidigt. »Das glaube ich dir nicht.«

Lexz zögerte. Welche Antwort er auch gab, es konnte nur die falsche sein. Es sei denn ...

»Ich erinnere mich daran, wie wir uns am Fluss getroffen haben«, sagte er. »Nur du und ich. Die Tochter des strengen Schmieds und der Sohn des noch viel strengeren Ragok.«

»Na, ich glaube, da täuschst du dich«, sagte Isana. »Du kennst Kenan nicht so gut wie ich. Er ist nicht nur der beste Schmied, den man sich vorstellen kann - er ist leider auch der allerstrengste Vater.« Sie rutschte wieder ein Stück näher an Lexz heran. »Und leider bin ich nur ein Mädchen. Und er hat sich doch so sehr einen männlichen Nachfolger gewünscht.«

»Nun«, antwortete Lexz verlegen. »Ich finde das ... gar nicht so schlecht, dass du ein Mädchen bist.«

»Ich auch nicht. Sonst säße jetzt so ein plumper Kerl wie Rar neben dir.« Isana lachte glockenhell auf. »Weißt du noch, wie wir am Fluss herumgetollt sind?«

»Nachdem die anderen weg waren...« Lexz nickte. Und ob er sich erinnerte. Er und Isana waren sich damals ganz nahe gewesen.

»Zum Schluss haben wir uns geküsst«, flüsterte Isana. Und plötzlich klang sie ängstlich.

»Ja«, gab er ebenso leise zurück. »So wie sich Kinder küssen.«

»Dann sollte ich dir vielleicht auch zeigen, wie ich als Frau küsse«, sagte Isana und beugte sich zu ihm hinüber.

Alles geriet zunehmend außer Kontrolle. Taru hielt sich nach wie vor den Unterleib, seine Haltung war so verkrümmt wie die einer Trauerweide, die sich dem Leben spendenden Wasser zuneigt. Immer wieder durchliefen ihn Bewegungen, die ihn wie einen Zitteraal aussehen ließen. Dass er nichts lieber getan hätte, als sich gleich an Ort und Stelle für Arris Tritt zu revanchieren, war nur allzu offensichtlich. Aber die Umstände sprachen gegen ihn.

Amar nutzte die für Taru sowohl schmerzhafte wie demütigende Lage aus, indem er den Jungen mit einem wahren Wortschwall eindeckte, dem der andere einfach nicht gewachsen war. Der Tölpel merkte noch nicht einmal, dass er mit jeder halbherzigen oder dummen Antwort Schritt für Schritt an Boden verlor. Es fehlte nicht viel, und er hätte mit seiner Unbeherrschtheit Dragosz’ Erbe mitsamt des ganzen Pfahldorfes und sämtlicher Bewohner aufs Spiel gesetzt. Dabei schien er noch nicht einmal zu merken, dass es Amar einzig und allein darum ging, den Machtbereich Gosegs auszuweiten - und dabei schon einmal vorzutasten, wie weit er mit Widerstand rechnen musste. Oder eben auch nicht.

Arri spürte eine Wut in sich, der sie keinen Ausdruck verleihen konnte, jedenfalls nicht sofort. Wenn Dragosz jetzt hier wäre, hätte er dieses aufgeblasene Großmaul Amar bestimmt in seine Schranken verwiesen. Aber Taru war nichts weiter als ein kleiner vor Schmerz wimmernder Junge, der gar nicht begriff, dass er, wenn er so weitermachte, sich und sein ganzes Volk Goseg auslieferte.

»Du bist jetzt endlich still!«, herrschte sie Taru schließlich an. »Und sagst kein Wort mehr!«

Taru fuhr zu ihr herum. »Ich soll still sein?« Seine Stimme schrillte wie die eines Kleinkinds, das sich den Kopf angeschlagen hat. »Ausgerechnet du sagst mir das?«, jammerte er. »Hast du denn immer noch nicht begriffen, dass wir dich und dein ekelhaftes Balg ersäufen werden?«

Arri setzte schon dazu an, dem Jammerlappen die passende Antwort zu geben. Aber das erwies sich als unnötig, da Amar es bereits übernahm.

»Ich möchte mich wirklich nicht in euren Familienzwist einmischen«, sagte er in einem Tonfall, der seinen Worten Hohn sprach. »Aber ich weiß wirklich nicht, ob es ratsam ist, die Frau deines Vaters deiner Obhut anzuvertrauen, mein lieber Taru. Vielleicht sollte ich sie besser nach Goseg mitnehmen.«

»Nach Goseg?«, fragten Arri und Taru zugleich, und in ihrer beider Stimmen schwang Entsetzen mit, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Arri hatte Goseg in schlimmer Erinnerung. Die Zeit, die sie dort in einem Gefängnis verbracht hatte, das aus massiven Steinen gebaut war, gehörte zu der schlimmsten ihres Lebens. Und wenn sie dort jetzt wieder landete - dann hätte sie wohl kaum noch die Möglichkeit, irgendwie zu entkommen und Kyrill zu holen, um gemeinsam mit ihm ein neues Leben zu beginnen.

Amar lächelte auf seine überhebliche Art. »Wir werden ohnehin in Goseg Gericht über dich halten, Arri«, verkündete er mit größter Selbstverständlichkeit. »Bis dahin wären wir bereit, dir Gastfreundschaft zu gewähren.«

»Gastfreundschaft?«, ächzte Taru. Er stellte sich wahrscheinlich etwas ganz anderes darunter vor als Amar. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Wir können sehr gut auf sie aufpassen. Und wir werden ihr natürlich auch selbst den Prozess machen.«

Amars Augenbraue wanderte nach oben. »Und du wärest tatsächlich auch bereit, mit deinem eigenem Leben dafür zu bürgen, dass ihr kein Haar gekrümmt wird?«

»Kein Haar gekrümmt?« Es war kein Hass mehr, der jetzt in Tarus Augen aufblitzte, als er sich Arri zuwandte, sondern etwas noch viel Schlimmeres. »Ja, natürlich«, gab er sich selbst die Antwort. »Wir wollen dir doch nicht die Haare krümmen, nicht wahr, Drude?«, zischte er. »Wir werden uns schon etwas anderes für dich ausdenken!«

»Das kann ich mir vorstellen«, antwortete Arri. »Aber vielleicht solltest du das mit dem Denken lieber Rar überlassen. Das kann er nämlich deutlich besser!«

Rar als den Klügeren der beiden zu bezeichnen, war allerdings selbst nicht das Klügste - wie Arri in dem Augenblick wusste, als ihr die Worte entschlüpft waren. Aber sie konnte sie nun nicht mehr zurücknehmen.

In Tarus Augen blitzte denn auch die reinste Mordlust auf. Arri fürchtete schon, dass sie den Bogen überspannt hatte und er nun alle Rücksicht fallen ließ, um ihr auf der Stelle den Schädel einzuschlagen - selbst wenn ihn Amar unmittelbar danach zur Rechenschaft zöge, oder später der Ältestenrat.

Stattdessen richtete er sich zum ersten Mal, seitdem sie ihm den Tritt verpasst hatte, zu seiner vollen Größe auf und maß sie mit einem langen nachdenklichen Blick. Zu Arris Unbehagen hatte er kaum noch etwas von einem trotzigen Kind, das man mit einem kräftigen Tritt in den Unterleib zur Weißglut gereizt hatte. Vielmehr wirkte er nun wie ein Mann, der Mordpläne schmiedete.

Ich krieg dich schon noch, las Arri in seinem Blick. Und ich werde viel Spaß daran haben dich zu töten, ohne dass man mich später dafür belangen kann.

»Du wirst schon noch sehen, wem man das Denken überlassen kann, Drude«, spottete er. »Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob dir das gefallen wird.«

Arri blinzelte. Sie kam schlecht damit zurecht, dass sich Taru mal wie ein kleines Kind verhielt, und im nächsten Augenblick seinem Vater in Gestik und Wortwahl so sehr ähnelte, dass man meinen könnte, er hätte doch das Zeug für den ersten Mann unter den Rakern.

Taru schenkte ihr ein kaltes Lächeln und fuhr sich auf typische Dragosz-Art durch die Haare, bevor er sich wieder Amar zuwandte. Seine Körperhaltung wirkte noch immer etwas verkrümmt, aber diesmal verzichtete er darauf, die getroffene Stelle mit den Händen abzudecken.

»Keine Sorge, Amar, Hohepriester von Goseg«, sagte er steif. »Ich persönlich werde dafür sorgen, dass man Arianrhod keinen Schaden zufügt. Und natürlich werde ich auch dem Ältestenrat deinen Wunsch vortragen, dass wir in Goseg Gericht über sie sitzen.«

»Es ist kein Wunsch, Taru, Sohn des Dragosz«, berichtigte ihn Amar. »Es ist schon seit alters üblich, dass der Hohepriester in allen wesentlichen Streitfällen für die tributpflichtigen Dörfer und Stämme Recht spricht.«

»Tributpflichtig«, nahm Taru das Wort auf, aber jetzt fehlte es ihm dann doch an Mut und Erfahrung, um es so zu verwenden, wie Dragosz es getan hätte. »Das ist ... eine Sache, über die wir noch sprechen müssen.«

Amar nickte fröhlich. »Selbstverständlich. Wir müssen ja noch die Einzelheiten aushandeln. Aber einige Dinge sind auch nicht verhandelbar. Wie zum Beispiel Gosegs Gerichtshoheit.«

Sein Blick ließ Taru los und wanderte nach oben. Arri konnte ihm das nicht verdenken. Es war ihr schon die ganze Zeit über aufgefallen, dass sich dort oben ganz merkwürdige Dinge abspielten. Aber bislang war sie nicht in der Lage gewesen, auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden.

Das änderte sich jetzt. Die dunklen Wolkengebilde, die das Tal umschlossen, hatten sich weiter aufgetürmt, und die grauweißen Fetzen, die über dem Tal hingen, schienen sich nicht nur verdichtet zu haben: Sie hatten sich auch farblich verändert.

»In die Wolken fließt helles Blut«, murmelte Amar.

Besser hätte man es nicht ausdrücken können. In die Wolken über dem Tal war tatsächlich ein heller Rotton eingeflossen, wie das manchmal so ähnlich knapp vor Tagesanbruch der Fall war. Aber dies hier, jetzt ... das sah ganz merkwürdig aus. Das Rot floss regelrecht von außen in die Wolken hinein und verwirbelte dort. Woher es aber kam, war nicht erkenntlich.

»Ein Kampf auf Leben und Tod«, murmelte der Hohepriester schaudernd. »Blut, das in Strömen fließt.«

Er riss seinen Blick wieder von den Wolken los und blinzelte, während er die Arme so fest verschränkte, als müsse er sich selbst festhalten. Arri hatte gar nicht gewusst, dass er auch anders als überheblich oder herablassend aussehen konnte. Aber genau das war jetzt der Fall. Er wirkte verunsichert, und die weichen Züge seines jugendlichen Gesichtes machten einen eckigeren und kantigeren Eindruck.

Bevor Arri dazu kam, weiter darüber nachzudenken, machte er ein paar Schritte auf sie zu. Erst kurz vor ihr blieb er stehen und maß sie mit einem Blick, als sähe er sie zum ersten Mal. »Weißt du etwas darüber, Drude?«, fragte er leise.

Es war das erste Mal, dass er sie Drude nannte. Arri konnte nicht behaupten, dass ihr das gefiel.

»Nein, ich weiß auch nicht, was hier gerade geschieht«, antwortete sie ruhig. »Wir haben in den letzten Jahren vieles gesehen, und oft hat sich der Himmel verändert, bevor das Wetter umschlug. Das jetzt wird wohl auch wieder etwas mit einem Wetterumschwung zu tun haben.«

»Nein.« Amar schüttelte entschieden den Kopf. »Das ist es nicht. Und du weißt es.«

»Da täuschst du dich«, widersprach Arri. »Ein roter Himmel kann manches bedeuten. Zum Beispiel ein Feuer ...«

»Ein Feuer«, unterbrach sie Amar aufgebracht. »Willst du mir wirklich erzählen«, er deutete nach oben, ließ sie dabei aber nicht aus den Augen, »dies dort sei der Widerschein eines Feuers?«

Nein, das wollte sie natürlich nicht. Ihr Blick wanderte nach oben.

Amar hatte tatsächlich recht. Es sah aus, als flösse Blut in den Wolken. Arri erkannte das, und in einem anderen Fall wäre sie jetzt erschauert. Aber das konnte sie nicht mehr. Es war nur noch Leere in ihr, und das Wissen, dass hier gewaltige Dinge vor sich gingen, deren Hintergründe sie nicht im Geringsten verstand.

»Ich glaube nicht, dass wir so weiterkommen«, sagte Amar. »Es wird Zeit, dass sich die Toten darum kümmern.«

Taru riss schon den Mund auf, Arri aber schüttelte den Kopf. »Die Toten?«, fragte sie ungläubig.

»Ja.« Amar machte ein Zeichen, und die beiden Männer, die sich gerade ohne viel Feingefühl um Taru gekümmert hatten, eilten heran.

Amar trat in der Zwischenzeit ganz nah zu ihr hin. Erst aus der Nähe sah Arri, dass er wohl doch etwas älter war, als sie geglaubt hatte. Aber nicht das war es, was sie beunruhigte. In den Augen, die aus der Entfernung so harmlos und freundlich wirkten, schimmerte etwas tief Verborgenes, das sie nicht einordnen konnte. Dieser Mann schien ihr nicht nur ganz und gar außergewöhnlich, irgendetwas stimmte auch nicht mit ihm.

»Eine Drude ist eine Frau, die über geheimes Wissen verfügt«, sagte er. »Damit kann sie Menschen verderben. Sie kann ihnen aber auch helfen. Welche Art von Drude bist du?«

»Ich?« Arri schüttelte den Kopf. »Ich bin gar keine Drude.«

»Das«, sagte Amar, »ist die falsche Antwort.«

Ehe es sich Arri versah, stieß er sie von sich, in die Hände seiner Krieger.

Sie taumelte, griff haltsuchend instinktiv um sich und bekam ein Stück Stoff zu fassen. Im nächsten Augenblick packten sie auch schon Amars Männer und zerrten sie mit so wenig Feingefühl mit sich, dass sie es überhaupt nur mit schnellen Trippelschritten schaffte, mit ihnen mitzuhalten. Sie taten ihr dabei zwar nicht vorsätzlich weh oder versetzten ihr gar einen Knuff in die Seite, aber in seiner Bedeutung war ihr Verhalten dennoch unmissverständlich. Amar mochte rücksichtsvoller als Taru oder Rar sein, doch auch sein Langmut kannte Grenzen.

»Bringt sie ins Haus«, sagte Amar. »Sie und diesen Wurm, der sich von einer Frau in die Eingeweide treten lässt.«

Irgendwo im dichten Unterholz hinter ihnen knackte es mehrfach. Dies war ein kaum wahrnehmbares Geräusch, das sich nur durch die Wiederholung von der gewöhnlichen Geräuschkulisse eines Waldes abhob. Lexz wurde sich dessen erst bewusst, als ihn Isana unsanft beiseiteschob und über seine Schulter hinweg zum Wald hinüberblickte.

»Da war doch was«, murmelte sie.

Lexz schüttelte den Kopf und versuchte ihr mit einem Kuss den Mund zu verschließen. Aber sie drehte sich unter ihm weg und wich zur Seite aus. Blätter stoben auf, als sie sich in eine sitzende Position aufrichtete und fast ängstlich wisperte: »Ich bin mir aber ganz sicher. Da muss jemand sein!«

»Nein«, flüsterte Lexz. »Da ist niemand. Das sind nur die üblichen Geräusche in einem lebendigen Wald.«

Sein Herz klopfte noch schneller, als sie sich nun zu ihm hinüberbeugte, und er streckte die Arme aus, um sie wieder an sich zu ziehen. Sie ließ es zu, aber nur, um ihm einen leichten Kuss auf die Stirn zu drücken und zu flüstern: »Ich bin mir sicher, dass uns jemand zusieht.«

Lexz seufzte, und durch seinen Kopf schossen die abenteuerlichsten Gedanken. Auf keinen Fall wollte er sich den Zauber des Augenblicks rauben lassen. Alles in ihm begehrte diese Frau, die er zuerst für Arri gehalten hatte. Sie war so weich und anschmiegsam, so ganz und gar anders als die anderen Frauen, mit denen er bislang ein Lager geteilt hatte, gleichermaßen fordernd wie hingebungsvoll. Die Berührungen ihrer Hände, ihre Küsse, das Verlangen, das zur Antwort darauf in ihm wuchs ...

»Hörst du denn nichts?«

Lexz schüttelte den Kopf. Er wollte diesem dummen Knacken nicht nachgehen, das ohnehin schon wieder aufgehört hatte. Er wollte lieber da weitermachen, wo sie gerade aufgehört hatten. Isana - allein sie war wichtig, sonst nichts ... und außerdem hatte er in seinem Leben genug Geräusche in Wäldern gehört, um Bedrohliches von Alltäglichem unterscheiden zu können.

Doch damit hatte er hier keinen Erfolg. Isana verhielt sich wie ein junges Vögelchen, das aufgeschreckt war und nun nicht recht wusste, was es tun sollte. Die Hände, mit denen sie eben noch seinen Körper erkundet hatte, zitterten nun, während der Blick ihrer weit aufgerissenen Augen das Muster aus braunen und grünen Schatten und die ineinandergekrallten Umrisse hinter ihnen absuchte.

»Also gut«, murmelte Lexz. Bislang hatte er sich immer ganz gut auf seinen Instinkt verlassen können, der ihn zuverlässig gewarnt hätte, sofern es dafür wirklich einen Grund gab. Aber vielleicht war er eben ja einfach auch zu abgelenkt gewesen, um angemessen reagieren zu können.

Jetzt war er es, der Isana sanft von sich schob, um sich dann auf die Seite zu drehen. Der Wald hinter ihnen wirkte dicht ... und war es auch wieder nicht. Äste und Zweige schienen vielfach eng ineinander verwachsen, aber sie ließen dazwischen auch genug Platz, um hindurchzuschlüpfen.

»Was genau hast du gesehen?«, flüsterte Lexz.

Isana schien nicht genau zu wissen, was sie darauf sagen sollte, und so fuhr sie sich nur mit der Zungenspitze über die Lippen und reckte den Kopf, um in die Richtung zu blicken, aus der das Knacken erklungen war. »Eigentlich gar nichts«, bekannte sie.

Das beruhigte Lexz aber nicht, eher im Gegenteil.

Etwas stimmte tatsächlich nicht. Es waren nicht zu viele Geräusche, die an sein Ohr drangen, sondern zu wenige. Das leise Säuseln des Windes, das Rascheln der Pflanzen in der frischen Brise, das Murmeln und Glucksen des Wassers hinter sich - das war alles. Er hörte weder das Surren von Insekten noch das Huschen kleinerer Tiere, die sich ihren Weg durch das Gebüsch bahnten.

Und dann war da noch mehr. Das Sonnenlicht flirrte durch das Blätterdach, doch dazwischen gab es auch dunkle Stellen, fast schwarze, so als hätten Mardans Schattendämonen ihre dunklen Schleier über sie ausgebreitet. Wenn sich jemand hätte anschleichen wollen, dann hätte er dort genug Deckung gefunden.

Lexz erhob sich langsam, reckte sich wie nach einem langen Schlaf und drehte sich dabei um seine eigene Achse. Dabei ließ er seinen Blick prüfend über die Umgebung schweifen und räumte sich selbst ein, dass er schon wieder einen Fehler begangen hatte. Überprüfe zuallererst deine Umgebung!, hörte er Zakaans Stimme flüstern. Nicht alles, was harmlos erscheint, muss auch harmlos sein.

In der Tat wirkte alles recht harmlos hier. Aber er verstand jetzt, wie Isana darauf gekommen war, dass sie beobachtet wurde. Ihm erging es nicht anders. Es war das unangenehme Gefühl, angestarrt zu werden, ohne zu wissen von wem und von wo.

Er wandte sich wieder Isana zu, die aus angstrunden Augen zu ihm nach oben blickte. »Ich habe Hunger«, sagte er und blinzelte ihr in der Hoffnung zu, dass sie seine Worte dann richtig einordnen konnte. »Lass uns ein paar Beeren sammeln.«

»Ja.« Isana nickte eifrig, zupfte ihren Rock zurecht und stand auf. »Vorhin habe ich sogar ein paar Pilze gesehen ...«

Lexz zögerte nicht mehr länger. Er griff nach Isanas Hand und zog sie fast unsanft zu sich hoch. Eben noch hatte sein Körper auf ihre Gegenwart ganz eindeutig angesprochen. Doch jetzt war er sich sowohl ihrer verführerischen Nähe bewusst, als auch der Gefahr, die sich spürbar um sie herum zusammenzog.

Isana stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: »Vielleicht ein wildes Tier?«

Er schüttelte den Kopf. Möglicherweise hatte sie gleich wahrgenommen, was auch ihm aufgefallen war: Raubtiergeruch. Aber er hatte den Toten nicht vergessen, den er entdeckt hatte, kurz bevor er auf Torgon gestoßen war. Die Höhlenmenschen steckten in Fellen - und sie stanken. Ohne Zweifel war das ein Nachteil für sie, falls sie sich unbemerkt anschleichen wollten. Für ihn aber war es ein Vorteil.

»Lass uns nachsehen, was die anderen machen«, sagte er. »Unterwegs können wir ja nach etwas Essbarem Ausschau halten.«

Er bückte sich, um das Schwert aufzunehmen, das er mitsamt der Lederscheide neben sich abgelegt hatte, während er und Isana sich nähergekommen waren. Irgendetwas warnte ihn jedoch, und er packte die Waffe und riss sie mit einem Ruck aus der Lederscheide. Mit einem zischenden Laut fuhr das Schwert durch die Luft und machte einen scharfen Bogen über Isanas Kopf hinweg.

Sie stieß einen erschrockenen Laut aus und taumelte zurück. »Was soll das? Warum erschreckst du mich so?«

Lexz stieß ein nervöses Lachen aus. »Ich wollte nur sehen, ob ich das Schwert noch kraftvoll führen kann, nachdem ...« Er brach ab, befestigte die Lederscheide zwar an seinem Rücken, steckte das einst von Isanas Vater Kenan gefertigte Bronzeschwert aber nicht mehr in die Scheide zurück.

Er war sicher, dass er etwas gesehen hatte. Ein Huschen. Die schnelle Bewegung einer Hand, die nach einer Waffe griff. Oder irgendetwas anderes, das auf einen bevorstehenden Angriff hindeutete.

»Lass uns verschwinden«, raunte er Isana ins Ohr.

Sie nickte, reckte sich abermals empor und küsste ihn auf den Mund. »Sei vorsichtig«, gab sie leise zurück. »Ich habe Angst. Wir müssen schnell zu deinen Freunden. Denn allein ...«

»... haben wir keine Chance«, hatte sie vielleicht sagen wollen.

Lexz erriet den Sinn ihrer Worte im selben Augenblick, als er die Bewegung wahrnahm, die aus der graugrünen Dunkelheit hervorbrach.

Er packte Isana an der Schulter und riss sie zurück, um sie mit seinem Körper zu decken. Und das keinen Augenblick zu früh. Ganz kurz sah er eine dunkle Gestalt, die zwischen den Bäumen hervortrat, und erwartete, dass sie auf ihn zustürzen werde, um ihn mit einer Keule oder einer Steinaxt zu attackieren.

Aber es kam anders.

Er sah, wie ein Bogen gehoben wurde, und dann schnellte auch schon der Pfeil von der Sehne ...

Kapitel 12

Amar war vorausgeeilt, und auch Taru war schon längst im Inneren des Hauses verschwunden, bevor man Arri endlich hineinführte und die schmale Stiege nach oben betreten ließ. Mit jedem Schritt, den sie hochstieg, fühlte sie sich unbehaglicher. Eine merkwürdig gedrückte und angespannte Stimmung herrschte in dem Langhaus, der sie sich selbst dann nicht hätte entziehen können, wenn ihr Amars Worte von vorhin nicht noch im Kopf herumgespukt wären.

»Das ist die falsche Antwort«, hatte Amar gesagt, als sie behauptet hatte, keine Drude zu sein.

Was meinte er damit bloß? Warum sollte das die falsche Antwort sein?

Und was, dachte Arri, ist eigentlich eine Drude?

Darunter mochte jeder etwas anderes verstehen, meist jedoch nichts Gutes. Für Arri war es vor allem ein Schimpfwort, mit dem man sie schon früher öfter bedacht hatte. Nun konnte sie es bald nicht mehr hören.

Die Stufen knarrten unter ihren Füßen, und der Mann, der hinter ihr ging, gab ihr mit einem klatschenden Klaps zu verstehen, dass sie ihre Schritte beschleunigen sollte. Dieser unfreundlichen Aufforderung hätte es nun wirklich nicht bedurft. Mit klopfendem Herzen eilte sie die letzten Stufen empor. Sie hatte nicht vergessen, dass sie Larkar in diesem Haus zurückgelassen hatte. Würde sie nun auch den Speerträger wiedersehen?

Und was war mit den Toten, von denen Amar gesprochen hatte?

Als sie oben angekommen war, wollte sie erst einmal stehen bleiben, um sich zu orientieren. Der mürrische Krieger hinter ihr ließ ihr jedoch nicht die Zeit, sondern stieß sie grob beiseite und betrat neben ihr den einzigen Raum, der sich hier oben unter dem runden Reetdach vor ihnen auftat.

Es war nicht so dunkel, wie sie es in einem fensterlosen Raum erwartet hätte. Mehrere Schalenlampen verbreiteten ein flackerndes, gemütliches Licht, das Arri an die besseren Zeiten in der Hütte ihrer Mutter erinnerte. Aber das war so lange her, dass es schon fast nicht mehr wirklich geschehen schien, und die Erinnerung daran war nicht mehr als ein scharfer, kurzer Stich, der schmerzte, weil sie unwiederbringlich das verloren hatte, was ihr seinerzeit als manchmal langweiliges und zu gemächlich voranschreitendes Leben erschienen war.

Sie brauchte eine Weile, um sich auf den unruhigen, schwachen Schein einzustellen und zu begreifen, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Mehrere Krieger hatten sich unter den Dachschrägen auf den Boden gehockt. Sie starrten ihr auf eine unangenehme Art entgegen, fast so, als missbilligten sie, sie hier zu sehen. Dass ihre Waffen griffbereit neben ihnen lagen, verstärkte das Gefühl der Bedrohung noch, das ihr wie ein schlechter Geruch entgegenschlug.

Arri widmete den Männern einen allenfalls flüchtigen Blick. Viel mehr als Amars Krieger interessierte sie jedoch der Mann, der gefesselt ein Stück weiter hinten auf dem Boden hockte. Als er sie bemerkte, blinzelte er erschrocken, schüttelte dann den Kopf, als hätte er gehofft, sie hier nicht sehen zu müssen, und rang sich dann ein trauriges Lächeln ab.

»Larkar«, flüsterte sie.

Zwar wurde der Laut von dem Raum verschluckt, aber Larkar schien ihn trotzdem verstanden zu haben - vielleicht hatte er ihn auch von ihren Lippen abgelesen. Er nickte ganz leicht und zuckte dann mit den Schultern, wie um anzudeuten, dass er ihr keine große Hilfe sein könne.

Damit hatte Arri auch nicht gerechnet. Trotzdem war sie froh, den Speerträger hier lebend zu sehen. Immerhin hätte es auch sein können, dass er schon längst tot war.

Das allein reichte jedoch nicht, um ihr Herz zu wärmen. Ganz im Gegenteil: Sie hatte das Gefühl, kaum noch richtig durchatmen zu können. Die Luft war schwer und tranig - und legte sich auf ihre Gedanken. Das Schlimmste aber schien ihr, dass sie das Gefühl hatte, in eine Gruft getreten zu sein.

Und als erwarte sie hier etwas ganz Fürchterliches.

Dazu passte, dass Amar in einer merkwürdigen Haltung am anderen Ende des Raumes stand. Er hatte die Arme verschränkt und sah ihr auf eine mürrische Art entgegen, wie sie sie eher von Taru erwartet hatte. Von dem jedoch fehlte jede Spur. War er etwa noch unten im Haus? Oder hatte man ihn inzwischen an einen anderen Ort gebracht?

»Niemand hat das Recht, hier zu sein«, sagte Amar zur Begrüßung. »Niemand darf wissen, was du erfahren wirst.«

Arri starrte ihn wortlos an. Neben ihm bemerkte sie einen kostbaren Kupferkessel, der auf einem Holzschemel stand, und in der Dachschräge verschiedene Schalen und Tongefäße, die zumindest aus der Entfernung so aussahen, als seien sie mit Tinkturen, Salben und gestampften Substanzen gefüllt. Es sah fast so aus wie in der Hütte, die man ihr als Heilerin zugeteilt hatte, und in der sie neben Heilkräutern auch noch alles Mögliche andere aufbewahrte, das eine heilende Wirkung versprach. Aber was sollte eine solche Sammlung hier für einen Zweck erfüllen? Wen galt es zu heilen?

Hinter dem Hohepriester war etwas, das er mit seinem Körper zwar fast, aber nicht vollständig abdeckte. Arri hatte den flüchtigen Eindruck von etwas Lebendigem, das sich dort befand. Sie glaubte ein Knacken und Knirschen zu hören. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als werde ihr Herz von einer eiskalten Hand zusammengedrückt.

»Wenn du auch nur ein Wort über das verlierst, was du hier erfahren wirst, musst du sterben«, sagte Amar ruhig. »Und es wird kein leichter Tod sein, das kann ich dir versprechen.«

Arri nickte nur benommen. Sie hätte jetzt kein einziges Wort herausgebracht.

Das schien der Hohepriester allerdings auch gar nicht erwartet zu haben. Er stieß die Luft wie jemand aus, der eine große körperliche Leistung vollbracht hatte, dann trat er einen Schritt zur Seite.

Arri stöhnte auf, als sie sah, was er verdeckt hatte.

Das Knacken und Knarren stammte von einem großen Korbstuhl, der an der ihr gegenüberliegenden Wand wie ein Thron aufgebaut war. Einen solchen Stuhl hatte sie schon früher einmal gesehen, mitten im Heiligtum von Goseg. Aber das, was in gekrümmter Haltung darin hockte, hatte sie damals nicht gesehen.

Es war kein Mensch, sondern ein Wurm, der da im Korbstuhl saß, ein riesiger, menschengroßer Wurm.

Einer von Amars Kriegern stieß sie vorwärts, und so stolperte sie auf den hässlichen Wurm zu. Man hatte ihn in ein kostbares Gewand gesteckt, und als wollte man ihn auch noch verhöhnen, lag dort, wo sich bei einem Menschen der Schoß befand, eine Scheibe aus Bronze, die ein begnadeter Schmied mit Goldblech belegt hatte.

Arri glaubte ihren Augen nicht zu trauen. War dies etwa die Himmelsscheibe, von der ihre Mutter immer gesprochen hatte? Aber wie sollte sie dann hierhin gekommen sein?

Als sie am Korbstuhl ankam, trat der Krieger hastig hinter ihr zurück. Fast hatte Arri das Gefühl, als fliehe er vor diesem riesigen Wurm, zu dem er sie hatte bringen müssen.

Wegen eines Geräusches vor sich schreckte sie aus ihren düsteren Gedanken auf. Sie wollte noch zurückspringen, aber es war zu spät. Der Wurm bewegte sich, er beugte sich ein Stück zu ihr vor.

»Arri.«

Es klang nicht nach einem menschlichen Laut, sondern eher wie das Geräusch von rissigem Holz, das aneinandergerieben wird.

Arri stöhnte auf, als sie dorthin blickte, wo bei einem Menschen das Gesicht gewesen wäre. Ja. Da waren schon Augen, da war ein Mund, und auch der Ansatz einer Nase. Aber sie war verrutscht, und der Mund nur ein kleines schiefes Loch.

»Eigentlich bin ich längst schon tot«, knarzte das schreckliche Wesen. »Aber ich nehme das einfach nicht hin.«

Als hätte es sich mit diesem Satz bereits verausgabt, schüttelte eine fürchterliche Bewegung das Wesen. Und Arri begriff ihren schrecklichen Irrtum. Das war kein Wurm und auch kein Dämon, wie es eine hartnäckig wispernde Stimme in ihrem Hinterkopf behauptet hatte: Es war doch ein Mensch.

Aber ein Mensch, der durch irgendetwas so grauenhaft missgestaltet worden war, dass er als solcher überhaupt nicht mehr erkennbar schien.

»Wer ...« Arri schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wer bist du?«

Eine knorrige, verkrüppelte Hand fuhr nach vorn. Arri hätte ausweichen können, und sie wollte es auch. Aber sie war wie gelähmt. Und als sie die Absicht des Missgestalteten begriff, war es längst zu spät.

Die Krallenhand griff nach ihr, packte ihr Handgelenk und hielt es mit erstaunlicher Kraft umklammert. Arri stöhnte gegen ihren Willen auf und wollte sich instinktiv aus dem Griff befreien, bis sie begriff, mit wem sie es hier zu tun hatte.

»Nor!«

Der Missgestaltete nickte, auch das war eine fürchterliche, unmenschlich wirkende Bewegung.

»Ja, ich bin Nor, der Hohepriester von Goseg«, bestätigte er. »Und ich habe dich gesucht, Arri. So lange schon gesucht.«

Der letzte Teil seiner Worte war kaum zu verstehen, dermaßen tief und rau war seine Stimme geworden. Aber trotzdem trafen die Silben Arri wie Faustschläge.

Jetzt, da sie wusste, wer es war, erkannte sie auch immer mehr Ähnlichkeiten. Nor war schon immer abgrundtief hässlich gewesen, und dazu noch vollkommen haarlos. Das, was die Veränderung in ihm hervorgerufen hatte, musste ihn schon sehr lange quälen. Aber in den letzten zwei Jahren hatte es ihn offenbar in etwas verwandelt, das ihn jede Ähnlichkeit mit dem Menschen, der er mal gewesen war, verlieren ließ.

»Ich dachte ...« Sie schluckte krampfhaft. »Du seist ...«

»Tot?« Nor nickte, aber endlich gab er ihr Handgelenk wieder frei. »Ja, das bin ich auch. Und solange ich tot bin, ist Amar der Hohepriester.«

Arri hatte inzwischen das Gefühl, überhaupt keine Luft mehr zu bekommen. Das war alles zu viel.

Nor klopfte mit seiner schrecklichen Krallenhand auf die Bronzescheibe, die auf seinem Schoß lag. Sie war tatsächlich aufwendig gefertigt und schien ein wahres Meisterwerk aus mehrfach getriebener und immer wieder aufs Neue gehärteter Bronze zu sein, wie auch ihre dunkle Färbung bewies. Auf der ebenen Fläche waren goldene Punkte angebracht, und ihre Seiten hatte man mit ebenfalls goldenen Barken geschmückt. Doch für Arri reichte ein flüchtiger Blick, um sie erkennen zu lassen, dass zwar alle Einzelheiten vorhanden waren, aber anders angeordnet erschienen als auf der Scheibe, die nach dem Tod ihrer Mutter in ihren Besitz gelangt war.

»Ich brauche die Himmelsscheibe, die seit ewigen Zeiten im Besitz der Deinen war«, knarrte Nor. »Ich muss wissen, wo das Land unserer Stammväter liegt.«

»Unserer Stammväter?«, wiederholte Arri verständnislos.

Nor holte rasselnd Atem und machte dabei ein Geräusch, das vielleicht auch ein Lachen hätte sein können. In Arris Ohren klang es einfach nur grauenvoll.

»Ja, unsere Stammväter«, die Augen Nors sahen wie zwei unterschiedlich große schwarze Kiesel aus, die man ohne viel Feingefühl in mürben Teig gedrückt hatte. Jetzt bohrte sich ihr Blick in den Arris. »In den Zeiten der großen Kälte ist ein Teil unseres Volkes nach Norden gezogen. Dazu gehörst du. Ein anderer Teil zog aber nach Osten«, ein verkrümmter Finger, der als solcher gar nicht richtig zu erkennen war, deutete auf Larkar, »dazu gehört dieser Einfaltspinsel. Der größere Teil aber blieb in der Nähe ihrer Stammväter - und erbaute Goseg.«

Arri starrte ihn wortlos an. Dragosz und sie, Amar und Larkar - sie alle hatten demnach die gleichen Vorfahren?

»Ich sehe, dass du zu verstehen beginnst«, sagte Nor auf seine raue, knarrende Weise. »Wir sind alle miteinander verwandt.«

Arri nickte. Das klang vollkommen verrückt. Aber tief in ihr spürte sie, dass jedes Wort wahr war. Da hatte es von Anfang an eine Verbundenheit mit den Rakern gegeben, die sie sich nie wirklich erklären konnte.

»Unsere Stammväter wurden von einer schrecklichen Krankheit heimgesucht«, sagte Nor. »Und die ist nun wieder ausgebrochen ...«, der letzte Teil seines Satzes verlor sich in einem entsetzlich rasselnden Geräusch, und Nor kroch förmlich in seinen Stuhl hinein. Das Korbgeflecht knarrte protestierend, als er sich wand, nun wieder mehr ein Wurm als ein Mensch.

»Ich glaube ...«, begann Amar von irgendwo hinter ihm. Aber der Wurm schüttelte den Kopf ... und wurde wieder zum Menschen.

»Nein.« Die Stimme klang jetzt anders, zwar immer noch rasselnd, doch gleichzeitig wie das Heulen eines Windstoßes, der durch ein Baumloch fährt, »ich will es ihr selbst erklären.«

Nor richtete sich erneut in seinem Stuhl auf. Seine Krallen umklammerten die Lehnen und das schreckliche Sich-Winden kam zur Ruhe. »Unsere Stammväter haben ein Heilmittel gegen die Krankheit gefunden, die mich verstümmelte. Sie haben es dem Grab eines ihrer Stammesfürsten beigelegt.«

Arri starrte ihn verständnislos an. »Aber was hat das mit der Himmelsscheibe zu tun?«

»Die Himmelsscheibe zeigt eine bestimmte Sternenkonstellation«, presste Nor mühsam hervor. »Und die ist ... so ... nur von der Heimat unserer Stammväter aus erkennbar.«

Jetzt verstand Arri. »Du willst dir das Heilmittel aus dem Grab holen«, sagte sie aufgeregt. »Und du brauchst die Himmelsscheibe, um den Ort zu finden, wo man unseren gemeinsamen Vorfahren beigesetzt hat.«

Nor nickte fast unmerklich. »Die Himmelsscheibe - und die Hoffnung, dass sie mich wirklich dahin führt, wo ich ein Mittel finden werde, um mein Leben zu retten ...« Seine Stimme erstarb fast. »Aber nicht nur mein Leben, mein Kind. Sondern auch das vieler anderer.«

Die tiefschwarzen Augen schlossen sich ohne Vorwarnung, und dann gab Nor ein schnarchendes Geräusch von sich.

Arri rührte sich nicht von der Stelle. Die Angst vor dem uralten, kranken Mann war so gründlich erloschen, als hätte sie niemals existiert. An ihrer Stelle verspürte sie plötzlich eine mindestens ebenso große, schmerzende Leere.

»Und was erwartest du jetzt von mir?«, flüsterte sie.

»Das ist doch wohl offensichtlich«, sagte Amar hinter ihr. »Wir brauchen die Himmelsscheibe. Und das so schnell wie möglich.«

Arri drehte sich zu dem Hohepriester um. »Und wenn ich nun gar nicht weiß, wo sie ist?«

Amar starrte sie böse an. »Und wenn ich dir das nun nicht glaube?«

»Es ist aber wahr«, sagte Arri. »Frag Nor. Meine Mutter besaß die Himmelsscheibe nicht - wie sollte ich sie da haben?«

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie beide zusammenzucken, und Arri wandte sich wieder zu dem uralten Mann um, der sich so grässlich verwandelt hatte.

Wie ein nasser Sack hing Nor in seinem Stuhl. Aber seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geöffnet. »Sie spricht die Wahrheit.«

»Aber ich dachte ...«, sagte Amar verwirrt.

»Dass wir sie durch Arri finden könnten?« Nor nickte kaum merklich. »Das wird auch geschehen. Wenn sie sich auf sich selbst verlässt - und wenn sie den bereits Kranken helfen will ... und ihrem eigenen Volk ...« Seine Stimme sank wieder herab, und er brabbelte etwas, das kaum verständlich war. Aus dem winzigen schiefen Mund rann plötzlich ein Speichelfaden hinab.

Arri glaubte schon, er wäre jetzt vollständig verstummt. Doch dann fuhr Nor noch einmal hoch, und diesmal deutete sein verkrüppelter Finger auf sie selbst.

»Frag deine Mutter, Kind«, sagte er. »Vertrau dich ihrem Rat an. Sie wird dich leiten!«

»Aber«, wehrte Arri ab, »meine Mutter ist doch tot!«

Nor nickte. »Ja. Das ist sie. Genau wie ich.«

»Hier rauf!«, schrie Isana.

Sie griff nach Lexz’ Arm und zerrte ihn mit erstaunlicher Kraft in die Richtung, in die der Hügel weiter anstieg, den sie schon zur Hälfte hochgelaufen waren. Wenn jetzt aber jemand mit Pfeil und Bogen auf sie anlegte, dann wären sie verloren. Was für ein Wahnsinn, hier über die Lichtung zu laufen, statt den Weg durchs Unterholz zu wählen.

Doch es ging gut. Zumindest, bis sie die Hügelkuppe erreicht hatten. Es war kein Pfeil, der sie stoppte, indem er sich in einen von ihnen beiden bohrte. Es war ein keulenschwingender, in dunkle Felle gekleideter Mann, der aus dem Gestrüpp brach und sich mit einem kämpferischen Aufschrei auf sie stürzte.

Lexz empfing ihn mit einem Schlag, in den er seine ganze Wut legte. Der Angreifer riss die Keule nach oben, doch er kam zu spät. Das Schwert von Isanas Vater fuhr in seinen Hals und spießte ihn regelrecht auf. Dem Bärtigen quollen beinahe die Augen aus dem Kopf, und dann platzten die ersten Äderchen in seinen Augäpfeln. Mit einem Aufschrei riss Lexz sein Schwert zurück. Aus dem Hals des Mannes pulste ihm eine Blutfontäne entgegen, und plötzlich war alles rotgesprenkelt. Der Bärtige gab einen schrecklichen Laut von sich, der Lexz durch Mark und Bein ging, und torkelte auf ihn zu. Immer mehr Blut sprudelte aus seinem Hals, und Lexz wurde über und über mit dem roten Lebenssaft besudelt.

Isana schrie auf. Lexz wollte sich zu ihr umdrehen. Aber er konnte es nicht. Er war wie gelähmt. Es war nicht der erste Mann, den er im Kampf tötete. Aber noch nie zuvor war es so schnell gegangen, und auf so widerliche Weise. Dabei kannte Lexz den Mann nicht, und sein Schicksal ging ihn auch nichts an. Aber das hier ... so sollte niemand sterben.

Der Mann spuckte Blut. Dennoch brachte er irgendwie die rechte Hand hoch. Lexz wusste nicht, ob ihn ein fürchterlicher Instinkt dazu antrieb, denjenigen in den Tod mitnehmen zu wollen, der ihm das angetan hatte. Es spielte auch keine Rolle. Die Finger des Bärtigen öffneten sich, und Lexz sah, wie die Keule zu Boden fiel.

Dann schien es aber endlos zu dauern, bis sie auf den Boden prallte. Poliertes Eschenholz, dachte Lexz. Sauber poliertes Eschenholz.

Dann endlich schlug die Keule auf dem weichen Erdreich auf.

Der Mann, der sie in den Händen gehalten hatte, hielt sich nach wie vor auf den Füßen. Die Wunde in seinem Hals sprudelte in einem makaberen Rhythmus Blut hervor, doch er selbst tat jetzt einen Schritt nach vorn.

Isana schrie noch einmal, schrill und leidend, und nun, endlich, reagierte auch Lexz. Er brachte das blutige Schwert hoch und drehte sich herum.

Vielmehr wollte er dies tun. Aber da tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein zweiter Angreifer auf.

Nein! Lexz sah, wie sich Isana unter dem Griff des Mannes hinwegduckte, und er erkannte auch die Panik in ihren Augen. Er musste den Kerl aufhalten, sich dann Isana schnappen und gemeinsam mit ihr in die Richtung fliehen, in der er Torgon und Ekarna vermutete.

Es war nur so ein verrückter, flüchtiger Gedanke. Noch bevor er ihn zu Ende gedacht hatte, sprang ihn der Kerl an. Lexz wollte schon ausweichen, mit dem Schwert zuschlagen. Aber der Höhlenbewohner unterlief seine Bewegungen und warf ihn mit purer Körperkraft zurück.

Lexz verlor das Gleichgewicht und stürzte rückwärts in den Mann hinein, den er zuvor so brutal verletzt hatte. Er sah, wie sich der andere wieder umwandte, wie Isana wegzulaufen versuchte - und wie sie der Kerl dann packte, als sei sie ein kleines Kind, und sie sich über die Schulter warf. Isana strampelte wie wild mit den Füßen und hämmerte mit ihren Fäusten auf seinen Rücken ein. Doch er schien es noch nicht einmal zu bemerken.

Das durfte nicht geschehen! Lexz war auf keinen Fall bereit, sich die Frau seines Lebens nehmen zu lassen, kaum dass er sie gefunden hatte. Er stieß den Sterbenden beiseite, der sich noch mit letzter Kraft an ihn klammerte, und versetzte ihm einen brutalen Tritt, als der andere nicht loslassen wollte. Der Mann torkelte beiseite, machte eine unmögliche Kehrtwende - und war plötzlich wieder bei ihm. Mit einem würgenden Laut packte er sich die scharf geschliffene Schwertklinge, und bevor Lexz auch nur im Entferntesten begriff, was er vorhaben mochte, drehte er sie herum.

Lexz spürte, wie ihm der Schwertgriff aus den Fingern gedreht wurde. Der Mann umklammerte die Klinge mit beiden Händen, Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Mit wahren Bärenkräften entwand er Lexz nun endgültig das Schwert. Lexz glaubte zu sehen, wie ihm dabei ein Daumen abgetrennt wurde. Der Kerl ließ sich davon jedoch nicht abhalten und torkelte mit einem gleichermaßen schrecklichen wie triumphierenden Laut samt Schwert davon. Erst nach ein paar Schritten bäumte er sich, immer noch das Schwert umklammernd, wie in einem letzten Triumph auf, dann quoll blutiger Schaum aus seinem Mund und er brach zusammen.

Lexz wollte ihm schon nachsetzen, aber da war bereits der nächste wütende und zähnefletschende Angreifer herangekommen. Lexz duckte sich gerade noch rechtzeitig. Die Keule, mit der ihm der in ein zerrissenes Fell Gekleidete das Gesicht zerschmettern wollte, fuhr mit einem hässlichen Geräusch neben seiner Schulter in die Zweige eines Baumes und rasierte sie ab.

Lexz kam dem zweiten Angriff des Mannes zuvor, indem er auf ihn zusprang und die Hände in sein verfilztes Haar krallte, um seinen Kopf nach vorn zu reißen. Im nächsten Augenblick krachte sein Knie mit solcher Gewalt in das Gesicht des Angreifers, dass er hören konnte, wie irgendetwas darin zerbrach. Der Kerl rang noch einmal mit einem fast komisch klingenden Laut nach Luft, verdrehte dann die Augen und fiel schließlich stocksteif nach hinten.

Lexz achtete gar nicht auf ihn. Seine Gedanken galten Isana, der er unbedingt zu Hilfe eilen musste. Aber er kam nicht weit. Mit einem Aufschrei taumelte er herum - und spürte einen Treffer in den Kniekehlen, der ihn vorwärtstaumeln ließ. Etwas streifte seine Schulter und machte aus seinem noch halbwegs kontrollierten Sturz einen Schlag, der ihn mit solcher Wucht auf den weichen Waldboden schmetterte, dass sich sein gellender Aufschrei in ein halb ersticktes Keuchen verwandelte, während ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Schmerz flackerte wie eine Folge kleiner gelber Blitze über seine Augen und ließ ihn fast blind werden. Im letzten Moment warf er sich noch herum, um dem vernichtenden Sturz die allerschlimmste Wucht zu nehmen.

Es war aber dennoch so schlimm, dass er beinahe das Bewusstsein verloren hätte. Hilflos rollte er über den Waldboden, der nicht nur mit weichem Laub, sondern auch mit spitzen Steinen und gefährlich zerbrochenen Ästen übersät war, überschlug sich drei-, vier- oder fünfmal, und wäre vermutlich noch weitergerollt, hätte nicht ein dorniger Busch seiner Schlitterpartie ein unsanftes Ende bereitet. Etwas schrammte über sein Gesicht und hinterließ eine dünne nasse Linie, die schon im nächsten Augenblick heftig brannte. Und abermals zuckten grelle Schmerzblitze über sein Blickfeld und hinterließen eine Spur aus wattiger Schwärze, die er vergeblich wegzublinzeln versuchte.

Als sich seine Sinne wieder klärten, war er allein. Die Höhlenmenschen waren verschwunden, und mit ihnen Isana. Das durfte doch alles nicht wahr sein! So sollte die Begegnung mit seiner Jugendliebe auf keinen Fall enden!

Erst nach dem dritten oder vierten Anlauf gelang es ihm, zitternd aufzustehen und einen Schritt zu machen. Er fühlte sich jedoch noch immer benommen und konnte nur schwankend auf den Beinen bleiben.

Was hast du getan, Lexz?, glaubte er die Stimme des Schamanen zu hören. Sie klang traurig, enttäuscht, doch es schwang auch etwas wie kaltes Entsetzen darin mit. Jetzt wird alles noch viel schlimmer. Ihr werdet ums nackte Überleben kämpfen müssen, du und deine Gefährten. Und am Ende, wenn ihr verwirrt und entkräftet seid, wird alles verloren sein - wenn du dich nicht endlich zusammenreißt!

Lexz stöhnte auf und hämmerte sich mit den blutverschmierten Fäusten gegen die Schläfen. Der Schmerz sollte ihn eigentlich zur Besinnung bringen. Aber er tat es nicht.

Das ist die Strafe dafür, dass du so unüberlegt gehandelt hast. Und vergiss niemals - aber auch wirklich niemals -, dass es etwas Wichtigeres gibt als diese Frau!

Etwas Wichtigeres? Lexz reckte sich, ballte die Hände zu Fäusten und drohte mit ihnen in den Himmel hinein. Er brüllte sich seine Wut und Enttäuschung aus der Kehle.

»Nein! Niemals! Ich werde dich nicht aufgeben, Arri!«

Arri?, wisperte eine Stimme in seinem Hinterkopf, und diesmal klang sie einmal nicht wie die des Schamanen. Warum Arri? Die Frau, um die es dir geht, heißt doch Isana!

Lexz stieß einen zweiten Schrei aus. Arri, Isana - die Namen wirbelten in seinem Kopf durcheinander. Er konnte nichts fassen, nichts festhalten. Er wusste nur, dass er die Frau retten musste, die er liebte.

Schwankend torkelte er weiter. Mein Schwert, dachte er, ich muss mir mein Schwert holen.

Der Gedanke daran war das Einzige, das ihm so etwas wie eine Orientierung gab. Er drehte sich auf dem Absatz um, wandte sich dem Bild des Grauens zu, das sich ihm dort bot, dem Toten zu, den er regelrecht abgeschlachtet hatte. Der Kopf des Toten war seltsam verdreht und seine aus den Höhlen gequollenen Augen schienen ihn anklagend anzustarren. Lexz versuchte, den Blick von diesem Gesicht zu wenden. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Jemanden mit einem Schwerthieb auszuschalten, das war eine Sache, aber es war überflüssig und dumm gewesen, nach dem ersten Streich noch einmal zuzustechen.

Und fürchterlich war, was er damit angerichtet hatte. Die Blutlache, in der der Tote lag, war riesig, und sie war noch nicht einmal eingetrocknet. Es sah aus, als hätte er in einen See aus Blut eintauchen wollen. Und die Wunde, die er geschlagen hatte - sie klaffte auf, als wäre der Mann von einem wuchtigen Axthieb getroffen worden, und nicht von einem Schwertstreich. Es hätte wohl nicht viel gefehlt, und er hätte dem Mann den Kopf abgetrennt.

Lexz würgte. Zitternd und taumelnd wandte er sich ab, griff nach seinem Schwert und wischte sich die blutige Klinge an seinem Gewand ab. Hätte er sich in diesem Augenblick selbst sehen können, wahrscheinlich wäre er darüber erschrocken gewesen, wie wirr sein Blick flackerte.

Mit einem entschlossenen Ruck drehte er sich um und folgte der Spur der Höhlenmenschen, die Isana verschleppt hatten.

Wenn nur Torgon und Ekarna wieder an seiner Seite wären ...

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