EPILOG

Tief atmete Arri die warme Luft ein, die von den blühenden Feldern her über den See heranwehte und unendlich süß nach Leben duftete. Ihr Blick war auf den dunklen Einbaum gerichtet, der scheinbar ziellos im Wasser trieb. Wobei ziellos gewiss nicht ganz passte, wenn Torgon und Kyrill gemeinsam unterwegs waren. Die beiden hatten sich wahrscheinlich ein Abenteuer vorgenommen, von dem sie Arri aus guten Gründen vorher nichts erzählt hatten.

Mindestens drei Interessen hatten die beiden gemeinsam: Essen, Abenteuer erleben und Schabernack treiben.

Die Frage war, was sie diesmal wieder vorhatten. Arianrhod schwante gar nichts Gutes. Torgon und Kyrill hatten heute Morgen sehr geheimnisvoll getan und so albern gekichert, dass sie nur die Augen hatte verdrehen können. Eine vernünftige Antwort war aus den beiden Kindern ohnehin nicht herauszubekommen gewesen. Wobei Torgon der Hammer eindeutig das größere Kind war.

Besser, sie wusste gar nicht so genau, was sich Torgon wieder ausgedacht und Kyrill mit freudig aufgeregtem Lachen quittiert hatte. Obwohl ... am Ende würde wieder sie es ausbaden müssen, wenn sie irgendjemandem einen Streich spielten. Aber ändern konnte sie daran dann sowieso nichts mehr.

Immerhin - alles war besser, als sich um die Kranken kümmern zu müssen, wie in der ersten Zeit nach Dragosz’ Tod. Bevor sie mithilfe des Runzelkrautes, das sie aus dem Schlingpflanzenwald geholt hatten, sowie einiger anderer Zutaten ein wirkungsvolles Heilmittel zusammengebraut hatten, waren die Ersten von ihnen bereits durch die tückische Krankheit entstellt gewesen - und Zakaan wirkte durch seinen nimmermüden Einsatz nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Aber schließlich war es doch der Schamane gewesen, der auf die richtige Rezeptur gekommen war, und sie hatte das Ganze dann zu einem wirkungsvollen Heiltrank zusammengebraut.

Mittlerweile war die Leichengrube im Wald mit Kalk erstickt, und die Krankheit, die so schreckliche Entstellungen bei ihren Opfern hervorgerufen hatte, aus ihrem Alltag verbannt. Auch die Männer Nors, die Lexz bei ihrer ersten Begegnung für Dämonen gehalten hatte, waren mit dem Trank geheilt worden.

Was sie sehr gefreut hatte, war, dass nach einer Zeit großer Schwäche auch der Schamane durch ihre Hilfe wieder zu Kräften gekommen war. »Ich sehe doch gar nicht ein, jetzt einfach so zu sterben«, hatte er gesagt. »Schließlich muss ich auf euch alle noch ein Weilchen aufpassen.«

Nun, das mit dem Aufpassen mochte ja ganz gut gelingen, was sie, Lexz und die anderen Erwachsenen anging. Nur, wenn er mit seinen immer klug gewählten Ratschlägen auch auf Torgon und Kyrill einzuwirken versuchte, so biss er auf Granit. Die machten nur das, was sie wollten - dies dann aber meist auf eine Art, dass man ihnen letztlich nicht böse sein konnte.

Arri seufzte, riss den Blick vom Einbaum los und nahm die Abzweigung zu dem Steg, der zur Hütte der Ältesten führte. Nach dem Wideraufbau war das Pfahldorf noch größer und schöner geworden, als sie und Dragosz sich das jemals hatten vorstellen können. Es waren im Prinzip drei auf Pfählen errichtete Inseln, aus denen das Dorf nun bestand, und dazwischen einige wenige Plattformen für den neuen überdachten Backofen, die Hütte der Ältesten, die Anlegestellen, Furlars Töpferstelle und einige andere Handwerksbereiche. Der Zugang bestand aus einem breiten Steg, der sich in eine Vielzahl schmaler Stege verzweigte.

Seitdem Ragoks Leute hier angekommen waren, barst das Pfahldorf geradezu vor Leben. Das Hämmern und Sägen der Handwerker erfüllte die Luft genauso wie das Plätschern der Wellen an den Stegen und Booten. Zum Glück war inzwischen auch das Geschrei kleiner Kinder dazugekommen, ein Zeichen, dass das Leben wieder in geordneten Bahnen verlief und die Frauen ihren Nachwuchs gesund zur Welt brachten.

Als sie weiterging, verspürte Arri ein Kribbeln in der Magengegend, das ihr nur zu gut bekannt war. Sie freute sich unendlich darauf, Lexz wiederzusehen. Er war zusammen mit seinem Vater in Goseg gewesen, um mit Nor neue Handelsbedingungen auszuhandeln - und nun fieberte sie schon seit Tagen seiner Rückkehr entgegen.

Die Holzplanken knirschten unter ihren Füßen, als sie ihre Schritte beschleunigte. Sie war jedoch tief in Gedanken und bemerkte beinahe zu spät, dass ihr jemand entgegenkam.

Es war ausgerechnet Kenan, der Schmied und ... Isanas Vater. Er wirkte alt geworden. Sein Bart war grau, das Haupthaar weiß und licht. Noch immer war sein Gang der eines großen starken Bären. Aber seine Schultern hingen ein Stück herab, und seine Haltung war fast so gebeugt wie die Abdurezaks, wenn der Älteste es überhaupt noch schaffte, seine Hütte zu verlassen.

Arri nickte Kenan hastig zu und wollte sich schon an ihm vorbeidrücken. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob der Schmied stehen bleiben und sie am Arm packen wollte, um sie aufzuhalten. Doch dann sagte er nur: »In Goseg ist alles gut gelaufen.« Und ging weiter.

Es klang hilflos, und Arri konnte ihn nur zu gut verstehen. Mit übertriebener Hast lief sie weiter, nur schnell weg von dem Schmied. Der Anblick des großen und einst so stolzen Mannes beschwor hässliche Erinnerungen in ihr herauf, und ihre Vorfreude auf Lexz drohte sich bereits in etwas anderes, Hässliches zu verwandeln.

Isana. Auch nach drei Sonnenwenden hatte sie sie noch nicht vergessen. Wie sollte sie auch! Ihr irrer Blick, die hasserfüllten Worte, die sie ausgestoßen hatte - und dass sie dann nach dem Kampf am Bach plötzlich verschwunden war, als hätte die Dunkelheit sie verschluckt. Ihnen allen war es so vorgekommen, als sei sie in diesem Augenblick mehr ein Dämon als ein Mensch gewesen.

Ihnen allen - das bedeutete, wie sie sich selbst schaudernd eingestehen musste, doch letztlich nur: Lexz und ihr selbst. Alle anderen waren tot. Amar und seine Krieger, ebenso wie Larkar, der Speer, der sein eigenes Leben geopfert hatte, um seinen Freund Lexz zu retten. Es war alles so unwirklich gewesen, und trotzdem hatten sich einzelne Szenen des Kampfes genauso in ihr Gedächtnis eingegraben wie die Tränen, die Lexz’ Wangen hinabgelaufen waren, als er den Kopf seines sterbenden Freundes in seinem Schoß gehalten hatte.

Als ein Lachen an ihr Ohr drang, schaffte es Arri endlich, sich von diesen düsteren Gedanken zu lösen. Sie atmete tief durch und beschleunigte abermals ihre Schritte.

Als sie um die nächste Ecke kam, erwartete sie ein ganz und gar ungewöhnliches Bild. Lexz und Zakaan hockten einträchtig nebeneinander auf der kleinen, tiefer angelegten Anlegestelle vor der Hütte der Ältesten und ließen die Füße im Wasser baumeln. Arri blieb stehen und atmete die frische Luft tief ein. Es tat so gut, Lexz zuzusehen. Zwei Sonnenwenden hatte sie sich noch mit aller Kraft dagegen gewehrt, bis sie dann endlich hatte zulassen können, dass er Einzug hielt - in ihr Herz. Doch jetzt, da sie ihn so sitzen sah, das Gesicht gelöst und entspannt und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, spürte sie, wie sie von etwas durchströmt wurde, das bislang nur Dragosz vorbehalten gewesen war.

Tiefe Liebe.

Die beiden ungleichen Männer wirkten so sehr in ein Gespräch vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, wie sich Arri auf Zehenspitzen anschlich.

»Ich hätte nie gedacht, dass die Sache mit den vergoldeten Krügen gelingen könnte«, sagte Lexz gerade vergnügt. »Aber dadurch, dass wir sie jetzt so gut haben tauschen können, haben wir nun plötzlich mehr Kupferbarren und Erzklumpen als Kenan bis zu seinem Lebensende verarbeiten kann.«

»Nun, das hängt auch davon ab, wie sich Rar anstellt«, antwortete der Schamane mit seiner knarrenden Altmännerstimme. »Ich war ja erst dagegen, dass du ihm erlaubt hast, seine Ausbildung bei dem Schmied fortzusetzen. Aber inzwischen macht er sich recht gut, das muss man ihm lassen.«

»Ja, Rar ist ein wichtiges Mitglied unserer Gemeinschaft geworden«, pflichtete ihm Lexz bei. »Und ganz im Ernst: Wer sonst würde es schon mit dem Griesgram Kenan aushalten?«

Ein dunkler Schatten lief über das von Furchen durchzogene Gesicht des Schamanen. »Ja, da hast du wohl recht. Kenan wird wohl niemals verwinden können, was seine Tochter getan hat.«

»Das ist ja auch kein Wunder ... he!« Lexz richtete sich auf und winkte begeistert, als Torgon den Einbaum mit ein paar kräftigen Ruderschlägen in seine Richtung dirigierte. »He, Kyrill! Bist du wieder auf großer Fahrt?«

Er und Kyrill verstanden sich prächtig, wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb, weil Arri manchmal gar nicht hätte sagen können, wer von den beiden der größere Kindskopf war.

Aber Kyrill hatte nur Augen für Arri. Das war ja auch kein Wunder. Gerade stand sie mit vorgestreckten Händen in einer etwas lächerlichen Pose hinter Lexz.

Kyrill gluckste, wie das nur Dreijährige können. »Da ist deine Mama!«, rief Torgon und winkte Arri zu.

Arri blieb mitten im Schritt stehen. Es war ja schön, dass sie es fast geschafft hätte, sich ganz nah an Lexz anzuschleichen, um ihm von hinten die Hände über die Augen legen und ihn ein bisschen erschrecken zu können. Aber musste dann ausgerechnet wieder einmal Torgon seinem Ruf alle Ehre machen, dass er nicht nur mit seinem Hammer grob dazwischenfahren konnte, wenn es nötig war, sondern auch sonst kein Fettnäpfchen ausließ?

»Arri!« Lexz riss die Füße aus dem Wasser, dass es nur so spritzte, sprang auf und drehte sich zu ihr um. »Endlich!«

Ohne ihr auch nur im Geringsten die Möglichkeit zu geben, ihn zu begrüßen, packte er sie und zog sie an sich heran. Sie hatte ihm schon unzählige Male gesagt, dass er sie nicht so fest drücken sollte, aber das hinderte ihn keineswegs daran, sie so an sich zu pressen, dass sie das Gefühl hatte, gleich müsse in ihrem Rücken etwas brechen.

»Da ist ja meine tapfere Kriegerin«, sagte er, nachdem er sie endlich wieder losgelassen hatte.

»Mama, Mama!«, krähte Kyrill aufgeregt dazwischen. »Wir haben hier was ganz Tolles gefunden!«

»Ich bin aber keine Kriegerin, ich bin Heilerin«, wies Arri den vor Freude und Übermut strahlenden Lexz zurecht. Erst dann wandte sie sich ihrem Sohn zu, der vor Torgon im Einbaum mal halb stand und mal halb saß - je nachdem, wie heftig die Welle war, die das Boot gerade bewegte.

Fast traf sie der Schlag, als sie sah, was Kyrill mit seinen beiden kleinen Händchen gerade hochzustemmen versuchte: die Himmelsscheibe. Das helle Sonnenlicht brach sich auf den goldenen Sternen, die auf der Bronzescheibe angebracht waren.

»Was macht denn der Kleine mit der Scheibe?«, fragte Zakaan stirnrunzelnd.

»Ich dachte, wir können sie vielleicht eintauschen«, sagte Torgon. »Nor wollte sie doch immer haben!«

Das ist ein Scherz, dachte Arri. Das kann gar nichts anderes als ein Scherz gewesen sein!

Laut sagte sie jedoch: »Gib die Scheibe sofort her, Kyrill ... Nein!« Sie fuchtelte mit den Händen, als Kyrill mit der Scheibe aufzustehen versuchte, und die schwere Scheibe einen kleinen Hüpfer in Richtung Bordwand machte. »Leg sie lieber ganz schnell wieder ins Boot zurück!«

Kyrill erstarrte mitten in der Bewegung und sah aus großen Kinderaugen zu ihr hoch. Jungen. Genauso stur wie Männer, aber noch ein Stück einfältiger.

»Ganz langsam«, fauchte Arri. »Leg jetzt die Scheibe ganz, ganz langsam ins Boot zurück!«

Irgendetwas musste in ihrer Stimme gewesen sein, das Kyrill dazu bewegte, widerspruchslos zu gehorchen. Der Einbaum geriet dabei allerdings so sehr ins Schwanken, dass Arri kaum zusehen konnte.

»Reg dich nicht auf, Arianrhod«, versuchte sie der Schamane zu beruhigen. »Die Himmelsscheibe selbst ist ja nicht der Grund, warum unsere Felder wieder reichlich Ernte tragen. Sie gibt uns zwar die richtigen Zeiten für Aussaat und Ernte an - aber am Ende ist es doch unserer Hände Arbeit, die uns unseren Wohlstand beschert!«

»Genau«, sagte Torgon. »Und deswegen können wir sie auch Nor überlassen. Er würde uns eine ganze Rinderherde für diese alte Bronzescheibe geben!«

Entschlossen schüttelte Arri den Kopf. »Nein. Niemals. Die Himmelsscheibe bleibt in unserem Besitz. Und wenn sie uns jemand wegnehmen will, dann wird er mein Schwert kennenlernen!«


ENDE





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