Percy Jackson 05 - Die Letzte Gottin


Rick Riordan

(2012)



Band 1: Percy Jackson – Diebe im Olymp


Band 2: Percy Jackson – Im Bann des Zyklopen


Band 3: Percy Jackson – Der Fluch des Titanen


Band 4: Percy Jackson – Die Schlacht um das Labyrinth


Band 5: Percy Jackson – Die letzte Göttin





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Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2011


Originalcopyright © 2009 by Rick Riordan


Originalverlag: Hyperion Books for Children, an imprint of the Disney Book Group


Permission for this edition was arranged through the Nancy Gallt Agency


Originaltitel: Percy Jackson and the Olympians – The Last Olympian


Umschlagillustration: Helge Vogt, trickwelt


Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor


Kartenillustration © 2009 by Greg Call


Aus dem Englischen von Gabriele Haefs


Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde


ISBN 978-3-646-92084-0



Alle Bücher im Internet unter


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Für Mrs. Pabst, meine Englischlehrerin in der achten Klasse, bei der meine Reise als Autor begann.


Ich gehe mit einer Ladung Sprengstoff auf Kreuzfahrt

Das Ende der Welt begann damit, dass ein Pegasus auf der Motorhaube meines Wagens landete.

Bis dahin war es ein toller Nachmittag gewesen. An sich durfte ich ja gar nicht Auto fahren, weil ich erst in einer Woche sechzehn werden würde, aber meine Mom und mein Stiefvater, Paul, waren mit meiner Freundin Rachel und mir zu einem Privatstrand am South Shore gefahren, und Paul lieh uns für eine kurze Tour seinen Prius.

Ich weiß, ihr denkt jetzt: Also, das war aber wirklich unverantwortlich von dem Mann, aber Paul kennt mich ziemlich gut. Er hat gesehen, wie ich Dämonen aufgeschlitzt habe und aus explodierenden Schulhäusern gesprungen bin, und da dachte er wohl, mit einem Auto ein paar Hundert Meter zu fahren, wäre nicht gerade die gefährlichste Unternehmung meines Lebens.

Rachel und ich fuhren also los. Es war ein heißer Tag im August. Rachel hatte sich ihre roten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug eine weiße Bluse über ihrem Badeanzug. Ich hatte sie bisher immer nur in zerfetzten T-Shirts und mit Farbe beklecksten Jeans gesehen, und sie sah aus wie eine Million goldene Drachmen.

»Ach, halt hier doch mal eben!«, sagte sie zu mir.

Wir hielten an einem Felsabsatz mit Blick auf den Atlantik. Ich bin immer sehr gern am Meer, aber an diesem Tag war es besonders schön – grün glitzernd und glatt wie Glas, als ob mein Dad es nur für uns ruhig hielte.

Mein Dad, übrigens, ist Poseidon. Er macht sowas mit links.

»Also.« Rachel lächelte mich an. »Was diese Einladung angeht.«

»Ach … richtig.« Ich versuchte, mich begeistert anzuhören. Ich meine, sie hatte mich für drei Tage in das Ferienhaus ihrer Familie auf St. Thomas eingeladen. Oft bekam ich solche Angebote nicht. Der Traumurlaub meiner Familie besteht aus einem Wochenende in einer heruntergekommenen Hütte auf Long Island, mit ein paar geliehenen Filmen und Tiefkühlpizzen, und jetzt wollten Rachels Eltern mich in die Karibik mitschleifen.

Außerdem war ich total urlaubsreif. Es war der härteste Sommer meines Lebens gewesen. Die Vorstellung einer Pause, und sei es nur für einige Tage, war wirklich verlockend.

Aber gerade jetzt könnte jeden Tag etwas Wichtiges passieren. Ich hatte sozusagen Bereitschaftsdienst für einen Einsatz. Und schlimmer noch, in der folgenden Woche war mein Geburtstag. Es gab eine Weissagung, nach der an meinem sechzehnten Geburtstag etwas Schreckliches passieren würde.

»Percy«, sagte Rachel. »Ich weiß, das Timing ist nicht gut. Aber das ist es bei dir doch nie, oder?«

Da hatte sie nicht Unrecht.

»Ich möchte ja wirklich gern mitkommen«, beteuerte ich. »Es ist bloß …«

»Der Krieg.«

Ich nickte. Ich sprach nicht gern darüber, aber Rachel wusste Bescheid. Anders als die meisten anderen Sterblichen konnte sie durch den Nebel blicken – den magischen Schleier, der den Blick der Menschen trübt. Sie hatte Monster gesehen. Sie war einigen der anderen Halbgötter begegnet, die gegen die Titanen und deren Verbündete kämpften. Sie war sogar im vergangenen Sommer dabei gewesen, als der zerstückelte Titanenherrscher Kronos in einer entsetzlichen neuen Gestalt aus seinem Sarg gestiegen war, und sie hatte sich für immer meine Achtung verdient, als sie ihm eine blaue Plastikbürste ins Auge gepfeffert hatte.

Sie legte mir die Hand auf den Arm. »Überleg es dir einfach, ja? Wir brechen ja erst in zwei Tagen auf. Mein Dad …« Ihre Stimme versagte.

»Macht er dir das Leben schwer?«, fragte ich.

Rachel schüttelte angeekelt den Kopf. »Er versucht, nett zu mir zu sein, und das ist fast noch schlimmer. Er will mich im Herbst auf die Clarion Ladies Academy schicken.«

»Ist das die Schule, die auch deine Mom besucht hat?«

»Das ist so eine blöde Anstalt, wo Mädchen gesellschaftlichen Schliff beigebracht kriegen. Kannst du dir mich auf so einer Damenschule vorstellen?«

Ich gab zu, dass ich die Vorstellung ziemlich absurd fand. Rachel interessierte sich für großstädtische Kunstprojekte und Aktionen für Obdachlose, und sie ging zu Demos für die Rettung des aussterbenden gelbbäuchigen Saftsaugers und so. Ich hatte sie nie auch nur in einem Kleid gesehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie den perfekten Benimm lernen sollte.

Sie seufzte. »Er glaubt, wenn er so ungefähr alles für mich tut, dann kriege ich ein schlechtes Gewissen und gebe nach.«

»Weshalb er auch bereit ist, mich mit euch in den Urlaub fahren zu lassen?«

»Ja … aber Percy, du würdest mir einen riesigen Gefallen tun. Alles wäre so viel besser, wenn du mit uns kämst. Und außerdem möchte ich etwas mit dir be…« Sie verstummte ganz plötzlich.

»Du möchtest etwas mit mir besprechen?«, fragte ich. »Du meinst … es ist so ernst, dass wir nach St. Thomas fahren müssen, um darüber zu reden?«

Sie schob die Lippen vor. »Ach, vergiss es. Lass uns so tun, als ob wir zwei ganz normale Menschen wären. Wir machen einen Ausflug und schauen uns das Meer an, und es ist nett, zusammen zu sein.«

Ich merkte, dass sie irgendwas belastete, aber sie setzte ein tapferes Lächeln auf. Im Sonnenschein sahen ihre Haare aus wie Feuer.

Wir hatten diesen Sommer sehr viel Zeit miteinander verbracht. Ich hatte das eigentlich nicht vorgehabt, aber je mehr sich die Lage im Camp zuspitzte, umso größer wurde mein Bedürfnis, Rachel anzurufen und von dort wegzukommen, einfach, um Atem zu holen. Ich wollte mir bewusst machen, dass es dort draußen noch immer eine Welt der Sterblichen gab, weit weg von all den Monstern, die mich für ihren persönlichen Punchingball zu halten schienen.

»Okay«, sagte ich. »Einfach ein normaler Nachmittag und zwei normale Menschen.«

Sie nickte. »Und nur mal rein theoretisch, wenn diese beiden Menschen einander leiden könnten, was müsste passieren, damit der blöde Typ das Mädchen küsst, hm?«

»Oh …« Ich kam mir vor wie eine der heiligen Kühe des Apollo: träge, blöd und knallrot. »Öh …«

Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht viel an Rachel gedacht hätte. Es war so viel leichter, mit ihr zusammen zu sein als mit … na ja, als mit einigen anderen Mädchen, die ich kannte. Ich musste mir keine große Mühe geben oder meine Worte auf die Goldwaage legen oder mir das Gehirn zermartern bei dem Versuch, ihre Gedanken zu erraten. Rachel verbarg nichts vor mir. Sie sagte einfach, wie ihr zumute war.

Ich bin nicht sicher, was ich als Nächstes getan hätte. Ich war so abgelenkt, dass ich die riesige schwarze Gestalt, die vom Himmel herabschoss, erst bemerkte, als vier Hufe mit einem WUMP-WUMP-KRACH auf der Motorhaube des Prius landeten.

He, Boss, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Nette Karre!

Blackjack der Pegasus war ein alter Freund, deshalb versuchte ich, mich über die Krater, die er soeben in die Motorhaube getreten hatte, nicht zu sehr zu ärgern. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, dass mein Stiefdad entzückt davon sein würde.

»Blackjack«, seufzte ich. »Was willst du …?«

Dann sah ich, wer auf seinem Rücken saß, und ich wusste, dass dieser Tag noch viel komplizierter werden würde.

»Hi, Percy.«

Charles Beckendorf, Hüttenältester in der Hephaistos-Hütte, hätte die meisten Monster nach ihrer Mama schreien lassen. Er war riesig, hatte gewaltige Muskeln, weil er jeden Sommer in der Schmiede arbeitete, war zwei Jahre älter als ich und einer der besten Waffenschmiede im Camp. Er stellte wirklich geniale Apparate her. Einen Monat zuvor hatte er auf dem Klo eines Ausflugsbusses, der eine Bande von Monstern durch das Land kutschierte, eine griechische Feuerbombe hergestellt. Die Explosion riss eine ganze Legion von Kronos’ fiesen Kumpels mit sich, sowie die erste Harpyie die Spülung betätigte.

Beckendorf trug seine Kampfausrüstung: eine bronzene Brustplatte und einen Kriegshelm, dazu eine schwarze Tarnhose und ein umgeschnalltes Schwert. Seine Sprengstofftasche hatte er sich über die Schulter geworfen.

»Zeit?«, fragte ich.

Er nickte düster.

Ich spürte einen Kloß im Hals. Ich hatte gewusst, dass der Tag kommen würde. Wir bereiteten uns schon seit Wochen darauf vor, aber irgendwie hatte ich doch gehofft, dass es niemals passieren würde.

Rachel schaute zu Beckendorf hoch. »Hallo.«

»Ach, hi. Ich bin Beckendorf. Und du musst Rachel sein. Percy hat mir erzählt … äh, ich meine, er hat dich mal erwähnt.«

Rachel hob eine Augenbraue. »Echt? Gut.« Sie schaute zu Blackjack hinüber, der mit seinen Hufen auf die Motorhaube des Prius trommelte. »Ich vermute mal, ihr Jungs müsst jetzt die Welt retten.«

»So ungefähr«, sagte Beckendorf zustimmend.

Ich sah Rachel hilflos an. »Würdest du meiner Mom sagen …?«

»Mach ich. Sie ist sicher schon daran gewöhnt. Und das mit der Motorhaube erkläre ich Paul.«

Ich nickte zum Dank. Ich befürchtete, dass Paul mir wohl zum letzten Mal sein Auto geliehen hatte.

»Viel Glück.« Rachel küsste mich, ehe ich überhaupt reagieren konnte. »Und jetzt los mit dir, Halbblut. Bring ein paar Monster für mich um.«

Als ich ein letztes Mal zurückblickte, saß sie mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz des Prius und sah zu, wie Blackjack immer höher kreiste und Beckendorf und mich in den Himmel trug. Ich hätte gern gewusst, worüber Rachel mit mir sprechen wollte, und ich fragte mich, ob ich wohl lange genug leben würde, um es in Erfahrung zu bringen.

»Also«, sagte Beckendorf. »Ich gehe mal davon aus, dass ich gegenüber Annabeth diese kleine Szene nicht erwähnen soll.«

»Bei allen Göttern«, knurrte ich. »Denk da nicht mal dran.«

Beckendorf kicherte, und zusammen schossen wir über den Atlantik davon.

Es war fast dunkel, als wir unser Ziel erreichten. Die Prinzessin Andromeda leuchtete am Horizont – ein riesiges gelb und weiß beleuchtetes Kreuzfahrtschiff. Aus der Ferne konnte man es einfach für ein Partyschiff halten anstatt für das Hauptquartier des Titanenherrschers. Im Näherkommen bemerkte man dann die überdimensionale Galionsfigur – ein dunkelhaariges Mädchen in einem griechischen Chiton, mit Ketten umwickelt und mit total verängstigtem Gesicht, als ob sie den Gestank der vielen Monster riechen könnte, die sie transportieren musste.

Beim Anblick des Schiffes verkrampfte sich alles in mir. Ich wäre auf der Prinzessin Andromeda zweimal fast ums Leben gekommen. Jetzt steuerte sie geradewegs New York an.

»Du weißt, was wir zu tun haben?«, schrie Beckendorf durch den lauten Wind.

Ich nickte. Wir hatten in den Docks von New Jersey geübt, mit verlassenen Schiffen als Zielscheiben. Ich wusste, wie wenig Zeit wir haben würden. Aber ich wusste auch, dass dies unsere größte Chance war, Kronos’ Invasion zu beenden, ehe sie wirklich angefangen hatte.

»Blackjack«, sagte ich. »Setz uns auf dem untersten Deck achtern ab.«

Alles klar, Boss, sagte er. Mann, ich hasse den Anblick dieses Kahns.

Drei Jahre zuvor war Blackjack auf der Prinzessin Andromeda gefangen gehalten worden, hatte dann aber mit Hilfe von meinen Freunden und mir entkommen können. Ich glaube, er würde sich lieber wie My Little Pony die Mähne zu Zöpfchen flechten lassen, als dieses Schiff noch einmal zu betreten.

»Du brauchst nicht auf mich zu warten«, sagte ich zu ihm.

Aber Boss …

»Glaub mir«, sagte ich. »Wir kommen schon allein da raus.«

Blackjack faltete seine Flügel zusammen und ließ sich wie ein schwarzer Komet auf das Schiff hinabfallen. Der Wind pfiff in meinen Ohren. Ich sah Monster, die über die oberen Decks patrouillierten – Dracaenae, Höllenhunde, Riesen und diese menschenähnlichen Seehundsdämonen, die Telchinen genannt werden –, aber wir jagten so schnell vorüber, dass niemand Alarm schlug. Wir schossen auf das Heck des Schiffs zu, Blackjack breitete seine Flügel aus und setzte dann geschmeidig auf dem untersten Deck auf. Ich stieg von seinem Rücken, und mir war jetzt schon schlecht.

Viel Glück, Boss, sagte Blackjack. Lass dich von denen ja nicht zu Pferdewurst machen.

Mit diesen Worten flog mein alter Freund in die Nacht davon. Ich zog meinen Kugelschreiber aus der Tasche und drehte die Kappe herunter, und Springflut öffnete sich zu seiner vollen Größe – neunzig Zentimeter tödliche himmlische Bronze glühten in der Abenddämmerung.

Beckendorf zog ein Stück Papier aus der Tasche. Ich hielt es für eine Landkarte oder so, aber dann ging mir auf, dass es ein Foto war. Er starrte es im trüben Licht an – das lächelnde Gesicht von Silena Beauregard, Tochter der Aphrodite. Sie waren seit dem vergangenen Sommer zusammen, nachdem wir anderen jahrelang gesagt hatten: »Hört mal, ihr mögt euch doch offenbar!« Trotz der vielen gefährlichen Einsätze war Beckendorf in diesem Sommer glücklicher gewesen, als ich es je erlebt hatte.

»Wir schaffen es zurück ins Camp«, versprach ich.

Für einen Moment sah ich Sorge in seinen Augen. Dann setzte er sein altes zuversichtliches Lächeln auf.

»Davon kannst du ausgehen«, sagte er. »Komm, jetzt sprengen wir Kronos wieder in eine Million Fetzen.«

Beckendorf ging voraus. Wir folgten einem engen Gang zum Treppenaufgang fürs Bootspersonal, wie wir es geübt hatten, erstarrten aber, als wir über uns Geräusche hörten.

»Mir doch egal, was deine Nase sagt«, fauchte eine halb menschliche, halb hündische Stimme – ein Telchine. »Als du das letzte Mal Halbblut gerochen hast, hat es sich als Hamburger entpuppt.«

»Hamburger schmecken gut«, fauchte eine andere Stimme zurück. »Aber ich schwöre, das hier ist Halbblut-Geruch. Sie sind an Bord.«

»Ja, aber dein Gehirn ist nicht an Bord!«

Sie stritten sich weiter, und Beckendorf zeigte nach unten. Wir stiegen, so leise wir konnten, die Treppe hinunter. Zwei Stock tiefer verklangen die Stimmen der Telchinen.

Endlich erreichten wir eine Metallluke. Beckendorf formte mit den Lippen das Wort »Maschinenraum«.

Drinnen dröhnten und brummten gelbe Turbinen in der Größe von Getreidesilos. Druckmessgeräte und Computerterminals waren an der Wand gegenüber aufgereiht. Ein Telchine beugte sich über eine Konsole, aber er war dermaßen in seine Arbeit vertieft, dass er uns nicht bemerkte. Er war an die eins fünfzig und hatte glattes schwarzes Seehundsfell und klumpige kleine Füße. Sein Kopf sah aus wie der eines Dobermanns, aber seine Krallenhände waren fast menschlich. Er knurrte und murmelte vor sich hin, während er auf seiner Tastatur herumklimperte. Vielleicht hatte er seinen Freunden auf uglyface.com etwas mitzuteilen.

Ich trat vor und er erstarrte – vermutlich roch er, dass etwas nicht stimmte. Er sprang zur Seite, auf einen riesigen roten Alarmknopf zu. Als ich ihm den Weg vertrat, zischte er und wollte mich angreifen, aber ein Hieb mit Springflut ließ ihn zu Staub explodieren.

»Einer weniger«, sagte Beckendorf. »Bleiben noch an die fünftausend.« Er warf mir ein Glas mit einer zähen grünen Flüssigkeit zu – griechisches Feuer, eine der gefährlichsten magischen Substanzen auf der ganzen Welt. Dann ließ er ein weiteres unverzichtbares Werkzeug für Halbgötter und Helden folgen – Klebeband.

»Papp das auf die Konsole«, sagte er. »Ich kümmere mich um die Turbinen.«

Wir gingen ans Werk. Der Maschinenraum war heiß und feucht, und bald waren wir in Schweiß gebadet.

Das Schiff tuckerte immer weiter. Als Sohn des Poseidon kann ich mich auf See perfekt orientieren. Fragt mich nicht, warum, aber ich wusste, wir waren jetzt bei 40,19° Nord und 71,90° West und machten achtzehn Knoten, was bedeutete, dass das Schiff in der Morgendämmerung in den Hafen von New York einlaufen würde. Und das hier war unsere einzige Chance, es daran zu hindern.

Ich hatte soeben ein zweites Glas mit griechischem Feuer an der Kontrollkonsole befestigt, als ich Füße auf Metallstufen hörte – es kamen so viele Wesen die Treppe herunter, dass ich sie über das Brummen der Motoren hören konnte. Kein gutes Zeichen.

Ich schaute Beckendorf an. »Wie lange noch?«

»Zu lange.« Er tippte seine Armbanduhr an, die unser Auslöser war. »Ich muss noch den Empfänger anschließen und die Sprengladung einstellen. Noch mindestens zehn Minuten.«

Aber nach den Schritten zu urteilen, blieben uns noch zehn Sekunden.

»Ich lenke sie ab«, sagte ich. »Wir sehen uns beim Treffpunkt.«

»Percy!«

»Wünsch mir Glück.«

Er sah aus, als ob er widersprechen wollte. Wir hatten vorgehabt, uns unbemerkt auf das Schiff und wieder hinunter zu schleichen, aber jetzt würden wir improvisieren müssen.

»Viel Glück«, sagte er.

Ich stürzte zur Tür hinaus.

Ein halbes Dutzend Telchinen trampelte die Treppe herunter. Ich mähte sie mit Springflut nieder, ehe sie auch nur fiepen konnten. Dann kletterte ich los – vorbei an einem weiteren Telchinen, der so überrascht war, dass er seine Proviantdose für das liebe Dämönchen fallen ließ. Ich ließ ihn am Leben – erstens, weil mir die Proviantdose gefiel, und zweitens, damit er den Alarm auslösen und hoffentlich seine Freunde dazu bringen könnte, mich zu verfolgen, statt den Maschinenraum anzusteuern.

Ich riss die Tür zu Deck 6 auf und rannte weiter. Ich bin sicher, die mit Teppichen ausgelegte Halle war einmal sehr elegant gewesen, aber nach drei Jahren Besetzung durch Monster waren Tapeten, Teppiche und Türen vollkommen zerkratzt und so schleimig, dass sie aussah wie das Innere einer Drachenkehle (hier spreche ich leider aus Erfahrung).

Bei meinem ersten Besuch auf der Prinzessin Andromeda hatte mein alter Feind Luke zur Tarnung einige verwirrte Touristen an Bord gehabt – in Nebel gehüllt, damit sie nicht merkten, dass sie auf einem monsterverseuchten Schiff unterwegs waren. Jetzt konnte ich keine Touristen entdecken. Ich mochte gar nicht darüber nachdenken, was aus ihnen geworden war, aber ich glaubte eigentlich nicht, dass sie mit ihrem Bingo-Gewinn nach Hause gegangen waren.

Ich erreichte die Promenade, eine riesige Einkaufspassage, die die ganze Mitte des Schiffs einnahm, und schrak zurück. Mitten auf der Promenade stand ein Springbrunnen. Und in dem Springbrunnen hockte ein riesiger Krebs.

Ich meine nicht »riesig« wie in »Königskrebse aus Alaska satt für $ 7,99«. Ich meine riesiger als der Springbrunnen. Das Monster ragte drei Meter aus dem Wasser heraus. Sein Panzer war blau und grün gesprenkelt, seine Scheren länger als ich.

Wenn ihr je ein Krebsmaul gesehen habt, schaumüberzogen und mit einem fiesen Schnurrbart und wie gemacht zum Zuschnappen, dann könnt ihr euch bestimmt vorstellen, dass es in dieser Größe nicht besser aussah. Die schwarzen Knopfaugen starrten mich wütend an, und ich sah darin Intelligenz – und Hass. Die Tatsache, dass ich der Sohn des Meeresgottes war, würde mir bei dem Krebserich keine Punkte einbringen.

»FFFTTTT«, fauchte er, und Meerschaum tropfte von seinem Maul. Er stank wie ein Mülleimer voller Krabbensticks, der eine ganze Woche lang in der Sonne gestanden hat.

Der Alarm schrillte los. Bald würde ich jede Menge Gesellschaft haben, und ich musste weiter.

»He, Krebserich!« Ich schob mich am Rand der Passage entlang. »Ich lauf nur schnell an dir vorbei, und dann …«

Der Krebs bewegte sich mit überraschender Schnelligkeit. Er rutschte aus dem Brunnen und kam mit schnappenden Scheren direkt auf mich zu. Ich ließ mich in einen Andenkenladen fallen und riss ein Gestell voller T-Shirts um. Eine Krebsschere schlug die Glaswände zu Scherben und strich suchend durch den Laden. Ich sprang keuchend wieder hinaus, aber das Monster machte kehrt und kam hinter mir her. »Da«, sagte eine Stimme über mir auf einem Balkon. »Eindringling.«

Wenn ich für Ablenkung hatte sorgen wollen, dann war mir das gelungen, aber ich hatte hier keinen Kampf ausfechten wollten. Wenn ich mitten im Schiff angegriffen wurde, war ich Krebsfutter.

Das dämonische Krustentier schlug nach mir. Ich hieb mit Springflut zu und säbelte die Spitze seiner Schere ab. Es zischte und schäumte, wirkte aber nicht übermäßig beeinträchtigt.

Ich versuchte, mich an irgendetwas aus den alten Geschichten zu erinnern, das mir bei diesem Ding helfen könnte. Annabeth hatte mir mal von einem Riesenkrebs erzählt – hatte Herkules den nicht zertreten? Hier würde das nicht funktionieren. Dieser Krebs war etwas größer als meine Reeboks.

Dann kam mir ein seltsamer Gedanke. Im vergangenen Jahr waren meine Mom und ich mit Paul Blofis zu unserer alten Hütte in Montauk gefahren, wo wir schon so oft gewesen waren. Paul war mit mir Krebse fangen gegangen, und als er ein Netz voll von den Viechern hochgeholt hatte, hatte er mir gezeigt, dass Krebse einen Spalt im Panzer haben, direkt in der Mitte ihres fiesen Bauches.

Das einzige Problem war, an den fiesen Bauch heranzukommen.

Ich schaute zu dem Springbrunnen hinüber, dann sah ich den nach dem Hin und Her des Krebses schon glitschigen Marmorboden an. Ich streckte die Hand aus, konzentrierte mich auf das Wasser und der Springbrunnen explodierte. Wasser spritzte in alle Richtungen, drei Stockwerke hoch, und übergoss die Balkone und die Fahrstühle und die Schaufenster der Läden. Dem Krebs war das egal, der liebte Wasser. Er lief seitlich in meine Richtung, schnappte und zuckte, und ich rannte voll auf ihn zu und schrie »AHHHHH!«.

Unmittelbar vor dem Zusammenstoß warf ich mich auf den Boden und rutschte auf dem nassen Marmor glatt unter dem Vieh durch. Es war, wie unter einem Sieben-Tonnen-Panzer durchzuflutschen. Der Krebs hätte sich nur hinzusetzen und mich zu zerquetschen brauchen, aber ehe er kapierte, was vor sich ging, bohrte ich Springflut in den Spalt in seinem Panzer, stieß mich vom Griff ab und kam hinter ihm wieder zum Vorschein.

Das Monster bebte und zischte. Seine Augen lösten sich auf und sein Panzer wurde hellrot, als seine Innereien verdampften. Der leere Panzer fiel krachend auf den Boden und blieb als großer Haufen dort liegen.

Mir blieb keine Zeit, um mein Werk zu bewundern. Ich stürzte zur nächstgelegenen Treppe, während überall um mich herum Halbgötter und Monster Befehle brüllten und ihre Waffen zogen. Meine Hände waren leer. Als magisches Schwert würde Springflut früher oder später in meiner Tasche auftauchen, aber für den Moment steckte es irgendwo im Wrack des Krebses, und ich hatte keine Zeit, es zu holen.

Vor dem Fahrstuhl auf Deck 8 rutschten zwei Dracaenae vor mir vorbei. Von der Hüfte aufwärts waren sie Frauen mit grüner Schuppenhaut, gelben Augen und gespaltenen Zungen; von der Hüfte abwärts hatten sie doppelte Schlangenleiber anstelle von Beinen. Sie hatten Speere und mit Gewichten beschwerte Netze bei sich, und ich wusste aus Erfahrung, dass sie damit umgehen konnten.

»Wasssss isssst dasss?«, fragte die eine. »Ein Preisssss für Kronossss.«

Ich war nicht in der Stimmung für Schlangenbeschwörung, aber vor mir war ein Sockel mit einem Modell des Schiffs, von der Sorte »Sie befinden sich hier«. Ich riss das Ding vom Sockel und schleuderte es auf eine Dracaena. Das Boot traf sie im Gesicht, und sie ging zu Boden. Ich sprang über sie hinüber, schnappte mir den Speer ihrer Freundin und schwang sie im Kreis. Sie knallte in den Fahrstuhl, und ich rannte weiter zum Bug des Schiffes.

»Haltet ihn!«, schrie sie. Höllenhunde bellten. Von irgendwoher pfiff ein Pfeil an meinem Gesicht vorbei und blieb in der Wand des Treppenhauses stecken.

Mir war das egal – solange ich nur die Monster vom Maschinenraum weghalten und Beckendorf mehr Zeit geben konnte.

Als ich die Treppe hochrannte, kam mir ein Junge entgegen. Er sah aus wie gerade aufgewacht und hatte seine Rüstung nur zur Hälfte angelegt. Als er sein Schwert zog und »Kronos« schrie, hörte er sich eher verängstigt als zornig an. Er konnte nicht älter als zwölf sein – ungefähr so alt wie ich bei meiner Ankunft im Camp Half-Blood.

Dieser Gedanke stimmte mich traurig. Der Kleine hatte eine Gehirnwäsche hinter sich – ihm war eingeredet worden, dass er die Götter hasste und bekämpfen musste, nur weil er ein halber Olympier war. Kronos nutzte ihn nur aus, und doch hielt der Kleine mich für seinen Feind.

Ich wollte ihn nicht verletzen und gegen ihn brauchte ich keine Waffe. Ich sprang vor ihn und packte seine Handgelenke, dann presste ich ihn gegen die Wand. Klappernd fiel ihm das Schwert aus der Hand.

Was ich danach tat, hatte ich nicht geplant. Es war wahrscheinlich dumm von mir. Auf jeden Fall brachte es unsere Mission in Gefahr, aber ich konnte mich nicht beherrschen.

»Wenn du überleben willst«, sagte ich zu ihm, »dann verlass sofort das Schiff. Und sag den anderen Halbgöttern auch Bescheid.« Dann stieß ich ihn die Treppe hinunter und er landete ein Geschoss tiefer.

Ich lief weiter aufwärts.

Böse Erinnerungen: An der Cafeteria führte eine Galerie entlang. Annabeth, mein Halbbruder Tyson und ich hatten uns drei Jahre zuvor bei meinem ersten Besuch hier vorbeigeschlichen.

Ich stürzte auf das Hauptdeck hinaus. Vor dem Bug verfärbte sich der Himmel backbords von Lila zu Schwarz. Das gesamte Schiff wirkte gespenstisch verlassen.

Ich brauchte nur auf die andere Seite zu gehen. Dann könnte ich die Treppe zum Hubschrauberlandeplatz hinunterlaufen – unserem Treffpunkt für den Notfall. Mit etwas Glück würde Beckendorf dort zu mir stoßen. Wir würden ins Meer springen. Meine Macht über das Wasser würde uns beide schützen und aus einer Entfernung von dreihundert Metern würden wir die Sprengladung hochgehen lassen.

Ich hatte bereits das halbe Deck hinter mich gebracht, als der Klang einer Stimme mich erstarren ließ. »Du bist spät dran, Percy.«

Luke stand über mir auf dem Balkon, ein Lächeln auf seinem narbigen Gesicht. Er trug Jeans, ein weißes T-Shirt und Flipflops, wie ein ganz normaler Collegestudent, aber seine Augen verrieten die Wahrheit. Sie waren aus massivem Gold.

»Wir warten schon seit Tagen auf dich.« Zuerst klang er ganz normal, wie Luke eben. Aber dann verzerrte sich sein Gesicht. Ein Zittern durchlief seinen Körper, als ob er gerade etwas wirklich Grauenvolles getrunken hätte. Seine Stimme wurde tiefer, uralt und mächtig – die Stimme des Titanenherrschers Kronos. Was er sagte, schrappte wie eine Messerklinge über mein Rückgrat. »Na los, verbeuge dich vor mir.«

»Das hättest du wohl gern«, knurrte ich.

Laistrygonische Riesen zogen auf der anderen Seite des Schwimmbades auf, als hätten sie nur auf ein Stichwort gewartet. Jeder war zwei Meter fünfzig groß und hatte tätowierte Arme, eine Lederrüstung und eine Stachelkeule. Über Luke auf dem Dach erschienen Halbgötter mit Bögen. Zwei Höllenhunde sprangen vom gegenüberliegenden Balkon und bleckten vor mir die Zähne. In Sekundenschnelle war ich umstellt. Das war eine Falle: Niemals hätten sie so schnell in Stellung gehen können, wenn sie nicht gewusst hätten, dass ich kommen würde. Ich schaute zu Luke hoch und in mir kochte die Wut. Ich wusste nicht, ob Lukes Bewusstsein in diesem Körper überhaupt noch am Leben war. Vielleicht schon, so wie seine Stimme sich verändert hatte … aber vielleicht lag das nur daran, dass Kronos sich seiner neuen Gestalt anpasste. Ich sagte mir, dass das keine Rolle spielte. Luke war schon lange, ehe Kronos von ihm Besitz ergriffen hatte, verkorkst und böse gewesen.

Eine Stimme in meinem Kopf sagte: Irgendwann muss ich sowieso gegen ihn kämpfen. Also warum nicht jetzt?

Der Großen Weissagung zufolge würde ich mit sechzehn eine Entscheidung treffen müssen, die die Welt retten oder zerstören würde. Das war nur noch sieben Tage hin. Warum also nicht jetzt? Wenn ich wirklich diese Macht hatte, was konnte eine Woche da für eine Rolle spielen? Ich könnte die Gefahr hier und jetzt beenden, indem ich Kronos erledigte. Es war ja nicht so, als müsste ich zum ersten Mal gegen Monster und Götter kämpfen.

Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, lächelte Luke. Nein, es war ja Kronos. Das durfte ich nicht vergessen.

»Dann komm her«, sagte er. »Wenn du dich traust.«

Die Menge der Ungeheuer teilte sich. Ich ging mit hämmerndem Herzen die Treppe hoch und war sicher, dass mich jemand von hinten erstechen würde, aber sie ließen mich durch. Ich griff in meine Tasche und mein Kugelschreiber wartete dort auf mich. Ich drehte die Kappe herunter und Springflut wuchs zu einem Schwert heran.

Auch Kronos’ Waffe erschien in seiner Hand – eine fast zwei Meter lange Sense, zur Hälfte aus himmlischer Bronze, zur Hälfte aus sterblichem Stahl. Beim bloßen Anblick wurden meine Knie weich. Aber ehe ich mir die Sache anders überlegen konnte, griff ich an.

Die Zeit wurde langsamer. Ich meine, wirklich langsamer, denn Kronos besaß die Macht über sie. Ich hatte das Gefühl, mich durch Sirup zu bewegen. Meine Arme waren so schwer, dass ich mein Schwert kaum heben konnte. Kronos lächelte, schwang in normalem Tempo seine Sense und wartete darauf, dass ich in den Tod kroch.

Ich versuchte, gegen seinen Zauber anzukämpfen. Ich konzentrierte mich auf das Meer, das uns umgab – den Quell meiner Kraft. Ich hatte im Laufe der Jahre immer besser gelernt, diese Kraft zu lenken, aber jetzt schien gar nichts zu passieren.

Ich machte einen weiteren langsamen Schritt vorwärts. Riesen feixten, Dracaenae zischten vor Lachen.

He, Ozean, flehte ich. Jede Hilfe ist willkommen.

Plötzlich verkrampfte sich alles in mir vor Schmerz. Das Boot bekam Schlagseite und die Monster fielen um. An die zehntausend Liter Salzwasser schossen aus dem Schwimmbecken und übergossen mich und Kronos und alle anderen an Deck. Das Wasser belebte mich wieder und brach den Zeitzauber, und ich griff an.

Ich schlug nach Kronos, war aber noch immer zu langsam. Ich beging den Fehler, ihm ins Gesicht zu blicken – in Lukes Gesicht –, das Gesicht eines Typen, der früher einmal mein Freund gewesen war. Sosehr ich ihn auch hasste, es war schwer, ihn zu töten.

Kronos kannte dieses Zögern nicht. Er schlug mit seiner Sense zu. Ich sprang rückwärts, und die schreckliche Schneide verfehlt mich um Haaresbreite und riss zu meinen Füßen ein Loch ins Deck.

Ich versetzte Kronos einen Tritt gegen die Brust. Er taumelte rückwärts, war aber schwerer, als Luke es gewesen wäre. Es war, wie einem Kühlschrank einen Tritt zu versetzen.

Kronos schwang noch einmal seine Sense. Ich fing den Schlag mit Springflut ab, aber sein Hieb war so mächtig, dass meine Klinge ihn nur ablenken konnte. Die Kante der Sense fetzte den Ärmel von meinem Hemd und schrammte über meinen Arm. Es konnte keine schlimme Wunde sein, aber mein halber Körper explodierte vor Schmerz. Mir fiel ein, was ein Meeresdämon einst über Kronos’ Sense gesagt hatte: Vorsichtig, du Trottel. Eine Berührung, und die Klinge trennt dir die Seele vom Körper. Jetzt begriff ich, was er gemeint hatte. Ich verlor nicht nur Blut. Ich konnte spüren, wie meine Kraft, mein Wille, meine Identität verrannen.

Ich taumelte rückwärts, nahm mein Schwert in die linke Hand und stieß verzweifelt zu. Meine Klinge hätte ihn durchbohren müssen, aber sie glitt an seinem Bauch ab, als ob ich massiven Marmor getroffen hätte.

Kronos lachte. »Schwache Leistung, Percy Jackson. Luke hat mir schon gesagt, dass du es beim Schwertkampf nie mit ihm aufnehmen konntest.«

Mir verschwamm alles vor den Augen. Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb. »Luke fand sich ganz schön toll«, sagte ich. »Aber wenigstens fand er sich selbst toll.«

»Eine Schande, dich jetzt schon umzubringen«, sagte Kronos nachdenklich. »Ehe wir zum eigentlichen Schluss kommen. Ich würde gern das Entsetzen in deinen Augen sehen, wenn dir aufgeht, wie ich den Olymp zerstören werde.«

»Dieses Schiff kriegst du doch nie nach Manhattan.« Mein Arm pochte. Schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen.

»Und warum nicht?« Kronos’ goldene Augen glitzerten. Sein Gesicht – Lukes Gesicht – wirkte wie eine Maske: unnatürlich und von hinten her von irgendeiner bösen Macht erleuchtet. »Zählst du vielleicht auf deinen Freund mit dem Sprengstoff?«

Er schaute zum Schwimmbecken hinunter und rief: »Nakamura!«

Ein Teenager in voller griechischer Rüstung drängte sich durch die Menge. Sein linkes Auge war von einer schwarzen Klappe bedeckt. Ich kannte ihn natürlich: Ethan Nakamura, Sohn der Nemesis. Ich hatte ihm im vergangenen Sommer im Labyrinth das Leben gerettet, und zum Dank hatte der kleine Dreckskerl Kronos bei der Rückkehr ins Leben geholfen.

»Befehl ausgeführt, hoher Herr«, rief Ethan. »Wir haben ihn gefunden, wie uns gesagt worden war.«

Er klatschte in die Hände und zwei Riesen kamen angetrampelt und schleiften Charles Beckendorf zwischen sich. Mein Herz wäre fast stehen geblieben. Beckendorf hatte ein geschwollenes Auge und sein Gesicht und seine Arme waren mit Wunden übersät. Seine Rüstung war verschwunden und von seinem Hemd waren nur noch Fetzen übrig.

»Nein!«, schrie ich.

Beckendorf fing meinen Blick auf. Er schaute zu seiner Hand, wie um mir etwas zu sagen. Seine Uhr. Die hatten sie ihm noch nicht abgenommen, und sie war der Auslöser. Konnte es sein, dass der Sprengstoff noch aktiv war? Die Monster hatten ihn doch sicher gleich entschärft.

»Wir haben ihn mittschiffs gefunden«, sagte der eine Riese. »Er hat versucht, sich in den Maschinenraum zu schleichen. Können wir ihn jetzt aufessen?«

»Bald.« Kronos musterte Ethan stirnrunzelnd. »Seid ihr sicher, dass er den Sprengstoff noch nicht aktiviert hat?«

»Er war auf dem Weg zum Maschinenraum, hoher Herr.«

»Woher wisst ihr das?«

»Äh …« Ethan trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Er ging in diese Richtung. Und er hat es uns gesagt. Er hat die Tasche noch immer voll Sprengstoff.«

Langsam verstand ich. Beckendorf hatte sie ausgetrickst. Als ihm aufgegangen war, dass sie ihn fangen würden, hatte er sich umgedreht, um auszusehen, als sei er in die andere Richtung unterwegs. Er hatte sie davon überzeugt, dass er noch nicht im Maschinenraum gewesen war. Das griechische Feuer konnte also immer noch hochgehen. Aber das half uns nicht weiter, solange wir das Schiff nicht verlassen und die Explosion auslösen konnten.

Kronos zögerte.

Kauf es ihm ab, flehte ich ihn in Gedanken an. Mein Arm tat jetzt so weh, dass ich mich kaum auf den Füßen halten konnte.

»Macht seine Tasche auf«, befahl Kronos.

Einer der Riesen riss Beckendorf die Tasche mit dem Sprengstoff von der Schulter. Er schaute hinein, grunzte und stellte sie auf den Kopf. Voller Panik sprangen die anderen Monster zurück. Wenn die Tasche wirklich mit Gefäßen voller griechischem Feuer gefüllt gewesen wäre, wären wir jetzt alle in die Luft geflogen. Aber es fiel nur ein Dutzend Konservendosen voller Pfirsiche heraus.

Ich konnte hören, dass Kronos schwer atmete und sich große Mühe gab, seinen Zorn unter Kontrolle zu halten.

»Habt ihr«, sagte er, »diesen Halbgott vielleicht in der Nähe der Kombüse gefangen?«

Ethan erbleichte. »Äh …«

»Und habt ihr vielleicht jemanden losgeschickt, um mal im MASCHINENRAUM NACHZUSEHEN?«

Ethan taumelte voller Entsetzen rückwärts, dann machte er auf dem Absatz kehrt und stürzte davon.

Ich fluchte in Gedanken. Jetzt blieben uns nur Minuten, bis die Bomben entschärft werden würden. Wieder fing ich Beckendorfs Blick auf und stellte eine stumme Frage, in der Hoffnung, dass er mich verstehen würde: Wie lange?

Er krümmte Finger und Daumen zum Kreis. Null. Der Zeitzünder war nicht auf Verzögerung eingestellt. Wenn er auf den Auslöser drückte, dann würde das Schiff sofort hochgehen. Wir würden niemals weit genug wegkommen, ehe wir es sprengten. Die Monster würden uns vorher umbringen oder die Sprengladung entschärfen oder beides.

Kronos drehte sich mit triumphierendem Grinsen zu mir um. »Du musst meine unfähigen Assistenten entschuldigen, Percy Jackson. Aber es macht keinen Unterschied, denn jetzt haben wir dich. Wir haben schon seit Wochen gewusst, dass du kommen würdest.«

Er streckte die Hand aus und an seinem Handgelenk baumelte ein kleines silbernes Armband mit einer Sense als Anhänger – das Symbol des Titanenherrschers.

Die Wunde in meinen Arm beeinträchtigte meine Denkfähigkeit, aber ich murmelte: »Kommunikationsgerät … Spion im Camp …«

Kronos schmunzelte. »Auf Freunde ist kein Verlass. Die lassen einen immer im Stich. Luke hat für diese Lektion bitter bezahlen müssen. Jetzt lass dein Schwert fallen und ergib dich, sonst stirbt dein Freund.«

Ich schluckte. Einer der Riesen legte die Hand um Beckendorfs Hals. Ich konnte ihn nicht retten, und wenn ich es versuchte, würde er sterben, ehe ich ihn auch nur erreicht hätte. Und ich auch.

Beckendorfs Lippen formten ein Wort: Geh.

Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte ihn einfach nicht im Stich lassen.

Der zweite Riese durchwühlte noch immer die Pfirsichdosen, was bedeutete, dass Beckendorfs linker Arm frei war. Langsam hob er ihn – in Richtung der Uhr an seinem rechten Handgelenk.

Ich wollte schreien: NEIN!

Dann zischte unten am Schwimmbecken eine Dracaena: »Wassss macht er da? Wassss isssst dasss an sssseinem Arm?«

Beckendorf schloss die Augen und berührte die Uhr mit der Hand.

Mir blieb keine Wahl. Ich schleuderte mein Schwert wie einen Wurfspeer auf Kronos. Es prallte von seiner Brust ab, ohne ihn zu verletzen, lenkte ihn aber immerhin ab. Ich drängte mich durch die Monster und sprang von der Reling – auf das über dreißig Meter unter mir liegende Wasser zu.

Ich hörte tief unten im Schiff ein Grollen. Monster schrien mir von oben hinterher. Ein Speer segelte an meinem Ohr vorbei. Ein Pfeil durchbohrte meinen Oberschenkel, aber ich hatte kaum Zeit, um den Schmerz zu registrieren. Ich fiel ins Meer und beschwor die Strömung, mich weit, weit wegzubringen – hundert Meter, zweihundert Meter.

Noch aus der Ferne ließ die Explosion die Welt erbeben. Hitze versengte meinen Hinterkopf. Die Prinzessin Andromeda flog in die Luft, ein massiver Feuerball aus grünen Flammen, der in den dunklen Himmel aufstieg und alles verschlang.

Beckendorf, dachte ich.

Dann verlor ich das Bewusstsein und sank wie ein Anker auf den Meeresboden.


Ich begegne meiner fischigen Verwandtschaft

Träume von Halbgöttern sind Mist.

Das Problem ist, dass sie nie einfach nur Träume sind. Sie müssen immer gleich Visionen, Omen und der ganze andere mystische Kram sein, von dem mir das Gehirn wehtut.

In meinem Traum war ich in einem dunklen Palast oben auf einem Berg. Leider erkannte ich ihn: Es war der Palast der Titanen auf dem Gipfel des Othrys, auch bekannt als Mount Tamalpais, in Kalifornien. Die Haupthalle lag offen in der Nacht, sie war umstanden von schwarzen griechischen Säulen und Statuen der Titanen. Fackelschein loderte vor dem schwarzen Marmorboden. Mitten im Saal krümmte sich ein Riese in Rüstung unter dem Gewicht eines wirbelnden Wolkentrichters – Atlas, der den Himmel trug.

Zwei weitere Riesen standen neben einem bronzenen Kohlenbecken und sahen sich Bilder in den Flammen an.

»Ganz schöne Explosion«, sagte einer. Er trug eine schwarze Rüstung, die mit Silberpunkten besetzt war und aussah wie eine sternklare Nacht. Sein Gesicht war von einem Kriegshelm bedeckt, an dem sich auf jeder Seite ein Widderhorn krümmte.

»Spielt keine Rolle«, sagte der andere. Er trug goldene Gewänder und hatte goldene Augen wie Kronos. Sein ganzer Körper leuchtete. Er erinnerte mich an Apollo, den Sonnengott, nur war der Schein dieses Titanen greller und seine Miene grausamer. »Die Götter haben die Herausforderung angenommen. Bald werden sie vernichtet sein.«

Die Bilder im Feuer waren nicht schwer zu deuten: Stürme, einstürzende Gebäude, vor Entsetzen schreiende Sterbliche.

»Ich gehe nach Osten, um unsere Truppen zusammenzurufen«, sagte der goldene Titan. »Krios, du bleibst hier, um den Othrys zu hüten.«

Der Typ mit den Widderhörnern grunzte. »Immer krieg ich die blöden Jobs. Herr des Südens. Herr der Sternbilder. Jetzt muss ich auch noch bei Atlas den Babysitter spielen, während du Spaß hast.«

Unter dem Wirbelwind aus Wolken brüllte Atlas vor Qual. »Lasst mich raus, verdammt noch mal! Ich bin euer größter Krieger! Nehmt meine Last, damit ich kämpfen kann!«

»Klappe halten!«, schrie der goldene Titan. »Du hast deine Chance gehabt, Atlas. Du hast versagt. Kronos will dich genau da haben, wo du bist. Und was dich angeht, Krios, tu deine Pflicht.«

»Und wenn du weitere Krieger brauchst?«, fragte Krios. »Unser Neffe, dieser Verräter im Smoking, wäre dir in einem Kampf keine große Hilfe.«

Der goldene Titan lachte. »Mach dir um ihn keine Gedanken. Außerdem werden die Götter schon mit unserer ersten kleinen Herausforderung kaum fertig – und sie haben keine Ahnung, wie viele wir noch im Ärmel haben. Glaub mir, in wenigen Tagen wird der Olymp eine Ruine sein und wir werden uns hier wieder treffen, um das Heraufziehen des Sechsten Zeitalters zu feiern.«

Der goldene Titan ging in lodernden Flammen auf und war verschwunden.

»Aber klar doch«, murrte Krios. »Er geht in Flammen auf. Und ich muss diese blöden Widderhörner tragen.«

Die Szene wechselte. Jetzt stand ich vor dem Palast und versteckte mich im Schatten einer griechischen Säule. Ein Junge stand neben mir und belauschte die Titanen. Er hatte dunkle seidenweiche Haare, eine bleiche Haut und dunkle Kleider – mein Freund Nico di Angelo, der Sohn des Hades.

Er sah mir mit düsterer Miene ins Gesicht. »Siehst du, Percy?«, flüsterte er. »Die Zeit läuft dir davon. Glaubst du wirklich, du kannst sie ohne meinen Plan schlagen?«

Seine Worte spülten so kalt wie die Meereswogen über mich hinweg und meine Träume wurden schwarz.

»Percy?«, fragte eine tiefe Stimme.

Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er in Alufolie in der Mikrowelle erhitzt worden. Ich öffnete die Augen und sah einen riesigen Schatten über mir aufragen.

»Beckendorf?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Nein. Bruder.«

Ich stelle scharf und sah einen Zyklopen vor mir – ein missgestaltetes Gesicht, mausbraune Haare, ein großes, von Besorgnis erfülltes braunes Auge. »Tyson?«

Mein Bruder verzog seinen Mund zu einem zahnreichen Grinsen. »Jawoll! Dein Gehirn funktioniert!«

Ich war mir da nicht so sicher. Mein Körper fühlte sich schwerelos und kalt an und meine Stimme hatte einen falschen Klang. Ich konnte Tyson hören, aber es wirkte eher wie Schwingungen in meinem Schädel, nicht wie echte Töne.

Ich setzte mich auf und eine hauchdünne Decke glitt von mir herab. Ich befand mich auf einem Bett aus seidenweichem gewebtem Seetang, in einem mit Abalonenschalen getäfelten Zimmer. Leuchtende Perlen von Basketballgröße schwebten unter der Decke und leuchteten uns. Ich war unter Wasser.

Als Sohn des Poseidon und so hatte ich damit keine Probleme. Unter Wasser kann ich problemlos atmen und meine Kleidung wird nicht einmal nass, solange ich das nicht will. Aber es war trotzdem noch ein ziemlicher Schock, als ein Hammerhai durch das Schlafzimmerfenster hereinschwamm, mich ansah und dann gelassen auf der anderen Seite des Zimmers wieder hinausglitt.

»Wo …?«

»Daddys Palast«, sagte Tyson.

Unter anderen Umständen hätte ich mich gefreut. Ich hatte das Reich Poseidons noch nie besucht und seit Jahren davon geträumt. Aber mein Kopf tat weh. Mein Hemd war noch immer mit Brandspuren von der Explosion übersät. Die Wunden an meinen Armen und Beinen waren verheilt – bei mir reicht es, einfach im Meer zu sein, wenn es lange genug ist –, aber ich hatte noch immer das Gefühl, dass ein laistrygonisches Fußballteam in Stollenschuhen auf mir herumgetrampelt war.

»Wie lange …?«

»Wir haben dich gestern Abend gefunden«, sagte Tyson. »Als du durch das Wasser gesunken bist.«

»Und die Prinzessin Andromeda?«

»Hat ka-bumm gemacht«, bestätigte Tyson.

»Beckendorf war mit an Bord. Habt ihr …?«

Tysons Gesicht verdüsterte sich. »Keine Spur von ihm. Tut mir leid, Bruder.«

Ich starrte aus dem Fenster in tiefblaues Wasser. Beckendorf hätte im Herbst aufs College gehen sollen. Er hatte eine Freundin, eine Menge Freunde und das ganze Leben noch vor sich. Er konnte doch nicht einfach verschwunden sein. Vielleicht hatte er es wie ich geschafft, das Schiff zu verlassen. Vielleicht war er über Bord gesprungen … und dann? Im Unterschied zu mir konnte er einen Fall von über dreißig Metern ins Wasser nicht überlebt haben. Er konnte sich nicht weit genug von der Explosion entfernt haben.

Ich spürte in meinem Bauch, dass er tot war. Er hatte sich geopfert, um die Prinzessin Andromeda zu vernichten, und ich hatte ihn im Stich gelassen.

Ich dachte an meinen Traum: die Titanen, die über die Explosion gesprochen hatten, als ob sie keine Rolle spielte. Nico di Angelo, der meinte, ich könnte Kronos niemals besiegen, ohne Nicos Plan zu befolgen – eine gefährliche Idee, der ich seit über einem Jahr auswich.

Ein Knall in der Ferne ließ den Raum erzittern. Grünes Licht loderte draußen auf und das ganze Meer war plötzlich taghell erleuchtet.

»Was war das?«, fragte ich.

Tyson machte ein besorgtes Gesicht. »Daddy wird das erklären. Komm. Er lässt Monster in die Luft hüpfen.«

Der Palast hätte der aufregendste Ort sein können, den ich je gesehen hatte, wenn er nicht gerade zerstört würde. Wir schwammen durch eine lange Halle und schossen dann auf einem Geysir aufwärts. Als wir über die Dächer aufstiegen, hielt ich den Atem an – na ja, soweit man unter Wasser den Atem anhalten kann.

Der Palast war so groß wie die Stadt auf dem Olymp, mit großen Innenhöfen, Gärten und Säulenhallen. Die Gärten waren mit Korallenkolonien und leuchtenden Seepflanzen geschmückt. Es gab zwanzig oder dreißig aus Abalonenschalen erbaute Gebäude – weiß, aber in allen Farben des Regenbogens schimmernd. Fische und Kraken jagten durch die Fenster ein und aus. Die Wege waren mit glühenden Perlen gesäumt wie mit Christbaumkerzen.

Der Haupthof war voller Krieger – Meermänner mit Fischschwänzen von der Taille abwärts und menschlichen Oberkörpern, nur war ihre Haut blau, was ich noch nie gesehen hatte. Einige kümmerten sich um Verwundete. Andere wetzten Speere und Schwerter. Einer kam eilig an uns vorbeigeschwommen. Seine Augen waren leuchtend grün, wie dieses Zeug in Glo-Sticks, und er hatte Haizähne. Sowas kriegt man in der Kleinen Meerjungfrau nicht zu sehen.

Vor dem Haupthof standen Verteidigungsanlagen – Türme, Mauern und Waffen –, aber die meisten waren zerstört worden. Andere loderten in einem seltsamen grünen Licht, das ich sehr gut kannte – griechisches Feuer, das auch unter Wasser brennt.

Dahinter erstreckte sich der Meeresboden in die Finsternis. Ich konnte tobende Schlachten erahnen – Energieblitze, Explosionen, das Funkeln von aufeinanderprallenden Armeen. Ein normaler Mensch hätte in dieser Dunkelheit nichts sehen können. Aber was rede ich, ein normaler Mensch wäre schließlich auch vom Druck zerquetscht worden und vor Kälte erfroren. Nicht einmal meine wärmesensitiven Augen konnten genau erkennen, was hier vor sich ging.

Am Rand des Palastkomplexes explodierte ein Tempel mit einem roten Korallendach und ergoss sich in Zeitlupe als Feuer und Schutt über die Gärten. Aus der Dunkelheit darüber löste sich eine riesige Gestalt – ein Tintenfisch, der größer war als ein Wolkenkratzer. Er war umgeben von einer funkelnden Staubwolke – das dachte ich jedenfalls zuerst, bis mir aufging, dass es sich um einen Schwarm von Meermännern handelte, die versuchten, das Ungeheuer anzugreifen. Der Tintenfisch ließ sich auf den Palast sinken und schlug mit seinen Tentakeln um sich, wobei er eine ganze Gruppe von Kriegern zerquetschte. Dann ergoss sich vom Dach eines der höchsten Häuser ein leuchtender Bogen aus blauem Licht. Das Licht traf den riesigen Tintenfisch und das Ungeheuer löste sich im Wasser auf wie Lebensmittelfarbe.

»Daddy«, sagte Tyson und zeigte in die Richtung, aus der das Licht gekommen war.

»Das war er?« Plötzlich wuchs meine Hoffnung. Mein Dad besaß unglaubliche Kräfte. Er war der Gott des Meeres. Er würde mit diesem Angriff fertig werden, oder? Vielleicht würde er mich dabei helfen lassen.

»Hast du mitgekämpft?«, fragte ich Tyson voller Bewunderung. »Ich meine, hast du mit deiner wahnsinnigen Zyklopenkraft Köpfe eingeschlagen und so?«

Tyson verzog unglücklich das Gesicht und sofort bereute ich diese Frage. »Ich habe … Waffen heile gemacht«, murmelte er. »Komm. Wir gehen zu Daddy.«

Ich weiß, das hört sich für Leute mit, na ja, normalen Eltern vielleicht seltsam an, aber ich hatte meinen Dad in meinem Leben erst vier-oder fünfmal gesehen und nie länger als einige Minuten. Die griechischen Götter hängen schließlich nicht bei den Basketballspielen ihrer Kinder herum. Aber ich hätte trotzdem gedacht, ich würde Poseidon auf den ersten Blick erkennen.

Das war ein Irrtum.

Das Dach des Tempels war ein großes offenes Deck, das als Kommandozentrale eingerichtet worden war. Ein Mosaik auf dem Boden zeigte eine detaillierte Karte des Palastes und des ihn umgebenden Ozeans, aber das Mosaik hielt nicht still. Die bunten Steine, die unterschiedliche Armeen und Meeresungeheuer darstellten, bewegten sich, wenn die Truppen ihre Stellung änderten. Gebäude, die im wirklichen Leben einstürzten, stürzten auch im Bild ein.

Um das Mosaik herum stand eine seltsame Ansammlung von Kriegern, die mit düsteren Gesichtern die Schlacht beobachteten, aber keiner von ihnen sah aus wie mein Dad. Ich hielt Ausschau nach einem großen Mann mit sonnengebräunter Haut und einem schwarzen Bart, der Bermudashorts und ein Hawaiihemd trug.

Aber so jemanden gab es hier nicht. Ein Meermann hatte zwei Fischschwänze statt nur einen. Seine Haut war grün und seine Rüstung mit Perlen besetzt. Seine schwarzen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden, und er sah jung aus – aber bei Nichtmenschen weiß man das nie, sie könnten genauso gut tausend Jahre alt sein oder nur drei. Neben ihm stand ein alter Mann mit einem buschigen weißen Bart und grauen Haaren. Er schien seine Rüstung kaum tragen zu können. Er hatte grüne Augen und Lachfältchen um die Augen, aber jetzt lächelte er nicht. Er musterte die Karte und stützte sich auf einen riesigen Metallstab. Rechts neben ihm stand eine schöne Frau in grüner Rüstung mit langen schwarzen Haaren. Und ich sah einen Delphin, einen ganz normalen Delphin, aber auch er war in die Betrachtung der Karte vertieft.

»Dauphin«, sagte der alte Mann. »Schick Palaimon und seine Hai-Legion an die Westfront. Wir müssen diese Leviathane neutralisieren.«

Der Delphin redete mit Zwitscherstimme, aber in Gedanken konnte ich ihn verstehen. Ja, hoher Herr. Er schwamm eilig davon.

Entsetzt sah ich Tyson und dann wieder den alten Mann an.

Es schien mir nicht möglich, aber … »Dad?«, fragte ich.

Der alte Mann schaute auf. Ich erkannte das Funkeln in seinen Augen, aber sein Gesicht … Er sah vierzig Jahre älter aus.

»Hallo, Percy.«

»Was – was ist mit dir passiert?«

Tyson versetzte mir einen Rippenstoß. Er schüttelte so energisch den Kopf, dass ich Angst hatte, er könnte herunterfallen, aber Poseidon schien nicht beleidigt zu sein.

»Ist schon gut, Tyson«, sagte er. »Percy, bitte entschuldige mein Aussehen. Dieser Krieg hat mir arg zu schaffen gemacht.«

»Aber du bist unsterblich«, sagte ich leise. »Du kannst aussehen … wie auch immer du willst.«

»Ich spiegele den Zustand meines Reiches wider«, sagte er. »Und der ist im Moment ziemlich übel. Percy, ich sollte dich wohl vorstellen – ich fürchte, du hast meinen Leutnant Dauphin, den Gott der Delphine, verpasst. Das hier ist meine, äh, Frau Amphitrite. Meine Liebe …«

Die Dame in der grünen Rüstung musterte mich kalt, dann verschränkte sie die Arme. »Entschuldige mich, mein Gemahl. Ich werde in der Schlacht benötigt.«

Sie schwamm weg.

Ich fühlte mich gar nicht wohl in meiner Haut, aber ich konnte ihr wohl keine Vorwürfe machen. Ich hatte nie weiter darüber nachgedacht, aber mein Dad hatte eine unsterbliche Gemahlin. Seine ganzen Romanzen mit Sterblichen, auch die mit meiner Mutter … na ja, Amphitrite war davon vermutlich nicht gerade begeistert.

Poseidon räusperte sich. »Und, na ja … das ist mein Sohn Triton. Äh, mein anderer Sohn.«

»Dein Sohn und Erbe«, korrigierte der grüne Typ. Sein doppelter Fischschwanz schlug hin und her. Er lächelte mich an, aber in seinen Augen lag keine Freundlichkeit. »Hallo, Perseus Jackson. Kommst du uns endlich zu Hilfe?«

Er tat so, als ob ich zu spät käme oder faul wäre. Wenn man unter Wasser rot werden kann, dann wurde ich das vermutlich.

»Sag mir, was ich tun soll«, sagte ich.

Triton lächelte, als sei das ein rührender Vorschlag – als wäre ich ein putziger Hund, der für ihn bellte oder so. Er drehte sich zu Poseidon um. »Ich kümmere mich um die Frontlinie, Dad. Keine Sorge. Ich werde nicht versagen.«

Er nickte Tyson höflich zu. Wieso wurde mir nicht so viel Achtung zuteil? Dann schoss er durchs Wasser davon.

Poseidon seufzte. Er hob seinen Stab und der verwandelte sich in seine übliche Waffe, einen riesigen Dreizack. Die Zinken glühten bläulich und das Wasser um sie herum brodelte vor Energie.

»Tut mir leid«, sagte er.

Eine große Seeschlange tauchte über uns auf und senkte sich in Spiralen auf das Dach herab. Sie war grellorange und ihr Maul mit den riesigen Zähnen war groß genug, um eine Turnhalle zu verschlingen.

Poseidon schaute kurz hoch, zielte mit dem Dreizack auf das Monstrum und ließ blaue Energie darauf los. Ka-bumm. Das Ungeheuer zerbarst in eine Million Goldfische und alle schwammen panisch davon.

»Meine Familie macht sich Sorgen«, redete Poseidon weiter, als sei nichts passiert. »Die Schlacht gegen Okeanos läuft gar nicht gut.«

Er zeigte auf den Rand des Mosaiks. Mit dem Ende des Dreizacks tippte er auf das Bild eines Meermannes, der größer war als die anderen und Stierhörner trug. Er fuhr in einer Kutsche, die von Langusten gezogen wurde, und statt eines Schwertes schwenkte er eine lebende Schlange.

»Okeanos«, sagte ich und versuchte, mich zu erinnern. »Der Titan des Meeres?«

Poseidon nickte. »Im ersten Krieg zwischen den Göttern und den Titanen war er neutral. Aber Kronos hat ihn überredet zu kämpfen. Das ist … na ja, es ist kein gutes Zeichen. Okeanos würde nie Stellung beziehen, wenn er nicht sicher wäre, dass er auf den Sieger setzt.«

»Er sieht ziemlich blöd aus«, sagte ich und versuchte, fröhlich zu klingen. »Ich meine, wer kämpft denn mit einer Schlange?«

»Daddy wird sie zusammenknoten«, sagte Tyson voller Überzeugung.

Poseidon lächelte, aber er sah müde aus. »Ich freue mich über euer Vertrauen. Wir sind jetzt seit fast einem Jahr im Krieg. Meine Kräfte sind bald am Ende. Und er rekrutiert immer noch neue Truppen, die er mir entgegensenden kann – Meeresungeheuer, so uralt, dass ich sie vergessen hatte.«

In der Ferne hörte ich eine Explosion. Ungefähr einen Kilometer entfernt löste sich ein Berg aus Korallen unter dem Gewicht von zwei riesigen Wesen auf. Ich konnte ihre Umrisse nur ahnen. Eines war ein Hummer. Das andere war ein riesiges menschenähnliches Geschöpf, wie ein Zyklop, aber es war von einem Gewimmel aus Gliedern umgeben. Zuerst dachte ich, es trage ein Bündel aus riesigen Tintenfischen mit sich herum. Dann ging mir auf, dass es seine Arme waren – hundert wirbelnde, kämpfende Arme.

»Briareos!«, rief ich.

Ich war glücklich über seinen Anblick, aber er schien um sein Leben zu kämpfen. Er war der Letzte seiner Art – ein Hunderthändiger, ein Vetter der Zyklopen. Wir hatten ihn im vergangenen Sommer aus dem Kerker des Kronos gerettet und ich wusste, dass er sich zu Poseidon begeben hatte, um ihm zu helfen, aber ich hatte seit damals nichts mehr von ihm gehört.

»Er ist ein guter Kämpfer«, sagte Poseidon. »Ich wünschte, ich hätte eine ganze Armee von seinesgleichen, aber er ist der Einzige.«

Ich sah zu, wie Briareos vor Wut aufschrie und den Hummer hochhob, der zappelte und mit seinen Scheren zuschnappte. Der Riese warf ihn vom Korallenberg und der Hummer verschwand in der Dunkelheit. Briareos schwamm hinterher, seine hundert Arme wirbelten herum wie die Schraube eines Motorbootes.

»Percy, vielleicht haben wir nicht viel Zeit«, sagte mein Dad. »Erzähl mir von deiner Mission. Hast du Kronos gesehen?«

Ich erzählte ihm alles, obwohl meine Stimme versagte, als ich zu Beckendorf kam. Ich schaute in die Höfe hinunter und sah Hunderte von verwundeten Meermännern auf Behelfsbetten liegen. Ich sah Reihen von Korallenhügeln, bei denen es sich um eilig ausgehobene Gräber handeln musste. Mir ging auf, dass Beckendorf nicht der erste Tote war. Er war einer von Hunderten, vielleicht Tausenden. Ich hatte mich noch nie so wütend und hilflos gefühlt.

Poseidon strich sich den Bart. »Percy, Beckendorf hat sich für den Heldentod entschieden. Du trägst daran keine Schuld. Der Armee des Kronos ist ein Schlag zugefügt worden. Viele wurden vernichtet.«

»Aber wir haben ihn nicht getötet, oder?«

Als ich das sagte, wusste ich, dass es eine naive Hoffnung war. Wir konnten vielleicht sein Schiff sprengen und seine Monster zerlegen, aber ein Titanenherrscher würde sich nicht so leicht umbringen lassen.

»Nein«, gab Poseidon zu. »Aber ihr habt unserer Seite ein wenig Zeit erkauft.«

»Auf dem Schiff waren Halbgötter«, sagte ich und dachte an den Jungen, den ich auf der Treppe gesehen hatte. Aus irgendeinem Grund hatte ich es mir durchgehen lassen, mich nur auf die Monster und auf Kronos zu konzentrieren. Ich hatte mir eingeredet, dass es in Ordnung war, ihr Schiff zu zerstören, weil sie schlecht waren, weil sie meine Stadt angreifen wollten und weil sie außerdem nicht richtig getötet werden konnten. Monster lösten sich einfach in Luft auf und nahmen irgendwann wieder Gestalt an. Aber Halbgötter …

Poseidon legte mir die Hand auf die Schulter. »Percy, auf dem Schiff waren nur wenige Halbgottkrieger, und alle haben freiwillig für Kronos gekämpft. Vielleicht haben sie deine Warnung beherzigt und sich gerettet. Wenn nicht … dann war das ihre Entscheidung.«

»Sie hatten eine Gehirnwäsche durchgemacht!«, sagte ich. »Jetzt sind sie tot und Kronos ist noch am Leben. Und ich soll mich deshalb besser fühlen?«

Ich starrte wütend das Mosaik an – winzige Explosionen zerstörten die Monster. Es sah so leicht aus, wenn es nur ein Bild war.

Tyson legte den Arm um mich. Wenn das irgendein anderer versucht hätte, hätte ich ihn weggestoßen, aber Tyson war zu groß und zu stur. Er umarmte mich, ob ich das wollte oder nicht. »Nicht deine Schuld, Bruder. Kronos explodiert nicht gut. Nächstes Mal nehmen wir mehr Sprengstoff.«

»Percy«, sagte mein Vater. »Beckendorf hat sich nicht umsonst geopfert. Du hast die Invasionstruppe zerschlagen. New York wird für einige Zeit sicher sein, und damit können die Olympier sich der größeren Bedrohung widmen.«

»Der größeren Bedrohung?« Ich dachte daran, was der goldene Titan in meinem Traum gesagt hatte: Die Götter haben die Herausforderung angenommen. Bald werden sie vernichtet sein.

Ein Schatten legte sich auf das Gesicht meines Vaters. »Du hattest genug Kummer für einen Tag. Frag Chiron, wenn du wieder im Camp bist.«

»Im Camp? Aber du hast hier Probleme. Ich möchte helfen.«

»Das kannst du nicht, Percy. Deine Aufgabe liegt anderswo.«

Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. Hilfesuchend sah ich Tyson an.

Mein Bruder nagte an seiner Lippe. »Daddy … Percy kann mit dem Schwert kämpfen. Er ist gut.«

»Das weiß ich«, sagte Poseidon sanft.

»Dad, ich kann helfen«, sagte ich. »Ich weiß, dass ich das kann. Ihr haltet hier nicht mehr lange durch.«

Eine Feuerkugel jagte hinter den feindlichen Linien in den Himmel. Ich dachte, Poseidon würde sie ablenken oder so, aber sie landete in der äußeren Ecke des Hofes und explodierte, wobei ein paar Meermänner durch das Wasser geschleudert wurden. Poseidon zuckte zusammen, als sei er getroffen worden.

»Geh zurück ins Camp«, sagte er dringlich. »Und sag Chiron, dass es Zeit ist.«

»Zeit wozu?«

»Du musst die Weissagung hören. Die gesamte Weissagung.«

Ich brauchte nicht zu fragen, welche Weissagung. Ich hörte seit Jahren von der »Großen Weissagung«, aber niemand hatte sie mir jemals ganz verraten wollen. Ich wusste nur, dass ich eine Entscheidung fällen musste, die das Schicksal der Welt entscheiden würde – aber ich sollte mich nicht unter Druck gesetzt fühlen.

»Und was, wenn das die Entscheidung ist, die ich fällen muss?«, fragte ich. »Ob ich hierbleibe und kämpfe oder ob ich gehe? Was, wenn ich dich verlasse und du …?«

Ich konnte nicht »stirbst« sagen. Götter können eigentlich nicht sterben, aber ich hatte es schon erlebt. Und auch wenn sie nicht starben, konnten sie zu fast nichts reduziert werden, in die Verbannung geschickt oder in den Tiefen des Tartarus eingekerkert wie Kronos.

»Percy, du musst weg hier«, drängte Poseidon. »Ich weiß nicht, wie deine Entscheidung am Ende aussehen wird, aber dein Kampf muss oben in der Welt stattfinden. Und du musst auf jeden Fall deine Freunde im Camp warnen. Kronos kannte deine Pläne. Es gibt einen Spion bei euch. Wir halten hier schon durch. Uns bleibt ja nichts anderes übrig.«

Tyson packte verzweifelt meine Hand. »Du wirst mir fehlen, Bruder.«

Als er uns ansah, schien unser Vater um weitere zehn Jahre zu altern. »Tyson, auch du hast deine Aufgabe, mein Sohn. Du wirst in der Waffenschmiede gebraucht.«

Tyson schmollte noch immer.

»Dann geh ich eben«, schniefte er. Er presste mich so fest an sich, dass er mir fast die Rippen gebrochen hätte. »Percy, sei vorsichtig! Lass dich nicht von den Monstern totmachen!«

Ich versuchte, zuversichtlich zu nicken, aber das alles war zu viel für den Großen. Er schluchzte und schwamm zur Waffenschmiede, wo seine Vettern Schwerter und Speere reparierten.

»Du solltest ihn kämpfen lassen«, sagte ich zu meinem Vater. »Er findet es schrecklich, in der Waffenschmiede festzusitzen, siehst du das nicht?«

Poseidon schüttelte den Kopf. »Es ist schlimm genug, dass ich dich in die Gefahr hinauslassen muss. Tyson ist zu jung. Ich muss ihn beschützen.«

»Du solltest ihm vertrauen«, sagte ich. »Und nicht versuchen, ihn zu beschützen.«

Poseidons Augen loderten auf. Ich dachte, ich sei zu weit gegangen, aber dann schaute er auf das Mosaik hinab und seine Schultern sackten nach unten. Auf den Fliesen kam der Seeheini mit dem Langustenkarren immer näher an den Palast heran.

»Okeanos ist im Anmarsch«, sagte mein Vater. »Ich muss mich ihm zum Kampf stellen.«

Ich hatte noch nie Angst um einen Gott gehabt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie mein Dad diesen Titanen besiegen sollte.

»Ich werde die Stellung halten«, versprach Poseidon. »Ich werde mein Reich nicht hergeben. Aber sag mal, Percy, hast du noch mein Geburtstagsgeschenk vom vorigen Sommer?«

Ich nickte und zog meine Camp-Halskette hervor. Daran hing für jeden Sommer, den ich im Camp Half-Blood verbracht hatte, eine Perle, aber seit dem letzten Jahr hatte ich auch einen Sanddollar daran befestigt. Den hatte mein Vater mir zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Er hatte gesagt, ich würde schon wissen, wann ich ihn »ausgeben« sollte, aber bisher war ich nicht dahintergekommen, was er gemeint hatte. Ich wusste nur, dass der Sanddollar nicht in die Automaten in der Schulmensa passte.

»Die Zeit ist reif«, versprach er. »Wenn wir Glück haben, sehen wir uns nächste Woche an deinem Geburtstag und dann feiern wir richtig.«

Er lächelte, und für einen Moment sah ich das alte Licht in seinen Augen.

Dann wurde das Meer vor uns dunkel, als ziehe ein Tintensturm herauf. Donner grollte, was unter Wasser doch eigentlich unmöglich sein sollte. Eine gewaltige eisige Erscheinung rückte an. Ich spürte, wie eine Welle der Furcht die Armeen unter uns ergriff.

»Ich muss meine wahre Göttergestalt annehmen«, sagte Poseidon. »Geh – und viel Glück, mein Sohn.«

Ich hätte ihn gern ermutigt, ihn umarmt oder so, wusste aber, dass ich hier nicht länger herumlungern durfte. Wenn ein Gott seine wahre Gestalt annimmt, ist seine Macht so groß, dass jeder Sterbliche, der ihn anschaut, zu nichts zerfallen muss.

»Auf Wiedersehen, Vater«, brachte ich heraus.

Dann wandte ich mich ab. Ich forderte die Meeresströmungen auf, mir zu helfen. Wasser wirbelte um mich herum, und ich schoss in einem Tempo an die Oberfläche, das einen normalen Menschen wie einen Ballon hätte platzen lassen.

Als ich mich umschaute, sah ich nur noch die grünen und blauen Blitze, während mein Vater gegen den Titanen kämpfte und das Meer von den beiden Armeen zerrissen wurde.


Ich werfe einen heimlichen Blick auf meinen Tod

Wenn ihr im Camp Half-Blood beliebt sein wollt, kommt bloß nicht mit schlechten Nachrichten von einem Einsatz zurück.

Sowie ich aus dem Ozean stieg wussten alle, dass ich wieder da war. Unser Strand liegt am Nordufer von Long Island, und er ist verzaubert, deshalb können die meisten Leute ihn nicht mal sehen. Und am Strand erscheint einfach niemand, es sei denn, er ist Halbgott oder Gott oder ein Pizzabote, der sich wirklich total verirrt hat. (Das ist tatsächlich schon vorgekommen – aber das ist eine andere Geschichte.)

An diesem Nachmittag war jedenfalls Connor Stoll aus der Hermes-Hütte der Ausguck vom Dienst. Als er mich entdeckte, regte er sich dermaßen auf, dass er aus seinem Baum fiel. Dann stieß er ins Muschelhorn, um das Camp zu verständigen, und rannte mir entgegen.

Connor hatte ein schräges Grinsen, das zu seinem schrägen Sinn für Humor passte. Er ist ein ziemlich netter Typ, aber man sollte immer eine Hand auf der Brieftasche liegen haben, wenn er in der Nähe ist, und darf ihm unter keinen Umständen Rasiercreme überlassen, wenn man nicht will, dass sein Schlafsack damit vollgeschmiert wird. Er hat braune Locken und ist ein winziges bisschen kleiner als sein Bruder Travis, nur daran kann ich sie auseinanderhalten. Sie haben beide so wenig Ähnlichkeit mit meinem alten Feind Luke, dass es schwer zu glauben ist, dass sie allesamt Söhne des Hermes sind.

»Percy!!«, schrie Connor. »Was ist passiert? Wo ist Beckendorf?«

Dann sah er mein Gesicht und sein Grinsen löste sich auf. »Oh nein. Die arme Silena. Heiliger Zeus, wenn sie das erfährt …!«

Zusammen stiegen wir die Sanddünen hoch. Einige hundert Meter entfernt strömten uns schon die anderen entgegen, strahlend und aufgeregt. Percy ist wieder da!, dachten sie vermutlich. Der Tag ist gerettet! Vielleicht hat er ja Andenken mitgebracht.

Ich blieb am Speisepavillon stehen und wartete auf sie. Ich war nicht scharf darauf, auf sie loszustürzen, um ihnen zu erzählen, was ich für ein Versager war.

Ich schaute über das Tal hinweg und versuchte, mich zu erinnern, wie Camp Half-Blood damals auf den ersten Blick auf mich gewirkt hatte. Es kam mir vor, als wäre das eine Trilliarde Jahre her.

Vom Speisepavillon aus konnte man so ungefähr alles überblicken. Hügel umgaben das Tal. Auf dem höchsten, dem Half-Blood Hill, stand Thalias Fichte, und das Goldene Vlies hing von ihren Zweigen und beschützte das Lager vor seinen Feinden. Der Wachdrache Peleus war jetzt so groß, dass ich ihn von hier aus sehen konnte – er hatte sich um den Baumstamm gewickelt und ließ beim Schnarchen Rauchsignale aufsteigen.

Rechts von mir breitete sich der Wald aus. Links glitzerte der See und an der Kletterwand leuchtete die Lava, die daran herabströmte. Zwölf Hütten – eine für jede olympische Gottheit – bildeten ein Hufeisen. Weiter im Süden lagen die Erdbeerfelder, das Waffenhaus und das vierstöckige Hauptgebäude mit seinem himmelblauen Anstrich und der Wetterfahne in Gestalt eines bronzenen Adlers.

Auf gewisse Weise hatte das Lager sich gar nicht viel verändert. Aber den Häusern und Feldern konnte man den Krieg schließlich auch nicht ansehen. Man sah ihn in den Gesichtern der Halbgötter und Satyrn und Najaden, die jetzt den Hügel hochkamen. Es waren nicht mehr so viele im Lager wie vor vier Jahren. Einige waren gegangen und nie zurückgekehrt. Andere waren im Kampf gefallen. Wieder andere – wir versuchten, sie nicht zu erwähnen – waren zum Feind übergelaufen.

Die, die noch hier waren, waren vom Kampf gestählt und müde. Im Camp wurde nur noch wenig gelacht. Nicht einmal die Hermes-Hütte war so auf Jux versessen wie sonst. Es ist schwer, geschmacklose Witze komisch zu finden, wenn dir dein ganzes Leben wie ein geschmackloser Witz vorkommt.

Chiron galoppierte als Erster in den Pavillon, was ihm nicht schwerfiel, denn er ist von der Taille abwärts ein weißer Hengst. Sein Bart war über den Sommer wilder geworden. Er trug ein grünes T-Shirt mit der Aufschrift Mein Zweitwagen ist ein Zentaur und hatte sich einen Bogen über den Rücken geworfen.

»Percy!«, sagte er. »Den Göttern sei Dank. Aber wo …?«

Gleich hinter ihm kam Annabeth hereingerannt, und ich muss zugeben, dass mein Herz ein kleines Rennen in meiner Brust veranstaltete, als ich sie sah. Es lag nicht daran, dass sie versucht hätte, gut auszusehen. Wir waren in letzter Zeit so oft im Einsatz gewesen, dass sie sich ihre blonden Locken kaum noch kämmte, und ihre Kleidung war ihr egal – normalerweise trug sie immer dasselbe alte Camp-T-Shirt und Jeans und ab und zu ihre Bronzerüstung. Ihre Augen waren von stürmischem Grau. Meistens konnten wir kein Gespräch zu Ende bringen, ohne uns gegenseitig erwürgen zu wollen. Aber von ihrem bloßen Anblick wurde mir wirr im Kopf. Im vergangenen Sommer, ehe Luke sich in Kronos verwandelt hatte und alles richtig übel geworden war, hatte es einige Augenblicke gegeben, in denen ich gedacht hatte, dass wir vielleicht … na ja, dass wir vielleicht die Phase mit den gegenseitigen Erwürgewünschen hinter uns lassen könnten.

»Was ist passiert?« Sie packte meinen Arm. »Ist Luke …?«

»Das Schiff ist hochgegangen«, sagte ich. »Er wurde nicht zerstört. Ich weiß nicht, wo …«

Silena Beauregard bahnte sich einen Weg durch die Menge. Ihre Haare waren nicht gekämmt und sie hatte nicht einmal Make-up aufgelegt, was ihr überhaupt nicht ähnlich sah.

»Wo ist Charlie?«, wollte sie wissen und schaute sich um, als ob er sich versteckt haben könnte.

Ich schaute hilflos zu Chiron hinüber.

Der alte Zentaur räusperte sich. »Silena, meine Liebe, wir reden im Hauptgebäude darüber …«

»Nein«, murmelte sie. »Nein. Nein.«

Sie brach in Tränen aus und wir anderen standen einfach da, zu betroffen, um etwas zu sagen. Wir hatten in diesem Sommer schon so viele verloren, aber das hier war besonders schlimm. Mit Beckendorf schien irgendwer den Anker des gesamten Lagers gestohlen zu haben.

Endlich trat Clarisse aus der Ares-Hütte vor und legte den Arm um Silena. Das war eine der seltsamsten Freundschaften aller Zeiten – eine Tochter des Kriegsgottes und eine Tochter der Liebesgöttin –, aber seit Silena Clarisse im vergangenen Sommer gute Ratschläge für den Umgang mit ihrem ersten Freund gegeben hatte, hatte Clarisse sich zu Silenas privater Leibwächterin ernannt.

Clarisse trug ihre blutrote Rüstung. Sie war groß und muskulös wie ein Rugbyspieler und machte meistens ein wütendes Gesicht, aber zu Silena sprach sie mit sanfter Stimme.

»Komm schon, Mädel«, sagte sie. »Wir gehen ins Hauptgebäude. Ich koche dir eine heiße Schokolade.«

Alle drehten sich um und gingen in Zweier-und Dreiergruppen davon, zurück zu den Hütten. Jetzt war niemand mehr begeistert über meine Rückkehr. Niemand wollte etwas über das gesprengte Schiff hören.

Nur Annabeth und Chiron waren noch da.

Annabeth wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich bin froh, dass du nicht tot bist, Algenhirn.«

»Danke«, sagte ich. »Ich auch.« Chiron legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich bin sicher, du hast dein Bestes getan, Percy. Würdest du uns erzählen, was passiert ist?«

Ich wollte es nicht noch einmal durchmachen müssen, aber ich erzählte ihnen alles, auch meinen Traum von den Titanen. Nur die Sache mit Nico ließ ich aus. Ich hatte Nico versprechen müssen, niemandem von seinem Plan zu erzählen, bis ich meinen Entschluss gefasst hätte; und sein Plan war so unheimlich, dass es mir nur recht war, ihn geheim zu halten.

Chiron starrte ins Tal hinunter. »Wir müssen sofort einen Kriegsrat einberufen, um über diesen Spion und andere Dinge zu sprechen.«

»Poseidon hat eine weitere Bedrohung erwähnt«, sagte ich. »Etwas, das noch größer ist als die Prinzessin Andromeda. Ich dachte, es könnte die Herausforderung sein, die der Titan in meinem Traum erwähnt hat.«

Chiron und Annabeth wechselten einen Blick, als wüssten sie mehr als ich. Ich hasste es, wenn sie das machten.

»Auch darüber werden wir sprechen«, versprach Chiron.

»Und noch etwas.« Ich holte tief Luft. »Ich soll dir von meinem Vater ausrichten, dass die Zeit gekommen ist. Ich muss die vollständige Weissagung erfahren.«

Chirons Schultern sackten nach unten, aber er wirkte nicht überrascht. »Ich habe mich vor diesem Tag gefürchtet. Aber nun gut. Annabeth, wir werden Percy die Wahrheit zeigen – die ganze Wahrheit. Gehen wir in die Mansarde.«

Ich war schon dreimal in der Mansarde des Hauptgebäudes gewesen, und das war dreimal mehr, als mir lieb war.

Eine Leiter führte von der Treppe weiter nach oben. Ich fragte mich, wie Chiron hinaufgelangen wollte, wo er doch ein halbes Pferd war, aber er versuchte es gar nicht erst.

»Du weißt ja, wo es ist«, sagte er zu Annabeth. »Hol es bitte herunter.«

Annabeth nickte. »Na los, Percy.«

Draußen ging die Sonne unter, deshalb war die Mansarde noch dunkler und unheimlicher als sonst. Überall waren Heldentrophäen aufgetürmt – zerbeulte Schilde, in Gläsern eingelegte Monsterköpfe, zwei fusselige Würfel auf einer Bronzeplatte mit der Aufschrift: GESTOHLEN AUS CHRYSAORS HONDA CIVIC VON GUS, SOHN DES HERMES, 1988.

Ich hob ein geschwungenes Bronzeschwert auf, das so übel verbogen war, dass es aussah wie ein M. Ich konnte noch immer die Flecken des magischen Giftes sehen, das einst das Metall überzogen hatte. Der Zettel daran war auf den vergangenen Sommer datiert. Darauf stand: Kurzschwert der Kampe, zerstört in der Schlacht um das Labyrinth.

»Weißt du noch, wie Briareos mit Felsbrocken um sich geworfen hat?«, fragte ich.

Annabeth gönnte mir ein widerstrebendes Lächeln. »Und wie Grover eine Panik ausgelöst hat?«

Unsere Blicke trafen sich. Ich dachte an einen anderen Augenblick im vergangenen Sommer, am Mount St. Helens, als Annabeth geglaubt hatte, ich müsse sterben, und mich geküsst hatte.

Sie räusperte sich und wandte sich ab. »Die Weissagung.«

»Richtig.« Ich legte das Kurzschwert hin. »Die Weissagung.«

Wir gingen hinüber zum Fenster. Auf einem dreibeinigen Schemel saß das Orakel – eine verschrumpelte weibliche Mumie in einem Batikkleid. Schwarze Haarsträhnen klebten an ihrem Schädel; glasige Augen starrten aus dem ledernen Gesicht. Ihr purer Anblick verursachte mir eine Gänsehaut.

Früher mussten wir immer hier hochsteigen, um uns einen Auftrag erteilen zu lassen, wenn wir während des Sommers das Camp verlassen wollten. In diesem Sommer war diese Regel umgestoßen worden. Jetzt zogen ständig Campinsassen zu Kampfeinsätzen. Uns blieb nichts anderes übrig, wenn wir Kronos stoppen wollten.

Aber ich erinnerte mich nur zu gut an den seltsamen grünen Nebel – den Geist des Orakels –, der in der Mumie herumwaberte. Im Moment sah sie leblos aus, aber wenn sie eine Weissagung aussprach, dann bewegte sie sich. Manchmal quoll Nebel aus ihrem Mund und bildete seltsame Gestalten. Einmal hatte sie sogar die Mansarde verlassen und einen kleinen Zombiespaziergang in den Wald unternommen, um eine Nachricht zu überbringen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie bei der »Großen Weissagung« tun würde. Fast rechnete ich mit einem Stepptanz oder so.

Aber sie saß nur wie tot da – und das war sie ja auch.

»Ich hab das noch nie kapiert«, murmelte ich.

»Was denn?«, fragte Annabeth.

»Warum das eine Mumie ist.«

»Percy, sie war nicht immer eine Mumie. Tausende von Jahren hindurch lebte der Geist des Orakels in einer schönen Jungfrau. Der Geist wurde von einer Generation an die andere weitergereicht. Chiron hat mir erzählt, dass sie vor fünfzig Jahren auch so eine war.« Annabeth zeigt auf die Mumie. »Aber sie war die letzte.«

»Was ist passiert?«

Annabeth wollte schon etwas sagen, dann überlegte sie sich die Sache plötzlich anders. »Machen wir unsere Arbeit und dann weg hier.«

Ich schaute nervös in das verschrumpelte Gesicht des Orakels. »Und was jetzt?«

Annabeth trat auf die Mumie zu und streckte ihr die Handflächen hin. »Oh Orakel, die Zeit ist gekommen. Ich bitte um die Große Weissagung.«

Ich machte mich bereit, aber die Mumie rührte sich nicht. Annabeth trat noch näher an sie heran und öffnete eins ihrer Halsbänder. Ich hatte noch nie weiter auf den Schmuck der Mumie geachtet, ich hatte ihn einfach für Hippieperlen und solchen Kram gehalten. Aber als Annabeth sich zu mir umdrehte, hielt sie einen Lederbeutel in der Hand – er sah aus wie ein indianischer Medizinbeutel an einer mit Federn verzierten Schnur. Sie öffnete den Beutel und zog eine Pergamentrolle hervor, die nicht größer war als ihr kleiner Finger. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte ich. »Du meinst, ich hab mir all die Jahre den Kopf über diese blöde Weissagung zerbrochen, und die hatte sie die ganze Zeit um den Hals hängen?«

»Die Zeit war noch nicht reif«, sagte Annabeth. »Glaub mir, Percy, ich hab das mit zehn Jahren gelesen, und es macht mir noch immer Albträume.«

»Klasse«, sagte ich. »Kann ich es jetzt lesen?«

»Unten beim Kriegsrat«, sagte Annabeth. »Nicht vor … du weißt schon.«

Ich schaute in die glasigen Augen des Orakels und beschloss, nicht zu widersprechen. Wir gingen nach unten zu den anderen. Ich wusste es damals noch nicht, aber das war mein letzter Besuch in der Mansarde.

Die Hüttenältesten hatten sich um den Pingpong-Tisch versammelt. Fragt mich nicht warum, aber der Hobbyraum war zum inoffiziellen Hauptquartier des Kriegsrats geworden. Was Annabeth, Chiron und ich hörten, als wir hereinkamen, wirkte aber eher wie ein Brüllwettbewerb.

Clarisse war noch immer in voller Schlachtausrüstung. Ihr elektrischer Speer war auf ihren Rücken geschnallt. (Es war streng genommen ihr zweiter elektrischer Speer, da ich den ersten zerbrochen hatte. Sie nannte ihren Speer »Fetzer«, aber hinter ihrem Rücken sagten alle anderen »Schwätzer«.) Sie hatte ihren Helm in Gestalt eines Wildschweins unter dem Arm und ein Messer im Gürtel.

Sie brüllte gerade Michael Yew an, den neuen Hüttenältesten von Apollo, was ziemlich komisch aussah, weil Clarisse einen Kopf größer war. Michael hatte die Apollo-Hütte übernommen, nachdem Lee Fletcher im vergangenen Sommer in der Schlacht gefallen war. Michael war keine eins sechzig groß, hatte aber ein Selbstvertrauen wie eins neunzig. Er erinnerte mich an ein Frettchen, mit spitzer Nase und zerknautschten Zügen – entweder weil er so oft die Stirn runzelte oder weil er zu oft an einem Pfeil entlangstarrte.

»Das ist unsere Beute!«, schrie er und stellte sich auf Zehenspitzen, um Clarisse ins Gesicht sehen zu können. »Und wenn dir das nicht passt, dann kannst du mich mal am Köcher lecken!«

Die Leute am Tisch versuchten, nicht zu lachen – die Stoll-Brüder, Pollux aus der Dionysos-Hütte, Katie Gardner aus Demeter. Sogar Jack Mason, der in aller Eile frisch ernannte Hüttenälteste der Hephaistos-Hütte, brachte ein müdes Lächeln hervor. Nur Silena Beauregard reagierte nicht. Sie saß neben Clarisse und starrte mit leerem Blick das Pingpong-Netz an. Ihre Augen waren rot und geschwollen. Vor ihr stand unberührt eine Tasse heiße Schokolade. Es kam mir nicht richtig vor, dass sie hier sein musste. Ich konnte es nicht fassen, dass Clarisse und Michael sich direkt neben ihr über etwas so Blödes stritten wie Beute, wo sie gerade Beckendorf verloren hatte.

»Aufhören!«, brüllte ich. »Was soll das denn?«

Clarisse starrte mich wütend an. »Sag Michael, er soll nicht so ein selbstsüchtiger Trottel sein.«

»Toll, gerade von dir sowas zu hören«, sagte Michael.

»Ich bin nur hier, um Silena zu helfen!«, brüllte Clarisse. »Sonst wäre ich in meiner Hütte.«

»Worüber redet ihr eigentlich?«, fragte ich.

Pollux räusperte sich. »Clarisse weigert sich, mit uns zu reden, bis diese, äh, Angelegenheit geklärt ist. Sie hat seit drei Tagen nichts mehr gesagt.«

»Das war wunderbar«, sagte Travis Stoll sehnsüchtig.

»Was für eine Angelegenheit?«, fragte ich.

Clarisse drehte sich zu Chiron um. »Sie haben hier doch zu bestimmen, oder? Kriegt meine Hütte, was wir wollen, oder nicht?«

Chiron scharrte mit den Füßen. »Meine Liebe, wie ich bereits erklärt habe, hat Michael Recht. Apollos Hütte hat den größeren Anspruch. Außerdem haben wir wichtigere Dinge …«

»Klar doch«, fauchte Clarisse. »Immer gibt es wichtigere Dinge als das, was Ares zusteht. Wir sollen einfach zum Kampf antreten, wenn ihr uns braucht, und uns ansonsten nicht beschweren.«

»Das wäre toll«, murmelte Connor Stoll sehnsüchtig.

Clarisse packte ihr Messer. »Vielleicht sollte ich Mr D fragen …«

»Wie du weißt«, fiel Chiron ihr ins Wort, und er klang jetzt ein wenig verärgert, »hat unser Direktor, Dionysos, mit dem Krieg genug zu tun. Wir dürfen ihn hiermit nicht belästigen.«

»Schon verstanden«, sagte Clarisse. »Und die Hüttenältesten? Wollt ihr denn alle nicht zu mir halten?«

Jetzt lächelte niemand. Niemand erwiderte Clarisse’ Blick.

»Schön.« Clarisse drehte sich zu Silena um. »Tut mir leid. Ich wollte dich hier nicht reinziehen, wo du doch gerade erst … egal, ich bitte um Entschuldigung. Und zwar nur dich. Sonst niemanden.«

Silena schien das alles gar nicht gehört zu haben.

Clarisse warf ihr Messer auf den Pingpong-Tisch. »Und ihr anderen könnt euren Krieg ohne Ares ausfechten. Solange ich keine Genugtuung kriege, wird niemand aus meiner Hütte auch nur einen Finger rühren. Viel Spaß beim Sterben.«

Die Hüttenältesten waren alle sprachlos, als Clarisse aus dem Zimmer stürzte.

Endlich sagte Michael Yew: »Gut, dass wir die los sind.«

»Spinnst du?«, widersprach Katie Gardner. »Das ist eine Katastrophe.«

»Das kann sie nicht ernst meinen«, sagte Travis. »Oder doch?«

Chiron seufzte. »Ihr Stolz ist verletzt. Sie wird sich schon noch beruhigen.« Aber er klang so, als ob er das selbst nicht glaubte.

Ich hätte gern gefragt, worüber zum Henker Clarisse denn so wütend war, aber ich sah Annabeth an und ihre Lippen formten die Worte: Erzähl ich dir später.

»Also«, sagte Chiron. »Bitte, Hüttenälteste. Percy hat etwas mitgebracht, was ihr meiner Ansicht nach hören solltet. Percy – die Große Weissagung.«

Annabeth reichte mir das Pergament. Es fühlte sich alt und trocken an, und ich fummelte am Bindfaden herum. Ich rollte es auseinander, versuchte, es nicht einzureißen, und fing an zu lesen:

»Ein Halbblut des ältesten Schlottergeflechts …«

»Äh, Percy«, unterbrach mich Annabeth. »Da steht Göttergeschlecht.«

»Ach, richtig«, sagte ich. Legasthenie gehört zu den typischen Merkmalen eines Halbgottes, aber manchmal hasse ich dieses Problem wirklich. Je nervöser ich bin, umso schlechter kann ich lesen. »Ein Halbgott des ältesten Göttergeschlechts … wird sechzehn werden im großen Gefecht …«

Ich zögerte und starrte die nächsten Zeilen an. Meine Finger wurden kalt, als ob das Papier gefroren wäre.

»In endlosem Schlaf sieht der Heros die Welt,

seine Seele wird von verfluchter Klinge gefällt.«

Plötzlich kam mir Springflut in meiner Tasche schwerer vor. Eine verfluchte Klinge? Chiron hatte mir einmal erzählt, dass Springflut vielen Menschen Kummer gebracht hatte. War es möglich, dass mein eigenes Schwert mir den Tod bringen würde? Und wie sollte ich die Welt in endlosem Schlaf sehen, wenn damit nicht der Tod gemeint war?

»Percy«, drängte Chiron. »Lies weiter.«

Mein Mund fühlte sich an, als wäre er voll Sand, aber ich las die nächsten beiden Zeilen vor.

»Eine einzige Entscheidung … wird sein Leben beenden.

Den Olymp zu kas… – kastrieren …«

»Kassieren«, sagte Annabeth sanft. »Das bedeutet einnehmen

»Ich weiß, was das bedeutet«, sagte ich mürrisch. »Den Olymp zu kassieren oder das Schicksal zu wenden.«

Im Raum war alles still. Endlich sagte Connor Stoll: »Kassieren ist doch gut, oder?«

»Nicht unbedingt«, sagte Silena. Ihre Stimme klang hohl, aber es verwirrte mich, dass sie überhaupt etwas sagte. »Es bedeutet auch ungültig machen, zerstören.«

»Vernichten«, sagte Annabeth. »Auslöschen. Zu Klump schlagen.«

»Schon verstanden.« Mein Herz war bleischwer. »Danke.«

Alle sahen mich an – voller Sorge oder Mitleid und vielleicht mit ein wenig Furcht.

Chiron schloss die Augen wie zum Beten. Sein Kopf streifte fast die Lampen im Raum. »Jetzt weißt du, Percy, warum wir es für besser hielten, dir nicht die ganze Weissagung zu verraten. Du hattest auch so schon genug zu tragen …«

»Ohne zu wissen, dass ich am Ende ohnehin sterben werde?«, fragte ich. »Alles klar, schon verstanden.«

Chiron starrte mich traurig an. Dieser Mann war dreitausend Jahre alt. Er hatte Hunderte von Helden sterben sehen; es gefiel ihm vielleicht nicht gerade, aber er war daran gewöhnt. Er versuchte gar nicht erst, mir Mut zuzusprechen.

»Percy«, sagte Annabeth. »Du weißt, dass Weissagungen immer mehrere Bedeutungen haben. Das muss nicht wortwörtlich bedeuten, dass du stirbst.«

»Natürlich nicht«, sagte ich. »Eine einzige Entscheidung wird sein Leben beenden. Das hat jede Menge Bedeutungen, oder was?«

»Vielleicht können wir etwas dagegen tun«, schlug Jake Mason vor. »Seine Seele wird von verfluchter Klinge gefällt. Vielleicht können wir diese verfluchte Klinge finden und sie zerstören. Klingt doch nach Kronos’ Sense, oder?«

Da war ich noch gar nicht drauf gekommen, aber es spielte keine Rolle, ob Springflut oder Kronos’ Sense die verfluchte Klinge war. Ich glaubte einfach nicht, dass wir die Weissagung verhindern könnten. Eine Klinge sollte meine Seele fällen. Ich wollte meine Seele aber eigentlich gar nicht fällen lassen.

»Vielleicht sollten wir Percy Zeit zum Nachdenken geben«, sagte Chiron. »Er muss sich überlegen …«

»Nein.« Ich faltete die Weissagung zusammen und steckte sie in die Tasche. Ich war trotzig und wütend, wenn ich auch nicht so recht wusste, auf wen ich wütend war. »Ich brauche keine Zeit. Wenn ich sterbe, dann sterbe ich. Darüber brauche ich mir doch wohl nicht groß den Kopf zu zerbrechen, oder?«

Annabeths Hände zitterten ein wenig. Sie wich meinem Blick aus.

»Machen wir weiter«, sagte ich. »Wir haben noch andere Probleme. Wir haben einen Spion unter uns.«

Michael Yew runzelte die Stirn. »Einen Spion?«

Ich erzählte ihnen, was auf der Prinzessin Andromeda passiert war – dass Kronos von unserem Kommen gewusst hatte und mir den silbernen sensenförmigen Anhänger gezeigt hatte, über den er mit jemandem im Camp kommunizierte.

Silena fing wieder an zu weinen und Annabeth legte ihr den Arm um die Schultern.

»Na ja«, sagte Connor Stoll und schien sich gar nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Wir vermuten doch seit Jahren, dass es einen Spion gibt, oder? Irgendwer hat Luke Informationen zugespielt – wie vor zwei Jahren das Versteck des Goldenen Vlieses. Es muss jemand sein, der ihn gut gekannt hat.«

Vielleicht hatte er Annabeth nur unbewusst angeschaut. Sie hatte Luke natürlich besser gekannt als alle anderen, aber Connor wandte sich ganz schnell wieder ab. »Äh, ich meine, es könnte natürlich jeder sein.«

»Genau.« Katie Gardner musterte die Stoll-Brüder stirnrunzelnd. Sie konnte sie nicht leiden, seit sie einmal das Dach der Demeter-Hütte mit Schokoladenosterhasen dekoriert hatten. »Eins von Lukes Geschwistern zum Beispiel.«

Travis und Connor fingen sofort an, mit ihr zu streiten.

»Aufhören!« Silena schlug so wütend auf den Tisch, dass ihre Schokolade überschwappte. »Charlie ist tot und … und ihr zankt euch alle wie kleine Kinder!« Sie ließ den Kopf sinken und fing an zu schluchzen.

Die Schokolade tropfte vom Pingpong-Tisch. Alle sahen beschämt aus, und endlich sagte Pollux: »Es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen. Wir müssen Ausschau nach einer silbernen Halskette mit einem Sensenanhänger halten. Wenn Kronos einen hat, dann hat der Spion vermutlich auch einen.«

Michael Yew grunzte. »Wir müssen diesen Spion finden, ehe wir unseren nächsten Einsatz planen. Dass wir die Prinzessin Andromeda in die Luft gesprengt haben, wird Kronos nicht lange aufhalten.«

»Nein, sicher nicht«, sagte Chiron. »Sein nächster Angriff läuft schon.«

Ich runzelte die Stirn. »Sie meinen, die größere Bedrohung, die Poseidon erwähnt hat?«

Er und Annabeth wechselten einen Blick, der zu sagen schien: Es ist Zeit. Habe ich schon erwähnt, dass es mich wahnsinnig nervt, wenn sie das tun? »Percy«, sagte Chiron. »Wir wollten es dir eigentlich erst bei deiner Rückkehr ins Camp sagen. Du brauchtest eine Pause, zusammen mit deiner … deinen sterblichen Freunden.«

Annabeth wurde rot. Mir ging auf, dass sie wusste, dass ich mich mit Rachel getroffen hatte, und sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen. Dann war ich wütend, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich durfte ja wohl auch mal Leute außerhalb des Camps treffen, oder was? Das hieß doch nicht …

»Also, was ist passiert?«, sagte ich.

Chiron nahm einen Bronzekelch vom Tisch. Er goss Wasser auf die Kochplatte, auf der wir normalerweise Nachokäse schmolzen. Dampf stieg auf und bildete einen Regenbogen. Chiron fischte eine goldene Drachme aus dem Beutel, warf ihn durch den Nebel und murmelte: »Oh Iris, Göttin des Regenbogens, zeig uns die Bedrohung.«

Der Nebel bewegte sich. Ich sah das vertraute Bild eines schwelenden Vulkans. Vor meinen Augen explodierte die eine Seite des Bergs. Feuer, Asche und Lava wurden herausgeschleudert. Eine Nachrichtenstimme sagte: »… noch größer als der Ausbruch letztes Jahr, und Geologen fürchten, dass das noch nicht alles war.«

Ich wusste alles über den Ausbruch letztes Jahr. Ich hatte ihn ausgelöst. Aber diese Explosion war noch viel schlimmer. Der Berg riss auf, brach in sich zusammen und eine gewaltige Gestalt erhob sich aus Rauch und Lava wie aus einer Luke. Ich hoffte, dass der Nebel die Sterblichen davor bewahrte, das Wesen zu sehen, denn sein Anblick würde in den gesamten Vereinigten Staaten Panik und Aufruhr auslösen.

Der Riese war größer als alles, was mir jemals über den Weg gelaufen war. Nicht einmal meine Halbgottaugen konnten durch Asche und Feuer seine genaue Gestalt erkennen, aber er war vage humanoid und so riesig, dass er das Chrysler Building als Baseballschläger hätte benutzen können. Der Berg erbebte mit einem grauenhaften Grollen, als lache das Ungeheuer.

»Er ist es«, sagte ich. »Typhon.«

Ich hoffte ernstlich, dass Chiron etwas sagen würde wie: Nein, das ist unser riesiger Freund Leroy. Er kommt uns zu Hilfe. Aber das tat er nicht. Er nickte einfach nur. »Das entsetzlichste Monster von allen, die größte Einzelgefahr, der die Götter sich jemals stellen mussten. Er ist endlich aus dem Berg befreit worden. Aber diese Szene ist zwei Tage alt. Jetzt kommt das, was heute passiert.«

Chiron winkte und das Bild änderte sich. Ich sah eine Wolkenbank, die sich über die Ebenen im Mittleren Westen bewegte. Blitze loderten auf. Tornados zerstörten alles, was ihnen in den Weg kam – sie rissen Häuser und Lastwagen mit sich und warfen Autos durch die Luft wie Spielzeug.

»Gewaltige Überschwemmungen«, sagte der Sprecher. »Fünf Staaten haben den Notstand ausgerufen, während der unerwartete Sturm nach Osten fegt und sein Zerstörungswerk fortsetzt.«

Die Kamera schwenkte zu einer Windsäule, die auf irgendeine Stadt im Mittleren Westen zuhielt. Ich konnte nicht erkennen, welche es war. Im Sturm erahnte ich den Riesen – aber ich sah nur Fetzen von seiner wahren Gestalt: einen rauchigen Arm, eine dunkle Krallenhand, so groß wie ein Wohnblock. Sein Gebrüll rollte durch die Ebene wie eine Atomexplosion. Kleinere Gestalten jagten durch die Wolken und umkreisten das Monster; ich sah Blitze und mir ging auf, dass der Riese versuchte, diese kleinen Gestalten zu zerquetschen. Ich kniff die Augen zusammen und glaubte, einen goldenen Wagen in das Schwarze fliegen zu sehen. Dann stieß ein riesiger Vogel – eine monströse Eule – vom Himmel herab, um den Riesen anzugreifen.

»Sind das … die Götter?«, fragte ich.

»Ja, Percy«, sagte Chiron. »Sie kämpfen schon seit Tagen gegen ihn und versuchen, ihn aufzuhalten. Aber Typhon rückt vor – auf New York zu. Auf den Olymp.«

Das musste ich erst einmal verdauen. »Wann wird er hier sein?«

»Falls die Götter ihn nicht stoppen können? Vielleicht in fünf Tagen. Die meisten Olympier sind dort … außer deinem Vater, der seinen eigenen Krieg ausfechten muss.«

»Aber wer bewacht den Olymp?«

Connor Stoll schüttelte den Kopf. »Wenn Typhon New York erreicht, dann spielt es keine Rolle mehr, wer den Olymp bewacht.«

Ich dachte daran, was Kronos auf dem Schiff gesagt hatte: Ich würde so gern das Entsetzen in deinen Augen sehen, wenn dir aufgeht, wie ich den Olymp zerstören werde.

Hatte er das hier gemeint – einen Angriff durch Typhon? Es wäre wirklich entsetzlich genug. Aber Kronos führte uns immer wieder an der Nase herum, lenkte unsere Aufmerksamkeit in die falsche Richtung. Das hier schien zu offensichtlich für ihn. Und in meinem Traum hatte der goldene Titan von mehreren Herausforderungen geredet, die noch kommen würden, als sei Typhon nur die erste.

»Das ist ein Trick«, sagte ich. »Wir müssen die Götter warnen. Es wird etwas anderes passieren.«

Chiron sah mich mit ernster Miene an. »Etwas Schlimmeres als Typhon? Das will ich doch nicht hoffen.«

»Wir müssen den Olymp verteidigen«, beharrte ich. »Kronos plant noch etwas anderes.«

»Das hat er«, warf Travis Stoll ein. »Aber du hast sein Schiff versenkt.«

Alle sahen mich an. Sie wollten eine gute Nachricht. Sie wollten glauben, dass ich ihnen wenigstens ein bisschen Hoffnung geschenkt hatte.

Ich schaute zu Annabeth hinüber. Ich wusste, dass wir dasselbe dachten: Was, wenn die Prinzessin Andromeda eine Falle gewesen war? Was, wenn Kronos gewollt hatte, dass wir das Schiff sprengen, damit wir unvorsichtig wurden?

Aber vor Silena würde ich das nicht laut sagen. Schließlich hatte ihr Freund sich für diese Mission geopfert.

»Vielleicht hast du Recht«, sagte ich, obwohl ich das nicht glaubte.

Ich versuchte, mir vorzustellen, wodurch sich die Lage noch verschlimmern könnte. Die Götter waren im Mittleren Westen und kämpften gegen ein riesiges Monster, das sie schon einmal fast besiegt hätte. Poseidon wurde belagert und war kurz davor, einen Kampf gegen den Meerestitanen Okeanos zu verlieren. Kronos war irgendwo unterwegs. Der Olymp war so gut wie ungeschützt. Wir Halbgötter von Camp Half-Blood waren auf uns allein gestellt und hatten einen Spion unter uns.

Ach ja, und der uralten Weissagung nach würde ich an meinem sechzehnten Geburtstag sterben – und der war zufällig in fünf Tagen, genau dann, wenn Typhon vermutlich in New York einfallen würde. Das hätte ich doch fast vergessen.

»Also«, sagte Chiron. »Ich glaube, das reicht für einen Abend.«

Er winkte und der Dampf löste sich auf. Die stürmische Schlacht zwischen Typhon und den Göttern verschwand.

»Das ist eine Untertreibung«, murmelte ich.

Und der Kriegsrat war aufgehoben.


Wir verbrennen ein Leichenhemd aus Metall

Ich träumte, dass Rachel Elizabeth Dare ein Bild von mir mit Pfeilen bewarf.

Sie stand in ihrem Zimmer … Okay, noch mal von vorn. Erst muss ich erklären, dass Rachel kein Zimmer hat. Sie bewohnt die obere Etage in dem riesigen Haus ihrer Familie, einer renovierten Backsteinvilla in Brooklyn. Ihr »Zimmer« ist ein Dachgeschoss mit Industriescheinwerfern und Fenstern bis zur Decke. Es ist ungefähr doppelt so groß wie die Wohnung meiner Mom.

Irgendwelche Rockmusik toste aus ihrem mit Farbe bekleckerten Bose-System. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann galt bei Rachel für Musik nur eine Regel, nämlich dass keine zwei Lieder auf ihrem iPod gleich klingen durften und alle irgendwie seltsam sein mussten.

Sie trug einen Kimono und ihre Haare waren zerzaust, als ob sie geschlafen hätte. Ihr Bett war verwuschelt. Laken hingen über Staffeleien. Schmutzige Kleidung und alte Verpackungen von Müsliriegeln lagen auf dem Boden herum, aber in einem so riesigen Zimmer sieht Chaos gar nicht so schlecht aus. Durch die Fenster war die nächtliche Silhouette von Manhattan zu sehen.

Das Bild, das sie beschoss, war ein Gemälde, auf dem ich über dem Riesen Antaios stand. Rachel hatte es vor einigen Monaten gemalt. Auf dem Bild sah ich wild aus – beängstigend sogar –, deshalb war es schwer zu sagen, ob ich der Gute oder der Böse war, aber Rachel sagte, direkt nach der Schlacht hätte ich genau so ausgesehen.

»Halbgötter«, murmelte Rachel und warf einen weiteren Pfeil nach der Leinwand. »Und ihre blöden Aufträge!«

Die meisten Pfeile prallten ab, einige aber blieben stecken. Einer baumelte wie ein Spitzbart unter meinem Kinn.

Jemand schlug gegen die Tür.

»Rachel!«, brüllte ein Mann. »Was treibst du da, um Himmels willen! Dreh diese …«

Rachel schnappte sich die Fernbedienung und stellte die Musik ab. »Komm rein.«

Ihr Dad trat ein, runzelte im Licht die Stirn und kniff die Augen zusammen. Er hatte rostrote Haare, ein wenig dunkler als Rachels. Sie waren auf der einen Seite zerdrückt, als ob er einen Kampf gegen sein Kissen verloren hätte. Auf die Tasche seines blauen Schlafanzuges war »WD« gestickt. Also echt, wer trägt denn Schlafanzüge mit Monogramm?

»Was ist denn hier los?«, fragte er wütend. »Es ist drei Uhr morgens.«

»Konnte nicht schlafen«, sagte Rachel.

Am Bild fiel ein Pfeil von meinem Gesicht. Rachel versteckte die übrigen hinter ihrem Rücken, aber Mr. Dare hatte verstanden.

»Ach … ich vermute, dein Freund kommt nicht mit nach St. Thomas?« So nannte mich Mr. Dare. Niemals Percy. Einfach dein Freund. Oder junger Mann, wenn er mit mir redete, was er nur selten tat.

Rachel zog die Augenbrauen zusammen. »Ich weiß es nicht.«

»Wir brechen morgen früh auf«, sagte ihr Dad. »Wenn er sich jetzt noch nicht entschieden hat …«

»Wahrscheinlich kommt er nicht mit«, sagte Rachel unglücklich. »Zufrieden?«

Mr. Dare legte die Hände auf den Rücken. Mit strenger Miene lief er im Zimmer hin und her. Ich stellte mir vor, dass er das auch in der Chefetage seiner Landentwicklungsgesellschaft so machte und seine Angestellten damit in Panik versetzte.

»Hast du noch immer schlimme Träume?«, fragte er. »Kopfschmerzen?«

Rachel warf die Pfeile auf den Boden. »Davon hätte ich dir nie erzählen sollen.«

»Ich bin dein Vater«, sagte er. »Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Um den guten Ruf der Familie«, murmelte Rachel.

Ihr Vater reagierte nicht – vielleicht, weil er diesen Kommentar nicht zum ersten Mal hörte, vielleicht, weil es die Wahrheit war.

»Wir könnten Dr. Arkwright hinzuziehen«, schlug er vor. »Er hat dir auch über den Tod deines Hamsters hinweggeholfen.«

»Da war ich sechs«, sagte sie. »Und ich brauche keinen Therapeuten, Dad. Es ist nur …« Sie schüttelte hilflos den Kopf.

Ihr Vater blieb vor einem der Fenster stehen. Er starrte die Silhouette von New York an, als ob sie ihm gehörte – was nicht der Fall war. Ihm gehörte nur ein Teil.

»Es wird dir guttun, hier wegzukommen«, entschied er. »Du bist unter schlechten Einfluss geraten.«

»Ich gehe nicht auf die Clarion Ladies Academy«, sagte Rachel. »Und meine Freunde gehen dich nichts an.«

Mr. Dare lächelte, aber es war kein warmes Lächeln. Es schien eher zu sagen: Eines Tages wirst du begreifen, wie töricht du dich anhörst.

»Versuch, noch ein wenig zu schlafen«, mahnte er. »Morgen Abend sind wir am Strand. Das wird nett.«

»Nett«, wiederholte Rachel. »Wahnsinnig nett.«

Ihr Vater verließ das Zimmer. Er ließ die Tür hinter sich offen.

Rachel starrte mein Porträt an. Dann ging sie zur nächsten Staffelei, die mit einem Tuch verhängt war.

Sie zog das Tuch weg. Das Bild war eine hastige Kohlezeichnung, aber Rachel war eine begabte Künstlerin. Das Bild zeigte eindeutig Luke als kleinen Jungen. Er war an die neun Jahre alt, mit breitem Grinsen und ohne Narbe im Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, woher Rachel wissen konnte, wie er damals aussah, aber das Porträt war so gut, dass ich das Gefühl hatte, dass sie es nicht nur erraten hatte. Soweit ich über Lukes Leben Bescheid wusste (aber das wusste ich nicht sehr gut), zeigte dieses Bild ihn, unmittelbar ehe er erfahren hatte, dass er ein Halbblut war und von zu Hause weggelaufen war.

Rachel starrte das Porträt an. Dann nahm sie das Tuch von der nächsten Staffelei. Dieses Bild war noch beunruhigender. Es zeigte das Empire State Building, umgeben von Blitzen. In der Ferne braute sich ein düsterer Sturm zusammen, und eine riesige Hand ragte aus den Wolken hervor. Unten vor dem Gebäude war eine Menge Leute zusammengeströmt … aber es waren nicht wie sonst Touristen und Fußgänger. Ich sah Speere, Schwerter und Banner – die Insignien einer Armee.

»Percy«, murmelte Rachel, als wüsste sie, dass ich zuhörte. »Was ist bloß los?«

Der Traum verschwamm, und das Letzte, was ich noch weiß, ist, dass ich mir wünschte, ihre Frage beantworten zu können.

Am nächsten Morgen hätte ich sie gern angerufen, aber im Camp gab es kein Telefon. Dionysos und Chiron brauchten keinen Festanschluss. Sie konnten über Iris direkt mit dem Olymp sprechen, wenn sie etwas brauchten. Und wenn Halbgötter Mobiltelefone benutzen, aktivieren die Signale jedes Monster im Umkreis von hundert Kilometern. Genauso gut könnten wir schreien: Hier bin ich! Bitte, poliert mir die Fresse!

Die meisten Halbgötter (außer Annabeth und ein paar anderen) haben nicht mal ein Handy. Und ich konnte schließlich nicht zu Annabeth sagen: »He, gib mir mal dein Telefon, damit ich Rachel anrufen kann.« Also müsste ich dafür mehrere Kilometer zum nächsten Supermarkt laufen. Und selbst, wenn Chiron das erlaubte – wenn ich dort ankäme, würde Rachel schon im Flugzeug nach St. Thomas sitzen.

Ich verzehrte ganz allein am Poseidon-Tisch ein deprimierendes Frühstück. Ich starrte immer wieder den Riss im Marmorboden an, wo zwei Jahre zuvor Nico eine Bande blutrünstiger Skelette in die Unterwelt verbannt hatte. Diese Erinnerung verbesserte meinen Appetit nicht gerade.

Nach dem Frühstück machten Annabeth und ich uns an die Inspektion der Hütten. Eigentlich war Annabeth damit an der Reihe. Meine Morgenaufgabe bestand darin, Berichte für Chiron durchzusehen. Aber da wir unsere Jobs beide hassten, beschlossen wir, beides zusammen zu erledigen, damit es nicht ganz so schlimm war.

Wir fingen mit der Poseidon-Hütte an, in der eigentlich nur ich wohnte. Ich hatte an diesem Morgen mein Bett gemacht (na ja, so halbwegs) und das Minotaurushorn an der Wand gerade gerückt, deshalb gab ich mir vier von fünf möglichen Punkten.

Annabeth verzog das Gesicht. »Du bist aber großzügig.« Mit dem Ende ihres Bleistifts fischte sie ein altes Paar Laufshorts vom Boden.

Ich riss sie ihr weg. »He, sei nicht so streng. In diesem Sommer räumt Tyson schließlich nicht hinter mir her.«

»Drei von fünf«, sagte Annabeth. Ich war nicht so dumm zu widersprechen, deshalb gingen wir weiter.

Ich versuchte, im Gehen Chirons Berichte durchzusehen. Es gab Nachrichten von Halbgöttern, Naturgeistern und Satyrn im ganzen Land, und in allen ging es um die neuesten Aktivitäten der Monster. Sie waren ganz schön deprimierend, und mein ADHD-Gehirn konnte sich auf Depri-Kram nun wirklich nicht konzentrieren.

Überall tobten kleine Schlachten. Die Anwerbungsquote für das Camp lag bei null. Es fiel den Satyrn schwer, neue Halbgötter zu finden und nach Half-Blood Hill zu bringen, weil im Land so viele Monster unterwegs waren. Unsere Freundin Thalia, die die Jägerinnen der Artemis anführte, hatte seit Monaten nichts von sich hören lassen, und falls Artemis wusste, wo sie sich aufhielt, dann gab sie dieses Wissen jedenfalls nicht weiter.

Wir inspizierten die Aphrodite-Hütte, die natürlich fünf von fünf Punkten bekam. Die Betten waren perfekt gemacht. Die Kleider in den Fächern waren nach Farben geordnet. Frische Blumen blühten auf den Fensterbänken. Ich wollte einen Punkt abziehen, weil die ganze Bude nach Designerparfüm stank, aber Annabeth hörte nicht auf mich.

»Großartig gemacht, wie immer, Silena«, sagte Annabeth.

Silena nickte traurig. Die Wand hinter ihrem Bett war mit Bildern von Beckendorf gepflastert. Sie saß auf ihrem Bett und hatte eine Schachtel Pralinen vor sich, und mir fiel ein, dass ihr Dad im Dorf einen Schoko-Laden besaß, was ihm Aphrodites Aufmerksamkeit eingetragen hatte.

»Möchtest du eine?«, fragte Silena. »Die hat mein Dad geschickt. Er dachte – er dachte, die könnten mich vielleicht aufheitern.«

»Sind sie denn gut?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Die schmecken wie Pappe.«

Ich hatte nichts gegen Pappe, deshalb nahm ich eine. Annabeth wollte nicht. Wir versprachen, später noch mal nach Silena zu sehen, und gingen weiter.

Als wir über den Vorplatz gingen, entbrannte gerade ein Kampf zwischen der Ares-und der Apollo-Hütte. Einige mit Brandbomben bewaffnete Apollo-Camper flogen in einem von zwei Pegasi gezogenen Wagen über die Ares-Hütte. Ich hatte den Wagen noch nie gesehen, aber er sah ziemlich cool aus. Bald brannte das Dach der Ares-Hütte und vom Kanusee kamen Najaden angestürzt, um Wasser darüberzuspritzen.

Dann belegten die Ares-Camper ihre Gegner mit einem Fluch und alle Pfeile der Apollo-Leute verwandelten sich in Gummi. Sie konnten zwar weiter schiessen, aber die Pfeile federten zurück.

Zwei Bogenschützen rannten vorbei, gejagt von wütenden Ares-Leuten, die in Versen brüllten: »Mich verfluchen? Das wirst du beklagen/Ich werd dich am Ende mit Reimen erschlagen!«

Annabeth seufzte. »Nicht schon wieder. Als Apollo das letzte Mal eine Hütte verflucht hat, durften sie erst nach einer Woche mit Reimen wieder aufhören.«

Mir schauderte. Apollo war der Gott der Dichtkunst und des Bogenschießens, und ich hatte ihn schon selbst dichten hören. Ehrlich gesagt würde ich mich lieber mit einem Pfeil erschießen lassen.

»Worum streiten sie denn überhaupt?«, fragte ich.

Annabeth beachtete mich nicht, sie kritzelte auf ihrer Inspektionsrolle herum und gab beiden Hütten einen von fünf möglichen Punkten.

Ich ertappte mich dabei, wie ich sie anstarrte, was blödsinnig war, ich hatte sie schließlich schon eine Milliarde Mal gesehen. Sie und ich waren in diesem Sommer gleich groß, was eine Erleichterung war. Aber sie kam mir trotzdem so viel reifer vor. Es war irgendwie einschüchternd. Ich meine, klar, sie war immer schon toll gewesen, aber jetzt fing sie an, zu einer wirklichen Schönheit zu werden.

Schließlich sagte sie: »Um den fliegenden Wagen.«

»Was?«

»Du wolltest doch wissen, worum sie streiten.«

»Ach ja, richtig.«

»Sie haben ihn vorige Woche bei einem Angriff in Philadelphia erbeutet. Einige von Lukes Halbgöttern waren mit diesem fliegenden Wagen da. Die Apollo-Hütte hat ihn sich während des Kampfes gekrallt, aber die Ares-Hütte hat den Angriff geleitet. Deshalb streiten sie sich seitdem darum, wer ihn bekommt.«

Wir duckten uns, als Michael Yews Wagen im Sturzflug auf einen Ares-Camper zubrauste. Der Ares-Camper versuchte, nach Michael zu stechen und ihn mit gereimten Zweizeilern zu verfluchen. Er war ziemlich kreativ, wenn es um gereimte Verwünschungen ging.

»Wir kämpfen um unser Leben«, sagte ich, »und die zanken sich um eine blöde Karre.«

»Das geht schon vorbei«, sagte Annabeth. »Clarisse wird irgendwann Vernunft annehmen.«

Da war ich mir nicht so sicher. Es klang überhaupt nicht nach der Clarisse, die ich kannte.

Ich sah noch einige Berichte durch und wir inspizierten weitere Hütten. Demeter bekam vier Punkte. Hephaistos bekam drei und wäre normalerweise noch weiter unten gelandet, aber nach der Sache mit Beckendorf sahen wir das nicht so eng. Hermes erzielte zwei, was nicht besonders überraschend war. Alle Camper, die ihren göttlichen Elternteil nicht kannten, wurden in die Hermes-Hütte gepfercht, und da die Götter in der Hinsicht ziemlich vergesslich waren, war diese Hütte immer überfüllt.

Endlich erreichten wir die Athene-Hütte, die wie immer ordentlich und sauber war. Die Bücher standen gerade in den Regalen. Die Rüstung war poliert. Schlachtübersichten und Bauzeichnungen schmückten die Wände. Nur Annabeths Bett war ein einziges Chaos. Es war mit Papieren übersät und ihr silberner Laptop war eingeschaltet.

»Vlacas«, murmelte Annabeth, was im Grunde bedeutete, dass sie sich auf Griechisch als Trottel bezeichnete.

Ihr Stellvertreter, Malcolm, unterdrückte ein Lächeln. »Ja, äh … wir haben alles andere sauber gemacht. Wussten nicht, ob wir deine Notizen anfassen durften.«

Das war vermutlich klug von ihm. Annabeth hatte ein Bronzemesser, das sie nur für Monster und für Leute, die in ihrem Kram herumfummelten, benutzte.

Malcolm grinste mich an. »Wir warten draußen, während ihr die Inspektion macht.« Die Athene-Leute zogen im Gänsemarsch aus der Tür, während Annabeth ihr Bett aufräumte.

Ich trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und gab vor, weiter Berichte durchzusehen. Streng genommen war es zwei Campern selbst während der Inspektion nicht erlaubt, … na ja, in einer Hütte allein zu sein.

Diese Regel war sehr oft Thema gewesen, seit Silena und Beckendorf zusammen waren. Und ich weiß, dass einige von euch jetzt denken: Sind nicht alle Halbgötter göttlicherseits miteinander verwandt? Dürfen die überhaupt was miteinander anfangen? Aber es ist so, dass die göttliche Seite unserer Familie keine Rolle spielt, da Götter genetisch gesehen irgendwie keine DNA haben. Und ein Halbgott würde niemals auf die Idee kommen, mit jemandem mit demselben göttlichen Elternteil zusammen zu sein. Zwei aus der Athene-Hütte? Nie und nimmer. Aber eine Tochter der Aphrodite und ein Sohn des Hephaistos? Kein Problem.

Aus irgendeinem Grund dachte ich darüber nach, als ich Annabeth beim Aufräumen zusah. Sie klappte den Laptop zu, den ihr im vergangenen Sommer der Erfinder Dädalus geschenkt hatte.

Ich räusperte mich. »Also … findest du in dem Ding da irgendwelche guten Ideen?«

»Zu viele«, sagte Annabeth. »Dädalus hatte so viele Ideen, ich könnte fünfzig Jahre damit verbringen, sie alle auszuprobieren.«

»Ja«, murmelte ich. »Da wäre bestimmt lustig.«

Sie schob ihre Papiere zusammen – vor allem Grundrisse von Gebäuden und eine Menge handgeschriebener Notizen. Ich wusste, dass sie später mal Architektin werden wollte, aber ich hatte auf die harte Tour gelernt, nicht zu fragen, woran sie gerade arbeitete. Dann redete sie nämlich über Winkel und statikrelevante Verstrebungen, bis mir die Augen zufielen.

»Weißt du«, sie schob sich die Haare hinter die Ohren, wie sie das immer macht, wenn sie nervös ist, »diese ganze Sache mit Beckendorf und Silena. Da macht man sich doch Gedanken. Darüber … was wichtig ist. Wie es ist, wichtige Menschen zu verlieren.«

Ich nickte. Mein Gehirn nahm jetzt kleine zufällige Details auf, wie die Tatsache, dass sie noch immer diese silbernen Eulenohrringe trug, die ihr Vater ihr geschenkt hatte, dieser verrückte Professor für Militärgeschichte in San Francisco.

»Äh, ja«, stammelte ich. »Ich meine … ist alles in Ordnung mit deiner Familie?«

Okay, wirklich blöde Frage, aber ich war eben nervös.

Annabeth machte ein enttäuschtes Gesicht, nickte aber.

»Mein Dad wollte eigentlich diesen Sommer mit mir nach Griechenland fahren«, sagte sie sehnsüchtig. »Ich wollte schon immer zum …«

»Zum Parthenon«, fiel mir jetzt ein.

Sie brachte ein Lächeln zustande. »Ja.«

»Macht doch nichts. Es kommen noch andere Sommer, oder?«

Aber sowie ich das gesagt hatte, ging mir auf, was für ein blöder Spruch das war. Das Ende meiner Tage näherte sich. Im Laufe der vor uns liegenden Woche könnte der Olymp einstürzen. Wenn das Zeitalter der Götter wirklich zu Ende ging, würde die Welt sich ins Chaos auflösen. Die Halbgötter würden ausgerottet werden. Für uns würde es keine weiteren Sommer geben.

Annabeth starrte ihre Inspektionsrolle an. »Drei von fünf«, murmelte sie, »für eine schlampige Hüttenälteste. Na komm. Machen wir die Berichte fertig und gehen wir zurück zu Chiron.«

Auf dem Weg zum Hauptgebäude lasen wir den letzten Bericht, den ein Satyr in Kanada mit der Hand auf ein Ahornblatt geschrieben hatte. Wenn es überhaupt möglich gewesen wäre, mich noch nervöser zu machen, hätte diese Nachricht es getan.

»Lieber Grover«, las ich vor. »Wälder bei Toronto von brutalem Riesendachs angegriffen. Wollte deinem Rat folgen und die Kraft des Pan heraufbeschwören. Ohne Erfolg. Viele Najadenbäume zerstört. Rückzug nach Ottawa. Bitte um weitere Anweisungen. Wo steckst du? Gleeson Hedge, Beschützer.«

Annabeth schnitt eine Grimasse. »Du hast gar nichts von ihm gehört? Nicht mal über den Empathielink?«

Ich schüttelte niedergeschlagen den Kopf.

Seit im vergangenen Sommer der Gott Pan gestorben war, hatte unser Freund Grover sich weiter und weiter von uns entfernt. Der Rat der Behuften Älteren behandelte ihn wie einen Ausgestoßenen, aber Grover reiste weiterhin an der Ostküste umher und verbreitete die Nachricht von Pans Tod, in dem Versuch, alle Naturgeister zur Verteidigung ihres kleinen Stückchens Wildnis zu überreden. Er war nur ein paar Mal ins Camp zurückgekehrt, um seine Freundin Wacholder zu besuchen.

Als ich zum letzten Mal von ihm gehört hatte, war er im Central Park gewesen, um die Dryaden zu organisieren, aber jetzt hatte ihn schon seit zwei Monaten niemand mehr gesprochen oder gesehen. Wir hatten versucht, Irisbotschaften zu schicken, aber die kamen nie durch. Ich hatte einen Empathielink zu Grover, deshalb hoffte ich, dass ich es wüsste, wenn ihm etwas passiert wäre. Grover hatte mir einmal gesagt, bei seinem Tod würde die Empathieverbindung auch mich töten, aber ich wusste nicht, ob das immer noch zutraf.

Ich fragte mich, ob er wohl noch in Manhattan war. Dann dachte ich an meinen Traum von Rachels Skizze – dunkle Wolken, die sich über der Stadt zusammenballten, eine Armee, die sich um das Empire State Building zusammenzog.

»Annabeth!« Ich wusste, dass ich geradezu um Ärger bettelte, aber ich hatte keine Ahnung, wem ich sonst vertrauen könnte. »Hör mal, ich hab da was geträumt, von, äh, Rachel …«

Ich erzählte ihr alles, sogar von dem seltsamen Bild, das Luke als Kind gezeigt hatte.

Zuerst sagte sie nichts. Dann rollte sie die Inspektionsrolle so fest auf, dass sie einriss. »Was soll ich denn dazu jetzt sagen?«

»Ich weiß nicht. Du bist die beste Strategin, die ich kenne. Wenn du Kronos wärst und diesen Krieg planen müsstest, was würdest du als Nächstes tun?«

»Ich würde Typhon zur Ablenkung einsetzen. Und dann würde ich den Olymp angreifen, während die Götter im Westen sind.«

»Genau wie auf Rachels Bild.«

»Percy«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Rachel ist eine gewöhnliche Sterbliche.«

»Aber was, wenn ihr Traum wahr ist? Diese anderen Titanen – die haben gesagt, der Olymp würde in wenigen Tagen zerstört werden. Sie haben gesagt, es kommen noch jede Menge anderer Herausforderungen. Und dann dieses Bild von Luke als Kind …«

»Wir müssen einfach bereit sein.«

»Wie denn?«, frage ich. »Sieh dir unser Camp an. Wir können ja nicht einmal damit aufhören, gegenseitig aufeinander loszugehen. Und außerdem soll doch meine blöde Seele gefällt werden.«

Sie ließ die Rolle fallen. »Ich hätte dir die Weissagung nicht zeigen dürfen.« Ihre Stimme klang wütend und verletzt. »Sie hat dir nur Angst gemacht. Und du läufst weg, wenn du Angst hast.«

Ich starrte sie total verdutzt an. »Ich? Ich laufe weg?«

Sie trat ganz dicht vor mich. »Ja, tust du. Du bist ein Feigling, Percy Jackson.«

Wir standen Nase an Nase da. Ihre Augen waren rot, und mir ging plötzlich auf, dass sie vielleicht gar nicht die Weissagung meinte, wenn sie mich als Feigling bezeichnete.

»Wenn dir die Lage im Camp nicht passt«, sagte sie, »dann solltest du vielleicht doch mit Rachel verreisen.«

»Annabeth …«

»Wenn dir unsere Gesellschaft nicht gefällt.«

»Das ist nicht fair!«

Sie drängte sich an mir vorbei und rannte auf die Erdbeerfelder hinaus.

Ich würde gern behaupten, dass mein Tag danach besser wurde. Aber das war natürlich nicht der Fall.

Am Nachmittag versammelten wir uns am Lagerfeuer, um Beckendorfs Leichenhemd zu verbrennen und Abschied zu nehmen. Sogar Ares und Apollo schlossen dafür vorübergehend Waffenstillstand.

Beckendorfs Leichenhemd war aus Metallmaschen geflochten, wie ein Kettenhemd. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es brennen sollte, aber offenbar hatten die Moiren eingegriffen. Das Metall schmolz im Feuer und verwandelte sich in goldenen Rauch, der zum Himmel aufstieg. Die Flammen des Lagerfeuers spiegelten immer die Stimmung der Camper wider, und an diesem Tag waren sie schwarz.

Ich hoffte, dass Beckendorfs Geist ins Elysium wandern würde. Vielleicht würde er sich sogar dafür entscheiden, wiedergeboren zu werden und in drei Leben auf das Elysium zuzusteuern, um dann die Inseln der Seligen zu erreichen, die absolute Partymeile der Unterwelt. Wenn das jemand verdiente, dann ja wohl Beckendorf.

Annabeth ging, ohne ein Wort mit mir zu reden, und die meisten anderen Camper verzogen sich zu ihren nachmittäglichen Aktivitäten. Ich blieb einfach stehen und starrte in das sterbende Feuer. Silena saß weinend in der Nähe und Clarisse und ihr Freund, Chris Rodriguez, versuchten, sie zu trösten.

Endlich fasste ich genug Mut, um zu ihr zu gehen. »Hör mal, Silena. Das tut mir so leid.«

Sie schniefte. Clarisse starrte mich wütend an, aber das machte sie bei allen. Chris konnte mich kaum ansehen. Er hatte zu Lukes Leuten gehört, bis Clarisse ihn im vergangenen Sommer aus dem Labyrinth gerettet hatte, und wahrscheinlich hatte er noch immer ein schlechtes Gewissen.

Ich räusperte mich. »Silena, weißt du, Beckendorf hatte ein Bild von dir bei sich. Er hat es angesehen, ehe wir in den Kampf gezogen sind. Du hast ihm sehr viel bedeutet. Deinetwegen war das vergangene Jahr das beste seines Lebens.«

Silena schluchzte.

»Toll gemacht, Percy«, murmelte Clarisse.

»Nein, schon gut«, sagte Silena. »Danke … danke, Percy. Ich muss jetzt gehen.«

»Willst du Gesellschaft?«, fragte Clarisse.

Silena schüttelte den Kopf und rannte davon.

»Sie ist stärker, als sie aussieht«, murmelte Clarisse, fast wie zu sich selbst. »Sie wird’s überleben.«

»Du könntest ihr dabei helfen«, schlug ich vor. »Du könntest Beckendorfs Gedächtnis ehren, indem du auf unserer Seite kämpfst.«

Clarisse griff nach ihrem Messer, aber das war nicht mehr da. Sie hatte es im Hauptgebäude auf den Pingpong-Tisch geworfen.

»Nicht mein Problem«, knurrte sie. »Solange meine Hütte nicht gewürdigt wird, kämpfe ich nicht.«

Mir fiel auf, dass sie nicht in Reimen sprach. Vielleicht war sie nicht dabei gewesen, als ihre Hüttengenossen verflucht worden waren, oder sie wusste, wie der Fluch zu lösen war. Fröstelnd frage ich mich, ob Clarisse Kronos’ Spionin hier im Lager sein könnte. Hielt sie deshalb ihre Hütte aus dem Kampf heraus? Aber sowenig ich Clarisse auch leiden konnte, für die Titanen zu spionieren sah ihr einfach nicht ähnlich.

»Na gut«, sagte ich zu ihr. »Ich wollte es ja eigentlich nicht erwähnen, aber du bist mir einen Gefallen schuldig. Ohne mich würdest du jetzt in der Zyklopenhöhle im Meer der Ungeheuer verrotten.«

Sie biss die Zähne zusammen. »Bitte um einen anderen Gefallen, Percy. Nicht diesen. Die Ares-Hütte ist schon zu oft untergebuttert worden. Und glaub ja nicht, ich wüsste nicht, was hinter meinem Rücken über mich geredet wird.«

Ich hätte gern gesagt: »Na, es stimmt doch auch.« Aber ich biss mir auf die Zunge.

»Also was – willst du einfach zusehen, wie Kronos uns fertigmacht?«, fragte ich.

»Wenn du meine Hilfe so dringend brauchst, dann sag Apollo, sie sollen uns den Wagen geben.«

»Was bist du nur für ein Baby.«

Sie wollte auf mich losstürzen, aber Chris ging dazwischen. »Das reicht, Leute«, sagte er. »Clarisse, weißt du, er hat vielleicht nicht ganz Unrecht.«

Sie fauchte ihn an: »Nicht du auch noch!« Dann lief sie davon, dicht gefolgt von Chris. »He, warte doch! Ich wollte doch nur – Clarisse, warte!«

Ich sah zu, wie die letzten Funken von Beckendorfs Feuer in den Nachmittagshimmel aufstoben. Dann ging ich zur Schwertkampfarena. Ich brauchte eine Pause und ich wollte eine alte Freundin besuchen.


Ich setze meinen Hund voll vor einen Baum

Mrs O’Leary sah mich, noch bevor ich sie gesehen hatte, und das war schon eine Leistung, schließlich ist sie so groß wie ein Müllwagen. Ich trat in die Arena und eine Wand aus Finsternis knallte mir ins Gesicht.

»WUFF!«

Als Nächstes merkte ich, dass ich platt auf dem Boden lag, mit einer Riesenpfote auf der Brust, während eine überdimensionale Topfschwammzunge mir das Gesicht ableckte.

»Uääh«, sagte ich. »He, altes Mädchen. Find ich ja auch toll, dass wir uns sehen. Uöööh.«

Mrs O’Leary brauchte einige Minuten, um sich zu beruhigen und von mir herunterzusteigen. Inzwischen war ich von Hundesabber durchtränkt. Sie wollte spielen, deshalb holte ich mir einen Bronzeschild und warf ihn durch die Arena.

Übrigens, Mrs O’Leary ist der einzige freundliche Höllenhund der Welt. Ich hatte sie geerbt, als ihr vorheriger Besitzer gestorben war. Sie lebte im Camp, und Beckendorf … na ja, Beckendorf hatte sich um sie gekümmert, wenn ich unterwegs gewesen war. Er hatte Mrs O’Learys Lieblingskauknochen aus Bronze gegossen. Er hatte ihr Halsband mit dem kleinen Smiley und einem Namensschild mit gekreuzten Knochen geschmiedet. Nach mir war Beckendorf ihr bester Freund gewesen.

Bei diesem Gedanken wurde ich wieder unheimlich traurig, aber ich warf den Schild trotzdem noch einige Male, weil Mrs O’Leary das unbedingt wollte.

Dann fing sie an zu bellen – was nur wenig lauter war als eine Kanone –, als ob sie einen Spaziergang machen wollte. Die anderen Camper fanden es gar nicht komisch, wenn sie ihr Geschäft in der Arena erledigte; das hatte schon mehr als einmal zu einem unglücklichen Ausrutschunfall geführt. Also öffnete ich das Tor und sie stürzte sofort auf den Wald zu.

Ich lief hinter ihr her und machte mir keine großen Sorgen darüber, dass sie einen so großen Vorsprung hatte. Nichts im Wald konnte Mrs O’Leary etwas anhaben. Sogar Drachen und Riesenskorpione ergriffen die Flucht, wenn sie sich näherte.

Als ich sie endlich einholte, war sie nicht mit Toilettendingen beschäftigt. Sie war zu der Lichtung gelaufen, wo der Rat der Behuften Älteren Grover einmal vor Gericht gestellt hatte. Die Lichtung sah nicht gerade gut aus. Das Gras war gelb geworden und die drei Thronsessel aus Buchsbaum hatten alle Blätter verloren. Aber was mich überraschte, war etwas anderes. Mitten auf der Lichtung stand das seltsamste Trio, das ich je gesehen hatte: Wacholder die Nymphe, Nico di Angelo und ein sehr alter, sehr fetter Satyr.

Nico war der Einzige, den Mrs O’Learys Erscheinung nicht umzuhauen schien. Er sah ungefähr so aus wie in meinem Traum – mit Fliegerjacke, schwarzen Jeans und einem T-Shirt mit tanzenden Skeletten, wie eins dieser Bilder vom Tag der Toten. An seiner Seite hing sein Schwert aus stygischem Eisen. Er war erst zwölf, aber er sah viel älter und trauriger aus.

Er nickte mir zu, dann kraulte er Mrs O’Leary weiter die Ohren. Sie schnupperte an seinen Beinen, als ob es außer Rib-Eye-Steaks nichts Interessanteres geben könnte. Als Sohn des Hades war er wahrscheinlich an allen möglichen höllenhundfreundlichen Orten unterwegs gewesen.

Der alte Satyr sah nicht halb so zufrieden aus. »Könnte irgendwer – was hat diese Kreatur aus der Unterwelt in meinem Wald zu suchen!« Er schwenkte die Arme und trat von einem Huf auf den anderen, als ob das Gras heiß wäre. »Du da, Percy Jackson! Ist das dein Viech?«

»Tut mir leid, Leneus«, sagte ich. »So war doch der Name, oder?«

Der Satyr verdrehte die Augen. Sein Fell war staubmausgrau und zwischen seinen Hörnern hing ein Spinngewebe. Sein Schmerbauch hätte ihn zu einem unbezwingbaren Autoscooter gemacht. »Natürlich bin ich Leneus. Erzähl mir ja nicht, dass du ein Mitglied des Rates so schnell vergessen hast. Und jetzt ruf dieses Biest zurück!«

»WUFF!«, sagte Mrs O’Leary glücklich.

Der alte Satyr schluckte. »Mach, dass es weggeht. Wacholder, unter diesen Umständen werde ich dir nicht helfen.«

Wacholder drehte sich zu mir um. Sie war auf dryadenhafte Weise hübsch mit ihrem hauchdünnen lila Kleid und ihrem Elfengesicht, aber ihre Augen waren vom Chlorophyll ihrer Tränen schon ganz grün.

»Percy«, schluchzte sie. »Ich habe ihn nach Grover gefragt. Ich weiß ganz einfach, dass etwas passiert ist. Er wäre nicht so lange weggeblieben, wenn er keine Probleme hätte. Ich hatte gehofft, Leneus könnte …«

»Ich hab es dir doch gesagt!«, fiel der Satyr ihr ins Wort. »Du bist ohne diesen Verräter besser dran.«

Wacholder stampfte mit dem Fuß auf. »Er ist kein Verräter. Er ist der tapferste Satyr aller Zeiten, und ich will wissen, wo er ist.«

»WUFF!«

Leneus’ Knie fingen an zu zittern. »Ich … ich beantworte keine Fragen, solange dieser Höllenhund an meinem Schwanz herumschnuppert.«

Nico sah aus, als ob er sich alle Mühe gab, nicht vor Lachen zu platzen. »Ich kann mit ihr Gassi gehen«, bot er an.

Er stieß einen Pfiff aus und Mrs O’Leary sprang hinter ihm her auf die andere Seite der Lichtung.

Leneus schnaubte erbost und wischte sich die Zweige vom Hemd. »Also, wie ich schon zu erklären versuchte, junge Dame, hat dein Liebster nicht einen einzigen Bericht geschickt, seit wir ihn ins Exil geschickt haben.«

»Ihr habt versucht, ihn ins Exil zu schicken«, korrigierte ich. »Chiron und Dionysos haben das verhindert.«

»Pah! Die sind nur Ehrenratsmitglieder. Das war keine richtige Abstimmung.«

»Ich werde Chiron erzählen, dass Sie das gesagt haben.«

Leneus erbleichte. »Ich meinte doch nur … also hör mal, Jackson. Das hier geht dich nichts an.«

»Grover ist mein Freund«, sagte ich. »Er hat Sie nicht angelogen, als es um Pans Tod ging. Ich habe es selbst gesehen. Sie hatten nur zu große Angst, um die Wahrheit zu akzeptieren.«

Leneus’ Lippen zitterten. »Nein! Grover ist ein Lügner, und es ist gut, dass wir ihn los sind. Ohne ihn sind wir besser dran.«

Ich zeigte auf die verwelkten Thronsessel. »Wenn alles so gut läuft, wo stecken dann Ihre Freunde? Ihr Rat hat sich in letzter Zeit anscheinend nicht getroffen.«

»Maron und Silenus … ich … ich bin sicher, dass sie bald wieder hier sein werden«, sagte er. Aber ich konnte die Panik in seiner Stimme hören. »Sie brauchen nur ein wenig Zeit zum Nachdenken. Es war ein sehr verwirrendes Jahr.«

»Und es wird noch viel verwirrender werden«, versprach ich. »Leneus, wir brauchen Grover. Sie müssen ihn mit Ihrer Magie doch auf irgendeine Weise finden können.«

Das Auge des alten Satyrn zuckte. »Ich sage dir doch, ich habe nichts gehört. Vielleicht ist er tot.«

Wacholder würgte ein Schluchzen hinunter.

»Er ist nicht tot«, sagte ich. »So viel spüre ich immerhin.«

»Empathielinks«, sagte Leneus verachtungsvoll. »Überaus unzuverlässig.«

»Dann forschen Sie nach«, drängte ich. »Suchen Sie ihn. Uns steht ein Krieg bevor. Grover wollte die Naturgeister mobilisieren.«

»Ohne meine Erlaubnis. Und unser Krieg ist das nicht!«

Ich packte ihn am Hemd, was mir wirklich nicht ähnlich sah, aber dieser blöde alte Bock trieb mich zum Wahnsinn. »Hören Sie, Leneus. Wenn Kronos angreift, wird er eine ganze Meute von Höllenhunden bei sich haben. Er wird alles vernichten, was ihm in den Weg kommt – Sterbliche, Götter, Halbgötter. Glauben Sie, er wird die Satyrn verschonen? Machen Sie sich auf den Weg und finden Sie heraus, was da vor sich geht! Finden Sie Grover und erzählen Sie Wacholder, wie es ihm geht. Und jetzt LOS!«

Ich versetzte ihm keinen harten Stoß, aber sein Schwerpunkt lag ziemlich weit oben. Weshalb er auf einen bepelzten Hintern fiel, sich dann auf die Hufe rappelte und mit wackelndem Schmerbauch davonrannte. »Grover wird niemals akzeptiert werden. Er wird als Ausgestoßener sterben!«

Als er im Gebüsch verschwunden war, wischte Wacholder sich die Augen. »Tut mir leid, Percy. Ich wollte dich da nicht reinziehen. Leneus ist noch immer ein Herr der Wildnis. Du solltest ihn dir nicht zum Feind machen.«

»Kein Problem«, sagte ich. »Ich habe viel schlimmere Feinde als übergewichtige Satyrn.«

Nico kam zu uns zurück. »Gute Arbeit, Percy. Wenn ich von der Spur aus Ziegenkötteln ausgehen darf, dann hast du ihn ganz schön fertiggemacht.«

Ich fürchtete zu wissen, warum Nico hier war, aber ich versuchte trotzdem, mir ein Lächeln abzuringen. »Schön, dass du wieder da bist. Bist du nur gekommen, um Wacholder zu besuchen?«

Er wurde rot. »Äh, nein. Das war ein Zufall. Ich bin sozusagen … mitten in ihre Unterhaltung geplatzt.«

»Er hat uns zu Tode erschreckt«, sagte Wacholder. »Kam einfach so aus den Schatten. Aber Nico, du bist doch der Sohn des Hades und überhaupt. Bist du sicher, dass du nichts von Grover gehört hast?«

Nico trat von einem Fuß auf den anderen. »Wacholder, ich habe doch schon versucht, dir das zu erklären … selbst, wenn Grover tot wäre, würde er als anderes Wesen in der Natur wiedergeboren werden. Ich kann so etwas nicht spüren, das geht nur bei sterblichen Seelen.«

»Aber wenn du irgendwas hörst?«, fragte sie flehend und legte ihm die Hand auf den Arm. »Egal was?«

Nicos Wangen wurden noch röter. »Äh, klar doch. Ich werde die Ohren offen halten.«

»Wir finden ihn, Wacholder«, versprach ich. »Grover lebt noch, da bin ich sicher. Es wird einen ganz einfachen Grund geben, warum er sich nicht bei uns gemeldet hat.«

Sie nickte düster. »Ich finde es schrecklich, dass ich den Wald nicht verlassen kann. Er könnte überall sein und ich sitze hier fest und muss warten. Ach, wenn dieser blöde Bock sich nur nicht in Gefahr gebracht hat …«

Mrs O’Leary kam auf uns zugesprungen und entwickelte großes Interesse an Wacholders Kleid.

Wacholder schrie auf. »Oh nein, bloß nicht! Mit Hunden und Bäumen kenne ich mich aus. Ich bin weg!«

Sie löste sich in grünen Nebel auf. Mrs O’Leary sah enttäuscht aus, trottete dann aber auf der Suche nach einem anderen Baum davon und ließ Nico und mich allein.

Nico schlug mit seinem Schwert auf den Boden. Aus der Erde quoll ein kleiner Haufen Tierknochen. Sie schlossen sich zum Skelett einer Feldmaus zusammen und rannten davon. »Das mit Beckendorf tut mir leid.«

Ich spürte einen Kloß im Hals. »Woher weißt du …?«

»Ich habe mit seinem Geist gesprochen.«

»Ach … stimmt.« Ich würde mich nie an die Tatsache gewöhnen, dass dieser zwölfjährige Junge häufiger mit den Toten sprach als mit den Lebenden. »Hat er etwas gesagt?«

»Er macht dir keine Vorwürfe. Er nimmt an, dass du dich mit Schuldgefühlen rumquälst, aber er sagt, du sollst das lassen.«

»Wird er Wiedergeburt beantragen?«

Nico schüttelte den Kopf. »Er will im Elysium bleiben. Sagt, dass er auf jemanden wartet. Bin nicht sicher, was er damit gemeint hat, aber er scheint den Tod im Griff zu haben.«

Das war kein großer Trost, aber es war doch immerhin etwas.

»Ich hatte eine Vision, in der du auf dem Mount Tam warst«, sagte ich dann. »War das …?«

»Ja«, sagte er. »Ich wollte eigentlich nicht bei den Titanen spionieren, aber ich war gerade in der Nähe.«

»Um was zu tun?«

Nico spielte an seinem Schwertgurt herum. »Ich habe eine Spur verfolgt, wegen … du weißt schon, meiner Familie.«

Ich nickte. Ich wusste, dass seine Vergangenheit ein wunder Punkt war. Bis vor zwei Jahren waren er und seine Schwester Bianca an einem Ort namens Lotos Hotel und Kasino in der Zeit hängen geblieben. Sie hatten an die siebzig Jahre dort verbracht, dann hatte ein geheimnisvoller Anwalt sie gerettet und in ein Internat gebracht. Nico hatte keine Erinnerungen an sein Leben vor dem Casino. Er wusste nichts über seine Mutter. Er wusste nicht, wer der Anwalt gewesen war oder warum sie in der Zeit festgehangen hatten und dann freigelassen worden waren. Seit Biancas Tod war er allein und davon besessen, die Antworten auf diese Fragen zu finden.

»Und wie ist es gelaufen?«, fragte ich. »Irgendwas erreicht?«

»Nein«, murmelte er. »Aber ich habe vielleicht eine neue Spur.«

»Und was für eine?«

Nico nagte an seiner Lippe. »Das spielt jetzt keine Rolle. Du weißt, warum ich hier bin.«

Ein Gefühl der Angst breitete sich in meiner Brust aus. Seit Nico mir im vergangenen Sommer erstmals seinen Plan geschildert hatte, Kronos zu besiegen, hatte ich Albträume davon. Ab und zu kam er und verlangte eine Antwort, aber ich wimmelte ihn immer wieder ab.

»Nico, ich weiß nicht«, sagte ich. »Mir kommt das ganz schön extrem vor.«

»Du musst in … etwa einer Woche mit Typhon rechnen. Die meisten anderen Titanen sind ebenfalls von der Kette gelassen und halten zu Kronos. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt da, um extrem zu denken.«

Ich schaute zum Camp zurück. Sogar aus dieser Entfernung konnte ich hören, dass die Hütten von Ares und Apollo wieder aneinandergeraten waren, sie schrien Verwünschungen und warfen mit schlechten Reimen um sich.

»Sie können es mit der Titanenarmee nicht aufnehmen«, sagte Nico. »Das weißt du. Es hängt alles an dir und Luke. Und du kannst Luke nur auf eine einzige Weise besiegen.«

Ich dachte an den Kampf auf der Prinzessin Andromeda. Da hatte ich keine Chance gehabt. Kronos hatte mich mit einem einzigen Schnitt in meinen Arm fast umgebracht, und ich hatte ihn nicht einmal verwunden können. Springflut war einfach von seiner Haut abgerutscht.

»Wir können dir dieselbe Macht geben«, drängte Nico mich. »Du hast die Große Weissagung gehört. Wenn du nicht willst, dass eine verfluchte Klinge deine Seele fällt …«

Ich hätte gern gewusst, woher Nico die Weissagung gehört hatte – vermutlich von irgendeinem Geist.

»Man kann eine Weissagung nicht verhindern«, sagte ich.

»Aber man kann dagegen kämpfen.« In Nicos Augen leuchtete ein seltsames hungriges Licht. »Man kann unbesiegbar werden.«

»Vielleicht sollten wir warten. Versuchen zu kämpfen ohne …«

»Nein!«, fauchte Nico. »Es muss jetzt sein.«

Ich starrte ihn an. Ich hatte sein Temperament schon lange nicht mehr dermaßen auflodern sehen. »Äh, bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

Er holte tief Luft. »Percy, ich meine doch nur … wenn der Kampf losgeht, können wir die Reise nicht mehr machen. Das hier ist unsere letzte Chance. Es tut mir leid, wenn ich dich zu sehr bedränge, aber vor zwei Jahren hat meine Schwester ihr Leben geopfert, um dich zu beschützen. Das musst du wiedergutmachen. Tu, was immer nötig ist, und besiege Kronos.«

Diese Vorstellung gefiel mir gar nicht. Dann dachte ich daran, dass Annabeth mich als Feigling bezeichnet hatte, und ich wurde wütend.

Nico hatte nicht Unrecht. Wenn Kronos New York angriff, würden die Camper seinen Truppen nicht gewachsen sein. Ich musste etwas unternehmen. Nicos Methode war gefährlich – vielleicht sogar tödlich. Aber sie könnte mir größere Kampfkraft geben.

»Na gut«, entschied ich. »Was machen wir als Erstes?«

Sein kaltes, verschlagenes Lächeln ließ mich meine Zustimmung gleich wieder bereuen. »Als Erstes müssen wir auf Lukes Pfaden wandeln. Wir müssen mehr über seine Vergangenheit in Erfahrung bringen, über seine Kindheit.«

Mir schauderte und ich dachte an Rachels Bild von Luke in meinem Traum – von einem lächelnden, neun Jahre alten Luke. »Warum müssen wir darüber mehr wissen?«

»Das erkläre ich, wenn wir dort sind«, sagte Nico. »Ich habe seine Mutter schon ausfindig gemacht. Sie lebt in Connecticut.«

Ich starrte ihn an. Ich hatte nie besonders viel über Lukes sterblichen Elternteil nachgedacht. Sein Dad, Hermes, war mir schon begegnet, aber seine Mom …

»Luke ist weggelaufen, als er noch sehr klein war«, sagte ich. »Ich hätte nicht gedacht, dass seine Mom noch lebt.«

»Na ja, sie lebt schon.« So, wie er das sagte, fragte ich mich, was mit ihr nicht stimmte. Was für ein schrecklicher Mensch mochte sie wohl sein?

»Okay«, sagte ich. »Und wie kommen wir nach Connecticut? Ich könnte Blackjack rufen …«

»Nein.« Nico sah mich böse an. »Pegasi mögen mich nicht, und das beruht ganz auf Gegenseitigkeit. Aber wir müssen auch nicht fliegen.« Er stieß einen Pfiff aus und Mrs O’Leary kam aus dem Wald gesprungen.

»Deine Freundin hier kann uns helfen.« Nico streichelte ihren Kopf. »Du hast noch nie Schattenreisen ausprobiert, oder?«

»Schattenreisen?«

Nico flüsterte Mrs O’Leary etwas ins Ohr. Sie legte den Kopf schräg und war plötzlich hellwach.

»Spring an Bord«, sagte Nico zu mir.

Ich war noch nie auf die Idee gekommen, auf einem Hund zu reiten, aber Mrs O’Leary war nun wirklich groß genug. Ich stieg auf ihren Rücken und hielt mich an ihrem Halsband fest.

»Das wird sie sehr müde machen«, warnte mich Nico. »Deshalb darfst du es nicht zu oft tun. Am besten geht es nachts. Alle Schatten sind Teile derselben Substanz. Es gibt nur eine Finsternis, und die Wesen der Unterwelt können sie als Weg oder Pforte nutzen.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich.

»Nein«, sagte Nico. »Ich habe auch lange gebraucht, um es zu lernen. Aber Mrs O’Leary kennt sich damit aus. Sag ihr, wohin. Sag ihr, nach Westport, zum Haus von May Castellan.«

»Du kommst nicht mit?«

»Keine Sorge«, sagte er. »Wir sehen uns dort.«

Ich war ein wenig nervös, aber ich beugte mich zu Mrs O’Learys Ohr vor. »Alles klar, altes Mädchen. Äh, kannst du mich nach Westport, Connecticut, bringen? Zum Haus von May Castellan?«

Mrs O’Leary schnupperte in der Luft herum. Sie schaute in den finsteren Wald, dann sprang sie vorwärts, voll in eine Eiche.

Unmittelbar vor dem Aufprall glitten wir in die Schatten, so kalt wie die dunkle Seite des Mondes.


Meine Plätzchen brennen an

Ich kann Schattenreisen nicht empfehlen, wenn ihr Angst habt

a)

vor der Dunkelheit,

b)

vor kalten Schauern, die einem über den Rücken laufen,

c)

vor seltsamen Geräuschen,

d)

davor, euch so schnell fortzubewegen, dass euch das Gesicht abgeschält zu werden scheint.

Mit anderen Worten, ich fand es grauenhaft. Ich konnte plötzlich überhaupt nichts mehr sehen und spürte nur noch Mrs O’Learys Fell und meine um die Bronzeglieder ihres Halsbandes geklammerten Finger. Dann lösten die Schatten sich zu einem neuen Bild auf. Wir befanden uns auf einem Felsen in den Wäldern von Connecticut. Jedenfalls sah es so aus, wie ich Connecticut von den wenigen Malen, die ich dort gewesen war, in Erinnerung hatte: jede Menge Bäume, niedrige Mauern, große Häuser. Auf der einen Seite des Felsens durchschnitt eine Autobahn eine Schlucht und auf der anderen Seite lag ein Garten. Das Grundstück war riesig – und eher Wildnis als Rasen. Darauf stand ein zweistöckiges weißes Gebäude im Kolonialstil. Obwohl auf der anderen Seite des Hügels die Autobahn vorbeiführte, schien es mitten im Nirgendwo zu liegen. Hinter dem Küchenfenster konnte ich ein Licht brennen sehen. Eine verrostete alte Schaukel stand unter einem Apfelbaum.

Ich konnte mir nicht vorstellen, in so einem Haus zu leben, mit einem echten Garten und allem. Ich hatte mein ganzes Leben in winzigen Wohnungen oder Internaten verbracht. Wenn Luke hier zu Hause war, dann hätte ich gern gewusst, warum er jemals weggewollt hatte.

Mrs O’Leary stolperte. Mir fiel ein, was Nico darüber gesagt hatte, dass Schattenreisen sie so müde machten, und rutschte von ihrem Rücken. Sie stieß ein lautes Gähnen aus, bei dem sie ihre Zähne zeigte und sogar einen Tyrannosaurus Rex in Panik versetzt hätte, dann drehte sie sich einmal um sich selbst und ließ sich so schwer zu Boden fallen, dass alles bebte.

Nico erschien gleich rechts von mir, es sah so aus, als ob die Schatten sich verdunkelt und ihn erschaffen hätten. Er stolperte, aber ich fasste ihn am Arm.

»Ist schon gut«, brachte er heraus und rieb sich die Augen.

»Wie hast du das geschafft?«

»Übung. Bin ein paar Mal gegen Mauern geknallt. Ein paar Mal aus Versehen in China gelandet.«

Mrs O’Leary fing an zu schnarchen. Ohne das Dröhnen des Verkehrs hinter uns hätte sie sicher die ganze Gegend geweckt.

»Willst du auch ein Nickerchen machen?«, fragte ich Nico.

Er schüttelte den Kopf. »Nach meiner ersten Schattenreise war ich eine Woche lang erledigt. Jetzt macht es mich nur ein wenig benommen, aber mehr als ein-oder zweimal pro Nacht schaffe ich es trotzdem nicht. Mrs O’Leary geht sicher erst mal nirgendwo mehr hin.«

»Wir haben jetzt also ein bisschen Zwangsurlaub in Connecticut.« Ich starrte das weiße Haus an. »Was jetzt?«

»Wir klingeln«, sagte Nico.

Wenn ich Lukes Mom gewesen wäre, hätte ich nicht mitten in der Nacht zwei fremden Jungs die Tür geöffnet. Aber ich war alles andere als Lukes Mom. Das wusste ich, noch ehe wir die Haustür erreicht hatten. Der Weg dahin war von so kleinen ausgestopften Knautschtieren gesäumt, wie man sie in Geschenkeläden kriegt. Es gab Minilöwen, Schweine, Drachen, Hydren, sogar einen winzigen Minotauros mit einer winzigen Minotauroswindel. So traurig schlaff, wie sie waren, mussten diese Knautschwesen hier schon lange sitzen – mindestens seit der Schneeschmelze im vergangenen Frühling. Einer Hydra wuchs sogar ein kleiner Baum zwischen den Hälsen.

Die Terrasse vor dem Haus war verseucht von Windorgeln. Leuchtendes Glas und Metallstücke klirrten im Wind. Messingstreifen plätscherten wie Wasser, und ich merkte, dass ich zur Toilette musste. Ich begriff nicht, wie Ms Castellan diesen Lärm aushalten konnte.

Die Vordertür war türkis gestrichen. Der Name Castellan stand dort auf Englisch und darunter auf Griechisch: Διοικητής φρουρίυ.

Nico sah mich an. »Bist du so weit?«

Er hatte die Tür kaum angetippt, als sie auch schon aufgerissen wurde.

»Luke!«, rief die alte Dame glücklich.

Sie sah aus, als steckte sie ihre Finger gern in Steckdosen. Ihre weißen Haare standen in Büscheln überall von ihrem Kopf ab und ihr weißes Hauskleid war von Brandspuren und Ascheflecken übersät. Als sie lächelte, sah ihr Gesicht unnatürlich gedehnt aus, und das Starkstrom-Licht in ihren Augen ließ mich überlegen, ob sie blind sein könnte.

»Ach, mein lieber Junge!« Sie umarmte Nico. Ich versuchte noch zu verstehen, warum sie Nico für Luke hielt (sie hatten nicht die geringste Ähnlichkeit), als sie mich anlächelte und sagte: »Luke!«

Nico war total vergessen und sie drückte mich an sich. Sie roch nach verbrannten Plätzchen und war dünn wie eine Vogelscheuche, aber dennoch hätte sie mich fast zerquetscht.

»Komm rein!«, verlangte sie. »Das Essen ist fertig.«

Sie schob uns ins Haus. Das Wohnzimmer war noch seltsamer als der Rasen vor dem Haus. Jede freie Stelle war mit Spiegeln und Kerzen vollgestellt und ich konnte nirgendwohin schauen, ohne mein Spiegelbild zu sehen. Über dem Kaminsims flog ein kleiner Bronzehermes als Sekundenzeiger einer tickenden Uhr im Kreis. Ich versuchte zu verstehen, wie der Gott der Boten sich jemals in diese alte Frau verlieben konnte, aber die Vorstellung war zu bizarr.

Dann sah ich das gerahmte Bild auf dem Kaminsims und erstarrte. Es sah genau aus wie Rachels Zeichnung – Luke mit etwa neun Jahren, mit blonden Haaren, einem strahlenden Lächeln und zwei Zahnlücken. Ohne die Narben in seinem Gesicht sah er aus wie ein ganz anderer – unbeschwert und glücklich. Wie konnte Rachel von diesem Bild gewusst haben?

»Hier lang, mein Lieber!« Ms Castellan lotste mich in den hinteren Teil des Hauses. »Ich habe ihnen ja gesagt, dass du zurückkommen würdest. Ich habe es gewusst!«

Wir setzten uns an den Küchentisch. Auf der Anrichte stapelten sich Hunderte – wirklich Hunderte – Plastikdosen mit Erdnussbutter-Marmelade-Sandwiches. Die untersten waren ganz grün und pelzig, als ob sie schon lange dort lägen. Der Geruch erinnerte mich an meinen Schrank in der sechsten Klasse – und das will wirklich was heißen.

Oben auf dem Herd waren Backbleche aufgetürmt und auf jedem lag ein Dutzend angebrannter Plätzchen. Im Spülbecken war ein Berg aus leeren Kool-Aid-Dosen. Eine Knautschmedusa saß neben dem Wasserhahn, als ob sie das Chaos bewachte.

Ms Castellan fing an zu summen, während sie Erdnussbutter und Marmelade aus dem Schrank nahm und noch ein Sandwich schmierte. Irgendetwas verbrannte im Ofen. Ich hatte das Gefühl, dass es sich um noch mehr Plätzchen handelte.

Über dem Spülbecken, um das ganze Fenster herumgeklebt, gab es Dutzende von kleinen Bildern, die aus Zeitschriften und Zeitungen ausgeschnitten waren. Bilder des Hermes vom Blumenboten-Logo und vom Paketdienst, Bilder des Caduceus aus der Medikamentenwerbung.

Mein Herz wurde schwer. Ich wollte weg aus diesem Raum, aber Ms Castellan lächelte mich weiter an, während sie das Brot schmierte, wie um sicherzustellen, dass ich nicht weglief.

Nico hüstelte. »Äh, Ms Castellan?«

»Mm?«

»Wir müssen Sie etwas über Ihren Sohn fragen.«

»Oh ja! Sie haben mir gesagt, er würde nie zurückkommen. Aber ich habe es besser gewusst.« Sie streichelte liebevoll meine Wange und verpasste mir dabei Rallye-Streifen aus Erdnussbutter.

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, fragte Nico.

Ihre Augen wurden trübe.

»Er war so jung, als er weggegangen ist«, sagte sie sehnsüchtig. »Dritte Klasse. Das ist viel zu jung, um durchzubrennen! Er hat gesagt, er würde zum Mittagessen zurück sein. Und ich habe gewartet. Er mag gern Erdnussbutter-Sandwiches und Plätzchen und Kool-Aid. Bald wird er zum Essen wieder hier sein …« Dann sah sie mich an und lächelte. »Aber Luke, da bist du ja schon! Du siehst so gut aus. Du hast die Augen deines Vaters.«

Sie drehte sich zu dem Bild des Hermes über dem Spülbecken um. »Das ist wirklich ein guter Mann. Ja, das ist er. Er besucht mich oft, weißt du.«

Im anderen Zimmer tickte die Uhr. Ich wischte mir die Erdnussbutter aus dem Gesicht und schaute Nico flehend an, nach dem Motto: Können wir nicht machen, dass wir hier wegkommen?

»Ma’am«, sagte Nico. »Was, äh … was ist mit Ihren Augen passiert?«

Ihr Blick wirkte zersplittert – als ob sie versuchte, ihn durch ein Kaleidoskop zu betrachten. »Wieso fragst du, Luke, du kennst die Geschichte doch. War ja unmittelbar vor deiner Geburt. Ich war immer etwas Besonderes, sah durch den … wie wird das noch genannt?«

»Nebel?«, fragte ich.

»Ja, mein Lieber.« Sie nickte ermutigend. »Und sie haben mir eine wichtige Stelle angeboten. So etwas Besonderes war ich!«

Ich schaute zu Nico hinüber, aber der sah genauso verwirrt aus wie ich.

»Was denn für eine Stelle?«, fragte ich. »Was ist passiert?«

Ms Castellan runzelte die Stirn. Ihr Messer schwebte über dem Brot. »Tja, es ging eben nicht gut, verstehst du? Dein Vater hat auch gesagt, ich sollte es nicht versuchen. Es sei zu gefährlich, sagte er. Aber ich musste es tun. Das war mein Schicksal! Und jetzt … ich werde die Bilder noch immer nicht los. Und sie bringen mich so durcheinander. Möchtest du ein paar Plätzchen?«

Sie zog ein Blech aus dem Ofen und ließ ein Dutzend Schokobriketts auf den Tisch fallen.

»Luke war so lieb«, murmelte Ms Castellan. »Er ist weggegangen, um mich zu schützen, weißt du? Er hat geglaubt, wenn er wegginge, würden die Monster mir nichts tun. Aber ich habe ihm gesagt, dass die Monster keine Bedrohung sind. Sie sitzen den ganzen Tag draußen auf der Straße, aber sie kommen ja nicht rein.« Sie nahm die kleine Knautschmedusa von der Fensterbank. »Oder, Mrs Medusa? Nein, überhaupt keine Bedrohung.« Sie strahlte mich an. »Ich bin so froh, dass du nach Hause gekommen bist. Ich habe gewusst, dass du dich meinetwegen nicht schämst!«

Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her. Ich stellte mir vor, ich sei Luke, der mit acht oder neun Jahren an diesem Tisch saß, und dem gerade aufging, dass seine Mutter nicht alle beisammenhatte.

»Ms Castellan«, sagte ich.

»Mom«, korrigierte sie.

»Äh, ja. Haben Sie Luke noch mal gesehen, seit er von zu Hause weggegangen ist?«

»Aber natürlich!«

Ich wusste nicht, ob sie sich das einbildete oder nicht. Schließlich glaubte sie wahrscheinlich jedes Mal, wenn der Postbote vor der Tür stand, es sei Luke. Aber Nico beugte sich erwartungsvoll vor.

»Wann?«, fragte er. »Wann hat Luke Sie zuletzt besucht?«

»Na, das war … ach herrje …« Ein Schatten glitt über ihr Gesicht. »Beim letzten Mal hat er so anders ausgesehen. Er hatte eine Wunde. Eine schreckliche Wunde, und so viel Schmerz in seiner Stimme …«

»Seine Augen«, fragte ich. »Waren die golden?«

»Golden?« Sie blinzelte. »Nein. Was für ein Unsinn. Luke hat blaue Augen. Wunderschöne blaue Augen.«

Luke war also wirklich hier gewesen, und zwar vor dem vergangenen Sommer – ehe er sich in Kronos verwandelt hatte.

»Ms Castellan?« Nico legte die Hand auf den Arm der alten Frau. »Das ist sehr wichtig. Hat er Sie um irgendetwas gebeten?«

Sie runzelte die Stirn, als versuche sie, sich zu erinnern. »Meinen – meinen Segen. Ist das nicht süß?« Sie sah uns verwirrt an. »Er wollte zu einem Fluss und sagte, er brauche meinen Segen. Den habe ich ihm gegeben. Natürlich habe ich das.«

Nico schaute mich triumphierend an. »Danke sehr, Ma’am. Das ist alles, was wir wissen …«

Ms Castellan keuchte auf. Sie krümmte sich und ihr Plätzchen fiel auf den Boden. Nico und ich sprangen auf.

»Ms Castellan?«, fragte ich.

»AHHHHHH!« Sie richtete sich auf. Ich wich zurück und wäre fast über den Küchentisch gefallen, weil ihre Augen – weil ihre Augen grün glühten.

»Mein Kind«, krächzte sie mit viel tieferer Stimme. »Muss ihn beschützen! Hermes, hilf! Nicht mein Kind! Nicht sein Schicksal – nein!«

Sie packte Nico an den Schultern und schüttelte ihn, wie um ihn zum Verstehen zu zwingen. »Nicht sein Schicksal!«

Nico stieß einen erstickten Schrei aus und stieß sie fort. Er packte seinen Schwertgriff. »Percy, wir müssen weg …«

Plötzlich brach Ms Castellan zusammen. Ich sprang auf sie zu und packte sie, ehe sie auf die Tischkante knallte. Dann führte ich sie zu einem Stuhl.

»Ms C?«, fragte ich. Sie murmelte etwas Unverständliches und schüttelte den Kopf. »Meine Güte. Ich … ich habe die Plätzchen fallen lassen. Wie dumm von mir.«

Sie blinzelte und ihre Augen waren wieder normal – oder jedenfalls so wie vorher. Das grüne Glühen war verschwunden.

»Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte ich.

»Aber natürlich, Lieber. Mir geht’s gut. Warum fragst du?«

Ich schaute zu Nico hinüber, und der formte mit den Lippen die Worte »Raus hier«.

»Ms C, Sie wollten uns etwas erzählen«, sagte ich. »Etwas über Ihren Sohn.«

»Wirklich?«, fragte sie zerstreut. »Ja, seine blauen Augen. Wir sprachen über seine blauen Augen. So ein hübscher Junge!«

»Wir müssen gehen«, drängte Nico. »Wir werden Luke sagen … äh, wir sagen ihm, dass Sie ihn grüßen lassen.«

»Aber ihr könnt nicht gehen!« Ms Castellan richtete sich unsicher auf und ich wich zurück. Es kam mir töricht vor, mich vor einer gebrechlichen alten Frau zu fürchten, aber so, wie ihre Stimme sich verändert hatte und wie sie Nico gepackt hatte …

»Hermes wird bald hier sein. Er will doch seinen Jungen sehen.«

»Nächstes Mal vielleicht«, sagte ich. »Danke für …« Ich schaute auf die verbrannten Plätzchen hinunter, die auf dem Boden verstreut lagen. »Danke für alles.«

Sie versuchte, uns aufzuhalten, bot uns Kool-Aid an, aber ich musste weg aus diesem Haus. Auf der Veranda packte sie mein Handgelenk und ich wäre fast aus der Haut gefahren. »Luke, pass auf dich auf. Versprich mir, dass du auf dich aufpasst.«

»Das werde ich … Mom.«

Das entlockte ihr ein Lächeln. Sie ließ mein Handgelenk los, und als sie die Haustür schloss, konnte ich hören, wie sie mit den Kerzen redete. »Habt ihr das gehört? Er passt auf sich auf. Ich hab’s euch ja gesagt!«

Als die Tür zufiel, stürzten Nico und ich los. Die kleinen Knautschwesen am Straßenrand schienen uns anzugrinsen, als wir vorüberrannten.

Mrs O’Leary hatte inzwischen auf dem Felsen eine Freundin gefunden.

Ein gemütliches Lagerfeuer knisterte in einem Steinring. Ein Mädchen von vielleicht acht Jahren saß im Schneidersitz neben Mrs O’Leary und kraulte ihr die Ohren.

Sie hatte mausbraune Haare und trug ein schlichtes braunes Kleid. Mit ihrem Kopftuch sah sie aus wie das Kind von Siedlern – wie ein Geist aus »Unsere kleine Farm« oder so. Sie stocherte mit einem Stock im Feuer herum und es schien tiefer zu glühen als ein normales Feuer.

»Hallo«, sagte sie.

Mein erster Gedanke war: Monster. Wenn du ein Halbgott bist und mitten im Wald allein ein süßes kleines Mädchen vorfindest – dann ist das der passende Augenblick, dein Schwert zu ziehen und anzugreifen. Außerdem hatte die Begegnung mit Ms Castellan mich ganz schön fertiggemacht.

Aber Nico verbeugte sich vor der Kleinen.

»Schön, Euch wiederzusehen, hohe Dame.«

Sie musterte mich aus Augen, die so rot waren wie der Feuerschein. Ich hielt es für das Sicherste, mich zu verbeugen.

»Setz dich, Percy Jackson«, sagte sie. »Möchtest du etwas essen?«

Nach den verschimmelten Erdnussbutterbroten und verkokelten Plätzchen hatte ich nicht besonders viel Appetit, aber die Kleine winkte einmal kurz und neben dem Feuer tauchte ein Picknick auf. Es gab Teller voll Roastbeef, Ofenkartoffeln, gekochte Möhren, frisch gebackenes Brot und jede Menge andere Dinge, die ich schon ewig nicht mehr gegessen hatte. Mir knurrte der Magen. Das war genau die Art Hausmannskost, die eigentlich alle essen sollten, aber nie bekamen. Das Mädchen ließ vor Mrs O’Leary einen ein Meter fünfzig langen Hundekuchen auftauchen, und Mrs O’Leary fing glücklich an, ihn in Stücke zu reißen.

Ich setzte mich neben Nico. Wir nahmen uns etwas zu essen und ich wollte mich schon darüber hermachen, besann mich dann aber eines Besseren.

Ich kratzte einen Teil meiner Mahlzeit ins Feuer, so, wie wir das im Camp immer machen. »Für die Götter«, sagte ich.

Das kleine Mädchen lächelte. »Danke. Als Hüterin der Flammen bekomme ich einen Teil von jedem Opfer, weißt du?«

»Jetzt erkenne ich dich«, sagte ich. »Als ich zum ersten Mal im Camp war, hast du am Feuer gesessen, zwischen den Hütten.«

»Du bist nie stehen geblieben, um mit mir zu sprechen«, erinnerte das Mädchen sich. »Leider tut das außer Nico kaum jemand. Er war der Erste seit vielen Jahren. Alle anderen haben es immer eilig. Keine Zeit für Familienbesuche.«

»Du bist Hestia«, sagte ich. »Die Göttin des Herdes.«

Sie nickte.

Na gut … sie sah also aus, als wäre sie acht Jahre alt. Ich stellte keine Fragen. Ich wusste ja, dass Götter so aussehen können, wie sie wollen.

»Göttin«, sagte Nico. »Warum seid Ihr nicht bei den anderen Olympiern und kämpft gegen Typhon?«

»Ich bin keine große Kämpferin.« Ihre roten Augen flackerten und mir wurde klar, dass sie nicht nur die Flammen reflektierten. Sie waren selbst mit Flammen gefüllt – aber nicht wie die Augen des Ares. Hestias Augen waren warm und freundlich.

»Außerdem«, sagte sie, »muss irgendwer zu Hause das Herdfeuer am Brennen halten, während die anderen Götter unterwegs sind.«

»Ihr hütet also den Olymp?«, fragte ich.

»Hüten ist vielleicht übertrieben. Aber wenn du mal einen warmen Ort brauchst, um dich auszuruhen und echte Hausmannskost zu genießen, dann bist du willkommen. Und jetzt iss.«

Mein Teller war leer, ehe ich mich’s versah. Nicos Essen war ebenso rasch verschwunden.

»Das war wunderbar«, sagte ich. »Vielen Dank, Hestia.«

Sie nickte. »War das ein netter Besuch bei May Castellan?«

Für einen Moment hatte ich die alte Dame mit den leuchtenden Augen und dem wahnsinnigen Lächeln fast vergessen und auch, wie besessen sie plötzlich gewirkt hatte.

»Was ist eigentlich los mit ihr?«, fragte ich.

»Sie wurde mit einer Gabe geboren«, sagte Hestia. »Sie konnte durch den Nebel schauen.«

»Wie meine Mutter«, sagte ich. Und außerdem dachte ich, wie Rachel. »Aber diese Nummer mit den glühenden Augen …«

»Manche können den Fluch des Sehens besser ertragen als andere«, sagte die Göttin traurig. »Eine Zeitlang hatte May Castellan viele Gaben. Sie zog die Aufmerksamkeit des Hermes auf sich und sie bekamen einen wunderschönen kleinen Sohn. Für kurze Zeit war sie glücklich. Und dann ging sie zu weit.«

Mir fiel ein, was Ms Castellan gesagt hatte: Sie haben mir eine wichtige Stelle angeboten … das ging nicht gut. Ich fragte mich, was für ein Job wohl solche Auswirkungen haben konnte.

»Sie war glücklich«, sagte ich. »Und dann ist sie von einem Moment auf den anderen über das Schicksal ihres Sohnes durchgedreht. Als ob sie wüsste, dass er sich in Kronos verwandelt hat. Was ist passiert, um sie … so zu spalten?«

Das Gesicht der Göttin verdüsterte sich. »Das ist eine Geschichte, die ich nicht gern erzähle. Aber May Castellan sah zu viel. Wenn ihr euren Feind Luke verstehen wollt, müsst ihr seine Familie verstehen.«

Ich dachte an die traurigen Bildchen von Hermes, die über May Castellans Spülbecken klebten. Ich überlegte, ob Ms Castellan auch schon so verrückt gewesen war, als Luke noch klein war. Diese grünäugigen Anfälle mussten einem Neunjährigen schreckliche Angst gemacht haben. Und wenn Hermes nie zu Besuch gekommen war, wenn er Luke all die Jahre lang mit seiner Mom alleingelassen hatte …

»Kein Wunder, dass Luke weggelaufen ist«, sagte ich. »Ich meine, es war vielleicht nicht richtig, seine Mom einfach so zu verlassen, aber trotzdem – er war ja noch ein Kind. Hermes hätte sie nicht im Stich lassen dürfen.«

Hestia kratzte Mrs O’Leary hinter den Ohren. Der Höllenhund wedelte mit dem Schwarz und warf aus Versehen einen Baum um.

»Es ist leicht, andere zu verurteilen«, sagte Hestia mahnend. »Aber werdet ihr Luke auf seinem Weg folgen? Dieselbe Macht anstreben?«

Nico stellte seinen Teller hin. »Wir haben keine Wahl, Göttin. Nur so hat Percy eine Chance.«

»Hm.« Hestia öffnete die Hand und das Feuer loderte auf. Flammen schossen zehn Meter hoch in die Luft; die Hitze schlug mir ins Gesicht. Dann fiel das Feuer wieder auf normale Größe zusammen.

»Nicht jede Macht ist spektakulär.« Hestia sah mich an. »Manchmal ist die Kraft des Nachgebens jene Kraft, die am schwersten zu erlangen ist. Glaubst du mir?«

»Äh, klar«, sagte ich. Was immer sie wollte, wenn sie nur nicht wieder mit ihren Flammenkräften herumspielte.

Die Göttin lächelte. »Du bist ein guter Heros, Percy Jackson. Nicht zu stolz. Das gefällt mir. Aber du musst noch viel lernen. Als Dionysos zum Gott gemacht wurde, habe ich für ihn meinen Thron aufgegeben. Nur so ließ sich ein Krieg unter den Göttern verhindern.«

»Das hat den Rat aus dem Gleichgewicht gebracht«, fiel mir ein. »Plötzlich gab es sieben Typen und fünf Mädchen.«

Hestia zuckte mit den Schultern. »Es war die beste Lösung, keine perfekte. Jetzt hüte ich das Feuer. Ich verschwinde langsam im Hintergrund. Niemand wird je ein Epos über die Taten der Hestia verfassen. Die meisten Halbgötter nehmen sich nicht einmal die Zeit, mit mir zu reden. Aber das spielt keine Rolle. Ich bewahre den Frieden. Ich gebe nach, wenn es nötig ist. Wirst du es schaffen?«

»Ich weiß nicht, was Ihr meint.«

Sie sah mich forschend an. »Vielleicht noch nicht. Aber bald. Wirst du deinen Einsatz fortsetzen?«

»Seid Ihr deshalb gekommen – um mich davor zu warnen?«

Hestia schüttelte den Kopf. »Ich bin hier, weil ich das Letzte bin, was noch bleibt, wenn alles andere fehlschlägt, wenn alle mächtigen Götter in den Krieg gezogen sind. Ein Zuhause. Der Herd. Ich bin die letzte Göttin des Olymps. An mich musst du denken, wenn du vor der letzten Entscheidung stehst.«

Wie sie »letzte Entscheidung« sagte, gefiel mir gar nicht.

Ich sah Nico an, dann schaute ich wieder in Hestias warme glühende Augen. »Ich muss weitermachen, Göttin. Ich muss Luke aufhalten … ich meine, Kronos.«

Hestia nickte. »Na gut. Ich kann nicht viel helfen, außer indem ich dir dies hier erzählt habe. Aber da du mir ein Opfer gebracht hast, kann ich dich an deinen eigenen Herd zurückbringen. Ich werde dich wiedersehen, Percy, auf dem Olymp.«

Ihr Tonfall klang unheilverkündend, als werde unsere nächste Begegnung nicht glücklich ausfallen.

Die Göttin machte eine Handbewegung und alles verschwand.

Plötzlich war ich zu Hause. Nico und ich saßen in der Wohnung meine Mutter in der Upper East Side auf der Couch. Das war die gute Nachricht. Die schlechte war, dass der Rest des Wohnzimmers von Mrs O’Leary ausgefüllt war.

Ich hörte aus dem Schlafzimmer einen unterdrückten Schrei. Pauls Stimme fragte: »Wer hat diese Fellwand in die Tür geklemmt?«

»Percy?«, rief meine Mom. »Bist du da? Ist alles in Ordnung bei dir?«

»Ich bin hier!«, brüllte ich zurück.

»WUFF!« Mrs O’Leary versuchte, sich im Kreis zu drehen, um Mom zu finden, und dabei warf sie alle Bilder von der Wand. Sie war meiner Mom erst einmal begegnet (lange Geschichte), aber sie liebte sie heiß und innig.

Es dauerte einige Minuten, aber irgendwann konnten wir die Lage klären. Nachdem wir fast alle Möbel im Wohnzimmer ruiniert und unsere Nachbarn vermutlich ziemlich wütend gemacht hatten, konnten wir meine Eltern aus dem Schlafzimmer und in die Küche bugsieren, wo wir uns an den Küchentisch setzten. Mrs O’Leary füllte noch immer das gesamte Wohnzimmer aus, aber ihr Kopf lag jetzt in der Küchentür und sie konnte uns sehen, was sie sehr glücklich machte. Meine Mom warf ihr eine Riesen-Familienpackung Hackfleisch zu, die sofort verschwunden war. Paul schenkte uns Limonade ein, während ich von unserem Besuch in Connecticut berichtete.

»Dann stimmt es also.« Paul starrte mich an, als ob er mich noch nie gesehen hätte. Er trug seinen weißen Bademantel, der jetzt mit Höllenhundehaaren übersät war, und seine grau melierten Haare standen zu allen Seiten ab. »Dieses ganze Gerede über Monster und dass du ein Halbgott bist … das stimmt also wirklich.«

Ich nickte. Im vergangenen Herbst hatte ich Paul erklärt, wer ich war, und meine Mom hatte es bestätigt. Aber bis zu diesem Moment hatte er uns wohl doch nicht so ganz geglaubt.

»Das mit Mrs O’Leary tut mir leid«, sagte ich. »Dass sie das Wohnzimmer verwüstet hat und so.«

Paul lachte entzückt. »Machst du Witze? Das ist großartig! Ich meine, als ich die Hufspuren und den Prius gesehen habe, dachte ich, na, vielleicht stimmt es ja doch. Aber das hier!«

Er streichelte Mrs O’Learys Schnauze. Das Wohnzimmer bebte – BUMM, BUMM, BUMM –, und das bedeutete entweder, dass ein Überfallkommando die Tür aufbrach oder dass Mrs O’Leary mit dem Schwanz wedelte.

Ich musste lächeln. Paul war ganz schön cool, auch wenn er mein Englischlehrer und noch dazu mein Stiefvater war.

»Danke, dass du nicht ausrastest«, sagte ich.

»Ich raste sehr wohl aus!«, erklärte er und machte große Augen. »Ich finde das nämlich umwerfend!«

»Na ja«, sagte ich. »Vielleicht bist du nicht mehr ganz so begeistert, wenn du hörst, was passiert ist.«

Ich erzählte Paul und meiner Mom von Typhon und den Göttern und der Schlacht, die uns bevorstand. Und ich erzählte ihnen von Nicos Plan.

Meine Mom verschränkte ihre Finger um das Limonadenglas. Sie trug ihren alten blauen Flanellbademantel und hatte die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Seit kurzem schrieb sie an einem Roman; das hatte sie seit Jahren vorgehabt, und ich wusste, dass sie bis spät in die Nacht hinein gearbeitet hatte, denn die Ringe um ihre Augen waren dunkler als sonst.

Hinter ihr im Küchenfenster leuchtete silbernes Mondgewebe im Blumenkasten. Ich hatte diese magische Pflanze im vergangenen Sommer von Kalypsos Insel mitgebracht, und unter der Pflege meiner Mutter blühte sie wie verrückt. Der Duft beruhigte mich immer, machte mich aber auch traurig, weil er mich an verlorene Freundinnen und Freunde erinnerte.

Meine Mom holte tief Luft, als ob sie mir die Sache verbieten wollte.

»Percy, das ist gefährlich«, sagte sie. »Sogar für dich.«

»Mom, das weiß ich. Ich könnte dabei umkommen. Das hat mir Nico auch erklärt. Aber wenn wir es nicht versuchen …«

»Dann sterben wir alle«, sagte Nico. Er hatte seine Limonade nicht angerührt. »Ms Jackson, gegen eine Invasion haben wir keine Chance. Und die Invasion wird kommen.«

»Eine Invasion von New York?«, fragte Paul. »Geht das denn überhaupt? Wie ist es möglich, dass wir die … die Monster nicht sehen?«

Er sprach das Wort aus, als ob er noch immer nicht glauben könnte, dass das hier die Wirklichkeit war.

»Ich weiß nicht«, gab ich zu. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kronos einfach in Manhattan einmarschiert, aber der Nebel ist sehr dicht. Typhon stampft gerade durch das ganze Land und die Sterblichen halten ihn für ein Sturmtief.«

»Ms Jackson«, sagte Nico. »Percy braucht Ihren Segen. Das ist der erste Schritt in diesem Prozess. Ich war nicht sicher, bis wir bei Lukes Mutter waren, aber jetzt bin ich davon überzeugt. Es ist bisher erst zweimal geglückt. Beide Male musste die Mutter ihren Segen geben. Sie musste ihren Sohn das Risiko eingehen lassen.«

»Ich soll das hier segnen?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist Wahnsinn. Percy, bitte …«

»Mom, ohne dich kann ich das nicht.«

»Und wenn du diesen … diesen Prozess überlebst?«

»Dann ziehe ich in den Krieg«, sagte ich. »Ich gegen Kronos. Und nur einer von uns wird überleben.«

Ich sagte ihr nicht die ganze Weissagung – über die Seele, die gefällt wurde, und das Ende meiner Tage. Sie brauchte nicht zu wissen, dass ich so gut wie verloren war. Ich konnte nur noch hoffen, dass ich vor meinem Tod Kronos aufhalten und den Rest der Welt retten würde.

»Du bist mein Sohn«, sagte sie verzweifelt. »Ich kann doch nicht so einfach …«

Ich wusste, ich würde ihr härter zusetzen müssen, damit sie ihre Zustimmung gab, aber das wollte ich nicht. Ich dachte an die arme Ms Castellan in ihrer Küche, die auf die Heimkehr ihres Sohnes wartete. Und mir ging auf, was für ein Glück ich hatte. Meine Mom war immer für mich da gewesen, hatte immer versucht, mir ein normales Leben zu ermöglichen, trotz Göttern und Monstern und allem. Sie hatte sich damit abgefunden, dass ich ständig auf Abenteuer auszog, aber jetzt wollte ich ihren Segen für eine Unternehmung, die vermutlich meinen Tod bedeuten würde.

Ich wechselte einen Blick mit Paul und zwischen uns gab es eine Art Einverständnis.

»Sally.« Er legte seine Hand auf die Hände meiner Mutter. »Ich kann nicht behaupten, ich wüsste, was du und Percy in all diesen Jahren durchgemacht habt. Aber für mich klingt es so … es klingt so, als ob Percy eine edle Tat vollbringen will. Ich wünschte, ich hätte solchen Mut.«

Ich verspürte einen Kloß im Hals. Solche Komplimente bekam ich nicht sehr oft.

Meine Mom starrte ihre Limonade an. Sie sah aus, als ob sie sich bemühte, nicht zu weinen. Ich dachte daran, was Hestia gesagt hatte, wie hart es ist nachzugeben, und stellte mir vor, dass meine Mom das jetzt vielleicht gerade erlebte.

»Percy«, sagte sie. »Ich gebe dir meinen Segen.«

Ich fühlte mich absolut nicht anders. Kein magisches Glühen in der Küche oder so.

Ich schaute zu Nico hinüber.

Der sah besorgter aus denn je, aber er nickte. »Es ist Zeit.«

»Percy«, sagte meine Mom. »Eine Sache noch. Wenn du … wenn du diesen Kampf mit Kronos überlebst, schick mir ein Zeichen.« Sie wühlte in ihrer Handtasche und reichte mir ihr Handy.

»Mom«, sagte ich. »Du weißt doch, Halbgötter und Telefone …«

»Ich weiß«, sagte sie. »Aber für alle Fälle. Und wenn du nicht anrufen kannst … dann schick vielleicht ein Zeichen, das ich von überall in Manhattan sehen kann. Damit ich weiß, dass es dir gut geht.«

»Wie Theseus«, schlug Paul vor. »Der sollte bei seiner Heimkehr nach Athen weiße Segel hissen.«

»Nur hat er das vergessen«, murmelte Nico. »Und sein Vater stürzte sich vor Verzweiflung vom Dach seines Palastes. Aber davon abgesehen war es eine gute Idee.«

»Wie wäre es mit einer Flagge oder einem Leuchtsignal?«, schlug meine Mom vor. »Vom Olymp – dem Empire State Building.«

»Etwas Blaues«, sagte ich.

Wir hatten seit Jahren diese Tradition mit blauem Essen. Blau war meine Lieblingsfarbe und Mom gab sich alle Mühe, mir die Freude zu machen. Jedes Jahr mussten mein Geburtstagskuchen, mein Osternest, meine Weihnachtszuckerstangen eben blau sein.

»Ja«, stimmte meine Mom zu. »Ich werde auf ein blaues Signal warten. Und ich werde versuchen, nicht von Palastdächern zu springen.«

Sie umarmte mich ein letztes Mal. Ich versuchte, mich nicht zu fühlen wie bei einem Abschied für immer. Ich schüttelte Paul die Hand. Dann gingen Nico und ich zur Küchentür und schauten Mrs O’Leary an.

»Tut mir leid, altes Mädchen«, sagte ich. »Zeit für die nächste Schattenreise.«

Sie fiepte und legte sich die Pfoten über die Schnauze.

»Wohin jetzt?«, fragte ich Nico. »Los Angeles?«

»Nicht nötig«, sagte er. »Es gibt einen näheren Eingang in die Unterwelt.«


Meine Mathelehrerin spielt mit mir Skilift

Wir kamen im Central Park gleich nördlich des Sees wieder heraus. Mrs O’Leary sah ganz schön müde aus, als sie zu einem Haufen von Steinquadern humpelte. Sie fing an umherzuschnüffeln, und ich fürchtete schon, sie wolle ihr Revier markieren, aber Nico sagte: »Ist schon gut. Sie riecht nur den Weg nach Hause.«

Ich runzelte die Stirn.

»Durch die Steine?«

»Die Unterwelt hat zwei Haupteingänge«, sagte Nico. »Den in L. A. kennst du ja.«

»Charons Fähre.«

Nico nickte.

»Die meisten Seelen nehmen diesen Weg, aber es gibt noch einen schmaleren Eingang, der ist schwerer zu finden. Die Tür des Orpheus.«

»Der Typ mit der Harfe.«

»Der Typ mit der Leier«, korrigierte Nico. »Aber ja, den meine ich. Er hat mit seiner Musik die Erde geöffnet und einen neuen Weg in die Unterwelt geschaffen. Er hat sich bis in den Palast des Hades durchgesungen und wäre fast mit der Seele seiner Frau entkommen.«

Ich erinnerte mich an die Geschichte. Orpheus durfte sich nicht umschauen, als er seine Frau zurück in die Welt führte, aber das tat er natürlich. Es war eine von den typischen »Und dann sind sie gestorben, Schluss, aus«-Geschichten, bei denen uns Halbgöttern immer ganz komisch wurde.

»Das ist also die Tür des Orpheus.« Ich versuchte, beeindruckt zu klingen, aber für mich sah sie noch immer aus wie ein Steinhaufen. »Und wie kriegt man die auf?«

»Wir brauchen Musik«, sagte Nico. »Bist du ein guter Sänger?«

»Äh, nein. Kannst du nicht einfach sagen, dass die Tür aufgehen soll? Du bist doch der Sohn des Hades und überhaupt.«

»So einfach ist das nicht. Wir brauchen Musik.«

Ich war ziemlich sicher, wenn ich zu singen versuchte, würde ich nur eine Lawine auslösen.

»Ich weiß was Besseres.« Ich drehte mich um und rief: »GROVER!«

Wir warteten lange. Mrs O’Leary rollte sich zusammen und machte ein Nickerchen. Ich konnte die Grillen im Wald und den Schrei einer Eule hören. Der Verkehr dröhnte am Central Park entlang. Pferdehufe klapperten über einen Weg in der Nähe, vielleicht eine berittene Polizeistreife. Ich war sicher, die würden es toll finden, auf zwei Jungen zu stoßen, die um ein Uhr nachts im Park herumlungerten.

»Das hier bringt nichts«, sagte Nico schließlich.

Aber ich hatte so ein Gefühl. Mein Empathielink prickelte zum ersten Mal seit Monaten, was entweder bedeutete, dass jede Menge Leute plötzlich den Naturkanal eingeschaltet hatten oder dass Grover in der Nähe war.

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Grover!

Ich wusste, er war irgendwo im Park. Warum konnte ich seine Gefühle nicht spüren? Ich merkte nur ein vages Brummen ganz unten im Schädel.

Grover, dachte ich noch intensiver.

Hmmm-hmmm, sagte etwas.

Ein Bild tauchte in meinem Kopf auf. Ich sah eine riesige Ulme tief im Wald, weit weg von den Hauptwegen. Knorrige Wurzeln zogen sich über den Boden und bildeten dort eine Art Bett. Darin lag, mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen, ein Satyr. Zuerst war ich nicht sicher, ob es Grover war. Er war von Zweigen und Blättern bedeckt, als ob er schon lange dort schliefe. Die Wurzeln schienen sich um ihn zu ranken und ihn langsam in den Boden zu ziehen.

Grover, sagte ich. Aufwachen.

Unnn – zzzzz.

Dussel, du bist voller Dreck. Aufwachen!

Müde, murmelten seine Gedanken.

ESSEN, schlug ich vor. PFANNKUCHEN!

Er riss die Augen auf. Ein Gewirr von Gedanken füllte meinen Kopf, als ob er plötzlich vorspulte. Das Bild zersprang und ich wäre fast hingefallen.

»Was ist passiert?«, fragte Nico.

»Ich bin durchgekommen. Er ist … Er ist unterwegs.«

Eine Minute darauf zitterte der Baum neben uns. Grover fiel aus den Zweigen und voll auf seinen Kopf.

»Grover!«, rief ich.

»WUFF!« Mrs O’Leary schaute auf und fragte sich vermutlich, ob sie den Satyr apportieren sollte.

»Mä-häh-häh!«, blökte Grover.

»Alles klar bei dir, Mann?«

»Klar. Mir geht’s gut.« Er rieb sich den Kopf. Seine Hörner waren so groß geworden, dass sie einen Fingerbreit aus seinen Locken herausragten. »Ich war am anderen Ende des Parks. Die Dryaden hatten die geniale Idee, mich von Baum zu Baum zu werfen, um mich herzuschaffen. Sie haben keine besonders klare Vorstellung von Höhe

Er grinste und kam auf die Füße – na ja, auf die Hufe. Seit dem vergangenen Sommer verkleidete Grover sich nicht mehr als Mensch. Er trug nie mehr eine Mütze oder Fußattrappen. Er trug nicht einmal mehr Jeans, da er bepelzte Ziegenbeine besaß. Auf seinem T-Shirt war ein Bild aus dem Buch »Wo die wilden Kerle wohnen« und es war mit Erde und Baumsäften bedeckt. Sein Ziegenbart sah voller aus, fast männlich (oder böcklich?), und er war jetzt so groß wie ich.

»Schön, dich zu sehen, G-Man«, sagte ich. »Du erinnerst dich doch an Nico?«

Grover nickte zu Nico hinüber, dann riss er mich an sich. Er duftete wie frisch gemähter Rasen.

»Perrrrcy«, blökte er. »Du hast mir gefehlt! Das Camp hat mir gefehlt! In der Wildnis gibt es keine besonders guten Enchiladas.«

»Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagte ich. »Wo hast du die letzten beiden Monate gesteckt?«

»Die letzten beiden …« Grovers Lächeln verschwand. »Die letzten beiden Monate? Worüber redest du eigentlich?«

»Wir haben nichts von dir gehört«, sagte ich. »Wacholder macht sich Sorgen. Wir haben Irisbotschaften geschickt, aber …«

»Moment mal.« Er schaute zu den Sternen hoch, wie um seine Position zu bestimmen. »Welcher Monat ist jetzt?«

»August.«

Die Farbe wich aus seinem Gesicht. »Das kann nicht sein. Es ist Juni. Ich wollte nur kurz ein Nickerchen machen und …« Er packte meine Arme. »Jetzt weiß ich es wieder. Er hat mich k. o. geschlagen! Percy, wir müssen ihn aufhalten!«

»Moment mal«, sagte ich. »Langsam. Sag mir, was passiert ist.«

Er holte tief Luft. »Ich war … ich war im Wald oben beim Harlem Meer. Und ich spürte ein Zittern im Boden, als ob etwas Mächtiges sich näherte.«

»Sowas kannst du spüren?«, fragte Nico.

Grover nickte. »Seit Pan tot ist, kann ich spüren, wenn in der Natur etwas nicht stimmt. So, als ob meine Ohren und Augen in der Wildnis schärfer wären. Jedenfalls bin ich der Fährte gefolgt. Und da ging ein Mann in einem langen schwarzen Mantel durch den Park und ich sah, dass er keinen Schatten hatte. Es war mitten an einem sonnigen Tag und er hatte keinen Schatten. Er schimmerte irgendwie, wenn er sich bewegte.«

»Wie eine Luftspiegelung?«, fragte Nico.

»Ja«, sagte Grover. »Und wenn er an Menschen vorbeikam …«

»Dann fielen sie in Ohnmacht«, sagte Nico. »Rollten sich zusammen und schliefen ein.«

»Genau. Und wenn er wieder weg war, standen sie auf und machten weiter mit ihrer Arbeit, als ob nichts passiert wäre.«

Ich starrte Nico an. »Du kennst diesen Kerl in Schwarz?«

»Ich fürchte ja«, sagte Nico. »Grover, was ist dann passiert?«

»Ich ging hinter dem Typen her. Er schaute zu den Gebäuden um den Park hoch, als ob er sie taxierte oder so. Dann kam eine Joggerin vorbei, und sie rollte sich auf dem Bürgersteig zusammen und schnarchte los. Der Typ in Schwarz legte ihr die Hand auf die Stirn, wie um ihre Temperatur zu fühlen. Dann ging er weiter. Inzwischen wusste ich ja, dass er ein Monster oder etwas noch Schlimmeres war. Ich folgte ihm in dieses Wäldchen bis zu einer riesigen Ulme. Ich wollte ein paar Dryaden rufen, um ihn zu fangen, aber dann drehte er sich um und …«

Grover schluckte. »Percy, sein Gesicht. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil es sich dauernd änderte. Bei seinem bloßen Anblick wurde ich schon schläfrig. Ich fragte: ›Was machst du hier?‹ Er sagte: ›Ich schau mich nur um. Man sollte sich ein Schlachtfeld vor der Schlacht immer genau ansehen.‹ Ich antwortete etwas ganz Geniales, wie: ›Dieser Wald steht unter meinem Schutz. Hier fängst du keine Schlacht an!‹ Und er lachte. Er sagte: ›Du hast Glück, dass ich meine Energie für die Hauptoffensive aufspare, Satyrchen. Ich verpasse dir einfach nur ein Nickerchen. Schöne Träume.‹ Und an mehr erinnere ich mich nicht.«

Nico stieß die Luft aus. »Grover, dir ist Morpheus begegnet, der Gott der Träume. Du hast Glück, dass du überhaupt wieder aufgewacht bist.«

»Zwei Monate«, stöhnte Grover. »Er hat mich zwei Monate lang schlafen lassen.«

Ich versuchte, zu begreifen, was das bedeutete. Jetzt war mir klar, warum wir Grover in dieser ganzen Zeit nicht erreicht hatten.

»Warum haben die Nymphen nicht versucht, dich zu wecken?«, fragte ich.

Grover zuckte mit den Schultern. »Die meisten Nymphen haben keinen richtigen Zeitbegriff. Zwei Monate – das ist nichts für einen Baum. Sie sind wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen, dass etwas nicht stimmen könnte.«

»Wir müssen herausfinden, was Morpheus hier im Park macht«, sagte ich. »Das mit dieser Hauptoffensive, die er erwähnt hat, gefällt mir nicht.«

»Er arbeitet für Kronos«, sagte Nico. »Das wissen wir schon. Viele von den zweitrangigen Göttern tun das. Es beweist nur, dass eine Invasion bevorsteht. Percy, wir müssen mit unserem Plan weitermachen.«

»Moment«, sagte Grover. »Was für ein Plan?«

Wir erzählten es ihm und Grover fing an, am Fell seines Beines herumzuzupfen.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte er. »Nicht schon wieder die Unterwelt.«

»Ich bitte dich ja nicht, mitzukommen, Mann«, sagte ich. »Ich weiß, dass du gerade erst aufgewacht bist. Aber wir brauchen Musik, um diese Tür zu öffnen. Kannst du das übernehmen?«

Grover zog seine Rohrflöte hervor. »Ich kann es ja mal versuchen. Ich kenne ein paar Nirvana-Stücke, die tatsächlich Felsen spalten könnten. Aber Percy, bist du wirklich sicher, dass du das willst?«

»Bitte«, sagte ich. »Es wäre so wichtig. Um der alten Zeiten willen?«

Er jammerte. »Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, dann sind wir in den alten Zeiten ganz schön oft fast gestorben. Aber okay, los geht’s.«

Er lege die Flöte an die Lippen und spielte ein schrilles, lebhaftes Stück. Die Quader zitterten. Noch einige Melodiefolgen und sie brachen auseinander und legten eine dreieckige Kluft frei.

Ich lugte hinein. Stufen führten in die Finsternis. Die Luft roch nach Schimmel und Tod. Das weckte böse Erinnerungen an das vergangene Jahr und meine Wanderung durch das Labyrinth, aber dieser Tunnel kam mir noch gefährlicher vor. Er führte geradewegs ins Reich des Hades, und das war fast immer eine Reise ohne Rückfahrkarte.

Ich drehte mich zu Grover um. »Danke … glaube ich zumindest.«

»Perrrrrcy, meinst du, Kronos startet wirklich eine Invasion?«

»Ich wünschte, ich könnte dir etwas Schöneres sagen, aber ja. Das tut er.«

Ich dachte, Grover würde vor Schreck seine Flöte zerkauen, aber er richtete sich gerade auf und klopfte sich sein T-Shirt ab. Ich musste daran denken, wie sehr er sich von dem fetten alten Leneus unterschied. »Dann muss ich die Naturgeister zusammenrufen. Vielleicht können wir helfen. Ich werde auch versuchen, diesen Morpheus zu finden.«

»Und sag Wacholder, dass es dir gut geht.«

Seine Augen weiteten sich. »Wacholder! Die wird mich umbringen!«

Er trottete los, dann kam er zurückgerannt und umarmte mich noch einmal. »Sei vorsichtig da unten. Und komm lebend zurück!«

Sowie er fort war, rüttelten Nico und ich Mrs O’Leary aus dem Schlaf.

Als sie den Tunnel roch, wurde sie aufgeregt und jagte die Treppe hinunter. Sie passte nur haarscharf hindurch. Ich hoffte, sie würde nicht stecken bleiben. Ich wollte mir nicht ausmalen, wie viel Rohrreiniger wir brauchen würden, um einen im Tunnel zur Unterwelt feststeckenden Höllenhund loszueisen.

»Bereit?«, fragte Nico mich. »Alles wird gut. Mach dir keine Sorgen.«

Das klang, als ob er sich selbst überzeugen wollte.

Ich schaute zu den Sternen hoch und fragte mich, ob ich sie jemals wiedersehen würde. Dann brachen wir auf in die Dunkelheit.

Die Treppe nahm einfach kein Ende – sie war eng, steil und glitschig. Es war absolut dunkel, abgesehen vom Leuchten meines Schwertes. Ich versuchte, langsam zu gehen, aber Mrs O’Leary hatte andere Vorstellungen. Sie sprang voran und ihr Gebell hallte im Tunnel wider wie Kanonenschüsse, so dass wir garantiert niemanden überraschen würden, wenn wir endlich unten angekommen wären.

Nico fiel zurück, und das kam mir seltsam vor.

»Alles klar?«, fragte ich ihn.

»Alles klar.« Was war das für ein Ausdruck in seinem Gesicht … Zweifel? »Geh einfach weiter«, sagte er.

Mir blieb nicht viel anderes übrig. Ich folgte Mrs O’Leary in die Tiefe. Nach einer weiteren Stunde hörte ich das Tosen eines Flusses.

Wir erreichten den Fuß eines Felsens vor einer Ebene aus schwarzem vulkanischem Sand. Zu unserer Rechten sprudelte der Fluss Styx zwischen den Felsen hervor und toste in einer Kaskade von Stromschnellen weiter. Links von uns, weit hinten in der Finsternis, brannten Feuer auf den Wällen von Erebos, auf den hohen schwarzen Mauern von Hades’ Königreich.

Mir schauderte. Ich war mit zwölf Jahren erstmals hier gewesen, und nur die Tatsache, dass Annabeth und Grover bei mir gewesen waren, hatte mir den Mut gegeben weiterzumachen. Nico würde mir bei der Sache mit dem Mut nicht so sehr helfen. Er sah selbst bleich und besorgt aus.

Nur Mrs O’Leary schien glücklich zu sein. Sie rannte den Strand entlang, las irgendwo einen menschlichen Schenkelknochen auf und kam zu mir zurückgetollt. Sie ließ den Knochen vor meine Füße fallen und wartete darauf, dass ich ihn warf.

»Äh, später vielleicht, altes Mädchen.« Ich starrte das dunkle Wasser an und versuchte, Mut zu fassen. »Also, Nico, was machen wir jetzt?«

»Wir müssen zuerst durch das Tor«, sagte er.

»Aber der Fluss ist doch hier.«

»Ich muss etwas holen«, sagte er. »Anders geht’s nicht.«

Ohne weitere Erklärungen lief er davon.

Ich runzelte die Stirn. Nico hatte nicht gesagt, dass wir die Tore passieren müssten. Aber wo wir schon einmal hier waren, wusste ich nicht, was ich sonst tun sollte. Widerstrebend folgte ich ihm den Strand entlang auf die großen schwarzen Tore zu.

Schlangen von Toten warteten davor auf Einlass. Es musste ein Tag mit reichlich Beerdigungen gewesen sein, denn sogar die DIREKTER-TOD-Schlange war endlos lang.

»Wuff!«, machte Mrs O’Leary. Ehe ich sie aufhalten konnte, sprang sie auf die Kontrollstelle zu. Zerberus, der Wachhund des Hades, tauchte aus der Dunkelheit auf – ein dreiköpfiger Rottweiler, so groß, dass Mrs O’Leary daneben wie ein Stoffpudel aussah. Zerberus war halb durchsichtig, er ist also wirklich schwer zu sehen, bis er nah genug herangekommen ist, um einen umzubringen, aber er achtete nicht auf uns. Er war zu sehr mit der Begrüßung von Mrs O’Leary beschäftigt.

»Mrs O’Leary, nein!«, brüllte ich. »Nicht schnüffeln … Oh Mann!«

Nico lächelte. Dann sah er mich an und wurde wieder ganz ernst, als ob ihm etwas Unangenehmes eingefallen wäre. »Na los. Sie werden dir keinen Ärger machen. Du gehörst zu mir.«

Es gefiel mir nicht, aber wir wurden von den Sicherheitsgeistern durchgelassen und betraten den Asphodeliengrund. Ich musste dreimal nach Mrs O’Leary pfeifen, ehe sie Zerberus verließ und hinter uns herrannte.

Wir wanderten über schwarze Wiesen mit schwarzen Pappeln. Wenn ich wirklich in einigen Tagen sterben müsste, wie die Weissagung behauptete, würde ich vielleicht für immer hier enden, aber ich versuchte, nicht daran zu denken.

Nico trottete vor mir her und führte uns immer näher an den Palast des Hades heran.

»He«, sagte ich. »Die Tore liegen längst hinter uns. Wohin …?«

Mrs O’Leary knurrte. Ein Schatten tauchte über uns auf – etwas Dunkles und Kaltes, das nach Tod stank. Es ließ sich fallen und landete auf einer Pappel.

Leider erkannte ich sie sofort. Sie hatte ein verschrumpeltes Gesicht und trug einen grausigen blauen Strickhut und ein zerknittertes Samtkleid. Lederne Fledermausflügel öffneten sich auf ihrem Rücken. Ihre Füße hatten scharfe Krallen und in den Messingklauen ihrer Hände hielt sie eine flammende Peitsche und eine Handtasche mit Paisleymuster.

»Mrs Dodds«, sagte ich.

Sie bleckte ihre Fangzähne. »Nett, dich mal wieder zu sehen, Süßer.«

Ihre beiden Schwestern – die anderen Furien – stießen auf uns herab und ließen sich neben ihr in den Zweigen der Pappel nieder.

»Du kennst Alekto?«, fragte Nico mich.

»Wenn du die alte Hexe in der Mitte meinst, ja«, sagte ich. »Die war mal meine Mathelehrerin.«

Nico nickte, als ob ihn das überhaupt nicht überraschte. »Ich habe getan, was mein Vater verlangt hat. Führt uns in den Palast.«

Ich erstarrte. »Moment mal, Nico. Was hast du …?«

»Ich fürchte, das hier ist meine neue Spur, Percy. Mein Vater hat mir Informationen über meine Familie versprochen, aber er will dich sehen, ehe wir es mit dem Fluss versuchen. Tut mir leid.«

»Du hast mich betrogen?« Ich war so wütend, dass ich nicht denken konnte. Ich holte aus, aber die Furien waren schneller. Zwei ließen sich aus dem Baum fallen und hoben mich an den Armen hoch. Mein Schwert fiel mir aus der Hand und ehe ich wusste, wie mir geschah, baumelte ich zwanzig Meter hoch in der Luft.

»Wehr dich lieber nicht, Süßer«, gackerte meine alte Mathelehrerin mir ins Ohr. »Ich würde dich nur sehr ungern fallen lassen.«

Mrs O’Leary bellte wütend und sprang nach mir, aber wir waren zu hoch.

»Ruf Mrs O’Leary zur Ordnung«, sagte Nico mahnend. Er schwebte in meiner Nähe in den Klauen der dritten Furie. »Ich möchte nicht, dass ihr etwas passiert. Mein Vater wartet, Percy. Er will nur reden.«

Ich hätte Mrs O’Leary gern auf Nico gehetzt, aber das hätte nichts gebracht, und in einem Punkt hatte Nico Recht: Meinem Hund könnte etwas passieren, wenn er sich mit den Furien anlegte.

Ich knirschte mit den Zähnen. »Mrs O’Leary, runter. Ist schon gut, Mädchen.« Sie fiepte und drehte sich um sich selbst, während sie zu mir hochschaute.

»Alles klar, Verräter«, knurrte ich Nico an. »Du hast gewonnen. Also bring mich in diesen blöden Palast.«

Alekto ließ mich mitten im Palastgarten wie einen Sack voller Rüben fallen.

Der Garten war auf unheimliche Weise schön. Weiße Baumskelette wuchsen aus Marmorbecken. Blumenbeete quollen über von goldenen Pflanzen und Edelsteinen. Zwei Thronsessel, einer aus Knochen und einer aus Silber, standen mit Blick auf den Asphodeliengrund auf der Galerie. Es hätte ein netter Ort sein können, um dort einen Samstagmorgen zu verbringen, wenn nicht der Schwefelgestank und das Geschrei der gequälten Seelen in der Ferne gewesen wären.

Skelettkrieger bewachten den einzigen Eingang. Sie trugen zerfetzte Tarnanzüge der U. S. Army und Sturmgewehre.

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