Zweiter Teil

19 Eine Bitte

Sonea rutschte in ihrem Sattel hin und her und versuchte, ihre schmerzenden Oberschenkelmuskeln zu lockern. Obwohl sie ihr wundes Fleisch jeden Abend heilte, konnte sie niemals lange reiten, bis ihr Körper von Neuem zu schmerzen begann. Lord Osen hatte ihr erklärt, dass sie sich an den Sattel gewöhnen würde, wenn sie sich nicht heilte, aber sie konnte keinen Sinn darin entdecken, sich für das Reiten zu stählen, wenn man ihr das Pferd ohnehin bald wegnehmen würde.

Seufzend blickte sie zu den Bergen vor ihr auf. Am vergangenen Tag waren sie zum ersten Mal am Horizont aufgetaucht. Die schattenhafte Linie war langsam größer geworden, und an diesem Morgen hatte die Sonne felsübersäte und waldbestandene Hänge enthüllt, die bis zu hohen Gipfeln hin anstiegen. Die Berge wirkten wild und unbezwingbar, aber jetzt, da die Eskorte die flachen Ausläufer erreicht hatte, konnte Sonea ein weißes Band erkennen, das sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte. Irgendwo am Ende der Straße stand die Festung, und von dort aus gelangte man nach Sachaka hinein.

Die Landschaft, die sich langsam wandelte, faszinierte sie. Sie war nie weiter als bis zum Stadtrand von Imardin gekommen. Das Reisen war eine neue Erfahrung für sie, und unter anderen Umständen hätte sie es vielleicht genossen.

Zuerst war die Straße durch bestellte Felder verlaufen. Die Menschen, die auf den Äckern pflügten, hackten, Getreide aussäten oder ernteten, waren eine bunte Mischung von Männern und Frauen, Jungen und Alten. Sowohl Erwachsene als auch Kinder hüteten Haustiere aller Größen. Einzelne kleine Häuser lagen weit voneinander entfernt inmitten der weiten Fluren. Sonea fragte sich, ob ihre Bewohner wohl glücklich waren, ein so einsames Leben zu führen.

Von Zeit zu Zeit hatte die Straße auch durch kleine Weiler geführt. Lord Balkan hatte einen seiner Krieger in eines dieser Dörfer geschickt, um Nahrungsmittel zu kaufen. An den vergangenen zwei Tagen hatten sie jeweils gegen Mittag einen Magier und mehrere Einheimische getroffen, die mit frischen Pferden bereitstanden. Sie wechselten die Tiere aus, um auch nachts weiterreiten zu können. Die Eskorte legte nicht einmal Pausen ein, um zu schlafen, und Sonea vermutete, dass die Männer mit ihren Heilkräften gegen die Müdigkeit ankämpften.

Bisher verkraftete Sonea den Schlafmangel recht gut. Die erste Nacht war klar gewesen, und Mond und Sterne hatten ihren Weg beschienen. Sonea hatte vor sich hin gedöst, so gut es auf dem Rücken eines Pferdes eben ging. Die nächste Nacht war bewölkt gewesen, und sie waren im Schein etlicher Lichtkugeln geritten.

Nachdem sie das Vorgebirge erreicht hatten, fragte sich Sonea, ob sie wohl noch eine dritte Nacht in Kyralia verbringen würden.

»Halt!«

Die Eskorte kam langsam zum Stehen, und das Trappeln der Hufe auf dem Pflaster verklang. Soneas Pferd blieb neben dem Akkarins stehen. Eine leise Hoffnung regte sich in ihr, als Akkarin sich zu ihr umdrehte. Seit sie Imardin verlassen hatten, hatte er weder mit ihr noch mit irgendjemandem sonst gesprochen.

Aber er sagte nichts und wandte sich ab, um Lord Balkan zu beobachten.

Das Oberhaupt der Krieger reichte einem seiner Magier ein kleines Bündel. Geld, um im nächsten Dorf Essen zu kaufen, vermutete Sonea. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass sie an einer Wegkreuzung standen. Eine der Straßen führte in die Berge; über den anderen, schmaleren Pfad kam man in ein kleines, spärlich bewaldetes Tal, in dem sich mehrere Häuser um einen kleinen Fluss scharten.

»Lord Balkan«, sagte Akkarin.

Alle Köpfe wandten sich sofort in seine Richtung. Sie blickten so erschrocken drein, dass Sonea sich ein Lächeln verkneifen musste. Also hat er endlich beschlossen zu sprechen.

Balkan musterte Akkarin wachsam.

»Ja?«

»Wenn wir in diesen Roben nach Sachaka reisen, wird man uns rasch als Magier erkennen. Werdet Ihr uns gestatten, stattdessen gewöhnliche Kleidung anzulegen?«

Balkans Blick wanderte zu Sonea hinüber und dann wieder zurück zu Akkarin. Er nickte und drehte sich zu dem wartenden Krieger um.

»Bring also auch Kleider mit. Nichts zu Auffallendes oder zu Buntes.«

Der Magier nickte und musterte Akkarin und Sonea kurz, bevor er davonritt.

Sonea spürte, dass sich ihr Magen zusammenzog. Bedeutete das, dass sie in der Nähe des Grenzpasses waren? Würden sie heute noch die Grenze erreichen? Sie blickte zu den Bergen auf und schauderte.

Sie hatte viele Male gehofft, einen Gedankenruf von Lorlen zu erhalten, der sie nach Imardin zurückbeorderte, aber sie wusste, dass das nicht geschehen würde. Die Art ihres Aufbruchs aus der Gilde hatte allen klar gemacht, dass sie und Akkarin in Kyralia nicht länger willkommen waren.

Bei der Erinnerung daran verzog sie das Gesicht. Balkan hatte einen gewundenen Weg durch die Stadt gewählt, der sie durch jedes Viertel führte. An jeder bedeutenderen Straßenkreuzung hatten sie Halt gemacht, während Balkan Soneas und Akkarins Verbrechen sowie die Strafe der Gilde verkündete. Akkarins Miene war dunkel vor Zorn geworden. Er hatte die Magier Narren genannt und sich seither geweigert zu sprechen.

Die Prozession hatte große Menschenmengen angelockt, und als die Eskorte die Nordtore erreicht hatte, war dort bereits eine Gruppe von Hüttenleuten zusammengekommen. Als sie begannen, Steine nach Sonea zu werfen, hatte sie hastig einen Schild hochgezogen.

Während die Hüttenleute sie und Akkarin beschimpft hatten, war ein schreckliches Gefühl des Verrats in ihr aufgestiegen, das sich jedoch alsbald wieder verflüchtigt hatte. Die Hüttenleute sahen wahrscheinlich nur zwei böse Magier aus einer Gilde, die sie ohnehin verachteten, und sie hatten die Gelegenheit genutzt, ihnen Wurfgeschosse und Schmähungen entgegenzuschleudern, ohne eine Strafe fürchten zu müssen.

Jetzt drehte Sonea sich im Sattel um und blickte zurück. Die Stadt lag mittlerweile weit jenseits des Horizonts. Die Krieger ihrer Eskorte beobachteten sie genau.

Lord Osen war einer von ihnen. Als ihre Blicke sich trafen, runzelte er die Stirn. Er hatte während der Reise mehrmals mit ihr gesprochen, meistens um ihr mit den Pferden behilflich zu sein. Verschiedentlich hatte er auch angedeutet, dass die Gilde sie möglicherweise nach Imardin würde zurückkehren lassen, falls sie ihre Meinung änderte. Sie hatte kein einziges Mal auf seine Andeutungen reagiert.

Aber Furcht, Unbehagen und Akkarins Schweigen hatten ihre Entschlossenheit geschwächt. Sie wandte sich von Osen ab, um noch einmal zu Akkarin hinüberzuschauen. Ihre Versuche, mit ihm zu reden, waren auf steinernes Schweigen getroffen. Er schien fest entschlossen zu sein, sie zu ignorieren.

Aber hier und da hatte sie bemerkt, dass er sie beobachtete. Wenn sie sich nicht hatte anmerken lassen, dass ihr sein Verhalten aufgefallen war, hatte sein Blick lange auf ihr verweilt; wenn sie jedoch in seine Richtung gesehen hatte, hatte er seine Aufmerksamkeit sofort auf ein anderes Ziel gelenkt.

Dieses Verhalten war ebenso ärgerlich wie faszinierend. Was sie erstaunte, war nicht die Tatsache, dass er sie ansah, sondern dass er dabei nicht ertappt werden wollte. Sonea lächelte schief. Würde sie die durchdringenden Blicke, die zu erwidern ihr lange Zeit so schwer gefallen war, tatsächlich vermissen?

Schlagartig wurde sie wieder ernst. Zweifellos zeigte er sich ihr gegenüber nur deshalb so abweisend, um sie einzuschüchtern, so dass sie klein beigab und zur Gilde zurückkehrte. Oder waren seine Gründe einfacherer Natur? Wollte er sie wirklich nicht bei sich haben? Sie hatte sich viele Male gefragt, ob er sie für die Entdeckung ihrer beider Geheimnis verantwortlich machte. Wenn Balkan nicht die Bücher über schwarze Magie in ihrem Zimmer gefunden hätte, hätte er sich dann mit Gewalt Zutritt zu Akkarins unterirdischem Raum verschafft? Akkarin hatte ihr nicht befohlen, die Bücher zu verstecken. Sie hatte es dennoch getan, aber offensichtlich nicht gründlich genug.

Vielleicht glaubte er einfach, dass er ohne sie besser dran sei. Dann irrt er sich, sagte sie sich. Ohne einen Gefährten, von dem er Kraft beziehen konnte, würde er, wenn er seine Magie benutzte, von Mal zu Mal schwächer werden. Wenn sie bei ihm war, hatte er vielleicht eine Chance, sich gegen einen Angriff durch die Ichani zu verteidigen. Es spielt keine Rolle, ob es ihm gefällt, mich dabeizuhaben.

Ah, aber es wäre so viel besser, wenn es ihm gefiele.

Würde er freundlicher sein, wenn sie Sachaka erreicht hatten und es keinen Grund mehr gab, sie zu einem Gesinnungswechsel zu bewegen? Würde er ihre Entscheidung, bei ihm zu bleiben, akzeptieren, oder würde er weiterhin wütend auf sie sein, weil sie ihm nicht gehorcht hatte? Sie runzelte die Stirn. Verstand er nicht, dass sie alles aufgegeben hatte, um ihn zu retten?

Sie schüttelte den Kopf. Es spielte keine Rolle. Sie wollte seine Dankbarkeit nicht. Er konnte so wortkarg und mürrisch sein, wie es ihm gefiel. Sie wollte nur sichergehen, dass er überlebte, und zwar nicht nur, weil er auf diese Weise würde zurückkehren und dazu beitragen können, die Gilde vor den Ichani zu retten. Wenn er ihr nichts bedeutet hätte, wäre sie in Imardin geblieben, und sei es auch als Gefangene der Gilde. Nein, sie hatte ihn begleitet, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, ihn nach allem, was er durchgemacht hatte, im Stich zu lassen.

Ich bin an Takans Stelle getreten, dachte sie plötzlich. Der ehemalige Sklave war Akkarin aus Sachaka gefolgt und zu seinem getreuen Diener geworden. Jetzt folgte sie Akkarin nach Sachaka. Was hatte er nur an sich, das in anderen solche Ergebenheit weckte?

Ich Akkarin ergeben? Sie hätte beinahe laut aufgelacht. So vieles hatte sich geändert. Ich denke, ich könnte ihn jetzt sogar mögen.

Dann setzte ihr Herz einen Schlag aus.

Oder ist es mehr als das?

Sie dachte gründlich über diese Frage nach. Wenn es mehr gewesen wäre, wäre ihr das doch gewiss schon früher aufgefallen. Mit einem Mal stieg in ihr die Erinnerung an die Nacht auf, in der sie die Ichani getötet hatte. Anschließend hatte Akkarin ihr etwas aus dem Haar gestrichen. Seine Berührung hatte merkwürdige Regungen in ihr ausgelöst. Sie hatte sich seltsam leicht gefühlt. Berauscht.

Aber das war nur eine Folge des Kampfes gewesen. Wenn man so knapp dem Tod entronnen war, fühlte man sich selbstverständlich berauscht. Das bedeutete nicht, dass sie…

Ich brauche ihn nur anzusehen, dann werde ich es wissen.

Plötzlich hatte sie Angst davor, das zu tun. Was, wenn es wahr war? Was, wenn er ihren Blick auffing und etwas Törichtes in ihrer Miene las? Er würde nur umso fester entschlossen sein, sie zur Rückkehr nach Kyralia zu bewegen.

Ein Murmeln ihrer Wächter rettete sie. Der Krieger, der in das Dorf geritten war, kehrte zurück. Vor den Knien des Mannes lagen ein Sack und ein Bündel. Als er die Gruppe erreicht hatte, übergab er das Bündel an Balkan.

Balkan öffnete es und zog ein grobgewebtes Hemd, eine eng anliegende Hose und ein langes, wollenes Hemd hervor, wie Sonea es bei den Dorfbewohnerinnen gesehen hatte. Er blickte zu Akkarin hinüber.

»Einverstanden?«

Akkarin nickte. »Die Sachen werden genügen.«

Balkan rollte die Kleider wieder zusammen und warf sie Akkarin zu. Sonea zögerte, als Akkarin sich aus dem Sattel schwang, dann zwang sie ihre schmerzenden Beine, sich zu bewegen. Als ihre Füße den Boden berührten, drückte Akkarin ihr das lange Hemd und ein zweites Paar Hosen in die Hand.

»Dreht euch um«, befahl Balkan.

Sonea stellte fest, dass die übrigen Magier ihnen den Rücken zukehrten. Dann hörte sie das Reißen von Seide, als Akkarin den oberen Teil seiner Robe aufriss und zu Boden fallen ließ. Der Stoff schimmerte im Sonnenlicht, und die ausgefransten Enden flatterten im Wind. Akkarin hielt kurz inne, um mit undeutbarer Miene sein altes Gewand zu betrachten. Dann straffte er sich und griff nach dem Bund seiner Hose.

Sonea, deren Gesicht plötzlich heiß geworden war, wandte sich schnell ab. Sie blickte an ihren Roben hinab und schluckte.

Am besten, ich bringe es hinter mich.

Sie holte tief Luft, öffnete ihre Schärpe und streifte hastig den oberen Teil ihrer Roben ab. Ihr Pferd tänzelte nervös, als das Kleidungsstück zu Boden fiel, und Sonea zog sich hastig das Hemd über den Kopf.

Als sie in die Hose schlüpfte, war sie dankbar für die großzügige Länge des Hemdes, das ihr fast bis zu den Knien reichte. Schließlich drehte sie sich um und stellte fest, dass Akkarin den Blick fest auf die Zügel seines Pferdes gerichtet hielt. Dann sah er kurz zu ihr hinüber und schwang sich wieder in den Sattel.

Balkan hatte ihnen als Einziger nicht den Rücken gekehrt. Nun ja, irgendjemand musste uns wohl im Auge behalten, dachte sie trocken. Sie trat vor ihr Pferd hin, schob ihren Stiefel in den Steigbügel und zog sich hoch.

Akkarin sah eigenartig aus in der schweren Gewandung. Sein Hemd hing schlaff an seiner dünnen Gestalt herab. Auf seinem Kinn zeichneten sich die ersten dunklen Bartstoppeln ab. Er hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem ehrfurchtgebietenden Hohen Lord, der den größten Teil der Gilde über einen so langen Zeitraum hinweg eingeschüchtert hatte.

Sie blickte an sich selbst hinab und schnaubte leise. Auch sie war wohl kaum der Inbegriff der Eleganz. Das Hemd hatte wahrscheinlich einer Bäuerin gehört, die es aussortiert hatte. Das grobe Gewebe kratzte auf ihrer Haut, aber das Kleidungsstück war nicht schlimmer als die, die sie getragen hatte, bevor sie der Gilde beigetreten war.

»Hast du Hunger?«

Sonea zuckte zusammen, als sie bemerkte, dass Lord Osen sein Pferd neben das ihre geführt hatte. Er hielt ihr ein Stück körniges Brot und einen Becher hin. Sie nahm beides dankbar entgegen und begann zu essen, wobei sie das Brot mit gewässertem Wein hinunterspülte. Der Wein war billig und sauer, aber er betäubte die Schmerzen in ihren Muskeln ein wenig. Schließlich gab sie Osen den Becher zurück.

Als sie mit dem kargen Mahl fertig waren, setzten sie ihren Ritt fort. Sie unterdrückte ein Stöhnen und fügte sich in ihr Schicksal.


Als Gol in Cerys Empfangsraum trat, wanderte sein Blick zu Savara hinüber. Er nickte höflich, dann wandte er sich an Cery.

»Takan sagt, sie seien jetzt in der Nähe der Grenze«, berichtete er. »Morgen Abend werden sie die Festung erreichen.«

Cery nickte. Er hatte Takan in einem behaglichen Quartier untergebracht, aber gleichzeitig darauf geachtet, nur Diener einzustellen, die nichts von der rätselhaften Ausländerin wussten, für die Ceryni eine Vorliebe gefasst hatte. Savara hatte ihn darum gebeten, Sorge zu tragen, dass Takan niemals etwas von ihr erfuhr. Sie hatte richtig vermutet, dass Akkarin imstande war, mit seinem Diener in Verbindung zu treten, und wenn die Ichani Akkarin gefangen nahmen, so hatte sie Cery erklärt, würden sie durch ihn vielleicht von ihrer Anwesenheit in Kyralia erfahren. »Zwischen meinen Leuten und den Ichani herrscht der blanke Hass«, hatte sie gesagt. Die Gründe dafür hatte sie nicht genannt, und Cery war klug genug, sie nicht weiter auszufragen.

Gol setzte sich und seufzte. »Was sollen wir tun?«

»Nichts«, antwortete Cery.

Gol runzelte die Stirn. »Was ist, wenn ein weiterer Mörder in die Stadt kommt?«

Cery sah Savara an und lächelte. »Ich denke, damit werden wir fertig. Den nächsten habe ich Savara versprochen.«

Zu seiner Überraschung schüttelte sie den Kopf. »Ich kann euch jetzt nicht mehr helfen. Nicht, nachdem Akkarin fort ist. Wenn ihre Sklaven weiter sterben, werden die Ichani Verdacht schöpfen, dass noch jemand in die Sache verwickelt ist.«

Cery musterte sie ernst. »Das würde sie doch gewiss daran hindern, weitere Sklaven herzuschicken, nicht wahr?«

»Möglicherweise. Aber ich habe den Befehl, keine Aufmerksamkeit auf meine Leute zu lenken.«

»Aha. Dann müssen wir uns jetzt also darum kümmern. Was schlägst du vor, wie wir sie töten sollen?«

»Ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird. Sie haben jetzt, was sie wollen.«

»Also war es Akkarin, hinter dem sie her waren?«, fragte Gol.

»Ja und nein«, erwiderte sie. »Sie werden ihn töten, wenn sie können. Aber jetzt, da sie um die Schwäche der kyralischen Magier wissen, wird die Gilde ihr Ziel sein.«

Gol starrte sie an. »Sie werden die Gilde angreifen?«

»Ja.«

»Wann?«

»Bald. Die Gilde hätte vielleicht ein wenig mehr Zeit gehabt, sich vorzubereiten, wenn sie Akkarin ohne Aufhebens fortgeschickt hätte. Aber stattdessen hat sie überall in den Verbündeten Ländern die Nachricht von seiner Verbannung verbreitet.«

Cery seufzte und rieb sich die Schläfen. »Die Prozession.«

»Nein«, entgegnete sie. »Obwohl es töricht von ihnen war, Akkarins Verbrechen und seine Strafe öffentlich bekannt zu machen, hätte es Tage, vielleicht sogar ein oder zwei Wochen gedauert, bis die Ichani davon erfahren hätten.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Magier der Gilde haben sich seit Tagen mittels Gedankenrede über Akkarin unterhalten. Die Ichani werden alles mit angehört haben.«

»Hat die Gilde überhaupt eine Chance?«, fragte Gol.

Savara blickte bekümmert drein. »Nein.«

Gols Augen weiteten sich. »Die Gilde kann die Ichani nicht aufhalten?«

»Nicht ohne höhere Magie.«

Cery erhob sich und begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Wie viele Ichani gibt es?«

»Achtundzwanzig. Aber diejenigen, über die ihr euch den Kopf zerbrechen müsst, sind zehn Männer und Frauen.«

»Ha! Nur zehn?«

»Ein jeder von ihnen ist um ein Vielfaches stärker als ein Magier der Gilde. Gemeinsam können sie die Gilde mühelos besiegen.«

»Oh.« Cery durchquerte den Raum noch weitere Male. »Du hast gesagt, du hättest diese Ichani ganz allein töten können. Also musst du stärker sein als jeder einzelne Magier der Gilde.«

Sie lächelte. »Viel stärker.«

Cery bemerkte, dass Gol ein wenig blasser geworden war. »Was ist mit dem Rest deiner Leute?«

»Viele sind mir ebenbürtig oder sogar stärker als ich.«

Er nagte nachdenklich an der Unterlippe. »Was würden deine Leute als Gegenleistung verlangen, wenn wir sie bäten, Kyralia zu helfen?«

Savara lächelte. »Deine Leute werden die Hilfe meiner Leute ebenso wenig annehmen wollen, wie sie eine Unterwerfung durch die Ichani hinzunehmen gedenken. Auch wir benutzen das, was die Gilde schwarze Magie nennt.«

Cery machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn die Ichani kommen, werden meine Leute ihre Meinung schon ändern.«

»Möglicherweise. Aber meine Leute werden sich nicht offenbaren.«

»Du hast gesagt, dass sie die Ichani nicht in Kyralia haben wollten.«

»Ja, das ist wahr. Aber sie werden nicht eingreifen, wenn sie sich dadurch selbst gefährden würden. Wir sind nur eine von vielen Machtgruppen in Sachaka, noch dazu eine, die viele hochgestellte Personen fürchten und gern vernichten würden. Unsere Möglichkeiten sind begrenzt.«

»Wirst du uns helfen?«, fragte Gol.

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich wünschte, ich könnte es. Aber meine Befehle lauten, mich aus diesem Konflikt herauszuhalten. Meine Befehle…« Sie sah Cery an. »Meine Befehle lauten, nach Hause zurückzukehren.«

Cery nickte langsam. Sie würde also fortgehen. Das hatte er schon in jener Nacht auf dem Dach vermutet. Es würde nicht leicht sein, Lebewohl zu sagen, aber auch er konnte es sich nicht leisten, seinen Kopf von seinem Herzen beherrschen zu lassen.

»Wann?«

Sie senkte den Blick. »Sofort. Es ist eine lange Reise. Die Ichani werden die kyralische Grenze beobachten. Ich muss über Elyne reisen. Aber…« Sie lächelte verschlagen. »Ich sehe nicht ein, welchen Unterschied es machen sollte, ob ich heute Nacht oder morgen früh aufbreche.«

Gol legte eine Hand auf den Mund und hustete.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Cery. »Es könnte einen großen Unterschied machen. Zum Wohle Kyralias sollte ich mir große Mühe geben, deine Meinung noch zu ändern. Mit ein wenig geröstetem Rasook vielleicht und einer Flasche anurischem Roten…«

Sie zog die Augenbraue hoch. »Anurischer Wein? Ihr Diebe lebt besser, als ich gedacht hatte.«

»Zufällig habe ich ein Abkommen mit einigen Weinschmugglern.«

Sie grinste. »Natürlich hast du das.«


Als es an der Haupttür zu seinen Räumen klopfte, seufzte Rothen und streckte seinen Willen aus. Er machte sich nicht die Mühe, nachzusehen, wer es war.

»Wieder da, Dannyl? Du hast seit deiner Rückkehr mehr Zeit in meinen Räumen verbracht als in deinen eigenen. Hast du keine Rebellen oder Geheimaufträge, die dich auf Trab halten?«

Dannyl kicherte. »Während der nächsten Woche nicht. Bis dahin wollte ich mich ein wenig um meinen alten Freund kümmern. Man wird mich früh genug wieder fortschicken.« Er trat in den Halbkreis der Sessel im Empfangsraum und nahm Rothen gegenüber Platz. »Ich hatte schon vermutet, dass du dich heute nicht im Abendsaal einfinden würdest.«

Rothen sah Verständnis in Dannyls Augen. »Nein.«

Dannyl seufzte. »Aber ich sollte eigentlich hingehen. Mich den Klatschbasen stellen. Nur…«

Es ist nicht einfach, beendete Rothen im Stillen seinen Satz. Dannyl hatte ihm erzählt, welchen Plan Akkarin geschmiedet hatte, um die Rebellen zu fangen. Dem Maranes Behauptungen Dannyl und Tayend betreffend hatten inzwischen ihren Weg auch in die hintersten Winkel der Gilde gefunden. Obwohl die meisten Magier bereit schienen, diese Dinge als törichtes Geschwätz abzutun, wusste Rothen, dass es immer einige gab, die sich nur allzu gern auf jeden Skandal stürzten.

Rothen hatte vor zwei Jahren die gleichen nachdenklichen und missbilligenden Blicke ertragen, als die Gilde Soneas Aufenthalt in seinem Quartier in Frage gestellt hatte. Es war hart gewesen, sich den Klatschbasen zu stellen, aber auch sehr wichtig – und es hatte ihm sehr geholfen, dass Yaldin und Ezrille ihn unterstützten.

So, wie ich Dannyl jetzt unterstützen sollte.

Rothen atmete tief durch und stand auf. »Nun, dann sollten wir uns besser auf den Weg machen, wenn wir uns nicht den ganzen Spaß entgehen lassen wollen.«

Dannyl blinzelte überrascht. »Ich dachte, du wolltest nicht…?«

»Ob es dir gefällt oder nicht, ich habe zwei ehemalige Novizen, um die ich mich kümmern muss.« Rothen zuckte die Achseln. »Ich werde keinem von euch einen Gefallen tun, wenn ich in meinen Räumen Trübsal blase.«

Dannyl erhob sich. »Bist du dir sicher?«

»Ja.«

»Danke.«

Rothen lächelte. Es hatte ihn sehr erleichtert, dass sein Freund, wenn sie unter sich waren, noch immer derselbe war wie früher. Dannyl schien sich dessen nicht bewusst zu sein, aber sein Verhalten in der Öffentlichkeit hatte sich verändert. Er strahlte Autorität und ein neues Selbstbewusstsein aus, und da er überdies von hohem Wuchs war, wirkte er umso beeindruckender.

Erstaunlich, was ein wenig Verantwortung bewirken kann, ging es Rothen durch den Kopf.

Dannyl folgte Rothen zum Eingang des Magierquartiers. Die untergehende Sonne tauchte den Innenhof in ein orangefarbenes Licht.

Im Abendsaal war es warm und recht laut. Rothen bemerkte, dass viele Magier sich bei ihrem Eintritt nach ihnen umdrehten. Es dauerte nicht lange, bis die ersten an sie herantraten und sie mit Fragen bestürmten.

Mehr als eine Stunde stand Dannyl Magiern, die mehr über die Rebellen wissen wollten, Rede und Antwort. Rothen las sowohl Respekt als auch Neugier aus ihren Mienen und nur wenig Argwohn. Dannyl war anfangs noch zögerlich, wurde dann jedoch selbstbewusster. Eine Gruppe von Heilern interessierte sich für Vinaras Anweisungen, mit deren Hilfe er den wilden Magier vor der Vergiftung gerettet hatte. Als die Heiler weitergegangen waren, wandte sich Dannyl mit einem kläglichen Lächeln zu Rothen um.

»Ich fürchte, ich stehle dir die Aufmerksamkeit der anderen, mein Freund.«

Rothen zuckte die Achseln. »Welche Aufmerksamkeit? Ich werde kaum benötigt, um Fragen über Sonea abzuwehren.«

»Nein. Vielleicht haben sie beschlossen, dich ausnahmsweise einmal in Frieden zu lassen.«

»Das ist unwahrscheinlich. Es liegt nur daran, dass -«

»Botschafter Dannyl.«

Lord Garrel kam auf sie zu. Als der Krieger höflich den Kopf neigte, runzelte Rothen die Stirn. Er hatte Garrel nie gemocht und war noch immer der Meinung, dass der Magier sich mehr Mühe hätte geben sollen, seinen Novizen, Regin, davon abzuhalten, Sonea zu quälen.

»Lord Garrel«, erwiderte Dannyl den Gruß des anderen Mannes.

»Willkommen daheim«, sagte der Krieger. »Gefällt es Euch, wieder zu Hause zu sein?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Ja, es ist schön, meine Freunde wiederzusehen.«

Garrel blickte kurz zu Rothen. »Ihr habt uns einmal mehr einen wichtigen Dienst erwiesen. Und das unter großen persönlichen Opfern, wie ich höre.« Er kam noch ein wenig näher. »Ich bewundere Euren Mut. Ich persönlich hätte ein solches Risiko nicht auf mich genommen. Aber andererseits ziehe ich den direkten Weg jedweder List vor.«

»Und soweit ich höre, versteht Ihr Euch auch so viel besser darauf«, entgegnete Dannyl.

Rothen blinzelte überrascht, dann wandte er sich ab, um sein Lächeln zu verbergen. Während das Gespräch seinen Lauf nahm, war er zunehmend froh darüber, dass er in den Abendsaal gekommen war. Der elynische Hof hatte Dannyl offensichtlich mehr gelehrt als nur gebieterisches Auftreten.

»Lord Garrel«, erklang nun eine neue Stimme. Ein junger Alchemist hatte sich zu ihnen gesellt. Lord Larkin, der Lehrer für Architektur und Baukunst.

»Ja?«, erwiderte Garrel.

»Ich dachte, Ihr würdet dies vielleicht gern erfahren: Lord Harsin hat den Wunsch geäußert, die Fortschritte Eures Novizen in Heilkunde mit Euch zu erörtern.«

Der Krieger runzelte die Stirn. »Dann sollte ich ihn wohl besser aufsuchen. Guten Abend, Lord Rothen, Botschafter Dannyl.«

Als Garrel gegangen war, verzog Larkin das Gesicht. »Ich dachte, Ihr würdet Euch darüber freuen, wenn jemand Euch rettet«, bemerkte der junge Magier. »Nicht dass Ihr das nötig hättet, Botschafter. Einige von uns haben allerdings bemerkt, dass jene, die Garrel in ein längeres Gespräch verstrickt, eine Unterbrechung früher oder später sehr zu schätzen wissen. Vorzugsweise früher.«

»Vielen Dank, Lord Larkin«, sagte Dannyl. Er sah Rothen an und lächelte schief. »Ich dachte, wir wären die Einzigen, denen das aufgefallen ist.«

»Oh, es bedarf einiger Übung, ein solches Geschick darin zu entwickeln, anderen derart Unbehagen zu bereiten. Garrel hielt Euch wohl für ein lohnendes Ziel, nachdem man wieder einmal so viel Wirbel um nichts veranstaltet hat.«

Dannyl zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. »Seid Ihr wirklich dieser Auffassung?«

»Nun, es ist wohl kaum so schlimm wie… wie die Benutzung schwarzer Magie«, antwortete der junge Mann. Dann sah er Rothen an und errötete. »Nicht dass ich den Rebellen Glauben schenken würde, aber…« Er ließ den Blick durch den Raum wandern, dann trat er einen Schritt zurück. »Wenn Ihr mich bitte entschuldigen würdet, Botschafter, Lord Rothen. Lord Sarrin hat mir gerade ein Zeichen gegeben, dass er mich zu sprechen wünscht.«

Larkin nickte ihnen zu, dann eilte er davon. Dannyl sah sich um.

»Wie interessant. Sarrin ist nicht einmal hier.«

»Ja«, erwiderte Rothen. »Es ist tatsächlich interessant. Vor allem die Bemerkung, dass du gerettet werden musstest. Was offenkundig nicht der Fall ist, Dannyl. Tatsächlich glaube ich nicht, dass du meine Unterstützung heute Abend überhaupt benötigt hättest.« Er stieß einen übertriebenen Seufzer aus. »Es ist wirklich sehr entmutigend.«

Dannyl grinste und klopfte Rothen auf die Schulter. »Es muss eine solche Enttäuschung für dich sein, dass deine Novizen ständig irgendwelche Reisen unternehmen.«

Rothen zuckte die Achseln, dann erstarb sein Lächeln. »Ah, wenn diese spezielle Reise nur nicht nach Sachaka führen würde.«

20 Die Strafe der Gilde

Als Dannyl die Tür zu Administrator Lorlens Büro erreichte, hielt er kurz inne, um tief durchzuatmen und die Schultern zu straffen. Die höheren Magier hatten früher, als er erwartet hatte, um eine Zusammenkunft gebeten, und an ihm nagte das Gefühl, dass er sich besser hätte vorbereiten sollen. Er blickte auf den Ordner mit seinem Bericht, dann zuckte er die Achseln. Selbst wenn ihm etwas eingefallen wäre, wäre es jetzt zu spät gewesen, um noch Veränderungen vorzunehmen.

Er klopfte an die Tür. Sie schwang auf, und Dannyl trat ein. Er nickte den Magiern zu, die bereits auf den Stühlen in Lorlens Büro saßen. Lady Vinara und Lord Sarrin waren anwesend, ebenso der Auslandsadministrator Kito. Wie gewöhnlich saß Lorlen hinter seinem Schreibtisch. Der Administrator deutete auf einen freien Stuhl.

»Bitte, setzt Euch, Botschafter Dannyl«, sagte Lorlen. Während Dannyl der Aufforderung nachkam, schwieg Lorlen. »Ich hätte gern bis zu Lord Balkans Rückkehr gewartet«, fuhr Lorlen fort, »bevor ich Euch bat, uns Eure Begegnung mit den Rebellen genau zu schildern, aber die Notwendigkeit, Akkarins Behauptungen sobald wie möglich nachzugehen, hat uns zu dem Schluss geführt, dass diese Angelegenheit keinen Aufschub duldet, und Eure Geschichte könnte durchaus ein wenig Licht auf Akkarins Treiben werfen. Also, erzählt uns, welche Befehle Akkarin Euch gegeben hat.«

»Vor gut sechs Wochen habe ich einen Brief von ihm erhalten.« Dannyl schlug den Ordner auf und nahm den Brief heraus. Dann ließ er ihn auf Lorlens Schreibtisch schweben.

Der Administrator griff nach dem Brief und las ihn laut vor.

»Ich beobachte seit einigen Jahren die Anstrengungen einer kleinen Gruppe elynischer Höflinge, ohne die Hilfe oder das Wissen der Gilde Magie zu erlernen. Aber erst vor kurzem war ihnen ein erster Erfolg beschieden. Nachdem es jetzt zumindest einem von ihnen gelungen ist, seine Kräfte freizusetzen, ist die Gilde berechtigt und verpflichtet, sich dieser Angelegenheit anzunehmen. Ich sende Euch mit diesem Schreiben Informationen über die besagte Gruppe. Ihr werdet feststellen, dass Euer Verhältnis zu dem Gelehrten Tayend von Tremmelin sehr dazu beitragen wird, diese Leute davon zu überzeugen, dass Ihr vertrauenswürdig seid.«

Wie Dannyl erwartete, tauschten die anderen Magier verwirrte Blicke.

»Ich nehme an, Akkarin sprach von Eurer Arbeitsbeziehung mit diesem Gelehrten?«, fragte Sarrin.

Dannyl breitete die Hände aus. »Ja und nein. Ich vermute, er bezog sich da auch auf Gerüchte über unsere persönliche Beziehung. Tayend ist, wie die Elyner sagen, ein ›Junge‹.« Sarrin zog die Augenbrauen hoch, aber weder er noch die anderen höheren Magier schienen diesen Ausdruck verwirrend zu finden, daher fuhr Dannyl fort. »Die Elyner stellen, seit Tayend mich bei meinen Nachforschungen unterstützt hat, Spekulationen darüber an, ob uns mehr verbindet als gelehrtes Interesse.«

»Und Ihr habt die Rebellen in dem Glauben gelassen, dies entspreche der Wahrheit, so dass sie das Gefühl hatten, Euch erpressen zu können, solltet Ihr ihnen irgendwelche Probleme bereiten?«, fragte Sarrin.

»Ja.«

»Akkarin hat sich nicht sehr genau ausgedrückt. Er könnte gewollt haben, dass Ihr die Rebellen in dem Glauben ermutigt, Euch und Eurem Assistenten würde die Hinrichtung drohen, sollte offenbar werden, dass Ihr Magie unterrichtet.«

Dannyl nickte. »Diese Möglichkeit habe ich natürlich in Betracht gezogen. Aber es hätte nicht genügt, um die Rebellen dazu zu bringen, mir zu vertrauen.« Zu Dannyls Erleichterung nickte Kito.

»Also wollte Akkarin der Gilde mitteilen, dass er Euch gebeten habe, eine Beziehung zu Eurem Assistenten vorzutäuschen«, sagte Vinara, »als Ihr jedoch hier angekommen seid, war er bereits verhaftet worden. Administrator Lorlen hat den Vorschlag gemacht, dass Ihr vorgebt, die Täuschung sei Eure Idee gewesen.«

»Das ist richtig.«

Die Heilerin zog die Augenbrauen hoch. »Und hat das funktioniert?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Im Allgemeinen glaube ich, ja. Welchen Eindruck hattet Ihr?«

Sie nickte. »Die meisten haben Eure Geschichte akzeptiert.«

»Und die anderen?«

»Sind als Waschweiber bekannt.«

Dannyl nickte. Wenn er an Lord Garrels Fragen im Abendsaal zurückdachte, fragte er sich, ob Vinara den Krieger ebenfalls zu den »Waschweibern« zählte.

Lorlen stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Und nun erzählt uns, wie Ihr die Rebellen kennen gelernt habt.«

Dannyl setzte seine Geschichte fort und berichtete, wie er ein Treffen mit dem Dem Marane und einen Besuch in dessen Haus arrangiert hatte. Er beschrieb den Unterricht, den er Farand gegeben hatte, und Tayends Entdeckung des Buches in Maranes Bibliothek, das den letzten Ausschlag gegeben hatte, die Rebellen zu verhaften.

»Ich hatte in Erwägung gezogen, abzuwarten, ob sie weiter meine Hilfe beanspruchen würden, nachdem Farand die Kontrolle seiner Kraft erlernt hatte«, erklärte Dannyl. »Auf diese Weise hätte ich vielleicht die Namen anderer Rebellen in Erfahrung bringen können. Als ich jedoch sah, wovon das Buch handelte, wusste ich, dass es ein zu großes Risiko gewesen wäre. Selbst wenn der Dem mir gestattet hätte, dieses Buch zu behalten, wäre es durchaus möglich gewesen, dass sich noch andere Bücher im Besitz der Rebellen befanden. Wenn sie verschwunden wären, nachdem Farand seine Magie zu kontrollieren gelernt hatte, hätten sie sich anhand solcher Schriften selbst die Künste der schwarzen Magie beibringen können, und dann hätten wir es mit Schlimmerem zu tun bekommen als wilden Magiern.« Dannyl hielt inne und verzog das Gesicht. »Ich hätte nie gedacht, dass dieser Fall bereits eingetreten war.«

Sarrin rutschte auf seinem Stuhl hin und her und runzelte die Stirn. »Glaubt Ihr, dass Akkarin von diesem Buch gewusst hat?«

»Das kann ich nicht beurteilen«, antwortete Dannyl. »Ich kann nicht einmal sagen, woher er überhaupt von den Rebellen wusste.«

»Vielleicht hatte er Farands Kräfte auf dieselbe Weise wahrgenommen, wie er auch Soneas Kräfte entdeckt hatte, bevor sie Kontrolle über ihre Magie erlernte«, sagte Vinara.

»Aus solcher Entfernung? Die Rebellen befanden sich in Elyne!«, rief Sarrin.

Vinara zog die Schultern hoch. »Er hat viele einzigartige Fähigkeiten; Fähigkeiten, die er zweifellos durch die Anwendung von schwarzer Magie erlangt hat. Warum sollte er also nicht auch diese Fähigkeit besitzen?«

Sarrin runzelte die Stirn. »Ihr sprecht von Nachforschungen, die Ihr mit diesem Gelehrten durchgeführt habt, Botschafter. Welcher Art waren diese Nachforschungen?«

»Es ging um alte Magie«, erwiderte Dannyl. Er sah sich im Raum um. Als er Lorlens Blick begegnete, lächelte der Magier schwach.

»Ich habe ihnen erzählt, dass Ihr auf meine Anweisung damit begonnen habt«, erklärte Lorlen.

Dannyl nickte. »Ja, obwohl ich nicht weiß, warum.«

»Ich wollte etwas von dem Wissen zurückgewinnen, das Akkarin verloren hatte«, sagte Lorlen. »Aber Akkarin erfuhr von Euren Nachforschungen und gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass er damit nicht einverstanden sei. Daraufhin habe ich Lord Dannyl mitgeteilt, dass seine Hilfe nicht länger benötigt werde.«

»Und Ihr habt diesem Befehl nicht gehorcht?«, fragte Sarrin Dannyl.

»Es war kein Befehl«, warf Lorlen ein. »Ich habe lediglich gesagt, dass die Nachforschungen nicht länger benötigt würden. Ich glaube, Dannyl hat dann aus eigenem Interesse weitergemacht.«

»So ist es«, bestätigte Dannyl. »Später hörte Akkarin, dass ich meine Nachforschungen fortgesetzt hatte, und rief mich in die Gilde zurück. Er schien erfreut über meine Fortschritte und ermutigte mich weiterzumachen. Unglücklicherweise konnte ich nur wenig Neues entdecken. Die einzigen Quellen, die ich noch nicht erkundet hatte, lagen in Sachaka, und er hat mir unmissverständlich verboten, eine Reise nach Sachaka zu unternehmen.«

Sarrin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Interessant. Er hat die Nachforschungen zuerst unterbunden und sie dann wieder ermutigt. Vielleicht hattet Ihr bereits etwas entdeckt, von dem er nicht wollte, dass Ihr es findet, dessen Bedeutung Ihr jedoch nicht verstanden hattet. Dann hätte er keine Gefahr darin gesehen, Euch weitermachen zu lassen.«

»Diese Möglichkeit habe ich ebenfalls in Betracht gezogen«, pflichtete Dannyl ihm bei. »Erst durch das Buch des Rebellen ist mir klar geworden, dass die alte Magie, über die ich Nachforschungen anstellte, in Wirklichkeit schwarze Magie war. Ich glaube nicht, dass es in Akkarins Absicht lag, mich das wissen zu lassen.«

Sarrin schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn das so ist, hätte er nicht gewollt, dass Ihr dieses Buch lest. Also wusste er wahrscheinlich nicht, dass es sich in Dem Maranes Besitz befand, und die Gefangennahme der Rebellen diente nicht dazu, des Buches habhaft zu werden.« Er runzelte die Stirn. »Außerdem könnte es Informationen enthalten, die ihm nicht bekannt sind. Sehr interessant.«

Während die Magier darüber nachdachten, blickte Dannyl von einem zum anderen.

»Darf ich eine Frage stellen?«

Lorlen lächelte. »Natürlich, Botschafter.«

»Habt Ihr irgendwelche Beweise dafür gefunden, dass Akkarins Geschichte wahr ist?«

Das Lächeln des Administrators verblasste. »Noch nicht.« Er zögerte. »Trotz Akkarins Warnung sehen wir keine andere Möglichkeit, die Wahrheit in Erfahrung zu bringen, als Spione nach Sachaka zu schicken.«

Dannyl nickte. »Ich nehme an, Ihre Identität wird geheim bleiben, selbst den Mitgliedern der Gilde gegenüber.«

»Ja«, erwiderte Lorlen. »Aber einige Personen, darunter Ihr selbst, sollen eingeweiht werden, denn sie würden wahrscheinlich den wahren Grund für die Abwesenheit gewisser Magier erraten.«

Dannyl straffte sich. »Wirklich?«

»Einer der Spione wird Euer Mentor sein, Lord Rothen.«

Der Aufstieg in die Berge schien endlos.

Die Morgensonne hatte steile, dicht bewaldete Hänge zu beiden Seiten offenbart. Obwohl die Straße sich in einem guten Zustand befand und offenkundig in jüngster Zeit noch ausgebessert worden war, gab es ringsum nichts als Wildnis. Falls die Eskorte in der Nacht an irgendwelchen Häusern vorbeigekommen war, hatte man diese Gebäude in der tiefen Dunkelheit jedenfalls nicht wahrgenommen. Die Straße folgte dem gewundenen Lauf der Hochtäler und führte durch steile Schluchten. Gelegentlich erhaschte Sonea einen Blick auf Felsvorsprünge über ihr. Es wurde stetig kälter, bis ihr nichts anderes mehr übrig blieb, als Tag und Nacht eine Wärmebarriere um sich herumzulegen.

Sie sehnte das Ende der Reise herbei und fürchtete es gleichzeitig. Es ging jetzt ständig bergauf, so dass sie ein wenig anders im Sattel saß als zuvor und vollkommen neue Muskelpartien mit Schmerzen auf sich aufmerksam machten. Außerdem hatte der grobe Stoff ihrer Hose ihr die Haut wund geschürft, und sie musste sich mehrmals am Tag heilen, um den Schmerz zu lindern.

»Halt!«

Als sie Balkans Befehl hörte, stieß Sonea einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie hatten seit dem Morgen keine Pause mehr gemacht. Sie spürte, wie ihr Pferd tief Luft holte, als es zum Stehen kam, und sie dann schnaubend wieder ausblies.

Mehrere Männer aus ihrer Eskorte saßen ab, um die Pferde zu versorgen. Akkarin starrte in die Ferne. Als Sonea seinem Blick folgte, stellte sie fest, dass man durch eine Lücke in den Bäumen auf das Land unterhalb der Berge blicken konnte. Eine sanft gewellte Landschaft lief in der Ferne in eine flache Ebene aus. In den Tälern zwischen den Hügeln schimmerten schmale Flüsse und Bäche. Alles erstrahlte im warmen Licht der Nachmittagssonne, und der Horizont war nur eine in Nebel gehüllte Linie. Und irgendwo dahinter lag Imardin. Ihr Zuhause.

Mit jedem Schritt der Reise entfernte sie sich weiter von allem, was sie je gekannt hatte: von ihrer Familie, ihren alten Freunden, Cery, Rothen, Dorrien. Die Namen der Menschen, die ihr während der letzten Jahre ans Herz gewachsen waren, gingen ihr durch den Kopf: Tania, Dannyl, Tya und Yikmo – und selbst einige der Novizen. Vielleicht würde sie keinen von ihnen jemals wiedersehen. Bei den meisten von ihnen hatte sie nicht einmal die Chance gehabt, sich zu verabschieden. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und Tränen stiegen in ihr auf.

Sie schloss die Augen und zwang sich, langsam und gleichmäßig zu atmen. Dies ist weder die Zeit noch der Ort, um zu weinen. Nicht jetzt, da Balkan und die anderen Magier sie beobachteten – und vor allem nicht vor Akkarin.

Sie schluckte heftig und wandte sich von dem Bild, das sich ihr bot, ab.

Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie eine Veränderung in Akkarins Zügen. Bevor sich die vertraute Maske wieder über sein Gesicht legte, las sie dort für einen kurzen Moment tiefe Enttäuschung und Verbitterung. Verstört von dem, was sie gesehen hatte, senkte sie den Blick.

Osen begann, Brot, kaltes, gekochtes Gemüse und Brocken gesalzenen Fleisches zu verteilen. Akkarin nahm seinen Anteil schweigend entgegen und verfiel wieder in dumpfes Brüten. Sonea kaute langsam, fest entschlossen, alle Gedanken an die Gilde aus ihrem Kopf zu verdrängen und sich stattdessen auf die kommenden Tage zu konzentrieren. Wo würden sie in Sachaka Nahrung finden? Das Gebiet jenseits des Passes war Wüstenland. Vielleicht konnten sie etwas zu essen kaufen. Würde Balkan ihnen Geld geben?

Schließlich kehrte Osen an ihre Seite zurück und bot ihr einen Becher mit gewässertem Wein an. Sie leerte ihn schnell und gab ihn Osen zurück. Er zögerte, als wolle er etwas sagen, und sie straffte schnell die Schultern und wandte den Blick ab. Sie hörte einen Seufzer und dann Schritte, die sich entfernten, als Osen zu seinem Pferd zurückkehrte.

»Weiter«, rief Balkan.

Der dichte Baumbestand wurde nun immer häufiger von blankem Fels abgelöst. Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als die Straße schließlich gerade wurde und zwischen zwei hohen, glatten Felswänden verlief. Vor ihr ragte, in das orangefarbene Licht der untergehenden Sonne getaucht, ein gewaltiger Steinquader auf, dessen Front durch winzige, quadratische Öffnungen gegliedert war.

Das Fort.

Während sie sich dem Gebäude näherten, konnte Sonea den Blick nicht mehr von der Festung lösen. Im Geschichtsunterricht hatte sie gelernt, dass das Fort kurz nach dem Sachakanischen Krieg erbaut worden war. Es war größer, als sie erwartet hatte, wahrscheinlich doppelt oder sogar dreimal so groß wie das Hauptgebäude der Universität. Der gewaltige Steinquader versperrte die schmale Lücke zwischen den beiden hohen Felswänden. Wer immer diesen Weg nahm – es gab keinen Weg an dem Gebäude vorbei.

Es waren keinerlei Risse zu erkennen und kein Verputz, und doch war das Fort erbaut worden, lange bevor Lord Coren entdeckt hatte, wie man Stein schmelzen konnte. Sonea schüttelte erstaunt den Kopf. Diese Architekten längst vergangener Zeiten mussten das Fort aus dem Berg selbst gehauen haben.

Als sie näher kamen, schwangen zwei große Metalltüren auf. Zwei Männer traten hindurch. Einer trug die Uniform eines Hauptmanns der Wache, der andere rote Kriegerroben. Sonea blinzelte überrascht, dann starrte sie den Magier ungläubig an.

»Lord Balkan«, sagte Fergun, als sich der Hauptmann respektvoll verneigte, »das ist Hauptmann Larwen.«

Natürlich, dachte sie. Man hat Fergun zur Strafe dafür, dass er mich erpresst hat, in ein entlegenes Fort geschickt. Mir war nur nicht klar, dass es dieses Fort war.

Während der Hauptmann mit Lord Balkan sprach, blickte Sonea auf ihre Hände hinab und verfluchte ihr Pech. Zweifellos hatte Fergun sich auf diesen Augenblick gefreut. Er hatte viel riskiert mit seinen Bemühungen, die Gilde davon zu überzeugen, dass sie niemanden von außerhalb der Häuser in ihren Reihen dulden sollte. Jetzt hat sich seine Behauptung, den Hüttenleuten sei nicht zu trauen, als wahr erwiesen, dachte sie.

Aber das stimmte nicht. Sie hatte nur deshalb schwarze Magie erlernt und benutzt, um die Gilde und Kyralia zu retten.

Auch Fergun hatte geglaubt, die Gilde zu retten. Ein unbehagliches Mitgefühl für ihn stieg in ihr auf. Gab es wirklich einen Unterschied zwischen ihr und ihrem früheren Feind?

Ja, dachte sie. Ich versuche, ganz Kyralia zu retten. Er wollte nur verhindern, dass Mitglieder der unteren Klassen Magie erlernen.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er sie beobachtete.

Beachte ihn nicht, sagte sie sich. Er ist es nicht wert.

Aber warum sollte sie sich klein machen? Er war nicht besser als sie. Also hob sie den Kopf und erwiderte seinen Blick. Er verzog verächtlich die Lippen, und aus seinen Augen leuchtete Befriedigung.

Du hältst dich für so überlegen, dachte sie, aber eines solltest du nicht vergessen. Ich bin stärker als du. Selbst ohne die verbotene Magie, die ich erlernt habe, hätte ich dich in der Arena jederzeit besiegen können, Krieger.

Seine ganze Miene strahlte Hass aus. Sonea sah ihn kalt an. Ich habe eine Magierin getötet, die genau wie du hilflose Menschen zu ihren Opfern gemacht hat. Wenn es die einzige Möglichkeit wäre, Kyralia zu schützen, würde ich wieder töten. Du machst mir keine Angst, Magier. Du bist ein Nichts, ein jämmerlicher Narr, ein…

Plötzlich drehte Fergun sich um und musterte den Hauptmann, als hätte dieser etwas Wichtiges gesagt. Sonea wartete darauf, dass er sich wieder zu ihr umwandte, aber er tat es nicht. Als die Formalitäten erledigt waren, trat der Hauptmann beiseite und blies in eine Pfeife. Die Eskorte setzte sich in Bewegung und zog in die Festung ein.

Der breite Korridor hinter ihnen hallte wider vom Getrappel vieler Hufen. Die Eskorte ritt noch einige Schritte weiter und verringerte ihr Tempo, als sie sich einer Steinmauer näherte, die die Hälfte des Durchgangs blockierte. Um sie zu passieren, musste sie sich in einer Reihe formieren. Nach dem Engpass ging der Korridor noch etwa hundert Schritte weiter und endete zunächst vor einem geschlossenen Stahltor, das sich langsam öffnete. Sie ritten hindurch; auf der anderen Seite des Tors führte der Durchgang eine Strecke weit über Holzbohlen zur nächsten Sperrmauer, die sie wieder nur einer nach dem anderen passieren konnten.

Sonea spürte einen kalten Luftzug auf dem Gesicht. Hinter dem nächsten, bereits geöffneten Stahltor lag eine weitere, von Felsmauern umrahmte Schlucht.

Auf der sachakanischen Seite des Passes hatte sich bereits die Nacht herabgesenkt. Zwei Reihen von Lampen beleuchteten steile Felswände. Dahinter führte die Straße in die Dunkelheit.

Als die Eskorte die Schlucht passiert hatte, begann Soneas Herz zu hämmern. Wo sie das Fort hinter sich hatten, trabte ihr Pferd jetzt über sachakanische Erde. Sie senkte den Blick.

Felsen wäre wohl die bessere Beschreibung, fügte sie in Gedanken hinzu.

Sie drehte sich im Sattel um und blickte zum Fort zurück. In einigen Fenstern brannte Licht, das die Silhouetten seiner Bewohner nachzeichnete.

Das Geklapper der Hufe verblasste. Ihr Pferd blieb stehen.

»Absitzen.«

Als Akkarin sich aus dem Sattel schwang, wurde Sonea klar, dass Balkans Befehl ausschließlich für sie und Akkarin galt. Sie ließ sich zu Boden gleiten und zuckte zusammen, so steif waren ihre Glieder. Lord Osen beugte sich hinab, um nach den Zügeln zu greifen und die Pferde wegzuführen.

Als die Pferde mit Osen verschwunden waren, standen nur noch sie und Akkarin in dem Ring der Krieger. Über Balkans Kopf flackerte eine Lichtkugel auf.

»Prägt Euch die Gesichter dieser beiden Magier ein«, rief Balkan. »Es sind Akkarin, ehemals Hoher Lord der Magiergilde, und Sonea, ehemals Novizin des Hohen Lords. Sie sind für das Verbrechen, schwarze Magie praktiziert zu haben, aus der Gilde ausgestoßen und aus den Verbündeten Ländern verbannt worden.«

Eine Welle der Kälte durchlief Sonea. Zumindest war dies das letzte Mal, dass sie die rituellen Worte würde hören müssen. Sie betrachtete die dunkle Straße jenseits des Lampenlichts.

»Wartet!«

Sie hielt den Atem an. Osen trat vor.

»Ja, Lord Osen?«

»Ich möchte noch einmal mit Sonea sprechen, bevor sie fortgeht.«

Balkan nickte langsam. »Nun gut.«

Als Osen von seinem Pferd stieg, seufzte Sonea. Er kam langsam und mit angespannter Miene auf sie zu.

»Sonea, das ist deine letzte Chance.« Er sprach sehr leise, vielleicht damit die Eskorte ihn nicht hörte. »Komm mit mir zurück.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

Er wandte sich zu Akkarin um. »Wollt Ihr, dass sie diese Chance ausschlägt?«

Akkarin hob die Augenbrauen. »Nein, aber sie scheint fest entschlossen zu sein, genau das zu tun. Ich bezweifle, dass ich ihre Meinung ändern könnte.«

Osen runzelte die Stirn und drehte sich wieder zu Sonea um. Er öffnete den Mund, besann sich dann jedoch eines Besseren und schüttelte lediglich den Kopf.

»Ich möchte Euch raten, gut auf sie aufzupassen«, murmelte er an Akkarin gewandt.

Akkarin sah den Magier nur ausdruckslos an. Osen runzelte erneut die Stirn und machte auf dem Absatz kehrt, um wieder in den Sattel seines Pferdes zu steigen.

Auf ein Zeichen von Balkan zog sich die Eskorte, die die Straße nach Sachaka blockiert hatte, zurück.

»Setzt nie wieder einen Fuß in eins der Verbündeten Länder«, sagte Balkan. Seine Stimme klang weder wütend noch bedauernd.

»Komm, Sonea«, sagte Akkarin leise. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

Sie sah ihn an. Seine Miene war abweisend und schwer zu deuten. Als er sich langsam in Bewegung setzte, folgte sie ihm in einigem Abstand.

Hinter ihnen war noch immer eine Stimme zu hören. Sonea lauschte aufmerksam. Es war Lord Osen.

»… Fuß in eines der Verbündeten…«

Sie schauderte, dann richtete sie den Blick auf die dunkle Straße, die vor ihnen lag.


Als die letzten Sonnenstrahlen über dem Garten erloschen waren, wandte Lorlen sich vom Fenster ab und begann, in seinem Dienstraum hin und her zu laufen. Als sein Weg ihn zu seinem Schreibtisch führte, blieb er stehen, blickte auf den dicken Stapel Papiere hinab und seufzte.

Warum mussten sie Akkarin ausgerechnet nach Sachaka schicken?

Er wusste, warum. Er wusste mit einem Gefühl kalter Klarheit, dass der König hoffte, Akkarin werde in Sachaka umkommen. Akkarin hatte gegen eins der schwerwiegendsten Gesetze der Gilde verstoßen. Wie sehr der König den Hohen Lord auch geschätzt haben mochte, er wusste, dass es nichts Gefährlicheres gab als einen Magier, der sich nicht dem Gesetz beugte und zu mächtig war, als dass man ihn hätte unter Kontrolle halten können. Wenn die Gilde Akkarin nicht hinrichten konnte, dann musste sie ihn zu den einzigen Magiern schicken, die dies vermochten: den Ichani.

Natürlich bestand die Möglichkeit, dass es diese Ichani gar nicht gab. Wenn es so war, war die Gilde drauf und dran, einen Magier freizulassen, der bereitwillig schwarze Magie erlernt hatte. Er könnte zurückkehren, stärker denn je. Aber auch das ließ sich nicht ändern.

Wenn es die Ichani jedoch wirklich gab, schien es töricht zu sein, den einzigen Magier in den Tod zu schicken, der ihnen mehr über ihren Feind hätte sagen können. Akkarin war jedoch nicht der einzige. Sonea wusste ebenfalls um diese Dinge.

Das war der Punkt, an dem der König seinen schlimmsten Irrtum begangen hatte. Er war davon ausgegangen, dass sich das ehemalige Hüttenmädchen mühelos von seiner Meinung würde abbringen lassen. Lorlen lächelte schief, als er an Soneas zornige Weigerung zurückdachte.

Der König war wütend über ihre trotzige Haltung gewesen. Was hast du denn erwartet? hätte Lorlen gern gesagt. Loyalität? Von jemandem, der früher einmal unter den Menschen gelebt hat, die du jedes Jahr während der Säuberung aus der Stadt vertreiben lässt? Am Ende war der König zu dem Schluss gekommen, dass eine Verbannung Soneas das Beste sei, wenn sie sich dem Urteil der Gilde und ihres Herrschers nicht unterwerfen wollte.

Lorlen seufzte und begann von Neuem, im Raum auf und ab zu gehen. In Wahrheit brauchte die Gilde Sonea nicht für weitere Informationen über die Ichani, solange er Akkarins Ring besaß… und Akkarin am Leben blieb. Aber wenn Lorlen begann, Informationen von Akkarin an die Gilde weiterzugeben, würde er irgendwann eingestehen müssen, wie er in den Besitz des Rings gekommen war. Der Ring war ein Werkzeug schwarzer Magie. Wie würde die Gilde darauf reagieren, dass ihr Administrator einen solchen Gegenstand besaß und weiterhin benutzte?

Ich sollte ihn wegwerfen, dachte er. Aber er wusste, dass er das nicht tun durfte. Er nahm den Ring aus der Tasche und betrachtete ihn einen Moment lang, dann streifte er ihn über.

Akkarin? Bist du da?

Nichts.

Lorlen hatte mehrfach versucht, sich über den Ring mit Akkarin in Verbindung zu setzen. Gelegentlich hatte er geglaubt, ein schwaches Gefühl von Zorn oder Furcht wahrzunehmen, war aber zu dem Schluss gekommen, dass er sich diese Dinge nur eingebildet hatte. Das Schweigen quälte ihn. Wären da nicht Osens durch Gedankenrede übermittelte Berichte über die Reise gewesen, hätte Lorlen vielleicht befürchtet, Akkarin könnte tot sein.

Lorlen ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Er nahm den Ring ab und steckte ihn sich wieder in die Tasche. Einen Moment später erklang ein scharfes Klopfen an der Tür.

»Herein.«

»Eine Botschaft vom König, Mylord.«

Ein Diener trat ein, verneigte sich und legte einen hölzernen Zylinder auf Lorlens Schreibtisch. Auf den Verschluss war das Incal des Königs gedruckt, und das Wachs war mit Goldpulver bestäubt worden.

»Vielen Dank. Du darfst gehen.«

Der Diener verbeugte sich abermals, dann zog er sich zurück. Lorlen brach das Siegel und nahm einen zusammengerollten Bogen Papier heraus.

Der König will also über Sachaka reden, überlegte Lorlen, während er das förmliche Dokument las. Er rollte den Brief wieder zusammen, schob ihn in den Zylinder zurück und verstaute ihn in einer Schachtel, in der er die Schreiben des Königs aufbewahrte.

Ein Treffen mit dem König erschien ihm mit einem Mal unerwartet reizvoll. Lorlen hatte keinen größeren Wunsch gehabt, als endlich etwas tun zu können. Viel zu lange hatte er den Dingen hilflos ihren Lauf lassen müssen. Er stand auf und erstarrte dann, als er am Rande seines Bewusstseins das Echo seines Namens hörte.

Lorlen!

Osen. Lorlen spürte kurz die Anwesenheit anderer Magier, die sich jedoch zurückzogen, sobald sie feststellten, dass der Ruf nicht ihnen galt.

Ja, Osen?

Es ist so weit. Sonea und Akkarin sind in Sachaka.

Lorlen ließ resigniert die Schultern sinken.

Könntet Ihr Fergun und den Hauptmann fragen, ob irgendjemand im Fort oder in seiner direkten Umgebung ungewöhnliche Ereignisse in Sachaka bemerkt hat?

Ich werde mich erkundigen und Euch morgen Ferguns Antwort wissen lassen. Er hat darum gebeten, einige Magier im Fort zurückzulassen für den Fall, dass Akkarin und Sonea zurückzukehren versuchen.

Habt Ihr ihm erklärt, dass das nichts ändern würde?

Nein, ich wollte sie nicht noch nervöser machen, als sie ohnehin schon sind.

Lorlen dachte über die Bitte Ferguns nach.

Ich werde diese Entscheidung Balkan überlassen.

Ich werde ihm Bescheid geben. Es folgte eine Pause. Ich muss Schluss machen. Das Bild einer Halle mit einem großen, offenen Feuer und Magiern, die an einem langen Esstisch Platz nahmen, erreichte Lorlens Gedanken. Er lächelte.

Lasst Euch Euer Mahl schmecken, Osen. Und danke, dass Ihr mich informiert habt.

Und ich danke Euch, dass Ihr mich informiert habt, erwiderte eine andere Stimme. Lorlen blinzelte überrascht- Wer war das?, fragte Osen.

Ich weiß es nicht, antwortete Lorlen. Er ließ ihr Gespräch noch einmal Revue passieren und schauderte. Wenn jemand auf der anderen Seite der Grenze wartete, bereit, Besuchern aufzulauern, dann wusste der Betreffende jetzt, dass Akkarin und Sonea unterwegs waren.

Er dachte daran, was die Magier der Gilde während der letzten Tage diskutiert haben mochten, und seine Furcht wuchs. Wir sind Narren gewesen, ging es ihm durch den Kopf. Keiner von uns hat wirklich bedacht, was es bedeuten könnte, wenn Akkarins Geschichte der Wahrheit entspricht.

Balkan, rief er.

Ja?

Bitte, sagt Euren Männern, dass alle Gespräche mittels Gedankenrede von jetzt an unterbleiben müssen. Ich werde den Rest der Gilde informieren.

Als Osen und Balkan sich aus seinem Bewusstsein zurückzogen, nahm Lorlen abermals Akkarins Ring aus der Tasche. Mit zitternden Händen streifte er ihn über.

Akkarin?

Aber Schweigen war seine einzige Antwort.

21 Eine gefährliche Straße

Neunter Tag des fünften Monats.

Heute Morgen mussten wir unsere Reise unterbrechen, weil ein Erdrutsch die Straße unpassierbar gemacht hatte. Die Diener haben den ganzen Tag über gegraben, aber ich befürchte, dass wir nicht vor morgen werden weiterziehen können. Ich bin auf einen Hügel gestiegen. Die Berge sind jetzt eine dunkle Linie am Horizont. Vor mir liegen staubige Hügel, die sich nach Norden ziehen. Diese Ödländer scheinen endlos zu sein. Jetzt begreife ich, warum kyralische Kaufleute nur selten Handel mit Sachaka treiben. Es ist eine anstrengende Reise, und von Riko weiß ich, dass für die Sachakaner der Handel mit den Ländern im Nordosten einfacher ist. Hinzu kommt natürlich, dass sie der Gilde nicht trauen…

Ein Klopfen unterbrach Rothen. Er seufzte, senkte das Buch und ließ die Tür aufspringen. Dannyl trat mit einem Stirnrunzeln ein.

»Dannyl«, sagte Rothen, »möchtest du einen Becher Sumi?«

Dannyl schloss die Tür, ging zu Rothens Stuhl hinüber und blickte ärgerlich auf ihn hinab. »Du hast dich freiwillig gemeldet, nach Sachaka zu gehen?«

»Ah.« Rothen klappte das Buch zu und legte es auf den Tisch. »Dann haben sie es dir also erzählt.«

»Ja.« Dannyl schien Mühe zu haben, die richtigen Worte zu finden. »Ich wollte dich fragen, warum, aber das ist wohl nicht nötig. Du willst nach Sonea suchen, nicht wahr?«

Rothen zuckte die Achseln. »In gewisser Weise.« Er deutete auf einen Stuhl. »Setz dich. Selbst ich fühle mich unbehaglich, wenn du, groß wie du bist, so vor mir stehst.«

Dannyl nahm Platz und starrte Rothen über den Tisch hinweg an. »Es überrascht mich, dass die höheren Magier damit einverstanden waren. Ihnen muss doch klar sein, dass die Suche nach Sonea für dich wichtiger werden könnte als die Frage, ob es diese Ichani wirklich gibt.«

Rothen lächelte. »Ja, das haben sie tatsächlich bedacht. Ich habe ihnen meinen Standpunkt erklärt: Wenn ich die Wahl hätte, Sonea zu retten oder meinen Auftrag zu erfüllen, würde ich mich für die Rettung Soneas entscheiden. Sie haben diese Bedingung akzeptiert, weil man mir am ehesten zutraut, sie zur Rückkehr zu bewegen – und weil ich nicht der einzige Spion sein werde.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

»Ich habe mich erst heute Morgen für diese Mission gemeldet.«

»Aber du musst schon länger darüber nachgedacht haben.«

»Erst seit gestern Abend. Nachdem ich gesehen hatte, wie du mit Garrel fertig geworden bist, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass du meine Hilfe im Grunde nicht brauchst.« Rothen lächelte. »Meine Unterstützung vielleicht, aber nicht meine Hilfe. Sonea dagegen braucht meine Hilfe durchaus. Ich konnte so lange nichts für sie tun. Jetzt bin ich endlich wieder dazu in der Lage.«

Dannyl nickte, aber er schien nicht besonders glücklich zu sein. »Was ist, wenn Akkarins Geschichte wahr ist? Was ist, wenn du in ein Land kommst, das von schwarzen Magiern beherrscht wird? Er hat gesagt, dass jeder Magier der Gilde, der nach Sachaka reist, getötet werden würde.«

Rothens Lächeln verblasste. Es würde tatsächlich eine gefährliche Reise werden. Die Möglichkeit, dass er auf die Magier treffen würde, die Akkarin beschrieben hatte, machte ihm Angst.

Wenn die Ichani jedoch nicht existierten, musste Akkarin einen Grund gehabt haben, sie zu erfinden. Vielleicht hatte er es nur deshalb getan, damit die Gilde sein Leben verschonte. Vielleicht war das Ganze Teil eines größeren Täuschungsmanövers. Wenn das der Fall war, würde Akkarin darauf bedacht sein, die Wahrheit zu verbergen. Vielleicht war er der schwarze Magier, der jeden Angehörigen der Gilde töten würde, sobald er Sachaka betrat.

Aber Akkarin musste damit rechnen, dass die Gilde seinen Behauptungen nachgehen würde. Mit seiner Geschichte über die Ichani hatte er ihnen gar keine andere Wahl gelassen, als Spione nach Sachaka zu schicken. Rothen runzelte die Stirn. Und wenn Akkarin nun all das erfunden hatte, um Jagd auf die Magier zu machen, die nach Sachaka reisten? Wenn er vorhatte, sie einen nach dem anderen zu töten und sich mit ihrer Kraft zu stärken?

»Rothen?«

Rothen blickte auf und brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Ich weiß, dass es gefährlich werden wird, Dannyl. Wir werden gewiss nicht mit Roben bekleidet nach Sachaka hineinstolpern und unsere magischen Fähigkeiten zur Schau stellen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um unbemerkt zu bleiben.« Er deutete auf das Buch. »Man hat sämtliche Berichte über Reisen nach Sachaka für uns kopiert, damit wir sie studieren können Wir werden Kaufleute und ihre Diener befragen. Außerdem wird der König uns einen erfahrenen Spion schicken, der uns lehren wird, so zu sprechen und uns so zu benehmen wie Nichtmagier.«

Dannyls Lippen verzogen sich zu einem widerstrebenden Lächeln. »Sonea würde das sehr komisch finden.«

Ein vertrautes Gefühl des Kummers stieg in Rothen auf. »Ja. Früher einmal hätte sie es komisch gefunden.« Er seufzte. »Nun, erzähl mir lieber von deinem Treffen mit den höheren Magiern. Haben sie irgendwelche unbequemen Fragen gestellt?«

Dannyl blinzelte angesichts des plötzlichen Themenwechsels. »Die eine oder andere. Ich glaube nicht, dass sie viel von Tayend halten, aber das war keine Überraschung.«

»Nein«, pflichtete Rothen ihm bei. Dann musterte er Dannyl eingehend. »Aber du hältst viel von ihm.«

»Er ist ein guter Freund.« Dannyl hielt Rothens Blick stand. In seiner Miene spiegelte sich ein Anflug von Trotz. »Wird man von mir erwarten, dass ich ihm in Zukunft aus dem Weg gehe?«

Rothen zuckte die Achseln. »Du weißt, was die Klatschbasen sagen werden, wenn du es nicht tust. Andererseits kannst du dein Leben nicht von diesen Leuten bestimmen lassen, und in Elyne gelten ohnehin andere Regeln.«

Dannyl zog die Augenbrauen hoch. »Ja. Was man hier für klug hält, würde dort als unhöflich erachtet werden.«

»Also, wie ist es? Möchtest du einen Becher Sumi?«

Dannyl nickte lächelnd. »Ja, gern.«

Rothen stand auf und ging zu dem Schrank, in dem die Becher und die Sumi-Blätter aufbewahrt wurden. Dann erstarrte er plötzlich.

Alle Magier mögen mir bitte Gehör schenken!

Als Lorlens Gedankenstimme erklang, blinzelte Rothen überrascht.

Von jetzt an darf die Gedankenrede nicht länger benutzt werden, es sei denn in einem Notfall. Wenn Ihr es nicht vermeiden könnt, Euch auf diese Weise mit einem anderen Magier in Verbindung zu setzen, achtet darauf, was Ihr offenbart. Wenn Ihr die Gedankenrede eines anderen Magiers auffangt, informiert ihn oder sie bitte von dieser Auflage.

»Hm«, brummte Dannyl einen Moment später. »Eingedenk der Mission, zu der du bald aufbrechen wirst, ist es mir grässlich, das zu sagen, aber ich werde von Tag zu Tag unruhiger.«

»Weshalb?«

»Weil ich Angst davor habe, dass Akkarin uns die Wahrheit gesagt haben könnte.«


Als Cery Savaras Glas wieder auffüllte, versteifte sie sich plötzlich und blickte ins Leere.

»Was gibt es?«, fragte er.

Sie blinzelte. »Deine Gilde hat die erste vernünftige Entscheidung getroffen.«

»Tatsächlich?«

Sie lächelte. »Sie hat die Gedankenrede verboten.«

Cery füllte auch sein eigenes Glas wieder auf. »Wird ihnen das viel nützen?«

»Es hätte ihnen etwas nützen können, wenn sie es vor einer Woche getan hätten.« Sie zuckte die Achseln und griff nach ihrem Glas. »Aber es ist gut, dass die Ichani jetzt nichts mehr über die Pläne der Gilde erfahren werden.«

»Nur dass du auch nichts mehr erfahren wirst.«

Sie zuckte die Achseln. »Nein. Aber das spielt keine Rolle.«

Cery betrachtete sie. Sie hatte irgendwo ein zauberhaftes Kleid gefunden, das aus einem kostbaren, weichen Stoff geschneidert war. Der tiefe Purpurton brachte ihre Haut wunderbar zur Geltung. Und wenn sie ihn ansah, erstrahlten ihre Augen in einem vollen, warmen Goldton.

Aber jetzt hatte sie den Blick gesenkt, und ihr ausdrucksvoller Mund war zu einer schmalen Linie geworden.

»Savara -«

»Bitte mich nicht zu bleiben.« Sie sah auf und bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Ich muss gehen. Ich muss meinen Leuten gehorchen.«

»Ich wollte nur -«

»Ich kann nicht bleiben.« Sie stand auf und begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Ich wünschte, ich könnte es. Würdest du mit mir fortgehen und mich in mein Land begleiten… wenn du weißt, was deiner Heimat bevorsteht? Nein. Du musst deine eigenen Leute schützen. Ich muss -«

»Dürfte ich auch mal etwas sagen?«

Sie hielt inne und schenkte ihm ein klägliches Lächeln. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht noch einmal unterbrechen.«

»Ich wollte dir genau das erklären, was du soeben gesagt hast. Es wäre mir lieber, wenn du bleiben könntest, aber ich werde dich nicht daran hindern zu gehen.« Er lächelte schief. »Außerdem wette ich, dass ich ohnehin keine Chance hätte, dich hier festzuhalten.«

Sie zog die Augenbrauen hoch und deutete auf den Tisch. »Aber du hast mich zum Essen eingeladen, um noch einmal zu versuchen, mich dazu zu überreden.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte dir nur für deine Hilfe danken – und ich musste es wieder gutmachen, dass ich dir nicht die Chance gegeben habe, einen dieser Sklaven zu erledigen.«

Sie schob die Unterlippe vor. »Um mich dafür zu entschädigen, bedürfte es mehr als einer Mahlzeit.«

Er kicherte. »Wirklich? Hmmm, wir Diebe schätzen es nicht, einen Handel zu brechen. Würdest du mir verzeihen, wenn ich dich auf eine andere Weise entschädigte?«

Ihre Augen blitzten auf, und ihr Lächeln vertiefte sich. »Oh, mir wird schon etwas einfallen.« Sie ging zu ihm, beugte sich vor und küsste ihn. »Hmmm, das bringt mich auf die eine oder andere Idee.«

Er lächelte und zog sie zu sich herunter, so dass sie auf seinem Schoß saß. »Bist du dir sicher, dass ich dich nicht zum Bleiben bewegen kann?«, fragte er leise.

Sie neigte den Kopf zur Seite und dachte nach. »Vielleicht könnte ich meine Abreise noch um eine Nacht verschieben.«


Die Straße nach Sachaka lag dunkel und verlassen da. Akkarin hatte nur ein einziges Mal gesprochen, um Sonea zu ermahnen, kein Licht zu machen und nur im Flüsterton zu reden. Seither war das einzige Geräusch das Echo ihrer Schritte gewesen und das ferne Heulen des Windes irgendwo weit über ihnen.

Sie blickte auf ihre Stiefel hinab, das Einzige, was ihr von ihrer Novizentracht geblieben war. Würden die Ichani sie erkennen? Sie zog es in Erwägung, Akkarin zu fragen, ob sie die Stiefel vielleicht wegwerfen sollte, aber die Vorstellung, ohne Schuhe durch dieses kalte, felsige Gebiet zu wandern, war wenig reizvoll.

Seit ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm sie mehr von ihrer Umgebung wahr. Zu beiden Seiten der Straße ragten senkrechte Felswände auf, die wie die Falten schwerer Vorhänge aufgeworfen waren. Sie erstreckten sich mehrere hundert Schritte weit in den Himmel, wurden aber langsam niedriger.

Nach mehreren Biegungen war die linke Felswand plötzlich abgeflacht. Eine weite Ebene kam in Sicht. Sie blieben stehen und betrachteten das Land unter ihnen.

Schwarze, endlose Dunkelheit breitete sich vom Fuß der Berge bis zum Horizont aus, wo der Himmel bereits den ersten sanften Schimmer sehen ließ. Das Leuchten wurde langsam heller. Eine weiße Linie erschien, die sich nach oben hin ausdehnte. Als der – bereits wieder abnehmende – Mond langsam über dem Horizont aufstieg, flutete Licht über die Landschaft. Sonea sog scharf den Atem ein. Die Berge leuchteten jetzt wie gezackte Silberklumpen. Einzelne Kämme zogen sich wie die Wurzeln eines Baumes weit in die Ebene hinein. Wo die Felsen endeten, begann eine trostlose Fläche, auf der kein Baum mehr wuchs. An manchen Stellen hatte das Wasser von den Bergen die Erde fortgespült und tiefe Klüfte hinterlassen, die bis zum Horizont reichten. In der Ferne erkannte sie sichelförmige Hügel, die wie eingefrorene Wellen eines Teiches wirkten.

Die Wüstenländer Sachakas.

Eine Hand legte sich auf ihren Arm. Überrascht ließ sie sich von Akkarin in den Schatten der Felswand ziehen.

»Man könnte uns sehen«, murmelte er. »Wir müssen fort von der Straße.«

Sonea konnte sich nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte. Die Straße folgte einer Biegung nach rechts. Zu beiden Seiten ragten steile Felswände auf.

Akkarins Hand lag noch immer auf ihrem Arm. Ihr wurde bewusst, dass ihr Herz schneller schlug, und das nicht nur aus Furcht. Akkarins Aufmerksamkeit war jedoch auf das Kliff über ihnen gerichtet.

»Wir können nur hoffen, dass sie dort oben keine Späher postiert haben«, sagte er.

Er ließ sie los und ging auf der Straße ein Stück zurück. Sonea folgte ihm. Als sie eine Stelle erreichten, an der die rechte Felswand beinahe gänzlich im Schatten der linken lag, wirbelte Akkarin herum und packte sie an den Schultern.

Sonea, die erriet, was er vorhatte, spannte die Muskeln ihrer Beine an. Und tatsächlich, kurz darauf schwebten sie aufwärts, gestützt von einer Scheibe aus Magie unter ihren Füßen. Sie zwang sich, den Blick abzuwenden, denn sie war sich Akkarins Nähe plötzlich überdeutlich bewusst.

Kurz vor dem Grat ließ Akkarin die magische Scheibe innehalten und spähte zur anderen Seite hinüber. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ihnen hier keine Gefahr drohte, ließ er sie über die Felskante schweben, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten.

Sonea sah sich entsetzt um. Der Hang war nicht so steil wie die Felswand unter ihnen, aber sie konnte sich trotzdem nicht vorstellen, wie sie den Aufstieg bewältigen sollten. Risse im Stein und gezackte Vorsprünge durchbrachen die Oberfläche, und an anderen Stellen war der Fels so glatt, dass man ihn ihrer Meinung nach unmöglich bezwingen konnte. Wie sollten sie sich hier zurechtfinden, wenn ihre einzige Lichtquelle der Mond war?

Akkarin machte sich auf den Weg über den Hang. Sonea holte tief Luft, dann folgte sie ihm. In den nächsten Stunden war sie vollauf damit beschäftigt, über Felsvorsprünge zu klettern, über Spalten im Gestein zu springen und bei alledem ihr Gleichgewicht zu bewahren. Sie verlor jedes Zeitgefühl. Es war einfacher, Akkarin blindlings zu folgen und nur darüber nachzudenken, wie sie das nächste Hindernis bewältigen konnte.

Der Mond stand sehr viel höher am Himmel, und Sonea hatte mehrmals ihre müden Muskeln geheilt, als Akkarin endlich auf dem Grat eines Felskamms Halt machte. Sie vermutete, dass er auf eine besonders große Felsspalte oder etwas Ähnliches gestoßen war, aber als sie zu ihm hinübersah, blickte er über ihre Schulter in die Ferne.

Plötzlich packte er sie an den Armen und zog sie zu Boden. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

»Bleib unten«, sagte er drängend. Er schaute hinter sich. »Man konnte unsere Silhouetten vor dem Himmel sehen.«

Mit rasendem Puls hockte sie neben ihm. Er starrte in die Richtung, aus der sie gekommen waren, dann zeigte er auf den zerklüfteten Hang vor ihnen. Sie suchte nach dem Grund für seinen Argwohn, konnte aber nichts entdecken und schüttelte schließlich den Kopf.

»Wo?«

»Er versteckt sich hinter diesem Felsen, der wie ein Mullook geformt ist«, murmelte er. »Warte einen Moment… da.«

Etwa fünf- oder sechshundert Schritte entfernt nahm sie einen Schatten wahr, der sich bewegte. Er sprang mit der Sicherheit langer Übung über den Berghang.

»Wer ist das?«

»Zweifellos einer von Karikos Verbündeten«, murmelte Akkarin.

Ein Ichani, dachte Sonea. So bald schon. Wir sind noch nicht so weit, einem von ihnen gegenüberzutreten. Akkarin ist nicht stark genug. Ihr Herz schlug zu schnell, und ihr war übel vor Angst.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Akkarin. »Im Moment haben wir eine Stunde Vorsprung vor ihm. Es muss mehr werden.«

Immer noch in geduckter Haltung bewegte er sich entlang des Grats bis zu einer Stelle, wo eine Felsplatte halb über einer anderen lag und nur eine kleine Öffnung freiließ. Er schob sich hindurch, dann richtete er sich auf und rannte auf der anderen Seite des Grats hinunter. Sonea eilte ihm nach, und irgendwie gelang es ihr, trotz der Steine, die unter ihren Stiefeln wegrutschten, das Gleichgewicht zu halten.

Jetzt brauchte sie all ihre Konzentration, um mit ihm Schritt zu halten. Er lief um Felsbrocken herum, rannte über kleine Hänge und blieb kaum einen Moment stehen, bevor er über Felsspalten sprang. Jeder Schritt stellte Soneas Reflexe von Neuem auf die Probe.

Als Akkarin das nächste Mal im Schatten eines riesigen, runden Felsens stehen blieb, wäre sie um ein Haar mit ihm zusammengeprallt. Akkarin starrte abermals in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und Sonea drehte sich um, um nach ihrem Verfolger Ausschau zu halten. Kurz darauf hatte sie ihn entdeckt. Entsetzt stellte sie fest, dass der Abstand zwischen ihnen sich nicht vergrößert hatte.

Zumindest ist er nicht näher gekommen, sagte sie sich.

»Es wird Zeit, ihn von unserer Spur abzulenken«, murmelte Akkarin und ging um den Felsen herum. Sonea stockte der Atem, als sie die tiefe Schlucht zu ihren Füßen sah. An dem Punkt, an dem sie jetzt standen, war die Schlucht etwa zwanzig Schritte breit.

»Ich werde etwa eine Viertelstunde lang nach links gehen, bis ich den Abgrund erreiche. Er wird vermuten, dass wir in die Schlucht hinuntergestiegen sind. Du schwebst zur anderen Seite hinüber und gehst dann parallel zu den Bergen weiter. Halt dich so weit wie möglich im Schatten, selbst wenn du dadurch langsamer vorankommst.«

Sie nickte. Akkarin wandte sich ab und war kurz darauf in der Nacht verschwunden. Einen Moment lang machte es ihr furchtbare Angst, allein gelassen zu werden, aber dann holte sie tief Luft und schob ihre Furcht beiseite.

Sie richtete sich auf, schuf eine Scheibe aus Magie und erhob sich in die Luft. Als sie über den Abgrund hinwegglitt, blickte sie hinab. Die Schlucht war sehr tief. Sie richtete den Blick auf die andere Seite und setzte ihren Weg fort. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, seufzte sie erleichtert auf. Sie hatte noch nie unter Höhenangst gelitten, aber neben dem Abgrund, den sie soeben überquert hatte, nahmen sich selbst die höchsten Gebäude Imardins wie die Treppen zur Universität aus.

Es war überraschend einfach, sich im Schatten zu halten. Der Mond stand direkt über ihr, aber der Hang war hier zu gigantischen Stufen erodiert. Die nächste davon schien die naheliegendste Fortsetzung ihres Weges zu sein. Also stieg sie zur nächsten Stufe hinunter.

Allein die Notwendigkeit, sich im Schatten zu halten, bedeutete allerdings, dass sie schlechter sehen konnte. Mehr als einmal wäre sie um ein Haar in eine Felsspalte gestürzt. Nachdem sie endlose Zeit gelaufen war, blickte sie zum Himmel auf und sah, dass der Mond jetzt beinahe die Gipfel über ihr erreicht hatte.

Wieder regte sich Furcht in ihr, als ihr bewusst wurde, wie viel Zeit vergangen war, seit Akkarin sie verlassen hatte. Sie bedachte noch einmal seinen Plan. Wenn er eine Viertelstunde an der linken Seite der Schlucht entlangging, brauchte er noch einmal eine Viertelstunde für den Rückweg, was bedeutete, dass er eine halbe Stunde hinter ihr war. Was, wenn Akkarin sich verrechnet hatte? Was, wenn der Verfolger nur eine halbe Stunde hinter ihnen gelegen hatte, statt einer ganzen Stunde? Dann hatten Akkarin und der Ichani die Schlucht vielleicht gleichzeitig erreicht…

Ihr wurde bewusst, dass sie langsamer geworden war, und sie zwang sich, ihren Schritt zu beschleunigen. Akkarin war nicht tot. Wenn der Ichani ihn gefangen genommen hätte, hätte er nach ihr gerufen, um sie zu warnen.

Aber was war, wenn er sie mit einer List dazu gebracht hatte, ihn zu verlassen?

Mach dich nicht lächerlich, schalt sie sich. Er würde dich niemals den Ichani ausliefern.

Es sei denn… es sei denn, er hatte den Verfolger weggelockt, um sie zu retten, weil er wusste, dass der Ichani ihn einholen und töten würde.

Sie blieb stehen und sah hinter sich. Weit reichte ihr Blick nicht, dazu war der Berg zu zerklüftet. Seufzend zwang sie sich weiterzugehen. Hör auf zu grübeln, dachte sie. Konzentrier dich.

Sie wiederholte die Worte so lange, bis sie sich in ihrem Kopf zu einer Art von Gesang formten. Nach einer Weile ertappte sie sich dabei, dass sie sie wie eine Beschwörung lautlos mit den Lippen formte. Der Rhythmus der Worte trug sie weiter, von einem Schritt zum nächsten. Dann bog sie um einen Felsvorsprung und trat in einen Abgrund.

Sie riss die Arme hoch und schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich an der Felswand festzuhalten.

Mit hämmerndem Herzen zog sie sich wieder hinauf. Eine riesige Schlucht versperrte ihren Weg. Keuchend vor Angst und Anstrengung starrte sie zur gegenüberliegenden Felswand hinüber und versuchte zu entscheiden, was sie als Nächstes tun sollte. Sie könnte zur anderen Seite hinüberschweben, aber während sie das tat, würde sie deutlich zu sehen sein.

Der Klang hastiger Schritte hinter ihr war alles an Warnung, was ihr zuteil wurde. Sie wollte sich umdrehen, aber etwas stieß von hinten gegen sie, dann presste sich eine Hand auf ihren Mund, um ihren Schrei zu ersticken. Sie stürzte nach vorn, über den Rand des Abgrunds.

Im nächsten Moment war sie von Magie umgeben und spürte, wie ihr Sturz sich verlangsamte. Gleichzeitig erkannte sie einen vertrauten Geruch.

Akkarin.

Er hielt sie fest an sich gedrückt. Sie drehten sich in der Luft um und stiegen langsam empor. Die rissige Wand der Schlucht zog an ihnen vorbei, dann war vor ihnen plötzlich Schwärze. Dort schwebten sie hinein.

Ihre Füße trafen auf einen unebenen Grund, und als Akkarin sie losließ, riss sie die Arme hoch, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Sie fühlte sich benommen und schwindlig und kämpfte einen seltsamen Drang zu lachen nieder.

»Gib mir deine Kraft.«

Akkarin war ein Schatten in der Dunkelheit, und seine Stimme klang befehlend. Sie mühte sich, ein wenig Kontrolle über ihre Atmung zurückzugewinnen.

»Ich -«

»Sofort!«, sagte er drängend. »Der Ichani kann es spüren. Schnell.«

Sie streckte die Hände aus. Seine Finger berührten die ihren, dann umschlang er ihre Hände. Sie schloss die Augen und sandte einen stetigen Strom von Energie aus. Als ihr die Bedeutung dessen bewusst wurde, was Akkarin gesagt hatte, beschleunigte sie den Strom, bis die Energie förmlich aus ihr heraussprudelte.

»Genug, Sonea.«

Sie öffnete die Augen, und eine Woge der Erschöpfung schlug über ihr zusammen.

»Du hast mir zu viel gegeben«, sagte er. »Du hast dich ermüdet.«

Sie gähnte. »Ich brauche die Energie nicht.«

»Nein? Wie willst du dann jetzt weitergehen?« Er seufzte. »Ich könnte dich wahrscheinlich heilen, aber… vielleicht sollten wir einfach hier bleiben. Wenn er gesehen hätte, in welche Richtung wir gegangen sind, wäre er uns mittlerweile gefolgt. Und wir haben seit Tagen nicht mehr geschlafen.«

Sonea schauderte und blickte auf. »Er war mir so nahe?«

»Ja. Ich habe einen anderen Weg genommen als ihr beiden, deshalb konnte ich ihn beobachten. Mir ist aufgefallen, dass er dir mühelos gefolgt ist, meine Spur jedoch nicht aufgenommen hat, obwohl ich deinen Weg mehrmals gekreuzt habe. Als ich nahe genug war, um ihn zu beobachten, hat sein Verhalten mir klar gemacht, dass er dich spüren konnte. Also habe ich mich konzentriert und festgestellt, dass ich es ebenfalls konnte. Du bist nicht daran gewöhnt, zusätzliche Energie aufzunehmen, so dass du keine absolute Kontrolle darüber hattest.«

»Oh.«

»Glücklicherweise konnte ich dich einholen, als du diese Felsspalte erreicht hast. Einen Moment später, und er hätte dich gefunden.«

»Oh.«

»Du wirst hier schlafen, während ich Wache halte.«

Sie seufzte vor Erleichterung. Sie war schon, bevor sie ihm all ihre Kraft gegeben hatte, bis auf die Knochen erschöpft gewesen. Eine winzige Lichtkugel erschien und offenbarte, dass sich der Riss ein Stück in den Fels hineinzog. Der Boden war mit großen Steinen übersät. Obwohl Sonea sich verzweifelt wünschte, sich hinlegen und schlafen zu können, betrachtete sie jetzt entsetzt den Boden.

Nachdem sie ein relativ ebenes Fleckchen gefunden hatte, füllte sie einige Vertiefungen mit kleineren Steinen, dann legte sie sich nieder. Es war nicht sehr bequem. Sie lächelte schief und dachte daran, dass sie vor langer Zeit auf dem Fußboden von Rothens Gästezimmer geschlafen hatte, weil sie nicht an weiche Betten gewöhnt war.

Akkarin setzte sich in die Nähe des Eingangs. Seine Lichtkugel erlosch wieder, und Sonea fragte sich, wie sie jemals Schlaf finden sollte, solange sie wusste, dass ganz in der Nähe ein Ichani nach ihnen suchte.

Aber die Erschöpfung gewann die Oberhand über ihre Angst und die scharfen Kanten der Steine, und schon bald wanderten ihre Gedanken fort von allen Sorgen des Augenblicks.

22 Ein Meinungsaustausch

Von außen waren über den hohen, runden Mauern, die den Palast umgaben, nur dessen Türme zu sehen. Als die Kutsche der Gilde in die Ringstraße einbog, die um die Mauer herumführte, blickte Lorlen auf, und ein Stich der Furcht durchzuckte ihn. Sein letzter Besuch im Palast lag viele Jahre zurück. Um die Angelegenheiten, die es zwischen dem König und der Gilde zu besprechen galt, kümmerte sich stets der Hohe Lord. Obwohl zwei Magier – die Ratgeber des Königs – dem Monarchen täglich aufwarteten, bestand ihre Aufgabe darin, zu schützen und zu beraten, nicht hingegen darin, Befehle bezüglich der Gilde zu empfangen oder auszuführen. Jetzt, da Akkarin fort war, oblagen die Pflichten des Hohen Lords dem Administrator.

Als hätte ich nicht schon genug zu tun, dachte Lorlen. Heute jedoch hatte der König darum gebeten, dass alle höheren Magier sich im Palast einfanden. Lorlen betrachtete seine Begleiter.

Während Lady Vinara vollkommen ruhig wirkte, zeigte Lord Sarrins Gesicht einen sorgenvollen Ausdruck. Auslandsadministrator Kito trommelte mit den Fingern der einen Hand auf die andere. Lorlen war sich nicht sicher, ob dies ein Zeichen von Nervosität oder von Ungeduld war. Nicht zum ersten Mal wünschte er, dass Kitos Pflichten ihn nicht so häufig von der Gilde weggeführt hätten. Wenn er Kito besser gekannt hätte, wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, an diesen kleinen Gewohnheiten die Stimmung des Mannes abzulesen.

Die Kutsche verlangsamte ihre Fahrt und bog dann in die Auffahrt zum Palast ein. Zwei riesige, geschwärzte Eisentore schwangen nach innen auf, ein jedes bemannt von zwei Wachposten. Mehrere andere Wachen, die zu beiden Seiten des Eingangs standen, verneigten sich, als Lorlens Kutsche in einen großen, umfriedeten Innenhof fuhr.

Im Hof verteilt standen stolz die Statuen früherer Könige. Vor den prächtigen Palasttoren kam die Kutsche schließlich zum Stehen. Als Lorlen ausstieg, trat ein Wachmann vor und verbeugte sich.

Lorlen beobachtete, wie die zweite Kutsche der Gilde hinter der ersten hielt, dann ging er auf den Begrüßer an den Toren zu. Die Aufgabe der Grüßer bestand darin, jeden Besucher des Palastes mit geziemender Förmlichkeit willkommen zu heißen und später einen Bericht zu verfassen. Als Kind hatte Lorlen zu seiner Faszination gehört, dass die Grüßer ihre eigene Kurzschrift entwickelt hatten, um diesen Prozess zu beschleunigen.

Der Mann verneigte sich elegant.

»Administrator Lorlen. Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen.« Der Blick seiner wachsamen Augen bewegte sich von einem Magier zum anderen, während er jeden von ihnen begrüßte. »Willkommen im Palast.«

»Vielen Dank«, erwiderte Lorlen. »Der König hat uns hergerufen.«

»Man hat mich davon in Kenntnis gesetzt.« Der Mann hielt in einer Hand ein kleines Brett. Aus einem Schlitz an der Seite zog er ein quadratisches Stück Papier und schrieb mit einem Tintenstock mehrere schnelle Zeichen darauf. Ein Junge, der in der Nähe wartete, eilte herbei, verneigte sich und nahm das Papier entgegen.

»Euer Führer«, sagte der Grüßer. »Er wird Euch jetzt zu Seiner Majestät König Merin bringen.«

Der Junge huschte zu einer der riesigen Palasttüren hinüber, zog sie auf und trat dann beiseite. Lorlen ging den anderen Magiern voran in die Eingangshalle des Palastes.

Sie war einer der Hallen in der Universität nachgebildet. Einige sehr zierlich wirkende Wendeltreppen führten von der Halle in das darüberliegende Geschoss. Es gab jedoch noch viele weitere solcher Treppen im Palast; sie waren alle mit Gold geschmückt und wurden jeweils von mehreren herabhängenden Lampen erhellt. In der Mitte des Raums klickte und sirrte ein kunstvoll gearbeiteter Zeitmesser. Sie folgten dem Jungen eine Treppe hinauf.

Ihr Führer geleitete sie durch hohe Türen, breite Korridore und Hallen. Nachdem sie eine weitere lange, schmale Treppe hinaufgestiegen waren, gelangten sie zu einer Tür von gewöhnlicher Größe, die von zwei Wachen versperrt wurde. Der Junge bat sie zu warten, dann schlüpfte er an den Wachen vorbei. Nach kurzer Zeit kam er zurück und erklärte, dass der König sie empfangen wolle.

Als Lorlen in den Raum dahinter trat, erregten die hohen, schmalen Fenster sofort seine Aufmerksamkeit. Sie gaben den Blick auf die gesamte Stadt und das umliegende Land frei. Er begriff, dass sie sich in einem der Palasttürme befanden. Als er nach Norden blickte, erwartete er beinahe, eine dunkle Linie von Bergen zu sehen, aber natürlich lag die Grenze weit jenseits des Horizonts.

Der König saß in einem großen, bequemen Sessel auf der gegenüberliegenden Seite des Raums. Die Ratgeber des Königs standen links und rechts von ihm, und ihre Mienen waren wachsam und ernst. Lord Mirken war der Ältere von beiden. Lord Rolden und der König waren fast gleichaltrig, und Lorlen wusste, dass Rolden dem König ebenso ein Freund war wie ein Beschützer.

»Euer Majestät«, sagte Lorlen. Er ließ sich auf ein Knie nieder und hörte das Rascheln von Roben hinter sich, als die anderen höheren Magier seinem Beispiel folgten.

»Administrator Lorlen«, erwiderte der König, »und höhere Magier der Gilde. Steht bequem.«

Lorlen und die anderen erhoben sich.

»Ich wünsche, mit Euch und Euren Kollegen die Behauptungen des ehemaligen Hohen Lords zu erörtern«, fuhr der König fort. Sein Blick wanderte von einem Magier zum nächsten, dann runzelte er die Stirn. »Wo ist Lord Balkan?«

»Das Oberhaupt der Krieger ist noch in der Nordfestung, Euer Majestät«, erklärte Lorlen, »ebenso wie die Magier, die Akkarin zur Grenze eskortiert haben.«

»Wann wird Lord Balkan zurückkehren?«

»Er beabsichtigt, im Fort zu bleiben für den Fall, dass Akkarin versuchen sollte, über diesen Weg nach Kyralia zurückzukehren. Allerdings hat er noch einen zweiten Grund für sein Verhalten: Falls sich Akkarins Worte als wahr erweisen und diese Ichani versuchen sollten, nach Kyralia einzudringen, wäre es ebenfalls gut, wenn Balkan noch dort wäre.«

Das Stirnrunzeln des Königs vertiefte sich. »Ich brauche ihn hier, wo ich mich mit ihm beraten kann.« Er zögerte. »Meine Ratgeber haben mir gesagt, Ihr hättet Befehl gegeben, dass für die nächste Zeit keine Gedankenrede mehr benutzt werden dürfe. Was ist der Grund dafür?«

»Gestern Nacht hörte ich die Gedankenstimme eines mir unbekannten Magiers.« Bei der Erinnerung daran überlief Lorlen ein Frösteln. »Er schien ein Gespräch belauscht zu haben, das ich mit meinem Assistenten führte.«

Der König kniff die Augen zusammen. »Was hat dieser Fremde gesagt?«

»Ich hatte Lord Osen für die Information gedankt, dass Akkarin und Sonea nunmehr auf sachakanischem Boden seien. Der Fremde wiederholte den Dank.«

»Das ist alles, was dieser Fremde gesagt hat?«

»Ja.«

»Ihr könnt jedoch nicht wissen, ob dieser Fremde ein Ichani war.« Der König klopfte mit den Fingern auf die Armlehne seines Sessels. »Aber wenn die Ichani tatsächlich existieren und Eure Gespräche belauscht hätten, könnten sie während der vergangenen Tage sehr viel erfahren haben.«

»Ja, bedauerlicherweise.«

»Und wenn ich Lord Balkan zurückbeordere, würden sie das ebenfalls hören. Wenn Balkan seine Krieger verlässt und nach Hause zurückkehrt, werden sie dann auch ohne ihn in der Lage sein, das Fort gegen einen Angriff zu verteidigen?«

»Ich könnte ihn fragen, aber wenn seine Antwort ein Nein ist und er dennoch aufbricht, würde jeder, der dieses Gespräch belauscht, wissen, dass das Fort schwach ist.«

Der König nickte. »Ich verstehe. Sprecht mit ihm. Wenn er das Gefühl hat, nicht gehen zu können, dann muss er bleiben.«

Lorlen sandte einen Gedankenruf an Balkan. Die Antwort kam sofort.

Lorlen?

Wenn Ihr nach Imardin zurückkehrt, werden Eure Männer dann in der Lage sein, das Fort zu verteidigen?

Ja. Ich habe Lord Makin beigebracht, wie er sie gegen einen schwarzen Magier einsetzen kann.

Gut. Dann kommt unverzüglich zurück. Der König wünscht Euren Rat.

Ich werde in einer Stunde aufbrechen.

Lorlen nickte und sah den König an. »Er ist zuversichtlich, dass sie das Fort verteidigen können. Er sollte in zwei oder drei Tagen hier sein.«

Der König nickte zufrieden. »Und nun erzählt mir mehr über Eure Nachforschungen.«

Lorlen verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Während der letzten Tage haben wir einige Kaufleute ausfindig gemacht, die Sachaka in der Vergangenheit bereist haben, und einer von ihnen erinnert sich tatsächlich an den Ausdruck ›Ichani‹. Er sagte, es bedeute so viel wie ›Bandit‹ oder ›Räuber‹. Es ist bekannt, dass in den Ödländern immer wieder Kaufleute und ihre Besitztümer verschwinden. Man ist davon ausgegangen, dass diese Kaufleute sich verirrt haben. Das ist alles, was wir wissen. Wir schicken drei Magier nach Sachaka, um weitere Informationen zu sammeln. Sie werden in wenigen Tagen aufbrechen.«

»Und welche Vorbereitungen zur Verteidigung Imardins habt Ihr getroffen, für den Fall, dass Akkarins Geschichte der Wahrheit entspricht?«

Lorlen wandte sich zu den anderen Magiern um. »Wenn er die Wahrheit gesagt hat und diese Ichani mehrere hundert Male stärker sind als ein einzelner Magier der Gilde, weiß ich nicht, ob es überhaupt etwas gibt, das wir tun könnten. Wir sind über dreihundert Magier, wenn wir die Magier, die in anderen Ländern leben, einschließen. Akkarin schätzte, dass es zehn bis zwanzig Ichani gebe. Selbst wenn es nur zehn wären, müssten wir die Zahl unserer Magier um mehr als das Dreifache vergrößern, bevor wir gegen eine so starke Streitmacht bestehen könnten. Obwohl es in den unteren Klassen durchaus magisches Potenzial gibt, bezweifle ich, dass wir siebenhundert neue Magier finden könnten – und erst recht könnten wir sie nicht schnell genug ausbilden.«

Der König war ein wenig blasser geworden. »Gibt es denn keine andere Möglichkeit?«

Lorlen zögerte. »Es gibt eine Möglichkeit, aber diese birgt ihre eigenen Gefahren.«

Der König bedeutete Lorlen, weiterzusprechen.

Lorlen wandte sich zu Lord Sarrin um. »Das Oberhaupt der Alchemisten hat Akkarins Bücher studiert. Was er daraus erfahren hat, war ebenso beunruhigend wie erhellend.«

»Wie das, Lord Sarrin?«

Der alte Magier trat vor. »Die Bücher offenbaren, dass schwarze Magie erst vor fünf Jahrhunderten durch die Gilde verboten wurde. Zuvor war sie allgemein gebräuchlich und bekannt als ›höhere Magie‹. Nach ihrer Ächtung wurden die Chroniken umgeschrieben oder vernichtet, um alle Hinweise auf höhere Magie zu tilgen. Die Bücher in Akkarins Besitz waren unter der Universität vergraben worden, als Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass Kyralia noch einmal einem mächtigen Feind gegenüberstehen sollte.«

»Also hatten Eure Vorgänger die Absicht, dass die Gilde schwarze Magie wieder erlernen sollte, falls ihr Gefahr drohte?«

»So sieht es aus.«

Der König dachte darüber nach. Die Wachsamkeit und Furcht in den Zügen des Monarchen gefiel Lorlen. Keinem Herrscher würde der Gedanke behagen, Magiern potenziell unbegrenzte Macht zu geben.

»Wie lange würde das dauern?«

Sarrin breitete die Hände aus. »Ich weiß es nicht. Mehr als einen Tag. Ich glaube, Sonea hat es binnen einer Woche gelernt, aber mit Leitung durch Akkarin. Es könnte sich als schwieriger erweisen, diese Dinge aus Büchern lernen zu müssen.« Er hielt inne. »Ich würde eine so extreme Maßnahme nur dann empfehlen, wenn es absolut keine andere Möglichkeit gäbe.«

»Warum?«, fragte der König.

»Wir könnten uns retten, nur um am Ende gegen die verderblichen Wirkungen kämpfen zu müssen, die die schwarze Magie auf unsere eigenen Leute ausübt.«

Der König nickte. »Andererseits scheint Akkarin durch schwarze Magie nicht verdorben worden zu sein. Wenn er beabsichtigt hätte, die Gilde und mich selbst zu überwältigen, hätte er das während der letzten acht Jahre viele Male tun können.«

»Das ist wahr«, pflichtete Lorlen ihm bei. »Akkarin war mein bester Freund von dem Tag an, als wir uns als Novizen kennen lernten, und ich habe ihn niemals als unehrenhaft erlebt. Ehrgeizig, ja, aber nicht unmoralisch oder mitleidlos.« Er schüttelte den Kopf. »Die Gilde ist jedoch groß, und ich kann nicht dafür garantieren, dass alle Magier ebenso maßvoll sein würden, wenn sie Zugang zu grenzenloser Macht hätten.«

Der König nickte. »Dann sollten vielleicht nur einige wenige von Euch sie erlernen, jene, die als vertrauenswürdig eingestuft wurden… aber nur, wenn die Situation sich als verzweifelt erweisen sollte, wie Ihr sagt. Der Schlüssel dazu sind die fehlenden Beweise. Ihr müsst herausfinden, ob Akkarins Geschichte wahr ist oder unwahr.« Er sah Lorlen an. »Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«

Lorlen blickte zu den anderen hinüber, dann schüttelte er den Kopf. »Ich wünschte, wir hätten bedeutungsvollere oder tröstlichere Nachrichten für Euch, Euer Majestät, aber bisher haben wir noch nichts in der Hand.«

»Dann dürfen die Übrigen von Euch sich jetzt zurückziehen. Bleibt noch eine Weile bei mir, Administrator. Ich hätte noch einige Fragen bezüglich Akkarins und seiner Novizin.«

Lorlen trat beiseite und nickte den anderen zu. Sie knieten kurz nieder, dann verließen sie den Raum. Auf ein Zeichen des Königs zogen die Ratgeber sich leise zu den Stühlen neben der Tür zurück. Der König erhob sich und trat vor das Nordfenster.

Lorlen folgte ihm in respektvollem Abstand. Der Monarch stützte sich auf das Fenstersims und seufzte.

»Akkarin war stets ehrenwert; ich habe niemals etwas anderes bei ihm erlebt«, murmelte er. »Zum ersten Mal hoffe ich, dass ich mich in ihm geirrt und mich als Narr erwiesen habe.«

»Das Gleiche gilt für mich, Euer Majestät«, erwiderte Lorlen. »Wenn er die Wahrheit gesagt hat, haben wir soeben unseren besten Verbündeten unserem Feind in die Hände gespielt.«

Der König nickte. »Trotzdem musste es sein. Ich hoffe wirklich, dass er überlebt, Administrator, und nicht nur, weil wir ihn vielleicht brauchen werden. Auch ich habe ihn als einen guten Freund geschätzt.«


Schmerz war das Erste, was Sonea wahrnahm, als sie erwachte. Am schlimmsten waren ihr Rücken und ihre Beine, aber auch ihre Schultern und Arme fühlten sich wund und zerschunden an. Als sie sich darauf konzentrierte, stellte sie fest, dass es das Brennen von Muskeln war, die an derartige Strapazen nicht gewöhnt waren, und die Verspannungen anderer Muskeln, die sich gegen die harte Oberfläche versteift hatten, auf der sie lag.

Sie nahm ein wenig von ihrer Energie und vertrieb das Unbehagen mit ihren Heilkräften. Als der Schmerz verebbte, wurde sie sich eines nagenden Hungergefühls bewusst. Sie überlegte, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte, und das karge Mahl am vergangenen Abend fiel ihr wieder ein.

Ich war mit Akkarin in einer Höhle. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann.

Sie öffnete die Augen einen Spaltbreit. Zwei Wände aus Stein verjüngten sich nach oben hin, bis sie zu einem Dreieck zusammenliefen. Die Höhle. Mit halb geschlossenen Augen sah sie zum Eingang hinüber. Akkarin saß nur wenige Schritte entfernt. Jetzt drehte er sich zu ihr um, und seine Lippen verzogen sich zu dem schiefen Halblächeln, das ihr so vertraut war.

Er lächelt mich an.

Sie wusste nicht, ob er sehen konnte, dass sie wach war, und sie wollte nicht, dass er aufhörte zu lächeln, deshalb verhielt sie sich vollkommen still. Er schaute weiter zu ihr hinüber, bis er schließlich seufzend den Blick abwandte und an die Stelle des Lächelns ein besorgtes Stirnrunzeln trat.

Sie ließ die Lider wieder sinken. Sie sollte aufstehen, aber sie wollte sich nicht bewegen. Sobald sie das tat, würde der Tag beginnen, und sie wusste, was er bringen würde: neue Gewaltmärsche durchs Gebirge und eine Fortsetzung ihrer Flucht vor dem Ichani. Und Akkarin würde ihr wieder mit der gewohnten Kälte begegnen.

Sie öffnete die Augen vollends und betrachtete ihn genauer. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt, und unter den Augen lagen bläuliche Ringe. Winzige, dunkle Bartstoppeln betonten das eckige Kinn und die hervortretenden Wangenknochen. Er sah dünn und müde aus. Hatte er überhaupt geschlafen? Oder hatte er die ganze Nacht über sie gewacht?

Plötzlich trafen sich ihre Blicke, und ein missbilligender Ausdruck trat in seine Züge.

»Ah. Du bist endlich wach.« Er erhob sich. »Steh auf. Wir müssen so viel Abstand wie möglich zwischen uns und den Pass legen.«

Dir auch einen guten Morgen, dachte Sonea. Sie rollte sich herum und zog sich unsicher auf die Füße.

»Wie spät ist es?«

»Die Sonne geht bald unter.«

Sie hatte den ganzen Tag geschlafen. Noch einmal musterte sie die Schatten unter seinen Augen.

»Habt Ihr etwas geschlafen?«

»Ich habe Wache gehalten.«

»Wir sollten uns bei der Wache abwechseln.«

Er antwortete nicht. Sie ging zum Eingang der Höhle hinüber. Bei dem Anblick des steilen Abgrunds wurde ihr schwindlig. Akkarin legte ihr eine Hand auf die Schulter, und sie spürte die Vibration von Magie unter ihren Füßen.

»Lasst mich das tun«, erbot sie sich.

Er ignorierte sie. Dann wurden sie von Magie emporgetragen. Sonea beobachtete Akkarins Gesicht, als sie langsam aufwärts stiegen, und ihr fiel seine Anspannung auf. Morgen Abend würde sie darauf bestehen, die erste Wache zu übernehmen, beschloss sie. Offenkundig konnte sie sich nicht darauf verlassen, dass er sie wecken würde, damit er selbst schlafen konnte.

Als er sie oben auf dem Felsen wieder absetzte, nahm er die Hand von ihrer Schulter. Er machte sich daran, den Boden abzusuchen, und Sonea folgte ihm. Da sie vermutete, dass er nach Spuren des Ichani Ausschau hielt, ließ sie sich ein wenig zurückfallen. Nachdem er einige hundert Schritte den Berg hinaufgestiegen war, blieb er stehen, kam zu ihr zurück und blickte in die entgegengesetzte Richtung.

Sonea drehte sich ebenfalls um und sog voller Staunen die Luft ein. Vor ihr breitete sich das Ödland aus. Obwohl das Licht der Dämmerung das Bild ein wenig dämpfte, waren die Farben des Landes trotzdem ungeheuer lebhaft.

Dunkle, rostfarbene Erde grenzte an den Fuß der Berge, aber dort, wo Flüsse das Land unterspült hatten, waren schwarze und hellgelbe Streifen zu sehen. Wenn sie genau hinschaute, konnte sie auf der Oberfläche sogar hier und da Grasbüschel erkennen und kleine, spärliche Wäldchen, deren Bäume sich im Wind bogen.

Es war eine trostlose Landschaft, die jedoch gleichzeitig eine wilde Schönheit barg. Die Farben waren so intensiv und fremdartig. Selbst der Himmel schien von einem anderen Blau zu sein als in Kyralia.

»Es ist so, wie ich befürchtet habe. Er ist nach Süden weitergegangen, statt in die Ödländer hinabzusteigen.«

Als sie sah, dass Akkarin wieder auf sie zukam, blinzelte sie überrascht. Er ging an ihr vorbei und setzte seinen Weg den Hang hinauf fort. Seufzend eilte sie ihm nach.

Ein anstrengender Aufstieg folgte. Statt zu schweben zog Akkarin es vor, die sich überlagernden Felsschichten hinaufzuklettern. Er blieb nicht stehen, um sich auszuruhen, und als die letzten Sonnenstrahlen über den Bergen erloschen waren, war Sonea einmal mehr vollkommen erschöpft, und ihre Glieder schmerzten.

Schon bald sehnte sie sich nach der Erleichterung, einfach nur still dastehen zu dürfen. Oder zumindest in der Lage zu sein, mit Akkarins langen Schritten mitzuhalten. Wenn sie ihn dazu bringen konnte, mit ihr zu reden, würde er vielleicht für kurze Zeit sein Tempo drosseln.

»Wohin gehen wir?«

Akkarin zögerte, blieb jedoch nicht stehen und drehte sich auch nicht zu ihr um.

»Weg von dem Pass.«

»Und dann?«

»Irgendwohin, wo wir in Sicherheit sind.«

»Habt Ihr einen bestimmten Ort im Sinn?«

»Ich will nur irgendwohin, wo wir weit weg sind von Sachaka und den Verbündeten Ländern.«

Sonea hielt inne und starrte auf Akkarins Rücken. Weg von Sachaka und Kyralia? Er hatte nicht die Absicht, in der Nähe zu bleiben, damit er der Gilde beistehen konnte, wenn die Ichani angriffen? Er würde Kyralia doch gewiss nicht im Stich lassen?

Es ergab jedoch durchaus Sinn. Was sonst konnten sie tun? Sie waren nicht stark genug, um gegen die Ichani zu kämpfen – ebenso wenig wie die Gilde. Und die Gilde würde ihre Hilfe ohnehin nicht annehmen. Was für eine Rolle spielte es da, ob sie blieben oder nicht?

Trotzdem konnte sie nicht glauben, dass er so leicht aufgab. Sie konnte nicht so leicht aufgeben. Sie würde kämpfen, selbst wenn das bedeutete, dass sie diesen Kampf wahrscheinlich verlor.

Aber wenn das bedeutete, dass sie Akkarin verlassen musste…?

Akkarin drehte sich zu ihr um. »Genau genommen habe ich die Absicht, Karikos Gruppe zu finden und selbst ein wenig zu spionieren«, erklärte er. »Wenn ich sie finde, werde ich ein Bild dessen, was ich sehe, an die Gilde schicken.«

Sonea blinzelte, dann schüttelte sie den Kopf. Er hatte sie also auf die Probe gestellt. Diese Erkenntnis erfüllte sie gleichzeitig mit Erleichterung und Zorn. Dann dachte sie über seine Worte nach, und das Blut gefror ihr in den Adern.

»Die Ichani werden Euch hören. Sie werden wissen, dass Ihr sie beobachtet«, wandte sie ein. »Sie werden -«

Er blieb stehen und wandte sich zu ihr um. »Warum bist du mitgekommen, Sonea?«

Sonea starrte ihn an. Seine Augen glitzerten gefährlich. Zuerst war sie gekränkt, dann wütend.

»Ihr braucht mich dringender, als die Gilde es tut«, beschied sie ihm.

Seine Augen wurden schmal. »Dich brauchen? Ich brauche keine halb ausgebildete, ungehorsame Novizin, die ich beschützen muss.«

Ungehorsam. Deshalb ist er also so wütend. Sie straffte sich. »Wenn Ihr tatsächlich die Absicht habt, diesen schlecht durchdachten Plan in die Tat umzusetzen, dann braucht Ihr mich wahrhaftig«, gab sie zurück.

Sein Blick flackerte kurz, aber seine Miene wurde nicht weicher.

»Schlecht durchdacht oder nicht, warum sollte ich dich in meine Pläne einschließen, wenn es dir so sehr widerstrebt, sie zu befolgen?«

Sie hielt seinem Blick stand. »Es widerstrebt mir nur, Plänen zu folgen, die zu Eurem Tod führen werden.«

Er blinzelte, dann sah er sie durchdringend an. Auch diesmal wich sie seinem Blick nicht aus. Schließlich wandte er sich abrupt ab und setzte seinen Marsch fort.

»Deine Anwesenheit hat die Dinge kompliziert. Ich kann nicht tun, was ich beabsichtigt hatte. Ich werde darüber nachdenken müssen, was ich… was wir jetzt tun werden.«

Sonea eilte ihm nach. »Ihr habt doch nicht wirklich die Absicht gehabt, die Ichani auszuspionieren und der Gilde zu übermitteln, was Ihr gesehen habt?«

»Ja und nein.«

»Wenn die Ichani Euch hören, werden sie herausfinden, wo Ihr Euch versteckt.«

»Natürlich«, erwiderte er.

Und wenn sie ihn fingen, würden sie ihn nicht versklaven. Sie würden ihn töten. Plötzlich verstand Sonea, was Akkarin der Gilde hätte zeigen wollen. Ein kalter Schauer überlief sie.

»Nun, wenn Ihr ihnen das zeigt, werdet Ihr die Gilde damit eindeutig von der Existenz der Ichani überzeugen.«

Er hielt inne und straffte sich. »Ich wollte damit nicht andeuten, dass ich die Absicht hatte, mich zu opfern«, entgegnete er steif. »Die Ichani werden mich nicht hören, wenn ich mich durch Lorlen mit der Gilde in Verbindung setze.«

Lorlens Ring. Hitze stieg ihr in die Wangen. »Ich verstehe«, erwiderte sie.

Ich bin eine Närrin, dachte sie. Jedenfalls ist es mir gerade gelungen, mich wie eine Närrin aufzuführen. Vielleicht wäre es besser, wenn ich den Mund hielte.

Aber während sie den Anstieg fortsetzten, dachte sie über Akkarins Plan nach. Es gab keinen Grund, warum sie es nicht trotzdem versuchen sollten. Sie fragte sich, ob sie das Thema noch einmal anschneiden sollte, beschloss dann jedoch, bis zur nächsten Rast zu warten.

Als es immer schwieriger wurde, den Weg vor ihnen zu erkennen, erreichten sie den Fuß eines steilen Kliffs. Akkarin blieb stehen und betrachtete das Land unter ihnen. Dann ließ er sich zu Boden sinken und lehnte sich gegen das Kliff. Als Sonea sich neben ihn setzte, fing sie den schwachen Geruch seines Schweißes auf. Plötzlich war sie sich seiner Nähe und des Schweigens zwischen ihnen mit allen Sinnen bewusst. Eigentlich war dies der Zeitpunkt, zu dem sie mit ihm über sein Vorhaben, die Ichani auszuspionieren, hätte reden wollen, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden zu sprechen.

Was ist nur los mit mir?, fragte sie sich.

Liebe, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.

Nein. Mach dich nicht lächerlich, antwortete sie. Ich bin nicht verliebt. Und er ist es offensichtlich auch nicht. Ich bin eine halb ausgebildete, ungehorsame Novizin. Je eher ich mir diese törichten Ideen aus dem Kopf schlage, umso besser.

»Wir haben Gesellschaft.«

Akkarin zeigte auf einen Punkt in der Ferne. Sonea ließ den Blick über das Land gleiten, das sie in der vergangenen Nacht durchwandert hatten.

Weit unter ihnen löste sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten eines Felsens. Es war schwer zu schätzen, wie groß der Abstand zwischen ihnen war. In der Stadt hatte sie solche Entfernungen niemals abschätzen müssen.

Die Bewegungen der Gestalt waren eigenartig und eindeutig nicht die eines Menschen.

»Es ist ein Tier«, sagte sie.

»Ja«, erwiderte Akkarin. »Ein Yeel. Das ist eine kleinere, domestizierte Form des Limek. Die Ichani bilden sie aus, um Fährten zu suchen und zu jagen. Siehst du, sein Besitzer folgt dem Yeel.«

Eine zweite Gestalt trat in das Mondlicht hinaus.

»Noch ein Ichani?«

»Wahrscheinlich.«

Sonea wurde bewusst, dass ihr Herz hämmerte, aber das hatte nichts mit irgendwelchen törichten Ideen von Liebe zu tun. Ein Ichani vor ihnen, einer hinter ihnen.

»Wird er uns finden?«

»Wenn ihr Yeel unsere Fährte aufnimmt.«

Ihr Yeel? Sonea betrachtete die Gestalt genauer. Ihr Gang hatte tatsächlich etwas Weibliches, fand sie. Sie sah Akkarin an. Er runzelte die Stirn.

»Was jetzt?«

Er blickte an der steilen Felswand hinauf. »Es widerstrebt mir, dort hinaufzuschweben, weil wir damit nur Kraft vergeuden, aber weiter oben werden wir sicherer sein. Wir müssen dort einen Riss oder eine Kluft im Felsen finden, um uns zu verstecken.«

»Und dann?«

»Machen wir uns auf die Suche nach Wasser und etwas zu essen.«

»Dort oben?«, fragte sie skeptisch.

»Wenn man weiß, wo man suchen muss, kann man überall ein wenig Leben finden. Und je weiter wir nach Süden kommen, desto einfacher wird es werden.«

»Dann gehen wir also nach Süden?«

»Ja. Nach Süden.«

Er erhob sich und hielt ihr die Hand hin. Sie ergriff sie und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. Als er sich abwandte, entglitten seine Finger den ihren, und dort, wo er sie berührt hatte, nahm sie ein eigenartiges Kribbeln auf der Haut wahr. Sie sah ihre Hand an und seufzte.

Es würde nicht einfach sein, sich diese törichten Ideen aus dem Kopf zu schlagen.


Als die Tür zu seinem Quartier sich schloss, stieß Dannyl einen Seufzer der Erleichterung aus. Er setzte sich in einen der Sessel in seinem Empfangsraum und dämpfte seine Lichtkugel zu einem schwachen Leuchten.

Endlich war er allein. Trotzdem fühlte er sich nicht besser als zuvor. Rastlos ging er im Raum umher und betrachtete die gerahmten Landkarten und Pläne, die er vor Jahren gesammelt und aufgehängt hatte.

Ich vermisse Tayend, dachte er. Ich vermisse den geteilten Wein und die stundenlangen Gespräche. Ich vermisse die Arbeit an unseren Nachforschungen. Ich vermisse… alles.

Er sehnte sich danach, Tayend von Akkarins Geschichte zu erzählen. Der Gelehrte würde jede Einzelheit davon erörtern und auf verborgene Ungereimtheiten oder mögliche Bedeutungen hinweisen. Er würde Dinge sehen, die andere niemals auch nur in Betracht gezogen hatten.

Aber Dannyl war froh darüber, dass Tayend nicht hier war. Wenn Akkarins Geschichte sich als wahr erweisen sollte, war es Dannyl lieber, wenn Tayend so weit wie möglich von der Gilde entfernt war.

Er ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen, was er zur Vorbereitung auf seine Aufgabe als Botschafter über schwarze Magie erfahren hatte, und erwog auch die Dinge, die er in dem Buch des Dem gelesen hatte. Mit Hilfe schwarzer Magie konnte ein Magier von einem anderen Geschöpf zusätzliche Stärke beziehen. Ein Mensch, der selbst über magische Begabung verfügte, konnte mehr Energie liefern als jemand, der diese Begabung nicht besaß – aber das bedeutete nicht, dass ein Magier unbedingt das bessere Ziel abgab. Wenn ein Magier erst einmal besiegt war, verfügte er nicht mehr über allzu viel Energie. Das lohnendste Opfer war also jemand, der zwar magisches Talent besaß, aber nicht in dessen Benutzung ausgebildet war.

Und genau das traf auf Tayend zu.

Dannyl seufzte. Er hatte das Gefühl, als würde er gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen gezogen. Obwohl er sich nichts mehr wünschte, als nach Elyne zurückzukehren und dafür zu sorgen, dass Tayend in Sicherheit war, wollte er auch Kyralia und die Gilde nicht im Stich lassen.

Er dachte an Rothen und lächelte grimmig. Früher einmal hätte ich mich dieser Gruppe von Spionen anschließen können. Jetzt zögere ich, weil ich weiß, wie ich empfinden würde, wenn Tayend zu einer so gefährlichen Mission aufbräche. Ich würde ihm das nicht antun, es sei denn, ich hätte keine andere Wahl.

Dannyl setzte sich an seinen Schreibtisch und zog einen Bogen Papier, Tinte und eine Feder hervor. Dann hielt er kurz inne, um darüber nachzudenken, wie viel er dem Papier anvertrauen durfte.

An Tayend von Tremmelin:

Wie du zweifellos gehört hast, befindet sich die Gilde in einem Zustand des Aufruhrs. Nach meiner Ankunft hier habe ich erfahren, dass der Hohe Lord wegen der Anwendung schwarzer Magie verhaftet worden war. Du wirst sicher wissen, was das für unsere Arbeit bedeutet, aber obwohl dadurch einige Probleme entstanden sind, haben sich diese Dinge bisher doch nicht als unüberwindlich erwiesen.

Anschließend legte er Akkarins Geschichte dar und erklärte, dass er nicht nach Elyne zurückkehren werde, bevor er wusste, dass der Gilde keine Gefahr drohte.

Es würde mich überraschen und nicht wenig verärgern, wenn es mir nicht möglich sein sollte, binnen der nächsten Monate zurückzukehren. Obwohl es gut tut, wieder mit Rothen sprechen zu können, habe ich nicht mehr das Gefühl, hierher zu gehören. Stattdessen komme ich mir vor wie ein Besucher, der auf die Gelegenheit wartet, wieder nach Hause zu fahren. Wenn diese Angelegenheit geregelt ist, werde ich Lorlen fragen, ob ich die Rolle des Gildenbotschafters in Elyne dauerhaft bekleiden darf.

In freundschaftlicher Verbundenheit, Botschafter Dannyl.

Dannyl lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und las den Brief noch einmal sorgfältig durch. Er war förmlicher, als es ihm gefiel, aber er wollte dem Papier keine persönlicheren Angelegenheiten anvertrauen. Wenn es in den Verbündeten Ländern Menschen wie Farand gab, die dafür bezahlt wurden, die Gedankenrede von Magiern abzuhören, musste es auch Leute geben, die die Aufgabe hatten, Post abzufangen und zu lesen.

Er stand auf und reckte sich. Es würde vielleicht Monate dauern, bevor er Kyralia verlassen konnte. Falls Akkarins Behauptungen sich als wahr erwiesen, würde die Gilde so viele Magier wie möglich in Kyralia behalten wollen. Es war durchaus denkbar, dass er für lange Zeit hier festsitzen würde.

Wenn Akkarin die Wahrheit gesagt hatte, dachte er mit einem Schaudern, werde ich vielleicht nie wieder nach Elyne zurückkehren.

23 Spione

Während sich draußen die Sommerhitze langsam ihrem Höhepunkt näherte, waren die Räume in der Universität noch immer angenehm kühl. Rothen saß entspannt in einem der großen, bequemen Sessel im Büro des Administrators und betrachtete seine Gefährten. Lord Solend, der Historiker, schien eine eigenartige Wahl für einen Spion zu sein, aber wer hätte den schläfrig wirkenden alten Mann verdächtigt, insgeheim Informationen für die Gilde zu sammeln? Der andere Spion, Lord Yikmo, war der Lehrer, der Sonea in den Kriegskünsten ausgebildet hatte.

Solend war ein Elyner und Yikmo ein Vin, so dass Rothen der einzige kyralische Magier war, der an der Mission beteiligt sein würde. Rothen erwartete, dass dieser Umstand es ihm erschweren würde, Informationen aus den Sachakanern herauszuholen – sofern ihre Abneigung gegen Kyralia wirklich so groß war, wie Akkarin behauptet hatte.

Lorlen trommelte mit den Fingern auf die Armlehne seines Sessels. Sie warteten auf einen erfahrenen Spion des Königs, der sie vor ihrem Aufbruch nach Sachaka in die Künste seines Gewerbes einführen sollte. Als es schließlich an der Tür klopfte, drehten sich alle um, um festzustellen, wer der Neuankömmling war. Ein Bote trat ein, verneigte sich und setzte Lorlen davon in Kenntnis, dass Raven aus dem Haus Tellen sich verspäten würde und um Entschuldigung bitten lasse.

Lorlen nickte. »Vielen Dank. Du darfst gehen.«

Der Bote verneigte sich abermals, dann zögerte er und sah sich um.

»Zieht es in diesem Raum häufig unerklärlicherweise, Mylord?«

Lorlen musterte den Mann eingehend. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, lächelte dann jedoch und lehnte sich in seinem Sessel zurück.

»Raven.«

Wieder verbeugte sich der Mann.

»Woher habt Ihr die Uniform?«

»Ich sammle sie.«

So sieht also ein königlicher Spion aus, ging es Rothen durch den Kopf. Er hatte jemanden erwartet, der verschlagen und intelligent wirkte. Stattdessen war Ravens Erscheinung überraschend gewöhnlich.

»Eine nützliche Angewohnheit in Eurem Beruf«, bemerkte Lorlen.

»Sehr nützlich.« Der Mann schauderte. »Wollt Ihr, dass ich die Quelle dieses Luftzugs finde?«

Lorlen nickte. Der Spion durchquerte den Raum und machte sich daran, die Mauern zu untersuchen. Nach einer Weile blieb er stehen, zog ein Nasentuch hervor, wischte damit den Rahmen eines Gemäldes ab und schob dann lächelnd die Hand dahinter.

Ein Teil der Wand glitt auf.

»Die Quelle Eures Luftzugs«, verkündete Raven. Er drehte sich zu Lorlen um, und ein Ausdruck der Enttäuschung huschte über seine Züge. »Aber ich sehe, dass Ihr das bereits wusstet.« Er bewegte abermals die Hand, und das Paneel schloss sich wieder.

»Jeder hier weiß von den Durchgängen in den Mauern der Universität«, sagte Lorlen. »Allerdings weiß nicht jeder, wo die Eingänge liegen. Es ist verboten, sie zu benutzen, obwohl ich vermute, dass der ehemalige Hohe Lord diese Regel häufig missachtet hat.«

Rothen verkniff sich ein Lächeln. Trotz der Sorglosigkeit, die Lorlen an den Tag legte, stand eine Falte zwischen seinen Augenbrauen, und er blickte immer wieder zu dem Gemälde hinüber. Rothen vermutete, dass der Administrator sich fragte, ob Akkarin ihm wohl nachspioniert haben mochte.

Raven trat vor den Schreibtisch des Administrators. »Warum ist es verboten, diese Gänge zu benutzen?«

»Sie sind an manchen Stellen nicht sicher. Wenn die Novizen Magier dabei beobachten würden, dass sie sie benutzen, würden sie sich versucht fühlen, das Gleiche zu tun – bevor sie in der Lage sind, sich gegen Einstürze zu schützen.«

Raven lächelte. »Das ist natürlich nur der offizielle Grund. In Wirklichkeit wollt Ihr nicht, dass Magier oder Novizen einander ausspionieren.«

Lorlen zuckte die Achseln. »Ich bin davon überzeugt, dass mein Vorgänger diese Möglichkeit in Betracht gezogen hat, als er diese Regel aufstellte.«

»Falls sich die Prophezeiungen Eures ehemaligen Hohen Lords als wahr erweisen sollten, werdet Ihr vielleicht den Wunsch haben, diese Regel wieder aufzuheben.« Raven sah Solend an und anschließend Yikmo. Als Rothen mit dem gleichen berechnenden Blick bedacht wurde, fragte er sich, was der Spion wohl von ihm halten mochte. Die Miene des Mannes verriet nichts von seinen Gedanken. »Diese Gänge könnten sich als wertvolle Fluchtwege erweisen«, fügte Raven hinzu. Dann wandte er sich wieder zu Lorlen um. »Ich habe alle Bücher, Berichte und Karten studiert, die Ihr mir geschickt habt. Es sollte nicht schwierig sein, herauszufinden, ob diese Ichani tatsächlich existieren, vor allem, wenn sie so leben, wie der ehemalige Hohe Lord es beschrieben hat. Ihr braucht dazu nicht drei Magier nach Sachaka zu schicken.«

»Wie viele sollten wir Eurer Meinung nach denn schicken«, fragte Lorlen.

»Keinen«, antwortete Raven. »Ihr solltet Nichtmagier hinschicken. Wenn die Ichani tatsächlich existieren und einen von Euren Magiern gefangen nehmen, werden sie zu viel über Euch in Erfahrung bringen.«

»Nicht mehr als sie in Erfahrung bringen werden, wenn sie Akkarin fangen«, wandte Lorlen ein.

»Es hört sich so an, als wüsste er genug über Sachaka, um auf sich aufzupassen«, erwiderte Raven, »während diese Magier nicht über ein solches Wissen verfügen.«

»Deshalb haben wir Euch hergebeten, um sie auszubilden«, erklärte Lorlen gelassen. »Und es hat einen Vorteil, Magier nach Sachaka zu schicken. Sie können unverzüglich darüber berichten, was sie entdecken.«

»Und indem sie das tun, geben sie ihre Identität preis.«

»Sie sind angewiesen worden, nur im äußersten Notfall die Gedankenrede zu benutzen.«

Raven nickte langsam. »Dann möchte ich eine dringende Empfehlung geben.«

»Ja?«

Er sah Rothen an. »Schickt nur einen dieser Männer nach Sachaka und wählt statt der beiden anderen zwei weitere aus. Eure Spione sollten nicht wissen, wer die beiden jeweils anderen sind. Falls einer von ihnen gefangen genommen wird, würde er sonst die Identität der anderen preisgeben.«

Lorlen nickte langsam. »Welchen dieser drei Männer würdet Ihr auswählen?«

Raven wandte sich an Yikmo. »Ihr seid ein Krieger, Mylord. Wenn sie Euch fangen und Eure Gedanken lesen, werden sie zu viel über die Kampfkünste der Gilde in Erfahrung bringen.« Seine nächsten Worte richtete er an Solend. »Verzeiht mir, wenn ich darauf hinweise, Mylord, aber Ihr seid alt. Kein Händler würde einen Mann Eures Alters auf eine anstrengende Reise durch die Ödländer mitnehmen.« Schließlich sah er Rothen an und runzelte die Stirn. »Ihr seid Lord Rothen, nicht wahr?«

Rothen nickte.

»Wenn Eure ehemalige Novizin gefangen wird und man ihre Gedanken liest, könnten die Ichani Euch erkennen. Sie weiß jedoch nicht, dass Ihr die Absicht habt, nach Sachaka zu reisen, und es würde wohl kaum eine große Rolle spielen, dass sie Euch kennt, solange Ihr nicht auf den Ichani trefft, der sie gefangen hat.« Er hielt inne, dann nickte er. »Ihr habt ein Gesicht, das Vertrauen weckt. Meine Wahl würde auf Euch fallen.«

Raven drehte sich um, um Lorlen zu betrachten, und Rothen tat das Gleiche. Der Administrator musterte die drei Magier und den Spion und nickte schließlich.

»Ich werde Euren Rat annehmen.« Er sah Solend und Yikmo an. »Vielen Dank, dass Ihr Euch freiwillig gemeldet habt. Ich werde später mit Euch beiden sprechen. Fürs Erste sollten wir dafür sorgen, dass nur Rothen hört, was Raven zu sagen hat.«

Die beiden Magier standen auf. Rothen forschte in ihren Mienen nach Anzeichen von Verärgerung, las aber nicht mehr darin als Enttäuschung. Als sie den Raum verlassen hatten, stellte er fest, dass Raven ihn genau beobachtete.

»Also«, begann Raven, »was wäre Euch lieber? Das Grau in Eurem Haar loszuwerden oder gänzlich weiß zu werden?«


Als Sonea innehielt, um wieder zu Atem zu kommen, sah sie sich um. Orangefarbene Wolken zogen sich in Streifen über den Himmel, und die Luft wurde beständig kälter. Sie vermutete, dass Akkarin schon bald eine Rast einlegen würde.

In den drei Nächten seit ihrer Flucht vor dem Ichani war sie Akkarin durch das Gebirge gefolgt. Sie brachen jeden Tag in der Abenddämmerung auf, wanderten, bis es zu dunkel wurde, um noch etwas zu sehen, und ruhten dann, bis der Mond aufging. Sie machten erst wieder Halt, als der Mond hinter den Gipfeln versunken war.

Als sie in den dunkelsten Stunden des zweiten Morgens Rast gemacht hatten, hatte sie Akkarin aufgefordert, die magische Stärke zu nehmen, die sie zurückgewonnen hatte. Er hatte anfänglich gezögert, bevor er ihr Angebot schließlich doch annahm. Anschließend hatte sie ihm eröffnet, dass sie während der ersten Hälfte des Tages die Wache übernehmen werde. Als er Einwände erheben wollte, hatte sie ihm unumwunden mitgeteilt, was sie von ihrem bisherigen Vorgehen hielt: Sie vertraute ihm nicht, wenn er ihr auch noch so fest versprach, sie zu wecken, wenn die Reihe an sie kam. Die Heiler hatten den Novizen oft die Gefahren geschildert, die es mit sich brachte, wenn man Magie benutzte, um sich über einen zu langen Zeitraum wach zu halten, und Akkarin wirkte von Tag zu Tag erschöpfter und ausgezehrter.

Als er sich nicht niederlegte, um zu schlafen, hatte sie zuerst vermutet, dies sei seine Art, ihren Vorschlag abzulehnen. Sie hatte bis Mittag gewartet, bevor sie der Erschöpfung nachgab. Als sie am nächsten Morgen wieder die erste Wache übernahm, war er, an einen Felsen gelehnt, eingeschlafen, schreckte jedoch lange vor Mittag wieder aus dem Schlaf hoch und blieb wach.

Am dritten Morgen entdeckte sie den wahren Grund, warum er sich dem Schlaf widersetzte.

Sie lehnten beide an einem sonnengewärmten Felsen. Ein Weilchen später bemerkte Sonea, dass Akkarin eingedöst war, was sie mit einiger Befriedigung und Erleichterung erfüllte. Kurz darauf begann er jedoch, den Kopf von einer Seite zur anderen zu drehen, und seine Augäpfel bewegten sich unter den Lidern. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Schmerzes und der Furcht, die Sonea einen Schauder über den Rücken jagte. Dann schreckte er jäh aus dem Schlaf hoch, starrte auf die steinige Landschaft vor ihnen und schüttelte sich.

Ein Albtraum, vermutete sie. Sie hätte ihn gern irgendwie getröstet, entnahm seiner Miene jedoch, dass Mitgefühl das Letzte wäre, was er wollte.

Außerdem, sagte sie sich, riecht er nicht mehr besonders gut. Der Geruch von Schweiß, der ihr früher einmal recht angenehm erschienen war, war jetzt der schale Gestank eines ungewaschenen Körpers. Und sie war davon überzeugt, dass sie nicht besser roch. Sie waren hier und da auf eine kleine Wasserpfütze gestoßen, aus der sie trinken konnten, aber nichts, was groß genug gewesen wäre, um sich darin zu waschen. Sehnsüchtig dachte Sonea an heiße Bäder und saubere Roben, an Früchte und Gemüse – und an Raka.

Ein heiserer Schrei holte sie in die Gegenwart zurück, und für einen Moment stockte ihr der Atem. Akkarin war stehen geblieben und betrachtete mehrere Vögel, die über ihnen ihre Kreise zogen. Dann fiel vor Soneas Augen eine kleine Gestalt vom Himmel.

Akkarin fing den ersten Vogel mühelos auf, dann den zweiten. Als Sonea ihn einholte, hatte er bereits die Federn entfernt und widmete sich der wenig angenehmen Aufgabe, die Tiere auszunehmen. Er ging schnell und geschickt zu Werke; offensichtlich hatte er einige Erfahrung in dieser Arbeit. Es war seltsam, ihn Magie für etwas so Einfaches benutzen zu sehen, aber andererseits hatte sie noch nie erlebt, dass ein Magier zögerte, seine Magie einzusetzen, um Türen zu öffnen und zu schließen oder Gegenstände zu bewegen, die zu holen er zu träge war.

Wann immer Akkarin ein Tier fing und röstete oder sie selbst abgestandenes Wasser reinigte, fragte sie sich, wie sie an diesem Ort ohne Magie hätten überleben können. Zum einen wären sie nicht so schnell vorangekommen. Ein gewöhnlicher Mensch hätte um die tiefen Schluchten und steilen Kliffs auf ihrem Weg herumgehen müssen. Obwohl Akkarin es so häufig wie möglich vermied, seine Magie einzusetzen, hätten sie ohne die Levitation ihren Vorsprung vor der Ichani, die sie verfolgte, nicht halten können.

Als Akkarin jetzt die Vögel in einer Hitzekugel röstete, hörte Sonea in der Nähe ein leises, gleichmäßiges Geräusch und machte sich auf die Suche nach seiner Quelle. Sie ging an der Felswand entlang, und als sie eine glänzende Stelle auf dem Stein entdeckte, beschleunigte sie ihren Schritt. Ein kleines Wasserrinnsal sickerte durch einen Riss im Felsen, und mehrere Vögel hockten davor.

Als sie näher kam, flatterten die Vögel davon, und sie hielt die Hände unter das tropfende Wasser. Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um und lächelte Akkarin zu.

»Es ist sauber.«

Er hielt die beiden Vögel, die er gefangen hatte, in die Höhe. Von ihnen war inzwischen nichts mehr übrig geblieben als eine kleine, dampfende Hand voll braunen Fleischs.

»Sie sind fertig.«

Sonea nickte. »Einen Moment noch.«

Sie suchte nach einem passenden Stein und machte sich dann an die Arbeit. Nachdem sie sich ihre Lektionen über das Schmelzen von Stein ins Gedächtnis gerufen hatte, formte sie ihn zu einer großen Schale und stellte diese unter das Rinnsal. Akkarin sagte nichts zu ihrer Anwendung von Magie.

Sie setzten sich auf den Boden, um zu essen. Die kleinen Bergvögel gaben nicht viel Fleisch her, aber sie waren wohlschmeckend. Sonea saugte an den dünnen Rippenknochen und versuchte, den nagenden Hunger, der noch keineswegs gestillt war, zu ignorieren. Schließlich stand Akkarin auf und entfernte sich einige Schritte. Der Himmel hatte sich schnell zu einem dunklen, bläulichen Schwarz verfinstert, und Sonea konnte ihn kaum noch sehen. Dann hörte sie ein leises Spritzen und ein Schlucken und vermutete, dass er aus der Wasserschale trank.

»Heute Nacht werde ich versuchen, unsere Verfolger auszuspionieren«, sagte er.

Sonea betrachtete seine schattenhafte Gestalt, und ihr Puls beschleunigte sich.

»Glaubt Ihr, dass sie uns immer noch folgen?«

»Ich weiß es nicht. Komm her.«

Sie stand auf und ging auf ihn zu.

»Schau nach unten und dann nach rechts. Siehst du es?«

Der Berghang fiel an der Stelle, wo sie standen, steil ab. Wo er sich in Schluchten und Kämmen auflöste, konnte Sonea einen kleinen Lichtpunkt ausmachen. In dem Licht bewegte sich etwas. Etwas mit vier Beinen…

Ein kleiner Limek, begriff sie. Dann lenkte eine weitere Bewegung ihre Aufmerksamkeit auf eine Gestalt.

»Sie sind jetzt viel weiter entfernt«, bemerkte sie.

»Ja«, pflichtete Akkarin ihr bei. »Ich glaube, sie haben unsere Spur verloren. Für den Augenblick sind wir in Sicherheit.«

Als sich ein weiterer Schatten dem fernen Licht näherte, versteifte sich Sonea.

»Sie sind jetzt zu zweit.«

»Anscheinend hat sich der Mann, der dich um ein Haar gefangen hätte, mit der Frau zusammengetan.«

»Warum haben sie das Licht gemacht?«, überlegte Sonea laut. »Man kann sie von weitem sehen. Versuchen sie auf diese Weise, uns dazu zu bringen, näher zu kommen?«

Er hielt inne. »Das bezweifle ich. Höchstwahrscheinlich wissen sie nicht, dass wir so hoch über ihnen sind. Sie haben zwischen einigen Felsen Halt gemacht. Wenn wir uns weiter unten im Gebirge befänden, hätten wir das Licht nicht entdeckt.«

»Es ist ein großes Risiko, sich ihnen zu nähern, nur um Lorlen die Wahrheit zu zeigen.«

»Ja«, stimmte er ihr zu. »Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich es tun will. Ich werde auf diese Weise vielleicht erfahren, welche Pläne die Ichani für den Angriff auf Kyralia haben. Der Nordpass wird durch das Fort blockiert, aber der Südpass ist offen. Wenn sie von Süden her nach Kyralia eindringen, ist niemand da, der die Gilde warnen könnte.«

»Der Südpass?« Sonea runzelte die Stirn. »Dort lebt Rothens Sohn.« Das bedeutete, dass Dorrien in erheblicher Gefahr schwebte.

»Er lebt in der Nähe, aber nicht direkt an der Straße oder auf dem Pass selbst. Die Ichani werden sich als eine kleine Gruppe ausländischer Händler tarnen. Selbst wenn irgendjemand sie bemerkte, würde Dorrien vielleicht erst ein oder zwei Tage später von den Einheimischen davon erfahren.«

»Es sei denn, Lorlen weist ihn an, ein Auge auf die Straße zu haben und Reisende zu befragen.«

Akkarin antwortete nicht. Stattdessen beobachtete er schweigend die fernen Ichani. Der Himmel jenseits des Horizonts wurde ein wenig heller, ein Zeichen, dass der Mond bald aufgehen würde. Als der erste Lichtschein erschien, begann Akkarin wieder zu sprechen.

»Wir müssen uns von der windabgewandten Seite nähern, sonst wird der Limek uns wittern.«

Sonea drehte sich zu der Wasserschale um. Sie war jetzt bis zum Rand gefüllt und quoll über.

»Wenn wir noch Zeit haben, wäre da etwas, das wir zuerst tun sollten«, sagte sie.

Er beobachtete sie, während sie zu der Schale hinüberging. Sie wärmte das Wasser mit ein wenig Magie, dann blickte sie zu ihm auf. »Dreht Euch um – und nicht linsen.«

Ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen. Er drehte ihr den Rücken zu und verschränkte die Arme vor der Brust. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, zog Sonea nacheinander ihre Kleidungsstücke aus, wusch sie und wusch auch sich selbst, bevor sie alles mit Magie trocknete. Sie musste warten, bis die Schale sich einige Male von Neuem füllte, während ihre Kleider das Wasser aufnahmen. Zu guter Letzt leerte sie die Schale über sich aus. Sie massierte sich die Kopfhaut und stieß einen wohligen Seufzer aus.

Dann straffte sie sich und schüttelte sich das Haar aus den Augen.

»Jetzt seid Ihr an der Reihe.«

Akkarin drehte sich um und ging auf die Schale zu. Sonea entfernte sich einige Schritte und setzte sich dann, mit dem Rücken zu ihm, auf den Boden. Während sie wartete, beschlich sie bohrende Neugier. Sie schob die Regung beiseite und konzentrierte sich darauf, ihr Haar mit Magie zu trocknen, während sie mit den Fingern die Knoten entwirrte.

»So ist es schon besser«, sagte er schließlich.

Als Sonea sich umdrehte, erstarrte sie, denn sein Hemd lag auf dem Boden neben ihm. Ihr Blick fiel auf seine nackte Brust, und da sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss, wandte sie sich hastig wieder ab.

Mach dich nicht lächerlich, schalt sie sich. Du hast schon jede Menge halbnackter Männer gesehen. Die Arbeiter auf den Märkten trugen in der sommerlichen Hitze kaum mehr als kurze Hosen. Das hatte sie nie in Verlegenheit gestürzt.

Nein, antwortete eine Stimme in ihrem Hinterkopf, aber du hättest dich ganz anders gefühlt, wenn einer von ihnen dir gefallen hätte.

Sie seufzte. Sie wollte nicht so empfinden. Es machte die Situation schwieriger, als es sein musste. Sie holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Ausnahmsweise einmal wünschte sie sich, sie würden weitergehen, damit die Wanderschaft durch das raue Terrain der Berge ihre ganze Aufmerksamkeit verlangte.

Sie hörte Schritte hinter sich. Als sie aufblickte, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass Akkarin wieder voll bekleidet war.

»Also, weiter«, sagte er.

Sie stand auf und folgte ihm den Berghang hinab. Die Anstrengung half ihr tatsächlich, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie bewältigten den Abstieg ziemlich schnell und bewegten sich direkt auf die Ichani und ihr Licht zu. Nachdem mehr als eine Stunde vergangen war, verlangsamte Akkarin seinen Schritt und blieb stehen. Sein Blick war auf einen Punkt in der Ferne gerichtet.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Lorlen hat den Ring übergestreift«, sagte er nach einer langen Pause.

»Dann trägt er ihn also nicht ständig?«

»Nein. Bis jetzt ist der Ring ein Geheimnis geblieben. Sarrin hat die Bücher gelesen und hätte erkannt, was der Ring bedeutete. Normalerweise streift Lorlen ihn jeden Abend einige Male über.« Akkarin setzte sich wieder in Bewegung. »Ich wünschte, ich hätte etwas Glas«, murmelte er. »Dann würde ich dir auch einen Ring machen.«

Sonea nickte, obwohl sie von Herzen dankbar war, dass er diese Möglichkeit nicht hatte. Ein Blutring hätte zu viel von ihren Gedanken enthüllt. Bis es ihr gelang, sich ihre törichten Gefühle für Akkarin aus dem Kopf zu schlagen, wollte sie nicht, dass er erfuhr, was in ihr vorging.

Langsam setzten sie ihren Weg fort. Nach mehreren hundert Schritten legte Akkarin einen Finger an die Lippen. Sie schlichen vorsichtig weiter und hielten viele Male inne, damit Akkarin die Windrichtung ermitteln konnte. Sonea sah einen Lichtschein zwischen zwei Felsen vor ihnen und wusste, dass sie ihr Ziel erreicht hatten.

Während sie und Akkarin sich dem Felsen näherten, konnten sie schwache Stimmen ausmachen, die langsam deutlicher wurden. Sie blieben stehen und duckten sich hinter die Felsen. Die erste Stimme, die Sonea hörte, war männlich und wies einen starken Akzent auf.

»… bessere Chancen als ich, mit einem Yeel.«

»Sie ist ein kluges Mädchen«, erwiderte die Frau. »Warum legst du dir nicht auch einen Yeel zu, Parika?«

»Ich hatte mal einen. Letztes Jahr habe ich eine neue Sklavin aufgegriffen. Du weißt ja, wie die neuen manchmal sind. Sie ist mir davongelaufen, und als der Yeel sie fand, hat sie ihn getötet. Allerdings hatte er ihr vorher die Beine zerfetzt, so dass sie anschließend nicht mehr weit gekommen ist.«

»Du hast sie getötet?«

»Nein.« Parika klang resigniert. »So verlockend der Gedanke war. Es ist zu schwer, gute Sklaven zu finden. Sie kann jetzt nicht mehr laufen und macht daher nicht mehr so viel Ärger.«

Die Frau schnalzte mit der Zunge. »Sie machen alle Ärger – selbst wenn sie loyal sind. Entweder das, oder sie sind dumm.«

»Aber notwendig.«

»Mmmh. Ich hasse es, allein zu reisen, ohne jemanden, der mich bedient«, sagte die Frau.

»Aber es geht schneller.«

»Diese Kyralier hätten mich aufgehalten. Ich bin beinahe froh, dass ich sie nicht gefunden habe. Mir behagt der Gedanke nicht, Magier gefangen zu halten.«

»Sie sind schwach, Avala. Sie hätten dir nicht viel Mühe bereitet.«

»Tot würden sie noch weniger Mühe bereiten.«

Ein Frösteln überlief Sonea. Plötzlich wollte sie nur noch so schnell wie möglich weit fort von hier. Es war kein angenehmes Gefühl zu wissen, dass zwei Magier, die ihren Tod wünschten, nur etwa ein Dutzend Schritte entfernt saßen.

»Er will sie lebend.«

»Warum macht er dann nicht selbst Jagd auf sie?«

Der Ichani kicherte. »Es juckt ihn wahrscheinlich in allen Fingern, aber er vertraut den anderen nicht.«

»Ich vertraue ihm nicht, Parika. Vielleicht hat er uns nur mit der Suche nach den Kyraliern beauftragt, um uns aus dem Weg zu schaffen.«

Der Mann antwortete nicht. Sonea hörte ein leises Rascheln von Gewändern, dann das Geräusch von Schritten.

»Ich habe getan, was ich konnte, um sie zu finden«, erklärte Avala. »Ich möchte nicht ausgeschlossen werden, deshalb kehre ich zu den anderen zurück. Wenn er diese beiden Kyralier haben will, wird er selbst Jagd auf sie machen müssen.« Sie hielt inne. »Und was wirst du tun?«

»Ich kehre zum Südpass zurück«, antwortete Parika. »Ich bin davon überzeugt, dass ich dich bald wiedersehen werde.«

Avala brummte etwas Unverständliches. »Dann gute Jagd.«

»Gute Jagd.«

Sonea hörte Schritte, die sich langsam entfernten. Akkarin sah sie an und deutete mit dem Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Langsam und schweigend folgte sie ihm. Als sie mehrere hundert Schritte gegangen waren, beschleunigte er sein Tempo. Statt in die höheren Bereiche des Berges zurückzukehren, machte er sich auf den Weg in südliche Richtung.

»Wohin gehen wir?«, murmelte Sonea.

»Nach Süden«, antwortete Akkarin. »Avala konnte es kaum erwarten, zu den anderen zurückzukehren, da sie befürchtete, etwas zu verpassen. Wenn sie sich ohne Parika, der zum Südpass wandern will, auf den Weg zu Kariko macht, muss Kariko die Absicht haben, über den Nordpass nach Kyralia einzudringen.«

»Aber sie haben doch gesagt, dass sie einander bald wiedersehen würden.«

»Höchstwahrscheinlich in Kyralia. Wir haben vier Tage gebraucht, um hierher zu kommen, und Avala wird ebenso lange brauchen, um zurückzukehren. Wenn wir uns beeilen, werden wir vor Parika am Südpass sein. Wir müssen hoffen, dass der Pass nicht von weiteren Ichani bewacht wird.«

»Dann kehren wir also nach Kyralia zurück?«

»Ja.«

»Ohne die Erlaubnis der Gilde?«

»Ja. Wir werden heimlich nach Imardin gehen. Wenn sie um meine Hilfe bitten, möchte ich nah genug sein, um schnell handeln zu können. Aber wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Spar dir deine Fragen. Wir müssen versuchen, heute Nacht ein wenig Abstand zwischen uns und Parika zu legen.«


»Ich denke, das ist alles, was wir bekommen werden«, sagte Lorlen. Er ließ die Hände sinken und löste damit seine Verbindung zu Balkan und Vinara, bevor er sich in seinem Sessel zurücklehnte. Nachdem die beiden ihrerseits Sarrins Hände losgelassen hatten, blickten alle drei Magier zu Lorlen hinüber.

»Warum habt Ihr uns nicht schon früher von diesem Ring erzählt?«, wollte Sarrin wissen.

Lorlen nahm den Ring ab und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch. Er betrachtete ihn einen Moment lang, dann seufzte er. »Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich damit machen sollte«, erklärte er. »Es ist ein Gegenstand schwarzer Magie, andererseits richtet er keinen Schaden an und ist unsere einzige ungefährliche Möglichkeit, uns mit Akkarin in Verbindung zu setzen.«

Sarrin griff nach dem Ring und untersuchte ihn, wobei er sorgfältig darauf achtete, den Stein nicht zu berühren. »Ein Blutjuwel. Fremde Magie. Sie gibt dem Schöpfer des Rings Zugang zum Geist des Trägers. Er sieht, was der Träger sieht, hört, was der Träger hört, und nimmt auf, was der Träger denkt.«

Balkan runzelte die Stirn. »Das klingt für mich ganz und gar nicht nach einem Gegenstand, der keinen Schaden anrichten kann. Was immer Ihr wisst, wird Akkarin ebenfalls erfahren.«

»Er kann nicht in meinen Geist eindringen«, wandte Lorlen ein. »Er kann lediglich meine oberflächlichen Gedanken lesen.«

»Das könnte schlimm genug sein, wenn Ihr zufällig an etwas denkt, das Akkarin nicht wissen sollte.« Der Krieger runzelte die Stirn. »Ich finde nicht, dass Ihr diesen Ring noch einmal tragen solltet, Lorlen.«

Die anderen schüttelten ebenfalls den Kopf. Lorlen nickte widerstrebend.

»Also gut, wenn ihr alle darin übereinstimmt.«

»Ich tue es«, erwiderte Vinara.

»Ja, ich ebenfalls«, fügte Sarrin hinzu und legte den Ring beiseite. »Was sollen wir damit machen?«

»Ihn irgendwo hinlegen, wo nur wir vier ihn finden können«, sagte Balkan.

»Wohin?«

Ein Stich der Sorge durchzuckte Lorlen. Wenn sie den Ring wegsperrten, dann sollten sie sich besser ein Versteck aussuchen, das sie schnell erreichen konnten, falls sie sich mit Akkarin in Verbindung setzen mussten.

»Die Bibliothek?«

Balkan nickte langsam. »Ja. Der Schrank mit den alten Büchern und Plänen. Ich werde den Ring auf dem Rückweg in mein Quartier dort hineinlegen. Fürs Erste«, er sah die anderen der Reihe nach an, »sollten wir über das Gespräch nachdenken, das Akkarin uns übermittelt hat. Was haben wir erfahren?«

»Dass Sonea noch lebt«, erwiderte Vinara. »Dass sie und Akkarin eine Frau namens Avala und einen Mann namens Parika über einen dritten Mann haben sprechen hören.«

»Kariko?«, meinte Lorlen.

»Möglicherweise«, erwiderte Balkan. »Die beiden haben seinen Namen nicht genannt.«

»Wie rücksichtslos von ihnen«, murmelte Sarrin.

»Der Mann und die Frau haben über Sklaven gesprochen. Dieser Teil von Akkarins Geschichte entspricht also der Wahrheit«, sagte Vinara.

»Außerdem haben sie darüber geredet, dass sie Jagd auf Kyralier machen.«

»Sonea und Akkarin?«

»Wahrscheinlich. Sofern das Ganze nicht eine List ist, die Akkarin eingefädelt hat«, bemerkte Balkan. »Er hätte zwei Leute dafür bezahlen können, dieses Gespräch zu führen, damit er es uns übermitteln konnte.«

»Warum dann eine so zweideutige Botschaft?«, fragte Sarrin. »Warum hat er ihnen nicht gesagt, dass sie Kariko oder seine Absicht, Kyralia zu überfallen, erwähnen sollen?«

»Ich bin davon überzeugt, dass er seine Gründe hat.« Balkan gähnte, dann entschuldigte er sich. Vinara bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick.

»Habt Ihr seit Eurer Rückkehr überhaupt geschlafen?«

Der Krieger zuckte die Achseln. »Ein wenig.« Er sah Lorlen an. »Unsere gestrige Besprechung mit dem König ging bis spät in die Nacht hinein.«

»Denkt er immer noch darüber nach, einen von uns zu bitten, schwarze Magie zu erlernen?«, fragte Sarrin.

Balkan seufzte. »Ja. Das wäre ihm lieber, als Akkarin zurückzurufen. Akkarin hat sich als unzuverlässig erwiesen, indem er das Gesetz der Gilde und seinen Schwur gebrochen hat.«

»Aber wenn einer von uns schwarze Magie erlernte, würde er oder sie damit ebenfalls das Gesetz und das Gelübde der Magier brechen.«

»Nicht wenn wir eine Ausnahme machen würden.« Sarrin zog die Brauen zusammen. »Wenn es um schwarze Magie geht, sollte es keine Ausnahmen geben.«

»Es wird uns vielleicht nichts anderes übrig bleiben. Es könnte unsere einzige Chance sein, uns gegen diese Ichani zu verteidigen. Wenn hundert Magier jeden Tag einem aus unserer Mitte ihre Kraft gäben, wäre dieser Magier in zwei Wochen stark genug, um gegen zehn Ichani zu kämpfen.«

Sarrin schauderte. »So viel Macht sollte man keinem Menschen anvertrauen.«

»Dem König ist Eure Meinung bekannt«, sagte Balkan. »Und deshalb glaubt er auch, dass Ihr der beste Kandidat wärt.«

Sarrin starrte den Krieger entsetzt an. »Ich?«

»Ja.«

»Das könnte ich nicht. Ich… ich müsste ablehnen.«

»Eine Bitte Eures Königs ablehnen?«, fragte Lorlen. »Und zusehen, wie die Gilde und ganz Imardin einer Hand voll barbarischer Magier zum Opfer fallen?«

Sarrin blickte mit schneeweißem Gesicht auf den Ring hinab.

»Es wäre keine leichte Bürde«, fuhr Lorlen sanft fort, »und keine, die Ihr auf Euch nehmen müsstet, bevor wir uns sicher wären, dass wir keine andere Wahl haben. Die Spione werden in wenigen Tagen aufbrechen. Hoffentlich werden sie ein für alle Mal herausfinden, ob Akkarin die Wahrheit gesagt hat oder nicht.«

Balkan nickte. »Wir sollten auch darüber nachdenken, ob wir nicht zusätzliche Verstärkung in die Festung schicken wollen. Wenn das Gespräch, das wir mit angehört haben, echt war, liegt die Vermutung nahe, dass diese Frau sich im Norden mit einer Gruppe von Ichani treffen will.«

»Was ist mit dem Südpass?«, fragte Vinara. »Parika wollte dorthin zurückkehren.«

Balkan runzelte die Stirn. »Das werde ich im Kopf behalten. Der Südpass ist nicht so leicht zu verteidigen wie das Fort, aber aus dem Gespräch der beiden geht hervor, dass sich im Norden eine größere Gruppe sammelt. Trotzdem sollten wir zumindest die Straße zum Südpass beobachten lassen.«

Der Krieger gähnte erneut. Er kämpfte offensichtlich gegen seine Müdigkeit an. Lorlen fing einen bedeutungsvollen Blick von Vinara auf.

»Es ist schon spät«, sagte er. »Wollen wir uns morgen früh wieder hier treffen, um darüber zu sprechen?« Die anderen nickten. »Vielen Dank, dass Ihr so schnell hierher gekommen seid. Wir sehen uns dann morgen früh.«

Als sich die drei anderen Magier erhoben und ihm Gute Nacht wünschten, konnte Lorlen sich eines Gefühls der Enttäuschung nicht erwehren. Er hatte gehofft, dass Akkarin ihnen etwas zeigen würde, mit dem sich seine Unschuld beweisen ließ. Das Gespräch der beiden Sachakaner hatte nicht viel offenbart, auch wenn sie dadurch auf einige Mängel in der Verteidigung Kyralias aufmerksam geworden waren.

Aber jetzt war der Ring fort, und mit ihm hatte er seine einzige Verbindung zu Akkarin verloren.

24 Enthüllte Geheimnisse

Das Wispern von Roben und das Scharren von Stiefeln auf dem Boden bildete eine stete Geräuschkulisse in der Gilde, selbst während Lorlens kurzer Ansprache. Wir sind alle unruhig, ging es Dannyl durch den Kopf. Bei dieser Zusammenkunft sind zu wenige Fragen beantwortet worden.

Als Lorlen die Versammlung für beendet erklärte, ging ein kollektiver Seufzer durch die Reihen.

»Wir werden eine kurze Pause machen, bevor die Anhörung beginnt, bei der ein Urteil über die elynischen Rebellen gefällt werden soll«, erklärte der Administrator.

Bei dieser Ankündigung zog sich Dannyls Magen schmerzhaft zusammen. Er sah Rothen an.

»Es wird Zeit, sich den Klatschbasen zu stellen.«

Rothen lächelte. »Du wirst es schon schaffen, Dannyl. Seit deinem Aufbruch nach Elyne wirkst du recht selbstbewusst.«

Dannyl sah seinen Mentor überrascht an. »Selbstbewusst? Du meinst, ich wäre früher nicht selbstbewusst gewesen?«

Rothen kicherte. »Natürlich warst du das, sonst hätte man dich nicht für dieses Amt ausgewählt. Du trittst inzwischen einfach sicherer auf.« Er hielt einen Moment inne und sagte dann: »Also, sieh zu, dass du dort hinunterkommst, bevor sie noch ohne dich anfangen.«

Dannyl erhob sich und ging zum Ende der Stuhlreihe. Als er den vorderen Teil der Halle erreichte, bemerkte er, dass Auslandsadministrator Kito, der den Vorsitz über die Anhörung führen sollte, ebenfalls nach unten kam. Der Magier blickte zu einem der Eingänge des Raums hinüber, wo soeben eine Gruppe von Männern und Frauen von einer Eskorte hereingeführt wurde. Es waren Dem Marane und seine Freunde und Mitverschwörer. Royend ging neben seiner Frau. Er sah zu Dannyl hinüber und kniff die Augen zusammen.

Dannyl erwiderte den Blick des Mannes ohne einen Wimpernschlag. Der Hass in Royends Zügen war neu. In der Nacht der Verhaftung war der Dem wütend gewesen, aber während der Reise nach Kyralia und in der Zeit des Wartens auf die Anhörung musste etwas Stärkeres an die Stelle dieses Zorns getreten sein.

Ich kann seinen Hass verstehen, dachte Dannyl. Ich habe ihn überlistet. Es interessiert ihn nicht, dass ich auf Akkarins Befehl gehandelt habe oder dass er das Gesetz gebrochen hat. Er sieht in mir lediglich den Mann, der seine Träume zunichte gemacht hat.

Farand stand auf der anderen Seite des Raums zwischen zwei Alchemisten. Der junge Mann wirkte nervös, aber nicht ängstlich. Ein metallisches Klirren lenkte die Aufmerksamkeit aller auf den hinteren Teil der Halle, wo eine der großen Türen aufschwang. Sechs Elyner schritten den Gang hinunter. Zwei von ihnen waren die Magier, die die Rebellen nach Kyralia begleitet hatten, Lord Barene und Lord Hemend. Die anderen waren Repräsentanten des elynischen Königs.

Während Kito die Neuankömmlinge zu den Plätzen im vorderen Teil des Raums führte, beschloss Dannyl, sich einen Platz in der Nähe von Farand zu suchen, denn er wusste, dass man dies als Geste der Unterstützung für den jungen Mann werten würde. Als alle bereit waren, schlug Lorlen auf einen kleinen Gong, und Stille kehrte ein. Kito sah sich um und nickte.

»Wir haben diese Anhörung heute einberufen, um ein Urteil zu fällen über Farand von Darellas, Royend und Kaslie von Marane, sowie ihre Mitverschwörer…«

Als Dannyl ein Geräusch aus einer unerwarteten Richtung wahrnahm, blickte er zu der obersten Stuhlreihe für die höheren Magier auf. Zu seiner Überraschung sah er, dass einer der Ratgeber des Königs anwesend war.

Aber ja, dachte er, unser König muss natürlich demonstrieren, dass jedem eine gerechte Strafe droht, der in seinem Land seine eigene Magiergilde zu gründen versucht.

»…Farand von Darellas ist angeklagt, abseits der Gilde Magie studiert zu haben«, fuhr Kito fort. »Diese Männer und Frauen sind des Versuches angeklagt, Magie zu erlernen. Außerdem ist Dem Marane angeklagt, über Kenntnisse der schwarzen Magie zu verfügen.« Kito hielt inne, um sich im Raum umzusehen. »Man wird uns die Beweise für diese Anklagen vorlegen, damit wir ein Urteil fällen können. Ich rufe den ersten Sprecher auf, den zweiten Botschafter der Gilde in Elyne, Dannyl.«

Dannyl holte tief Luft und trat neben Kito.

»Ich schwöre, dass alles, was ich bei dieser Anhörung sage, der Wahrheit entsprechen wird.« Er hielt inne. »Vor sieben Wochen erhielt ich von dem ehemaligen Hohen Lord den Auftrag, eine Gruppe von Rebellen aufzuspüren und in Haft zu nehmen, die versucht haben, außerhalb des Einflusses und ohne Leitung der Gilde Magie zu erlernen.«

Während Dannyl seine Geschichte vortrug, schwieg das Publikum. Er hatte wochenlang darüber nachgedacht, wie viel er offenbaren sollte, wenn er erklären musste, auf welche Weise er das Vertrauen der Rebellen erworben hatte. Inzwischen hatte wahrscheinlich die ganze Gilde von den Behauptungen des Dem gehört, daher brauchte Dannyl nicht in die Einzelheiten zu gehen. Andererseits konnte er diesen Teil der Geschichte nicht vollends auslassen.

Also erzählte er ihnen, wie er dafür gesorgt hatte, dass der Dem Kenntnis von einem »falschen Geheimnis«, erhielt, damit er glaubte, er könne Dannyl erpressen. Anschließend berichtete er von seiner ersten Begegnung mit Farand. Die Mienen der elynischen Höflinge verkrampften sich sichtlich, als er erklärte, dass Farand die Aufnahme in die Gilde verweigert worden war, nachdem er von etwas erfahren hatte, das der elynische König geheim halten wollte. Um den elynischen Höflingen das Verständnis des Ganzen zu erleichtern, fügte er hinzu, dass Farand sich der Gefahr gegenübergesehen hatte, die Kontrolle über seine Kräfte zu verlieren, was verheerende Konsequenzen nach sich gezogen hätte.

Dann berichtete er von dem Buch, das Tayend sich bei dem Dem ausgeliehen hatte und dessen Inhalt ihn, Dannyl, veranlasst hatte, die Rebellen unverzüglich zu verhaften, statt noch eine Weile Umgang mit dem Dem zu pflegen und darauf zu hoffen, auf diese Weise die Identität weiterer Rebellen aufdecken zu können. Schließlich beendete er seine Ausführungen mit der Warnung, dass er möglicherweise nicht alle Mitglieder der Gruppe gefunden habe.

Kito wandte sich an Lord Sarrin, um sich den Inhalt des Buches bestätigen zu lassen, dann bat er die Wachen, Farand zu ihm zu führen.

»Farand von Darellas«, begann er, als der junge Mann neben ihm stand, »schwört Ihr, dass Ihr während dieser Anhörung die Wahrheit sagen werdet?«

»Ich schwöre.«

»Entspricht Botschafter Dannyls Geschichte, was Euren Anteil daran betrifft, den Tatsachen?«

Der junge Mann nickte. »Ja.«

»Was hat dazu geführt, dass Ihr Euch den Rebellen um Dem Marane angeschlossen habt?«

»Meine Schwester ist seine Frau. Er hielt es für Verschwendung, dass man mir nicht gestattet hatte, Magier zu werden. Er hat mich darin ermutigt, abermals der Gedankenrede von Magiern zu lauschen.«

»Und wenn ich recht verstanden habe, habt Ihr auf diese Weise erfahren, wie Ihr Eure Magie entfesseln konntet.«

»Ja. Ich habe ein Gespräch darüber mit angehört.«

»Habt Ihr gezögert, bevor Ihr diese Kenntnisse in die Tat umgesetzt habt?«

»Ja. Meine Schwester wollte nicht, dass ich Magie erlerne. Nun, am Anfang wollte sie es durchaus, aber dann machte sie sich Sorgen, dass wir nicht genug darüber wissen könnten und es vielleicht gefährlich wäre.«

»Was hat Euch also dazu bewogen, Euer Zögern zu überwinden?«

»Royend meinte, dass es leichter würde, wenn ich erst einmal angefangen hätte.«

»Wie lange haben sich der Dem und seine Komplizen getroffen, um Magie zu erlernen?«

»Das weiß ich nicht. Es hat begonnen, bevor ich ihn kennen gelernt habe.«

»Seit wann kennt Ihr ihn?«

»Seit fünf Jahren. Seit meine Schwester mit ihm verlobt wurde.«

»Hat die Gruppe noch weitere Mitglieder, die heute nicht anwesend sind?«

»Ja, aber ich weiß nicht, wer sie sind.«

»Glaubt Ihr, dass Dem Marane selbst versucht hat, Magie zu erlernen?«

Farand zögerte, dann ließ er die Schultern sinken. »Ja.«

»Und die anderen in der Gruppe?«

»Ich bin mir nicht sicher. Einige haben es wahrscheinlich versucht. Andere sind nur aus Sensationslust zu den Treffen gekommen, denke ich. Meine Schwester war dabei, weil Royend und ich zu der Gruppe gehörten.«

»Gibt es sonst noch etwas, das Ihr gern hinzufügen würdet?«

Farand schüttelte den Kopf.

Kito nickte, dann wandte er sich den übrigen Menschen in der Halle zu. »Ich möchte hinzufügen, dass ich Farand einer Wahrheitslesung unterzogen habe und bestätigen kann, dass er in allen Punkten die Wahrheit gesagt hat.«

Ein leises Raunen ging durch die Halle. Dannyl sah Farand überrascht an. Die Tatsache, dass er eine Wahrheitslesung zugelassen hatte, bewies seine Bereitwilligkeit, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Kito blickte zu den höheren Magiern auf. »Gibt es noch weitere Bemerkungen oder Fragen?«

Die höheren Magier schüttelten den Kopf.

»Kehrt an Euren Platz zurück, Farand von Darellas. Ich rufe Royend von Marane zur Befragung auf.«

Der Dem trat vor.

»Royend von Marane, schwört Ihr, bei dieser Anhörung die Wahrheit zu sagen?«

»Das tue ich.«

»Entspricht Botschafter Dannyls Geschichte, was Euren Anteil daran betrifft, den Tatsachen?«

»Nein.«

Dannyl unterdrückte einen Seufzer und wappnete sich gegen das Unvermeidliche.

»In welcher Hinsicht sind seine Schilderungen unrichtig?«

»Er behauptet, er habe diese Geschichte über seine heimliche Affäre mit seinem Assistenten erfunden. Ich glaube, dass das eine Lüge ist. Jeder, der die beiden zusammen gesehen hat, konnte erkennen, dass mehr dahintersteckte als nur… nur eine List. Niemand kann sich so gut verstellen.«

»Ist das der einzige Teil seiner Geschichte, der nicht den Tatsachen entspricht?«

Der Dem starrte Dannyl an. »Selbst Dem Tremmelin, Tayend von Tremmelins Vater, glaubt, dass dieses angebliche Gerücht wahr ist.«

»Dem Marane, bitte, beantwortet meine Frage.«

Der Dem beachtete Kito nicht. »Warum fragt Ihr ihn nicht, ob er ein ›Junge‹ ist? Er hat geschworen, die Wahrheit zu sagen. Ich möchte hören, wie er es abstreitet.«

Kitos Augen wurden schmal. »Diese Anhörung dient einzig dem Zweck, zu einem Urteil darüber zu kommen, ob das Gesetz gegen das Studium von Magie außerhalb der Gilde gebrochen wurde. Die Frage, ob Botschafter Dannyl unehrenhaften und perversen Praktiken nachgeht, steht hier nicht zur Debatte. Bitte, antwortet auf die Frage, die Euch gestellt wurde, Dem Marane.«

Dannyl gelang es mit knapper Not, eine ausdruckslose Miene beizubehalten. Unehrenhaft und pervers. Wenn die Gilde die Wahrheit erführe, würde sie ihre Meinung über ihn – und seine Geschichte – gewiss gründlich ändern. Und der Dem wusste es.

»Wenn er in diesem Punkt gelogen hat, dann könnte er auch in allen anderen Dingen gelogen haben«, zischte der Dem. »Denkt daran, nachdem Ihr mich in mein Grab gelegt habt. Ich werde Eure Fragen nicht beantworten.«

»Nun gut«, sagte Kito. »Kehrt an Euren Platz zurück. Ich rufe Kaslie von Marane zur Befragung auf.«

Die Frau des Dem war nervös, zeigte sich jedoch bereit, Rede und Antwort zu stehen. Sie offenbarte, dass sich die Rebellen seit zehn Jahren trafen, versicherte der Gilde jedoch, dass das Interesse der Gruppe rein akademischer Natur gewesen sei. Während die anderen Rebellen befragt wurden, kamen nur unbedeutende Einzelheiten über die Gruppe ans Licht. Sie alle behaupteten, nicht die Absicht gehabt zu haben, selbst Magie zu erlernen, sondern lediglich mehr darüber zu erfahren.

Ein kurzes Gespräch folgte, in dem Farands Vergiftung zur Sprache kam. Dannyl war nicht überrascht zu erfahren, dass es den Elynern mit ihren Nachforschungen nicht gelungen war, den Täter zu ermitteln. Nach Lady Vinaras Gesichtsausdruck zu urteilen, vermutete Dannyl, dass die Angelegenheit hiermit noch nicht zu Ende war.

Kito bat darum, dass die Angeklagten in einer Barriere des Schweigens eingeschlossen werden sollten, während die Gilde ihre Bestrafung erörterte. Stimmengewirr wurde laut. Nach einer langen Pause bat Kito alle Magier, auf ihre Plätze zurückzukehren und die Barriere des Schweigens zu entfernen.

»Es ist Zeit, unser Urteil zu fällen«, erklärte er. Er hob die Hand, und eine Lichtkugel erschien darüber, die dann langsam nach oben schwebte. Dannyl schuf seine eigene Lichtkugel und sandte sie zur Decke hinauf zu den Kugeln der übrigen Mitglieder der Gilde.

»Seid Ihr zu dem Urteil gekommen, dass Farand von Darellas zweifellos schuldig ist, außerhalb der Gilde Magie erlernt zu haben?«

Alle Lichtkugeln wurden rot. Kito nickte.

»Traditionellerweise ist die Strafe für dieses Vergehen die Hinrichtung«, sagte er, »aber die höheren Magier sind der Meinung, dass unter den gegebenen Umständen eine Alternative angeboten werden sollte. Farand von Darellas ist das Opfer von Umständen und der Manipulationen anderer. Er hat unsere Nachforschungen zu jeder Zeit unterstützt und sich einer Wahrheitslesung unterzogen. Ich empfehle, ihm einen Platz in der Gilde anzubieten, unter der Bedingung, dass er während seines restlichen Lebens das Gelände der Gilde nicht mehr verlässt. Bitte, lasst Eure Lichtkugeln weiß werden, wenn Ihr Euch meiner Empfehlung anschließen wollt.«

Langsam verblassten die Lichtkugeln von Rot nach Weiß. Nur einige wenige blieben rot. Dannyl stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Farand von Darellas wird ein Platz in der Gilde angeboten werden«, erklärte Kito.

Als er zu Farand hinüberblickte, sah er, dass der junge Mann vor Erleichterung und Aufregung grinste. Aber als Kito weitersprach, erlosch das Lächeln.

»Nächster Punkt: Seid Ihr zu dem Urteil gekommen, dass Royend von Marane zweifellos schuldig ist, außerhalb der Gilde nach Kenntnissen der Magie getrachtet und sich in Besitz von Kenntnissen der schwarzen Magie gebracht zu haben?«

Ein geradezu unheimliches Leuchten erfüllte die Halle, als die Lichtkugeln allesamt rot wurden.

»Wieder haben die höheren Magier das Gefühl, sie müssten eine Alternative zur Hinrichtung anbieten«, sagte Kito. »Das Verbrechen ist jedoch ein sehr schwerwiegendes, und wir glauben, dass nichts Geringeres als eine lebenslängliche Einkerkerung angemessen wäre. Bitte, lasst Eure Lichtkugeln weiß werden, wenn Ihr wünscht, die Strafe auf Einkerkerung zu mildern.«

Dannyl ließ seine Lichtkugel sofort weiß werden, aber ein Frösteln durchlief ihn, als ihm klar wurde, dass weniger als die Hälfte der Magier das Gleiche getan hatte. Es muss viele Jahre her sein, seit die Gilde für die Hinrichtung eines Menschen gestimmt hat, dachte er.

»Royend von Marane wird hingerichtet werden«, erklärte Kito bedrückt.

Ein Keuchen kam von den Rebellen. Ein Gefühl der Schuld stieg in Dannyl auf, und er zwang sich, die Gruppe anzusehen. Das Gesicht des Dem war weiß. Seine Frau umklammerte seinen Arm.

Kito sah die höheren Magier an, dann wandte er sich wieder an die Gerichtsversammlung und nannte den Namen eines weiteren Rebellen. Die anderen Rebellen kamen schließlich mit Einkerkerung auf begrenzte Zeit als Strafe davon. Offensichtlich sah die Gilde in Dem Marane den Führer der Gruppe und wollte an ihm ein Exempel statuieren. Seine Weigerung, mit uns zusammenzuarbeiten, hat seine Chancen auch nicht gerade verbessert, dachte Dannyl.

Als die Reihe an Kaslie kam, überraschte Kito Dannyl, indem er Argumente zu ihrer Verteidigung vorbrachte. Er drängte die Gilde, auch an ihre beiden Kinder zu denken. Seine Worte mussten die Magier hinreichend berührt haben, denn sie gewährten der Frau des Dem einen Straferlass und gestatteten ihr, in ihre Heimat zurückzukehren.

Im Anschluss daran fragten die elynischen Magier, ob sie ihrem König mittels Gedankenrede das Urteil mitteilen dürften. Lorlen stimmte zu, unter der Bedingung, dass keine anderen Informationen übermittelt wurden. Dann erklärte er die Anhörung für beendet.

Endlich erlöst von seiner Rolle, verspürte Dannyl überwältigende Erleichterung. Er hielt in der Menge der Magier, die jetzt von ihren Sitzen nach unten gingen, Ausschau nach Rothen, aber bevor er seinen Freund entdeckt hatte, hörte er, wie sein Name genannt wurde. Als er sich umdrehte, kam Administrator Kito auf ihn zu.

»Administrator«, sagte Dannyl.

»Seid Ihr zufrieden mit dem Ergebnis?«, erkundigte sich Kito.

Dannyl zuckte die Achseln. »Im Großen und Ganzen schon. Ich muss zugeben, ich glaube nicht, dass der Dem diese Strafe verdient. Er ist ein ehrgeiziger Mann, aber ich bezweifle, dass es ihm im Gefängnis jemals gelungen wäre, Magie zu erlernen.«

»Nein«, erwiderte Kito, »aber ich denke, dass die Gilde ihm seinen Angriff auf Eure Ehre verübelt hat.«

Dannyl starrte den Magier an. Das konnte doch gewiss nicht der alleinige Grund dafür sein, dass die Gilde sich für die Hinrichtung des Dem entschieden hatte?

»Wäre das eine Belastung für Euch?«, fragte Kito.

»Natürlich.«

Kito zuckte nicht mit der Wimper. »Es wäre besonders belastend, wenn seine Behauptungen der Wahrheit entsprächen.«

»Ja, das wäre es«, erwiderte Dannyl. Dann sah er den Mann mit schmalen Augen an. Versuchte Kito, ihn in eine Falle zu locken?

Kito verzog entschuldigend das Gesicht. »Es tut mir leid. Ich wollte damit nicht andeuten, dass die Behauptungen der Wahrheit entsprechen. Werdet Ihr schon bald nach Elyne zurückkehren?«

»Sofern Lorlen nicht anders entscheidet, werde ich hier bleiben, bis wir uns sicher sind, dass uns von Sachaka keine Gefahr droht.«

Kito nickte, dann wandte er den Blick ab, da jemand seinen Namen rief. »Ich werde schon bald noch einmal mit Euch sprechen, Botschafter.«

»Administrator.«

Dannyl sah dem Mann nach. Entsprach das, was Kito angedeutet hatte, der Wahrheit? Hatte die Gilde aus Ärger über Dem Maranes Bezichtigungen für seine Hinrichtung gestimmt?

Nein, dachte er. Die verstockte Haltung des Dem hat den Ausschlag gegeben. Er hatte es gewagt, nach etwas zu streben, das die Gilde als ihr alleiniges Recht ansah, und er brachte offensichtlich weder Gesetz noch Autorität Respekt entgegen.

Dennoch konnte Dannyl es nicht über sich bringen, dem Urteil der Gilde zuzustimmen. Der Dem hatte den Tod nicht verdient. Aber jetzt gab es nichts mehr, was Dannyl daran hätte ändern können.


Während Cery durch die unterirdischen Tunnel der Diebesstraße lief, ließ er sich sein letztes Gespräch mit Takan noch einmal durch den Kopf gehen. Akkarins ehemaliger Diener war schwer zu durchschauen, aber sein Verhalten hatte sowohl Langeweile als auch Furcht verraten. Unglücklicherweise konnte Cery nur wenig gegen Ersteres ausrichten und rein gar nichts gegen Letzteres.

Cery wusste, was es bedeutete, in einem versteckten, unterirdischen Haus eingepfercht zu sein, ganz gleich, wie luxuriös es sein mochte. Nach einer Weile wurde das Leben an einem solchen Ort mühsam und frustrierend. Sonea hatte unter ähnlichen Umständen gelebt, als Faren sich seinerzeit bereit erklärt hatte, sie vor der Gilde zu verstecken. Nach einer Woche war sie rastlos geworden. Für Takan war es noch frustrierender, denn er wusste, dass seinem Meister andernorts Gefahren drohten, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.

Cery hatte auch nicht vergessen, wie es ihm selbst in einer ähnlichen Situation ergangen war. Einsamkeit und die Tatsache, einem Menschen, der ihm viel bedeutete, nicht helfen zu können, hatten jede einzelne Sekunde zu einer Qual gemacht. Auch wenn es jetzt nur noch gelegentlich passierte, so träumte er doch noch immer von den Wochen, in denen Fergun ihn unter der Universität eingekerkert hatte. Wenn er daran dachte, dass Akkarin ihn damals gefunden und befreit hatte, war er umso entschlossener, Takan in jeder erdenklichen Weise zu helfen.

Er hatte sich erboten, Takan jedwede Art von Unterhaltung zu ermöglichen, nach der es den Sachakaner verlangen mochte – von Huren bis hin zu Büchern -, aber der Mann hatte jedes Mal höflich abgelehnt. Cery bat die Wachen, gelegentlich mit seinem Gast zu plaudern, und er selbst versuchte, ihn jeden Tag zu besuchen, wie Faren es seinerzeit bei Sonea gemacht hatte. Takan war jedoch kein redseliger Mensch. Er vermied Gespräche über sein Leben, bevor er Akkarins Diener geworden war, und sprach nur wenig über die Jahre danach. Zu guter Letzt entlockte Cery dem Mann einige witzige Geschichten, wie Diener sie gern über die Magier erzählten. Anscheinend war selbst Takan durchaus geneigt, sich hier und da ein wenig Klatsch zu gönnen.

Akkarin hatte während der letzten acht Tage nur wenige Male Verbindung zu Takan aufgenommen. Wenn er sich meldete, versicherte Takan Cery jedes Mal, dass Sonea lebte und unversehrt sei. Diese Nachrichten über Soneas Wohlergehen erheiterten Cery, und gleichzeitig war er dankbar dafür. Offenkundig hatte Akkarin dem Diener von Cerys größerem Interesse an Sonea erzählt.

Das gehört der Vergangenheit an, dachte Cery. Jetzt habe ich Savara, um mich zu grämen. Hatte Savara, um mich zu grämen, korrigierte er sich. Er war jedoch fest entschlossen, dass er diesmal nicht Trübsal blasen würde. Wir sind beide vernünftige Erwachsene, sagte er sich, mit Verpflichtungen, die wir nicht vernachlässigen dürfen.

Sie erreichten den Eingang zu dem Labyrinth von Tunneln, die um seine eigenen Räume herum verliefen. Stein kratzte auf Stein, als Gol die erste verborgene Tür öffnete. Cery nickte den Wachen zu, dann schlenderte er hindurch.

Sie hat gesagt, dass sie vielleicht zurückkommen wird, rief Cery sich ins Gedächtnis. Zu »Besuch«. Er lächelte. Diese Art von Beziehung hat ihre Vorzüge. Keine Erwartungen. Keine Kompromisse…

Außerdem hatte er größere Sorgen. Imardin stand wahrscheinlich eine Invasion ausländischer Magier bevor. Cery musste darüber nachdenken, was er wegen dieser Eindringlinge tun würde – falls er überhaupt etwas tun konnte. Wenn die Gilde zu schwach war, um gegen diese Ichani zu kämpfen, welche Chancen hatte da ein Nichtmagier?

Keine besonders großen, dachte er. Aber das ist besser als nichts. Es muss Möglichkeiten geben, wie gewöhnliche Menschen einen Magier töten können.

Er dachte an ein Gespräch zurück, das er vor mehr als anderthalb Jahren mit Sonea geführt hatte. Sie hatten im Scherz diskutiert, wie sie einen Novizen loswerden konnten, der Sonea quälte. Cery dachte noch immer über diese Frage nach, als einer seiner Botenjungen ihm mitteilte, dass ein Besucher auf ihn warte.

Cery ging in sein Büro, setzte sich hin, versicherte sich, dass sein Yerim noch in seiner Schublade lag, und schickte dann Gol zu dem Besucher hinaus. Als sich die Tür abermals öffnete, blickte Cery auf – und sein Herz setzte einen Schlag aus. Er erhob sich von seinem Stuhl.

»Savara!«

Sie lächelte und kam auf seinen Schreibtisch zugeschlendert. »Diesmal habe ich dich überrascht, Ceryni.«

Er ließ sich wieder auf seinen Platz fallen. »Ich dachte, du wärst abgereist.«

Sie zuckte die Achseln. »Bin ich auch. Aber auf halbem Weg zur Grenze haben meine Leute sich mit mir in Verbindung gesetzt. Auf mein Drängen hin sind sie zu dem Schluss gekommen, dass jemand in Imardin bleiben und die Invasion beobachten sollte.«

»Dafür wirst du meine Hilfe nicht brauchen.«

»Nein.« Sie setzte sich auf die Tischkante und neigte den Kopf zur Seite. »Aber ich habe schließlich gesagt, dass ich dich besuchen werde, wenn ich zurückkäme. Es könnte einige Zeit dauern, bis die Ichani auftauchen, und während ich warte, langweile ich mich vielleicht.«

Er lächelte. »Das dürfen wir nicht zulassen.«

»Ich hatte gehofft, dass du so denken würdest.«

»Was bietest du mir denn als Gegenleistung an?«

Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. »Es hat jetzt einen Preis, wenn man dich besuchen will?«

»Möglicherweise. Ich möchte nur einen kleinen Rat.«

»Tatsächlich? Welchen Rat?«

»Wie können gewöhnliche Menschen Magier töten?«

Sie lachte kurz auf. »Überhaupt nicht. Zumindest nicht, wenn ein Magier wachsam ist und etwas taugt.«

»Wie erkennt man es, wenn er nicht wachsam ist?«

Sie spitzte die Lippen. »Du machst keinen Witz – nun, natürlich tust du das nicht.«

Er schüttelte den Kopf.

Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Solange ich dabei nicht preisgebe, welche Rolle meine Leute bei alledem spielen, sehe ich keinen Grund, warum ich dir nicht helfen sollte.« Sie lächelt schief. »Und ich bin davon überzeugt, dass du eine Möglichkeit finden würdest, selbst wenn ich dir keinen Rat gäbe. Obwohl du bei dem Versuch leicht getötet werden könntest.«

»Das würde ich lieber vermeiden«, entgegnete Cery.

Sie grinste. »Mir wäre es auch lieber, du würdest es vermeiden. Also schön, wenn du mich darüber auf dem Laufenden hältst, was in der Stadt vorgeht, werde ich dir Tipps für die Ermordung von Magiern geben. Klingt das vernünftig?«

»Und ob.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte nachdenklich drein. »Ich kann dir jedoch keine sichere Methode nennen, um einen Ichani zu töten. Sie unterscheiden sich nur in einem Punkt nicht von gewöhnlichen Menschen. Auch sie machen Fehler. Du kannst sie überlisten, wenn du weißt, wie. Dazu braucht es lediglich Mut, Täuschungsmanöver und die Bereitschaft, beträchtliche Risiken einzugehen.«

Cery lächelte. »Klingt genau wie die Art von Arbeit, an die ich gewöhnt bin.«


»Ich höre Wasser.«

Akkarin drehte sich zu Sonea um, aber sein Gesicht lag im Schatten, und sie konnte seinen Ausdruck nicht erkennen.

»Dann geh«, erwiderte er.

Sie lauschte aufmerksam, dann bewegte sie sich auf das Geräusch zu. Nach so vielen Tagen in den Bergen erkannte sie jetzt das leiseste Plätschern von Wasser, das über Stein sickerte. Eine Nische in der Felswand, der sie gefolgt waren, lockte Sonea an, und sie blickte forschend in die Dunkelheit und tastete sich vorwärts.

Schließlich entdeckte sie gleichzeitig ein winziges Rinnsal und einen Spalt in der Felswand. Der schmale Durchgang führte zu einer freien Fläche. Sie zwängte sich hindurch. Als sie auf der anderen Seite herauskam, stieß sie einen leisen Laut der Überraschung aus.

»Akkarin«, rief sie.

Sie stand am Rand eines winzigen Tals. Die Seiten stiegen sachte zu steileren Felswänden auf. Verkümmerte Bäume, Büsche und Gräser wuchsen entlang eines schmalen Bachs, der fröhlich gurgelnd in einer entfernten Kluft verschwand.

Als sie ein Ächzen hörte, drehte sie sich um. Akkarin hatte einige Mühe, sich durch die Öffnung in der Felswand zu zwängen. Schließlich befreite er sich, richtete sich auf und betrachtete anerkennend das Tal.

»Sieht so aus, als wäre das ein guter Platz, um hier die Nacht zu verbringen – oder den Tag«, sagte sie.

Akkarin runzelte die Stirn. Während der letzten drei Tage waren sie bis weit in den Morgen hinein auf den Südpass zugewandert, wohlwissend, dass der Ichani hinter ihnen war. Sonea machte sich ständig Sorgen, dass Parika sie einholen würde, aber sie bezweifelte, dass er in einem so mörderischen Tempo reisen würde, wenn er keinen guten Grund dazu hatte.

»Es könnte eine Sackgasse sein«, bemerkte Akkarin. Er kehrte jedoch nicht zu der Öffnung zurück. Stattdessen machte er sich auf den Weg zu den Bäumen hinüber.

Ein lautes Schreien erklang und hallte im Tal wider. Sonea zuckte zusammen. Ein großer, weißer Vogel stieg aus einem nahen Baum auf. Plötzlich drehte sich der Vogel in der Luft. Sonea hörte ein leises Knacken, dann beobachtete sie, wie das Tier zu Boden fiel.

Akkarin kicherte. »Ich schätze, wir werden bleiben.«

Er hob das Tier auf. Als Sonea die großen Augen des Vogels sah, keuchte sie überrascht.

»Ein Mullook!«

»Ja.« Akkarin lächelte schief. »Was für eine Ironie. Was würde der König sagen, wenn er wüsste, dass wir sein Haus-Incal verspeisen?«

Er folgte dem Lauf des Bächleins stromaufwärts. Nach mehreren hundert Schritten erreichten sie das Ende des Tals. Wasser sickerte über einen hoch aufragenden Felsüberhang: die Quelle des Baches.

»Hier werden wir schlafen«, sagte Akkarin und zeigte auf den Felsüberhang. Er setzte sich ans Wasser und machte sich daran, den Vogel zu rupfen.

Sonea betrachtete das federnde Gras unter ihren Füßen, dann blickte sie zu dem harten Stein unter dem Felsüberhang. Schließlich ging sie in die Hocke und riss händeweise Gras aus. Als sie ihre Beute zu ihrem Schlafplatz trug, stieg ihr der Geruch von geröstetem Fleisch in die Nase, und sofort begann ihr Magen zu knurren.

Akkarin ließ den Mullook in einer schwebenden Hitzekugel garen und ging zu einem der Bäume hinüber. Er schaute zu den Zweigen hinauf, und im nächsten Moment begannen sie zu zittern. Sonea hörte ein dumpfes Klatschen, dann sah sie, dass Akkarin in die Hocke ging und den Boden untersuchte. Sie trat neben ihn.

»Diese Nüsse sind schwer zu öffnen, aber recht wohlschmeckend«, erklärte er und reichte ihr eine der Nüsse. »Sammle sie alle ein. Ich denke, ich habe weiter unten auch einige Dornbeeren gesehen.«

Der Mond hing tief am Himmel. In der zunehmenden Dunkelheit war es schwer, die Nüsse zu finden. Sonea ging dazu über, den Boden abzutasten, bis sie die glatte, runde Schale unter den Fingern spürte. Sie sammelte sie in dem vorderen Zipfel ihres Hemds, trug sie zu dem langsam garenden Mullook hinüber und hatte schnell eine Lösung gefunden, wie sie die Schalen aufbrechen konnte, ohne die weichen Nüsse darin zu zerquetschen.

Kurze Zeit später kehrte Akkarin mit einer runden Steinschale voller Beeren und einiger Pflanzenstängel zurück. Die Beeren waren mit scharfen, harten Stacheln bedeckt.

Während Sonea die Nüsse knackte, beobachtete sie, wie Akkarin die Beeren mit Magie anhob und sorgfältig die Haut mitsamt den Stacheln abschälte. Schon bald war die Schale zur Hälfte gefüllt mit dem dunklen Fleisch der Früchte. Als Nächstes nahm er sich die Stängel vor, deren fasrige äußere Schicht er abzog.

»Ich glaube, wir sind jetzt bereit für unser Festmahl«, sagte er. Er reichte Sonea zwei der Stängel. »Das sind Shem – nicht besonders wohlschmeckend, aber essbar. Es ist nicht gut, nur von Fleisch zu leben.«

Sonea stellte fest, dass das Innere der Stängel angenehm saftig war, auch wenn es nicht nach viel schmeckte. Akkarin teilte den Mullook, der mehr Fleisch hergab als jeder der anderen Vögel, die sie bisher gegessen hatten. Die Nüsse erwiesen sich als ebenso köstlich, wie er es versprochen hatte. Akkarin zerdrückte die Beeren und gab dann Wasser in den Brei, um ein fruchtiges Getränk herzustellen. Als sie fertig waren, fühlte sich Sonea zum ersten Mal, seit sie nach Sachaka gekommen waren, wirklich gesättigt.

»Es ist erstaunlich, dass etwas so Einfaches wie eine Mahlzeit so gut sein kann.« Sie seufzte zufrieden. Das Tal lag jetzt in fast absolutem Dunkel. »Ich bin gespannt, wie es hier bei Tageslicht aussieht.«

»Das wirst du in ein oder zwei Stunden herausfinden«, erwiderte Akkarin.

Er klang müde. Sie schaute zu ihm hinüber, aber es war zu dunkel, um sein Gesicht zu sehen.

»Dann wird es jetzt Zeit zu schlafen«, sagte sie. Sie beschwor gerade genug heilende Magie herauf, um ihre eigene Erschöpfung zu vertreiben, dann streckte sie die Hände aus. Zuerst griff er nicht danach, und sie fragte sich, ob er sie in der Dunkelheit überhaupt sehen konnte. Dann spürte sie, wie seine warmen Finger sich um ihre schlangen.

Sie holte tief Atem, dann sandte sie ihm etwas von ihrer Energie, wobei sie Acht gab, sich nicht zu erschöpfen. Nicht zum ersten Mal ging ihr die Frage durch den Kopf, ob er ihre Entscheidung, die erste Wache zu übernehmen, nur deshalb akzeptiert hatte, um sicherzustellen, dass sie ihm nicht zu viel von ihrer Energie gab. Wenn sie sich erschöpfte, würde sie nicht wach bleiben können.

Als ihre Energie langsam verebbte, hielt sie inne und zog ihre Hände weg. Akkarin blieb reglos und schweigend sitzen und machte keine Anstalten, zu dem Bett aus Gras zu gehen, das sie vorbereitet hatte.

»Sonea«, sagte er plötzlich.

»Ja?«

»Danke, dass du mit mir gekommen bist.«

Sie hielt den Atem an, dann breitete sich tiefe Freude in ihr aus. Er schwieg einen Moment und holte dann geräuschvoll Luft.

»Ich bedaure, dass ich dich von Rothen getrennt habe. Ich weiß, dass er für dich eher ein Vater als ein Lehrer war.«

Sonea betrachtete sein in der Dunkelheit verborgenes Gesicht und suchte nach seinen Augen.

»Es war notwendig«, fügte er sanft hinzu.

»Ich weiß«, flüsterte sie. »Ich verstehe.«

»Aber damals hast du es nicht verstanden«, sagte er trocken. »Du hast mich gehasst.«

Sie kicherte. »Das ist wahr. Aber ich hasse Euch nicht mehr.«

Nach kurzem Schweigen erhob er sich, ging zu dem Felsüberhang und legte sich auf das Bett aus Gras. Lange Zeit saß Sonea in der Dunkelheit. Schließlich wurde der Himmel langsam heller, und die Sterne verblassten und verschwanden. Sie hatte keine Mühe, gegen die Müdigkeit anzukämpfen, und sie wusste, dass nicht allein ihre heilende Energie dafür verantwortlich war. Akkarins plötzlicher Dank und seine Entschuldigung hatten in ihr Hoffnungen und Wünsche wachgerufen, die sie seit Tagen auszulöschen versuchte.

Kleine Närrin, schalt sie sich. Er will einfach nur nett sein. Nur weil er endlich deine Hilfe angenommen hat und bedauert, was er dir angetan hat, bedeutet das noch lange nicht, dass er in dir mehr sieht als eine nützliche, wenn auch unerwünschte Gefährtin. Ansonsten interessiert er sich nicht für dich, also hör auf, dich zu quälen.

Aber wie sehr sie auch dagegen ankämpfte, wann immer er sie berührte oder auch nur ansah, durchlief sie ein seltsames Kribbeln. Und die Tatsache, dass sie ihn immer wieder dabei ertappte, dass er sie beobachtete, machte die Sache auch nicht besser.

Sie schlang die Arme um die Knie und trommelte mit den Fingern auf die Waden. Als sie noch in den Hüttenvierteln gelebt hatte, hatte sie geglaubt, alles zu wissen, was sie über Männer und Frauen wissen musste. Später hatten ihr die Lektionen in Heilkunst gezeigt, wie wenig sie wirklich begriffen hatte. Jetzt stellte sie fest, dass nicht einmal die Heiler ihr irgendetwas Nützliches beigebracht hatten.

Aber vielleicht hatten sie ihr deshalb nicht erzählt, wie man solche Gefühle ausschalten konnte, weil das nicht möglich war. Vielleicht …

Ein leises Geräusch – eine Art Knurren – hallte durch das Tal. Sonea erstarrte, ihr Geist wurde plötzlich vollkommen still, und sie starrte in die Düsternis hinaus. Das Geräusch erklang abermals, von hinten, und mit einer fließenden Bewegung stand sie auf und wirbelte herum. Als ihr klar wurde, dass das Geräusch von irgendwo in Akkarins Nähe kam, stieg jähe Furcht in ihr auf. War da irgendein nächtliches Geschöpf, das um ihn herumschlich? Sie lief zu ihm hinüber.

Am Felsüberhang angekommen, spähte sie in die Düsternis, konnte jedoch kein Tier entdecken, das sich zum Angriff bereitmachte. Akkarins Kopf rollte hin und her. Als Sonea näher kam, stöhnte er.

Sie blieb stehen und betrachtete ihn. Er hatte wieder einen Albtraum. Erleichterung und Sorge stiegen in ihr auf. Sie überlegte, ob sie ihn wecken sollte, aber wenn sie das tat, hatte seine Miene stets klar gemacht, dass es ihm nicht gefiel, wenn sie ihn in diesen Augenblicken der Schwäche sah.

Was das betrifft, dachte sie, mir gefällt es auch nicht.

Er stöhnte abermals. Sonea zuckte zusammen, als das Geräusch ein lautes Echo im Tal fand. Geräusche trugen weit in den Bergen, und Sonea mochte sich nicht vorstellen, wer da vielleicht lauschte. Es spielte keine Rolle, ob er es mochte oder nicht, sie musste ihn aufwecken, bevor er unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

»Akkarin«, wisperte sie heiser. Er wurde wieder ruhig, und sie dachte, sie hätte ihn geweckt, aber dann war er plötzlich von Kopf bis Fuß angespannt.

»Nein!«

Erschrocken kam Sonea näher. Seine Augäpfel bewegten sich wild unter den Lidern. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Sie streckte die Hand nach ihm aus, weil sie ihn wachrütteln wollte.

Das leichte Brennen eines Schilds traf auf ihren Finger. Sie sah, wie Akkarin die Augen aufriss, dann spürte sie einen Kraftschlag, der sie hoch in die Luft schleuderte. Sie stieß mit dem Rücken gegen etwas Hartes und fiel wieder zu Boden. Schmerz schoss durch ihre Arme und Beine.

»Sonea!«

Im nächsten Moment wurde sie auf den Rücken gedreht. Akkarin blickte auf sie hinab.

»Bist du verletzt?«

Sie untersuchte sich schnell. »Nein, ich denke, es sind nur ein paar Prellungen.«

»Warum hast du mich geweckt?«

Sie betrachtete seine Hände. Selbst im schwachen Licht der Dämmerung konnte sie sehen, dass sie zitterten. »Ihr habt geträumt. Ein Albtraum…«

»Ich bin an diese Träume gewöhnt, Sonea«, sagte er leise, und seine Stimme klang beherrscht und ruhig. »Es gibt keinen Grund, mich zu wecken.«

»Ihr habt eine Menge Lärm gemacht.«

Er stutzte kurz, dann richtete er sich auf.

»Schlaf jetzt, Sonea«, murmelte er. »Ich werde Wache halten.«

»Nein«, entgegnete sie gereizt. »Ihr habt kaum geschlafen – und ich weiß, dass Ihr mich nicht wecken werdet, wenn ich an der Reihe bin, Wache zu halten.«

»Ich werde dich wecken. Ich gebe dir mein Wort darauf.«

Er beugte sich vor und hielt ihr die Hand hin. Sie ergriff sie und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. Ein strahlendes Licht blendete sie; die aufgehende Sonne stieg soeben über die Felswand und sandte ihre Strahlen bis in den Grund des Tals.

Akkarin stand plötzlich vollkommen reglos da. Sonea spürte, dass irgendetwas seine Aufmerksamkeit erregt hatte, und sie betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen, aber er war nur ein dunkler Schemen vor dem hellen Licht. Instinktiv suchte sie stattdessen mit ihrem Geist nach ihm. Sofort flammte ein Bild auf.

Ein Gesicht, das von im Morgenlicht leuchtendem Haar umrahmt war.

Diese dunklen Augen… und die helle, makellose Haut…

Es war ihr eigenes Gesicht, aber es war ganz anders als die Bilder, die sie in einem Spiegel gesehen hatte. In ihren Augen lag ein rätselhafter Glanz, ihr Haar umspielte ihren Kopf, als bewege es sich in einer leichten Brise, und ihre Lippen waren gewiss nicht so einladend geschwungen…

Er entriss ihr seine Hand und machte einen Schritt zurück.

So sieht er mich also, dachte sie plötzlich. An dem Verlangen, das sie wahrgenommen hatte, gab es keinen Zweifel. Ihr Herz begann zu rasen. All diese Zeit habe ich mich dagegen aufgelehnt, weil ich dachte, ich sei allein mit meinen Gefühlen, dachte sie. Und er hat das Gleiche getan.

Sie machte einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen. Er beobachtete sie eindringlich. Sie streckte ihren Willen nach ihm aus, um ihn in ihre eigenen Gedanken blicken zu lassen, um ihn wissen zu lassen, dass sie ihm gehörte. Als sie unmittelbar vor ihm stand, weiteten sich seine Augen vor Überraschung. Seine Hände glitten über ihre Arme, und als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihn küsste, verstärkte sich sein Griff.

Plötzlich stand er sehr reglos da. Sonea, die sich an ihn lehnte, konnte das schnelle Schlagen seines Herzens hören. Er schloss die Augen und löste sich von ihr.

»Hör auf. Hör sofort auf«, flüsterte er. Dann öffnete er die Augen wieder und sah sie durchdringend an.

Trotz seiner Worte hielt er ihre Arme noch immer fest, als widerstrebe es ihm, sie loszulassen. Sonea blickte ihm forschend ins Gesicht. Hatte sie sich geirrt, was seine Gefühle betraf? Nein, sie wusste genau, was sie bei ihm gespürt hatte.

»Warum?«

Er runzelte die Stirn. »Es ist falsch.«

»Falsch?«, hörte sie sich fragen. »Inwiefern? Wir beide empfinden… empfinden…«

»Ja«, sagte er leise. Er wandte den Blick ab. »Aber es gibt noch andere Dinge zu bedenken.«

»Was zum Beispiel?«

Akkarin ließ ihre Arme los und machte einen Schritt zurück. »Es wäre nicht anständig – dir gegenüber.«

Sonea musterte ihn forschend. »Mir gegenüber? Aber -«

»Du bist jung. Ich bin zwölf – nein, dreizehn – Jahre älter als du.«

Plötzlich ergab sein Zögern einen Sinn. »Das ist wahr«, antwortete sie bedächtig. »Aber in den Häusern werden Frauen ständig mit älteren Männern verheiratet. Mit viel älteren Männern. Einige dieser Frauen werden schon mit sechzehn Jahren verheiratet. Ich bin fast zwanzig.«

Akkarin schien mit sich zu ringen. »Ich bin dein Mentor«, rief er ihr streng ins Gedächtnis.

Sie konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. »Nicht mehr.«

»Aber wenn wir in die Gilde zurückkehren -«

»Werden wir einen Skandal verursachen?« Sie kicherte. »Ich denke, daran haben sie sich inzwischen gewöhnt.« Sie hoffte, dass er diese Bemerkung mit einem Lächeln beantworten würde, aber er runzelte nur die Stirn. Sie wurde ebenfalls wieder ernst. Außerdem beschloss sie, dass es an der Zeit sei, die Förmlichkeit zwischen ihnen fallen zu lassen. »Du redest so, als würden wir zurückkehren und alles würde wieder so sein wie zuvor. Selbst wenn wir zurückkehren, wird es für uns niemals mehr so werden, wie es einmal war. Ich bin ein schwarzer Magier. Genau wie du.«

Er zuckte zusammen. »Es tut mir leid. Ich hätte niemals -«

»Entschuldige dich nicht dafür«, rief sie. »Ich habe aus freien Stücken schwarze Magie erlernt. Und ich habe es nicht für dich getan.«

Akkarin betrachtete sie schweigend.

Sie seufzte und wandte sich ab. »Nun, das wird unsere Situation nicht einfacher machen.«

»Sonea.«

Sie drehte sich wieder um und blieb reglos stehen, als er näher kam. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und sie spürte, wie sich ihr Pulsschlag unter seiner Berührung beschleunigte.

»Jeder von uns könnte in den nächsten Wochen sterben«, sagte er leise.

Sie nickte. »Das ist mir klar.«

»Ich wäre glücklicher, wenn ich wüsste, dass du in Sicherheit bist.«

Sie sah ihn mit schmalen Augen an. Er lächelte.

»Nein, ich werde dieses Thema nicht noch einmal anschneiden, aber… du stellst meine Loyalität auf eine harte Probe, Sonea.«

Sie runzelte verständnislos die Stirn. »Inwiefern?«

Er streckte die Hand aus und strich ihr mit dem Finger über die Wange. »Das spielt keine Rolle.« Seine Mundwinkel zuckten. »Außerdem ist es ohnehin zu spät. In der Nacht, in der du die Ichani getötet hast, habe ich, was das betrifft, zum ersten Mal versagt.«

Sie blinzelte überrascht. Bedeutete das…? So lange schon…?

Er lächelte, dann legte er ihr die Hände um die Taille. Als er sie näher zu sich heranzog, beschloss sie, dass ihre Fragen warten konnten. Sie zeichnete mit den Fingerspitzen den Schwung seiner Lippen nach. Dann beugte er sich vor, und sein Mund legte sich auf ihren, und alle Fragen waren vergessen.

25 Eine Zufallsbegegnung

Gorin waren, wie Rothen entdeckt hatten, aufreizend langsame Geschöpfe. Allerdings waren die gewaltigen Tiere das bevorzugte Fortbewegungsmittel der Kaufleute. Sie waren stark, fügsam, anspruchslos und erheblich widerstandsfähiger als Pferde.

Aber es war unmöglich, sie zur Eile anzutreiben. Rothen seufzte und drehte sich nach Raven um, aber der Spion war, einen breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen, zwischen den Stoffsäcken auf dem Karren eingeschlafen. Rothen gestattete sich ein Lächeln und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Straße. Am vergangenen Abend hatten sie in einer Stadt namens Kaltbrücken für die Nacht Zimmer über einem Bolhaus gemietet. Der Spion, der sich als Rothens Vetter ausgab, hatte mehr Bol getrunken, als das irgendeinem Menschen möglich sein sollte, und die Nacht damit zugebracht, von seinem Bett zur Latrine und wieder zurück zu wanken.

Was wahrscheinlich bedeutete, dass Raven die Rolle des unerschrockenen Kaufmanns bei weitem besser spielte als Rothen. Oder soll ich den vernünftigen älteren Vetter mimen?

Rothen strich sein Hemd glatt. Das eng anliegende Kleidungsstück war deutlich unbequemer als jede Robe. Allerdings war er dankbar für seinen Reisehut. Obwohl es noch früh am Morgen war, versprach es ein heißer Tag zu werden.

In der Luft über der Straße hing eine Staubwolke, die den Horizont verschwimmen ließ. Obwohl sie seit zwei Tagen unterwegs waren, konnte er immer noch keine Berge entdecken. Rothen wusste, dass die Straße fast direkt nach Calia führte, wo sie sich teilte. Wenn man nach links abbog, kam man nach Norden zum Fort; wählte man den rechten Weg, führte einen dieser nach Nordosten zum Südpass. Das war das Ziel, zu dem er und Raven unterwegs waren. Es erschien merkwürdig, nach Nordosten zu reisen, um einen südlichen Pass zu erreichen, ging es Rothen durch den Kopf. Wahrscheinlich war diese Strecke nach ihrer Lage in den Bergen benannt worden, nicht wegen ihrer genauen Position innerhalb Kyralias. Er war früher schon einmal auf dieser Straße gereist, als er vor fünf Jahren während der Sommerpause seinen Sohn besucht hatte.

Bei dem Gedanken an Dorrien runzelte er die Stirn. Sein Sohn bewachte die Straße zum Pass, und ein Treffen war unvermeidlich. Rothen würde erklären müssen, wohin er reiste und warum, und das Ganze würde Dorrien nicht gefallen.

Er wird wahrscheinlich versuchen, sich uns anzuschließen. Rothen schnaubte leise. Das ist eine Auseinandersetzung, auf die ich mich nicht freue.

Es würden jedoch noch mehrere Tage vergehen, bevor er seinem Sohn gegenüberstand. Raven hatte gesagt, dass man mit dem Karren sechs oder sieben Tage bis zum Südpass benötigte. Bis dahin wird Sonea fünfzehn Tage in Sachaka verbracht haben, überlegte Rothen. Falls sie so lange am Leben bleibt.

Er war sehr erleichtert gewesen, als er vor fünf Tagen von Lorlen gehört hatte, dass Akkarin sich mit den höheren Magiern in Verbindung gesetzt habe. Lorlen hatte ihm außerdem von einem Gespräch zwischen zwei Sachakanern erzählt, das der Administrator und die höheren Magier mit angehört hatten. Dieses Gespräch machte Rothen große Sorgen. Ob die Fremden nun Ichani waren oder nicht, sie wollten Akkarin und Sonea offenkundig tot sehen.

»Sie haben sie ›die Kyralier‹ genannt«, hatte Lorlen gesagt. »Ich hoffe, das bedeutet nicht, dass sie alle Kyralier, die nach Sachaka kommen, genauso behandeln werden. Allerdings haben kyralische Kaufleute die Reise nach Arvice seit Jahren unbeschadet unternehmen können, und sie sagen, sie sähen keinen Grund, warum sich das in letzter Zeit geändert haben sollte. Seid einfach vorsichtig.«

»Es kommt jemand näher«, sagte Raven. »Von hinten.«

Rothen sah den Spion an. Der Mann bewegte sich leicht, und unter der Krempe seines Hutes wurde ein Auge sichtbar. Als Rothen sich umdrehte, erkannte er, dass sich tatsächlich etwas hinter dem Staub rührte, den sie aufgewirbelt hatten. Kurz darauf konnte er Pferde und Reiter ausmachen, und sein Pulsschlag beschleunigte sich.

»Magier«, sagte er. »Balkans Verstärkung für das Fort.«

»Lenkt den Wagen besser an den Straßenrand«, riet Raven ihm. »Und haltet den Kopf gesenkt. Sie sollten Euch nicht erkennen.«

Rothen zog sacht an den Zügeln. Die Gorin warfen halbherzig den Kopf hoch und bewegten sich langsam zum Rand der Straße hinüber. Das Trommeln der Hufe kam näher.

»Aber gafft sie ruhig an«, fügte Raven hinzu. »Sie werden nichts anderes erwarten.«

Der Spion setzte sich aufrecht hin. Rothen drehte sich um und spähte unter der Krempe seines Hutes hinweg zu den Magiern hinüber. Der erste Reiter, der den Karren überholte, war Lord Yikmo, der Krieger, der Sonea während des vergangenen Jahres zusätzlichen Unterricht gegeben hatte. Der Magier verschwendete nicht einmal einen Blick auf Rothen und Raven.

Die anderen Magier donnerten vorbei und wirbelten eine dichte Staubwolke auf. Raven hustete und winkte.

»Zweiundzwanzig«, sagte er, als er neben Rothen auf die Bank kletterte. »Damit verdoppelt sich die Zahl der Männer, die das Fort bewachen. Schickt die Gilde auch Magier zum Südpass?«

»Das weiß ich nicht.«

»Gut.«

Rothen sah Raven erheitert an.

»Je weniger Ihr wisst, umso weniger können die Ichani von Euch erfahren«, sagte der Spion.

Rothen nickte. »Ich weiß allerdings, dass der Südpass beobachtet wird. Wenn die Ichani von dort nach Kyralia eindringen, wird die Gilde davon Kenntnis erhalten. In diesem Fall hätten die Magier im Fort genug Zeit, um nach Imardin zurückzureiten. Die Strecke ist von beiden Pässen aus in etwa die gleiche.«

»Hm.« Raven schnalzte mit der Zunge, wie es seine Gewohnheit war, wenn er angestrengt nachdachte. »Wenn ich an der Stelle dieser Ichani wäre, würde ich den Südpass benutzen. Dort gibt es keine Magier und kein Fort, also werden sie keine Energie auf Kämpfe vergeuden. Das bedeutet nichts Gutes für uns, fürchte ich. Obwohl…« Er runzelte die Stirn. »Diese Ichani sind nicht geübt darin, gemeinsam zu kämpfen. Wenn die gesamte Gilde ihnen gegenübersteht, könnte sie vielleicht ein oder zwei von ihnen töten. Wenn die Gilde sich jedoch teilt, besteht diese Gefahr nicht. Das Fort könnte in dem Fall die bessere Wahl sein.«

Rothen zuckte die Achseln und konzentrierte sich darauf, die Gorin wieder auf die Straße zu lenken. Raven saß einige Zeit in nachdenklichem Schweigen neben ihm.

»Natürlich könnten die Ichani auch eine Erfindung des ehemaligen Hohen Lords sein«, sagte er schließlich, »eigens dazu ersonnen, die Gilde dazu zu bewegen, ihn am Leben zu lassen. Und Eure ehemalige Novizin hat ihm geglaubt.«

Rothen zog die Brauen zusammen. »Wie Ihr mir immer wieder ins Gedächtnis ruft.«

»Wenn wir gemeinsam etwas ausrichten wollen, muss ich wissen, wie die Dinge zwischen Euch und Sonea und ihrem Begleiter stehen«, erwiderte er. Sein Tonfall war respektvoll, aber entschlossen. »Ich weiß, dass Ihr Euch nicht nur aus Loyalität gegenüber der Gilde freiwillig für diese Mission gemeldet habt.«

»Nein.« Rothen seufzte. Raven würde immer weiter bohren, bis er davon überzeugt war, dass er alle Informationen hatte, die er bekommen konnte. »Sonea ist mehr für mich als nur eine von vielen Novizinnen. Ich habe sie aus den Hüttenvierteln geholt und versucht, ihr alles Notwendige zu vermitteln, damit sie sich eingliedern konnte.«

»Aber das hat sie nicht getan.«

»Es lag nicht an ihr.«

»Dann hat Akkarin sie als Geisel genommen, und Ihr konntet nichts daran ändern. Jetzt könnt Ihr es.«

»Vielleicht. Es wäre schön, wenn ich mich einfach nach Sachaka hineinschleichen und sie zurückholen könnte.« Rothen warf einen Seitenblick auf den Spion. »Aber irgendwie glaube ich nicht, dass es so leicht sein wird.«

Raven kicherte. »Das ist es nie. Glaubt Ihr, dass Sonea in Akkarin verliebt sein könnte?«

Ärger flammte in Rothen auf. »Nein. Sie hat ihn gehasst.«

»Aber sie hat verbotene Magie erlernt und ist ihm in die Verbannung gefolgt. Weil sie, wie sie es ausdrückte, sicherstellen wollte, dass er lange genug lebt, um der Gilde Zeit zu geben, wieder zur Vernunft zu kommen …«

Rothen holte tief Luft und drängte eine nagende Furcht beiseite. »Wenn sie an die Existenz dieser Ichani glaubt, wäre es nicht weiter schwierig für ihn gewesen, sie dazu zu bringen, all diese Dinge um der Gilde willen zu tun.«

»Warum sollte er sich so viel Mühe geben, wenn es diese Ichani nicht gäbe?«

»Damit Sonea ihm folgte. Er braucht sie.«

»Wofür?«

»Er braucht ihre Stärke.«

»Warum hat er sie dann in schwarzer Magie unterwiesen? Damit hat er nichts gewonnen.«

»Das weiß ich nicht. Sie hat behauptet, sie habe ihn darum gebeten. Vielleicht konnte er ihr Ansinnen nicht abschlagen, ohne ihre Unterstützung zu verlieren.«

»Dann ist sie jetzt also theoretisch genauso mächtig wie er. Wenn sie entdeckt hätte, dass er gelogen hat, warum sollte sie dann nicht nach Imardin zurückkehren oder die Gilde zumindest davon in Kenntnis setzen?«

Rothen schloss die Augen. »Weil… weil…«

»Ich weiß, dass das sehr hart für Euch ist«, sagte Raven leise, »aber wir müssen alle denkbaren Gründe und Konsequenzen in Betracht ziehen, bevor wir ihnen begegnen.«

»Ich weiß.« Rothen ließ sich die Frage durch den Kopf gehen, dann verzog er das Gesicht. »Nur weil sie schwarze Magie gelernt hat, bedeutet das nicht, dass sie mächtig ist. Schwarze Magier werden stärker, indem sie Energie von anderen beziehen. Wenn Sonea dazu keine Gelegenheit hatte, könnte Akkarin sehr viel mächtiger sein als sie. Vielleicht schwächt er sie noch zusätzlich, indem er ihr jeden Tag ihre Kraft nimmt – und möglicherweise hat er gedroht, sie zu töten, falls sie sich mit der Gilde in Verbindung setzt.«

»Ich verstehe.« Raven runzelte die Stirn. »Das bedeutet auch nichts Gutes für uns.«

»Nein.«

»Es widerstrebt mir, das zu sagen, aber ich hoffe, dass wir Eure Novizin tatsächlich in einer solchen Situation vorfinden werden. Die Alternative wäre weitaus schlimmer für Kyralia.« Er schnalzte mit der Zunge. »Und nun erzählt mir von Eurem Sohn.«


Als Akkarin stehen blieb, stieß Sonea einen Seufzer der Erleichterung aus. Obwohl sie sich inzwischen an die langen Märsche gewöhnt hatte, war ihr jede Ruhepause willkommen. Die Morgensonne war warm und machte sie schläfrig.

Akkarin stand am oberen Ende eines kurzen Hangs und wartete darauf, dass sie ihn einholte. Oben angekommen, sah Sonea, dass ihnen abermals eine Schlucht im Weg lag, die jedoch breiter und flacher war als die vorherigen. Als sie hinabblickte, stockte ihr der Atem.

Ein blaues Band teilte die Schlucht. Wasser umspülte Felsbrocken und ergoss sich über niedrige Stufen im Flussbett. Die Ufer des kleinen Flusses waren dicht bewachsen mit Bäumen und anderen Pflanzen, und an manchen Stellen griff die Vegetation bis zu den Felswänden rechts und links aus.

»Das ist der Krikara«, murmelte Akkarin. »Wenn wir ihm folgen, werden wir auf die Straße zum Südpass kommen.«

Er deutete auf die Berge, und Sonea fiel auf, dass die Gipfel zu beiden Seiten des Tals weiter auseinander lagen als die meisten übrigen benachbarten Berge. Heimweh stieg in ihr auf. Jenseits dieser Berge lag Kyralia.

»Wie weit ist es noch bis zum Pass?«

»Es wird ein langer Tagesmarsch werden.« Er runzelte die Stirn. »Wir sollten uns so dicht wie möglich an der Straße halten und dann bis zum Einbruch der Dunkelheit warten.« Er blickte in die Schlucht hinab. »Obwohl Parika mindestens einen Tag hinter uns liegen muss, werden seine Sklaven dort sein und nach ihm Ausschau halten.«

Er drehte sich zu ihr um. Da sie erriet, was er vorhatte, griff sie nach seinen Händen.

»Lass mich das tun«, sagte sie lächelnd.

Sie schuf eine magische Scheibe unter ihren Füßen und ließ sie dann über den Grat des Kamms gleiten. Kurze Zeit später landeten sie auf einem Fleckchen Gras zwischen den Bäumen.

Als sie den Kopf hob, stellte sie fest, dass Akkarin sie eindringlich musterte.

»Weshalb siehst du mich so an?«

Er lächelte. »Ganz ohne Grund.« Dann wandte er sich ab und ging den Fluss entlang. Sonea schüttelte den Kopf und folgte ihm.

Nachdem sie so lange über trockene Berghänge und Felsen gewandert waren, hellte der Anblick von so viel sauberem, fließendem Wasser und üppiger Vegetation ihre Stimmung beträchtlich auf. Sie stellte sich vor, dass hoch oben Regen fiel, der sich zu Bächlein und dann zu Bächen sammelte, die alle den Fluss speisten, der durch die Schlucht strömte. Als sie sich noch einmal umdrehte, fragte sie sich, wo der Fluss enden mochte. Erreichte er auch das trockene Ödland unter ihnen?

Die Bäume und das Unterholz machten das Fortkommen jedoch ein wenig schwieriger. Akkarin hielt sich im Schatten einer Felsmauer, so dass sie der Vegetation so weit wie möglich ausweichen konnten. Nach einer Stunde trafen sie auf einen dichten Wald, der sich von einer Seite der Schlucht bis zur anderen zu erstrecken schien und ihnen den Blick auf den Fluss versperrte. Im Gänsemarsch zwängten sie sich durch das Unterholz, und je weiter sie kamen, umso lauter war das Plätschern von Wasser auf Stein zu hören. Als sie wieder ins Sonnenlicht hinaustraten, versperrte ein breiter Teich ihren Weg.

Sonea sog scharf die Luft ein. Über ihnen ragte eine Felswand auf, von der der Fluss in breitem Strom in den Teich darunter stürzte. Nach der Stille der Berghänge war das Geräusch ohrenbetäubend. Sie drehte sich zu Akkarin um.

»Können wir hier Rast machen?«, fragte sie eifrig. »Das können wir doch tun, nicht wahr? Ich habe seit Wochen kein richtiges Bad mehr genommen.«

Akkarin lächelte. »Ich schätze, eine kurze Rast wird nicht schaden.«

Sie strahlte ihn an, dann setzte sie sich auf einen nahen Felsen und zog ihre Stiefel aus. Als sie in das flache Wasser des Teichs stieg, keuchte sie auf.

»Es ist eiskalt!«

Sie konzentrierte sich und sandte Wärme in das Wasser. Sofort wurde die Temperatur angenehmer. Langsam watete sie tiefer in den Teich hinein. Wenn sie sich nicht allzu abrupt bewegte und kaltes Wasser aufwirbelte, so stellte sie fest, konnte sie das Wasser um sich herum behaglich warm halten.

Während ihre Hose sich mit Wasser vollsog, wurde der Stoff langsam schwerer. Sie sah, dass der Teich in der Mitte viel tiefer war. Als das Wasser ihr bis knapp über die Knie reichte, setzte sie sich hin und ließ sich bis zum Hals davon umspülen.

Der steinige Boden war ein wenig glitschig, aber das störte sie nicht. Langsam ließ sie den Kopf unter die Wasseroberfläche gleiten. Als sie sich aufrichtete, um nach Luft zu schnappen, hörte sie ganz in ihrer Nähe ein Platschen. Sie drehte sich um und bemerkte, dass Akkarin ins Wasser gewatet kam. Er sah sich den ganzen Teich aufmerksam an, dann tauchte er plötzlich ab. Eine Welle eiskalten Wassers schwappte über Sonea zusammen, und sie fluchte.

Sie beobachtete, wie er unter der Wasseroberfläche dahinglitt. Als er wieder auftauchte, klebte ihm das lange Haar am Gesicht. Er schüttelte es sich aus den Augen und wandte sich zu ihr um.

»Komm her.«

Sie konnte sehen, dass er Wasser trat. Der Teich war tief. Sonea schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht schwimmen.«

Er glitt ein wenig näher zu ihr heran, dann drehte er sich auf den Rücken. »Meine Familie hat jeden Sommer am Meer verbracht«, erklärte er. »Wir sind fast jeden Tag schwimmen gegangen.«

Sonea versuchte vergeblich, sich ihn als Jungen vorzustellen, der im Meer schwamm. »Ich habe einige Male in der Nähe des Flusses gelebt, aber in dem schwimmt niemand.«

Akkarin kicherte. »Zumindest nicht freiwillig.«

Er drehte sich wieder um und schwamm auf den Wasserfall zu. Als er dort ankam, hatte er wieder Boden unter den Füßen; er strich mit der Hand durch den Vorhang aus Wasser, bevor er hindurchtrat.

Einen Moment lang waren noch die Umrisse seines Körpers zu sehen, dann nichts mehr. Sonea wartete darauf, dass er zurückkam. Nach mehreren Minuten wurde sie neugierig. Was hatte er hinter dem Wasserfall entdeckt?

Sie machte einige Schritte und ging dann durch das seichte Wasser am Ufer des Teichs. Es war zuerst kaum mehr als knöcheltief und wurde dann in der Nähe des Wasserfalls stetig tiefer. Dort angekommen, reichte ihr das Wasser bis über die Taille, aber sie konnte spüren, dass der Felsgrund unter dem Wasserfall selbst wieder anstieg.

Sie strich mit der Hand durch das herabrauschende Wasser. Es war schwer und kalt. Sie straffte sich und tat den Schritt hindurch. Ihre Knie trafen auf Stein.

Hinter dem Wasserfall hatte sich etwa auf Schulterhöhe ein Felsvorsprung gebildet. Dort saß Akkarin an den Stein gelehnt und mit übereinander geschlagenen Beinen. Er lächelt Sonea zu.

»Es ist hier ziemlich abgeschieden, wenn auch ein wenig eng.«

»Und laut«, ergänzte sie.

Nachdem sie sich auf den Vorsprung gezogen hatte, drehte sie sich um und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Die Grün- und Blautöne der Außenwelt färbten den Vorhang aus Wasser.

»Es ist wunderschön«, sagte sie.

»Ja.«

Er griff nach ihrer Hand und blickte hinab. »Du frierst«, sagte er.

Als er beide Hände um ihre legte, überlief sie ein warmer Schauder. Sie sah ihn an und stellte fest, dass die Stoppeln an seinem Kinn zu dichtem Haar gewachsen waren. Er würde mit einem Bart vielleicht gar nicht schlecht aussehen, überlegte sie. Und seine Kleider überlassen, wenn sie nass sind, gewiss nichts der Fantasie.

Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Weshalb siehst du mich so an?«

Sie zuckte die Achseln. »Ohne Grund.«

Er lachte, dann senkte er den Blick. Sie sah ebenfalls hinunter, dann stieg ihr die Hitze ins Gesicht, als ihr bewusst wurde, dass auch ihr die Kleider am Leib klebten. Sie machte Anstalten, sich zu bedecken, aber er hielt ihre Hände fest. Dann sah sie das schelmische Funkeln, das in seine Augen getreten war, und lächelte.

Er zog sie näher an sich.

Alle Gedanken an Zeit, an die Ichani und an anständige, trockene Gewänder entglitten ihr. Wichtigere Angelegenheiten verlangten ihre ganze Aufmerksamkeit: die Wärme von nackter Haut auf Haut, der Klang seines Atems, das Verlangen, das wie Feuer durch ihren Körper schoss, und dann die Feststellung, wie behaglich es war, sich auf diesem Felsvorsprung aneinander zu schmiegen.

Magie hat durchaus ihren Nutzen, dachte sie. Einen kalten, engen Ort kann sie warm und gemütlich machen. Muskeln, die vom Gehen müde sind, können neue Kraft bekommen. Und da wäre ich aus Hass auf die Magier einmal bereit gewesen, auf das alles zu verzichten. Wenn ich das getan hätte, wäre ich jetzt nicht bei Akkarin.

Nein, dachte sie, als ihr die Wirklichkeit mit Macht wieder bewusst wurde, ich wäre ein herrlich unwissender Hüttenbewohner, ohne die geringste Ahnung, dass ungeheuer mächtige Magier im Begriff stehen, mein Zuhause zu überfallen. Magier, neben denen sich die Gilde bescheiden und großmütig ausnimmt.

Sie streckte die Hand nach dem herabfallenden Wasser aus. Es teilte sich unter ihren Fingern, und in der Lücke sah sie die Bäume und den Teich draußen… und eine Gestalt.

Sie erstarrte und riss die Hand weg.

Akkarin richtete sich auf. »Was ist los?«

Ihr Herz raste. »Da steht jemand am Ufer des Teichs.«

Er zog sich auf die Ellbogen hoch, dann runzelte er die Stirn. »Sei einen Moment still«, murmelte er.

Das gedämpfte Geräusch von Stimmen erreichte sie. Sonea gefror das Blut in den Adern. Akkarin betrachtete die Wand aus Wasser, und sein Blick heftete sich auf eine natürliche Lücke darin, wo der Felsvorsprung über dem Wasserfall etwas höher aufragte. Langsam zog er sich auf Händen und Knien hoch und kroch auf die Lücke zu.

Als er sie erreicht hatte, hielt er inne, dann verhärteten sich seine Züge. Er drehte sich zu ihr um und formte mit den Lippen ein einziges Wort: Parika.

Sonea griff nach ihrem Hemd und ihrer Hose und mühte sich hinein. Akkarin schien zu lauschen. Sie bewegte sich lautlos auf ihn zu.

»… nichts passiert. Ich wollte nur auf Eure Rückkehr vorbereitet sein«, sagte eine Frau unterwürfig. »Seht Ihr, ich habe Dornbeeren und Tiro-Nüsse gesammelt.«

»Du hättest dich nicht vom Pass entfernen dürfen.«

»Riko ist dort.«

»Riko schläft.«

»Dann bestraft Riko.«

Es folgte ein wortloser Protest, dann ein dumpfer Aufprall. »Verzeiht mir, Meister«, wimmerte die Frau.

»Steh auf. Ich habe keine Zeit für so etwas. Ich habe seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen.«

»Gehen wir dann direkt nach Kyralia?«

»Nein, nicht bevor Kariko bereit ist. Und ich muss bis dahin gut ausgeruht sein.«

Stille folgte. Durch den Vorhang aus Wasser sah Sonea eine Bewegung. Akkarin kroch von der Lücke weg, zu ihr hinüber. Sie spürte seinen Arm um ihre Taille und lehnte sich an seinen warmen Oberkörper.

»Du zitterst ja«, bemerkte er.

Sonea holte tief und zittrig Luft. »Das war knapp. Zu knapp.«

»Ja«, sagte er. »Ein Glück, dass ich unsere Stiefel versteckt habe. Manchmal zahlt sich übertriebene Vorsicht aus.«

Sonea schauderte. Weniger als zwanzig Schritte entfernt stand ein Ichani. Wenn sie nicht beschlossen hätte zu baden und Akkarin nicht die Nische hinter dem Wasserfall entdeckt hätte …

»Er ist jetzt vor uns«, sagte sie.

Akkarins Griff verstärkte sich ein wenig. »Ja, aber es hört sich so an, als sei Parika der einzige Ichani auf dem Pass. Außerdem hört es sich so an, als habe Kariko die Absicht, Kyralia in den nächsten Tagen zu überfallen.« Er seufzte. »Ich habe versucht, Lorlen zu erreichen, aber er trägt den Ring nicht. Er hat ihn schon seit Tagen nicht mehr übergestreift.«

»Also warten wir, bis Parika nach Kyralia geht, und dann folgen wir ihm?«

»Oder wir versuchen heute Nacht, uns an ihm vorbeizuschleichen, während er schläft.« Er hielt inne, dann schob er sie ein wenig von sich, so dass er sie ansehen konnte. »Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zur Küste. Und von der Küste ist es nur noch ein Ritt von wenigen Tagen bis nach Imardin. Wenn du in diese Richtung gehen würdest, während ich -«

»Nein.« Sonea war überrascht von der Entschiedenheit ihrer eigenen Stimme. »Ich lasse dich nicht allein.«

Seine Miene wurde streng. »Die Gilde braucht dich, Sonea. Sie haben keine Zeit, schwarze Magie aus meinen Büchern zu lernen. Sie brauchen jemanden, der sie ausbilden und der für sie kämpfen kann. Wenn wir beide über den Pass gehen, werden wir vielleicht beide gefangen und getötet. Wenn du nach Süden gehen würdest, könnte zumindest einer von uns Kyralia erreichen.«

Sonea löste sich von ihm. Es klang vernünftig, aber es gefiel ihr nicht. Er ging an ihr vorbei und begann sich anzuziehen.

»Du brauchst meine Stärke«, sagte sie.

»Die Stärke eines einzigen Tages wird keinen Unterschied für mich machen. Ich hätte während dieser letzten Wochen ohnehin nicht genug Macht sammeln können, um einem Ichani gegenüberzutreten. Dazu hätte ich zehn oder zwanzig von deinesgleichen gebraucht.«

»Es wäre nicht nur ein einziger Tag. Um vom Pass nach Imardin zu gelangen, braucht man noch einmal vier oder fünf Tage.«

»Selbst vier oder fünf Tage werden nur einen geringen Unterschied machen. Wenn die Gilde meine Hilfe annimmt, werde ich Hunderte von Magiern haben, von denen ich Energie beziehen kann. Wenn sie es nicht tut, ist sie ohnehin verloren.«

Sonea schüttelte langsam den Kopf. »Du bist derjenige, auf den es ankommt. Du hast das Wissen und die Fähigkeit und die Macht, die wir gesammelt haben. Du solltest nach Süden gehen.« Sie blickte stirnrunzelnd zu ihm auf. »Wenn es sicherer ist, warum gehen wir dann nicht beide nach Süden?«

Akkarin hob sein Hemd auf und seufzte. »Weil ich dort nicht rechtzeitig ankommen würde.«

Sie starrte ihn an. »Dann werde ich ebenfalls nicht rechtzeitig dort sein.«

»Nein, aber wenn ich scheitern sollte, könntest du dem, was von der Gilde übrig geblieben ist, bei der Rückeroberung Kyralias helfen. Es wird den übrigen Verbündeten Ländern nicht gefallen, sachakanische schwarze Magier als Nachbarn zu haben. Sie würden -«

»Nein!«, rief sie. »Ich werde mich nicht von den Kämpfen fern halten, bis die Schlacht vorbei ist.«

Akkarin streifte sich das Hemd über den Kopf, schlüpfte in die Ärmel und trat dann neben Sonea. Er griff nach ihrer Hand und musterte sie eindringlich.

»Es wäre leichter für mich, den Ichani gegenüberzutreten, wenn ich mich nicht darum sorgen müsste, was sie dir antun könnten, sollte ich scheitern.«

Sie erwiderte seinen Blick. »Glaubst du, es wäre einfacher für mich«, fragte sie leise, »wenn ich wüsste, was sie dir antun werden?«

»Wenn du nach Süden gehst, wäre zumindest einer von uns in Sicherheit.«

»Warum gehst du dann nicht nach Süden?«, entgegnete sie. »Ich bleibe hier und regle das kleine Ichani-Problem der Gilde.«

Die Muskeln in seinem Kiefer spannten sich an, dann verzog sein Mund sich zu einem Lächeln, und er kicherte.

»Das hätte keinen Sinn. Ich müsste dich begleiten, um das mit eigenen Augen zu sehen.«

Sie grinste, dann wurde sie wieder ernst. »Ich werde nicht zulassen, dass du ganz allein kämpfst und alle Risiken auf dich nimmst. Wir werden uns gemeinsam diesen Dingen stellen.« Sie hielt inne. »Hm, wir sollten es wahrscheinlich vermeiden, diesem Ichani auf dem Pass zu begegnen. Aber ich bin davon überzeugt, dass uns mit vereinten Kräften eine andere Möglichkeit einfallen wird.«


Der Stapel von Briefen auf Lorlens Schreibtisch kippte langsam um. Osen fing die Briefe rechtzeitig auf und teilte sie dann in zwei kleinere Stapel.

»Dieses Verbot der Gedankenrede wird einige zusätzliche Aufträge für Kuriere mit sich bringen«, bemerkte der junge Magier.

»Ja«, pflichtete Lorlen ihm bei. »Und für die Federhersteller. Ich werde meine Federn jetzt wahrscheinlich doppelt so schnell verschleißen wie früher. Wie viele Briefe müssen wir noch beantworten?«

»Das ist der letzte«, erwiderte Osen.

Lorlen setzte schwungvoll seine Unterschrift unter das Schreiben, dann machte er sich daran, die Feder zu reinigen.

»Es ist schön, Euch wieder hier zu haben, Osen«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie ich ohne Euch zurechtkommen würde.«

Osen lächelte. »Gar nicht. Nicht solange Ihr gleichzeitig die Pflichten des Administrators und des Hohen Lords schultern müsst.« Er hielt inne. »Wann werden wir einen neuen Hohen Lord wählen?«

Lorlen seufzte. Dieses Thema hatte er bisher stets gemieden. Er konnte sich einfach keinen anderen als Akkarin auf diesem Posten vorstellen. Dennoch würde er irgendwann besetzt werden müssen – und zwar je früher, desto besser, falls Akkarins Prophezeiungen sich als wahr erweisen sollten.

»Nachdem die Angelegenheit mit den elynischen Rebellen jetzt geregelt ist, wird man wahrscheinlich bei der nächsten Zusammenkunft Kandidaten aufstellen.«

»In einem Monat?« Osen verzog das Gesicht und betrachtete den Stapel mit Briefen. »Könnt Ihr nicht früher damit beginnen?«

»Möglicherweise. Aber bisher hat keiner der höheren Magier vorgeschlagen, die Angelegenheit schon früher in Angriff zu nehmen.«

Osen nickte. Er war, wie Lorlen bemerkte, an diesem Morgen ungewöhnlich geistesabwesend.

»Was bedrückt Euch?«

Der junge Mann sah Lorlen an, dann runzelte er die Stirn. »Wenn sich Akkarins Geschichte als wahr erweist, wird die Gilde ihn dann wieder in sein früheres Amt einsetzen?«

Lorlen atmete tief durch. »Das bezweifle ich. Niemand wird einen schwarzen Magier als Hohen Lord haben wollen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Gilde Akkarin wieder aufnehmen würde.«

»Was ist mit Sonea?«

»Sie hat sich gegen den König aufgelehnt. Wenn der König einen schwarzen Magier in der Gilde duldet, dann nur jemanden, von dem er weiß, dass er oder die Gilde ihn beherrschen kann.«

Osen zog die Brauen zusammen und wandte den Blick ab. »Dann wird Sonea ihre Ausbildung also niemals beenden.«

»Nein.« Als Lorlen das sagte, wurde ihm bewusst, dass es tatsächlich der Wahrheit entsprach, und ein Gefühl der Trauer stieg in ihm auf.

»Dieser Bastard«, zischte Osen und erhob sich von seinem Stuhl. Er hielt inne. »Tut mir leid. Ich weiß, dass er Euer Freund war und Ihr immer noch eine gewisse Achtung vor ihm habt. Aber Sonea hätte etwas… etwas ganz Besonderes sein können. Ich wusste, dass sie unglücklich war. Es war so offenkundig, dass Akkarin einer der Gründe dafür war, aber ich habe nichts dagegen unternommen.«

»Ihr hättet auch nichts tun können«, sagte Lorlen.

Osen schüttelte den Kopf. »Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich sie fortgebracht. Was hätte er ohne sie als Geisel schon ausrichten können?«

Lorlen blickte auf seine Hand hinab, auf den Finger, an dem der Ring gesteckt hatte. »Die Gilde übernehmen? Euch und Rothen töten? Quält Euch nicht, Osen. Ihr wusstet es nicht, und selbst wenn Ihr es gewusst hättet, hättet Ihr ihr nicht helfen können.«

Der junge Magier schwieg einige Zeit. »Ihr tragt diesen Ring nicht mehr«, bemerkte er plötzlich.

Lorlen blickte auf. »Nein. Ich bin seiner müde geworden.« Ein Stich der Furcht durchzuckte ihn. Hatte Osen genug über Blutsteine gehört, um zu ahnen, was es mit dem Ring auf sich hatte? Wenn ja, und wenn er sich daran erinnerte, dass Lorlen den Ring anderthalb Jahre lang getragen hatte, dann würde Osen begreifen, dass Lorlen viel länger von Akkarins Geheimnis wusste, als er zugegeben hatte.

Osen griff nach den zwei Briefstapeln und lächelte schief. »Ihr habt schon genug Sorgen, auch ohne dass ich über die Vergangenheit lamentiere. Ich sollte mich wohl am besten ein wenig nützlich machen und Kuriere für diese Briefe suchen.«

»Ja. Vielen Dank.«

»Ich komme zurück, sobald ich damit fertig bin.«

Lorlen sah seinem Assistenten nach, und als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, betrachtete er noch einmal seine ringlose Hand. Wie lange er sich gewünscht hatte, diesen Ring loswerden zu können! Jetzt wünschte er verzweifelt, er könnte ihn zurückbekommen. Der Ring lag sicher verschlossen in der Magierbibliothek. Er konnte ihn jederzeit von dort holen …

Aber konnte er das wirklich? Er wusste, was Balkan dazu sagen würde. Es war zu gefährlich. Und die anderen höheren Magier würden ihm Recht geben.

Mussten Balkan oder die anderen überhaupt davon erfahren?

Natürlich müssen sie es wissen. Und sie haben Recht: Es ist zu gefährlich. Ich wünschte nur, ich wüsste, was da vorgeht.

Seufzend richtete Lorlen seine Aufmerksamkeit wieder auf die Bittgesuche und Briefe auf seinem Schreibtisch.

26 Der Südpass

Als sie sich einem der Ausgänge aus Cerys Räumen näherten, blieb Gol stehen und drehte sich um.

»Meinst du, du solltest den anderen Dieben von diesen Magiern erzählen?«

Cery seufzte. »Ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir glauben würden.«

»Vielleicht später, wenn du Beweise hast.«

»Vielleicht.«

Der hochgewachsene Mann stieg eine Leiter zu einer Luke hinauf. Er schob den Riegel zurück, dann drückte er die Luke vorsichtig auf. Stimmengewirr drang an Cerys Ohren. Gol stieg durch die Luke, dann bedeutete er Cery, dass er ihm ohne Gefahr folgen konnte.

Sie traten in einen kleinen Raum, in dem Bol gelagert wurde. Zwei Männer saßen an einem Tisch und spielten. Sie nickten Cery und Gol höflich zu. Obwohl sie wussten, dass es ihre Aufgabe war, einen der Eingänge zur Straße der Diebe zu bewachen, hatten sie keine Ahnung, dass man auf diesem Weg ziemlich direkt zum Unterschlupf eines wichtigen Anführers gelangte.

Der folgende Marsch war kurz, aber Cery machte unterwegs bei einem Bäcker und einigen anderen Zünftlern Halt. Die Besitzer ahnten von der Identität ihres Kunden ebenso wenig wie die Wachen. Cery erkundigte sich sehr unauffällig danach, ob sie zufrieden seien mit ihren Übereinkünften mit »dem Dieb«, und alle bis auf einen gaben ihm die Antwort, die er hören wollte.

»Wenn wir hier fertig sind, sieh zu, dass jemand überprüft, was mit dem Mattenflechter los ist«, sagte Cery zu Gol, als sie wieder in den unterirdischen Tunneln waren. »Irgendetwas macht ihm zu schaffen.«

Gol nickte. Als sie ihr Ziel erreichten, trat er vor, um eine schwere Metalltür aufzuziehen, was ihn einige Kraft kostete. In dem kurzen Gang dahinter saß ein dünner Mann.

»Ren. Wie geht es unserem Gast?«, fragte Cery.

Der Mann erhob sich. »Er ist die ganze Zeit auf und ab gelaufen. Ich glaube, er ist beunruhigt.«

Cery runzelte die Stirn. »Dann öffne die Tür.«

Ren bückte sich und griff nach einer Kette auf dem Fußboden. Er zog daran, und eine Vibration lief durch den Boden. Die Wand gegenüber glitt zur Seite und gab den Blick auf ein luxuriöses Zimmer frei.

Takan stand einige Schritt entfernt; die Geräusche hatten ihn auf ihre Ankunft aufmerksam gemacht. Er wirkte angespannt und tatendurstig. Cery wartete, bis die Tür sich hinter Gol wieder geschlossen hatte, bevor er das Wort an Takan richtete.

»Was ist los?«

Der Sachakaner stieß einen kurzen Atemzug aus. »Akkarin hat mit mir gesprochen. Er hat mich gebeten, dir einige Dinge zu erklären.«

Cery blinzelte überrascht, dann deutete er auf die Stühle. »Wir sollten uns besser setzen. Ich habe etwas zu essen und Wein mitgebracht.«

Takan hockte sich auf die Kante eines Stuhls im Empfangsraum. Cery nahm ihm gegenüber Platz, während Gol in der Küche verschwand, um Teller und Gläser zu holen.

»Du weißt, dass die Mörder, nach denen du in Akkarins Auftrag gesucht hast, sachakanische Magier waren«, begann Takan. »Und du weißt, dass man Akkarin und Sonea ins Exil geschickt hat, weil sie schwarze Magie benutzt haben.«

Cery nickte.

»Die Mörder waren ehemalige Sklaven«, erklärte Takan, »von ihren Herren ausgeschickt, um Kyralia und die Gilde auszuspionieren – und Akkarin zu töten, falls sie eine Gelegenheit dazu fänden. Ihre Herren sind mächtige Magier und unter dem Namen Ichani bekannt. Sie benutzen schwarze Magie, um von ihren Sklaven – oder ihren Opfern – magische Stärke zu beziehen. Die Menschen in meinem Land nennen das höhere Magie und haben kein Gesetz dagegen.«

»Diese Magie macht sie stärker?«, fragte Cery. Obwohl er all das von Savara wusste, musste er so tun, als seien diese Dinge neu für ihn.

»Ja. Akkarin hat in meinem Land schwarze Magie erlernt. Ich bin mit ihm nach Kyralia zurückgekehrt, und er hat Stärke von mir genommen, um gegen die Spione kämpfen zu können.«

»Du warst ein Sklave?«

Takan nickte.

»Du sagst, diese Mörder – die Spione – seien ehemalige Sklaven. Und doch haben auch sie schwarze Magie benutzt.«

»Man hat sie in das Geheimnis der höheren Magie eingeweiht, damit sie lange genug überlebten, um Informationen über die Verteidigungsstrategien Kyralias zusammenzutragen.«

Cery runzelte die Stirn. »Wenn sie frei waren, warum haben sie dann weiterhin getan, was ihre Herren wollten?«

Takan blickte zu Boden. »Wenn man einmal Sklave war, ist es sehr schwer, sich wieder an die Freiheit zu gewöhnen, vor allem, wenn man schon als Sklave geboren wurde«, erwiderte er leise. »Und die Spione haben die Gilde genauso gefürchtet, wie sie die Ichani gefürchtet haben. Sie haben nur zwei Möglichkeiten gesehen: sich im Land des Feindes zu verstecken oder nach Sachaka zurückzukehren. Bevor Akkarin und Sonea öffentlich in die Verbannung geschickt wurden, glaubten die meisten Sachakaner, dass die Gilde noch immer höhere Magie praktiziere. Alle früheren Spione waren getötet worden. Sachaka schien ein wenig sicherer zu sein. Die Gefahren dort sind zumindest vertraut. Aber die Spione wussten, dass die Ichani sie töten würden, wenn sie zurückkehrten, ohne ihre Mission erfüllt zu haben.«

Gol kam mit Wein, Gläsern und einem Teller gefüllter Brötchen zurück. Der stämmige Mann bot Takan ein Glas Wein an, aber der Diener schüttelte den Kopf.

»Jetzt wissen die Ichani, dass die Gilde keine höhere Magie benutzt«, fuhr Takan fort. »Sie wissen, dass sie stärker sind als die kyralischen Magier. Ihr Anführer, ein Mann namens Kariko, hat schon seit Jahren versucht, sie zu einen. Jetzt hat er Erfolg gehabt. Akkarin hat sich heute Morgen mit mir in Verbindung gesetzt und mich gebeten dir Folgendes mitzuteilen: Die Ichani haben die Absicht, während der nächsten Tage nach Kyralia einzudringen. Du musst die Gilde warnen.«

»Und man wird mir glauben?«, fragte Cery zweifelnd.

»Die Nachricht muss anonym überbracht werden, aber ihr Empfänger wird aufgrund des Inhalts wissen, von wem sie kommt. Akkarin hat mir erklärt, wie dieses Schreiben aussehen soll.«

Cery nickte, dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und trank einen Schluck Wein.

»Wie viel weiß die Gilde?«

»Alles, bis auf diese letzte Neuigkeit. Sie glauben zwar nichts davon, aber Akkarin hofft, dass sie trotzdem Vorbereitungen treffen werden, für den Fall, dass es wahr ist.« Takan zögerte. »Die Aussicht, dass deinem Land ein Krieg droht, scheint dich nicht besonders zu erschrecken.«

Cery zuckte die Achseln. »Oh, es erschreckt mich durchaus. Aber es überrascht mich nicht. Ich habe schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass etwas Großes geschehen wird.«

»Du machst dir keine Sorgen?«

»Warum? Das ist eine Angelegenheit der Magier.«

Takans Augen weiteten sich. »Ich wünschte um deinetwillen, dass es so wäre. Aber wenn diese Ichani die Gilde und den König aus dem Weg geschafft haben, werden sie nicht zulassen, dass die gewöhnlichen Menschen ihr Leben weiterleben, als sei nichts geschehen. Jene, die sie nicht versklaven, werden sie töten.«

»Zuerst müssten sie uns finden.«

»Sie werden all eure Tunnel zum Einsturz bringen und eure Häuser niederreißen. Eure geheime Welt würde nicht überleben.«

Bei dem Gedanken an Savaras Vorschläge, wie man Magier töten konnte, lächelte Cery.

»Es wird ihnen nicht so leicht fallen, wie sie glauben«, sagte er düster. »Nicht wenn ich ein Wörtchen mitzureden habe.«


Dannyl trat aus der Universität und betrachtete das geschäftige Treiben im Innenhof. Die Mittagspause hatte soeben begonnen, und überall auf dem Grundstück genossen Novizen die sommerliche Wärme. Er beschloss, ihrem Beispiel zu folgen und einen Spaziergang durch die Gärten zu machen.

Als er die schattigen Gehwege erreichte, ließ er sich noch einmal sein Gespräch mit Lord Sarrin durch den Kopf gehen. Jetzt, da über das Schicksal der Rebellen entschieden und Rothen nach Sachaka aufgebrochen war, hatte Dannyl nur wenig zu tun. Deshalb hatte er sich erboten, bei der Erbauung des neuen Ausgucks zu helfen. Dannyls Angebot hatte das Oberhaupt der Alchemisten überrascht – es war, als hätte Sarrin das Projekt vollkommen vergessen.

»Der Ausguck. Ja, natürlich«, hatte Sarrin geistesabwesend gesagt. »Das wird uns allen ein wenig zu tun geben, es sei denn… aber dann wird es keine Rolle mehr spielen. Ja«, hatte er in entschiedenerem Tonfall wiederholt. »Ihr könnt Lord Davin fragen, ob Ihr mithelfen könnt.«

Beim Verlassen der Universität hatte Dannyl Lord Balkan aus dem Büro des Administrators kommen sehen. Der Krieger hatte einen besorgten Eindruck gemacht. Das war zu erwarten, aber Balkans Miene hatte den Verdacht nahe gelegt, dass es Neuigkeiten gab.

Ich wünschte, ich wüsste, was da vorgeht, dachte Dannyl. Er schaute sich um und bemerkte die angespannten Gesichter einer Gruppe von Novizen, die ganz in der Nähe stand. Und offenkundig bin ich nicht allein mit diesem Wunsch.

Er bog um eine Ecke und sah einen Novizen allein auf einer Gartenbank sitzen. Der Junge war älter, wahrscheinlich ein Schüler des fünften Jahres, und er wirkte sehr mager und kränklich. Außerdem kam er Dannyl seltsam bekannt vor.

Als er näher kam, wurde ihm klar, dass er keinen Jungen vor sich hatte. Es war Farand. Dannyl ging auf die Gartenbank zu.

»Farand.«

Der junge Mann blickte auf und lächelte verlegen. »Botschafter.«

Dannyl setzte sich. »Wie ich sehe, habt Ihr Roben bekommen. Habt Ihr schon mit der Ausbildung begonnen?«

Farand nickte. »Im Moment bekomme ich Privatunterricht. Ich hoffe, sie werden mir die Demütigung ersparen, mich den jüngeren Novizen anschließen zu müssen.«

Dannyl kicherte. »Ihr wollt Euch doch nicht etwa den ganzen Spaß entgehen lassen?«

»Nach allem, was ich gehört habe, hattet Ihr es als Novize auch nicht leicht.«

»Nein.« Dannyl wurde wieder ernst. »Jedenfalls nicht in den ersten Jahren. Aber lasst Euch nicht von meinen Erfahrungen abschrecken. Manche Magier behaupten, ihre Jahre an der Universität wären die vergnüglichsten in ihrem Leben gewesen.«

Der junge Mann runzelte die Stirn. »Ich hatte gehofft, dass von jetzt an alles einfacher werden würde, aber langsam kommen mir Zweifel. Ich habe gehört, dass der Gilde ein Krieg droht. Wir werden entweder gegen Akkarin oder gegen sachakanische Magier kämpfen müssen. So oder so, niemand ist sicher, dass wir gewinnen werden.«

Dannyl nickte. »Ihr habt Euch vielleicht zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt der Gilde angeschlossen, Farand. Aber wenn Ihr das nicht getan hättet, wärt Ihr auch nicht lange von den Kämpfen verschont geblieben. Ganz gleich, wer unser Feind ist, wenn Kyralia fällt, wird Elyne kurz darauf ebenfalls fallen.«

»Dann ist es besser, wenn ich hier bin. Ich möchte lieber helfen, als zu Hause noch einige Monate in Sicherheit leben können.« Farand hielt inne, dann seufzte er. »Es gibt nur eins, was mir wehtut.«

»Dem Marane.«

»Ja.«

»Mir ergeht es nicht anders«, gestand Dannyl. »Ich hatte gehofft, die Gilde würde nachsichtiger sein.«

»Ich denke, dass diese Auseinandersetzung mit Eurem Hohen Lord die Entscheidung vielleicht beeinflusst haben könnte. Die Gilde hätte bemerken müssen, dass ihr Anführer schwarze Magie erlernt hatte. Sie hat es jedoch übersehen und wollte deshalb nicht den gleichen Fehler zweimal machen. Außerdem hätte man Akkarin hinrichten müssen, aber das war nicht möglich. Also hat die Gilde dem Nächsten, der das Gesetz brach, das volle Strafmaß zuteil werden lassen, um sich selbst und der Welt zu beweisen, dass sie solche Verbrechen nicht billigt.« Farand schwieg kurz. »Ich will damit nicht sagen, dass jeder einzelne Magier sich dessen bewusst war, nur dass die Situation ihr Denken beeinflusst haben könnte.«

Dannyl sah Farand an. Die Scharfsichtigkeit des jungen Mannes überraschte ihn. »Also müssen wir Akkarin die Schuld daran geben.«

Farand schüttelte den Kopf. »Ich habe lange genug anderen die Schuld gegeben. Ich bin hier, wo ich die ganze Zeit über hingehört hätte. Man erwartet von mir, dass ich alle politischen Angelegenheiten hinter mir lasse, und genau das werde ich tun.« Er zögerte. »Obwohl ich mir nicht sicher bin, dass ich dazu in der Lage gewesen wäre, hätte man meiner Schwester keinen Straferlass gewährt.«

Dannyl nickte. »Habt Ihr sie noch einmal gesehen, bevor sie abgereist ist?«

»Ja.«

»Wie geht es ihr?«

»Sie trauert, aber die Kinder werden ihr Halt geben. Ich vermisse sie alle.« Als der Gong das Ende der Mittagspause ankündigte, blickte Farand auf. »Ich muss gehen. Danke, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, mit mir zu reden, Botschafter. Werdet Ihr bald nach Elyne zurückkehren?«

»Das wird wohl noch ein Weilchen dauern. Administrator Lorlen möchte so viele Magier wie möglich hier haben, bis er mehr über Sachaka weiß.«

»Dann hoffe ich, dass ich noch einmal Gelegenheit zu einem Gespräch mit Euch haben werde, Botschafter.« Farand verneigte sich, dann ging er davon.

Dannyl sah dem jungen Mann nach. Farand hatte so viel durchgemacht und dreimal dem Tod ins Auge blicken müssen – er hatte befürchten müssen, die Kontrolle über seine Magie zu verlieren, man hatte ihn zu vergiften versucht, und schließlich hatte ihm noch die Hinrichtung durch die Gilde gedroht. Und irgendwie gelang es ihm, all diese Dinge ohne Groll zu betrachten.

Ein tiefer Respekt vor dem jüngeren Mann stieg in ihm auf. Und Farands Überlegungen, was den Grund für die Hinrichtung Dem Maranes betraf, waren ausgesprochen interessant.

Er konnte eines Tages einen guten Botschafter abgeben, ging es Dannyl durch den Kopf. Falls er die Chance dazu bekommt.

Aber zur Zeit konnte die Gilde nur so weitermachen, wie sie es immer getan hatte. Dannyl seufzte, stand auf und machte sich auf die Suche nach Lord Davin.


Etwas strich über Soneas Lippen. Sie öffnete blinzelnd die Augen und blickte zu dem Gesicht über ihrem auf. Akkarin.

Er lächelte und küsste sie abermals. »Wach auf«, murmelte er, dann griff er nach ihrer Hand und zog sie auf die Füße. Sie sah sich um. Ein unheimliches Zwielicht hatte alles in Grau getaucht. Der Himmel war bewölkt, aber Sonea vermutete, dass es noch zu früh für den Sonnenuntergang war.

»Wir sollten die Straße suchen, bevor es vollends dunkel wird«, sagte Akkarin. »Es wird erst wieder ein wenig heller, wenn der Mond aufgeht, und wir können uns keine Verzögerung leisten.«

Sonea gähnte und blickte zu der Lücke zwischen den beiden Gipfeln empor. Nach dem Erscheinen des Ichani am Morgen hatten sie ihr Plätzchen hinter dem Wasserfall verlassen und waren, so weit sie es wagten, die Schlucht hinaufgegangen. Irgendwann hatten sie sich in einer kleinen Nische zwischen einigen Steinbrocken und der Felswand versteckt, um zu schlafen. Obwohl die Stelle nicht so abgelegen war wie der Felsvorsprung hinter dem Wasserfall, gab es keinen Grund, warum der Ichani oder seine Sklaven sich dorthin verirren sollten.

Jetzt jedoch, da die Schlucht enger wurde und das Licht schwand, wurde der Weg beständig schwieriger. Der kleine Fluss füllte den größten Teil der Schlucht aus, und die Ufer waren übersät mit riesigen Steinbrocken. Nach etwa einer Stunde machte Akkarin Halt und zeigte auf die Gipfel. Sonea konnte lediglich erkennen, dass nur ein steiler Felshang bis zum oberen Ende des Tals führte. Erst als sie die steinernen Stufen entdeckte, die in den Fels gehauen waren, zog sie überrascht die Augenbrauen hoch.

»Von hier aus verläuft die Straße parallel zur Schlucht«, murmelte Akkarin.

Er ging auf die Treppe zu, und sie machten sich an den Aufstieg. Oben angekommen, umhüllte sie die Dunkelheit wie dichter Rauch, und Akkarin war nur noch ein warmer Schatten innerhalb der Finsternis.

»Sei so leise wie möglich«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Taste dich an der Felswand entlang. Wenn du sprechen willst, greif nach meiner Hand, so dass wir die Gedankenrede benutzen können, ohne von den Ichani belauscht zu werden.«

Jetzt, da sie den Schutz der Schlucht verlassen hatten, zerrte ein beharrlicher Wind an ihren Kleidern. Akkarin ging voran und gab ein zügiges Tempo vor. Sonea ließ die rechte Hand über die Felswand gleiten und versuchte, sich möglichst lautlos zu bewegen. Gelegentlich traten sie oder Akkarin einen Stein los, aber der Wind trug das Geräusch jedes Mal davon.

Nach einem langen Marsch konnte Sonea mehrere hundert Schritte zu ihrer Linken eine weitere Felswand erkennen. Sie hatte sich so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie stutzte. Dann blickte sie auf und sah, dass schwaches Mondlicht, das durch die Wolken brach, die Gipfel sanft leuchten ließ.

Sie hatten die Schlucht inzwischen hinter sich, und die Straße führte durch ein enges Tal. Während die Stunden verstrichen, kam die Felswand auf der linken Seite langsam näher, bis sie sich ihrem Blick schließlich wieder entzog. Wo sie erneut in Sicht kam, trat die rechte Begrenzung des Tals etwas zurück. Der Mond stieg am Firmament immer höher, bis er schließlich langsam seinen Abstieg in Richtung der Berggipfel begann.

Lange Zeit später wurde die Straße immer gewundener und führte in Serpentinen einen steinübersäten Hang hinauf. Je höher sie kamen, desto steiler wurde der Hang, und schon bald hatten sie eine blanke Felswand auf der einen und einen steilen Abgrund auf der anderen Seite. Aber sie gingen weiter.

Dann ertönte vor ihnen ein leises Geräusch, und Akkarin blieb stehen. Das Geräusch wiederholte sich.

Ein Niesen.

Vorsichtig bewegten sie sich auf die nächste Straßenbiegung zu. Kurz darauf griff Akkarin nach Soneas Hand.

Das muss Riko sein, sandte Akkarin.

Im schwachen Mondlicht entdeckte Sonea die dunkle Gestalt eines Mannes, der neben einem Felsen an der Straße saß. Sie konnte hören, wie er schauderte. Als er sich die Arme rieb, glitzerte etwas an seinem Finger. Ein Blutring, vermutete sie.

Parika hat ihm wahrscheinlich seinen Mantel weggenommen, damit er wach bleibt, fügte Akkarin hinzu.

Das kompliziert die Dinge, erwiderte Sonea. Wie sollen wir sowohl an dem Sklaven als auch an seinem Herrn vorbeikommen? Sollen wir beide überlisten?

Ja und nein. Der Sklave kann unser Köder sein. Bist du bereit?

Ja.

Sie musste sich dazu zwingen, die nächsten Schritte zu tun, wohlwissend, dass der Mann sie sehen würde. Riko war allerdings so sehr mit seinem Elend beschäftigt, dass er sie zuerst nicht bemerkte. Dann blickte er auf, sprang auf die Füße und rannte davon.

Akkarin blieb laut fluchend stehen, dann riss er Sonea zurück.

»Ein Sklave!«, sagte er so laut, dass Riko ihn hören musste. »Es muss jemand auf dem Pass sein. Komm.«

Sie liefen in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Schließlich wurde Akkarin langsamer, blickte zu den Felswänden zu beiden Seiten hinauf und hielt Sonea fest. Sie spürte, dass der Boden unter ihnen sich verlagerte, dann schwebten sie auch schon empor.

Das Kliff flog an ihnen vorbei, bis Sonea wieder auf festem Grund stand. Der Felsvorsprung, auf dem Akkarin sie abgesetzt hatte, war kaum breit genug für ihre Stiefel. Mit hämmerndem Herzen lehnte sie sich an den Felsen.

Lange Zeit blieb es still, und nur ihr Atem war zu hören. Dann wurde unter ihnen eine Gestalt sichtbar, ein Mann, der vorsichtig um die Biegung der Straße kam. Als er stehen blieb, griff Akkarin nach Soneas Hand.

Er braucht eine kleine Ermutigung, bemerkte Akkarin.

Kurz darauf rollte ein Stein über die Straße. Der Mann machte einen Schritt nach vorn, dann flackerte ein Licht auf, das seine Umgebung erhellte. Sonea stockte der Atem. Der Mann trug einen eleganten Mantel, und an seinen Händen leuchteten Edelsteine und kostbare Metalle.

Wunderbar, erwiderte sie. Jetzt braucht er nur nach oben zu schauen, und er wird uns sehen.

Das wird er nicht.

Hinter dem Ichani kam jetzt ein dünner, gebeugter Mann herbeigeschlurft.

»Ich habe gesehen -«

»Ich weiß, was du gesehen hast. Kehr um und bleib bei -«

Plötzlich verfiel der Ichani in Laufschritt. Sonea bemerkte ein Licht einige hundert Meter hinter der nächsten Biegung der Straße. Es wurde langsam blasser, als entferne es sich. Sie sah Akkarin an, denn sie vermutete, dass er hinter diesem Licht steckte. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck tiefer Konzentration.

Der Ichani eilte weiter und verschwand hinter der Biegung. Auch der Sklave war nicht mehr zu sehen. Akkarin holte tief Luft.

Wir haben nicht viel Zeit. Lass uns hoffen, dass Riko seinem Herrn unverzüglich gehorcht.

Sie stiegen zur Straße hinunter und liefen dann auf den Pass zu. Sonea rechnete bei jedem Schritt damit, dass sie den Sklaven einholen würden, aber sie hatten bereits einige hundert Meter zurückgelegt, als der Mann vor ihnen auftauchte.

Kurz darauf sahen sie in der Ferne ein flackerndes Licht. Ein Feuer, wie Sonea mit einiger Erleichterung feststellte. Sie hatte befürchtet, dass sie auf einen weiteren Ichani treffen würden. Riko erreichte das Feuer und setzte sich neben eine jüngere Frau.

Akkarin und Sonea bewegten sich im Schutz der Dunkelheit auf das Feuer zu, das die steilen Felswände zu beiden Seiten der Straße beleuchtete.

Wir kommen nicht an ihnen vorbei, ohne dass sie uns bemerken, sandte Akkarin. Bist du bereit, loszurennen?

Sonea nickte.

So bereit, wie ich nur sein kann.

Akkarin bewegte sich jedoch nicht. Sie blickte zu ihm hinüber und sah, dass er die Stirn runzelte.

Was ist los?

Ich sollte die Gelegenheit nutzen, Parika seiner Sklaven zu berauben. Er würde sie später nur gegen uns benutzen.

Sonea gefror das Blut in den Adern, als sie begriff, was er vorhatte.

Aber wir haben keine Zeit…

Dann sollte ich mich wohl beeilen.

Er ließ ihre Hand los und ging auf das Feuer zu.

Sonea unterdrückte einen Protest. Es war durchaus vernünftig, die Sklaven zu töten. Man würde ihre Stärke gegen Kyralier einsetzen. Trotzdem erschien es ihr grausam, Menschen zu töten, die ihr Leben lang Opfer gewesen waren. Sie hatten sich nicht aus freien Stücken dafür entschieden, zu Werkzeugen der Ichani gemacht zu werden.

Die Frau war die Erste, die Akkarin bemerkte. Sie sprang auf und wollte flüchten, als sie von einer unsichtbaren Gewalt getroffen wurde. Sie fiel zu Boden und blieb reglos liegen.

Riko war inzwischen die Straße hinuntergerannt. Als Akkarin zu laufen begann, stürzte Sonea ihm nach. Irgendwo hinter ihnen musste Parika sein, der durch den Blutring der Sklaven zum Zeugen der Ereignisse geworden war. Sonea hielt kurz inne, um auf die Frau hinabzublicken. Ihre Augen starrten blicklos zum Himmel empor.

Zumindest ist es schnell gegangen, dachte Sonea.

Ein Licht flammte über Akkarins Kopf auf, und er beschleunigte seinen Schritt. Die Straße war zwar kurvig, führte jetzt jedoch nach unten. Sonea konnte den Sklaven, der vor ihnen herlief, nicht entdecken. Trotz allem hoffte sie beinahe, dass sie ihn nicht finden würden. Akkarin konnte niemanden töten, den er nicht sehen konnte.

Dann hörten sie einen Schrei. Akkarin erreichte die nächste Biegung kurz vor Sonea. Als sie dort ankam, sah sie, dass der Weg vor ihnen scharf einbog. Akkarin blickte den steilen Felsen hinunter. Sonea blieb neben ihm stehen, konnte jedoch nichts erkennen als Dunkelheit.

»Er ist gestürzt?« »Ich glaube, ja«, stieß Akkarin atemlos hervor. Er schaute auf die Straße unter ihnen, die mehrere hundert Schritte weit um den Berg herumführte, bevor sie außer Sicht geriet. »Er kann sich… nirgends verstecken. Er war nicht… so weit vor mir.« Er drehte sich um, und seine Züge verhärteten sich. »Wir müssen… weitergehen. Wenn Kariko uns folgt… wird er uns deutlich erkennen können.«

Er setzte sich in Bewegung, und sie liefen weiter. Als sie die nächste Biegung hinter sich ließen, verwandelte Soneas Erleichterung sich in Entsetzen: Vor ihnen lag abermals eine zu beiden Seiten hin offene Strecke. Eine Gänsehaut überlief sie, und sie unterdrückte den Drang, sich umzudrehen.

Während sie liefen, verlor sie jedes Zeitgefühl. Die Straße führte stetig bergab. Nach einer Weile verblasste ihre Furcht, und Müdigkeit beherrschte all ihre Gedanken.

Jetzt könnten wir doch sicher stehen bleiben, dachte sie wieder und wieder, während sie ihre Erschöpfung heilte. Parika würde uns doch sicher nicht nach Kyralia folgen, oder?

Aber Akkarin lief weiter.

Wie oft kann ich mich noch heilen? Kann ich meinem Körper Schaden zufügen, wenn ich es zu oft tue?

Als Akkarin endlich das Tempo verlangsamte, stieß Sonea einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Er lachte leise auf, dann legte er ihr einen Arm um die Schultern. Sie schaute sich um und stellte fest, dass sie einen Wald erreicht hatten. Der Mond war verschwunden. Akkarin dämpfte seine Lichtkugel zu einem schwachen Schimmern. Noch eine Stunde oder länger gingen sie weiter, bis Akkarin sie von der Straße wegführte.

»Ich glaube, hier können wir Halt machen«, murmelte er.

»Was ist, wenn Parika uns folgt?«

»Das wird er nicht tun. Er wird nicht vor Kariko nach Kyralia gehen.«

Sonea spürte weichen, unebenen Boden unter ihren Füßen. Sie gingen noch einige Minuten, dann blieb Akkarin stehen, setzte sich hin und lehnte sich an einen Baum.

»Was jetzt?«, fragte sie und sah sich ratlos um.

Akkarin zog sie dicht an sich und schlang die Arme um sie. »Schlaf, Sonea«, flüsterte er. »Ich werde Wache halten. Und morgen entscheiden wir, was wir als Nächstes tun.«

27 Ein unerwartetes Wiedersehen

Nein. Es ist zu früh, um aufzuwachen, dachte Sonea. Ich bin noch zu müde.

Aber ein wachsendes Gefühl des Unbehagens machte es ihr unmöglich, wieder einzuschlafen. Sie spürte etwas Warmes in ihrem Rücken, und ihr wurde bewusst, dass sie fast aufrecht dasaß. Akkarin hatte die Arme um sie gelegt. Sie lächelte, dann öffnete sie die Augen.

Vier schlanke, behaarte Beine standen vor ihr. Pferdebeine. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Vertraute blaue Augen blickten auf sie hinab. Grüne Roben, halb verdeckt von einem schweren, schwarzen Mantel, leuchteten im Licht der späten Morgensonne. Überschäumendes Glück und Erleichterung stiegen in ihr auf.

»Dorrien!«, rief sie. »Du hast ja keine Ahnung, wie schön es ist, dich zu sehen.«

Seine Miene jedoch war kalt. Das Pferd scharrte mit den Hufen und warf den Kopf zur Seite. Sonea hörte das Schnauben eines anderen Tieres ganz in ihrer Nähe. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass einige Schritte entfernt vier weitere Reiter standen, die schlichte Kleidung trugen.

Akkarin bewegte sich leicht, dann holte er tief Luft.

»Was machst du hier?«, fragte Dorrien scharf.

»Ich… wir…« Sonea schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, Dorrien.«

»Wir sind hier, um Euch zu warnen«, erklärte Akkarin. Sie spürte die Vibration seiner Stimme in ihrem Rücken. »Die Ichani haben die Absicht, in den nächsten Tagen in Kyralia einzudringen.«

Er fasste sie an den Schultern und schob sie sanft von sich. Sie stand auf und trat beiseite, während er sich ebenfalls erhob.

»Ihr seid Verbannte«, sagte Dorrien leise. »Ihr dürft nicht in dieses Land zurückkehren.«

Akkarin hob die Augenbrauen. »Wir dürfen nicht?«, fragte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Habt Ihr die Absicht, gegen mich zu kämpfen?« Dorriens Augen funkelten gefährlich.

»Nein«, erwiderte Akkarin. »Ich habe die Absicht, Euch zu helfen.«

»Wir brauchen Eure Hilfe nicht«, fuhr Dorrien ihn an. »Wir wollen nur, dass Ihr Euch fern haltet.«

Sonea starrte Dorrien an. Sie hatte ihn noch nie so gesehen, so kalt und voller Hass. Er klang wie ein Fremder. Ein törichter, wütender Fremder.

Dann erinnerte sie sich wieder daran, wie leidenschaftlich er für die Menschen in seinem Dorf eintrat. Er würde alles riskieren, um sie zu schützen. Und wenn seine Gefühle für sie sich nicht verändert hatten, hatte es seine Stimmung gewiss nicht gehoben, sie in Akkarins Armen schlafen zu sehen…

»Dorrien«, sagte sie. »Wir wären nicht zurückgekehrt, wenn wir nicht wüssten, dass es notwendig ist.«

Dorrien sah sie mit finsterer Miene an. »Ob ihr zurückkehren müsst oder nicht, ist die Sache der Gilde. Ich habe den Befehl, die Straße zu beobachten und euch wegzuschicken, falls ihr zurückzukehren versucht«, sagte er. »Wenn ihr bleiben wollt, werdet ihr mich zuerst töten müssen.«

Soneas Magen krampfte sich zusammen. Das Bild des toten Sklaven blitzte in ihren Gedanken auf. Akkarin würde doch gewiss nicht…

»Ich brauche Euch nicht zu töten«, erwiderte Akkarin.

Dorriens Augen waren so kalt wie Eis. Er öffnete den Mund, um zu sprechen.

»Wir werden Kyralia wieder verlassen«, meldete Sonea sich hastig zu Wort. »Aber lass uns vorher zumindest sagen, was wir zu sagen haben.« Sie legte eine Hand auf Akkarins Arm.

Er denkt mit dem Herzen. Wenn wir ihm Zeit geben, sich zu besinnen, wird er vielleicht vernünftiger sein.

Akkarin runzelte die Stirn, widersprach jedoch nicht. Sie wandte sich wieder zu Dorrien um, der sie eingehend musterte.

»Also gut«, sagte er mit offenkundigem Widerstreben. »Dann sprecht.«

»Ihr bewacht den Pass, also hat Lorlen Euch zweifellos davon in Kenntnis gesetzt, dass Sachaka uns bedroht. Gestern Morgen sind Sonea und ich nur knapp einem Ichani namens Parika entkommen«, erklärte Akkarin. »Durch sein Gespräch mit seinem Sklaven haben wir erfahren, dass Kariko und seine Verbündeten die Absicht haben, während der nächsten Tage nach Kyralia zu gehen. Sonea und ich hatten ursprünglich die Absicht, in Sachaka zu bleiben, bis die Gilde sich davon überzeugt hätte, dass die Ichani tatsächlich existieren und eine Bedrohung darstellen, aber uns läuft die Zeit davon. Wenn die Gilde will, dass wir zurückkehren und ihr in der kommenden Schlacht beistehen, müssen wir nahe genug sein, um Imardin vor den Ichani zu erreichen.«

Dorrien sah Akkarin leidenschaftslos an. »Ist das alles?«

Sonea öffnete den Mund, um ihm von dem Ichani am Südpass zu erzählen, aber dann malte sie sich aus, wie Dorrien in die Berge ritt, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Der Ichani würde ihn töten. Sonea schluckte die Worte herunter.

»Lass uns wenigstens heute hier Rast machen«, flehte sie. »Wir sind vollkommen erschöpft.«

Dorriens Blick wanderte zu Akkarin hinüber, und seine Augen wurden schmal, dann drehte er sich zu den anderen Reitern um.

»Gaden. Forren. Würdet Ihr der Gilde für einen Tag Eure Pferde leihen?«

Die Männer tauschten einen Blick, dann saßen zwei von ihnen ab.

»Ich habe keine Befugnis, Euch einen Tag oder auch nur eine Stunde in Kyralia zu gewähren«, sagte Dorrien steif, während die Männer sich mit ihren Pferden näherten. »Ich werde Euch zum Pass eskortieren.«

Akkarins Augen brannten gefährlich. Sonea spürte, dass seine Anspannung wuchs. Sie umklammerte seinen Arm.

Nein! Lass mich unterwegs mit ihm reden. Er wird auf mich hören.

Er drehte sich zu ihr um und sah sie zweifelnd an. Sonea spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

Wir haben uns einmal sehr nahe gestanden. Ich glaube, er ist wütend, weil du mich ihm genommen hast.

Akkarin zog die Augenbrauen in die Höhe und musterte Dorrien anerkennend.

Wirklich? Dann sieh zu, was du tun kannst. Nimm dir nur nicht zu viel Zeit.

Als einer der Männer näher kam, trat Akkarin vor und griff nach den Zügeln, die ihm angeboten wurden. Der Mann zog sich hastig zurück und blickte nervös zu Dorrien auf. Der junge Magier sagte nichts, während Akkarin sich in den Sattel schwang. Sonea ging auf das andere Pferd zu und brachte es mit einiger Mühe fertig, sich auf seinen Rücken zu ziehen. Akkarin wandte sich zu Dorrien um.

»Nach Euch«, sagte der Heiler.

Als Akkarin sein Pferd wendete, folgte Sonea seinem Beispiel. Sie ritten hintereinander her, was ein ungestörtes Gespräch unmöglich machte. Während des ganzen Weges durch den Wald konnte Sonea Dorriens Blick in ihrem Rücken spüren.

Als sie die Straße erreichten, zog Sonea an den Zügeln, so dass ihr Pferd langsamer wurde. Als sie auf gleicher Höhe war wie Dorrien, sah sie den Heiler an, aber plötzlich fiel ihr nichts ein, was sie hätte sagen können. Die Gefahr war so groß, ihn noch weiter zu erzürnen.

Sie dachte zurück an die Tage, die sie mit Dorrien in der Gilde verbracht hatte. Das alles schien so lange her zu sein. Hatte er gehofft, dass ihr Interesse an ihm eines Tages wieder aufflackern würde? Obwohl sie ihm nichts versprochen hatte, fühlte sie sich schuldig. Ihr Herz gehörte Akkarin. So stark hatte sie für Dorrien niemals empfunden.

»Als Rothen es mir erzählt hat, konnte ich es zuerst nicht glauben«, murmelte Dorrien.

Sonea blickte zu ihm hinüber, überrascht, dass er das Schweigen gebrochen hatte.

Er beobachtete Akkarin. »Ich kann es immer noch nicht glauben.« Seine Stirn lag in Falten. »Nachdem er mir erklärt hatte, warum Akkarin dich unbedingt zu seiner Novizin machen wollte, habe ich verstanden, dass du Abstand zwischen uns legen wolltest. Du dachtest, ich könnte bemerken, wie unglücklich du warst, und anfangen, Fragen zu stellen.« Er sah sie an. »Das war es, nicht wahr?«

Sie nickte.

»Was ist passiert? Seid wann ist er dir wichtiger als deine Beziehung zu mir?«

Abermals durchzuckten sie Schuldgefühle. »Vor ungefähr… zwei Monaten hat er mich gebeten, ihn in die Stadt zu begleiten. Ich wollte nicht mitkommen, aber ich dachte, ich würde auf diese Weise etwas in Erfahrung bringen, das die Gilde gegen ihn benutzen könnte. Er hat mich zu einem Mann gebracht – zu einem Sachakaner – und mich gelehrt, wie ich seine Gedanken lesen konnte. Was ich von ihm erfahren habe, konnte nur die Wahrheit sein.«

»Bist du dir sicher? Wenn der Mann Dinge glaubte, die falsch waren, könntest du -«

»Ich bin keine Närrin, Dorrien.« Sie hielt seinem Blick stand. »Die Erinnerungen des Mannes können nicht falsch gewesen sein.«

Er runzelte die Stirn. »Sprich weiter.«

»Ich habe aus den Gedanken des Mannes von der Existenz dieser Ichani erfahren – und ich habe noch andere Dinge entdeckt: Der Anführer der Ichani brauchte lediglich zu beweisen, dass die Gilde schwach war, um genug Verbündete für eine Invasion um sich zu scharen. Ich konnte nicht einfach danebenstehen und Akkarin die ganze Arbeit überlassen. Ich habe ihn gebeten – nein, ich habe darauf bestanden -, dass er meine Hilfe annahm.«

»Aber… schwarze Magie, Sonea. Wie konntest du etwas Derartiges erlernen?«

»Es war keine leichte Entscheidung. Ich wusste, dass es eine ungeheure Verantwortung war und ein großes Risiko. Aber wenn die Ichani angegriffen hätten, wäre die Gilde vernichtet worden. In dem Fall wäre ich wahrscheinlich ohnehin gestorben.«

Dorrien rümpfte die Nase, als hätte er einen widerlichen Geruch wahrgenommen. »Aber diese Magie ist böse.«

Sie schüttelte den Kopf. »Die frühe Gilde war da anderer Meinung. Ich bin mir nicht sicher, ob sie nicht vielleicht sogar Recht hatte. Andererseits will ich nicht, dass die Gilde wieder schwarze Magie benutzt. Wenn ich mir vorstelle, dass Fergun oder Regin Zugriff auf eine solche Macht hätte…« Sie schauderte. »Das ist keine gute Idee.«

»Aber du meinst, du selbst seist einer solchen Macht würdig?«

Sie runzelte die Stirn. Diese Frage machte ihr immer noch zu schaffen. »Ich weiß es nicht. Ich kann es nur hoffen.«

»Du hast zugegeben, dass du mit schwarzer Magie getötet hast.«

»Ja.« Sie seufzte. »Glaubst du, ich würde etwas Derartiges tun, nur um mich stärker zu machen? Oder denkst du, dass ich einen guten Grund dazu hatte?«

Er sah zu Akkarin hinüber. »Ich weiß es nicht.«

Sie folgte seinem Blick. Akkarins Pferd war etwa zwanzig Schritte vor ihnen.

»Aber du glaubst, Akkarin würde um der Macht willen töten, nicht wahr?«

»Ja«, gestand Dorrien. »Er hat zugegeben, dass er schon viele Male getötet hat.«

»Wenn er es nicht getan hätte, wäre er noch immer ein Sklave in Sachaka – oder tot -, und die Gilde wäre schon vor Jahren angegriffen und vernichtet worden.«

»Falls er die Wahrheit sagt.«

»Das tut er.«

Dorrien schüttelte den Kopf und wandte sich ab.

»Dorrien, du musst der Gilde mitteilen, dass die Ichani kommen«, drängte sie ihn. »Und… erlaube uns, auf dieser Seite der Berge zu bleiben. Der Ichani weiß, dass wir gestern Nacht über den Pass gegangen sind. Wenn wir zurückkehren, wird er uns töten.«

Er drehte sich wieder zu ihr um, und seine Miene schwankte zwischen Erschrecken und Ungläubigkeit.

Dann trat plötzlich vor ihnen eine Gestalt auf die Straße.

Sonea reagierte instinktiv, aber der Schild, den sie um sich und Dorrien errichtete, zerbrach unter einem mächtigen Kraftzauber. Sie wurde nach hinten gerissen, dann schlug sie auch schon auf dem Boden auf, und alle Luft schien aus ihrer Lunge gewichen zu sein. Sie hörte Dorrien in der Nähe fluchen, dann donnerten Hufe um ihren Kopf herum, und sie riss einen weiteren Schild hoch. Ein schrilles Wiehern erklang, gefolgt von dem Trommelwirbel sich entfernender Hufe, als die Pferde flohen.

Steh auf, befahl sie sich. Steh auf und suche Akkarin!

Sie rollte sich zur Seite und erhob sich mühsam auf die Füße. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Dorrien ganz in der Nähe hockte. Akkarin stand einige Schritte entfernt.

Zwischen ihr und Akkarin stand Parika.

Soneas Magen verkrampfte sich vor Angst. Akkarin war nicht stark genug, um gegen einen Ichani zu kämpfen. Nicht einmal mit ihrer Hilfe – und Dorrien würde nur einen geringfügigen Unterschied machen.

Die Luft blitzte auf, als Akkarin den Ichani angriff. Parika antwortete mit mächtigen Zaubern.

»Sonea.«

Sie sah Dorrien an, als dieser neben sie trat.

»Ist das ein Ichani?«

»Ja. Sein Name ist Parika. Glaubst du mir jetzt?«

Er antwortete nicht. Sie fasste ihn am Handgelenk.

Akkarin ist nicht stark genug, um gegen ihn zu kämpfen. Wir müssen ihm helfen.

Also gut. Aber ich werde niemanden töten, solange ich mir nicht sicher bin, dass dieser Mann das ist, was du von ihm behauptest.

Sie schlugen gemeinsam zu und richteten ihre Zauber auf den Schild des Ichani. Der Ichani hielt inne, dann drehte er sich halb um. Als sein Blick auf Dorrien fiel, verzogen sich seine Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. Dann wanderte sein Blick zu Sonea hinüber. Sein Grinsen verwandelte sich in ein bösartiges Lächeln. Schließlich kehrte er Akkarin den Rücken zu und näherte sich Sonea.

Sonea wich zurück. Sie griff mit Zauber um Zauber an, aber ihre Angriffe hinderten Parika nicht, näher zu kommen. Von Dorrien kamen Blitze, aber seine Bemühungen schienen ebenfalls keine Wirkung zu haben. Akkarin bombardierte weiter Parikas Schild, aber der Ichani ignorierte ihn.

Dorrien bewegte sich langsam weg von Sonea, und sie begriff, dass er hoffte, Parikas Aufmerksamkeit auf sich lenken zu können. Der Ichani schenkte ihm keine Beachtung. Als seine Angriffe machtvoller wurden, ließ Sonea sich von ihm die Straße hinuntertreiben.

Denk nach, sagte sie sich. Es muss einen Ausweg geben. Erinnere dich an Lord Yikmos Lektionen.

Sie attackierte Parikas Schild aus allen Richtungen und stellte fest, dass er immer noch unversehrt und undurchdringlich war. Sie erwog alle möglichen falschen Zauber und Tricks, die sie im Unterricht benutzt hatte, aber die meisten dieser Kunstgriffe basierten darauf, dass der Gegner versuchen würde, Energie zu sparen, indem er seinen Schild schwächte. Sie konnte ihn nur mit einer List dazu bringen, seine Stärke zu erschöpfen.

Dann trat Dorrien zwischen Sonea und den Ichani. Parikas Miene verdüsterte sich. Er blieb stehen und schleuderte mehrere Kraftzauber gegen den Heiler. Dorrien taumelte rückwärts, und sein Schild geriet ins Wanken. Sonea eilte zu ihm und legte ihren Schild über seinen. Als sie das tat, spürte sie, dass ihre eigenen Kräfte langsam schwanden. Dorrien hielt sie am Arm fest.

Er ist so stark!

Ja, und ich werde das nicht mehr sehr lange durchhalten.

Wir müssen weg von hier. Er packte sie am Arm und zog sie die Straße hinunter.

Aber Akkarin…

Schlägt sich recht ordentlich. Wir können nichts mehr tun.

Er ist nicht stark genug.

Dann sind wir alle verloren.

Ein weiterer Zauber traf sie mit voller Wucht. Dorrien griff nach ihrer Hand, und sie rannte hinter ihm her. Der nächste Angriff trieb sie weiter. Sonea griff nach zusätzlicher Energie und wusste, dass dies ihre letzte Kraftreserve war.

Als der folgende Zauber ihren Schild zerschmetterte, keuchte sie. Sie blickte über die Schulter und sah, dass Parika mit langen Schritten auf sie zukam. Akkarin eilte ihnen nach. Sonea rannte, so schnell sie konnte.

Dann traf sie etwas von der Seite. Alle Luft wich aus ihrer Lunge, und sie prallte mit der Schulter auf den Boden. Einen Moment lang konnte sie nur still daliegen, betäubt von zwei gleichzeitig erfolgenden Angriffen. Dann zwang sie sich, sich auf den Ellbogen aufzurichten.

Dorrien lag einige Schritte von ihr entfernt, bewegungslos und bleich. Erschrocken versuchte sie aufzustehen, doch sie wurde abermals angegriffen und fiel zurück auf den Boden. Das Brennen eines fremden Schildes glitt über sie hinweg, und sie erstarrte vor Entsetzen. Jemand griff nach ihrem Arm und zerrte sie auf die Knie. Parika starrte auf sie hinab, den Mund zu einem grausamen Lächeln verzogen. In panischem Schrecken erwiderte sie seinen Blick.

Es kann nicht so enden!, dachte sie ungläubig.

Dann begann der Schild des Ichani zu vibrieren, als er wieder und wieder getroffen wurde. Akkarin stand nur wenige Schritte entfernt, und sein Gesichtsausdruck war furchtbar. Ohne sie loszulassen, griff der Ichani in seinen Mantel.

Als sie das geschwungene Messer sah, das er herauszog, überwältigte sie eine Angst, die jeden anderen Gedanken vertrieb. Sie wehrte sich gegen den Ichani, doch ihr Kampf war vollkommen nutzlos. Dann weckte der Schmerz der Klinge, die ihre Haut aufschlitzte, die Erinnerung an eine andere Schnittwunde, die sie sich selbst zugefügt hatte.

Sie hatte keine Kraft mehr, aber solange sie lebte, war immer noch ein klein wenig Energie übrig. Und die Heilung einer so kleinen Wunde kostete nur… geschafft!

Parika erstarrte und blickte fassungslos auf ihren Arm. Langsam senkte sich die Klinge erneut und berührte abermals Soneas Haut. Sie konzentrierte sich und spürte, wie der Schmerz verebbte. Die Augen des Ichani weiteten sich. Das nächste Mal drückte er ihr die Klinge tiefer ins Fleisch und schnalzte ungläubig mit der Zunge, als die Wunde sich abermals vor seinen Augen versiegelte.

Sie kennen keine heilende Magie. Einen Moment lang triumphierte sie, aber das Gefühl war nur von kurzer Dauer. Sie konnte sich nicht bis in alle Ewigkeit heilen. Irgendwann würde sie selbst dafür zu wenig Kraft haben.

Aber vielleicht gab es eine andere Möglichkeit, diese Fähigkeit zu ihrem Vorteil einzusetzen?

Natürlich gab es die.

Der Ichani hielt ihr Handgelenk umklammert. Haut auf Haut. Damit war er ihren Heilkräften beinahe so schutzlos ausgeliefert wie sie seiner schwarzen Magie. Sonea schloss die Augen und sandte ihren Geist aus, in den Arm des Sachakaners. Als sie das Brennen einer weiteren Schnittwunde spürte, geriet ihre Konzentration für einen Moment ins Wanken. Sie hielt nur inne, um sich zu heilen, dann drang sie tiefer in seinen Körper vor. In seine Schulter. In seine Brust. Am Rande ihres Bewusstseins nahm sie abermals den Schmerz einer flachen Schnittwunde wahr…

Da, dachte sie triumphierend. Sein Herz. Mit letzter Kraft griff sie danach und presste es zusammen.

Der Ichani stieß einen Laut aus, der halb Schrei, halb Keuchen war, und ließ sie los. Sie fiel zu Boden und rollte sich zur Seite, als der Mann auf die Knie stürzte und seine Brust umklammerte.

Reglos hockte er da, am Rande des Todes. Fasziniert beobachtete Sonea, wie sein Gesicht langsam blau anlief.

»Geh weg von ihm!«

Akkarins Schrei ließ Sonea zusammenzucken. Er rannte auf den Ichani zu und hob im Laufen das Messer auf, das ihr Angreifer fallen gelassen hatte. Mit einer fließenden Bewegung seines Arms schlitzte Akkarin die Haut am Nacken des Mannes auf, dann presste er die Hand auf die Wunde.

Als Sonea klar wurde, was er tat, entspannte sie sich. Er würde Parikas restliche Kraft nehmen. Der Ichani würde ohnehin sterben, und es war durchaus möglich, dass er noch über einige Energie verfügte …

Dann wurde ihr plötzlich die Bedeutung von Akkarins Worten bewusst. Wenn Parika starb, solange noch Magie in ihm war, würde diese Kraft seinen Körper verzehren und alles in seiner unmittelbaren Umgebung zerstören. Sonea erhob sich mühsam und zog sich zurück.

Akkarin richtete sich auf. Er warf das Messer weg und ließ Parika zu Boden fallen. Einen Moment später war er bei ihr und zog sie so fest an sich, dass ihr keine Luft mehr zum Atmen blieb.

»Ich dachte, ich hätte dich verloren«, flüsterte er rau. Er rang bebend nach Luft. »Du hättest weglaufen sollen, sobald er auftauchte.«

Sie fühlte sich zerschunden und erschöpft, aber als Akkarin heilende Magie in ihren Körper sandte, kehrte ihre Kraft langsam zurück. »Ich habe es dir doch gesagt. Ich werde dich nicht verlassen. Wenn wir sterben, sterben wir zusammen.«

Er trat einen Schritt zurück und blickte erheitert auf sie hinab. »Das ist sehr schmeichelhaft, aber was ist mit Dorrien?«

»Dorrien!«

Er murmelte einen Fluch und drehte sich zu Dorrien um, der einige Schritte entfernt lag. Gemeinsam eilten sie zu dem Heiler hinüber. Dorriens Augen waren geöffnet, aber trüb vor Schmerz.

Akkarin legte dem Heiler eine Hand auf den Kopf.

»Ihr seid schwer verletzt«, sagte er. »Bleibt ganz still liegen.«

Dorriens Blick wanderte zu Akkarin hinüber. »Spart Euch Eure Kraft«, flüsterte er.

»Redet keinen Unsinn«, erwiderte Akkarin.

»Aber -«

»Schließt die Augen und helft mir«, sagte Akkarin streng. »Ihr kennt Euch in dieser Disziplin besser aus als ich.«

»Aber -«

»Ihr seid mir lebend nützlicher als tot, Dorrien«, bemerkte Akkarin trocken, und in seiner Stimme schwang ein befehlender Tonfall mit. »Wenn es Euer Wunsch ist, könnt Ihr mir die Energie, die ich für Eure Heilung verwende, später zurückgeben.«

Dorriens Augen weiteten sich, als er den Sinn von Akkarins Worten begriff.

»Oh.« Er hielt inne, dann sah er zu Sonea hinüber. »Was ist mit dem Sachakaner passiert?«

Sonea spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Die Benutzung von heilender Magie, um jemanden zu töten, schien der schlimmste nur denkbare Missbrauch dieser Disziplin zu sein.

»Er ist tot. Ich werde es dir später erklären.«

Dorrien ließ die Lider sinken. Sonea beobachtete ihn genau und sah kurz darauf, wie langsam Farbe in sein Gesicht zurückkehrte.

»Lass mich raten«, sagte Akkarin leise. »Du hast sein Herz zum Stillstand gebracht.«

Ihre Blicke trafen sich. Dann deutete er mit dem Kopf auf Dorrien. »Er hat jetzt die gesamte Heilung selbst übernommen. Ich steuere lediglich die Kraft dazu bei.« Er wandte sich zu dem Sachakaner um. »Hab ich Recht?«

Sonea nickte. »Du hast gesagt, Parika würde nicht nach Kyralia gehen.«

Akkarin runzelte die Stirn. »Vielleicht wollte er Rache für den Tod seiner Sklaven. Starke Sklaven sind selten, und die Ichani werden ziemlich wütend, wenn man sie tötet oder sie ihnen wegnimmt. Es ist so, als verlöre man ein erstklassiges Pferd.«

Dorrien öffnete die Augen. »Das genügt«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, als wäre ich in kleine Stücke zerlegt und wieder zusammengesetzt worden, aber ich werde überleben.«

Behutsam richtete er sich auf den Ellbogen auf. Sein Blick wanderte zu dem toten Ichani hinüber, und ein Schaudern überlief ihn. Dann sah er Akkarin an.

»Ich glaube Euch. Was kann ich für Euch tun?«

»Verlasst den Pass.« Akkarin half Dorrien auf die Füße. »Und schickt eine Warnung an die Gilde. Habt Ihr irgendwelche -«

Lorlen!

Makin?

Fremde greifen das Fort an!

Sonea und Akkarin tauschten einen entsetzten Blick. Das Bild von einer Straße aus der Vogelperspektive blitzte in Soneas Gedanken auf. Sie erkannte die Landschaft; es war die Straße auf der sachakanischen Seite des Forts. Mehrere Männer und Frauen, die ähnliche Kleider trugen wie Parika, bildeten eine Reihe. Die Luft brannte unter ihren Angriffen.

»Es ist zu spät für Warnungen«, murmelte Dorrien. »Sie sind bereits da.«

28 Die Invasion beginnt

Als Cery sich in der Menge umsah, durchzuckte ihn ein leichter Stich der Eifersucht. Sefli und Limek, die beiden Diebe, zu deren Territorium der Marktplatz gehörte, waren sehr reiche Männer, und heute fiel es nicht schwer zu sehen, warum das so war. Helles Sonnenlicht funkelte auf einem endlosen Strom von Münzen, die hier den Besitzer wechselten, und wenn man einen kleinen Teil dieses Einkommens als Gegenleistung für gewisse Dienste kassierte, würde sich das schnell zu einem Vermögen summieren.

Ein Schankmann näherte sich ihrem Tisch und stellte zwei Becher vor sie hin. Savara nippte an ihrem, schloss die Augen und seufzte.

»Ihr habt hier wirklich guten Raka«, sagte sie. »Er ist fast so gut wie unserer.«

Cery lächelte. »Dann sollte ich welchen aus Sachaka herschaffen lassen.«

Sie hob warnend eine Augenbraue. »Das würde teuer werden. Nicht viele Händler wagen es, durch die Ödländer zu reisen.«

»Nein? Warum nicht?«

Sie deutete auf den Raum, in dem sie saßen. »Wir haben nichts Derartiges zu bieten. Nicht einmal Märkte. Jedem Ashaki gehören viele hundert Sklaven -«

»Ashaki?«

»Das sind mächtige freie Männer. Die Sklaven kümmern sich praktisch um alles, was sie brauchen. Sie bearbeiten die Felder, stellen Tuch her, kochen, putzen oder betätigen sich als Schausteller und Musikanten, so dass es den Ashaki an kaum etwas mangelt. Wenn ein Sklave ein besonderes Talent hat, wie die Herstellung von schönen Töpferwaren, oder einer der Ashaki eine Mine besitzt oder mehr Getreide erwirtschaftet, als er benötigt, wird er mit anderen Ashaki Handel treiben.«

»Warum machen sich dann kyralische Kaufleute überhaupt die Mühe, dort hinzureisen?«

»Wenn es ihnen doch einmal gelingt, einen Käufer anzulocken, können sie einen beträchtlichen Gewinn erzielen. Sie bieten überwiegend Luxuswaren an.«

Cery betrachtete die Stoffballen am nächsten Verkaufsstand. Der Stoff war im vergangenen Jahr auf den Märkten aufgetaucht, nachdem einer der Zünftler eine Möglichkeit gefunden hatte, der Oberfläche Glanz zu geben. »Das klingt so, als wäre nicht zu erwarten, dass ein Sachakaner auf eine bessere Art verfällt, irgendetwas herzustellen.«

»Nein, aber ein Sklave könnte es tun, wenn er ehrgeizig ist oder sich eine Belohnung verdienen will. Er könnte versuchen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem er etwas Schönes und Ungewöhnliches ersinnt.«

»Dann werden also nur hübsche Dinge besser.«

Sie schüttelte den Kopf. »Auch die Herstellungsmethoden gewöhnlicher Waren werden mit der Zeit verfeinert, wenn die Veränderung nicht viel Mühe kostet. Ein Sklave könnte eine schnellere Methode entdecken, Raka zu ernten, wenn sein Herr ihm Strafe androht, falls es ihm nicht gelingt.«

Cery runzelte die Stirn. »Mir gefällt unsere Art besser. Warum sollte man jemanden schlagen, wenn Habgier oder die Notwendigkeit, eine Familie zu ernähren, einen Mann ebenso gut dazu antreibt, besser und schneller zu arbeiten?«

Savara lachte leise. »Das ist ein interessanter Standpunkt, vor allem, wenn er von einem Mann in deiner Position kommt.« Dann wurde sie wieder ernst. »Mir gefällt eure Art auch besser. Willst du deinen Raka eigentlich nicht trinken?«

Cery schüttelte den Kopf.

»Hast du Angst, dass jemand dich erkennen und dir Gift in deinen Becher schmuggeln könnte?«

Er zuckte die Achseln.

»Jetzt ist er ohnehin kalt.« Sie stand auf. »Lass uns weitergehen.«

Sie wanderten zum Ende der Reihe von Marktständen, wo Savara an einem Tisch mit Krügen und Flaschen stehen blieb.

»Wozu dient das hier?«

Das Gefäß, das sie ausgewählt hatte, enthielt zwei konservierte Sefli, die in einer grünen Flüssigkeit schwammen.

»Es ist ein Schlüssel zu den Pforten der Wonne«, erwiderte der Standbesitzer. »Ein Schluck, und Ihr werdet die Kraft eines Kämpfers haben.« Er senkte die Stimme. »Zwei, und Ihr werdet Freuden erfahren, die einen Tag und eine Nacht andauern. Drei, und Eure Träume werden -«

»Sich in Albträume verwandeln, die etliche Tage andauern«, beendete Cery den Satz des Mannes. Er nahm Savara den Krug ab und stellte ihn wieder auf die Theke. »Ich würde nicht einmal für Geld… Savara?«

Sie starrte mit bleichem Gesicht ins Leere.

»Es hat angefangen«, sagte sie so leise, dass er sie kaum hörte. »Die Ichani greifen das Fort an.«

Ein Schauer überlief ihn. Er griff nach ihrem Arm und zog sie weg von dem Stand und möglichen Zuhörern.

»Du kannst es sehen?«

»Ja«, antwortete sie. »Die Magier der Gilde senden Gedankenbilder aus.« Sie hielt inne und richtete den Blick auf etwas, das weit jenseits des Marktes lag. »Soeben ist das erste Tor gefallen. Können wir irgendwohin gehen, wo es still ist, so dass ich die Dinge ungestört verfolgen kann? An irgendeinen Ort, der nicht allzu weit entfernt ist?«

Cery hielt nach Gol Ausschau und fand seinen Stellvertreter an einem Stand in der Nähe, wo er gerade ein Pachi aß. Mithilfe der Zeichensprache der Diebe signalisierte er Gol, was er vorhatte. Gol nickte und machte sich auf den Weg in Richtung des Bootshafens.

»Ich weiß genau das Richtige für dich«, sagte Cery zu Savara. »Ich denke, es wird dir gefallen. Bist du schon einmal auf einem Boot gewesen?«

»Du hast ein Boot?« Sie lächelte. »Aber natürlich hast du eins.«


Ein Bild von acht kostbar gewandeten Männern und Frauen, die von oben beobachtet wurden, blitzte in Dannyls Gedanken auf. Sie alle griffen eine Stelle irgendwo unterhalb von Lord Makin an, dem Magier, der ihnen das Bild schickte.

Dann veränderte sich die Szenerie, und Dannyl sah eine große Gruppe von Männern und Frauen, die mehrere Schritte hinter den Angreifern standen. Sie waren mit einfachen, abgetragenen Gewändern bekleidet, und einige hielten Leinen in Händen, die am Halsband kleiner, Limek-ähnlicher Tiere befestigt waren.

Sind diese Menschen die Sklaven, von denen Akkarin gesprochen hat?, fragte sich Dannyl.

Das Bild verschwamm, dann kamen die Angreifer wieder in Sicht. Sie hatten aufgehört, die Festung zu attackieren, und gingen nun vorsichtig näher heran.

Der Hauptmann sagt, das erste Tor sei zerstört worden. Die Sachakaner rücken in das Fort ein. Wir gehen jetzt nach unten, um uns ihnen entgegenzustellen.

In der Pause, die auf Makins Ruf folgte, brach der Strom von Bildern ab, und Dannyl wurde sich wieder seiner eigenen Umgebung bewusst. Er sah sich im Raum um. Während der letzten Stunde hatte er mit einiger Erheiterung einer Auseinandersetzung zwischen Lord Peakin, dem Oberhaupt der alchemistischen Studien, und Lord Davin gelauscht, dem Magier, der vorgeschlagen hatte, den Ausguck wieder aufzubauen. Jetzt sahen die beiden einander entsetzt an, und ihr Streit war vergessen.

Wir haben unsere Positionen eingenommen, meldete Makin. Sie greifen jetzt die innere Tür an.

Das nächste Bild zeigte einen dunklen Flur, der von einer steinernen Mauer blockiert wurde. Der Gang vibrierte unter zwei Treffern. Makin und die Krieger neben ihm hielten einen Schild bereit.

Dann explodierte die Wand nach innen. Trümmer hagelten auf den Schild herab, der kurz darauf von einer Staubwolke eingehüllt wurde. Durch den Nebel kamen Angriffe, dann erschütterte eine weitere Explosion den Gang.

Wir haben die Sachakaner durch den falschen Boden hindurch von hinten angegriffen, erklärte Makin.

Verwirrende Bilder folgten. Lichtblitze erhellten den Staub jenseits des Schilds, gaben aber nichts von den Vorgängen dort preis. Dann erschien ein Schatten in der Staubwolke, und es folgten weitere Angriffe auf den Schild der Krieger. Zwei Magier taumelten, offenkundig erschöpft, rückwärts.

Zieht euch zurück. Zur Tür.

Die Krieger liefen durch eine Doppeltür aus Metall. Makin ließ die Türen zufallen und benutzte Magie, um sie durch schwere Bolzen zu schließen.

Erstattet Bericht, befahl Makin.

Ein Wirrwarr von Bildern und Nachrichten folgte.

Die meisten von uns sind tot… Ich kann fünf… nein, sechs Leichen sehen und…

Sie sind im Fort! Das Bild einer Tür, die schief in den Angeln hing, flammte in Dannyls Gedanken auf, dann sah er einen Sachakaner durch einen Gang auf sich zukommen.

Lauft!

Kommt zurück! Ich sitze in der Falle!

Hände streckten sich durch den Staub. In einer war eine geschwungene Klinge zu sehen. Ein Gefühl überwältigender Panik folgte… Dann nichts mehr.

Die Namen von Kriegern wurden gerufen, als Freunde und Verwandte in der Gilde das Verbot der Gedankenrede ignorierten. Eine verwirrende Vielzahl an Gedankenstimmen folgte.

Bitte, seid still!, übertönte Balkan den panischen Aufruhr. Ich kann ihnen nicht helfen, wenn ich sie nicht hören kann. Makin?

Das Bild der Metalltüren überlagerte die Botschaften der anderen Magier. Die Türen glühten rot und verströmten Hitze in den Gang. Langsam begannen sie zu schmelzen.

Zurück, befahl Makin. Hinter die Mauer. Lasst sie ihre Kraft vergeuden.

Die Krieger eilten an einer Mauer vorbei, die den Gang zur Hälfte versperrte, um sich dahinter zu versammeln. Die Mauer setzte sich langsam in Bewegung, schob sich in eine Fuge in der gegenüberliegenden Wand des Korridors und schloss den Durchgang hermetisch ab. Dann hörte man ein dumpfes Geräusch, als der Mechanismus innerhalb der Seitenwände zuschnappte.

Die Magier warteten.

Wenn sie hier durchkommen, sandte Makin, greifen wir sie mit allem an, was wir noch haben.

Gedankenrufe von anderen Magiern durchbrachen die angespannte Stille des Flurs. Dannyl zuckte zusammen, als die drei letzten zurückgebliebenen Magier einer nach dem anderen getötet wurden.

Dann explodierte ohne Vorwarnung die steinerne Mauer. Die Krieger hatten ihre Schilde sinken lassen, um ihre Kraft zu schonen. Makins Botschaften verebbten, als ihn etwas an der Schläfe traf. Nachdem er jedoch ein wenig Energie benutzt hatte, um sich zu heilen, wurden seine Nachrichten wieder klarer. Er schloss sich den Männern an, die einen Schild hochgerissen hatten, dann sah er, dass zwei der Krieger am Boden lagen.

Der Angriff auf ihren Schild war nicht schwächer als zuvor. Die Krieger taumelten rückwärts, während sie einer nach dem anderen der Erschöpfung erlagen. Ein grauenvolles Gefühl der Ungläubigkeit durchströmte Makin, als seine eigene Kraft sich ihrem Ende näherte. Der Schild zersprang, und zwei weitere Magier fielen unter den feindlichen Zaubern.

Flieht, rief Balkan. Ihr habt alles getan, was Ihr könnt.

Schemenhafte Gestalten lösten sich aus der Staubwolke. Makin trat beiseite, als der erste Angreifer ihn erreichte. Der Mann bedachte Makin mit einem abschätzigen Blick und ging vorbei.

Wenn die Wache ihre Befehle ausgeführt hat, sollte die letzte Tür gesichert worden sein, nachdem die erste gefallen ist, sandte Makin.

Der Anführer der Sachakaner blieb vor der Tür stehen. Sechs weitere schritten an Makin vorbei und gesellten sich zu dem ersten. Es bedurfte nur eines einzigen Zaubers, um die Türen aus den Angeln zu reißen. Die Sachakaner traten ins Sonnenlicht hinaus.

»Willkommen in Kyralia«, sagte der Anführer und sah seine Gefährten an. Dann drehte er sich um und betrachtete den Korridor. Sein Blick fiel auf Makin. »Du da. Du sendest also diese Botschaften.«

Eine unsichtbare Macht trieb Makin vorwärts. Dannyl spürte Makins Furcht, dann brachen die Nachrichten des Magiers abrupt ab.

Dannyl blinzelte, als er mit einem Mal wieder seine eigene Umgebung sah. Peakin taumelte zu einem Sessel hinüber und brach darin zusammen.

»Es ist wahr«, keuchte er. »Akkarin hatte Recht.«

Das Knistern von Papier war zu hören. Dannyl wandte sich zu Davin um. Der Magier betrachtete einen zusammengerollten Plan. In der Mitte, wo er ihn in der Hand gehalten hatte, war er vollkommen zerdrückt. Langsam rollte er den Plan auf und strich ihn glatt, bevor er die Rolle wieder zusammenspringen ließ.

Als Dannyl das Glänzen von Tränen in den Augen des Alchemisten sah, wandte er sich ab. Der Mann hatte jahrelang gearbeitet, bis seine Methoden zur Wettervorhersage akzeptiert worden waren. Welchen Sinn hatte es jetzt noch, den Ausguck zu bauen?

Dannyl starrte aus dem Fenster. Novizen und Magier standen allein oder in Gruppen in den Gärten, zu Statuen erstarrt. Nur einige Diener gingen noch umher, offenkundig verwirrt von dem seltsamen Verhalten der Magier.

Dann erreichte ein neues Bild des Forts jene, die die Gabe besaßen, es sehen zu können.


Als Makins Botschaften endeten, stellte Lorlen fest, dass er die ganze Zeit über das Geländer des Balkons umklammert gehalten hatte. Mit hämmerndem Herzen hatte er die letzten Augenblicke des Grauens miterlebt, die der Krieger durchgemacht hatte.

»Administrator?«

Lorlen drehte sich um und sah den König an. Der Mann war bleich, aber seine Züge waren starr vor Wut und Entschlossenheit.

»Ja, Euer Majestät?«

»Ruft Lord Balkan.«

»Ja, Euer Majestät.«

Balkan antwortete sofort.

Der König will Euch im Palast sehen.

Das hatte ich mir gedacht. Ich bin bereits auf dem Weg.

»Er kommt«, sagte Lorlen.

Der König nickte. Er drehte sich um und kehrte in den Palastturm zurück. Lorlen folgte ihm, erstarrte dann jedoch, als ein neues Bild der Festung in seinen Gedanken erschien. Er spürte etwas Scharfes an der Kehle. Nachdem er sich dazu gezwungen hatte, sich wieder seiner realen Umgebung zuzuwenden, sah er, dass die königlichen Ratgeber sich beide eine Hand an die Kehle gelegt hatten.

Der König sah sie an. »Was ist passiert?«

»Lord Makin lebt noch«, antwortete Lord Rolden.

Der König griff nach der Hand des Magiers und drückte sie sich auf die Stirn. »Zeigt es mir«, befahl er.

Wieder zeigte das Bild, das Makin sandte, das Fort, aber diesmal von außen. Eine Gruppe einfach gekleideter Sachakaner kam aus dem Gebäude geeilt, und einige führten kleine Tiere an der Leine, die Limeks ähnelten.

Eine Stimme sprach in Makins Ohr.

»So ist es recht. Sag ihnen das. Ich werde -«

»Kariko! Sieh mal, was ich gefunden habe«, rief eine Frau.

Die Stimme kam aus dem Fort. Ein Magier der Gilde stürzte taumelnd aus dem Flur und fiel auf die Knie. Lorlen zuckte zusammen, als er Lord Fergun erkannte.

Makin war zuerst überrascht, dann wütend. Während des Angriffs war alles so schnell gegangen, dass er die Abwesenheit des in Schande gefallenen Kriegers gar nicht bemerkt hatte.

Eine Sachakanerin, die einen schillernden Mantel trug, kam mit langen Schritten aus dem Gebäude. Sie blieb neben Fergun stehen und sah Makin an.

»Er ist hübsch, nicht wahr?«

»Du kannst ihn nicht behalten, Avala«, erklang die Stimme dicht an Makins Ohr.

»Aber er ist schwach. Ich kann nicht fassen, dass sie sich die Mühe gemacht haben, ihn auszubilden. Wahrscheinlich kann er nicht einmal Wasser kochen.«

»Nein, Avala. Er mag schwach sein, aber er kann ihnen Informationen schicken.«

Die Frau beugte sich vor, strich mit den Fingern durch Ferguns Haar und riss dann seinen Kopf zurück.

»Ich könnte seine Ohren zerstören. Dann würde er uns nicht mehr hören können.«

»Und seine hübschen Augen willst du ihm wohl auch aus dem Kopf brennen?«

Sie verzog das Gesicht. »Nein. Das würde ihn verderben.«

»Töte ihn, Avala. In Imardin wirst du noch andere hübsche Männer finden.«

Avala zog einen Schmollmund, dann zuckte sie die Achseln. Sie nahm ein Messer hervor und schlitzte Ferguns Kehle auf. Seine Augen weiteten sich, und er versuchte sich loszureißen, aber er war offenkundig zu schwach dazu. Die Sachakanerin legte eine Hand auf die Schnittwunde, und Fergun erschlaffte. Einen Moment später ließ die Frau ihn los, und er sackte zu Boden.

Sie stieg über seinen Körper hinweg und ging auf Makin zu, obwohl ihr Blick auf den Sachakaner hinter ihm gerichtet war.

»Also, wohin jetzt?«

»Nach Imardin«, erwiderte Kariko. Das Messer drückte sich tiefer in die Haut von Makins Hals. »Jetzt hör mir gut zu, Magier. Sag deiner Gilde, dass ich sie schon bald sehen werde. Wenn sie mir ihre Tore öffnen, werde ich sie vielleicht am Leben lassen. Nun ja, zumindest einige von ihnen. Ich erwarte ein großes Willkommen. Geschenke. Sklaven. Gold…«

Das Messer bewegte sich. Schmerz zuckte auf…

Lorlen keuchte, als er sich jäh seiner eigenen Umgebung wieder bewusst wurde. Wir haben soeben in weniger als einer Stunde zwanzig Magier verloren! Zwanzig unserer besten Krieger…

»Setzt Euch, Administrator.«

Lorlen blickte zu dem König auf. Sein Tonfall war unerwartet freundlich gewesen. Er ließ sich zu einem Stuhl führen. Der König und seine Ratgeber nahmen links und rechts von ihm Platz.

Der Herrscher rieb sich die Stirn und seufzte. »Ich hätte mir eine andere Methode gewünscht zu erfahren, dass Akkarins Behauptungen der Wahrheit entsprechen.«

»Ja«, stimmte Lorlen ihm zu. Die Bilder der Schlacht beherrschten noch immer seine Gedanken.

»Ich muss eine Entscheidung treffen«, fuhr der König fort. »Entweder gestatte ich einem oder mehr Magiern, schwarze Magie zu erlernen, oder ich bitte Akkarin, zurückzukommen und uns zu helfen. Für welche der beiden Möglichkeiten würdet Ihr Euch entscheiden, Administrator?«

»Ich würde Akkarin zurückrufen«, antwortete Lorlen.

»Warum?«

»Wir wissen, dass er die Wahrheit gesagt hat.«

»Tun wir das?«, fragte der König leise. »Er könnte uns auch nur einen Teil der Wahrheit gesagt haben. Er könnte ein Bündnis mit diesen Magiern eingegangen sein.«

»Warum sollte er uns dann eine Botschaft senden, in der er uns vor ihrem Angriff warnt?«

»Um uns zu täuschen. Er hat gesagt, sie würden in einigen Tagen angreifen, nicht heute.«

Lorlen nickte. »Er könnte sich einfach geirrt haben.« Er beugte sich vor und sah dem Monarchen in die Augen. »Ich glaube, dass Akkarin ein Mann von Ehre ist. Ich glaube, dass er uns helfen und dann wieder fortgehen würde, wenn wir ihn darum bäten. Warum sollen wir einen Magier aus unseren Reihen schwarze Magie erlernen lassen, jemanden, den später wegzuschicken wir nicht das Recht hätten, wenn wir einen Mann herbeiholen können, der diese Fähigkeit bereits besitzt?«

»Weil ich Akkarin nicht traue.«

Lorlen ließ die Schultern sinken. Dagegen gab es nichts zu sagen.

»Ich habe diese Frage auch den Oberhäuptern der Disziplinen gestellt«, erklärte der König. »Sie stimmen mir zu. Lord Sarrin wäre meine erste Wahl für diese Aufgabe, aber ich werde diese Entscheidung der Gilde überlassen. Ihr solltet darüber abstimmen.«

Er erhob sich und trat in die offene Tür des Balkons.

»Meine Entscheidung hat noch einen anderen, praktischeren Grund«, fuhr er fort. »Akkarin ist in Sachaka. Er würde vielleicht nicht rechtzeitig hier sein können. Lord Sarrin glaubt, dass Sonea binnen einer Woche schwarze Magie erlernt hat, und das trotz des Unterrichts und anderer Aktivitäten, die ihre Aufmerksamkeit verlangten. Wenn ein Magier seine ganze Kraft dieser Aufgabe widmet, sollte er das Studium der schwarzen Magie schneller bewältigen. Ich -« Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. »Herein.«

Ein Junge trat eilig ein und ließ sich auf ein Knie sinken. »Lord Balkan ist hier, Euer Majestät.«

Der König nickte, und der Junge eilte hinaus. Balkan kam mit langen Schritten herein und kniete vor dem König nieder.

»Erhebt Euch.« Der König lächelte grimmig. »Ihr kommt genau zur rechten Zeit, Lord Balkan.«

»Ich dachte mir, dass Ihr mich vielleicht sprechen wollt, Euer Majestät«, erwiderte Balkan, während er aufstand. Dann nickte er Lorlen höflich zu. »Ihr habt gehört, dass das Fort gefallen ist?«

»Ja«, antwortete der König. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass einem Magier gestattet werden muss, schwarze Magie zu erlernen. Die Gilde wird Kandidaten benennen und einen von ihnen durch eine Wahl bestimmen. Falls die Sachakaner sich Imardin nähern sollten, bevor der Betreffende die schwarze Magie gemeistert hat, werden die Verstärkungen, die Ihr zum Fort schickt, sie aufhalten.«

Lorlen starrte den Monarchen an. Er schickte diese Magier in den sicheren Tod. »Wir brauchen sie hier, Euer Majestät, damit der Magier, den wir wählen, seine Stärke so schnell wie möglich vergrößern kann.«

»Ihr werdet ihnen erst dann den Befehl zum Angriff auf die Sachakaner geben, wenn klar ist, dass wir die Verzögerung brauchen.« Der König wandte sich an Balkan. »Könnt Ihr irgendeine andere Strategie vorschlagen, die den Feind aufhalten oder schwächen würde?«

Der Krieger nickte. »Wir können uns die Verteidigungsmöglichkeiten der Stadt zunutze machen. Jedes Hindernis, das die Sachakaner überwinden müssen, wird sie ein wenig von ihrer Kraft kosten.«

»Was ist mit der Stadtwache? Kann man die einsetzen?«

Balkan schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, man könnte die Wache nur allzu leicht gegen uns wenden.«

Der König runzelte die Stirn. »Wie das?«

»Jeder Nichtmagier mit einem verborgenen magischen Talent ist eine potenzielle Kraftquelle. Deshalb empfehle ich, alle Nichtmagier aus den Kämpfen herauszuhalten.«

»Vielleicht sollte ich die Wache aus Imardin abziehen.«

Balkan dachte kurz nach, dann nickte er. »Falls das möglich ist.«

Der König lachte auf. »Sobald sich die Neuigkeit verbreitet hat, dass sachakanische schwarze Magier einen Angriff auf Imardin planen, wird sich die Stadt von selbst leeren, auch ohne mein Zutun. Ich werde die Wache verpflichten, für Ordnung zu sorgen und sicherzustellen, dass auf jedem Schiff, das den Hafen verlässt, eine vernünftige Anzahl von Flüchtlingen untergebracht wird, und dann werde ich sie wegschicken. Habt Ihr noch weitere Empfehlungen?«

Balkan schüttelte den Kopf.

»Bleibt noch. Ich möchte, dass Ihr mit der Wache über die Befestigungsmaßnahmen sprecht.« Der König wandte sich zu Lorlen um. »Administrator. Kehrt in die Gilde zurück und veranlasst alles Notwendige für die Wahl eines schwarzen Magiers. Je früher er oder sie anfängt, desto besser werden wir vorbereitet sein.«

»Ja, Euer Majestät.«

Lorlen erhob sich und kniete nieder, dann verließ er den Raum.


»Was werdet Ihr jetzt tun?«

Rothen sah Raven an. Der Gesichtsausdruck des Spions war grimmig.

»Ich weiß es nicht«, gestand Rothen. »Fest steht, dass ich jetzt nicht mehr nach Sachaka zu reisen brauche.«

»Aber die Frage, ob es die Ichani wirklich gibt, war nicht der einzige Grund für Eure Reise. Ihr könntet immer noch nach Sonea suchen.«

»Ja.« Rothen blickte nach Nordosten. »Aber die Gilde… Kyralia… Sie werden jeden Magier brauchen, um gegen diese Sachakaner zu kämpfen. Sonea… Sonea könnte meine Hilfe benötigen, aber wenn ich ihr helfe, wird das Kyralia nicht retten.«

Raven betrachtete Rothen mit erwartungsvollem Schweigen. Rothen verspürte einen Schmerz in der Brust, als würde sein Herz in zwei verschiedene Richtungen gezogen.

Die Ichani existieren, dachte er. Akkarin hat nicht gelogen. Sonea ist nicht getäuscht worden. Dann überflutete ihn eine Welle der Erleichterung, als ihm bewusst wurde, dass Sonea gute Gründe für ihre Entscheidungen gehabt hatte.

Sonea ist in Sachaka. Die Ichani sind hier. Für den Augenblick wird sie vielleicht in Sicherheit sein. Wenn ich der Gilde helfe, wird sie möglicherweise noch ein Zuhause haben, in das sie zurückkehren kann.

»Ich bleibe«, sagte er laut. »Ich werde nach Imardin zurückkehren.«

Raven nickte. »In Calia können wir den Karren und unsere Handelswaren gegen zwei frische Pferde eintauschen – falls die Verstärkungstruppen nicht alle Pferde beschlagnahmen.«

Die Verstärkungstruppen. Lord Yikmo und die anderen konnten das Fort noch nicht erreicht haben. Wahrscheinlich würden sie jetzt nach Imardin zurückkehren, um sich dem Rest der Gilde anzuschließen.

»Wir können ebenso gut warten und dann mit Lord Yikmos Leuten zurückreiten«, sagte Rothen.

Der Spion nickte. »In dem Fall werden wir uns hier trennen. Es war mir eine Ehre, mit Euch zusammenzuarbeiten, Lord Rothen.«

Rothen brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Und mir haben Eure Gesellschaft und Eure Lektionen großes Vergnügen bereitet, Raven.«

Der Spion schnaubte zur Antwort auf Rothens Bemerkung. »Ihr seid ein guter Lügner, Lord Rothen.« Dann zuckte er die Achseln. »Aber andererseits habe ich Euch ausgebildet. Ein Jammer, dass diese Lektionen keine praktische Anwendung finden werden. Jetzt müsst Ihr jedoch tun, wozu man Euch in der Gilde ausgebildet hat.« Er sah Rothen an. »Ihr müsst Kyralia verteidigen.«


Als die winzige Hütte zwischen den Bäumen auftauchte, vermutete Sonea, dass es sich um einen weiteren Bauernkotten handelte, aber dann wichen sie vom Weg ab und Dorrien zeigte voller Stolz auf das kleine Gebäude.

»Mein Zuhause.«

Vor dem Haus zügelte er sein Pferd. Die anderen Reiter sahen nervös zu, während Akkarin und Sonea absaßen. Sonea führte ihr Pferd zu einem der Männer.

»Danke für die Leihgabe«, sagte sie.

Bevor er die Zügel entgegennahm, warf er ihr noch einen argwöhnischen Blick zu. Während sie zu Akkarin zurückkehrte, bedankte Dorrien sich bei den Männern und schickte sie fort.

»Sie sind beunruhigt«, sagte Dorrien, als er sich wieder zu ihnen gesellte. »Im einen Moment eskortiere ich Euch aus dem Land, im nächsten liegt ein toter Sachakaner auf der Straße und ich habe meine Meinung über euch beide geändert.«

»Was habt Ihr ihnen erzählt?«, fragte Akkarin.

»Dass wir angegriffen wurden und Ihr uns gerettet habt. Dass ich zu dem Schluss gekommen sei, Ihr hättet als Gegenleistung ein Bett für die Nacht und eine warme Mahlzeit verdient, und dass ich ihnen dankbar wäre, wenn sie das für sich behielten.«

»Werden sie das tun?«

»Sie sind keine Narren. Sie wissen, dass etwas Wichtiges im Schwange ist, selbst wenn sie die Einzelheiten nicht kennen. Aber sie werden tun, worum ich sie gebeten habe.«

Akkarin nickte. »Wir stehen in ihrer Schuld. Wenn sie die Pferde nicht eingefangen hätten und zu uns zurückgekehrt wären, wären wir noch immer unterwegs. Das hat einigen Mut gekostet.«

Dorrien nickte. »Geht schon einmal hinein. Die Tür ist nicht verschlossen. Wenn Ihr Hunger habt, findet Ihr im Haus etwas frisches Brot und einen Topf mit Suppe von gestern. Ich komme nach, sobald ich mein Pferd versorgt habe.«

Sonea folgte Akkarin durch die Tür des Kottens. Sie kamen in einen Raum, der genauso breit war wie das Gebäude selbst. An einer Seite standen eine Bank und mehrere Regale. Die Körbe mit Obst und Gemüse und die Kochtöpfe, die Sonea dort sah, legten die Vermutung nahe, dass Dorrien dort seine Mahlzeiten zubereitete. Davon abgesehen standen ein großer, niedriger Tisch und mehrere Holzstühle in dem Raum. Entlang der Wände zogen sich Regale, die bis zum letzten Platz angefüllt waren mit Krügen, Flaschen, Schachteln und Büchern.

Zwei Türen führten zu den anderen Räumen. Eine stand offen und gab den Blick auf ein ungemachtes Bett frei.

Als Akkarin in den Küchenbereich trat, setzte Sonea sich auf einen der Stühle und sah sich um. Es ist so unordentlich hier, dachte sie. Ganz anders als in Rothens Quartier.

Eine seltsame Ruhe überkam sie. Die Bilder, die Makin aus dem Fort gesandt hatte, hatten sie mit Grauen erfüllt, aber jetzt, einige Stunden später, fühlte sie sich nur noch benommen und müde. Außerdem empfand sie eine eigenartige Erleichterung.

Sie wissen Bescheid, ging es ihr durch den Kopf. Die Gilde – Rothen – alle – wissen nun, dass wir die Wahrheit gesagt haben.

Nur dass es jetzt nichts mehr nützt.

»Hast du Hunger?«

Sie blickte zu Akkarin auf. »Was für eine dumme Frage.«

Er kramte zwei Schalen hervor, goss Suppe aus einem Topf hinein und brach dann von einem großen Brotlaib, der auf der Bank gelegen hatte, zwei dicke Brocken ab. Als er die Schalen zum Tisch brachte, begannen sie zu dampfen.

»Richtiges Essen«, murmelte Sonea, als Akkarin ihr eine Schale hinschob. »Nicht dass ich etwas an deinen Kochkünsten auszusetzen hätte«, fügte sie hinzu. »Du hattest allerdings nur eine begrenzte Auswahl, was die Zutaten betraf.«

»Ja, und mir fehlt Takans Begabung.«

»Nicht einmal Takan hätte es besser machen können.«

»Du wärst überrascht. Was glaubst du, warum Dakova ihn so lange behalten hat?«

Sie aßen schweigend und kosteten das schlichte Mahl mit allen Sinnen aus. Als Sonea ihre leere Schale beiseite stellte, kam Dorrien herein. Er warf einen Blick auf die Schale und lächelte.

»War es gut?«

Sie nickte.

Dorrien ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Ihr solltet ein wenig schlafen«, sagte Akkarin.

»Ich weiß«, erwiderte Dorrien, »aber ich glaube nicht, dass ich dazu in der Lage bin. Ich habe zu viele Fragen.« Er schüttelte den Kopf. »Dieser Magier… wie seid Ihr über den Pass gekommen, wenn der Sachakaner ihn bewacht hat?«

»Mit einem kleinen Täuschungsmanöver«, antwortete Akkarin. Während er ihre Erlebnisse der vergangenen Tage schilderte, beobachtete Sonea ihn genau. Er wirkte verändert. Nicht so unnahbar und reserviert wie früher. »Ich dachte, Parika sei nach Kyralia gegangen, um uns zu finden, aber nach dem Angriff auf das Fort wusste ich, dass sein Eindringen ein Teil der Invasion war.«

»Er war so stark.« Dorrien wandte sich an Sonea. »Wie hast du ihn aufgehalten?«

Heiße Röte stieg ihr in die Wangen. »Ich habe sein Herz zum Stillstand gebracht. Mit heilender Magie.«

Dorrien sah sie überrascht an. »Und er hat keinen Widerstand geleistet?«

»Die Ichani verstehen sich nicht darauf zu heilen, daher wusste er nicht, dass ich ihm das antun konnte.« Sie schauderte. »Ich hätte nie geglaubt, dass ich jemals etwas Derartiges tun würde.«

»Ich hätte an deiner Stelle das Gleiche getan. Er hat schließlich versucht, dich zu töten.« Er sah Akkarin an. »War Parika der einzige Sachakaner auf dem Pass?«

»Ja. Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht andere nachkommen werden.«

»Dann sollte ich die Einheimischen warnen.«

Akkarin nickte. »Die Ichani werden Nichtmagiern auflauern, besonders jenen mit einem verborgenen magischen Potenzial.«

Die Augen des Heilers weiteten sich. »Also werden sie während des ganzen Weges vom Fort bis nach Imardin Jagd auf Bauern und Dorfbewohner machen.«

»Wenn die Gilde vernünftig ist, wird sie die Dörfer und Bauernhöfe entlang der Straße räumen lassen. Kariko wird den anderen Ichani nicht gestatten, während der Reise zu viel Zeit zu verlieren. Er wird befürchten, dass die Gilde ihre Meinung über mich ändern und Sonea und mir erlauben könnte, zurückzukehren, damit ich mich für den Kampf mit ihm stärken kann.«

Dorrien starrte Akkarin an. Er schien mit sich zu ringen, dann wandte er sich an Sonea.

»Was wird geschehen, wenn die Gilde Euch nicht zurückruft? Was könnte sie sonst tun?«

Akkarin schüttelte den Kopf. »Nichts. Selbst wenn sie mich zurückrufen und mir gestatten, schwarze Magie zu benutzen, habe ich nicht mehr genug Zeit, um so stark zu werden wie acht Ichani. Wenn ich jetzt noch Hoher Lord wäre, hätte ich der Gilde den Befehl gegeben, Imardin zu verlassen. Ich hätte einige wenige ausgewählte Männer und Frauen in schwarzer Magie unterwiesen, dann wäre ich mit ihnen wieder nach Imardin gegangen und hätte Kyralia zurückerobert.«

Dorrien sah ihn entsetzt an. »Ihr hättet Kyralia sich selbst überlassen?«

»Ja.«

»Es muss einen anderen Weg geben.«

Akkarin schüttelte den Kopf.

»Aber Ihr seid zurückgekommen. Warum habt Ihr das getan, wenn Ihr nicht die Absicht habt zu kämpfen?«

Akkarin lächelte hohl. »Ich erwarte nicht, dass ich gewinnen werde.«

Dorriens Blick wanderte zu Sonea hinüber. Sie konnte ihn beinahe denken hören: Und du steckst da auch mit drin?

»Was werdet Ihr jetzt tun?«, fragte er leise.

Akkarin runzelte die Stirn. »Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich hatte gehofft, heimlich nach Imardin zurückkehren zu können, um darauf zu warten, dass die Gilde mich ruft.«

»Das können wir immer noch tun«, warf Sonea ein.

»Wir haben keine Pferde und kein Geld. Ohne diese Dinge können wir Imardin unmöglich vor den Ichani erreichen.«

Dorrien lächelte dünn. »Was das betrifft, kann ich Euch helfen.«

»Ihr würdet Euch den Befehlen der Gilde widersetzen?«

Der Heiler nickte. »Ja. Was werdet Ihr tun, wenn Ihr in der Stadt ankommt?«

»Darauf warten, dass die Gilde mich zurückruft.«

»Und wenn sie es nicht tut?«

Akkarin seufzte. »Dann bin ich machtlos. Ich habe heute ein wenig Energie von Parika nehmen können, aber nicht genug, um gegen einen Ichani bestehen zu können.«

Sonea schüttelte den Kopf. »Wir waren heute Morgen auch nicht stark genug, um gegen einen Ichani zu kämpfen, aber es ist uns trotzdem gelungen, einen von ihnen zu töten. Warum können wir das Gleiche nicht mit den anderen machen? Wir könnten so tun, als seien wir erschöpft, dann lassen wir uns fangen und benutzen unsere heilende Magie, um sie zu töten.«

Akkarin runzelte die Stirn. »Das wäre sehr gefährlich. Du weißt nicht, wie es ist, wenn dir mit schwarzer Magie die Kraft entzogen wird. Sobald es beginnt, kannst du deine eigene Magie nicht benutzen. Du wärst nicht in der Lage, dich zu heilen.«

»Dann werden wir uns eben beeilen müssen.«

Akkarins Miene wurde noch düsterer. »Die anderen Ichani werden sehen, was du getan hast. Selbst wenn sie es nicht verstehen, werden sie vorsichtig werden. Es bedarf nur einer Barriere an der Haut, um dich daran zu hindern, deine heilende Kraft gegen sie einzusetzen.«

»Dann müssen wir dafür sorgen, dass die anderen Ichani es nicht sehen.« Sonea beugte sich vor. »Wir müssen sie stellen, wenn sie allein sind.«

»Sie werden vielleicht zusammenbleiben.«

»In dem Fall müssen wir sie mit einer List dazu bringen, sich voneinander zu trennen.«

Akkarin blickte nachdenklich drein. »Sie sind nicht an Städte gewöhnt, und die Hüttenviertel sind ein wahres Labyrinth.«

»Wir könnten die Diebe um Hilfe bitten.«

Dorrien sah sie mit schmalen Augen an. »Rothen hat gesagt, du hättest alle Verbindungen zu ihnen abgebrochen.«

Bei Rothens Namen zuckte Sonea zusammen. »Wie geht es ihm?«

»Ich habe das letzte Mal von ihm gehört, bevor Lorlens Befehl kam, künftig auf jedwede Gedankenrede zu verzichten«, erwiderte Dorrien. Er sah Akkarin an. »Es würde ihn erleichtern zu hören, dass Sonea noch lebt. Wenn ich der Gilde berichte, dass ich Euch gesehen habe, kann ich ihnen mitteilen, dass Ihr bereit seid zu helfen.«

»Nein.« Akkarins Miene war nachdenklich. »Wenn Sonea und ich die Ichani in der Stadt in einen Hinterhalt locken wollen, dürfen sie nicht wissen, dass wir dort sind. Wenn sie das erfahren, werden sie sich zusammenrotten, um Jagd auf uns zu machen.«

Dorrien straffte sich. »Die Gilde würde Eure Anwesenheit -«

»Die Ichani werden es aus den Gedanken des ersten Magiers lesen, den sie töten.« Akkarin sah Dorrien finster an. »Was glaubt Ihr, wo ich diese Methode gelernt habe?«

Dorrien erbleichte. »Oh.«

»Die Gilde darf nicht davon erfahren, dass wir nach Imardin gehen«, sagte Akkarin energisch. »Ihr dürft ihnen nicht davon berichten, dass Ihr uns begegnet seid, ebenso wenig wie Ihr von Eurer heutigen Begegnung mit Parika erzählen dürft. Je weniger Menschen von unserer Rückkehr wissen, umso geringer ist die Gefahr, dass die Ichani herausfinden, was wir planen.«

»Dann haben wir jetzt also einen Plan?«, fragte Sonea.

Akkarin lächelte sie an. »Vielleicht den Keim zu einem Plan. Dein Vorschlag könnte funktionieren, wenn auch vielleicht nicht bei Kariko. Dakova hat heilende Magie von mir gelernt, aber dieses Geheimnis hat er für sich behalten. Ich bin mir nicht sicher, ob er diese Fähigkeit jemals an seinen Bruder weitergegeben hat, aber selbst wenn er es nicht getan haben sollte, wird sich Kariko mit einiger Wahrscheinlichkeit über diese Möglichkeit im Klaren sein und wissen, wie man sie einsetzt, um anderen zu schaden.«

»Also gehen wir Kariko aus dem Weg«, sagte Sonea. »Damit bleiben uns noch sieben Ichani, die wir töten müssen. Das sollte uns für einige Zeit zu tun geben.«

Dorrien lachte leise. »Das klingt so, als hättet Ihr tatsächlich einen Plan. Ich könnte hier und da eine Andeutung einfließen lassen, wenn die Gilde über strategische Fragen debattiert. Gibt es irgendetwas, das ich ihnen sonst noch sagen sollte…?«

»Ich glaube nicht, dass Ihr irgendetwas sagen könnt, das sie dazu bewegen würde, sich zu verstecken«, erwiderte Akkarin.

»Vielleicht werden sie es ja doch tun, wenn sie erst gekämpft und sich dabei erschöpft haben«, bemerkte Sonea.

Akkarin nickte. »Legt ihnen nahe, ihre Kraft immer nur auf einen einzigen Ichani zu konzentrieren. Die Sachakaner sind es nicht gewohnt, einander zu helfen und zu unterstützen. Sie wissen nicht, wie man einen gemeinsamen Schild aufbaut.«

Dorrien nickte. »Gibt es sonst noch irgendetwas?«

»Ich werde unterwegs darüber nachdenken. Je früher wir aufbrechen, desto besser.«

Der Heiler erhob sich. »Ich werde Pferde für euch besorgen.«

»Könntest du uns auch saubere Kleider geben?«, fragte Sonea.

»Wir sollten möglichst unerkannt bleiben«, fügte Akkarin hinzu. »Eine Dienstbotenuniform wäre ideal, aber ganz gewöhnliche Kleider würden den Zweck wohl ebenfalls erfüllen.«

Dorrien zog die Augenbrauen hoch. »Ihr wollt als meine Diener auftreten?«

Sonea drohte ihm spielerisch mit dem Finger. »Ja. Aber nicht dass du dich daran gewöhnst.«

29 Ein Vermächtnis der Vergangenheit

Als Lorlen sich von seinem Stuhl erhob, senkte sich vollkommenes Schweigen über die Gildehalle.

»Ich habe diese Versammlung auf Bitten des Königs einberufen. Wie Ihr inzwischen alle wisst, wurde das Fort gestern von acht Magiern angegriffen und erobert. Von den einundzwanzig Kriegern im Fort haben nur zwei überlebt.«

Ein Wispern ging durch die Reihen. Die Entdeckung, dass zwei Krieger aus dem Fort hatten fliehen können, war die einzige gute Nachricht, die Lorlen am vergangenen Tag bekommen hatte.

»Es scheint so, als entsprächen einige der Behauptungen und Prophezeiungen des Hohen Lords der Wahrheit. Wir sind von sachakanischen Magiern überfallen worden, die über immense Kräfte verfügen. Magiern, die schwarze Magie praktizieren.«

Lorlen hielt inne und sah sich in der Halle um. »Wir müssen der Möglichkeit ins Auge sehen, dass wir zu wenige und zu schwach sind, um die Verbündeten Länder zu verteidigen. Angesichts dieser Umstände hat der König mich gebeten, unsere Gesetze außer Acht zu lassen. Er will, dass wir einen aus unserer Mitte wählen – jemanden, den wir für durch und durch vertrauenswürdig halten – und dem Betreffenden gestatten, schwarze Magie zu erlernen.«

Stimmengewirr wurde laut. Lorlen nahm gemischte Gefühle bei den Magiern in der Halle wahr. Einige von ihnen protestierten, während andere mutlos wirkten.

»Ich möchte Euch jetzt darum bitten, Kandidaten für diese Aufgabe vorzuschlagen«, übertönte er den Lärm im Raum. »Denkt gründlich nach. Die Aktivitäten dieses Magiers werden durch strenge Vorschriften beschnitten werden. Der Betreffende muss für den Rest seines Lebens auf dem Gelände der Gilde bleiben. Er – oder sie – darf kein führendes Amt in der Gilde bekleiden. Ihm oder ihr wird nicht gestattet sein, zu unterrichten. Diese Vorschriften werden vielleicht noch verschärft, wenn wir die Konsequenzen weiter bedenken, die es nach sich ziehen wird, wenn man eine solche Position schafft.«

Lorlen war froh darüber, dass er in keinem einzigen Gesicht der Magier im Raum Zeichen von Eifer und Bereitwilligkeit lesen konnte. »Gibt es noch irgendwelche Fragen?«

»Kann die Gilde sich weigern, das zu tun?«, wurde eine Stimme laut.

Lorlen schüttelte den Kopf. »Der König hat es befohlen.«

»Der Ältestenrat würde dem niemals zustimmen!«, rief ein Magier aus Lonmar.

»Nach dem Vertrag der Verbündeten Länder ist der kyralische König verpflichtet, jedwede notwendige Maßnahme zu ergreifen, um die Verbündeten Länder vor einer magischen Bedrohung zu beschützen«, erwiderte Lorlen. »Die höheren Magier und ich haben dieses Problem mehrfach mit dem König erörtert. Glaubt mir, er hätte diese Entscheidung nicht getroffen, wenn er dächte, dass es eine bessere Lösung geben könnte.«

»Was ist mit Akkarin?«, rief ein anderer Magier. »Warum holen wir ihn nicht zurück?«

»Der König hält seine Strategie für die klügere«, antwortete Lorlen steif.

Als keine weiteren Fragen mehr kamen, nickte Lorlen.

»Ihr habt eine halbe Stunde Zeit, um nachzudenken. Wenn Ihr jemanden als Kandidaten benennen möchtet, wendet Euch bitte an Lord Osen.«

Die Magier verließen ihre Plätze und versammelten sich in kleinen Gruppen, um über den Befehl des Königs zu diskutieren. Einige wandten sich auch direkt an Lord Osen. Die höheren Magier waren ungewöhnlich schweigsam. Die Zeit schien nur langsam zu vergehen. Als die halbe Stunde endete, erhob sich Lorlen und schlug auf den Gong neben seinem Stuhl.

»Bitte, nehmt Eure Plätze wieder ein.«

Als die Magier zu ihren Stühlen zurückkehrten, ging Osen die Treppe hinauf zu Lorlen.

»Das wird interessant«, murmelte Rektor Jerrik. »Wen halten sie dieser zweifelhaften Ehre für würdig?«

Osen zog die Schultern hoch. »Keine Überraschungen. Sie schlagen Lord Sarrin vor, Lord Balkan, Lady Vinara und«, er sah Lorlen an, »Administrator Lorlen.«

»Mich?«, rief Lorlen aus, bevor er sich eines Besseren besinnen konnte.

»Ja.« Osen blickte erheitert drein. »Ihr seid sehr beliebt. Ein Magier hat vorgeschlagen, dass einer der königlichen Ratgeber diese Bürde schultern sollte.«

»Eine interessante Idee.« Balkan kicherte, dann blickte er bewusst zu der obersten Stuhlreihe auf. Lord Mirken blinzelte zu ihm hinab, und an die Stelle des wachsamen Ausdrucks auf seinem Gesicht trat plötzliche Furcht. »Soll doch der König sich den Konsequenzen stellen.«

»Er würde sich binnen eines einzigen Tages einen neuen Ratgeber suchen«, erklärte Vinara entschieden. Sie sah Lorlen an. »Dann lasst uns diese Angelegenheit hinter uns bringen.«

Lorlen nickte und wandte sich wieder der Halle zu. »Vorgeschlagen für das vorläufige Amt eines… schwarzen Magiers sind folgende Kandidaten: Lord Sarrin, Lord Balkan, Lady Vinara und ich selbst.« Mich werden sie doch gewiss nicht wählen, dachte er. Und was ist, wenn sie es doch tun? »Die Kandidaten werden sich bei der Abstimmung enthalten. Bitte, beschwört Eure Lichter herauf.«

Hunderte von Kugellichtern schwebten zur Decke empor. Lorlens Herz hämmerte zu schnell. »Ihr seid sehr beliebt…« Die Möglichkeit, dass er seine derzeitige Position verlieren könnte und sich würde zwingen müssen, zu erlernen, was sogar Akkarin als böse Magie ansah, ließ sein Blut zu Eis gefrieren.

»Wer für Lord Sarrin stimmen will, gibt seinem Licht einen Purpurton«, befahl er. »Wer für Lord Balkan stimmen möchte, wählt rot. Für Lady Vinara grün.« Er hielt inne und schluckte. »Für mich selbst blau.«

Einige der Lichtkugeln hatten schon eine bestimmte Farbe angenommen, bevor Lorlen mit seinen Ausführungen zum Ende kam, da die Magier sich denken konnten, dass Lorlen die Farbe der Roben eines jeden Kandidaten vorschlagen würde. Langsam veränderten nun auch die verbliebenen weißen Lichtkugeln ihre Farbe.

Es ist knapp, dachte Lorlen. Er begann zu zählen.

»Sarrin«, sagte Balkan.

»Ja, auf dieses Ergebnis bin ich ebenfalls gekommen«, bestätigte Vinara. »Obwohl Ihr ihre zweite Wahl wart.«

Lorlen stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus, als ihm klar wurde, dass sie Recht hatten. Er blickte auf Sarrin hinab, und ein Stich des Mitgefühls durchzuckte ihn. Der alte Mann wirkte bleich und krank.

»Lord Sarrin wird unser Verteidiger sein«, verkündete Lorlen. Als er das Publikum einer genauen Musterung unterzog, sah er auf den meisten Gesichtern widerstrebende Zustimmung. »Er wird von seinem Amt als Oberhaupt der Alchemisten zurücktreten und unverzüglich mit dem Studium der schwarzen Magie beginnen. Hiermit erkläre ich die Versammlung für beendet.«


»Wach auf, kleine Sonea.«

Ruckartig wurde Sonea sich ihrer Umgebung bewusst. Überrascht stellte sie fest, dass ihr Pferd stehen geblieben war. Dorrien sah sie mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht an. Sie hatten an einer Straße Halt gemacht, die zu einem Haus führte, und von Akkarin konnte sie keine Spur entdecken.

»Er will uns etwas zu essen besorgen«, erklärte Dorrien.

Sie nickte, dann gähnte sie und rieb sich das Gesicht. Als sie Dorrien wieder ansah, beobachtete er sie immer noch mit versonnener Miene.

»Was denkst du?«, fragte sie.

Er wandte den Blick ab und lächelte schief. »Mir ist nur durch den Kopf gegangen, dass ich dich aus der Gilde hätte entführen sollen, solange ich noch die Chance dazu hatte.«

Ein vertrautes Schuldgefühl zuckte in ihr auf. »Die Gilde hätte es nicht zugelassen. Ich hätte es nicht zugelassen.«

Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Nein?«

»Nein.« Sie wich seinem Blick aus. »Es musste viel passieren, bevor ich wirklich entschieden hatte, dass ich bleiben und Magie studieren wollte. Es würde noch viel mehr dazugehören, um mich dazu zu bringen, meine Meinung zu ändern.«

Er zögerte kurz. »Glaubst du… glaubst du, du wärst in Versuchung gewesen?«

Sie dachte an den Tag zurück, den sie gemeinsam an der Quelle verbracht hatten, und an Dorriens Kuss, und sie konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. »Ein wenig. Aber ich kannte dich damals kaum, Dorrien. Einige wenige Wochen sind nicht genug, um sich eines Menschen sicher sein zu können.«

Sein Blick wanderte über ihre Schulter. Sie drehte sich um und sah, dass Akkarin auf sie zugeritten kam. Mit seinem kurzen Bart und in der einfachen Kleidung würde ihn niemand erkennen. Aber bei genauerem Hinsehen war leicht feststellbar, dass er viel zu gut ritt. Darauf würde sie ihn hinweisen müssen.

»Und seiner bist du jetzt sicher?«

Sie wandte sich wieder zu Dorrien um. »Ja.«

Er stieß langsam die Luft aus und nickte dann. Sonea blickte sich wieder zu Akkarin um.

Seine Miene war grimmig und hart.

»Obwohl es viel gebraucht hat, ihn von mir zu überzeugen«, fügte sie hinzu.

Dorrien gab einen erstickten Laut von sich. Sonea verfluchte sich im Stillen für diese gedankenlose Bemerkung, doch im nächsten Moment brach Dorrien in lautes Gelächter aus.

»Armer Akkarin!«, sagte er kopfschüttelnd. »Du wirst eines Tages eine beeindruckende Frau sein.«

Sonea starrte ihn an, dann spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie suchte nach einer Erwiderung, aber ihr wollte einfach nichts einfallen. Dann hatte Akkarin sie erreicht, und sie gab es auf.

Als er ihr ein Stück Brot reichte, sah Akkarin sie forschend an, und die Röte ihrer Wangen vertiefte sich noch. Er zog die Augenbrauen in die Höhe, dann musterte er Dorrien nachdenklich. Der Heiler lächelte und gab seinem Pferd die Sporen.

Sie ritten los und verzehrten ihr Brot im Sattel. Eine Stunde später kamen sie in ein kleines Dorf. Sonea und Akkarin saßen ab und gaben Dorrien die Zügel ihrer Pferde, und der Heiler ging davon, um ihnen frische Reittiere zu besorgen.

»Also, worüber hast du vorhin mit Dorrien diskutiert?«, fragte Akkarin.

Sie drehte sich zu ihm um. »Diskutiert?«

»Vor dem Bauernhaus, während ich das Essen gekauft habe.«

»Oh. Da. Nichts.«

Er nickte lächelnd. »Nichts. Wirklich ein hochinteressantes Thema. Man erzielt damit immer faszinierende Reaktionen.«

Sie musterte ihn kühl. »Vielleicht ist es einfach eine höfliche Art, zum Ausdruck zu bringen, dass es dich nichts angeht.«

»Wenn du das sagst.«

Der wissende Ausdruck auf seinem Gesicht ärgerte sie ungemein. War sie so leicht zu durchschauen? Aber wenn ich inzwischen seine Stimmungen erahnen kann, geht es ihm umgekehrt wahrscheinlich genauso.

Er gähnte, dann schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, wirkte er ein wenig wachsamer. Wann haben wir das letzte Mal geschlafen? überlegte sie. An dem Morgen, nachdem wir den Pass durchwandert hatten. Und davor? Einige wenige Stunden Schlaf jeden Tag. Und während der ersten Hälfte unserer Reise hat Akkarin überhaupt nicht geschlafen…

»Du hattest keine Albträume mehr«, sagte sie plötzlich.

Akkarin runzelte die Stirn. »Nein.«

»Wovon handelten diese Träume eigentlich?«

Er sah sie scharf an, und sie bereute die Frage sofort.

»Entschuldige«, sagte sie, »ich hätte nicht fragen dürfen.«

Akkarin holte tief Luft. »Nein, ich sollte es dir erzählen. Ich träume von Dingen, die geschehen sind, als ich ein Sklave war. Die meisten dieser Dinge betreffen eine einzige Person.« Er hielt inne. »Eine junge Frau. Sie war Dakovas Sklavin.«

»Die Frau, die dir am Anfang geholfen hat?«

»Ja«, erwiderte er leise. Er hielt inne, dann wandte er den Blick ab. »Ich habe sie geliebt.«

Sonea blinzelte überrascht. Akkarin und die Sklavin? Er hatte sie geliebt? Er hatte eine andere geliebt? Ärger und Unsicherheit stiegen in ihr auf, gefolgt von Schuldgefühlen. War sie eifersüchtig auf eine Frau, die vor Jahren gestorben war? Das war einfach lächerlich.

»Dakova wusste es«, fuhr Akkarin fort. »Wir haben es nicht gewagt, einander zu berühren. Hätten wir es getan, hätte er uns getötet. Es machte ihm Spaß, uns zu quälen, wo er nur konnte. Sie war seine… seine Lustsklavin.«

Sonea schauderte, als ihr langsam klar wurde, was das bedeutet haben musste. Einander täglich zu sehen und doch niemals berühren zu dürfen. Zusehen zu müssen, wie der andere gequält wurde. Sie konnte sich nicht vorstellen, was das für ein Gefühl für Akkarin gewesen sein musste, zu wissen, was das Mädchen durchmachte.

Akkarin seufzte. »Früher habe ich jede Nacht von ihrem Tod geträumt. In meinen Träumen sage ich ihr, dass ich Dakova ablenken würde, damit sie fliehen kann. Ich sage ihr, dass er sie nicht finden würde, weil ich es verhindern werde. Aber sie beachtet mich nie. Sie geht immer zu ihm zurück.«

Sonea griff nach seiner Hand. Seine Finger schlossen sich um ihre.

»Sie hat mir erklärt, dass die Sklaven es als Ehre erachteten, einem Magier zu dienen. Sie meinte, das Ehrgefühl der Sklaven mache ihnen das Leben erträglicher. Ich konnte verstehen, dass sie so dachten, solange sie keine andere Wahl hatten. Vollkommen unbegreiflich fand ich es dagegen, wenn sie sich so verhielten, obwohl sie eine Wahl gehabt hätten – oder wenn sie wussten, dass ihre Herren sie ohnehin zu töten beabsichtigten.«

Sonea dachte an Takan, der Akkarin stets »Meister« genannt hatte; und als er Akkarin das Messer des Ichani gereicht hatte, hatte sie den Eindruck gehabt, als biete er Akkarin mehr an als nur die Klinge. Was vielleicht auch so gewesen war.

»Takan hat nie aufgehört, so zu denken, nicht wahr?«, fragte sie leise.

Akkarin sah sie an. »Nein«, sagte er. »Er ist mit dieser Einstellung groß geworden und konnte sie später nicht mehr abschütteln.« Er lachte leise. »Ich denke, dass er während der letzten Jahre nur deshalb auf den Ritualen bestanden hat, um mich zu ärgern. Ich weiß, dass er niemals freiwillig zu diesem Leben zurückkehren würde.«

»Aber er ist bei dir geblieben, und er hat nicht zugelassen, dass du ihn in Magie unterweist.«

»Nein, aber dafür gab es praktische Gründe. Takan konnte der Gilde nicht beitreten, weil man ihm zu viele Fragen gestellt hätte. Selbst wenn wir eine Vergangenheit für ihn erfunden hätten, wäre es schwierig für ihn gewesen, die Unterrichtsstunden zu meiden, in denen andere Magier in seine Gedanken eingedrungen wären. Und es wäre zu riskant gewesen, ihn heimlich Magie zu lehren. Wenn er nach Sachaka zurückgekehrt wäre, hätte er dort nur überlebt, wenn er schwarze Magie beherrscht hätte. Ich glaube nicht, dass er sich selbst genug vertraute, um als schwarzer Magier in diesem Land zu leben. In Sachaka gibt es nur Sklaven und Herren. Um als Herr zu überleben, hätte er seine eigenen Sklaven besitzen müssen.«

Sonea schauderte. »Sachaka muss ein grausames Land sein.«

Akkarin zuckte die Achseln. »Nicht jeder Herr ist grausam. Die Ichani sind Ausgestoßene. Sie sind die Magier, die der König aus der Stadt verbannt hat – und nicht nur wegen ihres übertriebenen Ehrgeizes.«

»Wie hat der König es geschafft, sie wegzuschicken?«

»Seine eigenen Kräfte sind beträchtlich, und er hat Anhänger.«

»Der sachakanische König ist ein Magier!«

»Ja.« Akkarin lächelte. »Nur in den Verbündeten Ländern gibt es Gesetze, die Magier von der Herrschaft ausschließen oder ihnen verbieten, allzu viel Einfluss auf die Politik zu nehmen.«

»Weiß unser König davon?«

»Ja, obwohl er nicht begreift, wie mächtig sachakanische Magier sind. Nun, inzwischen dürften die Ereignisse ihn eines Besseren belehrt haben.«

»Was hält der sachakanische König davon, dass die Ichani Kyralia angreifen?«

Akkarin runzelte die Stirn. »Dazu kann ich nichts sagen. Wenn er von Karikos Plan gewusst hat, hat er ihm sicher nicht gefallen, aber wahrscheinlich glaubte er, dass es ohnehin nicht funktionieren würde. Die Ichani waren immer zu beschäftigt damit, gegeneinander zu kämpfen, um über ein Bündnis nachzudenken. Es wird interessant sein zu sehen, was der sachakanische König tun wird, wenn sich die Ichani zu Herrschern über ein benachbartes Land aufschwingen.«

»Wird er uns helfen?«

»Oh nein.« Akkarin lachte grimmig. »Du vergisst, wie sehr die Sachakaner die Gilde hassen.«

»Wegen des Krieges? Aber das ist so lange her.«

»Für die Gilde ist es das. Die Sachakaner können nicht vergessen, nicht solange die Hälfte ihrer Heimat aus Ödland besteht.« Akkarin schüttelte den Kopf. »Die Gilde hätte Sachaka nach ihrem Sieg niemals sich selbst überlassen dürfen.«

»Was hätte sie denn tun sollen?«

Akkarin schaute zu den Bergen hinüber. Sonea folgte seinem Blick. Erst vor wenigen Tagen waren sie noch auf der anderen Seite gewesen.

»Es war ein Krieg zwischen Magiern«, murmelte Akkarin. »Es hat niemals Sinn, Armeen von Nichtmagiern gegen Magier kämpfen zu lassen, erst recht nicht, wenn diese Magier schwarze Magie benutzen. Sachaka ist von kyralischen Magiern erobert worden, die anschließend sofort in ihre reichen Häuser zurückkehrten. Sie wussten, dass das sachakanische Reich sich irgendwann erholen und abermals zu einer Gefahr werden würde, deshalb schufen sie das Ödland, um kommende Generationen zur Armut zu verurteilen. Wenn sich einige Magier der Gilde stattdessen in Sachaka angesiedelt, die Sklaven befreit und den sachakanischen Magiern beigebracht hätten, wie sie ihre Kräfte zum Nutzen ihres Volkes einsetzen konnten, hätte man die Sachakaner vielleicht zu einer friedlicheren, freien Gesellschaft führen können, und wir würden heute nicht vor dieser Situation stehen.«

»Ich verstehe«, sagte Sonea langsam. »Aber ich verstehe auch, warum es niemals dazu gekommen ist. Warum sollte die Gilde gewöhnlichen Sachakanern helfen, wenn sie nicht einmal gewöhnlichen Kyraliern hilft?«

Akkarin betrachtete sie nachdenklich. »Einige von uns tun es. Dorrien zum Beispiel.«

Sonea hielt seinem Blick stand. »Dorrien ist eine Ausnahme. Die Gilde könnte sehr viel mehr tun.«

»Wir können gar nichts tun, solange sich niemand freiwillig für derartige Arbeiten meldet.«

»Natürlich könnt ihr etwas tun.«

»Würdest du Magier zwingen, irgendetwas gegen ihren Willen zu tun?«

»Ja.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich bezweifle, dass sie sich das gefallen lassen würden.«

»Vielleicht sollte man ihr Einkommen verringern, wenn sie sich weigern.«

Akkarin lächelte. »Dann würden sie das Gefühl haben, als behandle man sie wie Diener. Niemand würde seine Kinder in die Gilde schicken, wenn das bedeutete, dass sie wie gewöhnliche Menschen arbeiten müssten.«

»Niemand aus den Häusern«, korrigierte Sonea ihn.

Akkarin kicherte. »Seit dem Augenblick, in dem die Gilde vorgeschlagen hat, dich zu unterrichten, wusste ich, dass du einen schlechten Einfluss haben würdest. Die Gilde sollte mir dankbar sein, dass ich sie von dir befreit habe.«

Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, hielt jedoch inne, als sie Dorrien näher kommen sah. Er ritt auf einem neuen Pferd und führte zwei weitere Tiere am Zügel.

»Es gibt bessere Pferde«, sagte er, als er ihnen die Zügel reichte, »aber diese hier werden genügen müssen. Magier aus dem ganzen Land strömen nach Imardin, daher hat sich der Bestand an frischen Pferden in den Rasthäusern bereits stark verringert.«

Akkarin nickte. »Dann müssen wir uns beeilen, sonst gibt es am Ende gar keine Pferde mehr.« Er ging um das Tier herum und schwang sich in den Sattel. Sonea stieg auf das andere Pferd. Während sie den zweiten Stiefel in den Steigbügel schob, musterte sie Akkarin forschend. Er hatte gesagt, dass sie einen schlechten Einfluss auf die Gilde ausübe, aber das bedeutete nicht unbedingt, dass er ihr Verhalten missbilligte. Möglicherweise gab er ihr sogar Recht.

Spielte das noch eine Rolle? In wenigen Tagen würde es vielleicht keine Gilde mehr geben, und die Armen würden entdecken, dass es Schlimmeres gab als die Säuberung.

Sonea schauderte und drängte diesen Gedanken mit aller Macht beiseite.


In der Mittagspause herrschte im Flur des Magierquartiers beinahe ebenso großes Gedränge wie in der Universität, stellte Dannyl fest. Er ging mit Yaldin an kleinen Gruppen von Magiern mit ihren Ehepartnern und Kindern vorbei. Alle sprachen über die Versammlung.

Als Yaldin die Tür zu seinen Räumen erreichte, drehte der alte Magier sich zu Dannyl um und seufzte.

»Wollt Ihr noch auf einen Becher Sumi hereinkommen?«, fragte er.

Dannyl nickte. »Falls Ezrille nichts dagegen hat.«

Yaldin lachte. »Sie erzählt den Leuten gern, ich hätte zu Hause das Sagen, aber Ihr und ich – und Rothen -, wir wissen es besser.«

Er öffnete die Tür und geleitete Dannyl in sein Empfangszimmer. Ezrille, die ein Gewand aus leuchtend blauem Stoff trug, saß in einem der Sessel.

»Das war aber eine kurze Versammlung«, sagte sie stirnrunzelnd.

»Ja«, erwiderte Dannyl. »Ihr seht heute einfach hinreißend aus, Ezrille.«

Sie lächelte, und die Haut um ihre Augen legte sich in winzige Falten. »Ihr solltet öfter nach Hause kommen, Dannyl.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Es erstaunt mich, dass Ihr bei Euren Manieren noch keine Frau gefunden habt. Sumi?«

»Ja, bitte.«

Sie erhob sich und holte Becher und Wasser herbei. Dannyl und Yaldin nahmen Platz. Die Stirn des alten Mannes war gefurcht.

»Ich kann nicht fassen, dass sie beschlossen haben, schwarze Magie zuzulassen.«

Dannyl nickte. »Lorlen meinte, dass einige von Akkarins Behauptungen sich als wahr erwiesen hätten.«

»Die schlimmsten davon, ja.«

»Das ist richtig, aber ich frage mich, ob das bedeutet, dass sich einige seiner Behauptungen als unwahr erwiesen haben.«

»Welche?«

»Offensichtlich nicht die, die sich um schwarze Magier aus Sachaka drehten, die Kyralia überfallen wollen«, bemerkte Ezrille, während sie ein Tablett auf den Tisch vor den Sesseln stellte. »Was wird Rothen jetzt tun? Es ist nicht länger notwendig, dass er nach Sachaka reist.«

»Er wird wahrscheinlich zurückkommen.« Dannyl nahm seinen Becher entgegen und nippte an dem dampfenden Getränk.

»Es sei denn, er beschließt, seine Reise fortzusetzen, um nach Sonea zu suchen.«

Dannyl runzelte die Stirn. Genau das wird Rothen vielleicht tun…

Es klopfte, und Yaldin hob die Hand, um die Tür aufspringen zu lassen. Ein Bote verneigte sich, sah sich kurz im Raum um und trat ein, als er Dannyl entdeckte.

»Botschafter. Hier ist ein Mann, der Euch sprechen möchte. Da alle Besucherzimmer zur Zeit besetzt sind, habe ich ihn in Euer Quartier gebracht. Euer Diener war zugegen und hat ihn eingelassen.«

Ein Besucher? Dannyl stellte seinen Becher beiseite und stand auf. »Vielen Dank«, sagte er zu dem Boten. Der Mann verneigte sich abermals und zog sich zurück.

Dannyl lächelte Yaldin und Ezrille entschuldigend an. »Danke für den Sumi. Ich sollte wohl besser herausfinden, wer mein Besucher ist.«

»Natürlich«, erwiderte Ezrille. »Ihr müsst später noch einmal herkommen und uns von ihm erzählen.«

Jetzt, da sich die meisten Magier wieder in ihre Quartiere zurückgezogen oder ihren Pflichten zugewandt hatten, war es ein wenig ruhiger in den Fluren. Dannyl trat auf seine Tür zu und öffnete sie. Ein junger Mann mit blondem Haar, der in einem der Sessel in seinem Empfangszimmer gesessen hatte, stand auf und verneigte sich. Einen Moment lang erkannte Dannyl seinen Besucher nicht, da er die nüchterne Mode trug, wie sie Kyralier bevorzugten.

Dann trat er hastig ein und ließ die Tür hinter sich zufallen.

»Sei gegrüßt, Botschafter Dannyl.« Tayend grinste. »Hast du mich vermisst?«

30 Hinhaltemanöver

Zuerst erschien Imardin als ein Schatten vor dem gelbgrünen Hintergrund der Felder. Als sie näher kamen, dehnte sich die Stadt zu beiden Seiten der Straße wie zwei ausgestreckte Arme, die sie in der Heimat willkommen hießen. Jetzt, Stunden später, brannten tausend Lampen vor ihnen und erhellten ihren Weg durch den Regen und die Dunkelheit zu den Nordtoren.

Als sie nahe genug waren, um das Prasseln des Regens auf dem Glas der ersten Lampe zu hören, zügelte Dorrien sein Pferd und drehte sich zu Akkarin und Sonea um. Gleichzeitig irrte sein Blick immer wieder zu den anderen Menschen hinüber, die die Straße benutzten. Sie durften mit dem Abschied nicht lange zögern, und sie mussten aufpassen, was sie sagten. Man würde es merkwürdig finden, wenn er sich seinen »gewöhnlichen« Gefährten gegenüber allzu vertraulich zeigte.

»Viel Glück«, sagte er. »Gebt auf euch Acht.«

»Ihr sitzt tiefer in der Patsche als wir, Mylord«, entgegnete Sonea mit dem typischen, gedehnten Tonfall der Hüttenleute. »Vielen Dank für Eure Hilfe. Und lasst Euch nicht von diesen fremdländischen Magiern fangen.«

»Ihr auch nicht«, erwiderte er und lächelte über ihren Akzent. Dann nickte er Akkarin zu, wendete sein Pferd und ritt davon.

Soneas Magen krampfte sich vor Furcht zusammen, als sie ihn auf die Tore zureiten sah. Nachdem er verschwunden war, wandte sie sich zu Akkarin um. Er war nur ein schlanker, hochgewachsener Schatten, dessen Gesicht in der Kapuze seines Umhangs verborgen war.

»Reite du voran«, sagte er.

Sie lenkte ihr Pferd von der Hauptstraße weg in eine schmale Gasse. Die Hüttenbewohner begafften sie und ihre heruntergekommenen Pferde. Untersteht euch, dachte sie. Wir mögen ja so aussehen wie Landpomeranzen, die nichts von den Gefahren der Stadt wissen, aber wir sind es nicht. Und wir können es uns nicht leisten, Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.

Nachdem sie sich eine halbe Stunde lang durch das Gewirr der Gassen vorgetastet hatten, kamen sie zu den Pferdeverkäufern am Rand des Marktplatzes. Vor einem Schild mit einem aufgemalten Pferdehuf darauf machten sie Halt. Ein kräftig aussehender Mann humpelte durch den Regen auf sie zu.

»Seid mir gegrüßt«, sagte er schroff. »Wollt Ihr Eure Pferde verkaufen?«

»Vielleicht«, antwortete Sonea. »Hängt ganz vom Preis ab.«

»Dann lasst mal sehen.« Er winkte sie zu sich heran. »Und kommt rein, wo es trocken ist.«

Sie folgten dem Mann in einen großen Stall. In einigen der Boxen zu beiden Seiten standen Pferde. Sonea und Akkarin saßen ab und beobachteten den Mann dabei, wie er die Tiere begutachtete.

»Wie heißt der da?«

Sonea zögerte. Sie hatten dreimal die Pferde gewechselt, und sie hatte es aufgegeben, sich ihre Namen einzuprägen.

»Ceryni«, sagte sie. »Nach einem Freund von mir.«

Der Mann richtete sich auf und starrte sie an. »Ceryni?«

»Ja. Kennst du ihn?«

Plötzlich kam Gelächter aus einer der Boxen. »Du hast dein Pferd nach mir benannt?«

Eine Stalltür wurde geöffnet, und ein relativ kleiner Mann in einem grauen Umhang trat hindurch, gefolgt von Takan und einem dritten Mann. Sonea sah sich den Sprecher genauer an und schnappte dann nach Luft, als sie ihn erkannte.

»Cery!«

Er grinste. »Hey! Willkommen daheim.« Dann wandte er sich dem Pferdeverkäufer zu, und das Grinsen verschwand. »Du hast die beiden nie gesehen.«

»N-nein«, stimmte der Mann zu. Sein Gesicht war mit einem Mal sehr bleich.

»Nimm die Pferde und verschwinde«, befahl Cery.

Der Mann schnappte sich die Zügel, und Sonea beobachtete erheitert, wie er davoneilte. Akkarin hatte ihr erzählt, dass Takan sich bei einem Dieb versteckt halte. Wenn Cery ebenfalls für diesen Dieb arbeitete, dann musste der Dieb Faren sein – oder arbeitete Cery inzwischen für einen anderen? So oder so, nach der Reaktion des Pferdehändlers zu urteilen, musste er in den vergangenen Jahren einiges an Einfluss gewonnen haben. Sonea drehte sich um und sah, wie Takan vor Akkarin niederkniete.

»Meister.«

Takans Stimme bebte. Akkarin schob seine Kapuze zurück und seufzte.

»Steh auf, Takan«, sagte er leise. Obwohl sein Tonfall gleichzeitig energisch und ein wenig resigniert war, erkannte Sonea die Anzeichen von Verlegenheit in seinem Gesicht. Sie unterdrückte ein Lächeln.

Der Diener erhob sich. »Ich bin froh, Euch wiederzusehen, Meister, obwohl ich befürchte, dass Ihr in einer gefährlichen Situation zurückgekehrt seid.«

»Wie dem auch sein mag, wir müssen tun, was wir können«, erwiderte Akkarin und wandte sich dann an Cery. »Hat Takan dir erklärt, was wir vorhaben?«

Cery nickte. »Die Diebe werden morgen eine Versammlung abhalten. Anscheinend haben die meisten von ihnen gehört, dass irgendetwas im Gange ist, und sei es nur, dass die Häuser ihre Sachen packen und die Stadt verlassen. Ihr müsst mir erklären, wie viel ich ihnen sagen darf.«

»Alles«, erwiderte Akkarin, »falls das deinem Ansehen nicht abträglich ist.«

Cery zuckte die Achseln. »Langfristig wird es mir nicht schaden – und ich habe zunehmend das Gefühl, dass wir keine Stadt mehr haben werden, in der wir Handel treiben können, falls diese sachakanischen Magier siegen. Aber bevor wir zur Sache kommen, werde ich Euch aus diesem Stall wegbringen. Außerdem hättet Ihr gewiss gern etwas zu essen.«

Als er in die Box zurückkehrte, aus der er gekommen war, beobachtete Sonea ihn genau. Er strahlte eine Sicherheit aus, die sie zuvor nie bei ihm wahrgenommen hatte. Und er hatte Akkarin gegenüber nichts von der Furcht und dem Respekt gezeigt, die sie erwartet hätte. Die beiden Männer sprachen miteinander, als hätten sie schon früher zusammengearbeitet.

Zweifellos war Cery einer derjenigen, die Akkarin bei der Suche nach den Spionen geholfen haben. Aber warum hat Akkarin mir nicht erzählt, dass Cery mit der Sache zu tun hatte?

Cery öffnete eine kleine Tür an der hinteren Seite der Box und hielt sie auf.

»Geh voran, Gol.«

Der hochgewachsene, wortkarge Mann bückte sich und trat hindurch, dann stieg er eine Leiter hinunter. Takan und Akkarin folgten ihm. Sonea hielt kurz inne, um Cery anzusehen. Er grinste.

»Geh nur. Wir reden später, wenn wir in meinem Quartier sind.«

Sie kletterte die Leiter hinunter und gelangte in einen geräumigen Tunnel. Gol hielt eine Lampe in die Höhe. Vertraute Gerüche weckten Erinnerungen an die Straße der Diebe. Als Cery sie eingeholt hatte, nickte er Gol zu, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg.

Nach einigen Minuten kamen sie durch eine große Metalltür in ein luxuriös möbliertes Empfangszimmer. Auf einem niedrigen Tisch in der Mitte des Raums standen mehrere Platten mit Essen, Gläsern und Weinflaschen.

Sonea ließ sich auf einen Stuhl sinken und bediente sich. Nachdem Akkarin sich neben sie gesetzt hatte, griff er nach einer der Flaschen. Er zog die Augenbrauen hoch. »Du lebst besser als die Magier, Ceryni.«

»Oh, ich lebe hier nicht«, erwiderte Cery, während er ebenfalls Platz nahm. »Das ist nur eins meiner Gästequartiere. Takan hat hier gewohnt.«

»Der Dieb ist sehr großzügig gewesen«, sagte Takan leise und deutete mit dem Kopf auf Cery.

Der Dieb? Sonea verschluckte sich und starrte Cery fassungslos an.

Als Cery ihren Blick auffing, grinste er. »Du hast es gerade erst kapiert, wie?«

»Aber…« Sie schüttelte den Kopf. »Wie ist das möglich?«

Er breitete die Hände aus. »Harte Arbeit, kluge Schachzüge, gute Verbindungen… und ein wenig Hilfe von deinem Hohen Lord.«

»Dann bist du also der Dieb, der Akkarin bei der Suche nach den Spionen geholfen hat?«

»Das ist richtig. Ich habe damit angefangen, nachdem er uns in der Geschichte mit Fergun geholfen hat«, erklärte Cery. »Er wollte, dass jemand die Mörder für ihn aufspürte. Jemand mit Einfluss und den richtigen Verbindungen.«

»Ich verstehe.« Also hat Akkarin seit damals davon gewusst, seit der Anhörung, bei der Rothen zu meinem Mentor bestimmt wurde. Sie funkelte ihn an. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

Akkarins Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. »Anfangs konnte ich nicht darüber sprechen. Du hättest geglaubt, dass ich Cery mit Gewalt oder mit einer List dazu gebracht hätte, mir zu helfen.«

»Du hättest es mir erzählen können, nachdem ich die Wahrheit über die Ichani erfahren hatte.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin immer bestrebt, nicht mehr preiszugeben, als unbedingt notwendig ist. Wenn die Ichani dich gefangen hätten, hätten sie aus deinen Gedanken etwas über Cerys Verbindung zu mir erfahren können. Und so, wie sich die Dinge entwickelt haben, muss diese Verbindung auch geheim bleiben.« Er wandte sich an Cery. »Es ist wichtig, dass unsere Anwesenheit in Imardin nicht bekannt wird. Wenn die Ichani aus den Gedanken eines ihrer Opfer davon erfahren, hätten wir damit unsere einzige Chance verloren, die Schlacht zu gewinnen. Je weniger Menschen wissen, dass wir hier sind, umso besser.«

Cery nickte. »Nur Gol und ich wissen davon. Die anderen Diebe denken, wir wollten nur darüber reden, was die Stadt in Aufruhr gebracht hat.« Er lächelte. »Sie werden überrascht sein, Euch zu sehen.«

»Glaubst du, dass sie sich damit einverstanden erklären werden, unsere Anwesenheit geheim zu halten?«

Cery zuckte die Achseln. »Sobald sie wissen, was vorgeht, und begreifen, dass sie im Falle eines Sieges der Sachakaner alles verlieren werden, werden sie euch hüten wie ihre eigenen Kinder.«

»Du hast Takan erzählt, dass du über verschiedene Möglichkeiten nachgedacht hast, wie man Magier töten kann«, sagte Akkarin. »Was hattest du -«

Balkan?

Sonea richtete sich auf. Die Gedankenstimme gehörte …

Yikmo?, antwortete Balkan.

Die Sachakaner nähern sich Calia.

Ich werde Euch in Kürze mitteilen, was ich Euch rate.

»Was gibt es, Meister?«, fragte Takan.

»Jemand hat per Gedankenrede eine Nachricht geschickt«, antwortete Akkarin. »Lord Yikmo hat gemeldet, dass die Ichani auf Calia vorrücken. Er muss dort sein.«

Ein kalter Schauer überlief Sonea. »Die Gilde ist doch gewiss nicht ausgezogen, um sie abzufangen?« Sie sah Cery an. »Du hättest es doch gehört, wenn sie die Stadt verlassen hätten, oder?«

Cery schüttelte den Kopf. »Mir ist nichts dergleichen bekannt.«

Akkarin runzelte die Stirn. »Ich wünschte, Lorlen würde den Ring benutzen.«

»Vor vier Tagen haben ungefähr zwanzig Magier die Stadt verlassen«, warf Gol ein. »In den frühen Morgenstunden.«

Yikmo?

Balkan.

Lasst Euch Zeit.

Das werden wir tun.

Sonea wandte sich stirnrunzelnd zu Akkarin um. »Was bedeutet das?«

Seine Miene verdüsterte sich. »Zweifellos handelt es sich um einen verabredeten Code, um Anweisungen zu übermitteln. Sie können Yikmo und seinen Männern nicht sagen, was sie tun sollen, ohne ihre Absichten in Bezug auf die Ichani preiszugeben.«

»Aber was bedeutet das?«

Er legte die Fingerspitzen aneinander. »Zwanzig Magier. Vor vier Tagen. Sie sind aufgebrochen, bevor die Ichani das Fort angegriffen haben. Was könnte ihre Absicht gewesen sein?«

»Vielleicht sollten sie den Südpass bewachen?«, meinte Sonea. »Balkan hat unsere Eskorte im Fort belassen. Möglicherweise dachte er, der Südpass müsste ebenfalls besetzt werden.«

Akkarin schüttelte den Kopf. »Dann wären wir ihnen unterwegs begegnet. Sie müssen nördlich von Calia gewesen sein, wo der Fluss sich gabelt. Aus welchem Grund auch immer sie aufgebrochen sein mögen, sie können vor dem Angriff unmöglich so weit gekommen sein, dass sie nach Imardin hätten zurückkehren können. Sie müssen einen Grund gehabt haben, um in Calia zu bleiben.«

»Um die Position der Ichani durchzugeben?«, schlug Cery vor.

Akkarin runzelte die Stirn. »Ich hoffe, die Gilde plant keine Dummheit.«

»Das wäre eine Überraschung«, bemerkte Takan trocken.

Cery senkte den Blick. »Wir sollten besser essen, bevor alles kalt wird. Möchte irgendjemand Wein?«

Sonea öffnete den Mund zu einer Erwiderung, erstarrte jedoch, als ein Bild in ihren Gedanken aufblitzte. Drei Karren holperten die Hauptstraße eines Dorfes hinunter. In jedem Wagen saßen mehrere Männer und Frauen, einige davon in kostbare Gewänder gekleidet.

Die Pferde des ersten Wagens blieben stehen, und der Fahrer drehte sich langsam zu demjenigen um, der das Bild aussandte. Sonea erkannte zu ihrem Entsetzen, dass der Fahrer Kariko war. Er reichte die Zügel einem Mann, der neben ihm saß, dann sprang er auf den Boden.

»Komm hervor, Gildemagier«, rief er.

Aus dem Fenster eines Hauses auf der anderen Straßenseite flammte ein Zauber auf, dem mehrere weitere auf beiden Straßenseiten folgten. Die Zauber trafen auf unsichtbare Schilde, die jeden Wagen umgaben.

»Ein Hinterhalt«, hörte Sonea Akkarin murmeln.

Kariko drehte sich einmal um die eigene Achse, unterzog die Häuser und die Straße einer genauen Musterung und wandte sich dann wieder seinen Verbündeten zu.

»Wer will jagen?«

Vier der Ichani stiegen aus den Wagen. Sie trennten sich und starrten zu den Häusern zu beiden Seiten der Straße hinüber. Zwei der Sachakaner hatten Yeel bei sich, die aufgeregt bellten.

Dann veränderte sich das Bild. Sonea sah einen Fensterrahmen, einen Raum und einen Magier der Gilde.

»Rothen!«, stieß sie hervor. Die Bilder brachen ab, und Sonea blickte entsetzt zu Akkarin hinüber. »Rothen ist bei ihnen!«


Es sind zu viele Jahre vergangen, seit ich eine Unterrichtsstunde in den Kriegskünsten gehabt oder in der Arena gekämpft habe, dachte Rothen, als er durch den Hof auf die Hintertür des Hauses zulief.

Yikmos Strategie war einfach. Wenn die Sachakaner ihre Angreifer nicht sehen konnten, konnten sie sich nicht gegen sie wehren. Die Magier der Gilde würden aus verschiedenen Verstecken angreifen, ihre Position dann verändern und erneut zuschlagen. Wenn sie keine Energie mehr hatten, sollten sie sich verstecken und ausruhen.

Rothen lief so schnell er konnte durch das Haus in den vorderen Raum. Sie hatten die Dorfbewohner schon vor Stunden weggeschickt, und zur Vorbereitung auf den Hinterhalt waren sämtliche Fenster und Türen geöffnet worden. Als er nun hinausspähte, sah er, dass einer der Sachakaner die Hand nach der Tür des Nachbarhauses ausstreckte. Er attackierte ihn mit einem mächtigen Zauber und stellte befriedigt fest, dass der Mann innehielt.

Dann krampfte sich sein Magen zusammen, als der Mann sich umdrehte und auf ihn zukam. Er stolperte über einen Stuhl und eilte aus dem Raum.

Die Stadt war groß, und die meisten Häuser standen dicht nebeneinander. Rothen schlich umher, beobachtete die Sachakaner und griff sie an, wenn sie so weit entfernt waren, dass er genug Zeit hatte, danach noch vor ihnen zu fliehen. Zweimal hielt er den Atem an, als einer der fremden Magier nur wenige Schritte von seinem Versteck entfernt vorbeiging. Andere Magier der Gilde hatten weniger Glück. Eins der Tiere führte einen Sachakaner zu einem jungen Krieger, der sich in einem Stall verborgen hielt. Obwohl Rothen und ein anderer Alchemist hervorkamen, um ihre Zauber gegen den Sachakaner zu schleudern, beachtete der Mann sie nicht. Der Krieger kämpfte, bis er zu schwach war, um zu stehen. Dann, als der Sachakaner sein Messer hervorzog, hörte Rothen Schritte aus einer anderen Richtung näher kommen und musste fliehen.

Rothen erkannte zu seinem Schrecken, dass seine Versuche, den jungen Krieger zu retten, ihn den größten Teil seiner Kraft gekostet hatten. Wenn auch nicht alles. Als er eine halbe Stunde später auf zwei Leichen stieß, beschloss er, noch einen weiteren Angriff auf einen Sachakaner zu unternehmen, bevor er sich davonstahl, um sich zu verstecken.

Seit der Ankunft der Karren war mehr als eine Stunde verstrichen, und er hatte sich weit von der Hauptstraße entfernt. Balkans Befehle hatten darin bestanden, die Sachakaner so lange wie möglich aufzuhalten. Er war sich nicht sicher, wie lange der Feind seine Jagd auf die Magier der Gilde fortsetzen würde.

Jedenfalls nicht die ganze Nacht hindurch, dachte er. Irgendwann werden sie umkehren. Und sie werden nicht damit rechnen, dass dort jemand auf sie wartet, um sie anzugreifen.

Rothen lächelte. Langsam und sehr vorsichtig kehrte er zur Hauptstraße zurück. Er ging in eins der Häuser und lauschte aufmerksam auf andere Bewegungen in dem Gebäude. Alles war still.

Schließlich trat er an ein Fenster an der vorderen Seite des Hauses und sah, dass die Karren noch immer am selben Platz standen. Mehrere Sachakaner vertraten sich in der Nähe die Beine.

Ein Sklave untersuchte eins der Räder.

Ein gebrochenes Rad wird sie zu einem langsameren Tempo zwingen, überlegte Rothen. Dann grinste er. Noch besser wären natürlich mehrere zerstörte Karren.

Er holte tief Luft und griff nach der ihm verbliebenen Kraft.

Dann hörte er hinter sich ein Dielenbrett knarren, und das Blut erstarrte ihm in den Adern.

»Rothen«, flüsterte eine Stimme.

Er drehte sich um und stieß den Atem aus, den er angehalten hatte. »Yikmo.«

Der Krieger gesellte sich zu ihm an das Fenster.

»Ich habe einen von ihnen prahlen hören, dass er fünf von uns getötet habe«, sagte Yikmo grimmig. »Der andere behauptet, er hätte drei besiegt.«

»Ich wollte gerade die Karren angreifen«, murmelte Rothen. »Sie würden Ersatz dafür finden müssen, und ich denke, dass die Dorfbewohner die meisten Wagen mitgenommen haben.«

Yikmo nickte. »Sie haben die Wagen vorher beschützt, aber sie sind vielleicht nicht in der N -«

Er brach abrupt ab, denn in diesem Moment kamen zwei Sachakaner aus den Häusern auf der anderen Straßenseite geschlendert. Eine Frau rief nach ihnen.

»Wie viele, Kariko?«

»Sieben«, erwiderte der Mann.

»Ich habe fünf erwischt«, fügte sein Gefährte hinzu.

Yikmo sog scharf den Atem ein. »Das ist unmöglich. Wenn die beiden, die ich auf dieser Seite belauscht habe, die Wahrheit sagen, sind nur noch wir zwei übrig.«

Rothen schauderte. »Es sei denn, sie übertreiben.«

»Habt ihr sie alle erwischt?«, fragte die Frau.

»Die meisten«, antwortete Kariko. »Es waren insgesamt zweiundzwanzig.«

»Ich könnte meinen Fährtensucher auf sie hetzen.«

»Nein, wir haben schon genug Zeit verschwendet.« Er richtete sich auf, und Rothen versteifte sich, als er die Gedankenstimme des Mannes hörte.

Kommt jetzt zurück.

Yikmo drehte sich zu Rothen um. »Das ist unsere letzte Chance, diese Wagen zu zerstören.«

»Ja.«

»Ich nehme den ersten und Ihr den zweiten. Seid Ihr so weit?«

Rothen nickte und griff nach seiner letzten Energie.

»Los.«

Ihre Zauber schossen zu den Wagen hinüber. Holz zerbarst, dann war das Schreien von Menschen und Pferden zu hören. Mehrere der einfach gekleideten Sachakaner stürzten zu Boden, verletzt von Holzsplittern, die durch die Luft geflogen waren. Ein Pferd trat mit den Hufen um sich, bis es sich befreit hatte, dann galoppierte es davon.

Die sachakanischen Magier wirbelten herum und starrten in Rothens Richtung.

»Lauft!«, keuchte Yikmo.

Rothen schaffte es bis in die Mitte des Raums, bevor die Mauer hinter ihm explodierte. Der Angriff traf ihn mit voller Wucht im Rücken und schleuderte ihn einige Schritte weit nach vorn. Als er gegen eine Wand prallte, durchzuckte ein scharfer Schmerz seinen Oberkörper und einen Arm.

Er fiel zu Boden und blieb reglos liegen, zu benommen, um sich zu bewegen.

Steh auf! befahl er sich. Du musst fliehen!

Aber als er sich bewegte, schoss ein scharfer Schmerz durch seine Schulter und den Arm. Irgendetwas ist gebrochen, dachte er. Und ich habe keine Kraft mehr übrig, um mich zu heilen. Er keuchte, zwang sich mit einer gewaltigen Anstrengung, sich auf einen Ellbogen zu stützen, dann zog er sich auf die Knie hoch. Staub füllte seine Augen, und er versuchte, ihn wegzublinzeln. Dann packte eine Hand seinen anderen Arm. Yikmo, dachte er. Eine Woge der Dankbarkeit stieg in ihm auf. Er ist hier geblieben, um mir zu helfen.

Die Hand riss ihn auf die Füße, und grauenhafte Schmerzen durchzuckten seinen Oberkörper. Er blickte zu seinem Helfer auf, und Dankbarkeit verwandelte sich in Grauen.

Kariko starrte ihn an, das Gesicht verzerrt vor Wut. »Ich werde dafür sorgen, dass dir deine Tat noch sehr leid tun wird, Magier.«

Eine ungeheure Kraft stieß Rothen gegen die Wand und hielt ihn dort fest. Der Druck sandte neuerliche Schmerzen durch seine Schulter. Kariko packte Rothens Kopf mit beiden Händen.

Er wird meine Gedanken lesen!, durchzuckte es Rothen, und Panik stieg in ihm auf. Instinktiv bemühte er sich, eine Barriere gegen das Eindringen eines fremden Geistes zu errichten, aber er fühlte nichts. Einen Moment lang fragte er sich, ob es überhaupt Karikos Absicht war, seine Gedanken zu lesen, dann dröhnte eine Stimme in seinem Kopf.

Was ist deine größte Angst?

Soneas Gesicht blitzte in Rothens Gedanken auf. Er schob es beiseite, aber Kariko fing das Bild auf und schickte es zurück.

Wer ist das? Ah, jemand, den du in Magie unterwiesen hast. Jemand, der dir viel bedeutet. Aber sie ist fort. Die Gilde hat sie weggeschickt. Wohin? Sachaka! Ah! Das ist sie also. Akkarins Gefährtin. Was für ein unartiges Mädchen, einfach die Gesetze der Gilde zu brechen.

Rothen versuchte, seinen Geist zu leeren, an nichts zu denken, aber Kariko begann, quälende Bilder von Akkarin in Rothens Gedanken zu senden. Er sah einen jüngeren Akkarin, gekleidet wie die Sklaven auf den Karren, einen Akkarin, der vor einem anderen Sachakaner im Schmutz kauerte.

Er war ein Sklave, erklärte Kariko ihm. Euer nobler Hoher Lord war früher einmal ein jämmerlicher, greinender Sklave, der meinem Bruder gedient hat.

Mitgefühl und Bedauern regten sich in Rothen, als ihm klar wurde, dass Akkarin die Wahrheit gesagt hatte. Der letzte Zorn, den er für Soneas »Verderber« empfunden hatte, schmolz dahin. Ein wehmütiger Stolz stieg in ihm auf. Sonea hatte die richtige Entscheidung getroffen. Eine harte Entscheidung, aber die richtige. Er wünschte, er hätte ihr das sagen können, wusste jedoch, dass er dazu niemals mehr die Gelegenheit bekommen würde. Zumindest habe ich alles getan, was ich konnte, dachte er. Und sie ist weit fort von alledem, jetzt, da die Ichani Sachaka verlassen haben.

Weit fort? Ich habe dort noch immer Verbündete, sandte Kariko. Sie werden sie finden und zu mir bringen. Wenn ich sie habe, werde ich sie leiden lassen. Und du… du wirst leben, um es zu sehen, Sklaventöter. Ja, ich wüsste nicht, was das schaden sollte. Du bist schwach, und dein Körper ist am Ende, daher wirst du deine Stadt nicht rechtzeitig erreichen, um deiner Gilde zu helfen.

Rothen spürte, wie der Sachakaner die Hände von seinem Kopf nahm. Kariko blickte zu Boden. Er trat beiseite und bückte sich, um einen Glassplitter aufzuheben.

Dann trat er wieder näher und strich mit der Kante des Glasstücks über Rothens Wange. Auf die Berührung folgte ein scharfer Schmerz, dann spürte Rothen, wie ihm ein warmes Rinnsal übers Gesicht lief. Kariko legte eine Hand unter Rothens Kinn, bis sich eine kleine Blutpfütze darin gebildet hatte.

Der Sachakaner hielt die Glasscherbe hoch. Die Spitze begann langsam zu glühen und zu schmelzen, bis sich eine kleine Kugel geformt hatte. Diese fiel von der Scherbe in Karikos Hand.

Kariko schloss die Finger darum und senkte die Lider. Am Rande von Rothens Gedanken regte sich etwas. Er nahm einen anderen Geist wahr und gewann eine Ahnung davon, was dieses seltsame Ritual bedeutete. Sein Bewusstsein war jetzt mit dem Glas verbunden und mit jedem, der es berührte. Kariko hatte die Absicht, daraus einen Ring zu machen und…

Plötzlich brach die Verbindung ab. Kariko lächelte und drehte sich um. Rothen spürte, wie die Kraft, die ihn an die Wand presste, verebbte. Plötzlich brannte seine Schulter vor Schmerz, und er keuchte auf. Dann beobachtete er ungläubig, wie der Sachakaner durch den in Trümmern liegenden vorderen Teil des Hauses zu dem zerstörten Wagen hinüberging.

Er hat mich leben lassen.

Rothen dachte an die kleine Glaskugel. Lord Sarrins kurze Erklärungen über die Anwendungszwecke von schwarzer Magie kamen ihm in den Sinn, und er begriff, dass Kariko soeben einen Blutstein geschaffen hatte.

Draußen ertönten Stimmen, und ein eisiger Schauer überlief Rothen. Ich muss weg von hier, dachte er, solange ich es noch kann. Er wandte sich ab, hastete durch das Haus zur hinteren Tür und taumelte in die Nacht hinaus.


Während Cery Sonea betrachtete, überkam ihn unerwartete Ruhe.

Als er ihr in dem Stall begegnet war, hatte er mit widerstreitenden Gefühlen gerechnet. Aber der Kitzel der Erregung, den er in früheren Jahren bei ihrem Anblick verspürt hatte, war ausgeblieben, ebenso wie die quälende Sehnsucht jener Zeit, als sie der Gilde beigetreten war. Die vorherrschenden Gefühle waren Zuneigung – und Sorge.

Ich nehme an, dass ich mir immer aus dem einen oder anderen Grund Sorgen um sie machen werde. Während er sie nun beobachtete, fiel ihm auf, dass ihre Aufmerksamkeit immer wieder zu Akkarin zurückkehrte. Er lächelte. Zunächst hatte er angenommen, der Grund für ihr Verhalten sei in der Tatsache zu finden, dass Akkarin ihr ehemaliger Mentor war und sie sich daran gewöhnt hatte, jedem seiner Befehle zu gehorchen, aber jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Sie hatte nicht gezögert, ihn zur Rede zu stellen, weil er seine Verbindung zu Cery vor ihr geheim gehalten hatte. Und ihr trotziges Aufbegehren hatte auch Akkarin nicht allzu sehr bekümmert.

Sie sind keine Magier der Gilde mehr, rief Cery sich ins Gedächtnis. Wahrscheinlich mussten sie sich dieses ganze Theater um Mentoren und Novizen aus dem Kopf schlagen.

Aber ihm dämmerte langsam, dass mehr dahintersteckte.

»Hast du mein Messer?«, fragte Akkarin seinen Diener.

Takan nickte, erhob sich und verschwand in einem der Schlafzimmer. Kurz darauf kehrte er mit einem Messer zurück, das in einer Scheide an einem Gürtel steckte, und hielt es Akkarin mit gesenktem Kopf hin.

Akkarin nickte ernst, nahm die Waffe entgegen und legte sich den Gürtel über die Knie. Dann blickte er plötzlich zur gegenüberliegenden Wand. Gleichzeitig sog Sonea scharf den Atem ein.

Stille senkte sich über den Raum. Cery beobachtete, wie die beiden Magier ins Leere starrten. Akkarin zog die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf; Soneas Augen weiteten sich.

»Nein!«, stieß sie hervor. »Rothen!« Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, dann vergrub sie das Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen.

Cerys Herz krampfte sich zusammen vor Sorge, und er sah den gleichen Ausdruck in Akkarins Zügen. Der Magier schob den Gürtel beiseite und ließ sich von seinem Stuhl gleiten, um sich neben Sonea hinzuknien. Er zog sie an sich und hielt sie fest umschlungen.

»Sonea«, murmelte er. »Es tut mir leid.«

Offenkundig war etwas Schreckliches geschehen. »Was ist los?«, fragte Cery.

»Lord Yikmo hat soeben gemeldet, dass all seine Männer getötet worden sind«, erklärte Akkarin. »Rothen, der vor mir Soneas Mentor war, war unter ihnen.« Er hielt inne. »Yikmo ist schwer verletzt. Er hat davon gesprochen, dass es ihnen gelungen sei, das Fortkommen der Ichani zu verzögern. Ich denke, das war vielleicht der Grund, warum sie sie in einen Hinterhalt gelockt haben, aber mir ist nicht klar, warum die Gilde diese Verzögerung benötigt.«

Soneas Schluchzen nahm jetzt etwas Krampfhaftes an. Offensichtlich versuchte sie, ihrem Weinen Einhalt zu gebieten. Akkarin blickte auf sie hinab, dann sah er Cery an.

»Wo können wir schlafen?«

Takan deutete auf einen Raum. »Dort drüben, Meister.« Cery registrierte, dass der Diener für die beiden das Zimmer mit dem großen Bett ausgesucht hatte.

Akkarin erhob sich und zog Sonea auf die Füße. »Komm, Sonea. Wir haben seit Wochen keine volle Nacht mehr geschlafen.«

»Ich kann nicht schlafen«, sagte sie.

»Dann leg dich hin und wärme das Bett für mich.«

Nun, das lässt keinen Zweifel mehr, dachte Cery.

Sie gingen in das Schlafzimmer. Kurz darauf kam Akkarin zurück.

Cery erhob sich.»Es ist schon spät«, sagte er. »Ich werde morgen früh zurückkommen, damit wir über die Versammlung sprechen können.«

Akkarin nickte. »Ich danke dir, Ceryni.« Er kehrte in das Schlafzimmer zurück und zog die Tür hinter sich zu.

Cery betrachtete die geschlossene Tür. Akkarin, hm? Eine interessante Wahl.

»Ich hoffe, das bekümmert dich nicht allzu sehr.«

Cery drehte sich zu Takan um. Der Diener deutete mit dem Kopf auf das Schlafzimmer.

»Diese beiden?« Cery zuckte die Achseln. »Nein.«

Takan nickte. »Das dachte ich mir, da du ja jetzt mit einer anderen Frau beschäftigt bist.«

Cery gefror das Blut in den Adern. Er sah Gol an, der die Stirn runzelte. »Woher weißt du davon?«

»Ich habe es von einer meiner Wachen gehört.« Takan blickte zwischen Cery und Gol hin und her. »Dann sollte diese Geschichte also ein Geheimnis bleiben?«

»Ja. Es ist nicht immer ungefährlich, mit einem Dieb befreundet zu sein.«

Der Diener wirkte ehrlich besorgt. »Sie kannten ihren Namen nicht. Von einem jungen Mann wie dir erwartet man, dass er eine Frau hat – oder viele Frauen.«

Cery brachte ein grimmiges Lächeln zustande. »Vielleicht hast du Recht. Ich werde diesen Gerüchten nachgehen. Und jetzt gute Nacht.«

Takan nickte. »Gute Nacht, Dieb.«

31 Vorbereitungen auf den Krieg

Der Führer geleitete Lorlen in einen weitläufigen Raum.

Durch riesige Fenster auf der einen Seite fiel das Licht der frühen Morgensonne. Eine kleine Gruppe von Männern hatte sich um einen großen Tisch versammelt. Der König stand in der Mitte und Hauptmann Arin, sein militärischer Ratgeber, zu seiner Rechten. Die übrigen Anwesenden waren Hauptleute und Höflinge, einige davon Lorlen vertraut, andere nicht.

Der König begrüßte Lorlen mit einem Nicken, dann blickte er wieder auf eine vor ihm liegende Karte der Stadt.

»Und wie lange wird es noch dauern, bis die Torverstärkungen für die Äußere Mauer fertig gestellt sind, Hauptmann Vettan?«, fragte er einen grauhaarigen Mann.

»Die Tore im Norden und Westen sind bereits fertig. Die Arbeiten am Südtor werden heute Abend abgeschlossen«, antwortete der Hauptmann.

»Eine Frage, Euer Majestät?« Dies kam von einem elegant gekleideten jungen Mann, der auf der anderen Seite des Tisches stand.

Der König blickte auf. »Ja, Ilorin?«

Lorlen betrachtete den jungen Mann mit einiger Überraschung. Dies war der Vetter des Königs, ein Junge, der nicht älter war als ein Novize des ersten Jahrgangs und ein möglicher Erbe des Throns.

»Warum befestigen wir die Tore, wenn die Äußere Mauer rund um die Gilde verfallen ist?«, fragte der junge Mann. »Um das zu entdecken, brauchen die Sachakaner lediglich einen Späher rund um die Stadt zu schicken.«

Der König lächelte grimmig. »Wir können nur hoffen, dass die Sachakaner nicht auf diese Idee kommen werden.«

»Wir gehen davon aus, dass die Sachakaner uns direkt angreifen werden«, erklärte Balkan dem Jungen, »und da diese Sklaven die Quelle ihrer Macht sind, bezweifle ich, dass sie das Risiko eingehen werden, sie als Späher auszuschicken.« Lorlen bemerkte, dass Balkan nichts von der Möglichkeit sagte, dass die Sachakaner diese Schwäche aus den Gedanken der Krieger im Fort oder in Calia gelesen haben konnten. Vielleicht hatte der König ihn gebeten, die wahre Hoffnungslosigkeit ihrer Position vor seinem Vetter geheim zu halten.

»Glaubt Ihr, dass diese Befestigungen die Sachakaner aufhalten werden?«, fragte Ilorin.

»Nein«, antwortete Balkan. »Die Befestigungen stellen ein Hindernis dar, das zu überwinden die Sachakaner vielleicht zusätzliche Zeit kosten wird, aber aufhalten können sie sie nicht. Das Ziel dieser Maßnahme besteht darin, die Sachakaner zu zwingen, auf diese Weise ein wenig von ihrer Kraft zu verbrauchen.«

»Was wird geschehen, wenn sie in der Stadt sind?«

Balkan sah den König an. »Wir werden weiterkämpfen, solange wir können.«

Der König wandte sich an einen der anderen Hauptleute. »Sind die Hohen Häuser geräumt worden?«

»Die meisten haben die Stadt verlassen«, erwiderte der Mann.

»Und der Rest der Menschen?«

»Die Wachen an den Toren melden, dass sich die Zahl der Leute, die die Stadt verlassen, vervierfacht hat.«

Der König blickte wieder auf die Karte und seufzte. »Ich wünschte, auf dieser Karte wären auch die Hüttenviertel verzeichnet.« Er sah Lord Balkan an. »Werden diese Gebiete während des Kampfes ein Problem darstellen?«

Der Krieger runzelte die Stirn. »Nur wenn die Sachakaner beschließen, sich dort zu verstecken.«

»Wenn sie das tun, könnten wir die Gebäude in Brand setzen«, schlug Ilorin vor.

»Oder wir brennen sie sofort nieder, um sicherzustellen, dass die Ichani sie nicht zu ihrem Vorteil nutzen können«, fügte ein anderer Höfling hinzu.

»Die Hütten würden tagelang brennen«, warnte Hauptmann Arin. »Der Rauch würde dem Feind helfen, sich zu verbergen, und die Glut könnte sich durch die Luft verbreiten und den Rest der Stadt in Brand setzen. Ich empfehle, die Hüttenviertel unangetastet zu lassen, bis wir keine andere Wahl mehr haben.«

Der König nickte und richtete sich auf. »Geht jetzt«, befahl er. »Administrator Lorlen und Lord Balkan mögen bleiben.«

Die Männer verließen unverzüglich den Raum. Lorlen bemerkte, dass die beiden königlichen Ratgeber zurückblieben.

»Habt Ihr gute Neuigkeiten für mich?«, fragte der König.

»Nein, Euer Majestät«, erwiderte Lorlen. »Lord Sarrin ist es nicht gelungen, herauszufinden, wie man schwarze Magie benutzt. Er bittet um Entschuldigung und sagt, er werde es weiterhin versuchen.«

»Hat er das Gefühl, dass er zumindest nahe dran ist?«

Lorlen seufzte und schüttelte den Kopf. »Nein.«

Der König blickte auf die Karte hinab und zog die Brauen zusammen. »Die Sachakaner werden morgen hier sein, übermorgen, wenn wir Glück haben.« Er wandte sich an Balkan. »Habt Ihr ihn mitgebracht?«

Der Krieger nickte. Er nahm einen kleinen Beutel aus seinen Roben, öffnete ihn und kippte den Inhalt auf den Tisch. Lorlen holte scharf Luft, als er Akkarins Ring erkannte.

»Habt Ihr die Absicht, Akkarin zurückzurufen?«

Der König nickte. »Ja. Es ist ein Risiko, aber welche Rolle wird es spielen, wenn er uns verrät? Ohne ihn verlieren wir diese Schlacht ohnehin.« Er griff nach dem Ring, wobei er darauf Acht gab, nicht mit dem Stein in Berührung zu kommen, und hielt ihn Lorlen hin. »Ruft ihn zurück.«

Der Ring war kühl. Lorlen streifte ihn über den Finger und schloss die Augen.

Akkarin!

Keine Antwort. Lorlen versuchte es noch einige Male, dann seufzte er und nahm den Ring ab.

»Vielleicht schläft er«, sagte er. »Ich könnte es in einer Stunde noch einmal versuchen.«

Der König runzelte die Stirn. Er blickte zu den Fenstern hinüber. »Dann ruft ihn ohne den Ring. Vielleicht wird er darauf antworten.«

Balkan und Lorlen tauschten einen besorgten Blick.

»Der Feind wird uns hören«, gab der Krieger zu bedenken.

»Ich weiß. Ruft ihn.«

Balkan nickte, dann schloss er die Augen.

Akkarin!

Stille folgte. Lorlen sandte seinen eigenen Ruf aus.

Akkarin! Der König wünscht Eure Rückkehr.

Akk…

AKKARIN! AKKARIN! AKKARIN! AKKARIN!

Lorlen keuchte auf, als ein anderer Geist durch seinen donnerte, wie Hammerschläge. Er hörte andere Gedankenstimmen höhnisch Akkarins Namen rufen, bevor er sich mit einem Schaudern zurückzog.

»Nun, das war keine angenehme Erfahrung«, murmelte Balkan und rieb sich die Schläfen.

»Was ist passiert?«, fragte der König.

»Die Sachakaner haben geantwortet.«

»Mit einem Gedankenzauber«, fügte Lorlen hinzu.

Der König runzelte finster die Stirn und ballte die Fäuste. Einige Minuten ging er im Raum auf und ab, dann wandte er sich schließlich Lorlen zu.

»Versucht es in einer Stunde noch einmal.«

Lorlen nickte. »Ja, Euer Majestät.«


Tayends Wegbeschreibung führte Dannyl zu einem typischen, von Magiern entworfenen Herrenhaus. Entlang der Straßenseite zogen sich zierliche Balkone. Selbst die Tür war die Arbeit eines Magiers – ein Kunstwerk aus raffiniert ziseliertem Glas.

Es verging ein langer Moment, bevor jemand auf Dannyls Klopfen reagierte. Schritte kamen näher, dann konnte er eine schattenhafte Gestalt jenseits des Glases erkennen. Die Tür wurde geöffnet. Statt eines Türstehers war es Tayend, der Dannyl mit einem Grinsen und einer Verneigung begrüßte.

»Tut mir leid, dass du so lange warten musstest«, sagte er. »Zerrend ist mit seinem gesamten Haushalt nach Elyne aufgebrochen, deshalb ist niemand hier, außer…« Er runzelte die Stirn. »Du siehst schrecklich aus.«

Dannyl nickte. »Ich war die ganze Nacht auf den Beinen. Ich…« Seine Gefühle übermannten ihn, und seine Stimme brach.

Der Gelehrte bedeutete Dannyl, hereinzukommen, dann schloss er die Tür. »Was ist passiert?«

Dannyl schluckte und blinzelte, als seine Augen zu brennen begannen. Die ganze Nacht über hatte er Fassung bewahrt, hatte zuerst Yaldin und Ezrille und dann Dorrien getröstet. Aber jetzt…

»Rothen ist tot«, brachte er schließlich heraus. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Tayends Augen weiteten sich, dann trat er auf Dannyl zu und umarmte ihn.

Dannyl erstarrte und hasste sich im nächsten Moment dafür.

»Keine Bange«, erklärte Tayend. »Wie ich schon sagte, außer mir ist niemand hier. Nicht einmal ein Diener.«

»Es tut mir leid«, antwortete Dannyl. »Ich habe nur -«

»Befürchtet, dass man uns sehen könnte. Ich weiß. Ich bin vorsichtig.«

Wieder schluckte Dannyl. »Ich hasse es, dass das notwendig ist.«

»Das tue ich auch«, sagte Tayend. Er lehnte sich ein wenig zurück und blickte zu Dannyl auf. »Aber so ist es eben. Wir wären Narren, wenn wir das nicht begriffen.«

Dannyl seufzte und wischte sich über die Augen. »Sieh mich an. Ich bin so ein Narr.«

Tayend griff nach seiner Hand und führte ihn durch den Empfangsraum. »Nein, das bist du nicht. Du hast gerade einen guten, alten Freund verloren. Zerrend hat eine Medizin dagegen, obwohl mein lieber Vetter zweiten – oder dritten? – Grades die besten Jahrgänge vielleicht mitgenommen hat.«

»Tayend«, sagte Dannyl. »Zerrend ist aus einem guten Grund fortgegangen. Die Sachakaner sind nur noch ein oder zwei Tage von Imardin entfernt. Du kannst nicht hier bleiben.«

»Ich werde nicht nach Hause fahren. Ich bin hergekommen, um dir bei alldem beizustehen, und genau das werde ich tun.«

Dannyl hielt Tayend am Arm fest. »Ich meine es ernst, Tayend. Diese Magier töten, um sich zu stärken. Sie werden zuerst gegen die Gilde kämpfen, weil die ihr mächtigster Gegner ist. Dann werden sie nach Opfern suchen, um die Energie zu ersetzen, die sie verloren haben. Magier werden nutzlos für sie sein, da wir im Kampf gegen sie unsere Stärke ebenfalls aufbrauchen werden. Es sind die gewöhnlichen Leute, nach denen sie Ausschau halten werden, vor allem jene mit nicht entwickeltem magischem Talent. Menschen wie du also.«

Die Augen des Gelehrten weiteten sich. »Aber so weit werden sie nicht kommen. Du hast gesagt, sie würden zuerst gegen die Gilde kämpfen. Die Gilde wird doch siegen, nicht wahr?«

Dannyl sah Tayend an und schüttelte den Kopf. »Nach den Anweisungen, die man uns gegeben hat, glaube ich nicht, dass irgendjemand unseren Sieg für möglich hält. Vielleicht können wir ein oder zwei von ihnen töten, aber sicher nicht alle. Wir haben den Befehl, Imardin zu verlassen, sobald wir uns erschöpft haben.«

»Oh. Wenn du deine Kraft erschöpft hast, wirst du Hilfe brauchen, um aus der Stadt zu kommen. Ich werde -«

»Nein.« Dannyl legte die Hände auf Tayends Schultern. »Du musst sofort aufbrechen.«

Der Gelehrte schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht ohne dich gehen.«

»Tayend -«

»Außerdem«, fügte der Gelehrte hinzu, »werden die Sachakaner als Nächstes wahrscheinlich Elyne überfallen. Ich möchte lieber hier bei dir bleiben und einen frühen Tod riskieren, als nach Hause zurückzukehren und mich dafür zu hassen, dass ich dich um einiger weniger zusätzlicher Monate der Sicherheit im Stich gelassen habe. Ich bleibe, und du wirst eben einfach das Beste daraus machen müssen.«


Nach der Dunkelheit in den Abwässerkanälen war das Sonnenlicht blendend hell. Als Sonea aus der Luke stieg, spürte sie etwas unter ihrem Stiefel und stolperte, dann hörte sie einen gedämpften Fluch.

»Das war mein Fuß«, murmelte Cery.

Sie konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. »Tut mir leid, Cery, oder soll ich dich von jetzt an Ceryni nennen?«

Cery schnaubte angewidert. »Ich habe mein Leben lang versucht, diesen Namen abzuschütteln, und jetzt muss ich ihn benutzen. Einige von uns hätten dem Dieb, der auf die Idee gekommen ist, dass wir uns alle Tiernamen geben sollten, gewiss das eine oder andere zu sagen.«

»Deine Ma muss hellseherische Fähigkeiten gehabt haben, als sie dir deinen Namen gab«, bemerkte Sonea. Dann trat sie zur Seite, als Akkarin aus dem Tunnel kam.

»Sie konnte auf den ersten Blick erkennen, welche Freier davonlaufen würden, ohne zu bezahlen«, erklärte Cery. »Und sie hat immer gesagt, dass mein Pa eines Tages böse in die Klemme geraten würde.«

»Meine Tante muss diese Gabe ebenfalls haben. Sie hat immer gesagt, du wärst ein Unruhestifter.« Sie hielt inne. »Hast du Jonna und Ranel in letzter Zeit mal gesehen?«

»Nein«, antwortete er, während er sich bückte, um die Luke des Abwasserkanals wieder zu verschließen, »in den letzten Monaten nicht.«

Sie seufzte. Das Wissen um Rothens Tod hatte sich inzwischen wie ein schweres Gewicht irgendwo in ihrem Körper breit gemacht. »Ich würde sie gern sehen. Bevor all das -«

Cery hob die Hand – ein Signal, das Schweigen gebot -, dann zog er Sonea und Akkarin in eine Türnische. Aus dem Eingang einer Gasse tauchte jetzt Gol auf und gesellte sich zu ihnen. Zwei Männer traten in die Gasse und bewegten sich lautlos auf sie zu. Kurz darauf erkannte Sonea das dunklere der beiden Gesichter. Jemand legte ihr sanft eine Hand ins Kreuz.

»Mach nur«, flüsterte Cery ihr ins Ohr. »Jag ihm den Schrecken seines Lebens ein.«

Sonea wandte sich um und sah, dass seine Augen schelmisch glänzten. Sie wartete, bis die beiden Männer auf gleicher Höhe mit ihr waren, dann trat sie ihnen in den Weg und streifte ihre Kapuze ab.

»Faren.«

Die zwei Männer starrten sie an, dann sog einer von ihnen scharf die Luft ein.

»Sonea?«

»Nach all dieser Zeit erkennst du mich also immer noch.«

Er runzelte die Stirn. »Aber ich dachte, du hättest -«

»Kyralia verlassen?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin zurückgekommen, um einige Schulden zu begleichen.«

»Schulden?« Er sah seinen Begleiter nervös an. »Dann haben wir beide nichts miteinander zu tun.«

»Nein?« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und stellte befriedigt fest, dass er zurückwich. »Ich meine mich daran zu erinnern, dass wir einmal eine kleine Abmachung hatten. Erzähl mir nicht, du hättest das vergessen, Faren.«

»Wie könnte ich das vergessen?«, murmelte er. »Ich erinnere mich daran, dass du deinen Teil des Handels nicht eingehalten hast. Genau genommen hast du mehr als eins von meinen Häusern niedergebrannt, während du unter meinem Schutz gestanden hast.«

Sonea zuckte die Achseln. »Ja, ich habe mich wohl nicht als allzu nützlich erwiesen. Aber ich glaube nicht, dass eine Hand voll niedergebrannter Häuser eine Rechtfertigung war, um mich an die Gilde zu verkaufen.«

Faren machte noch einen Schritt rückwärts. »Das war nicht meine Idee. Ich hatte keine andere Wahl.«

»Keine andere Wahl?«, rief sie aus. »Nach allem, was ich gehört habe, hast du einen hübschen Gewinn eingestrichen. Erzähl mir, haben die anderen Diebe eine Provision von der Belohnung kassiert? Soweit ich weiß, hast du die ganze Summe allein eingestrichen.«

Faren schluckte hörbar und wich noch weiter zurück. »Als Entschädigung«, sagte er mit erstickter Stimme.

Sonea machte erneut einen Schritt auf ihn zu, aber dann kam plötzlich ein Prusten von der Tür hinter ihr, das sich schnell in ein Lachen verwandelte.

»Sonea«, sagte Cery. »Ich sollte dich als Botin in meinen Dienst nehmen. Wenn du willst, kannst du ganz schön beängstigend sein.«

Sie brachte ein grimmiges Lächeln zustande. »Du bist nicht der Einzige, der mir das in letzter Zeit bescheinigt hat.« Aber der Gedanke an Dorrien rief ihr Rothen wieder ins Gedächtnis. Erneut senkte sich das Gewicht der Trauer auf sie herab, und sie bemühte sich, das Gefühl zu ignorieren. Ich darf darüber jetzt nicht nachdenken, ermahnte sie sich. Es gibt so viel zu tun.

Faren kniff die gelben Augen zusammen und wandte sich Cery zu. »Ich hätte wissen müssen, dass du hinter diesem kleinen Überfall steckst.«

Cery lächelte. »Oh, ich habe lediglich den Vorschlag gemacht, dass sie sich ein wenig mit dir amüsieren soll. Das hat sie verdient. Schließlich hast du sie tatsächlich an die Gilde ausgeliefert.«

»Du bringst sie zu der Versammlung, nicht wahr?«

»Das ist richtig. Sie und Akkarin haben eine Menge zu erzählen.«

»Akkarin…?«, wiederholte Faren mit gepresster Stimme.

Sonea hörte Schritte hinter sich, und als sie sich umdrehte, sah sie, dass Akkarin und Gol aus dem Haus getreten waren. Akkarin hatte sich den kurzen Bart abrasiert und das Haar im Nacken zusammengebunden, und seine Erscheinung war so ehrfurchtgebietend wie eh und je.

Faren machte noch einen Schritt rückwärts.

»Es ist Faren, nicht wahr«, bemerkte Akkarin glatt. »Schwarz, achtbeinig und giftig?«

Faren nickte. »Ja«, erwiderte er. »Nun, bis auf die Sache mit den Beinen.«

»Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen.«

Der Dieb nickte abermals. »Ganz meinerseits.« Er blickte zu Cery hinüber. »Nun. Diese Versammlung dürfte recht unterhaltsam werden. Folgt mir.«

Als Faren weiterging, unterzog sein Begleiter Sonea und Akkarin einer neugierigen Musterung, bevor er dem Dieb nacheilte. Cery bedeutete Sonea, Akkarin und Gol, ihm zu folgen. Kurz darauf gingen sie durch eine schmale Lücke zwischen zwei Häusern am Ende der Gasse. Bevor sie jedoch auf der anderen Seite ankamen, versperrte ein stämmiger Mann Faren den Weg.

»Wer sind diese Leute?«, verlangte der Mann zu wissen und zeigte dabei auf Sonea und Akkarin.

»Gäste«, erwiderte Cery.

Der Mann zögerte, dann trat er widerstrebend in einen Hauseingang. Faren folgte ihm in das Gebäude, und sie gelangten durch einen kurzen Flur zu einer Treppe. Oben angekommen, blieb Faren vor einer Tür stehen und drehte sich zu Cery um.

»Du solltest vorher fragen, bevor du sie hineinbringst.«

»Und zuhören, während sie stundenlang darüber streiten?« Cery schüttelte den Kopf. »So viel Zeit haben wir nicht.«

»Nun, ich habe dich gewarnt.«

Faren öffnete die Tür. Als Sonea den beiden folgte, bestaunte sie zunächst einmal die luxuriöse Umgebung. Gepolsterte Stühle bildeten einen Kreis in der Mitte des Raums. Sieben Stühle waren besetzt. Die sieben Männer, die dahinter standen, waren, wie sie vermutete, die Beschützer der Diebe.

Es war nicht schwer zu erraten, wer die einzelnen Diebe waren. Bei dem dünnen, kahlköpfigen Mann handelte es sich offensichtlich um Sefli. Die Frau mit der spitzen Nase und dem roten Haar war wahrscheinlich Zill, und der Mann mit dem Bart und den buschigen Augenbrauen musste Limek sein. Sonea fragte sich, ob die körperlichen Ähnlichkeiten mit den Tieren die Namen der Diebe bestimmt hatten oder ob sie sich bewusst so herrichteten, dass sie ihrem erwählten Tier ähnelten. Wahrscheinlich etwas von beidem, befand sie.

Die sieben Diebe starrten sie und Akkarin an, einige mit Wut und Entrüstung, andere mit Verwirrung. Eins der Gesichter war Sonea vertraut. Sie lächelte, als sie Ravis Blick auffing.

»Wer sind diese Leute?«, fragte Sefli scharf.

»Cerys Freunde«, sagte Faren. Er ging zu einem der freien Stühle hinüber und setzte sich. »Er hat darauf bestanden, sie mitzubringen.«

»Das ist Sonea«, erklärte Ravi den anderen Dieben. Dann wandte er sich zu Akkarin um. »Was bedeutet, dass Ihr der ehemalige Hohe Lord sein müsst.«

Entrüstung und Verwirrung machten erschrockenem Erstaunen Platz.

»Es ist mir eine Ehre, euch alle endlich einmal kennen lernen zu dürfen«, erklärte Akkarin. »Vor allem Euch, Lord Senfel.«

Sonea betrachtete den Mann, der hinter Ravis Stuhl stand. Der alte Magier hatte sich den Bart abrasiert, was wahrscheinlich der Grund war, warum sie ihn nicht sofort erkannt hatte. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte – Faren hatte damals versucht, ihn zu erpressen, damit er sie in der Magie unterwies -, hatte Senfel einen langen, weißen Bart getragen. Sie selbst war in dem fruchtlosen Bemühen, ihre Magie auf diese Weise unter Kontrolle zu halten, mit einer Droge betäubt worden, und hatte geglaubt, sie habe die ganze Begegnung nur geträumt, bis Cery bei der folgenden Versammlung davon gesprochen hatte.

Senfel starrte Akkarin mit bleichem Gesicht an. »Nun«, sagte er, »jetzt habt Ihr mich endlich gefunden.«

»Endlich?« Akkarin zog die Schultern hoch. »Ich weiß schon sehr lange Zeit über Euch Bescheid, Senfel.«

Der alte Mann blinzelte überrascht. »Ihr habt es gewusst?«

»Natürlich«, antwortete Akkarin. »Euer angeblicher Tod war nicht sehr überzeugend. Ich bin mir aber immer noch nicht sicher, warum Ihr uns verlassen habt.«

»Ich fand Eure Regeln… erdrückend. Warum habt Ihr nichts unternommen?«

Akkarin lächelte. »Ich bitte Euch, wie hätte mein Vorgänger dann dagestanden? Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass Ihr verschwunden wart. Ihr habt hier keinen Schaden angerichtet, also habe ich Euch gewähren lassen.«

Der alte Magier lachte, ein Geräusch, das wie ein kurzes, unangenehmes Bellen klang. »Ihr habt es Euch tatsächlich zur Gewohnheit gemacht, die Regeln zu brechen, Akkarin von Delvon.«

»Außerdem habe ich abgewartet, bis ich Euch brauche«, fügte Akkarin hinzu.

Seine Worte hatten eine ernüchternde Wirkung auf Senfel. »Die Gilde hat Euch gerufen«, sagte er. »Wie es aussieht, braucht sie jetzt Euch. Warum antwortet Ihr nicht?«

Akkarin blickte von einem Dieb zum anderen. »Weil die Gilde nicht erfahren darf, dass wir hier sind.«

Interesse flackerte in den Augen der Diebe auf.

»Warum nicht?«, fragte Sefli.

Cery trat vor. »Akkarins Geschichte lässt sich nicht mit wenigen Worten erzählen. Könnten wir zusätzliche Stühle bekommen?«

Der Mann, der sie an der Tür empfangen hatte, verließ den Raum und kehrte dann mit zwei schlichten Holzstühlen zurück. Als alle Platz genommen hatten, holte Akkarin tief Luft.

»Zuerst möchte ich euch mitteilen, unter welchen Umständen ich den Sachakanern zum ersten Mal begegnet bin«, begann er.

Während er mit knappen Worten von seiner Begegnung mit Dakova erzählte, beobachtete Sonea die Gesichter der Diebe. Zuerst hörten sie gelassen zu, aber als Akkarin die Ichani beschrieb, traten Erschrecken und Sorge in ihre Züge. Er erzählte ihnen von den Spionen und dass er Cery für die Jagd auf sie angeworben hatte; daraufhin musterten die anderen Diebe Soneas alten Freund mit überraschtem Interesse. Als Akkarin dann auf ihre Verbannung nach Sachaka zu sprechen kam, schnalzte Sefli angewidert mit der Zunge.

»Die Magier der Gilde sind Narren«, sagte er. »Sie hätten Euch in Imardin behalten sollen, bis sie wussten, ob diese Ichani wirklich existierten oder nicht.«

»Vielleicht war es ein Glück, dass sie genau das nicht getan haben«, erwiderte Akkarin. »Die Ichani haben keine Ahnung, dass ich hier bin, und das verschafft uns einen Vorteil. Obwohl ich stärker bin als jeder Magier der Gilde, bin ich nicht stark genug, um acht Ichani zu besiegen. Sonea und ich könnten mit vereinten Kräften einen von ihnen bezwingen, wenn er allein wäre. Wenn die Ichani jedoch von unserer Anwesenheit hier erfahren, werden sie sich zusammenrotten und uns jagen.« Er sah sich in der Runde um. »Deshalb habe ich die Rufe der Gilde nicht beantwortet. Wenn die Gilde weiß, dass ich hier bin, werden die Ichani es aus den Gedanken des ersten Magiers lesen, den sie fangen.«

»Aber Ihr habt uns davon in Kenntnis gesetzt«, bemerkte Sefli.

»Ja. Es ist ein Risiko, aber kein allzu großes. Ich gehe davon aus, dass die Personen in diesem Raum sich von den Sachakanern fern halten werden. Sollten Gerüchte von unserer Anwesenheit in Imardin der Bevölkerung zu Ohren kommen, wird man das vielleicht als Wunschdenken abtun.«

»Also, was wollt Ihr von uns?«, fragte Ravi.

»Sie wollen, dass wir ihnen helfen, einen Sachakaner von den anderen zu isolieren«, antwortete Zill an Akkarins Stelle.

»Ja«, bestätigte Akkarin. »Außerdem möchte ich, dass Ihr uns Zugang zur gesamten Straße der Diebe gewährt und uns Führer zur Seite stellt.«

»Die Straße der Diebe deckt nicht alle Teile des Inneren Rings ab«, warnte ihn Sefli.

»Aber die meisten Häuser dort stehen ohnehin leer«, sagte Zill. »Sie sind verschlossen, aber das können wir regeln.«

Sonea runzelte die Stirn. »Warum stehen die Gebäude leer?«

Die Frau sah Sonea an. »Der König hat den Häusern befohlen, Imardin zu verlassen. Wir haben uns gefragt, warum er das getan hat, bis Senfel uns soeben von den Niederlagen im Fort und in Calia berichtet hat.«

Akkarin nickte. »Die Gilde wird inzwischen begriffen haben, dass jeder in Imardin für die Ichani eine potenzielle Energiequelle darstellt. Man wird dem König geraten haben, die Stadt zu räumen.«

»Aber er hat nur den Häusern nahe gelegt, Imardin zu verlassen, nicht wahr?«, warf Sonea ein. Als die Diebe nickten, stieg brennender Zorn in ihr auf. »Was ist mit den übrigen Menschen?«

»Nachdem die Häuser die Stadt verlassen hatten, haben sich alle anderen auch ohne eine weitere Aufforderung des Königs gedacht, dass etwas im Gang sein muss«, erklärte Cery. »Soweit ich gehört habe, haben Tausende von Menschen ihre Sachen gepackt und sind jetzt auf dem Weg aufs Land.«

»Was ist mit den Hüttenleuten?«, fragte sie.

»Sie werden sich verstecken«, versicherte Cery ihr.

»In den Hüttenvierteln, außerhalb der Stadtmauern, wo die Ichani zuerst auftauchen werden.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn die Ichani beschließen, Halt zu machen, um sich zu stärken, werden die Hüttenleute keine Chance haben.« Ihr Zorn wuchs noch. »Ich kann mir vorstellen, dass der König so dumm ist, aber nicht die Gilde. Es muss Hunderte potenzieller Magier in den Hüttenvierteln geben. Sie sind diejenigen, die man zuerst hätte in Sicherheit bringen sollen.«

»Potenzielle Magier?« Sefli runzelte die Stirn. »Was meint Ihr damit?«

»Die Gilde hält nur bei den Kindern der Häuser Ausschau nach magischem Potential«, antwortete Akkarin, »aber das bedeutet nicht, dass nicht auch Angehörige anderer Klassen über eine magische Begabung verfügen. Sonea ist der lebende Beweis dafür. Man hat sie nur deshalb in die Gilde aufgenommen, weil ihre Kräfte so stark waren, dass sie sich von selbst entwickelt haben. Es gibt wahrscheinlich Hunderte potenzieller Magier in den unteren Klassen.«

»Und für die Ichani sind diese Menschen viel begehrenswertere Opfer als die Magier«, ergänzte Sonea. »Magier verbrauchen im Kampf ihre Kräfte, so dass sie, wenn sie erst besiegt worden sind, nicht mehr viel Energie liefern.«

Die Diebe tauschten einen Blick. »Wir dachten, die Eindringlinge würden uns keinerlei Beachtung schenken«, murmelte Ravi. »Jetzt sieht es so aus, als würden wir eine Art magische Ernte für diese Ichani darstellen.«

»Es sei denn…« Sonea hielt den Atem an und blickte zu Akkarin hinüber. »Es sei denn, jemand nimmt ihre Kraft, bevor die Ichani es tun.«

Akkarins Augen weiteten sich, als ihm klar wurde, was sie da vorschlug, aber dann runzelte er die Stirn. »Würden sie sich damit einverstanden erklären? Ich werde keinem Kyralier mit Gewalt seine Energie nehmen.«

»Ich denke, die meisten wären durchaus einverstanden, wenn sie verstünden, warum wir ihre Energie wollen.«

Akkarin schüttelte den Kopf. »Aber das lässt sich unmöglich organisieren. Wir müssten Tausende von Menschen prüfen und ihnen erklären, was wir tun. Wir haben möglicherweise nur einen einzigen Tag, um uns vorzubereiten.«

»Denkt ihr, was ich glaube, das ihr denkt?«, fragte Senfel.

»Und was soll das sein?« Sefli wirkte verwirrt. »Wenn du das verstehst, Senfel, dann erkläre es mir.«

»Wenn wir die Hüttenleute finden könnten, die über magisches Potenzial verfügen, könnten Akkarin und Sonea ihre Kraft nehmen«, sagte Senfel.

»Auf diese Weise würden wir die Ichani nicht nur ihrer Ernte berauben, sondern unsere Magier würden auch stärker werden«, sagte Zill, die jetzt sehr aufrecht auf ihrem Stuhl saß.

Unsere Magier? Sonea unterdrückte ein Lächeln. Sieht so aus, als hätten die Diebe uns akzeptiert.

»Aber werden die Hüttenleute damit einverstanden sein?«, fragte Akkarin. »Sie haben nicht viel übrig für Magier.«

»Sie werden es tun, wenn wir sie darum bitten«, erwiderte Ravi. »Ganz gleich, was die Hüttenleute von uns halten, sie erkennen an, dass wir während und nach der ersten Säuberung für sie gekämpft haben. Wenn wir verbreiten lassen, dass wir freiwillige Helfer für den Krieg gegen die Eindringlinge suchen, werden sich bis zum Ende des Tages Tausende von Menschen melden. Wir können ihnen mitteilen, dass wir über einige eigene Magier verfügen. Wenn sie glauben, dass Ihr nichts mit der Gilde zu tun habt, werden sie umso eher bereit sein, Euch zu helfen.«

»Ich sehe da allerdings ein Problem«, warf Sefli ein. »Wenn wir das tun, werden Tausende von Hüttenleuten Euch zu Gesicht bekommen – selbst wenn sie nicht wissen, wer Ihr seid, sie werden Euer Gesicht sehen. Wenn die Ichani ihre Gedanken lesen…«

»In diesem Punkt kann ich Euch helfen«, sagte Senfel. »Ich werde alle Freiwilligen prüfen. Nur diejenigen, die über magisches Potenzial verfügen, werden Sonea und Akkarin gegenübertreten. Das bedeutet, dass nur etwa hundert Personen von Eurer Anwesenheit hier erfahren werden.«

Cery lächelte. »Siehst du, Senfel? Du bist doch zu etwas nütze.«

Der alte Magier bedachte Cery mit einem vernichtenden Blick, dann wandte er sich wieder Akkarin zu. »Wenn wir diese Freiwilligen dazu ermutigen, dass sie sich alle an einem bestimmten Ort verstecken – in einem Schlafhaus mit bequemen Betten und reichlichen Essensvorräten -, werden sie ihre Kraft zurückgewinnen, und Ihr könnt morgen noch einmal Energie von ihnen nehmen.«

Akkarin sah den Magier kurz an, dann nickte er. »Ich danke Euch, Senfel.«

»Dankt mir noch nicht«, erwiderte Senfel. »Vielleicht werfen sie ja auch nur einen einzigen Blick auf mich und laufen davon.«

Sefli kicherte. »Du könntest ausnahmsweise einmal versuchen, ein wenig gewinnend aufzutreten, Senfel.« Er ignorierte den wütenden Blick des alten Mannes und wandte sich wieder den anderen zu. »Jetzt, da wir über diese Ichani Bescheid wissen, ist mir klar, dass die Vorschläge, die ich für den Kampf gegen sie machen wollte, nutzlos wären. Wir sollten ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg gehen.«

»Ja«, stimmte Faren zu. »Und sagt den Hüttenbewohnern, dass sie das Gleiche tun sollen.«

»Ich habe eine noch bessere Idee«, meldete sich Ravi zu Wort. »Bringt die Hüttenbewohner in die Tunnel. Es wird ziemlich eng werden, und die Luft könnte ein wenig knapp werden, aber«, er sah zu Senfel hinüber, »Magierkriege dauern, soweit ich gehört habe, niemals allzu lange.«

»Also, wie wollen wir einen Ichani von den anderen weglocken?«, fragte Zill.

»Wie ich höre, hat Limek einen guten Schneider«, bemerkte Cery und warf dem Dieb mit dem buschigen Haar einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Du möchtest dich wohl gern mal in Roben sehen?«, fragte der Mann mit einer tiefen Stimme.

»Oh, sie würden niemals glauben, dass ein Magier so klein sein kann«, spottete Faren.

»Also wirklich!«, protestierte Cery. Er deutete auf Sonea. »Es gibt durchaus kleine Magier.«

Faren nickte. »Ich nehme an, in Novizenroben könntest du recht überzeugend sein.«

Sonea nahm eine Berührung auf ihrem Arm wahr und stellte fest, dass Akkarin mit den Fingern leicht über ihre Haut strich.

Diese Menschen sind mutiger, als ich dachte, sandte er. Sie scheinen zu begreifen, wie gefährlich und mächtig die Ichani sind, und doch sind sie bereit, gegen sie zu kämpfen.

Sonea lächelte und sandte ihm ein flüchtiges Bild von Hüttenbewohnern, die während der Säuberung Magier mit Steinen bewarfen.

Warum sollten sie nicht mutig sein? Sie haben viele Jahre damit verbracht, Magier zu bekämpfen und zu überlisten.

32 Ein Geschenk

Etwas kitzelte Rothen an der Nase. Er nieste, dann öffnete er die Augen.

Er lag mit dem Gesicht nach unten auf vertrocknetem Gras. Als er sich auf die Seite drehte, durchzuckte ein scharfer Schmerz seine Schulter. Die Erinnerung an die vergangene Nacht kehrte zurück: die Ankunft der Karren, der junge Krieger, den ein Ichani in die Enge getrieben hatte, Lord Yikmo am Fenster des Hauses, wie er die Karren in die Luft sprengte, Kariko, der Blutstein, seine Flucht…

Als er sich umsah, stellte er fest, dass er sich in einer Scheune befand. Der Winkel, in dem das Licht durch die Holzbretter fiel, verriet ihm, dass es kurz vor Mittag sein musste.

Als er sich mühsam aufsetzte, verschlimmerte sich der Schmerz. Er schob eine Hand unter seine Roben und berührte seine Schulter. Sie stand ein wenig höher, als sie sollte. Also schloss er die Augen, sandte seinen Geist nach innen und betrachtete seine Schulter mit einigem Entsetzen. Während er geschlafen hatte, hatte sein Körper seine zurückkehrenden Kräfte genutzt, um mit der Heilung der gebrochenen Knochen in seinem Arm und der Schulter zu beginnen. Aber irgendetwas stimmte nicht.

Er seufzte. Unbewusste Selbstheilung gehörte zu den Vorteilen eines Magiers, aber sie war kein verlässlicher Reflex. Die Knochen hatten sich nicht in der richtigen Weise zusammengefügt. Ein erfahrener Heiler konnte sie brechen und wieder einrichten, aber fürs Erste würde er sich mit dem Ungemach eingeschränkter Bewegungsfähigkeit abfinden müssen.

Als er aufstand, wurde ihm für einen Moment schwindlig, dann stellte er fest, dass er Hunger hatte. Er ging zur Tür der Scheune und spähte hinaus. Mehrere Häuser umgaben die Scheune, aber nirgendwo regte sich etwas. Das Gebäude, das ihm am nächsten stand, erschien ihm vertraut. Ein Frösteln überlief ihn, als ihm klar wurde, dass dies das Haus war, in dem er Kariko gegenübergestanden hatte.

Es widerstrebte ihm zutiefst, den Schutz der Scheune zu verlassen. Diese Sachakaner waren vielleicht noch im Dorf und suchten nach Ersatz für ihre zerstörten Wagen. Er sollte bis zum Anbruch der Dämmerung warten und sich dann in der Dunkelheit davonstehlen.

Dann sah er den Magier, der vor der Hintertür des Hauses lag. In der vergangenen Nacht war er noch nicht dort gewesen. Es konnte sich nur um einen Magier handeln: Lord Yikmo.

Rothen trat ins Sonnenlicht und eilte zu der rotgewandeten Gestalt hinüber. Er packte Yikmos Schulter und rollte ihn herum. Die Augen des Magiers starrten blicklos zum Himmel empor.

Streifen getrockneten Blutes zogen sich über die Wange des Kriegers. Seine Roben waren zerrissen und mit Staub bedeckt. Rothen erinnerte sich an den Augenblick, als der vordere Teil des Hauses nach innen explodiert war. Er hatte angenommen, dass Yikmo entkommen war. Stattdessen war er offensichtlich von der Wucht des Zaubers tödlich verletzt worden.

Rothen schüttelte den Kopf. Yikmo hatte in der Gilde Ansehen und Bewunderung genossen. Obwohl er als Magier nicht besonders stark gewesen war, hatten sein scharfer Verstand und seine Fähigkeit, Novizen mit Lernschwierigkeiten zu unterrichten, ihm große Wertschätzung sowohl von Balkan als auch von Akkarin eingetragen.

Und das war auch der Grund, warum Akkarin ihn zu Soneas Lehrer bestimmt hat, dachte Rothen. Ich glaube, sie mochte Yikmo. Die Nachricht von seinem Tod wird sie sehr bekümmern.

Ebenso wie den Rest der Gilde. Er überlegte kurz, ob er die Gilde von dem Geschehenen in Kenntnis setzen sollte, aber irgendetwas ließ ihn zögern. Aus dem Schweigen, das auf die Schlacht gefolgt war, musste die Gilde geschlossen haben, dass alle ihre Magier den Tod gefunden hatten. Die Sachakaner konnten sich nicht sicher sein. Es ist das Beste, nichts preiszugeben, was sie nicht ohnehin schon wissen, dachte er.

Schließlich richtete er sich auf und ging auf das Haus zu. Vorsichtig trat er ein und näherte sich dem vorderen Raum. Dort, wo früher die Mauer gewesen war, führte jetzt ein klaffendes Loch auf die Straße hinaus. In der Mitte der Durchgangsstraße lagen die Überreste von zwei Karren.

Sie sind fort.

Drei Leichen lagen zwischen den Trümmern. Rothen besah sich die Häuser zu beiden Seiten, dann setzte er sich vorsichtig in Bewegung.

»Magier!«

Er wirbelte herum und entspannte sich dann, als ein Junge auf ihn zugelaufen kam. Rothen erinnerte sich an ihn; er war unter den Menschen gewesen, die sie aus dem Dorf weggeschickt hatten. Es hatte einiger energischer Worte von Yikmo bedurft, um den Jungen davon abzuhalten, dazubleiben und den Kampf zu beobachten.

»Was machst du hier?«, fragte Rothen.

Der Junge blieb stehen, und die ungelenke Verneigung, mit der er Rothen begrüßte, war beinahe komisch. »Ich bin zurückgekommen, um zu sehen, was passiert ist, Mylord«, antwortete er. Sein Blick wanderte zu den Karren. »Sind das die Feinde?«

Rothen trat auf die Leichen zu und untersuchte sie. Es waren allesamt Sachakaner. Er bemerkte die zahlreichen Narben auf ihren Armen. »Sklaven«, sagte er. Dann schaute er genauer hin. »Anscheinend sind sie verletzt worden, als wir die Karren gesprengt haben. Sie haben üble Wunden davongetragen, aber nichts, was man nicht hätte heilen können, und nichts, was sie so schnell getötet hätte.«

»Ihr glaubt, die Sachakaner töten ihre eigenen Leute?«

»Möglicherweise.« Rothen straffte sich und betrachtete einen toten Sachakaner nach dem anderen. »Ja. Diese Schnittwunden an ihren Handgelenken stammen nicht von Holzsplittern.«

»Wahrscheinlich wollten sie nicht, dass ihre Sklaven ihr Fortkommen behindern«, sagte der Junge.

»Hast du dich im Dorf umgesehen?«, erkundigte sich Rothen.

Der Junge nickte.

»Hast du noch andere Magier der Gilde gefunden?«

Der Junge nickte abermals, dann senkte er den Blick. »Sie waren jedoch alle tot.«

Rothen seufzte. »Gibt es noch irgendwo Pferde?«

Der Junge grinste. »Nicht hier, aber ich kann Euch eins besorgen. Mein Pa bildet Rennpferde für das Haus Arran aus. Der Besitz liegt ganz in der Nähe. Ich kann dort hinlaufen und in einer halben Stunde zurück sein.«

»Dann geh und hol mir ein Pferd.« Rothen betrachtete seine Umgebung. »Und bring auch ein paar Männer mit, die sich um die Leichen kümmern.«

»Wo sollen die Leichen hin? Auf den Friedhof von Calia?«

Ein Friedhof. Rothen dachte an den rätselhaften Friedhof in dem Wald hinter der Gilde, dann fielen ihm Akkarins Behauptungen wieder ein, dass schwarze Magie vor ihrer Ächtung allgemein gebräuchlich gewesen sei. Plötzlich war ihm der Grund für die Existenz dieser Gräber nur allzu klar.

»Ja, schaff die Leichen fürs Erste zum Friedhof«, antwortete Rothen. »Ich werde bleiben, um sie zu identifizieren, und dann in die Stadt reiten.«


Wie so viele der Menschen vor ihr zögerte die Frau, die in den Raum trat, als sie Sonea sah.

»Ich weiß, der Schleier ist ein wenig dick aufgetragen«, sagte Sonea mit dem schweren Akzent, der in den Hüttenvierteln allgemein verbreitet war. »Ich soll ihn tragen, damit niemand erfährt, wer die Magier der Diebe sind.« Der Schleier war Takans Idee gewesen. Auf diese Weise würden nicht einmal die etwa hundert potenziellen Magier, von denen sie Kraft nahm, sie sehen. Akkarin, der im Nebenzimmer ebenfalls Hüttenleute empfing, trug eine Maske.

»Sonea?«, flüsterte die Frau.

Sonea fuhr erschrocken auf. Sie sah genauer hin, und als sie die Frau erkannte, nahm sie den Schleier ab.

»Jonna!«

Sonea lief um den Tisch herum und drückte ihre Tante fest an sich.

»Du bist es wirklich«, sagte Jonna, die einen Schritt zurückgetreten war, um Sonea anzuschauen. »Ich dachte, die Gilde hätte dich weggeschickt?«

»Das hat sie auch getan.« Sonea grinste. »Ich bin zurückgekommen. Wir können schließlich nicht zulassen, dass die Sachakaner unsere Stadt in Unordnung bringen, nicht wahr?«

Verschiedene Gefühle spiegelten sich auf den Zügen der Frau. Angst und Sorge machten schließlich einem schiefen Lächeln Platz. »Du verstehst dich wahrhaftig darauf, dich immer wieder in die Klemme zu bringen.« Sie sah sich im Raum um. »Sie haben mich stundenlang warten lassen. Ich dachte, ich sollte vielleicht kochen oder etwas Ähnliches tun, aber dann haben sie mir erzählt, ich hätte irgendeine magische Fähigkeit und solle ihren Magiern helfen.«

»Wirklich?« Sonea führte ihre Tante zu einem Stuhl und kehrte anschließend zu ihrem eigenen Platz auf der anderen Seite des Tisches zurück. »Dann muss ich mein Talent wohl von der mütterlichen Seite haben. Gib mir deine Hand.«

Jonna tat wie geheißen. Sonea griff nach der Hand ihrer Tante und sandte ihre Sinne aus. Sie entdeckte eine kleine Kraftquelle. »Es ist nicht viel. Deshalb haben sie dich warten lassen. Wie geht es Ranel und euren Kindern?«

»Kerrel wächst ziemlich schnell. Hania ist ein Schreikind, aber ich tröste mich damit, dass sie diese Angewohnheit bald ablegen wird. Wenn Ranel wüsste, dass du hier bist, wäre er mitgekommen, aber er dachte, dass er wegen seines Hinkens wohl kaum von Nutzen sein würde.«

»Ich würde ihn schrecklich gern wiedersehen. Vielleicht wenn all das… ich werde die Haut auf deinem Handrücken einritzen, wenn du damit einverstanden bist.«

Jonna zuckte die Achseln. Sonea öffnete eine Schachtel auf dem Tisch und nahm das winzige Messer heraus, das Cery ihr gegeben hatte. Er war der Meinung gewesen, dass eine kleine Klinge den Hüttenleuten weniger Angst machen würde als eine große. Diese hier war so winzig, dass sie einige ihrer Besucher zum Lachen gebracht hatte.

Sonea ritzte Jonnas Haut mit dem Messer auf und legte einen Finger auf die Wunde. Wie alle anderen vor ihr entspannte sich Jonna, als Sonea ihr Energie abzog. Nachdem sie die Wunde schließlich geheilt hatte, richtete die Frau sich auf.

»Das hat sich sehr merkwürdig angefühlt«, sagte Jonna. »Ich konnte mich nicht bewegen, aber gleichzeitig war ich so schläfrig, dass ich es auch gar nicht gewollt hätte.«

Sonea nickte. »Das sagen die meisten Leute. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es tun könnte, wenn ich wüsste, dass es unangenehm ist. Und jetzt sag mir, was ihr in letzter Zeit getan habt.«

Die Probleme, von denen Jonna berichtete, erschienen so wunderbar einfach und gewöhnlich. Sonea hörte zu, dann erzählte sie ihrer Tante alles, was seit ihrer letzten Begegnung geschehen war, und sie vertraute ihr auch einige ihrer Zweifel und Ängste an. Am Ende ihrer Geschichte betrachtete Jonna ihre Nichte mit nachdenklicher Miene.

»Es ist schwer zu glauben, dass das ruhige kleine Kind, das ich großziehen musste, zu einer so wichtigen Person herangewachsen ist«, sagte sie. »Und jetzt bist du mit diesem Akkarin zusammen, dem Hohen Lord der Gilde.«

»Er ist nicht mehr Hoher Lord«, rief Sonea ihr ins Gedächtnis.

Jonna machte eine abwehrende Handbewegung. »Trotzdem. Wie sicher bist du dir, was ihn betrifft? Glaubst du, dass ihr heiraten werdet?«

Sonea spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. »Ich… ich weiß nicht. Ich…«

»Würdest du ja sagen?«

Heiraten? Sonea zögerte, dann nickte sie langsam.

»Aber ihr habt noch nicht davon gesprochen, nicht wahr?« Jonna runzelte die Stirn und beugte sich vor. »Du passt doch auf?«, murmelte sie.

»Es gibt…« Sonea schluckte. »Ich weiß, dass es für Magier bestimmte Möglichkeiten gibt, um dafür zu sorgen, dass eine Frau nicht… Das ist einer der Vorteile, die man als Magier genießt. Akkarin würde das nicht wollen.« Ihr Gesicht wurde noch heißer. »Jedenfalls nicht jetzt. Es wäre nicht klug, nicht inmitten all dieser Kämpfe.«

Jonna nickte und tätschelte Soneas Hand. »Natürlich. Dann vielleicht später, wenn das alles vorbei ist.«

Sonea lächelte. »Ja. Und wenn ich bereit bin. Also nicht sofort.«

Die Frau seufzte. »Es ist schön, dich zu sehen, Sonea. Und ist es ist eine solche Erleichterung zu wissen, dass du wieder da bist.« Dann wurde ihre Miene plötzlich ernst. »Andererseits wünschte ich mir, du wärst irgendwo weit fort von hier und in Sicherheit. Ich wünschte, du müsstest nicht gegen diese Sachakaner kämpfen. Du… du wirst auf dich aufpassen?«

»Natürlich.«

»Versuche, nichts Törichtes zu tun.«

»Kein Bange. Ich kann dem Gedanken an den Tod nicht allzu viel abgewinnen, Jonna. Das ist ein starkes Abschreckungsmittel gegen Torheit.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie.

»Ja?«, rief Sonea.

Die Tür wurde geöffnet, und Cery kam mit einem großen Sack herein. Er grinste breit.

»Unterhaltet ihr euch schön?«, fragte er.

»Hast du das arrangiert?«, wollte Sonea wissen.

»Vielleicht«, erwiderte Cery hinterhältig.

»Danke.«

Er zuckte die Achseln. Jonna erhob sich. »Es ist schon spät. Ich muss zurück zu meiner Familie«, sagte sie.

Sonea stand auf, ging um den Tisch herum und umarmte ihre Tante abermals. »Passt auf euch auf«, sagte sie. »Gib Ranel einen Kuss von mir. Und erklär ihm, dass er mit niemandem über unsere Anwesenheit hier reden darf.«

Jonna nickte, dann wandte sie sich ab und verließ den Raum.

»Das waren die Letzten«, erklärte Cery. »Ich bringe dich jetzt in dein Quartier zurück.«

»Was ist mit Akkarin?«

»Er erwartet dich dort. Komm mit.«

Er führte sie durch eine Tür im hinteren Teil des Raums in einen Flur, an dessen Ende sie in einen kleinen Schrank traten. Cery löste ein Seil, das aus einem Loch in der Decke herabhing, und als er es durch die Hände gleiten ließ, senkte sich der Boden des Schranks langsam hinab. »Ihr zwei gebt ein gutes Paar ab«, bemerkte Cery.

Sonea sah ihn stirnrunzelnd an. »Jonna und ich?«

Er grinste und schüttelte den Kopf. »Akkarin und du.«

»Meinst du?«

»Ich hoffe es. Es gefällt mir nicht besonders, dass er dich in all diese Scherereien hineingezogen hat, aber deine Sicherheit scheint ihm genauso wichtig zu sein wie mir.«

Sie kamen vor einer weiteren Tür zum Stehen. Cery drückte sie auf, und sie traten in einen vertrauten Tunnel. Einige Schritte später erreichten sie die große Metalltür, die zu Cerys Gästequartieren führte. Akkarin saß, ein Glas Wein in der Hand, vor einem Tisch, auf dem etliche Platten mit frischem Essen standen. Neben ihm saß Takan.

Als Akkarin Sonea bemerkte, lächelte er. Ihr fiel auf, dass Takan sie eingehend musterte, und sie fragte sich, worüber die beiden Männer vor ihrer Ankunft gesprochen haben mochten.

»Ceryni«, sagte Akkarin. »Einmal mehr hast du uns großzügig bewirtet.« Er hob sein Glas. »Nichts Geringeres als anurischer Rotwein.«

Cery zuckte die Achseln. »Für die Verteidiger der Stadt werden keine Kosten gescheut.«

Sonea setzte sich und begann zu essen. Obwohl sie Hunger hatte, lag ihr jeder Bissen wie ein Stein im Magen, und als sie begannen, Pläne für den morgigen Tag zu schmieden, verlor sie gänzlich den Appetit. Sie hatten noch nicht lange geredet, als Akkarin innehielt und sie forschend ansah.

»Man kann deine Kraft spüren«, sagte er leise. »Ich muss dir beibringen, wie du sie verbergen kannst.«

Akkarin streckte die Hand aus. Als Soneas Finger sich um seine schlossen, nahm sie seine Anwesenheit am Rande ihres Bewusstseins wahr. Sie schloss die Augen.

Das ist es, was ich spüren kann.

Sofort nahm sie die Kraft wahr, die wie ein leuchtender Nebel von ihm ausging.

Ich sehe es.

Du lässt deine Energie durch die Barriere sickern, die deine natürliche Aura umgibt. Du musst diese Barriere stärken. So.

Das Leuchten verblasste, bis nichts mehr davon übrig war. Sonea konzentrierte sich auf ihren eigenen Körper und nahm ihren Vorrat an Energie wahr. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, darüber nachzudenken, wie viel Kraft sie von den Hüttenleuten bezogen hatte. Sie hatte zwar versucht, die Freiwilligen zu zählen, hatte jedoch nach dem dreißigsten den Überblick verloren.

Jetzt konnte sie nur staunen über die immense Energie, die in ihrem Körper lagerte, bewahrt durch die Barriere ihrer Haut. Aber diese Barriere war nur stark genug, um ihre ureigene Kraft abzuschirmen. Sie musste ein wenig von der zusätzlichen Magie benutzen, um die Barriere zu stärken. Langsam sandte sie ein stetiges Rinnsal an Kraft aus.

So ist es richtig.

Anstatt sich jedoch zurückzuziehen, blieb Akkarin in ihrem Bewusstsein.

Sieh mich an.

Sie öffnete die Augen. Ein Schaudern überlief sie, als ihr klar wurde, dass sie ihn gleichzeitig sehen und spüren konnte. Er zeigte denselben nachdenklichen Gesichtsausdruck, wie sie ihn immer bei ihm wahrnahm, wenn er sie heimlich beobachtete… Und jetzt wusste sie mit endgültiger Sicherheit, woran er bei diesen Gelegenheiten gedacht hatte. Röte schoss ihr in die Wangen, und Akkarins Mundwinkel zuckten.

Dann verblasste sein Bewusstsein in ihren Gedanken, und er ließ ihre Hand los. Als er sich abwandte, regte sich ein Gefühl der Enttäuschung in ihr.

»Wir sollten Blutsteine füreinander machen. Es wird in den nächsten Tagen Situationen geben, in denen wir miteinander reden müssen, ohne dass uns jemand belauschen kann.«

Blutsteine. Soneas Enttäuschung verebbte, und Interesse flammte in ihr auf.

»Wir brauchen etwas Glas.« Er wandte sich an Takan. Der Diener stand auf, ging in die Küche und kam kurz darauf kopfschüttelnd zurück.

»Es ist nichts da…«

Akkarin griff nach einem Weinglas und sah Cery fragend an. »Hast du etwas dagegen, wenn ich das hier zerbreche?«

Cery zuckte die Achseln. »Nein. Tut Euch keinen Zwang an.«

Akkarin schlug mit dem Glas gegen die Tischkante, und es zersprang. Er wählte einen Splitter aus und gab ihn Sonea, bevor er nach einem zweiten Splitter griff. Cery beobachtete das Geschehen mit offenkundiger Neugier.

Gemeinsam ließen Sonea und Akkarin das Glas zu winzigen Kugeln schmelzen. Dann nahm Akkarin einen weiteren Splitter und ritzte sich die Haut auf der Innenfläche seiner Hand auf. Sonea tat das Gleiche. Akkarin griff abermals nach ihrer Hand, und sie spürte, wie sein Geist den ihren berührte. Er erklärte ihr, wie sie das Blut und ihre Magie benutzen konnte, um das Glas zu erhitzen, und sie folgte seinen Anweisungen.

Als die Blutsteine abgekühlt waren, legte Takan ein kleines Stück Gold auf den Tisch. Es erhob sich, schwebte einen Moment lang vor Akkarins Gesicht und nahm langsam die Form von zwei Ringen an. Als Akkarin seinen Blutstein in die Fassung eines Ringes senkte, tat Sonea das Gleiche mit dem anderen Ring. Ihr fiel auf, dass der Stein aus der Innenseite des Rings herausragte, so dass er die Haut des Trägers berührte. Die goldenen Krampen der Fassungen schlossen sich um die Steine. Akkarin pflückte die beiden Ringe aus der Luft, dann wandte er sich mit ernster Miene zu Sonea um.

»Mit diesen Ringen werden wir in der Lage sein, in die Gedanken des anderen zu blicken. Das hat gewisse… Nachteile. Manchmal kann es recht unangenehm sein, genau zu wissen, wie ein anderer Mensch dich sieht. So etwas kann Freundschaften beenden, aus Liebe Groll machen und die Selbstachtung untergraben.« Er hielt inne. »Aber es kann auch das gegenseitige Verständis zweier Menschen vertiefen. Wir sollten diese Ringe nicht häufiger tragen, als es unbedingt sein muss.«

Sonea nahm seinen Ring entgegen und bedachte seine Worte. Der Ring konnte Liebe in Groll verwandeln? Aber Akkarin hatte nie ausgesprochen, dass er sie liebte. Sie dachte an Jonnas Worte.

Das war auch nicht notwendig, sagte sie sich. Hier und da ein flüchtiger Blick auf seine Gedanken war vollkommen genug.

Oder vielleicht nicht?

Sie betrachtete den Ring und stellte fest, dass sie zwischen zwei Möglichkeiten hin und her gerissen war: Entweder Akkarin liebte sie und hatte Angst, dass die Ringe alles verderben würden, oder er liebte sie nicht und befürchtete, die Ringe könnten die Wahrheit enthüllen.

Aber als er vor wenigen Minuten in ihrem Bewusstsein verweilt war, war sie davon überzeugt gewesen, dass sie mehr bei ihm gespürt hatte als bloßes Verlangen.

Sie legte den Ring auf den Tisch. Morgen würden sie ihn benötigen. Morgen würden sie erfahren, wie hoch der Preis dafür war. Fürs Erste wollte sie nicht mehr wissen als das, was sie vorhin in seinen Gedanken gelesen hatte.

Cery stand plötzlich auf. »Ich würde ja gern bleiben, aber ich muss mich noch um einige andere Dinge kümmern.« Er hielt inne, dann deutete er auf den Sack, den er auf einen Stuhl gestellt hatte. »Ich habe euch noch einige Kleider mitgebracht. Sie sind vielleicht geeigneter als das, was ihr im Moment tragt.«

Akkarin nickte. »Danke.«

»Gute Nacht.«

Als Cery gegangen war, erhob sich auch Takan. »Es ist schon spät«, bemerkte er. »Wenn Ihr mich nicht mehr braucht…?«

Akkarin schüttelte den Kopf. »Nein. Sieh zu, dass du etwas Schlaf bekommst, Takan.« Er blickte zu Sonea hinüber. »Und wir brauchen ebenfalls ein wenig Ruhe.«

Er stand auf und ging ins Schlafzimmer. Sonea machte Anstalten, ihm zu folgen, dann hielt sie jedoch noch einmal inne, um die Kleider mitzunehmen, die Cery ihnen gebracht hatte.

Als sie den Sack auf das Bett warf, musterte Akkarin ihn zweifelnd. »Welche Verkleidung hat sich Cery denn nun für uns ausgedacht?«

Sonea öffnete den Sack und stülpte ihn um. Eine Kaskade schwarzen Tuchs ergoss dich daraus. Sie warf Akkarin einen kurzen Blick zu, dann breitete sie die Kleidungsstücke auf dem Bett aus.

Es waren Roben. Magier-Roben.

Akkarin starrte sie mit grimmiger Miene an.

»Die dürfen wir nicht anziehen«, sagte er leise. »Wir sind keine Gildemagier mehr. Das wäre ein Verbrechen.«

»Dann wird die Gilde morgen zu viel damit zu tun haben, Kyralier zu verhaften, um gegen die Ichani kämpfen zu können«, sagte sie. »Es wird Hunderte von Nichtmagiern in den Straßen geben, die Roben tragen und versuchen, die Sachakaner voneinander zu trennen.«

»Das hier ist etwas… etwas anderes. Wir sind Ausgestoßene. Und diese Roben sind schwarz. Niemand wird uns für gewöhnliche Magier halten.«

Sonea betrachtete den noch immer halb vollen Sack. Sie griff hinein und zog zwei Hosen und zwei Hemden heraus. Beide waren großzügig geschnitten.

»Seltsam. Warum hat er uns zwei verschiedene Ausstattungen gegeben?«

»Um uns eine Alternative anzubieten.«

»Oder wir sollen die Roben unter den anderen Sachen tragen.«

Akkarins Augen wurden schmal. »Und die äußeren Gewänder zu einem bestimmten Zeitpunkt abstreifen?«

»Vielleicht. Du musst zugeben, dass es eine beeindruckende Vorstellung wäre. Zwei schwarze Magier…«

Sie atmete tief durch und blickte auf das Bett hinunter, dann verspürte sie eine seltsame Erregung, als ihr klar wurde, dass sie zwei Roben in voller Länge vor sich hatte – die Roben eines fertig ausgebildeten Magiers.

»Das kann ich nicht anziehen!«, protestierte sie.

Akkarin kicherte leise. »Jetzt, da du mir zustimmst, stelle ich fest, dass ich meine Meinung geändert habe. Vielleicht ist dein Freund tatsächlich so raffiniert, wie ich es langsam vermute.« Er strich mit der Hand über den Stoff. »Wir werden uns erst in diesen Gewändern zeigen, wenn unsere Identität ohnehin offenbar geworden ist. Aber sobald das geschehen ist, könnte es für die Sachakaner so aussehen, als hätte die Gilde uns akzeptiert. Das wird sie zumindest ins Grübeln bringen.«

»Und die Gilde?«

Er runzelte die Stirn. »Wenn sie wirklich wollen, dass wir zurückkehren, werden sie alles akzeptieren müssen, was wir sind«, murmelte er. »Schließlich können wir nicht einfach vergessen, was wir gelernt haben.«

Sie senkte den Blick. »Also sind das hier schwarze Roben für schwarze Magier.«

»Ja.«

Sie runzelte die Stirn. Der Gedanke, vor Rothen in schwarzen Roben zu erscheinen… Dann durchzuckte sie ein scharfer Stich der Trauer. Aber Rothen ist tot.

Sie seufzte. »Mir gefiele es besser, wenn sie schwarze Magie als höhere Magie bezeichnen würden, aber wenn die Gilde uns jemals akzeptieren sollte, wird sie uns wohl kaum höhere Magier nennen. Dieser Ausdruck ist bereits vergeben.«

Akkarin nickte. »Außerdem sollte man schwarzen Magiern keinen Grund geben zu glauben, sie stünden höher als andere.«

Sonea sah ihn forschend an. »Glaubst du, dass sie uns akzeptieren werden?«

Akkarin zog die Brauen zusammen. »Falls die Gilde überlebt, wird sie nie mehr so sein wie früher.« Er griff nach einer der Roben und hängte sie über die Rückenlehne eines Stuhls. »Jetzt sollten wir erst einmal schlafen. Vielleicht werden wir eine ganze Weile keine Gelegenheit mehr dazu finden.«

Während er begann, seine Kleider abzustreifen, setzte Sonea sich auf die Bettkante und dachte über seine Worte nach. Die Gilde hatte sich bereits verändert. So viele Magier waren tot… Einmal mehr schnürte ihr der Gedanke an Rothen die Kehle zu.

»Ich habe noch nie jemanden im Sitzen schlafen sehen«, bemerkte Akkarin.

Sonea drehte sich um und beobachtete, wie Akkarin unter die Decken schlüpfte. Plötzlich verspürte sie eine seltsame Mischung aus Erregung und Schüchternheit. Seit sie am Morgen neben ihm in einem Bett erwacht war, hatte sich etwas verändert. Es war eindeutig bequemer als Stein, ging es ihr durch den Kopf, aber es fühlte sich so eigenartig an, ein Bett miteinander zu teilen…

Sie legte den Sack mit den übrigen Kleidern beiseite, dann zog sie sich aus und schlüpfte ins Bett. Akkarin hatte die Augen geschlossen, und sein Atem folgte dem tiefen, gleichmäßigen Rhythmus des Schlafs. Sonea lächelte und beugte sich vor, um die Lampe zu löschen.

Trotz der Dunkelheit und des langen Tages, den sie hinter sich hatte, blieb sie wach. Schließlich schuf sie eine winzige, schwache Lichtkugel und drehte sich auf die Seite, um Akkarin zu betrachten, vollauf zufrieden damit, nichts mehr zu tun, als die Einzelheiten und Umrisse seines Gesichts zu studieren.

Dann öffnete er die Lider und sah in ihre Augen. Eine kleine Falte erschien auf seiner Stirn. »Du solltest eigentlich schlafen«, murmelte er.

»Ich kann nicht schlafen«, erwiderte sie.

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Wann habe ich das schon einmal gehört?«


Als Cery in sein Quartier zurückkam, sog er tief die Luft ein. Ein warmer, würziger Duft hing im Raum. Lächelnd folgte er dem Duft ins Badezimmer, wo er Savara im Badezuber fand.

»Du badest schon wieder?«, fragte er.

Sie lächelte hinterhältig. »Hast du Lust, zu mir zu kommen?«

»Ich glaube, ich werde fürs Erste in sicherer Entfernung bleiben.«

Ihr Lächeln vertiefte sich. »Dann erzähl mir wenigstens, was ich verpasst habe.«

»Ich hole mir nur schnell einen Stuhl.«

Er kehrte in den Empfangsraum zurück, blieb in der Mitte stehen und atmete mehrmals tief durch.

Einmal mehr verspürte er das starke Verlangen, ihr alles zu offenbaren. Er hatte einen Handel mit ihr geschlossen: Als Gegenleistung dafür, dass sie ihm Vorschläge machte, wie man die Ichani töten konnte, würde er sie mit Informationen versorgen. Ein Teil von ihm war sich ganz sicher, dass er ihr vertrauen konnte, aber ein anderer Teil flüsterte ihm leise Warnungen zu.

Wie viel wusste er denn wirklich über sie? Sie war Sachakanerin. Sie hatte ihre Landsleute für ihn aufgespürt und identifiziert, wohlwissend, dass sie getötet werden würden. Das bedeutete allerdings nicht, dass ihr tatsächlich Kyralias Interessen am Herzen lagen. Sie hatte ihm erzählt, dass sie für eine andere »Gruppe« der sachakanischen Gesellschaft arbeite, und es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass ihre Loyalität ihrem eigenen Volk galt.

Er hatte ein Abkommen mit ihr getroffen, und bisher hatte sie ihren Teil des Handels eingehalten…

Aber er konnte ihr nicht erzählen, dass Akkarin und Sonea zurückgekehrt waren. Sollte etwas von ihrer Anwesenheit in Imardin und ihren Plänen bekannt werden, würden die Ichani den Sieg davontragen. Wenn er Savara vertraute und sie ihn verriet, würde Kyralias Niedergang auf seinen Schultern lasten.

Und Sonea würde vielleicht getötet werden. Er hatte leichte Gewissensbisse, wenn er daran dachte, dass er der neuen Frau in seinem Leben um der alten willen Informationen vorenthielt. Aber wenn ich das Leben der alten aufs Spiel setzen würde, weil ich der neuen zu Unrecht vertraue, überlegte er weiter, würde ich mich erheblich schlechter fühlen als jetzt.

Trotzdem würde Savara es zu guter Letzt herausfinden. Eine seltsame, unbekannte Furcht ließ Cerys Herz schneller schlagen, als er darüber nachdachte, wie sie darauf reagieren könnte.

Sie wird es verstehen, sagte er sich. Was für ein Dieb wäre ich, wenn ich so einfach Geheimnisse verraten würde, die man mir anvertraut? Und es ist unwahrscheinlich, dass sie lange hier bleiben wird. Sobald alles vorüber ist, wird sie mich ohnehin verlassen.

Er holte noch einmal tief Luft, dann griff er nach einem Stuhl und trug ihn ins Bad. Savara verschränkte die Arme auf dem Rand der Wanne und stützte das Kinn auf die Hände.

»Also, was haben die Diebe beschlossen?«

»Unsere Ideen haben ihnen gefallen«, antwortete er. »Limek lässt seine Leute Roben schneidern.«

Sie grinste. »Ich hoffe, diese Leute können schnell laufen.«

»Sie werden die Straße der Diebe benutzen, um sich in Sicherheit zu bringen. Außerdem haben wir einige Leute beauftragt, nach guten Stellen Ausschau zu halten, an denen wir Fallen für die Ichani aufbauen können.«

Savara nickte. »Die Gilde hat heute einen Gedankenruf nach Akkarin ausgesandt.«

Er heuchelte Überraschung. »Was hat er gesagt?«

»Er hat nicht geantwortet.«

Cery runzelt die Stirn. »Du glaubst doch nicht, dass er…?«

»Dass er tot ist?« Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht. Oder vielleicht ist es einfach zu gefährlich zu antworten. Er könnte die falschen Leute auf sich aufmerksam machen.«

Cery nickte und stellte dabei fest, dass es ihm nur allzu leicht fiel, einen besorgten Gesichtsausdruck aufzusetzen. Savara nahm die Arme vom Rand des Badezubers und winkte ihn zu sich.

»Komm her, Cery«, murmelte sie. »Du lässt mich den ganzen Tag über hier allein. Meinst du nicht, dass einem das auf die Dauer zu langweilig werden könnte?«

Er erhob sich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Den ganzen Tag? Ich habe gehört, dass du heute heimlich auf dem Markt warst.«

Sie kicherte. »Ich dachte mir schon, dass du das hören würdest. Ich wollte etwas abholen, was ein Goldschmied für mich gefertigt hat. Sieh mal.«

Auf dem Rand des Badezubers stand eine kleine Schachtel. Savara griff danach und hielt sie ihm hin.

»Ein Geschenk für dich«, sagte sie. »Besetzt mit einigen Juwelen von meinen Messern.«

Cery nahm den Deckel der Schachtel ab, und als er den seltsamen Silberanhänger darin erblickte, stockte ihm der Atem. Kunstvolle, geäderte Flügel sprossen aus einem länglichen Körper. Zwei gelbe Juwelensplitter bildeten die Augen des Insekts, und der geschwungene Schwanz war mit grünen Steinen besetzt. Der Unterleib bestand aus einem großen, glatten Rubin.

»In meinem Land hält man es für ein glückliches Omen, wenn kurz vor einer Schlacht eine Inava auf einem Menschen landet«, erklärte sie ihm. »Außerdem ist die Inava eine Botin getrennter Liebender. Mir ist aufgefallen, dass kyralische Männer keinen Schmuck tragen, aber du könntest den Anhänger unter deinen Kleidern verbergen.« Sie lächelte. »Direkt auf der Haut.«

Ein jähes Schuldgefühl stieg in ihm auf. Er nahm den Anhänger aus der Schachtel und legte sich die Kette um den Hals.

»Sie ist wunderschön«, sagte er. »Ich danke dir.«

Savara wandte für einen Moment den Blick ab, als sei ihr die Sentimentalität ihres Geschenks plötzlich peinlich. Dann lächelte sie verschlagen.

»Wie wäre es, wenn du jetzt zu mir kämest und mir richtig danken würdest?«

Cery lachte. »In Ordnung. Wie könnte ich dazu nein sagen?«

33 Die Ankunft der Ichani

Die Morgensonne schob sich langsam über den Horizont, als widerstrebe es ihr, sich dem kommenden Tag zu stellen. Die ersten Lichtstrahlen berührten die Türme des Palasts und tauchten sie in ein leuchtendes Orangegelb. Nach und nach breitete sich das goldene Licht vom Rand der Stadt über die Äußere Mauer aus, bis es die Gesichter der Magier erreichte, die auf der Mauer standen.

Sie hatten die Gilde verlassen, gleich nachdem die Späher ihnen berichtet hatten, dass die Sachakaner näher rückten. Nachdem sie auf die Äußere Mauer gestiegen waren, hatten sie sich zu einer langen Reihe formiert. Der Anblick Hunderter Magier, die Seite an Seite standen, war ehrfurchtgebietend – und bot einen krassen Gegensatz zu den beiden überladenen Karren, die langsam der Stadt entgegenschwankten. Lorlen musste sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass die Menschen auf diesen Wagen bereits mehr als vierzig der besten Krieger der Gilde getötet hatten und um ein Vielfaches stärker waren als die Magier auf der Mauer.

Die Ichani hatten einen Ersatz für die Wagen gefunden, die Rothen und Yikmo zerstört hatten, aber dadurch hatte sich ihre Ankunft in Imardin um einen halben Tag verzögert. Das Opfer der Krieger hatte der Gilde jedoch nichts genutzt. Sarrins Versuche, schwarze Magie zu erlernen, waren gescheitert. Der alte Magier hatte erklärt, dass er die Beschreibungen und Anweisungen in den Büchern über schwarze Magie nicht völlig verstehen könne. Mit jedem Tag, der verstrich, war er nervöser geworden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Yikmo und seine Männer umsonst gestorben waren, lastete schwer auf Sarrins Gewissen.

Lorlen schaute zu dem Alchemisten hinüber, der einige Schritte entfernt stand. Sarrin sah müde und abgehärmt aus, blickte dem näher rückenden Feind jedoch mit grimmiger Entschlossenheit entgegen. Balkan, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte, brachte es irgendwie fertig, zuversichtlich und gelassen zu wirken. Lady Vinara schien ebenso ruhig und entschlossen.

Lorlen wandte sich wieder den Wagen mit den Ichani zu. Die Späher hatten in der vergangenen Nacht berichtet, wo der Feind stand. Die Sachakaner waren nur wenige Reisestunden von der Stadt entfernt in ein verlassenes Bauernhaus eingebrochen. Es hatte den Anschein, als wollten sie erst am nächsten Tag angreifen, und der König war sehr erfreut gewesen, das zu hören. Er hoffte noch immer, dass Sarrin Erfolg haben würde.

Einer der Ratgeber des Königs hatte darauf hingewiesen, dass die Ichani sich nur dann Ruhe gönnen würden, wenn es unerlässlich war. Lorlen hatte den Mann erkannt; es war Raven, der Spion, der Rothen während der ersten Tage seiner Reise begleitet hatte.

»Wenn sie schlafen wollen, sollten wir es verhindern«, hatte Raven gesagt. »Ihr braucht keine Magier auszuschicken. Gewöhnliche Menschen mögen in einer magischen Auseinandersetzung nicht von Nutzen sein, aber unterschätzt unsere Fähigkeit nicht, andere zu plagen.«

Also hatte sich eine Hand voll Wachen in die Nacht aufgemacht, um Schwärme von Saftfliegen in das Bauernhaus zu werfen, die Sachakaner mit lautem Lärmen zu wecken und am Ende das Gebäude in Brand zu setzen. Letzteres geschah mit besonderer Genugtuung, da die Ichani zuvor einen der Wachmänner gefangen hatten. Was sie ihm angetan hatten, ließ nichts Gutes ahnen für die Bürger, die sich noch in Imardin aufhielten.

Lorlen blickte über die Schulter und betrachtete die Stadt. Die Straßen lagen still und verlassen da. Die meisten Mitglieder der Häuser waren nach Elyne gesegelt und hatten ihre Familien und Diener mitgenommen. Während der vergangenen zwei Tage hatte sich ein Strom von Wagen zum Südtor hinaus ergossen, als der Rest der Bevölkerung in die benachbarten Dörfer geflüchtet war. Die Wachen hatten, so gut sie es vermochten, für Ordnung gesorgt, aber sie verfügten nicht über genug Männer, um den Plünderungen zur Gänze Einhalt gebieten zu können. Sobald die Sonne am vergangenen Abend untergegangen war, hatte man die Tore geschlossen und die Befestigungen errichtet.

Natürlich könnten die Ichani die Tore ignorieren. Sie könnten direkt auf die Lücke zuhalten, wo die Äußere Mauer früher einmal das Grundstück der Gilde umgeben hatte.

Die Magier der Gilde konnten nichts tun, um das zu verhindern. Sie wussten bereits, dass sie diese Schlacht verlieren würden. Sie konnten nur hoffen, ein oder zwei Ichani zu töten.

Trotzdem graute Lorlen vor dem Gedanken, dass die prächtigen alten Bauten zerstört werden würden. Lord Jullen hatte die kostbarsten Bücher und Unterlagen zusammengepackt und wegbringen lassen und die übrigen in einem Raum unter der Universität eingeschlossen. Die Patienten, die sich in den Heilerquartieren aufgehalten hatten, waren ebenso aus der Stadt fortgeschickt worden wie Dienstboten und Familienangehörige.

Ähnliche Vorkehrungen waren im Palast getroffen worden. Lorlen schaute zu den Türmen hinüber, die jenseits der Inneren Mauer gerade noch zu erkennen waren. Die Stadtmauern waren erbaut worden, um die zentralen Gebäude zu schützen. Im Laufe der Jahrhunderte hatten die kyralischen Könige den Palast je nach Laune und Geschmack umgebaut, aber die Mauer darum herum war unversehrt geblieben. Und dahinter warteten die besten Männer der Wache, bereit zu kämpfen, falls die Gilde besiegt wurde.

»Sie haben die Hüttenviertel erreicht«, murmelte Osen.

Lorlen wandte sich wieder nach Norden und blickte zu den Hüttenvierteln hinüber. Das Labyrinth ungeplanter Straßen breitete sich vor ihm aus. Und alle waren verlassen. Er fragte sich, wo die Hüttenleute hingegangen waren. Weit fort, hoffte er.

Die Wagen der Ichani hatten jetzt die ersten Häuser erreicht und hielten an. Sechs Männer und eine Frau stiegen aus und gingen auf die nördlichen Tore zu. Die Sklaven zogen die Karren in die Hüttenviertel weiter.

Ein Ichani ist mit ihnen gegangen, stellte Lorlen fest. Einer weniger, der gegen uns kämpfen kann. Nicht dass das einen großen Unterschied machen würde.

»Der König ist da«, murmelte Osen.

Lorlen drehte sich zu dem näher kommenden Monarchen um. Die Magier knieten vor ihm nieder, dann erhoben sie sich hastig wieder. Lorlen folgte ihrem Beispiel.

»Administrator.«

»Euer Majestät«, erwiderte Lorlen.

Der König blickte zu den Sachakanern hinunter.

»Habt Ihr noch einmal versucht, Verbindung mit Akkarin aufzunehmen?«

Lorlen nickte. »Stündlich, seit Ihr es angeordnet habt.«

»Keine Antwort?«

»Nichts.«

Der König nickte. »Dann werden wir ihnen allein gegenübertreten. Lasst uns hoffen, dass er sich geirrt hat, was ihre Stärke angeht.«


Sonea hatte die Nordtore noch nie geschlossen gesehen. Die riesigen Metallplatten waren stets voller Rostflecken gewesen, und Schmutz hatte die Verzierungen verdeckt. Jetzt waren sie sauber und glänzten schwarz – zweifellos instand gesetzt aus Trotz und Stolz.

Auf der Mauer stand eine Reihe von Magiern. Braune Roben mischten sich unter die roten, grünen und purpurnen. Mitgefühl mit ihren ehemaligen Klassenkameraden stieg in ihr auf. Sie mussten furchtbare Angst haben.

Dann kamen auf der Straße unter ihr die Ichani in Sicht. Soneas Herz schlug schneller, und sie hörte, wie Akkarin leise nach Luft schnappte. Sie waren nur etwa hundert Schritte entfernt, und diesmal sah sie sie nicht durch die Augen eines anderen Magiers.

Sie, Akkarin, Cery und Takan beobachteten das Geschehen aus einem Haus an der Nordstraße. Cery hatte sie dort hingeführt, weil es in dem Gebäude ein kleines Turmzimmer über dem zweiten Stockwerk gab, von dem aus man den besten Blick auf das Gebiet vor den Toren hatte.

»Der Mann an der Spitze ist Kariko«, murmelte Akkarin.

Sonea nickte. »Und die Frau muss Avala sein. Was ist mit den übrigen?«

»Erinnerst du dich an den Spion, dessen Gedanken du gelesen hast? Der hochgewachsene Mann dort drüben ist Harikava, sein Herr. Die beiden am anderen Ende der Reihe sind Inijaka und Sarika. Ich habe sie in den Gedanken der Spione gesehen, die ich getötet habe. Die beiden anderen, Rikacha und Rashi, sind alte Verbündete von Kariko.«

»Es sind nur sieben«, sagte sie. »Einer fehlt.«

Akkarin runzelte die Stirn. »Ja.«

Die Ichani gingen einige Schritte am Haus vorbei, dann blieben sie stehen. Sie blickten zu der Reihe in Roben gewandeter Gestalten empor, die auf der Äußeren Mauer standen.

Die Stimme, die jetzt zu ihnen herunterwehte, erkannte Sonea nicht.

»Bleibt stehen, Sachakaner. Ihr seid nicht willkommen in meinem Land.«

Sonea sah, dass ein kostbar gewandeter Mann neben Administrator Lorlen stand.

»Ist das… der König?«

»Ja.«

Eine widerstrebende Bewunderung für den Monarchen stieg in ihr auf. Er war in der Stadt geblieben, obwohl er zusammen mit den Häusern hätte fliehen können.

Kariko breitete die Hände aus. »Behandelt man in Kyralia so einen Gast? Oder einen müden Reisenden?«

»Ein Gast tötet nicht die Familie und die Diener seines Gastgebers.«

Kariko lachte. »Nein. Willkommen oder nicht, ich bin in Eurem Land. Und ich will Eure Stadt. Öffnet Eure Tore, und ich werde Euch gestatten, weiterzuleben und mir zu dienen.«

»Wir würden lieber sterben, als Euresgleichen zu dienen.«

Soneas Herz tat einen Satz, als sie Lorlens Stimme erkannte.

»War das einer von denen, die sich ›Magier‹ nennen?« Kariko lachte. »Es tut mir leid. Das Angebot galt nicht Euch oder Eurer Gilde. Ich halte mir keine Magier. Der Tod ist die einzige Möglichkeit, mit der Eure jämmerliche Gilde mir dienen kann.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Öffnet Eure Tore, König Merin.«

»Öffnet sie selbst«, entgegnete der König. »Und dann werden wir ja sehen, ob meine Gilde so jämmerlich ist, wie Ihr sagt.«

Kariko wandte sich zu seinen Verbündeten um. »Nun, das ist wohl alles, was wir an Gastfreundschaft erwarten dürfen. Lasst uns die Schale aufbrechen und uns an dem Ei gütlich tun.«

Mit lässigen Bewegungen formierten die Ichani sich zu einer Reihe. Weiße Lichtblitze zuckten zu den Toren hinüber und trafen sie an den Seiten und in der Mitte. Sonea hörte Cery leise aufkeuchen, als das Metall zu glühen begann. Hunderte von Zaubern prasselten auf die Gestalten unter ihnen nieder. Und alle prallten an den Schilden der Ichani ab.

»Erkenne ihre Schwäche, Lorlen!«, zischte Akkarin. »Ihr müsst Euch auf einen Einzelnen konzentrieren!«

Als ein berstendes Geräusch den Raum erfüllte, zuckte Sonea zusammen. Akkarins Hand hatte auf der Papierblende neben dem Fenster gelegen. Jetzt zog er hastig die Finger von dem zerrissenen Papier weg und umklammerte stattdessen das Fenstersims.

»So ist es richtig!«, sagte er.

Als Sonea wieder hinausblickte, stellte sie fest, dass die Zauber jetzt allesamt auf einen einzigen Ichani gerichtet waren. Sie hielt den Atem an, denn sie erwartete, dass die Sachakaner ihre Schilde zusammenfügen würden, aber genau das taten sie nicht.

»Dieser Mann.« Akkarin deutete mit dem Finger auf den Ichani, der angegriffen wurde. »Er wird unser erstes Opfer sein.«

»Falls er die Gruppe verlässt«, fügte Cery hinzu.

Kariko wandte sich zu seinem Verbündeten um, dessen Kräfte langsam schwanden, dann blickte er wieder zur Mauer empor. Ein Lichtblitz schnellte von ihm zu den Gestalten über dem Tor hinauf, wurde jedoch von dem gemeinsamen Schild der Gilde abgewehrt.

Dann ergoss sich eine weiße Wolke aus den Toren. In dem Metall hatte sich ein glühendes Loch gebildet, und von hinten kamen weitere Wolken nach.

»Auf der anderen Seite müssen einige Häuser Feuer gefangen haben«, bemerkte Cery düster.

Akkarin schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Das ist Dampf, kein Rauch. Die Wache gießt Wasser auf die hölzernen Befestigungen, damit sie nicht brennen.«

Es schien ein lächerlich schwacher Versuch zu sein, die Ichani aufzuhalten, und doch verbrauchte jedes Hindernis, das die Sachakaner überwinden mussten, ein wenig von ihrer Kraft. Sonea blickte abermals zu der Mauer hinauf. Der König und die Magier über dem Tor eilten zu beiden Seiten davon, fort von den wogenden Dampfwolken.

Dann bewegte sich eines der Tore. Als es nach vorn sackte, murmelte Cery einen Fluch. Es krachte mehrmals, bevor das Tor aus den Angeln brach und zu Boden fiel. Dahinter füllte ein Gerüst aus Holz und Eisen die Lücke. Während die Wachen hastig von dem Gerüst kletterten, fiel bereits das zweite Tor.

Kariko wandte sich zu seinen Gefährten um.

»Sie glauben, sie können uns damit aufhalten?« Er lachte und drehte sich wieder um, um die Befestigungen anzustarren.

Die Luft kräuselte sich, dann knickte das Gerüst nach innen ein, als sei es von einer riesigen, unsichtbaren Faust getroffen worden. Das Knarren von berstendem Holz und gequältem Metall drang durch die Lücke in der Mauer, dann brachen die Befestigungen zusammen.

Sonea hob den Kopf und sah, dass die Magier auf der Mauer beinahe alle verschwunden waren. Die Ichani marschierten in die Stadt ein. Aus den Häusern zu beiden Seiten der Straße wurden Zauber auf sie hinabgeschleudert, aber die Sachakaner ignorierten sie. Sie marschierten weiter auf die Innere Mauer zu.

Akkarin trat von dem Fenster weg und drehte sich zu Cery um.

»Wir müssen in die Stadt, schnell«, sagte er.

Cery lächelte. »Kein Problem. Ihr braucht mir lediglich zu folgen.«


Es dauerte nicht lange, bis Farand nach Luft rang. Dannyl hielt den jungen Mann am Arm fest und verlangsamte das Tempo zu einem schnellen Gehen. Der junge Mann drehte sich um, und Furcht stand in seinen Zügen.

»Sie werden uns nicht folgen«, versicherte ihm Dannyl. »Ich glaube, sie wollen zum Inneren Ring.«

Farand nickte. Der junge Magier war neben Dannyl auf der Mauer erschienen, vielleicht auf der Suche nach dem Trost eines vertrauten Gesichts. Die Magier vor ihnen entfernten sich immer weiter, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen waren.

»Werden wir… rechtzeitig… dort sein?«, keuchte Farand, als sie schließlich das Westviertel erreicht hatten.

»Ich hoffe es«, antwortete Dannyl. Inzwischen hatten die ersten Magier die Innere Mauer erreicht und eilten bereits über die Brustwehr. Er sah Farand an, der zwar immer noch bleich war, sich jedoch tapfer weitermühte. »Aber sicher ist das nicht.«

Er bog in die nächste Straße ein. Die Mauer war jetzt direkt vor ihnen. Als sie sie erreichten, legte Dannyl die Hände auf Farands Schultern. Er schuf eine Energiescheibe unter ihren Füßen und ließ sie, so schnell er es wagte, aufwärts schweben. Bei dem plötzlichen Aufstieg krampfte sich sein Magen beunruhigend zusammen.

»Ich dachte, wir sollten keine Magie benutzen, außer im Kampf«, stieß Farand hervor.

Oben auf der Mauer angekommen, setzte Dannyl sie wieder ab. »Du bist offenkundig noch zu schwach, um zu laufen«, sagte er. »Es ist besser, wir kommen rechtzeitig hier an, so dass ich deine Energie noch kanalisieren kann.«

Ein Magier kam auf sie zugeeilt, das Gesicht gerötet vor Anstrengung, und sie folgten ihm die Mauer entlang. Dannyl blickte auf den Inneren Ring hinab, und Angst regte sich in ihm. Tayend war dort unten. Obwohl das Haus, in dem der Gelehrte sich versteckte, auf der anderen Seite des Palastes lag, würde es ihm keinen Schutz bieten, wenn die Ichani erst durch die Stadt streiften.

Als sie die Reihe der Magier auf der Mauer erreicht hatten, sandte Dannyl seine Kraft aus, um den Schild der Gilde zu verstärken. Die Ichani standen vor den Toren und redeten miteinander.

»Warum haben sie noch nicht angegriffen?«, fragte Farand.

Dannyl betrachtete die Angreifer genauer. »Das weiß ich nicht. Es sind nur sechs. Einer fehlt.«

In diesem Moment kam die Sachakanerin aus einer Nebenstraße und schlenderte auf ihre Gefährten zu. Der Anführer verschränkte die Arme vor der Brust und ging ihr entgegen. Dannyl sah, dass sie die Lippen bewegten. Die Frau lächelte, aber als der Anführer sich abwandte, verzerrte sich das Lächeln zu einem höhnischen Grinsen.

»Sie ist rebellisch«, sagte Farand. »Das könnte später nützlich sein.«

Dannyl nickte, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Ichani, die jetzt angriffen. Zauber schossen durch die Luft, und er spürte eine Vibration unter den Füßen.

»Sie greifen die Mauer an«, erklärte ein Heiler in ihrer Nähe.

Die Vibration schwoll schnell zu einem Beben an. Die Magier, die den Toren am nächsten standen, hatten Mühe, das Gleichgewicht zu wahren. Einige waren in die Hocke gegangen. Als der Schild der Gilde zersplitterte, wurden einige Magier von der Mauer gerissen.

Angriff!

Es war Balkans Gedankenstimme. Dannyl richtete sich auf. Sein eigener Zauber mischte sich unter die vielen hundert anderen, die auf die Sachakaner hinunterprasselten. Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er spürte, wie Farands Kraft die seine verstärkte.

Das Beben und der Lärm brachen abrupt ab. Die Ichani zogen sich von den Toren zurück. Hoffnung wallte in Dannyl auf, obwohl er keine Ahnung hatte, wovor die Sachakaner zurückwichen.

Dann stürzten die Tore nach außen um und krachten zu Füßen der Ichani auf den Boden. Trümmer der zerstörten Mauer flogen durch die Luft. Kariko blickte zu den Magiern zu beiden Seiten der Bresche empor und lächelte mit offenkundiger Befriedigung.

Verlasst die Mauer, befahl Balkan.

Sofort liefen die Magier zu den hölzernen Treppen, die in der Innenseite der Mauer eingebaut waren. Dannyl und Farand stürzten ihnen nach.

»Was jetzt?«, keuchte Farand, als sie unten angekommen waren.

»Wir treffen uns mit Lord Vorel.«

»Und dann?«

»Ich weiß es nicht. Vorel wird wohl Anweisungen haben.«

Einige Straßen weiter stießen sie auf den Krieger, der mit mehreren anderen Magiern an dem vereinbarten Treffpunkt auf sie wartete. Alle waren bedrückt und still.

Formiert Euch neu.

Vorel nickte, als er Balkans Befehl hörte. Er wandte sich mit ernster, grimmiger Miene an seine Gefährten. »Das bedeutet, dass wir uns den Ichani nähern sollen, ohne dabei gesehen zu werden. Wenn der nächste Befehl kommt, sollen wir sofort angreifen und unsere Zauber auf einen einzigen Sachakaner konzentrieren. Los.«

Als Vorel davoneilte, folgten Dannyl, Farand und die anderen Magier ihm wortlos. Sie alle wissen, dass dies die letzte Konfrontation sein wird, dachte Dannyl. Wenn wir danach noch leben, werden wir die Stadt den Ichani überlassen.


Cery beobachtete, wie Sonea und Akkarin ihrem Führer in den dunklen Tunnel folgten. Dann holte er tief Luft und ging mit Takan in die entgegengesetzte Richtung.

Er hatte viel zu tun. Die anderen Diebe mussten wissen, dass Akkarin und Sonea es in den Inneren Ring geschafft hatten. Die falschen Magier konnten jetzt in die Straßen geschickt werden. Die Sklaven mussten gefunden und beseitigt werden. Und er… er brauchte etwas Starkes zu trinken.

Der Weg durch den Inneren Ring war schrecklich gewesen, selbst für jemanden, der mit den Tunneln der Straße der Diebe vertraut war. Die Decke unter der Mauer war eingestürzt, so dass man sich an manchen Stellen nur kriechend fortbewegen konnte. Sonea hatte ihm versichert, dass sie und Akkarin in der Lage wären, die Decke mit Magie zu stabilisieren, falls sie weiter einsackte, aber jedes Mal, wenn er die Lunge erneut mit staubiger Luft gefüllt hatte, hatte Cery sich nur allzu leicht vorstellen können, unter den Trümmern begraben zu werden.

Er erreichte einen Abschnitt des Tunnels, der parallel zu einer Gasse verlief. Gitter, die hoch oben in der Mauer eingelassen waren, gaben den Blick auf die Straße dahinter frei. Schnelle Schritte wurden laut, und Cery hielt kurz inne, um zu beobachten, wie ein Magier vorbeirannte. Der Mann kam schlitternd zum Stehen.

»Oh nein«, wimmerte er.

Cery trat dichter an eins der Gitter heran und sah, dass die Straße draußen eine Sackgasse war. Und der Magier war ein Novize – ein Junge noch. Seine Roben waren voller Staub.

Dann erklang aus geringer Entfernung eine Frauenstimme.

»Wo bist du? Wo bist du, kleiner Magier?«

Der Akzent der Frau hatte solche Ähnlichkeit mit dem Savaras, dass Cery einen Moment lang glaubte, sie sei es tatsächlich. Aber die Stimme war höher, und das Lachen, das nun folgte, war grausam.

Der Junge sah sich verzweifelt um, aber dies war der Innere Ring, und nirgendwo lagen Unrat oder Kisten herum, hinter denen man sich verstecken konnte. Cery lief durch den Tunnel zu dem Gitter, das dem Jungen am nächsten war, dann drückte er es auf.

»He, Magier!«, flüsterte er.

Der Junge zuckte zusammen, dann drehte er sich um und starrte Cery an.

»Komm her.« Cery winkte ihn zu sich heran. »Schnell.«

Der Junge blickte kurz in die Richtung, aus der die Stimme der Sachakanerin gekommen war, dann sprang er auf die Öffnung zu. Er fiel mit dem Kopf voran in den Tunnel, rollte sich auf die Seite und kam dann unbeholfen auf die Füße. Als die Frauenstimme abermals erklang, wich er, keuchend vor Angst, zurück.

»Wo bist du geblieben?«, rief die Frau, während sie weiter die Gasse hinunterging. »Dieser Weg führt nirgendwohin. Du musst dich in einem der Häuser verstecken. Das wollen wir uns doch mal ansehen.«

Sie probierte es an einigen Türen, dann sprengte sie eine davon auf. Als sie dahinter verschwand, drehte Cery sich mit einem Grinsen zu dem Novizen um.

»Du bist jetzt in Sicherheit«, sagte er. »Sie wird Stunden brauchen, um alle Häuser zu durchsuchen. Wahrscheinlich wird sie sich bald langweilen und nach leichterer Beute Ausschau halten.«

Der Junge hatte aufgehört zu keuchen und atmete jetzt langsam und bedächtig ein und aus. Dann richtete er sich auf und stieß sich von der Mauer ab.

»Danke«, sagte er. »Du hast mir das Leben gerettet.«

Cery zuckte die Achseln. »Kein Problem.«

»Wer bist du – und warum bist du hier? Ich dachte, man hätte alle Bewohner der Stadt fortgeschickt.«

»Ceryni ist mein Name«, antwortete Cery. »Ceryni von den Dieben.«

Der Junge blinzelte überrascht. Dann grinste er.

»Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen, Dieb. Ich bin Regin von Winar.«


Der Rhythmus des Pferdes beherrschte alles. Der Atem stob ihm im Takt mit dem Hämmern seiner Hufe aus den Nüstern. Der Schmerz in Rothens Schulter flammte bei jeder Bewegung des Tieres neu auf. Er konnte ihn mit ein wenig heilender Magie lindern, aber er wollte nicht mehr von seiner Kraft benutzen, als unbedingt notwendig war. Die Gilde brauchte jeden Funken Magie, um gegen die Ichani zu kämpfen. Er hatte seine Stärke nicht einmal eingesetzt, um die Müdigkeit zu verscheuchen, nachdem er die ganze Nacht hindurch geritten war.

Vor ihm leuchtete die Stadt wie ein glitzernder, auf einem Tisch ausgebreiteter Schatz. Jedes Gebäude erstrahlte im goldenen Licht des Morgens. Es würde höchstens eine Stunde dauern, bis er sie erreicht hatte.

Auf einem verkohlten Acker rauchte ein ausgebranntes Haus. Kleine Gruppen von Menschen, größtenteils Familien, liefen mit Taschen, Kisten und Körben die Straße entlang. Sie beobachteten ihn mit einer Mischung aus Hoffnung und Furcht auf den Gesichtern. Je näher er der Stadt kam, umso zahlreicher wurden diese Flüchtlinge, bis sie sich in einen wahren Strom aus Menschen verwandelten, der sich durch das Land wälzte.

Nichts von alledem ließ Gutes ahnen für das Schicksal der Gilde. Rothen fluchte leise. Die einzigen Gedankenrufe, die er aufgefangen hatte, waren Balkans Befehle gewesen. Er wagte es nicht, nach Dorrien oder Dannyl zu rufen.

Ein Bild blitzte vor seinen Augen auf. Er konnte eine Straße in der Stadt sehen, dann ein sachakanisches Gesicht. Kariko. Rothen blinzelte mehrmals, aber das Bild wollte nicht verblassen.

Ich habe mir so sehr gewünscht, zu wissen, was in Imardin vorgeht, dass ich Halluzinationen habe, dachte Rothen. Oder liegt das am Schlafmangel?

Er sandte ein wenig heilende Magie in seinen Körper, aber die Vision blieb. Ein Gefühl schrecklicher Angst schlug über Rothen zusammen, aber es war nicht seine eigene Angst. Grüne Roben blitzten in seinen Gedanken auf, und dann kam das Erkennen. Lord Sarle.

Sandte der Heiler dieses Bild aus? Es fühlte sich nicht so an, als geschehe es mit Absicht.

Kariko hielt ein Messer in der Hand. Er lächelte und beugte sich tiefer über Sarle.

»Schaut zu, Sklaventöter.«

Schmerz zuckte in Rothen auf, dann ein fernes, aber schreckliches Gefühl von Lähmung und Furcht. Langsam verebbte seine Wahrnehmung von Lord Sarles Bewusstsein zu nichts, und plötzlich war Rothen wieder frei.

Er keuchte auf und sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. Das Pferd war stehen geblieben. Männer und Frauen eilten an ihm vorbei und warfen ihm im Laufen ängstliche Blicke zu.

Der Blutstein! dachte Rothen. Kariko muss ihn Lord Sarle übergestreift haben. Schaudernd wurde ihm klar, dass er Sarles Tod gefühlt hatte. Er wird mir den Tod eines jeden Magiers zeigen, den er ermordet.

Und beim nächsten Mal könnte es Dorrien oder Dannyl sein.

Rothen drückte die Fersen in die Flanken des Pferdes und ließ es auf die Stadt zugaloppieren.

34 Die Jagd beginnt

Der Staub von der Zerstörung der Mauer lag noch immer wie ein Nebel über den Straßen der Stadt. Alles war trostlos und verlassen, aber hier und da nahm Lorlen an der Ecke eines Gebäudes oder hinter einem Fenster eine flüchtige Bewegung wahr. Er und Osen waren erst wenige Minuten zuvor in eins der Häuser vor dem Palast eingebrochen. Jetzt warteten sie auf die Ankunft der Ichani und auf Balkans Befehl zum Angriff.

Lorlen wusste nicht, wie viele Magier überlebt hatten oder wie viel Kraft ihnen noch geblieben war, aber er würde es bald genug herausfinden.

»Hier. Setzt Euch«, murmelte Osen.

Lorlen wandte sich vom Fenster ab. Sein Assistent hielt ihm einen antiken Stuhl hin. Als Osen den Stuhl abstellte, brachte Lorlen ein schiefes Lächeln zustande.

»Vielen Dank. Ich bezweifle, dass ich ihn lange benötigen werde.«

Der junge Mann richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße draußen.

»Nein. Sie sind schon da.«

Als Lorlen aus dem Fenster blickte, sah er sechs Gestalten aus dem Staub auftauchen. Die Sachakaner gingen langsam vorbei, auf den Palast zu. Kariko schaute zur Mauer empor.

Nein, wir werden euch nicht noch einmal Gelegenheit geben, uns den Stein unter unseren Füßen wegzusprengen, dachte Lorlen, während er auf die Tür zuging.

Angriff!

Auf Balkans Befehl riss Lorlen die Tür auf und trat, gefolgt von Osen, ins Freie. Weitere Magier erschienen, um einen Halbkreis um die Sachakaner zu bilden. Lorlen fügte seine Kraft ihrem Schild hinzu, dann griff er die Ichani an.

Die Sachakaner fuhren zu ihnen herum. Ein Bild von einem der Ichani blitzte in Lorlens Gedanken auf. Sofort konzentrierte die Gilde ihre Energie auf diesen einen Mann. Die Wucht ihrer Zauber schleuderte den Ichani gegen die Palastmauer, bis die Gegenangriffe der Sachakaner die Gilde zwangen, ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Schild zu lenken.

Die Angriffe, die den Schild der Gilde trafen, waren schrecklich. Furcht stieg in Lorlen auf, als der Halbkreis der Magier zurückzuckte. Wenn sie einem solchen Ansturm zu lange ausgesetzt wären, würde die Gilde rasch schwächer werden.

Rückzug.

Auf Balkans Befehl zogen sich die Magier der Gilde in die Häuser und Gassen zurück, aus denen sie gekommen waren. Die Ichani rückten näher.

»Wir haben zumindest einen von ihnen geschwächt«, stieß Osen hervor.

»Ihr kümmert Euch um den Schild, ich werde angreifen«, sagte Lorlen.

Sie bewegten sich vorsichtig auf die Tür zu. Dort angekommen, blieb Lorlen stehen.

»Jetzt!«

Lorlen ließ seinen Schild sinken und warf alles, was ihm an Energie noch verblieben war, in einen Zauber, den er gegen den geschwächten Ichani schleuderte. Der Sachakaner taumelte, und weitere Zauber flogen ihm entgegen, als die Magier der Gilde die Schwäche des Mannes erkannten. Der Sachakaner schrie auf – ein wortloser Schrei der Furcht und des Entsetzens -, dann brach sein Schild zusammen. Unter dem nächsten Angriff wurde er abermals gegen die Palastmauer geschleudert, die um ihn herum nachgab. Er sackte in die Knie und fiel zu Boden.

Um sie herum wurde Jubel laut, der jedoch abrupt endete, als die Ichani mit machtvollen Zaubern zurückschlugen. Osen stieß einen erstickten Laut aus.

»Geht… zurück… hinein…«, sagte Osen mit zusammengebissenen Zähnen.

Lorlen folgte Osens Blick, und sein Magen krampfte sich vor Furcht zusammen, als er sah, dass Kariko, der Anführer der Ichani, auf sie zukam und Osens Schild mit einem Zauber nach dem anderen attackierte. Lorlen griff nach Osens Arm und führte ihn zurück ins Haus. Holz und Mauerwerk barsten, als Karikos Zauber ihnen durch die Tür folgten. Dann geriet Osens Schild ins Wanken.

»Nein«, keuchte Osen. »Nicht jetzt schon.«

Lorlen packte Osen an den Schultern und stieß ihn zur Seite. Ein lautes Krachen zerriss die Luft, und die vordere Mauer des Hauses brach nach innen ein. Risse zogen sich durch die Decke. Irgendetwas traf Lorlen mit großer Wucht im Rücken, und er sackte in die Knie.

Dann wurde er zu Boden gepresst. Die Decke war eingestürzt, vermutete er. Ein ungeheures Gewicht drückte ihn nieder und trieb die Luft aus der Lunge. Dann, als sich nichts mehr regte, wurde er sich des Schmerzes bewusst. Er sandte seinen Geist nach innen und erstarrte, als er die gebrochenen Knochen und die zerfetzten Organe sah und begriff, was das bedeutete.

Es blieb ihm nur noch eines zu tun.

Staub und Schmutz regneten auf ihn herab, als er in seiner Tasche nach dem Ring tastete.


In den Tunneln unter dem Inneren Ring war alles still. Hier und da warteten Freiwillige an den Ausgängen. Als ein Bote erschien und auf sie zueilte, blieb der Mann stehen, der Akkarin und Sonea als Führer diente.

»Sachakanischer Magier… ist bei den… Sklaven geblieben«, keuchte der Mann. »Sie sind in den… Hüttenvierteln. Nordseite.«

»Also ist einer von ihnen bereits von den anderen getrennt worden«, bemerkte Sonea. »Sollen wir uns zuerst auf die Suche nach ihm machen?«

»Es wird einige Zeit dauern, dort hinzukommen«, sagte Akkarin. Er wandte sich in die Richtung, in der der Palast stand. »Ich würde gern sehen, wie es der Gilde ergangen ist, aber… dieser einzelne Ichani könnte versuchen, sich Kariko wieder anzuschließen, sobald er erfährt, dass die Gilde besiegt worden ist.« Er nickte langsam und wandte sich zu dem Führer um. »Ja. Bring uns in die Hüttenviertel.«

»Ich werde ihnen Bescheid geben, dass Ihr kommt«, sagte der Bote und rannte davon.

Der Führer setzte sich in Bewegung. Einige Minuten später wurden sie von einer nicht mehr ganz jungen Frau aufgehalten.

»Der Tunnel ist eingestürzt«, meldete sie. »In diese Richtung könnt Ihr nicht weitergehen.«

»Auf welchem Weg kann man dann am schnellsten in die Hüttenviertel gelangen?«

»Dicht an der Mauer der Gilde verläuft ein weiterer Tunnel«, erklärte der Führer ihnen.

Akkarin blickte auf. »Die Lücke in der Mauer ist fast direkt über uns.«

»Das wäre der schnellere Weg«, meinte der Führer achselzuckend. »Aber man könnte Euch sehen.«

»Die Gilde und die Ichani sind draußen vor dem Palast. Man wird uns für zwei gewöhnliche Imardier halten, die wie so viele andere aus der Stadt fliehen. Bring uns zu einem Ausgang, der so dicht wie möglich an der Mauer liegt.«

Der Führer nickte und ging voran. Nach einigen Biegungen blieb er vor einer Leiter stehen, die an einer Mauer befestigt war, und zeigte auf eine Luke über ihnen.

»Durch diese Luke gelangt Ihr in einen Lagerraum. Dort gibt es eine Tür, die in eine Gasse führt.« Er gab ihnen Anweisungen, wie sie auf der anderen Seite der Mauer einen Eingang zu den Tunneln finden konnten. »Dort werdet Ihr auf andere Führer treffen. Sie kennen das Nordviertel besser als ich.«

Akkarin stieg die Leiter hoch. Sonea, die ihm folgte, fand sich kurz darauf in einem großen Raum voller Lebensmittel wieder. Sie traten durch eine Tür in eine schmale Sackgasse hinaus. Akkarin ging voran und blieb vor dem Eingang stehen. Als Sonea ihn erreicht hatte, sah sie, dass sie auf der anderen Seite der Straße waren, die parallel zum Inneren Ring verlief. Als sie die Ruinen bemerkte, machte sich tiefe Mutlosigkeit in ihr breit.

Ein Windstoß trieb den Staub fort, und sie erkannte vertraute Farben unter den Trümmern. Als sie genauer hinschaute, wurde ihr klar, dass es sich um die Roben von Magiern handelte.

»Der Weg ist frei«, murmelte Akkarin. Als sie aus der Gasse traten, wollte sich Sonea den Magiern zuwenden, doch Akkarin legte ihr eine Hand auf den Arm.

»Sie sind tot, Sonea«, murmelte er sanft. »Sonst hätte die Gilde sie nicht liegen lassen.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich wollte nur wissen, wer sie sind.«

»Nicht jetzt. Dafür wird später noch Zeit sein.«

Akkarin zog sie zu der Lücke in der Mauer hinüber. Sie hatten soeben den Fuß des zerstörten Tores erreicht, als Akkarin stehen blieb. Sonea sah ihn an und erschrak. Sein Gesicht war schneeweiß geworden, und er starrte auf eine Stelle irgendwo tief unter dem Boden.

»Was ist passiert?«

»Lorlen.« Er drehte sich abrupt zum Inneren Ring um. »Ich muss ihn finden. Geh du voraus. Such nach diesem Ichani, aber unternimm nichts, bevor ich da bin.«

»Aber -«

»Geh«, sagte er und bedachte sie mit einem kalten Blick. »Ich muss dies hier allein tun.«

»Was tun?«

»Tu einfach das, was ich sage, Sonea.«

Sie konnte ein Gefühl der Kränkung und des Ärgers nicht unterdrücken, als sie die Ungeduld in seinem Tonfall hörte. Dies war kein guter Zeitpunkt, um plötzlich rätselhaft und heimlichtuerisch zu werden. Wenn sie sich trennten, wie sollten sie sich dann wiederfinden? Dann fiel ihr der Ring wieder ein.

»Soll ich deinen Blutring jetzt überstreifen? Du hast gesagt, wir sollten sie tragen, falls wir getrennt würden.«

Ein Ausdruck von Erschrecken huschte über seine Züge, dann wurde seine Miene weicher. »Ja«, sagte er, »aber ich werde deinen noch nicht benutzen. Ich möchte dir nicht zeigen, was ich befürchte in der nächsten Stunde sehen zu müssen.«

Sie starrte ihn an. Was würde es sein, das er ihr nicht zeigen wollte? Hatte es etwas mit Lorlen zu tun?

»Ich muss gehen«, sagte er. Sie nickte und sah ihm noch eine Weile nach. Nachdem er außer Sicht war, eilte sie ins Nordviertel. Als sie den Schatten einer Gasse erreicht hatte, nahm sie Akkarins Ring aus ihrer Tasche und betrachtete ihn. Seine Warnung in der vergangenen Nacht war ihr nur allzu deutlich im Gedächtnis geblieben.

Aber wenn sie sich trennten, mussten sie in der Lage sein, mit dem anderen in Verbindung zu treten. Sonea schob ihre Zweifel beiseite und streifte den Ring auf ihren Finger. Am Rande ihrer Gedanken konnte sie jedoch kein Gefühl seiner Anwesenheit wahrnehmen. Sie suchte, spürte jedoch nichts. Vielleicht funktionierte der Ring nicht.

Nein, dachte sie, der Schöpfer des Rings kontrolliert, wie viel der Träger spürt. Aber der Ringschöpfer konnte nicht aufhören, die Gedanken und Erfahrungen des Ringträgers zu spüren. Das bedeutete, dass Akkarin jetzt jeden einzelnen ihrer Gedanken wahrnahm.

Hallo?, dachte sie.

Es kam keine Antwort. Sie lächelte und zuckte die Achseln. Was immer er tat, er wollte gewiss nicht, dass sie ihn ablenkte – und sie wollte auf keinen Fall seine Konzentration stören, wenn er sie am dringendsten brauchte.

Sie befolgte die Anweisungen des Führers und fand den Eingang zu dem Tunnel ohne Probleme. Zu ihrer Überraschung wartete Faren auf der anderen Seite. Sein Stellvertreter, der wortkarge Mann, den sie bereits einen Tag zuvor gesehen hatte, stand neben ihm.

»Die Gilde hat einen Ichani getötet«, erklärte Faren aufgeregt. »Ich dachte, ich erzähle es dir selbst.«

Sie lächelte, und ihre Stimmung hellte sich ein wenig auf. »Das ist mal eine gute Nachricht. Was ist mit den übrigen Ichani?«

»Die Frau streift allein durch die Stadt. Der Mann mit den Sklaven war beim letzten Bericht, den ich gehört habe, immer noch auf der Nordseite. Ich nehme an, die übrigen sind unterwegs zum Palast. Was macht dein ständiger Begleiter?«

Sie runzelte die Stirn. »Er musste sich um irgendeine Angelegenheit allein kümmern. Ich soll den Ichani mit den Sklaven finden und mich dann still verhalten.«

Faren grinste. »Dann machen wir uns am besten gleich auf die Suche nach ihm.«

Nach einem kurzen Marsch kamen sie in einer Gasse wieder ans Tageslicht. Faren führte sie zu einem hohen Stapel Kisten und trat durch eine schmale Lücke. Dort ging er in die Hocke und klopfte gegen etwas Metallisches.

Als die Luke geöffnet wurde und ein unangenehmer Geruch ihr entgegenwehte, unterdrückte Sonea ein Stöhnen.

»Schon wieder die Abwasserkanäle.«

»Ich fürchte, so ist es«, erwiderte Faren. »Sie sind der direkteste Weg, um aus der Stadt zu gelangen.«

Sie stiegen in die schummrige Dunkelheit hinab. Neben der Leiter stand ein Mann mit einem breiten Gesicht, der eine Lampe in der Hand hielt und eine zweite zu seinen Füßen stehen hatte. Der Dieb nahm die Lampe entgegen und bewegte sich an dem Mauervorsprung entlang, der an einer Seite des Tunnels verlief. Sie kamen an mehreren Lukenwächtern vorbei. An einer Stelle erklärte Faren Sonea, dass sie soeben unter der Äußeren Mauer hindurchgingen. Als sie wieder aus der Kanalisation stiegen, fand sie sich in einem vertrauten Teil der Hüttenviertel wieder. Faren führte sie schnell durch ein Tor in einer Mauer zurück auf die Straße der Diebe.

Ein Junge erwartete sie dort mit der Nachricht, dass der Ichani und die Sklaven sich jetzt nur noch wenige Straßen entfernt befanden.

»Sie sind auf dem Weg zur Hauptstraße«, sagte der Junge.

»Gib allen Bescheid, dass sie sich bereithalten sollen, dann melde dich wieder bei mir.«

Der Junge nickte und eilte davon.

Kurze Zeit später kletterten sie über eine wacklige Leiter in den zweiten Stock eines Hauses hinauf. Faren brachte Sonea zu einem Fenster, und sie entdeckte die sachakanischen Sklaven auf der Straße unter ihr. Der Ichani sah zu, wie zwei von ihnen mit Tabletts voller Brot aus einer Bäckerei kamen. Einige der Limek-ähnlichen Tiere kämpften um den Kadaver eines Rebers. Die Wagen waren nirgends zu sehen.

Der Junge, dem sie zuvor auf der Straße der Diebe begegnet waren, trat in den Raum. Seine Augen leuchteten vor Erregung.

»Es ist alles bereit«, verkündete er.

Sonea musterte Faren fragend. »Bereit wofür?«

»Wir haben einige Fallen für die Sachakaner aufgestellt«, erklärte Faren. »Das war Cerys Idee.«

Sie lächelte. »Natürlich. Was genau habt ihr geplant?«

Faren ging zu einem Seitenfenster hinüber. Darunter grenzte ein kleiner, umfriedeter Innenhof an eine schmale Gasse. Zwei stämmige Männer hielten eine lange Metallstange mit einer geschärften Spitze an die Mauer. Sie blickten nervös zum Fenster hinauf. Faren machte das Zeichen für »Warten«.

»Zwei weitere Männer stehen auf der anderen Seite der Gasse«, sagte Faren. »In jeder Mauer ist ein Loch, das mit falschem Mörtel gefüllt ist. Einer unserer unechten Magier wird den Ichani in die Gasse locken. Wenn er die richtige Stelle erreicht, werden die Männer ihn aufspießen.«

Sonea starrte ihn ungläubig an. »Das ist euer Plan? Das wird niemals funktionieren. Sein Schild wird den Ichani schützen.«

»Vielleicht wird er irgendwann träge und glaubt, die Mauern seien Schutz genug.«

»Vielleicht«, erwiderte sie, »aber die Chance, dass er das tut, ist äußerst gering. Ihr geht ein schreckliches Risiko ein.«

»Glaubst du, unsere Helfer wüssten das nicht?«, sagte Faren leise. »Sie wissen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass es nicht funktionieren wird. Sie sind einfach genauso entschlossen wie du, gegen diese Sachakaner zu kämpfen.«

Sie seufzte. Natürlich würden die Hüttenleute kämpfen wollen, selbst wenn sie dazu ungeheure Risiken eingehen mussten. »Hm, wenn es nicht funktioniert, sollte ich dort unten sein, um -«

»Zu spät«, sagte Farens Stellvertreter. »Schaut euch das an.«

Sonea trat vor eins der Fenster mit Blick auf die Straße und sah, dass der Ichani und seine Sklaven sich näherten. Einige Jugendliche kamen den Sachakanern von der anderen Seite der Straße entgegengelaufen und begannen, Steine nach ihnen zu werfen. Als der Ichani auf sie zuging, hörte Sonea einen erstickten Aufschrei, dann erschien direkt unter ihr ein in Roben gewandeter Mann auf der Straße. Er eilte auf den Ichani zu, dann blieb er am Eingang der Gasse stehen. Als der Ichani den falschen Magier sah, lächelte er.

Ein Zauber zuckte durch die Luft. Der falsche Magier konnte ihm mit knapper Not ausweichen und in die Gasse fliehen.

Sonea lief zu dem Seitenfenster hinüber. Die beiden Männer mit dem Speer waren bereit zuzustoßen. Es konnte unmöglich funktionieren… aber wenn doch… Voller Entsetzen wurde ihr klar, was geschehen würde.

»Faren, ich muss hinunter auf die Straße.«

»Dazu bleibt nicht genug Zeit«, entgegnete er. »Pass auf.«

Der Ichani trat in die Gasse. Der Mann in der Robe blieb stehen. Sonea konnte das schwache Aufflackern einer Barriere erkennen, die ihm den Weg versperrte. Als der Ichani nur noch einen Schritt von den versteckten Männern entfernt war, schrie der falsche Magier etwas, das Sonea nicht verstand. Die Speere schnellten durch die Mauer…

…und bohrten sich tief in den Körper des Ichani. Der Sachakaner schrie vor Schmerz und Überraschung.

»Es hat funktioniert!«, jubelte Faren. Ähnliche Triumphschreie kamen, gedämpft durch das Fenster, von draußen. Als Sonea die Qual in den Zügen des Ichani sah, schauderte sie mitfühlend. Der Mann sackte zusammen, und Sonea begriff, dass sie niemals genug Zeit haben würde, ihn zu erreichen, bevor er starb.

Trotzdem zerschlug sie das Fenster und brüllte, so laut sie konnte: »Geht weg von ihm!«

Die Männer blickten überrascht zu ihr empor.

Dann wurde alles weiß.

Sie riss einen Schild hoch, der sie selbst, Faren und seinen Stellvertreter umgab. Einen Moment später explodierte die Mauer des Raums nach innen. Sengende Hitze drang durch ihren Schild und zwang sie, ihn zusätzlich zu verstärken. Dann spürte sie, wie der Boden sich neigte und wegsackte, und sie stürzte in die Tiefe. Als sie unten aufkam, zog sie sich zitternd auf die Knie hoch.

Dann brach die Magie, die der sterbende Ichani freigesetzt hatte, abrupt ab. Sonea fand sich auf einem Haufen Schutt und rauchendem Holz wieder.

In einem Umkreis von hundert Schritten gab es nur noch verkohlte, qualmende Trümmer. Sonea blickte zu der Gasse hinüber. Von den Männern, die mit den Speeren zugestoßen hatten, war keine Spur zu entdecken. Schreckliche Traurigkeit stieg in ihr auf. Ich hätte sie retten können, hätte ich gewusst, welchen Plan sie verfolgten.

Faren und sein Stellvertreter rappelten sich hoch. Entsetzt sahen sie sich in den Ruinen um sie herum um.

»Cery hat gesagt, dass so etwas geschehen könnte«, murmelte Faren. »Er hat gesagt, meine Männer sollten sich anschließend so schnell wie möglich zurückziehen. Er hat jedoch nichts davon erwähnt, dass die Zerstörung so weit reichen würde.«

»Was ist passiert?«, fragte sein Stellvertreter mit gepresster Stimme.

Sonea versuchte zu sprechen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie schluckte und versuchte es noch einmal. »Was immer passiert, wenn ein Magier stirbt«, brachte sie schließlich heraus. »Alles, was ihm oder ihr an Magie noch geblieben ist, wird freigesetzt.«

Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Wird… wird das Gleiche auch mit dir geschehen?«

»Ich fürchte ja. Es sei denn, meine Magie wäre erschöpft oder die Ichani entziehen sie mir vor meinem Tod.«

»Oh.« Der Mann schauderte und wandte sich ab.

»Wir hatten Glück, dass du da warst«, sagte Faren leise. »Wenn du nicht da gewesen wärst, wäre es uns genauso ergangen wie den Sklaven dort unten.«

Sonea folgte seinem Blick. Auf der Straße lagen mehrere dunkle Gestalten. Ein Frösteln überlief sie. Zumindest war es ein schneller Tod gewesen.

Faren lachte leise auf. »Nun, dann brauchen wir wenigstens nicht darüber nachzudenken, was wir mit ihnen anstellen sollen, nicht wahr?«


»Helft mir!«

Aufgeschreckt aus seiner Benommenheit, blickte Dannyl auf. Lord Osen stand in einem klaffenden Loch in der Seite eines Hauses. Er war mit Staub bedeckt, und sein Gesicht war tränenüberströmt.

»Lorlen ist verschüttet«, stieß Osen hervor. »Hat einer von Euch etwas Energie übrig?«

Dannyl sah Farand an, dann schüttelte er den Kopf.

»Dann… dann helft mir zumindest, ihn auszugraben.«

Sie folgten Osen in das Haus, in dem sie ein gewaltiger Trümmerhaufen erwartete. Der Staub flirrte im Licht. Dannyl hob den Kopf und stellte fest, dass das Dach mitsamt dem oberen Stockwerk eingestürzt war.

»Ich glaube, er ist hier«, sagte Osen und blieb in der Nähe der halb vergrabenen Vordertür stehen. Er ließ sich auf die Knie fallen und begann, mit bloßen Händen zu graben.

Dannyl und Farand halfen ihm. Es gab nichts, was sie sonst hätten tun können. Sie warfen Schutt und Steine beiseite, machten jedoch nur langsame Fortschritte. Dannyl schnitt sich an einer Glasscherbe, die er in dem Staub nicht gesehen hatte. Er fragte sich gerade, wie jemand unter diesen Trümmern überlebt haben konnte, als sich der gesamte Schutthaufen unter ihnen plötzlich bewegte. Ziegelsteine, Holzbalken und geborstenes Glas rollten auf die gegenüberliegende Mauer des Hauses zu.

Osen schüttelte sich, als hoffe er, auf diese Weise einen klaren Kopf zu bekommen, dann sah er sich im Raum um. Sein Blick fiel auf eine Stelle hinter Dannyl, und seine Augen weiteten sich.

Als Dannyl herumfuhr, bemerkte er eine Gestalt, die in dem Loch in der Seitenmauer des Hauses stand, eine dunkle Silhouette vor dem hellen Tageslicht. Der Fremde trug schlichte Kleidung, aber sein Gesicht war im Schatten seiner Kapuze verborgen.

Das dumpfe Poltern der sich verlagernden Trümmer verebbte.

»Du bist zurückgekommen.«

Diese Stimme war vertraut, aber schwach. Dannyl drehte sich wieder um, und Hoffnung flackerte in ihm auf, als er sah, dass Lorlen befreit war. Die Roben des Administrators waren mit Staub bedeckt. Sein Gesicht war zerschrammt, aber seine Augen leuchteten.

»Ja. Ich bin zurückgekommen.«

Dannyl sog scharf die Luft ein, als er auch diese Stimme erkannte. Er drehte sich um und starrte Akkarin an. Der verbannte Magier trat in den Raum.

»Nein!«, sagte Lorlen. »Komm nicht… näher.«

Akkarin blieb stehen. »Du stirbst, Lorlen.«

»Ich weiß.« Lorlen atmete in gequälten Stößen. »Ich… ich lasse nicht zu, dass du deine Kraft auf mich verschwendest.«

Akkarin machte noch einen Schritt auf den Administrator zu. »Aber -«

»Bleib stehen. Sonst werde ich tot sein, bevor du mich erreichst«, stieß Lorlen hervor. »Ich habe nur noch ein klein wenig Kraft übrig, gerade genug, um bei Bewusstsein zu bleiben. Ich brauche nichts anderes zu tun, als diese Kraft schneller zu verbrauchen.«

»Lorlen«, sagte Akkarin. »Es würde nur sehr wenig Magie kosten. Gerade genug, um dich am Leben zu halten, bis -«

»Bis die Ichani kommen, um mir den Rest zu geben.« Lorlen schloss die Augen. »Ich war einmal Heiler, wie du dich erinnerst. Ich weiß, was es kosten würde, diese Verletzungen zu beheben. Zu viel Magie. Du wirst alles, was du hast, benötigen, um sie aufzuhalten.« Er sah Akkarin an. »Ich verstehe, warum du mich belogen hast. Kyralias Sicherheit war wichtiger als unsere Freundschaft. Das ist sie noch immer. Ich möchte nur noch eines wissen. Warum hast du nicht geantwortet, als ich nach dir gerufen habe?«

»Ich konnte nicht«, sagte Akkarin. »Wenn die Gilde von meiner Anwesenheit in Imardin gewusst hätte, hätten die Ichani es aus den Gedanken ihres ersten Opfers gelesen. Sie wären zusammengeblieben. Allein sind sie verwundbar.«

»Ah.« Lorlen lächelte schwach. »Ich verstehe.«

Abermals fielen ihm die Augen zu. Akkarin machte noch einen Schritt auf seinen Freund zu. Lorlens Lider öffneten sich flatternd.

»Nein, das wirst du nicht tun«, flüsterte er. »Bleib, wo du bist. Erzähl mir… erzähl mir von Sonea.«

»Sie lebt«, sagte Akkarin. »Sie ist…«

Obwohl Akkarin den Satz nicht beendete, verzogen sich Lorlens Lippen zu einem schiefen Lächeln.

»Gut«, sagte er.

Dann entspannten sich seine Züge, und er stieß einen langen Seufzer aus. Akkarin lief auf ihn zu und ging in die Hocke. Er strich über Lorlens Stirn, und ein Ausdruck des Schmerzes trat in seine Züge. Dann griff er nach Lorlens Hand, senkte den Kopf und streifte ihm einen Ring vom Finger.

»Lord Osen«, sagte er.

»Ja?«

»Ihr, Botschafter Dannyl und…«, er sah zu Farand hinüber, »sein Begleiter dürft niemandem erzählen, dass ich hier bin. Wenn die Ichani herausfinden, dass Sonea und ich in der Stadt sind, wird das all unsere Chancen auf einen Sieg zunichte machen. Habt Ihr mich verstanden?«

»Ja«, antwortete Osen leise.

»Alle Ichani bis auf einen sind im Palast. Verlasst die Stadt, solange es noch möglich ist.«

Akkarin erhob sich, wandte sich abrupt ab und ging auf das Loch in der Mauer zu. Bevor er hinaustrat, konnte Dannyl einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht werfen. Obwohl seine Züge hart und starr waren, glänzten seine Augen feucht.


Mehrere hundert Schritte von den Außenbezirken der Hüttenviertel entfernt bog Rothen von der Straße ab. Dort, wo früher einmal das Nordtor gewesen war, war nur noch ein klaffendes Loch. Dadurch hatte er auch die breitere Bresche in der Inneren Mauer gesehen.

Es gab jedoch noch einen anderen Weg, in die Stadt zu gelangen: die Lücke in der Äußeren Mauer, die um das Grundstück der Gilde verlief.

Dann fragte er sich, warum die Ichani ihre Kraft auf die Zerstörung der Stadttore vergeudet hatten. Sie mussten aus den Gedanken der Magier, die sie im Fort und in Calia gefangen und getötet hatten, von der Bresche in der Äußeren Mauer erfahren haben. Vielleicht hatten sie der Gilde ihre Überlegenheit demonstrieren wollen. Und möglicherweise beabsichtigten sie, die verlorene Energie zu ersetzen, indem sie gewöhnlichen Imardiern auflauerten.

So oder so, sie mussten sich ihrer Stärke und ihres Sieges über Kyralia sehr sicher sein. Während Rothen zu dem bewaldeten Hügel hinter der Gilde hinüberritt, stieg ein wachsendes Gefühl der Angst in ihm auf. Würde er zu spät kommen? Hatten die Ichani die Gilde bereits zerstört? Auf jeden Fall musste er sich dem Gelände mit äußerster Vorsicht nähern.

Als er die ersten Bäume erreichte, ließ er seine Stute langsamer laufen. Der Wald wurde schnell dichter, bis Rothen absitzen und die Stute führen musste. Ein Bild flammte vor seinen Augen auf. Nicht noch einmal…

Während er weiterging, überlagerte die Erfahrung des Todes seine Umgebung. Diesmal war es eine Palastwache. Als die Vision erlosch, stieß Rothen einen tiefen Seufzer aus.

Der Hang wurde steiler. Rothen stolperte durch niedrige Vegetation, über Holzscheite, Steine und Löcher im Boden. Nachdem er eine freie Fläche erreicht hatte, hob er den Kopf und sah etwas Weißes durch die Bäume schimmern.

Beim Anblick der Gebäude überwältigten ihn Erleichterung und Glück. Er eilte weiter, bis er am Rand des Waldes angelangt war. Auf einer Lichtung unter ihm standen Dutzende kleiner Häuser: ein Dorf.

Obwohl Rothen nur wenige hundert Schritte entfernt von hier gelebt hatte, hatte er das Dorf nur einmal gesehen, als Novize. Die Siedlung war als Dienstbotenquartier bekannt.

Er ging zu den Gebäuden hinunter, und eine der Türen wurde geöffnet. Ein Mann, der eine Dienstbotenuniform trug, eilte ihm entgegen.

»Mylord«, sagte der Mann und verneigte sich hastig. »Wie steht die Schlacht?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Rothen. »Ich bin soeben erst angekommen. Warum bist du noch hier?«

Der Mann zog die Schultern hoch. »Ich habe mich freiwillig gemeldet, ein Auge auf die Häuser zu haben, bis alle zurückkehren.«

Rothen klopfte seiner Stute auf den Hals. »Ist noch jemand aus den Ställen hier?«

»Nein, aber ich kann mich um Euer Pferd kümmern.«

»Danke.« Rothen reichte dem Diener die Zügel. »Wenn bis zum Ende des Tages niemand zurückkommt, verlass das Dorf. Wenn du willst, kannst du das Pferd nehmen.«

Der Mann schien überrascht zu sein. Er verbeugte sich, dann strich er der Stute sanft über die Nüstern und führte sie davon. Rothen wandte sich ab und machte sich auf den Weg zur Gilde.


Drei Stunden waren verstrichen, seit Cery sich von Sonea und Akkarin getrennt hatte. Den Berichten seiner Männer zufolge war Sonea in die Hüttenviertel gegangen, um sich den einzelnen Ichani vorzunehmen. Akkarin war im Inneren Ring verschwunden, und Takan konnte nicht sagen, was sein Herr tat.

Sie hatten eine Schmugglerhöhle unter dem Inneren Ring als Treffpunkt ausgewählt. Es war ein großer Raum, in dem sich Waren bis zur Decke stapelten. Als drei Gestalten durch den Gang zwischen den Regalen auf ihn zukamen, lächelte Cery und eilte ihnen entgegen.

»Deine Gilde hat einen der Ichani getötet«, sagte er. »Einer ist tot, sieben sind noch übrig.«

»Nein.« Sonea lächelte. »Zwei sind tot, sechs sind noch übrig.«

Cery sah Faren an. »Der in den Hüttenvierteln?«

»Ja, auch wenn es nicht mein Werk war.«

Er grinste triumphierend. »Dann hat also eine meiner Fallen funktioniert?«

»Ich denke, du solltest dir erst einmal anschauen, was von den Hüttenvierteln noch übrig ist, bevor du damit prahlst«, erwiderte Faren trocken. Sein Stellvertreter nickte zustimmend.

»Was ist passiert?«, fragte Cery an Sonea gewandt.

»Das kann Faren dir später erklären.« Sie blickte über seine Schulter, und er drehte sich um. Takan kam auf ihn zu. »Weiß einer von euch, wo Akkarin ist?«, fügte Sonea hinzu.

Der Diener schüttelte den Kopf. »Ich habe seit zwei Stunden nichts mehr von ihm gehört.«

Sonea runzelte die Stirn. Da Takans Gesicht den gleichen Ausdruck zeigte, vermutete Cery, dass Akkarin in einem Alleingang unterwegs war, worin dieser auch bestehen mochte. Was war so wichtig, dass der Magier sein Tun vor seinen beiden engsten Gefährten verborgen hielt?

»Wo sind die anderen Ichani?«, fragte Faren.

»Fünf sind im Palast, einer streift durch die Stadt«, antwortete Cery.

»Lass mich raten«, sagte Sonea, »es ist die Frau, die sich von den anderen getrennt hat.«

»Ja.«

Sie seufzte. »Ich sollte wohl besser hier warten, bis Akkarin zurückkommt.«

Cery lächelte. »Ich habe hier unten jemanden versteckt, den du treffen solltest.«

»Oh, und wer ist das?«

»Ein Magier. Ich habe ihn vor der Ichani gerettet. Er ist sehr dankbar. Tatsächlich ist er so dankbar, dass er sich freiwillig erboten hat, den Köder für unsere nächste kleine Falle zu spielen.«

Cery führte sie um einen Stapel Kisten herum in eine kleine Nische, in der etliche Stühle standen. Auf einem davon saß ein Novize. Als sie näher kamen, blickte er auf, dann erhob er sich lächelnd.

»Sei gegrüßt, Sonea.«

Sonea starrte ihn entsetzt an. Wie er erwartet hatte, antwortete sie mit zusammengebissenen Zähnen.

»Regin.«

35 In der Falle

»Setz dich, Sonea«, drängte Cery sie. »Ihr beide bleibt hier, während ich uns etwas zu essen besorge.«

Sonea sah Cery fassungslos an. Zweifellos hatte er keine Ahnung von dem, was zwischen ihr und Regin vorgefallen war. Dann zwinkerte er ihr zu, und sie begriff, dass er sich durchaus daran erinnert hatte, wer Regin war.

»Nur zu«, sagte er. »Ihr beide habt euch sicher viel zu erzählen.«

Sonea nahm widerstrebend Platz. Sie wandte sich zu Faren um, aber der Dieb war auf die andere Seite des Raums gegangen und unterhielt sich leise mit seinem Stellvertreter. Takan lief in einer anderen Ecke auf und ab. Regin sah sie an, dann wandte er den Blick ab, rieb die Hände aneinander und räusperte sich schließlich.

»Also«, begann er, »hast du schon irgendwelche Sachakaner getötet?«

Sonea widerstand dem Drang, in Gelächter auszubrechen. Es war eine seltsame, aber auch irgendwie passende Art, ein Gespräch mit ihrem alten Feind anzufangen.

»Zwei«, antwortete sie.

Er nickte. »Den in den Hüttenvierteln?«

»Nein. Einen im Südpass und einen vorher, in der Stadt.«

Er blickte zu Boden. »War es schwer?«

»Jemanden zu töten?« Sie verzog das Gesicht. »Ja und nein. Man denkt wohl nicht weiter darüber nach, wenn man versucht, nicht selbst getötet zu werden. Die Gedanken kommen erst später.«

Er lächelte schwach. »Ich wollte eigentlich wissen, ob es schwer ist, diese Ichani zu töten.«

»Oh.« Sie senkte den Kopf. »Wahrscheinlich. Ich hatte bei diesen beiden nur Erfolg, weil ich sie überlistet habe.«

»Weißt du denn nicht, wie stark sie sind?«

»Nein. Ich bin mir nicht einmal sicher, wie stark ich selbst bin. Ich nehme an, das werde ich herausfinden, wenn ich gegen einen von ihnen kämpfen muss.«

»Woher weißt du dann, ob du einen Kampf gewinnen kannst?«

»Gar nicht.«

Regin sah sie ungläubig an. Dann errötete er und wandte den Blick ab. »Wir haben es dir alle ziemlich schwer gemacht«, sagte er leise. »Lord Fergun, ich und die anderen Novizen… und die ganze Gilde, als sie herausgefunden hat, dass du schwarze Magie erlernt hattest – aber du bist trotzdem zurückgekommen. Du bist trotzdem bereit, dein Leben für uns aufs Spiel zu setzen.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich von diesen Dingen gewusst hätte, wäre ich während des ersten Jahres nicht so grob zu dir gewesen.«

Sonea starrte ihn an, hin- und hergerissen zwischen Ungläubigkeit und Überraschung. War das eine Entschuldigung?

Er sah ihr in die Augen. »Ich wollte nur… falls ich all das überleben sollte, werde ich versuchen, es wieder gutzumachen.« Er zuckte die Achseln. »Falls ich das hier überleben sollte, ist das das Geringste, was ich tun kann.«

Sie nickte. Jetzt wusste sie erst recht nicht, was sie zu ihm sagen sollte. Dann jedoch brauchte sie nicht länger darüber nachzudenken, da eine hochgewachsene Gestalt zwischen den Kistenstapeln in Sicht kam.

»Akkarin!« Sie sprang von ihrem Stuhl auf und eilte ihm entgegen. Er lächelte ihr grimmig zu.

»Sonea.«

»Hast du gesehen, was die Hüttenleute getan haben?«

»Ja, ich habe es durch den Ring beobachtet, und ich habe auch die Folgen gesehen.«

Sie runzelte die Stirn. Seine Miene war angespannt, als verberge er den Schmerz einer Verletzung.

»Was ist los?«, flüsterte sie. »Was ist passiert?«

Sein Blick wanderte über ihre Schulter zu Regin hinüber. Dann griff er nach ihrem Arm und führte sie einige Schritte den Gang hinunter, bevor er sich mit einem schweren Seufzer wieder zu ihr umdrehte.

»Lorlen ist tot.«

Lorlen? Tot? Sie starrte ihn entsetzt an, dann schlug eine Woge des Mitgefühls über ihr zusammen, als sie die Qual in seinem Gesicht sah. Lorlen war Akkarins engster Freund gewesen, und doch hatte Akkarin ihn belügen, ihn erpressen und ihn durch den Ring kontrollieren müssen. Die vergangenen Jahre waren für die beiden furchtbar gewesen. Plötzlich erschien ihr die Last, die sie niederdrückte, seit sie von Rothens Tod erfahren hatte, unerträglich schwer.

Sie schlang die Arme um Akkarins Taille und legte den Kopf an seine Brust. Er zog sie fest an sich, dann holte er tief Luft.

»Ich bin Dannyl und Osen begegnet«, erzählte er ihr leise. »Sie waren bei Lorlen, daher wissen sie jetzt von unserer Anwesenheit in der Stadt. Ich habe ihnen gesagt, dass sie es den anderen nicht erzählen dürfen, und ich… ich habe Lorlens Ring an mich genommen.«

»Was ist mit dem Rest der Gilde?«

»Ich bezweifle, dass noch irgendjemand übrig ist, der nicht erschöpft oder der Erschöpfung nahe wäre«, antwortete er. »Die Diebe haben einige von ihnen in die Tunnel gebracht. Andere sind in die Gilde zurückgekehrt.«

»Wie viele sind ums Leben gekommen?«

»Das weiß ich nicht. Zwanzig. Fünfzig. Vielleicht mehr.«

So viele. »Was sollen wir jetzt tun?«

Er drückte sie noch einmal an sich, dann hielt er sie auf Armeslänge von sich weg.

»Kariko ist mit vier weiteren Ichani im Palast. Avala streift noch immer durch die Straßen. Wir müssen sie finden, bevor sie sich den anderen wieder anschließt.«

Sonea nickte. »Ich wünschte, ich hätte gewusst, was die Diebe mit dem Ichani in den Hüttenvierteln vorhatten. Dann hätte einer von uns seine Kraft nehmen können.«

»Ja, aber immerhin müssen wir uns jetzt um einen Ichani weniger kümmern.« Er ließ sie los und trat wieder in den Gang hinaus. »Dein Freund Cery hat einige interessante Ideen. Falls Kyralia überlebt, dürfte die Gilde feststellen, dass die Säuberung zu einer gefährlichen Übung geworden ist.«

Sonea lächelte. »Ich dachte, davon hätte ich sie schon überzeugt.«

»Nicht ganz so erfolgreich, wie Cerys Freunde es vielleicht tun werden.«

Als sie das andere Ende des Raums erreichten, stellte Sonea fest, dass Cery mit dem versprochenen Essen zurückgekehrt war. Takan machte sich hungrig über die Mahlzeit her und wirkte nicht mehr gar so besorgt wie zuvor. Regin blickte mit einem interessierten Leuchten in den Augen von Sonea zu Akkarin.

»Regin von Winar«, sagte Akkarin. Sonea hörte einen Anflug von Abneigung in seiner Stimme. »Man erzählt mir, dass du von den Dieben gerettet wurdest.«

Regin stand auf und verneigte sich. »Sie haben mir das Leben gerettet, Mylord. Ich hoffe, dass ich ihnen diese Gunst werde vergelten können.«

Akkarin nickte und sah zu Takan hinüber. »Dazu wirst du vielleicht schon sehr bald Gelegenheit haben.«

»Wohin gehen wir?«

Dannyl drehte sich zu Farand um. Der junge Magier hatte während der letzten halben Stunde kein Wort gesagt. Er war Dannyl vertrauensvoll und ohne Fragen gefolgt, bis jetzt.

»Ich muss einen Freund treffen«, antwortete Dannyl.

»Aber Euer ehemaliger Hoher Lord hat uns aufgefordert, die Stadt zu verlassen.«

»Ja.« Dannyl nickte. »Er hat auch gesagt, dass die Ichani im Palast seien. Ich muss Tayend treffen, solange es noch möglich ist. Er kann uns außerdem gewöhnliche Kleider geben.«

»Tayend? Er ist in Imardin?«

»Ja.« Dannyl unterzog die nächste Straße einer schnellen Musterung, um sich davon zu überzeugen, dass niemand dort war. Farand folgte ihm um die Ecke. Die Villa, in der Tayend wohnte, war nur etwa ein Dutzend Häuser entfernt. Dannyls Puls beschleunigte sich.

»Aber er ist nicht zu der Anhörung erschienen«, bemerkte Farand.

»Nein, er ist erst vor wenigen Tagen angekommen.«

»Er hätte sich kaum einen schlechteren Zeitpunkt dafür aussuchen können.«

Dannyl lachte leise. »Das ist allerdings wahr.«

»Warum ist er nicht wieder abgereist?«

Dannyl suchte nach einer Antwort auf Farands Frage. Weil Tayend die verrückte Idee hat, er könne mir helfen, den Kampf zu überleben. Weil er nicht will, dass ich allein die Zerstörung der Gilde mit ansehen muss. Weil ich ihm wichtiger bin als seine eigene Sicherheit.

Er seufzte. »Weil er nicht begriffen hat, wie gefährlich diese Ichani sind«, erklärte er Farand. »Und ich konnte ihn nicht davon überzeugen, dass Nichtmagiern ebenso große Gefahr drohen würde wie Magiern. Sind alle Elyner so halsstarrig?«

Farand lachte leise auf. »Soweit ich höre, ist das eine nationale Eigenheit.«

Sie hatten die Tür der Villa erreicht. Dannyl zog einen Schlüssel aus der Tasche, streckte die Hand nach dem Schloss aus… und erstarrte.

Die Tür stand offen.

Während er noch mit hämmerndem Herzen auf die Lücke zwischen der Tür und dem Rahmen starrte, legte Farand ihm die Hand auf die Schulter.

»Botschafter?«

»Die Tür ist nicht verschlossen. Tayend hätte sie niemals offen stehen lassen. Jemand muss hier gewesen sein.«

»Dann sollten wir wieder gehen.«

»Nein!« Dannyl holte einige Male tief Luft und drehte sich zu Farand um. »Ich muss mich davon überzeugen, dass es ihm gut geht. Ihr könnt mich begleiten oder irgendwo in der Nähe warten, bis ich wieder herauskomme. Oder Ihr könnt mich hier zurücklassen und versuchen, aus der Stadt wegzukommen.«

Farand blickte zu der Villa empor. Er atmete tief durch und straffte sich. »Ich werde Euch begleiten.«

Dannyl drückte die Tür auf. In dem Empfangsraum dahinter war niemand zu sehen. Langsam und vorsichtig schlich er durch das Haus und blickte in einen Raum nach dem anderen, konnte aber keine anderen Spuren von dem Gelehrten entdecken als eine Reisetruhe in einem der Schlafzimmer und mehrere benutzte Weingläser.

»Vielleicht ist er weggegangen, um etwas zu essen zu besorgen«, sagte Farand. »Wenn wir warten, kommt er vielleicht zurück.«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Er hätte das Haus nicht verlassen, wenn er nicht dazu gezwungen worden wäre. Nicht heute.« Er trat in die Küche, wo auf einem großen Tisch ein halbleeres Weinglas und eine Flasche standen. »Könnte ich irgendeinen Raum übersehen haben?«

Farand zeigte auf eine Tür. »Was ist mit dem Keller?«

Die Tür führte zu einer Treppe, über die man in einen großen Lagerraum voller Flaschen und Nahrungsmittel gelangte. Der Raum war verlassen. Dannyl kehrte in die Küche zurück. Farand deutete auf das halbleere Weinglas.

»Er ist in aller Eile fortgegangen«, murmelte er. »Von diesem Raum aus. Also, wenn ich hier gestanden und etwas mich veranlasst hätte, aus dem Haus zu fliehen, wohin wäre ich dann gegangen?« Er sah Dannyl an. »Der Dienstboteneingang liegt am nächsten.«

Dannyl nickte. »Dann werden wir ebenfalls in diese Richtung gehen.«


Das Grundstück der Gilde lag so still und verlassen da, wie es sonst nur in der Sommerpause der Fall war. Die Stille war jedoch zu vollkommen. Selbst während der wenigen Wochen des Jahres, in denen kein Unterricht stattfand und die meisten Magier die Gelegenheit nutzten, ihre Familien zu besuchen, war es auf dem Grundstück niemals so ruhig.

Als Rothen die Universität betrat, fragte er sich langsam, ob die Gilde tatsächlich der beste Aufenthaltsort für ihn war. Während der ganzen Reise nach Imardin hatte er keinen anderen Gedanken gehabt, als in seine vertraute Umgebung zurückzukehren. Aber jetzt stellte er fest, dass er die Sicherheit, die ihn in die Gilde gezogen hatte, hier nicht finden würde.

Aus den Gedanken von Karikos Opfern wusste er, dass die Gilde sich vor dem Palast ein letztes Mal den Ichani gestellt hatte. Sie hatten einen Sachakaner getötet, sich dabei jedoch vollkommen erschöpft. Bei Karikos folgenden Opfern hatte es sich um Palastwachen gehandelt, daher vermutete Rothen, dass die Ichani sich nach wie vor im Zentrum der Stadt aufhielten. Wohin würden sie gehen, sobald sie die Kontrolle über den Palast erlangt hatten? Rothen blieb am Eingang der Großen Halle stehen, und das Blut gefror ihm in den Adern.

Die Gilde.

Balkan weiß das, dachte er. Er wird allen den Befehl gegeben haben, die Stadt zu erlassen. Er wird wollen, dass wir uns an einem anderen Ort versammeln, unsere Energie erneuern und dann Pläne für die Rückeroberung Imardins schmieden. Ich sollte von hier fortgehen und versuchen, mich ihnen anzuschließen.

Rothen blickte zu der prächtigen Decke der Halle empor und stieß einen schweren Seufzer aus. Zweifellos würde all dies während der nächsten ein oder zwei Tage zerstört werden. Er schüttelte bekümmert den Kopf und wandte sich zum Gehen.

Zuerst glaubte er, die Ichani seien angekommen, dann erschrak er, als er die Stimmen erkannte. Er drehte sich um und eilte durch den Raum.

Vor der Gildehalle standen Balkan und Dorrien. Sie stritten miteinander, aber Rothen hielt nicht inne, um zu lauschen. Beide Männer drehten sich nach ihm um.

»Vater!«, stieß Dorrien hervor.

Eine Woge der Zuneigung und der Erleichterung schlug über Rothen zusammen. Er lebt. Dorrien kam auf ihn zugelaufen und umarmte ihn. Rothen versteifte sich, als ein scharfer Schmerz seine Schulter durchzuckte.

»Dorrien«, sagte er. »Was tust du hier?«

»Lorlen hat alle Magier nach Imardin gerufen«, antwortete Dorrien. Dann richtete er den Blick auf die Narbe an Rothens Wange, die Kariko ihm zugefügt hatte. »Vater, wir glaubten, du seist tot. Warum hast du keine Verbindung zu uns aufgenommen?« Stirnrunzelnd musterte er Rothens Schulter. »Du bist verletzt. Was ist passiert?«

»Ich war mir nicht sicher, ob ich es riskieren konnte, die Gedankenrede zu benutzen. Die Gilde hatte das Verbot verhängt und…« Rothen zögerte, denn es widerstrebte ihm, Dorrien von dem Ring zu erzählen. »Ich habe mir im Kampf die Schulter und den Arm gebrochen und die Knochen im Schlaf schlecht zusammengefügt. Aber du hast mir nicht geantwortet – oder vielleicht habe ich nicht die richtige Frage gestellt. Warum bist du in der Gilde? Hierher werden die Ichani doch gewiss als Nächstes kommen.«

Dorrien sah Balkan an. »Ich… ich habe nicht mit den anderen Magiern gekämpft. Ich habe mich bei der ersten Gelegenheit davongeschlichen.«

Rothen musterte seinen Sohn überrascht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Dorrien einem Kampf auswich. Sein Sohn war kein Feigling.

Tiefe Mutlosigkeit zeichnete sich auf Dorriens Zügen ab. »Ich habe meine Gründe«, erklärte er. »Mehr kann ich darüber nicht sagen. Ich musste schwören, Stillschweigen in dieser Angelegenheit zu wahren. Du wirst mir vertrauen müssen, wenn ich sage, dass die Ichani mich auf keinen Fall fangen dürfen. Wenn sie meine Gedanken lesen, haben wir damit unsere letzte Chance verloren, die Ichani zu töten.«

»Unsere letzte Chance haben wir bereits gehabt«, warf Balkan ein. Dann wurden seine Augen plötzlich schmal. »Es sei denn…«

Dorrien schüttelte den Kopf.

»Stellt keine Mutmaßungen an. Ich habe bereits zu viel gesagt.«

»Wenn du dir solche Sorgen machst, dass die Ichani deine Gedanken lesen könnten, warum bist du dann hier in der Gilde, die wahrscheinlich ihr nächstes Ziel sein wird?«, fragte Rothen.

»Ich habe von der Eingangshalle aus einen guten Blick auf die Tore«, erwiderte Dorrien. »Sobald ich sie kommen sehe, werde ich durch den Wald fliehen. Wenn ich in die Stadt ginge, wäre die Gefahr noch größer, dass sie mich fangen.«

»Warum brecht Ihr dann nicht sofort auf?«, wollte Balkan wissen.

Dorrien wandte sich zu ihm um. »Ich werde erst dann gehen, wenn es unbedingt sein muss. Falls das Geheimnis, das ich hüte, auf andere Weise offenbart werden sollte, möchte ich hier sein, um zu helfen.«

Balkan runzelte die Stirn. »Wenn wir mit Euch fortgingen, könntet Ihr es doch sicher wagen, uns in Euer Geheimnis einzuweihen.«

Der eigensinnige Ausdruck auf Dorriens Gesicht war Rothen nur allzu vertraut. Er schüttelte den Kopf.

»Ich schätze Eure Chancen, ihn zu überreden, nicht allzu hoch ein, Balkan. Allerdings glaube ich durchaus, dass wir fliehen sollten, sobald die Ichani hier eintreffen. Was mich auf die Frage bringt, warum Ihr in der Gilde seid?«

Die Miene des Kriegers verdüsterte sich zusehends. »Irgendjemand sollte bleiben, um das Schicksal unserer Heimat zu bezeugen.«

Rothen nickte. »Dann werden wir drei bis zum Ende hier ausharren.«


»Süßes Blutkraut«, flüsterte Faren, der eine winzige Flasche in Händen hielt. »In Wein oder Süßspeisen praktisch nicht wahrnehmbar. Es wirkt schnell, also seid bereit.«

Sonea sah den Dieb an und verdrehte die Augen.

»Was ist los?«, fragte er.

»Irgendwie überrascht es mich nicht, dass du so viel über Gifte weißt, Faren.«

Er lächelte. »Ich gestehe, dass ich mich mit dem Thema vertraut gemacht habe, um es meinen Namensvettern gleichzutun. Diese Kenntnisse waren mir bisweilen recht nützlich, aber nicht annähernd so häufig, wie du glaubst. Dein Freund aus der Gilde scheint übrigens ein besonderes Interesse an dem Thema zu haben.«

»Er ist nicht mein Freund.«

Sonea drückte abermals ein Auge gegen das Guckloch. Der Raum dahinter wurde von einem großen Esstisch beherrscht. Silbernes Besteck glänzte sanft in dem Licht, das durch zwei kleine Fenster fiel. Auf den kostbaren Tellern lagen die kalten, geronnenen Überreste eine halb verzehrten Mahls.

Sie befanden sich in einer der großen Villen des Inneren Rings. Das Esszimmer war ein kleiner, privater Raum, der neben dem Haupteingang über zwei Dienstboteneingänge verfügte. Sonea und Faren standen hinter der einen Tür, Akkarin hinter der anderen.

»Cery schien zu glauben, dass es eine besondere Verbindung zwischen euch beiden gibt«, forschte Faren weiter nach.

Sie schnaubte leise. »Er hat sich einmal erboten, Regin zu töten. Es war ein verlockendes Angebot.«

»Ah«, erwiderte Faren.

Sonea betrachtete die Gläser auf dem Tisch. In den meisten befanden sich noch Reste von Wein. In der Mitte des Tisches standen Flaschen, die teils geöffnet, teils noch verschlossen waren. Und alle waren mit Gift versetzt.

»Also, was hat unser freiwilliger Helfer getan, dass er Cery zu einem so großzügigen Angebot verleitet hat?«

»Das geht dich nichts an.«

»Ach nein? Wie interessant.«

Sonea zuckte zusammen, als plötzlich die Haupteingangstür des Esszimmers aufgerissen wurde. Regin sprang in den Raum, dann drückte er die Tür hinter sich zu. Er lief um den Tisch herum zu dem Dienstboteneingang, hinter dem Akkarin sich bereithielt. Die Hand auf dem Griff, hielt er inne.

Die Haupttür wurde abermals geöffnet. Regin tat so, als versuche er verzweifelt, die Klinke der anderen Tür herunterzudrücken. Im nächsten Moment trat einer der Ichani in den Raum, und Soneas Herz begann zu rasen. Der Mann sah zuerst Regin an, dann fiel sein Blick auf den Tisch.

»Falls der Ichani den Köder nicht schluckt, wirst du also nicht allzu begierig darauf sein, den Jungen zu retten«, murmelte Faren.

»Natürlich werde ich ihn retten«, flüsterte Sonea. »Regin ist vielleicht ein … ein … was auch immer, aber den Tod hat er gewiss nicht verdient.«

Als der Ichani sich wieder Regin zuwandte, presste der Junge sich mit totenbleichem Gesicht an die Tür. Der Ichani ging um den Tisch herum. Regin tastete sich an der Wand entlang, so dass der Tisch weiterhin zwischen ihm und dem Ichani stand.

Der Sachakaner lachte. Dann streckte er die Hand nach einem der Gläser aus und führte es an die Lippen. Nachdem er einen kleinen Schluck getrunken hatte, verzog er das Gesicht und warf das Glas achselzuckend fort. Es zersplitterte an der Wand, und eine kleine, rote Pfütze bildete sich auf dem Boden.

»War das genug?«, murmelte Sonea.

»Das bezweifle ich«, erwiderte Faren. »Aber er ist auf den Geschmack gekommen und wird vielleicht etwas Frischeres wollen.«

Der Ichani ging langsam um den Tisch herum. Regin wich zurück. Plötzlich machte er einen Satz nach vorn und griff sich eine der Weinflaschen. Der Ichani kicherte, als Regin drohend auf ihn zukam, dann machte er eine schnelle Handbewegung. Regin taumelte, als habe er einen schweren Schlag erhalten, und fiel mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch.

Der Ichani packte Regin im Nacken und drückte ihn hinunter. Sonea wollte nach der Türklinke greifen, aber Faren hielt ihre Hand fest.

»Warte«, flüsterte er.

Der Sachakaner nahm Regin die Flasche ab und musterte sie. Der Korken rutschte langsam heraus und fiel zu Boden. Dann hob der Mann die Flasche an die Lippen und trank gierig mehrere Schlucke. Faren seufzte erleichtert auf.

»Reicht das?«, fragte Sonea beinahe unhörbar.

»Oh ja.«

Regin wand sich auf dem Tisch, und Teller und Besteck flogen durch die Luft, während er sich gegen den Griff des Ichani zur Wehr setzte. Der Sachakaner nahm noch einen Schluck aus der Flasche, dann zerschlug er sie an der Tischkante und hob sie über Regins Kopf.

»Das ist nicht gut«, sagte Faren. »Wenn er Regin damit schneidet, wird das Gift -«

Die Tür hinter dem Ichani wurde geöffnet. Soneas Herz setzte einen Schlag aus, aber Akkarin trat nicht in den Raum, sondern verbarg sich weiterhin. Als der Ichani das Geräusch hörte, fuhr er herum und starrte die geöffnete Tür an.

»Gut. Das wird ihn noch ein Weilchen aufhalten«, murmelte Faren.

Sonea hielt den Atem an. Der Türgriff unter ihrer Hand war feucht geworden von ihrem Schweiß. Wenn sie und Akkarin sich dem Ichani zeigten, würde er Kariko verständigen. Es wäre erheblich besser, wenn der Mann stattdessen an der Droge starb.

»Es fängt an«, sagte Faren leise.

Der Ichani ließ Regin plötzlich los und taumelte rückwärts. Während der Mann sich den Leib hielt, richtete Regin sich auf und rannte durch die Haupttür hinaus.

Kariko!

Rikacha?

Ich bin… ich bin vergiftet worden!

Kariko antwortete nicht. Der Ichani fiel auf die Knie und krümmte sich. Ein langgezogenes, tiefes Stöhnen entrang sich seiner Kehle, dann erbrach er rote Flüssigkeit. Sonea schauderte, als ihr klar wurde, dass es Blut war.

»Wie lange wird es dauern, bis er tot ist?«, fragte sie.

»Fünf Minuten, vielleicht zehn.«

»Und das nennst du schnell?«

»Ich hätte Roin verwenden können. Das geht schneller, ist aber bitterer.«

Jetzt erschien Akkarin in der geöffneten Tür. Er starrte auf den Mann hinab, dann zog er sein Hemd aus.

»Was tut er da?«, fragte Faren.

»Ich glaube…« Dann nickte Sonea, als Akkarin vortrat und dem Mann das Hemd um den Kopf schlang. Der Ichani stieß einen überraschten Schrei aus und versuchte, sich von dem Kleidungsstück zu befreien.

Sonea.

Akkarins Gedankenstimme klang anders durch den Ring – klarer. Sie öffnete die Tür und eilte an seine Seite.

Halt das hier für mich fest.

Sie griff nach dem Hemd und tat, was Akkarin verlangt hatte. Der Mann wehrte sich nach wie vor, aber seine Bewegungen waren ohne jede Kraft. Akkarin zog sein Messer, ritzte den Arm des Ichani auf und presste die Hand auf die Wunde.

Sonea spürte, wie der Sachakaner erschlaffte. Es dauerte nicht lange, bis Akkarins Griff sich wieder löste. Als sie das Hemd losließ, sackte der Tote zu Boden. Eine Welle der Übelkeit schlug über ihr zusammen.

Das war grauenhaft.

Akkarin sah Sonea an.

Ja. Aber zumindest ist es schnell gegangen.

»Es hat funktioniert. Gut.«

Sie blickten beide auf; Regin war in den Raum getreten. Er musterte den toten Ichani voller Befriedigung.

»Ja«, stimmte Sonea ihm zu. »Aber wir werden es nicht noch einmal tun können. Er hat den anderen Ichani mitgeteilt, dass er vergiftet wurde. Sie werden kein zweites Mal auf den gleichen Trick hereinfallen.«

»Trotzdem bin ich dir dankbar für deine Hilfe«, fügte Akkarin hinzu.

Regin zuckte die Achseln. »Einen dieser Bastarde sterben zu sehen ist mir Dank genug.« Er griff sich an die Kehle und schnitt eine Grimasse. »Allerdings tut es mir nicht leid zu hören, dass ich das nicht noch einmal machen muss. Er hätte mir beinahe das Genick gebrochen.«


Jeder Mensch sollte ein Ziel haben, sagte sich Cery, als er zwischen die zerstörten Tore trat. Meins ist recht bescheiden: Ich will lediglich einmal in allen wichtigen Häusern in Imardin gewesen sein.

Er war stolz darauf, dass es ihm, obwohl er noch keine zwanzig war, gelungen war, in nahezu jedes wichtige Gebäude in der Stadt einzudringen. Als Diener verkleidet, war es ihm nicht weiter schwer gefallen, in die exklusiven Bereiche der Rennbahn vorzudringen, und seine Fingerfertigkeit im Umgang mit Schlössern hatte ihm Zutritt zu einigen der Villen in der Inneren Stadt verschafft. Dank Sonea war er auch in der Gilde gewesen, obwohl er es vorgezogen hätte, wenn er seinen Erfolg seinen eigenen Fähigkeiten zu verdanken gehabt hätte, statt der Gefangennahme durch einen Ränke schmiedenden, bigotten Magier.

Als er den Innenhof durchquerte, konnte er sich eines Lächelns nicht erwehren. Der Palast war das einzige wichtige Gebäude in Imardin, in das er sich noch niemals hatte hineinschleichen können. Jetzt, da die Wache besiegt war und die schweren Palasttore schief in ihren Angeln hingen, würde niemand ihn daran hindern, sich einmal näher umzusehen.

Nicht einmal die Ichani. Den Spähern zufolge, die die Diebe postiert hatten, waren die Sachakaner vor einer Stunde aus dem Palast aufgebrochen. Sie hatten sich nur etwa ein oder zwei Stunden in dem Gebäude aufgehalten und konnten in dieser kurzen Zeit nicht alles zerstört haben.

Er stieg über die verkohlten Leichen etlicher Wachen und spähte durch die aufgebrochenen Türen des Gebäudes. Dahinter lag eine große Eingangshalle. Elegante Treppen schlängelten sich zu den höheren Stockwerken hinauf. Cery stieß einen anerkennenden Seufzer aus. Während er weiterging, fragte er sich, warum die Ichani diese Treppen nicht zerstört hatten. Vielleicht wollten sie ihre Kräfte nicht verschwenden. Oder aber sie hatten die Treppen vernünftigerweise stehen lassen, um die oberen Stockwerke erreichen zu können.

Cery blickte auf das Symbol des Mullook auf dem Fußboden. Er bezweifelte, dass sich der König noch im Palast aufhielt. Der Herrscher hatte Imardin wahrscheinlich gleich nach dem Fall der Inneren Mauer verlassen.

»Avala dürfte ein Problem werden.«

»Wahrscheinlich. Sie streift gern umher. Ich nehme an, dass ihre Streifzüge sie schon bald aus Kyralia wegführen werden.«

»Hat wahrscheinlich ein Auge auf Elyne geworfen.«

Cery fuhr herum. Die Stimmen gehörten eindeutig Sachakanern und kamen von irgendwo jenseits des Palasteingangs. Er suchte nach einem möglichen Versteck, dann rannte er zu einem Bogengang im hinteren Teil der Halle. Kaum war er hindurchgeschlittert, hörte er auch schon das Echo ihrer Schritte auf dem Fußboden der Halle.

»Wir alle haben Rikachas Ruf gehört, Kariko«, sagte eine dritte Stimme. »Wir wissen, wie er gestorben ist. Er war ein Narr, von ihrem Essen zu nehmen. Ich verstehe nicht, warum wir hierher zurückkommen mussten, um über seinen Fehler zu sprechen, und Avala und Inijaka sind wahrscheinlich ebenfalls meiner Meinung.«

Cery lächelte. Also hatte Farens bösartige kleine List funktioniert.

»Weil wir schon drei unserer Leute verloren haben«, erwiderte Kariko. »Wenn noch mehr hinzukommen, könnte das mehr sein als bloßes Pech.«

»Pech?«, höhnte der erste Ichani. »Rashi hat die Gilde erwischt, weil er schwach war. Und Vikara könnte noch am Leben sein. Wir wissen nur, dass unsere Sklaven tot sind.«

»Vielleicht«, pflichtete Kariko ihm bei. Er klang geistesabwesend. »Aber da ist noch etwas, das ich euch zeigen will. Seht ihr diese Treppen? Sie wirken zerbrechlich, nicht wahr? Als könnten sie unmöglich ihr eigenes Gewicht tragen. Wisst ihr, wie sie dafür sorgen, dass sie nicht einstürzen?«

Es kam keine Antwort.

»Sie geben Magie hinein. Seht Euch das an.«

Stille folgte, dann ein leises Klirren. Das Geräusch wurde lauter, bis in der Halle plötzlich ein Krachen und Splittern zu hören war. Cery keuchte und spähte durch den Bogengang. Die Treppen brachen zusammen. Als Kariko ein Geländer nach dem andern berührte, gaben die zarten Gebilde unter seinen Händen nach und fielen zu Boden. Einer der Splitter glitt in Cerys Richtung. Ein Ichani blickte zu dem Bogengang hinüber, und Cery wich hastig zurück.

An die Wand gelehnt, schloss er die Augen. Es tat ihm bis in die Seele weh, dass etwas so Schönes so achtlos zerstört worden war. Aus der Halle hörte er Karikos Lachen.

»Sie lassen Magie in ihre Gebäude fließen, um sie zu stärken. Die Hälfte der Häuser in der Stadtmitte sind so gemacht. Welche Rolle spielt es, dass die Stadt verlassen ist? Wir können alle Magie, die wir benötigen, aus den Gebäuden ziehen.« Er senkte die Stimme. »Lasst die anderen für ein Weilchen umherstreifen. Wenn sie hierher zurückgekehrt wären, wie ich sie angewiesen hatte, wüssten sie das jetzt ebenfalls. Kommt mit mir, und wir werden feststellen, wie viel Energie die Gilde uns übrig gelassen hat.« Dann erklangen Schritte, die plötzlich wieder innehielten. »Harikava?«

»Ich will mich vorher hier noch ein wenig umsehen. Hier wimmelt es wahrscheinlich von mit Magie verstärkten Bauten.«

»Denk nur daran, dass du nichts essen darfst«, sagte der dritte Ichani.

Harikava kicherte. »Natürlich.«

Cery lauschte, während die Schritte sich entfernten und schließlich verklangen – aber nur zwei der Ichani waren gegangen. Die Schritte des dritten näherten sich langsam Cerys Versteck.

Er kommt hierher, dachte er erschrocken.

Als er sich umsah, stellte er fest, dass er in einem großen Raum war. Mehrere Bogengänge unterbrachen die Wände links und rechts von ihm. Er eilte zu der Tür, die ihm am nächsten war. Ein Flur, den an jedem Bogengang weitere, schmalere Flure kreuzten, verlief parallel zu dem Raum. Cery sah sich vorsichtig um.

In dem Raum hinter ihm stand der Ichani. Der Mann schaute sich kurz um, dann blickte er in Cerys Richtung. Als er sich dem Bogengang näherte, wurde Cerys Mund trocken.

Woher weiß er, dass ich hier bin?

Er hatte keine Lust zu warten, um es herauszufinden. Ohne länger zu zögern, drehte er sich um und floh tiefer in den Palast hinein.

36 Rettung von unerwarteter Seite

Ein fernes Dröhnen hallte durch den Tunnel. Akkarin tauschte einen Blick mit Sonea, dann ging er zu einem Lüftungsschacht in der Mauer. Sie behielt die Gasse auf der anderen Seite im Auge und lauschte aufmerksam. Normalerweise hätte dort das stetige Summen eifriger Betriebsamkeit geherrscht, aber stattdessen lag eine unheimliche Stille über allem.

Akkarin runzelte die Stirn, dann bedeutete er ihrem Führer, weiterzugehen. Nach mehreren Minuten war nur noch das leise Geräusch ihres Atems und das Tappen ihrer Stiefel auf dem Boden zu hören. Plötzlich blieb Akkarin stehen und richtete den Blick in die Ferne.

»Takan sagt, die Boten hätten gemeldet, dass Kariko den Palast wieder verlassen habe. Die Ichani zerstören zahlreiche Bauwerke.«

Sonea dachte an das schwache Dröhnen, das sie gehört hatte, und nickte. »Sie vergeuden ihre Kraft.«

»Ja.« Er lächelte und ein altvertrauter, räuberischer Glanz trat in seine Augen.

Schritte, die langsam näher kamen, lenkten ihre Aufmerksamkeit auf eine schemenhafte Gestalt weiter unten in den Tunneln.

»Haltet Ihr nach dem Fremden Ausschau?« Die Stimme klang alt und gehörte einer Frau. »Er ist soeben in ein Haus ganz in der Nähe eingebrochen.«

Akkarin wandte sich der alten Frau zu. »Was kannst du mir über das Gebäude sagen?«

»Es ist ein Besitz des Hauses Arran«, erklärte sie. »Mit einem großen Stall, einem Garten auf der Vorderseite und einem weiteren Haus auf der anderen Seite. Rundherum mit Mauern umgeben. Keine Tunnel darunter. Ihr müsst von der Straße aus hineingehen.«

»Wie viele Eingänge?«

»Zwei. Der Haupteingang vorn und ein Tor zum Garten. Der Fremde ist durch die Vorderseite hinein.«

»Welcher Eingang ist für uns der nächste?«

»Das Tor.«

Akkarin sah Sonea an. »Dann werden wir in diese Richtung gehen.«

Die alte Frau nickte. »Folgt mir.«

Als sie sich erneut auf den Weg durch die Tunnel machten, berührte Sonea den Ring an ihrem Finger.

Was hast du vor?

Ich bin mir noch nicht sicher. Aber ich denke, dies könnte der richtige Zeitpunkt sein, um deine Methode anzuwenden.

Meine Methode? Du meinst heilende Magie?

Ja.

Dann sollte ich es tun. Dich wird er wahrscheinlich erkennen, mich vielleicht nicht.

Akkarin runzelte die Stirn, antwortete jedoch nicht. Die Frau brachte sie zu einer kleinen Tür, durch die sie sich nacheinander hindurchzwängten. Auf der anderen Seite befand sich ein Raum, in dem zahlreiche Fässer lagerten.

»Wir sind in einem Haus auf der anderen Straßenseite«, erklärte die Frau. »Ihr braucht nur über diese Treppe zu gehen und das Haus durch die Tür am Ende der Halle wieder zu verlassen.« Sie lächelte grimmig. »Viel Glück.«

Sonea und Akkarin befolgten die Anweisungen der Frau und kamen kurz darauf zu einem massiven Dienstboteneingang. Das Schloss war aufgebrochen. Akkarin spähte hindurch, dann drückte er die Tür auf. Sie kamen in eine Straße, wie sie für den Inneren Ring so typisch war. Auf der anderen Seite ragte eine schlichte Mauer empor, in die zwei große Holztore eingelassen waren. Akkarin eilte darauf zu und blickte durch die schmale Lücke zwischen den Toren.

»Das Haus hat zwei Eingänge vom Innenhof aus«, sagte er. »Wir nehmen den, der uns am nächsten ist.«

Er konzentrierte sich einen Moment lang auf das Schloss, das sofort aufsprang. Sonea folgte ihm und zog das Tor hinter sich zu. Sie gelangten in einen großen, rechteckigen Innenhof. Auf der linken Seite lag ein langgestrecktes Gebäude mit mehreren breiten Toren – der Stall. Rechts befand sich ein zweistöckiges Haus. Akkarin lief darauf zu, und nachdem er auch dieses Schloss mit Magie geöffnet hatte, schlüpften sie durch die Tür.

Dahinter lag ein schmaler Flur. Akkarin bedeutete Sonea, sich leise zu verhalten. In dem Stockwerk über ihnen waren ein fernes Knarren und Schritte zu hören.

Als Sonea aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, wandte sie sich einem kleinen Fenster neben der Tür zu. Dann stockte ihr der Atem. Zwei Magier und ein kostbar gewandeter Mann näherten sich den Ställen.

Akkarin trat neben sie. Inzwischen hatten die drei Männer eins der großen Tore erreicht. Der Begleiter der Magier riss mit mehr Kraft, als notwendig gewesen wäre, die Tür auf, so dass sie gegen die Wand schlug.

Über ihnen wurden hastige Schritte laut. Die drei Männer verschwanden im Stall, ohne das Tor hinter sich zu schließen. Stille folgte. Soneas Mund wurde trocken, als weitere Schritte aus dem oberen Stockwerk erklangen. Es folgte eine Pause, dann wurde eine Tür geschlossen, und einer der Ichani schlenderte in den Hof. In der Mitte des Hofs blieb er stehen und sah sich aufmerksam um. Als er die offene Stalltür entdeckte, ging er darauf zu.

»Es gefällt mir zwar nicht, aber du hast Recht. Inijaka wird mich erkennen«, murmelte Akkarin. »Wir haben keine Zeit, uns einen besseren Plan auszudenken.«

Ein Frösteln überlief Sonea. Dann lag es jetzt also an ihr. All die verschiedenen Möglichkeiten, wie ihre Strategie scheitern konnte, schossen ihr durch den Kopf. Wenn der Ichani sich mit einem Schild schützte und sie ihn nicht berühren konnte, wenn sie ihre heilende Magie nicht würde einsetzen können und…

»Wirst du zurechtkommen?«

»Ja«, antwortete sie. Der Ichani war bereits im Stall verschwunden.

Akkarin holte tief Luft, dann öffnete er ihr die Tür. »Ich werde zuschauen. Wenn es nicht funktioniert, errichte einen Schild. Dann werden wir offen gegen ihn kämpfen.«

Sonea nickte, trat in den Hof hinaus und eilte auf das Stalltor zu. Sie spähte hinein und versuchte, in dem schwachen Licht Einzelheiten zu erkennen. Eine Gestalt bewegte sich durch einen breiten Gang zwischen den Boxen. Der Ichani, vermutete sie. Einen Moment später war er hinter einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite verschwunden.

Als Sonea ihm folgen wollte, traten drei Männer hastig aus einer der Boxen. Sie sahen sie und erstarrten. Gleichzeitig erkannte Sonea das Gesicht des kostbar gewandeten Mannes und schnappte nach Luft.

Du hast mir nicht gesagt, dass es der König ist!

Der Herrscher Kyralias musterte sie von Kopf bis Fuß, dann weiteten sich seine Augen, als er sie ebenfalls erkannte. Eine Mischung aus Abneigung und Zorn stieg in ihr auf, dann eine Erinnerung an die Gildehalle. An den König, wie er ihre Verbannung durch die Gilde gebilligt hatte. Dann dachte sie an die Säuberung und an ihre Familie, die durch diese Maßnahme in die Hüttenviertel getrieben worden war. Sie dachte an die Hüttenleute, die sich in den Tunneln versteckten und die niemand vor der bevorstehenden Invasion gewarnt hatte.

Warum sollte ich mein Leben für diesen Mann aufs Spiel setzen?

Kaum war ihr die Frage durch den Kopf gegangen, hasste sie sich schon dafür. Sie konnte niemanden an die Ichani ausliefern, wie sehr sie den Betreffenden auch verabscheute. Sie straffte die Schultern und trat beiseite.

»Geht«, sagte sie.

Die drei Männer eilten an ihr vorbei. Kurz nachdem sie außer Sicht waren, hörte Sonea aus dem Raum hinter der gegenüberliegenden Mauer ein Geräusch. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass der Ichani zurückgekehrt war. Sein Blick traf den ihren, und er lächelte.

Es fiel ihr nicht schwer, Entsetzen vorzutäuschen, als er auf sie zukam. Sie wich zur Tür zurück und spürte das Brennen einer Barriere. Der Ichani machte eine knappe Handbewegung, und eine unsichtbare Macht zwang Sonea, auf ihn zuzugehen. Sie widerstand dem Drang, den Zauber abzuwehren, und stolperte auf den Mann zu. Als sie nur noch einen Schritt von ihm entfernt war, musterte er sie abschätzend.

»Es gibt also doch einige kyralische Frauen hier«, sagte er.

Sonea presste die Arme an den Leib und wehrte sich gegen den Zauber, der sie festhielt. Als der Ichani schließlich so nahe war, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte, begann ihr Herz zu rasen. Der Sachakaner ließ die Hände unter ihr Hemd gleiten. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass sich seine Miene zu einem lüsternen Grinsen verzog.

Eine Woge der Panik strömte durch sie hindurch. Sie konnte sich nicht bewegen, daher konnte sie ihn nicht berühren. Wenn sie ihn nicht berühren konnte, konnte sie ihre heilende Magie nicht gegen ihn einsetzen. Und es konnte jetzt nicht mehr lange dauern, bis er die schwarzen Roben entdeckte, die sie unter ihren gewöhnlichen Kleidern trug.

Kämpf gegen ihn, drängte Akkarin sie.

Sie sandte eine Welle der Kraft aus. Die Augen des Ichani weiteten sich vor Überraschung, als er plötzlich zurückgestoßen wurde. Sonea setzte ihm nach und griff ihn an. Sofort hob er die Hände und sandte seinerseits einen Zauber aus. Soneas Schild erbebte, und sie taumelte rückwärts.

Der Sachakaner lachte. »Es waren also tatsächlich Roben, die ich unter diesem Hemd gespürt habe. Ich hatte mich schon gefragt, wo all die Magier geblieben sind.«

Hoffnung stieg in Sonea auf. Er hielt sie für eine gewöhnliche Magierin der Gilde. Sie konnte also immer noch so tun, als sei sie erschöpft, und ihn überlisten.

Ich bin direkt hinter der Tür, sandte Akkarin. Was soll ich tun?

Warte, antwortete sie.

Als der Ichani sie erneut angriff, ließ sie sich rückwärts treiben, bis sie gegen die Wand prallte. Er kam näher, und bei seinem vierten Zauber ließ sie ihren Schild wanken. Als der Schild in sich zusammenbrach, lächelte der Sachakaner boshaft, holte sein Messer hervor und klemmte es sich zwischen die Zähne.

Sie machte einen Schritt zur Seite, als wolle sie ihm ausweichen. Er packte ihren Arm und drückte sie mit der anderen Hand an die Mauer. Sie umklammerte sein Handgelenk, schloss die Augen und sandte ihren Geist in seinen Körper.

Sie fand sein Herz, gleichzeitig zuckte jedoch ein scharfer Schmerz durch ihren Arm. Da ihr klar war, dass sie sich nicht gleichzeitig heilen und ihrem Widersacher Schaden zufügen konnte, konzentrierte sie sich auf sein Herz. Was konnte er schließlich tun, wenn es erst einmal zu schlagen aufgehört hatte?

Während sein Griff sich verstärkte, schickte sie ihre Energie tiefer in seinen Körper hinein. Dann hörte sie ihn vor Schmerz aufkeuchen und sah, wie sein Gesicht bleich wurde. Er starrte sie anklagend an, ohne jedoch von ihr abzulassen.

Plötzlich breitete sich ein schreckliches Gefühl der Taubheit von ihrem Arm ausgehend in ihrem Körper aus. Obwohl sie sich zu bewegen versuchte, gehorchten ihre Muskeln ihr nicht. Gleichzeitig spürte sie, wie ihre magische Stärke mit erschreckender Geschwindigkeit aus ihr abfloss. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr, aber sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, ihre Blickrichtung zu ändern. Dann hörte der Abfluss von Energie abrupt auf. In den Zügen des Ichani traten Verwirrung und schließlich Entsetzen an die Stelle des Zorns. Sie sah, dass das Messer ihm entglitt. Er ließ sie los und umklammerte seine Brust.

Im gleichen Moment kehrten Soneas Kräfte zurück. Sie griff nach dem Messer und ritzte mit der Klinge die Kehle des Sachakaners auf. Während das Blut aus der Wunde spritzte, presste sie ihm eine Hand auf den Hals und sog seine Kraft in sich hinein.

Energie durchströmte sie, wenn auch nicht so viel, wie sie Parika entzogen hatte. Der Kampf mit der Gilde hatte diesen Ichani geschwächt. Als seine Kraft verebbte, stürzte er zu Boden und blieb reglos liegen.

Hinter ihm stand Akkarin, einen eigenartigen Ausdruck in den Augen. Sie blickte auf ihre blutbespritzten Kleider hinab und schauderte angewidert.

Wenn das alles vorüber ist, dachte Sonea, werde ich diese Macht nie wieder benutzen. Nie wieder.

»Ich habe genauso empfunden, als ich aus Sachaka zurückkam.«

Sie sah zu ihm auf. Er hielt ihr die Hand hin.

»Es muss irgendwelche Kleider im Haus geben, die du anziehen kannst«, sagte er. »Komm, lass uns zusehen, dass wir dich wieder sauber bekommen.«

Trotz seiner Hilfe fiel es ihr schwer aufzustehen. Obwohl sie nicht müde war, zitterten ihre Beine heftig. Einen Moment lang taumelte sie. Dann fiel ihr Blick auf den toten Ichani, und Erleichterung verdrängte das Entsetzen. Es hat funktioniert. Und er hatte keine Chance, Kariko zu warnen. Sie hatte überlebt, und sie hatte sogar…

»Was ist mit dem König?«, fragte sie.

»Ich habe ihn in das Haus auf der anderen Straßenseite geschickt, und Takan hat Ravi Bescheid gegeben, dass er sich bereithalten soll, ihn zu empfangen.«

Als sie sich diese Begegnung vorstellte, hellte Soneas Stimmung sich ein wenig auf. »Der König wird von den Dieben gerettet. Also, das hätte ich mir gern angeschaut.«

Akkarins Mundwinkel zuckten. »Diese Wendung der Ereignisse wird sicher interessante Konsequenzen nach sich ziehen.«

Cery lief durch den nächsten Flur und kam schlitternd vor einer Tür zum Stehen. Er versuchte, die Klinke herunterzudrücken. Abgeschlossen. Er ging zu der nächsten Tür weiter. Das Gleiche. Die Schritte hinter ihm wurden lauter. Er stürzte zu der Tür am unteren Ende des Flurs und keuchte vor Erleichterung auf, als sich die Klinke herunterdrücken ließ.

Dahinter lag ein langgestreckter Raum, dessen Fenster auf die Gärten in der Mitte des Palastes hinausgingen. Cery lief an mit Gold und mit üppigen Stoffen geschmückten Sesseln vorbei zu einer weiteren Tür. Savaras Anhänger schlug unter seinen Kleidern gegen seine Brust.

Bitte, lass die Tür nicht abgeschlossen sein, dachte er. Bitte, lass mich nicht in eine Sackgasse laufen.

Er legte die Hand auf den Griff, der sich jedoch nicht herunterdrücken ließ. Fluchend tastete er nach den Dietrichen in seinem Mantel. Er zog sie heraus, dankbar dafür, dass er sich niemals von der Angewohnheit abgewandt hatte, sie bei sich zu tragen. Dann wählte er zwei davon aus, schob sie in das Loch und versuchte, ein Gefühl für den Mechanismus zu bekommen.

Die Schritte hinter ihm kamen immer näher. Sein Herz raste, sein Mund war trocken, und seine Hände waren schweißnass. Er atmete tief durch, dann drehte er den Dietrich kurz im Schloss und drückte.

Das Schloss sprang auf. Cery zog den Dietrich heraus, drückte die Tür auf und stürzte hindurch. Kurz bevor sie hinter ihm zufallen konnte, hielt er inne und schloss sie so leise wie möglich.

Er war in einen winzigen Raum voller Spiegel, kleiner Tische und Stühle gelangt. Ein Umkleideraum für Schausteller, vermutete er. Weitere Eingänge als den, durch den er gekommen war, gab es nicht. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das Schloss und machte sich daran, es wieder zuschnappen zu lassen.

Jetzt, da er den Mechanismus kannte, konnte er zügiger arbeiten. Als die Tür gesichert war, stieß Cery einen erleichterten Seufzer aus, ging zu einem der Stühle hinüber und setzte sich.

Als er Schritte auf der anderen Seite der Tür hörte, löste sich seine Erleichterung jäh in nichts auf. Wenn Harikava ihm gefolgt war, musste er wissen, dass Cery nur durch diese eine Tür verschwunden sein konnte – sei sie nun verschlossen oder nicht. Cery stand auf und ging auf eines der kleinen Fenster zu. Es musste doch irgendeine Fluchtmöglichkeit geben.

Dann klickte das Schloss und Cery erstarrte.

Die Tür schwang mit einem leisen Knarren auf. Der Ichani spähte hinein. Als er Cery entdeckte, lächelte er.

»Da bist du ja.«

Cery wich von der Tür zurück. Er schob die Hände in die Taschen seines Mantels und umfasste die Griffe seiner Messer.

Es ist sinnlos, dachte er und blickte zu den Fenstern hinüber. Ich werde es niemals bis dorthin schaffen. Er wird mich aufhalten.

Der Ichani kam näher.

Wenn er mich fängt, wird er meine Gedanken lesen. Er wird von Sonea und Akkarin erfahren.

Cery schluckte und löste die Messer aus ihren Scheiden. Aber er kann meine Gedanken nicht lesen, wenn ich bereits tot bin.

Als der Ichani den nächsten Schritt machte, geriet Cerys Entschlossenheit ins Wanken. Ich kann es nicht. Ich kann mich nicht selbst töten. Er starrte den Ichani an. Die Augen des Mannes waren kalt und räuberisch.

Was macht das für einen Unterschied? Ich werde ohnehin sterben.

Er holte zweimal tief Luft, dann zog er die Messer hervor.

Nein, Cery! Tu es nicht!

Als die Stimme in seinen Gedanken erklang, erstarrte Cery. War das die Furcht, die da zu ihm sprach? Wenn ja, dann hatte sie die Stimme einer Frau. Eine Stimme wie…

Harikava drehte sich um, und seine Augen weiteten sich. Cery hörte schnelle Schritte. Als kurz darauf eine Frau in die Tür trat, schnappte er überrascht nach Luft.

»Lass ihn in Ruhe, Harikava«, sagte Savara herrisch. »Der da gehört mir.«

Der Ichani wich vor ihr zurück. »Was hat deinesgleichen hier zu suchen?«, stieß er hervor.

Sie lächelte. »Jedenfalls haben wir nicht die Absicht, Ansprüche auf Kyralia zu erheben, wie du wahrscheinlich befürchtest. Nein, wir sind lediglich als Beobachter hier.«

»Das behauptest du.«

»Du bist nicht in der Position, etwas anderes zu behaupten«, sagte sie und trat in den Raum. »Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich jetzt gehen.«

Der Sachakaner beobachtete, wie sie sich Cery näherte, dann verließ er den Raum.

»Kariko wird deinesgleichen hier nicht dulden«, sagte er, als er draußen angekommen war. »Er wird dich jagen und zur Strecke bringen.«

»Bis er die Zeit dazu findet, werde ich lange fort sein.«

Die Schritte des Ichani entfernten sich, dann hörte Cery die Tür in dem benachbarten Raum zufallen. Savara sah Cery an.

»Er ist weg. Das war knapp.«

Er starrte sie fassungslos an. Sie hatte ihn gerettet. Irgendwie hatte sie gewusst, dass er in Schwierigkeiten war, und sie war gerade rechtzeitig erschienen. Aber wie war das möglich? War sie ihm gefolgt? Oder war sie dem Ichani gefolgt? Erleichterung schlug in Zweifel um, als er noch einmal über ihre Worte nachdachte. Der Ichani hatte Angst vor ihr gehabt. Plötzlich war er sich ziemlich sicher, dass er sie ebenfalls fürchten sollte.

»Wer bist du?«, flüsterte er.

Sie hob die Schultern. »Eine Dienerin meiner Leute.«

»Er… er ist davongelaufen. Vor dir. Warum?«

»Unsicherheit. Er hat heute sehr viel von seiner Energie verbraucht und weiß nicht, ob er mich besiegen könnte.« Sie lächelte und kam auf ihn zu. »List ist immer die befriedigendste Methode, um einen Kampf zu gewinnen.«

Cery wich zurück. Sie hatte ihm soeben das Leben gerettet. Er hätte ihr danken sollen. Aber irgendetwas an alledem war einfach zu seltsam. »Er hat dich erkannt. Und du kanntest seinen Namen.«

»Er hat erkannt, was ich bin, nicht wer ich bin«, korrigierte sie ihn.

»Und? Was bist du?«

»Deine Verbündete.«

»Nein, das bist du nicht. Du hast behauptet, du wolltest uns helfen, aber du tust nichts, um die Ichani aufzuhalten, obwohl du stark genug dafür wärst.«

Ihr Lächeln erlosch. Sie musterte ihn ernst, dann wurde ihre Miene hart. »Ich tue alles, was ich kann, Cery. Was braucht es, um dich davon zu überzeugen? Würdest du mir vertrauen, wenn ich sagte, dass ich schon seit einiger Zeit von Akkarins und Soneas Rückkehr nach Imardin weiß? Und ich habe niemandem davon erzählt.«

Cerys Herz setzte einen Schlag aus. »Wie hast du das herausgefunden?«

Sie lächelte, dann wanderte ihr Blick zu seiner Brust hinunter. »Ich habe meine Methoden.«

Weshalb dieser Blick auf seine Brust? Dann fiel ihm der Anhänger wieder ein. Er griff unter sein Hemd und zog ihn hervor. Ihre Augen flackerten, und ihr Lächeln erstarb.

Welche Art von magischem Potenzial hatte das Schmuckstück? Während er den glatten Rubin in der Mitte des Insekts betrachtete, kroch ihm ein Schauer über den Rücken. Sonea und Akkarin hatten Ringe füreinander geschaffen. Ringe mit roten Glassteinen…

»Mit diesen Ringen werden wir in der Lage sein, in die Gedanken des anderen zu sehen…«

Er musterte den Rubin. Wenn dies ein Blutstein war, dann hatte Savara seine Gedanken gelesen… und er hatte den Schmuck getragen, seit Akkarin und Sonea wieder in Imardin waren.

Wie sonst hätte Savara von ihrer Anwesenheit in der Stadt erfahren können?

Er zog sich die Kette über den Kopf und warf sie weg.

»Ich bin tatsächlich ein Narr gewesen, dir zu vertrauen«, sagte er verbittert.

Sie sah ihn traurig an. »Ich weiß über Sonea und Akkarin Bescheid, seit ich dir diesen Anhänger gegeben habe. Habe ich die beiden an die Ichani verraten? Nein. Habe ich diese Information benutzt, um dich zu bestechen? Nein. Ich habe dein Vertrauen nicht ausgenutzt, Ceryni. Es verhält sich umgekehrt.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast mir versprochen, mich über den Fortgang der Dinge auf dem Laufenden zu halten. Im Gegenzug dafür habe ich dir Ratschläge gegeben, wie man Magier töten kann. Trotzdem hast du vieles vor mir verborgen, was ich hätte wissen müssen. Meine Leute haben in Sachaka nach Akkarin und Sonea gesucht. Sie wollten dem ehemaligen Hohen Lord helfen, Kyralia von den Ichani zurückzuerobern. Wir wollen genauso wenig wie du, dass Kyralia unter die Herrschaft Karikos fällt.«

Cery starrte sie an. »Wie kann ich dir das glauben?«

Savara seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nur bitten, mir zu vertrauen. Es ist zu schwierig, das zu beweisen… Aber ich denke, du bist an die Grenze deines Vertrauens gestoßen.« Sie lächelte kläglich. »Was sollen wir nun miteinander anfangen?«

Er hatte keine Antwort auf diese Frage. Stattdessen betrachtete er den Anhänger und kam sich töricht und betrogen vor. Aber die Traurigkeit, die er in ihren Augen sah, wirkte echt. Er wollte nicht, dass sie im Bösen auseinander gingen.

Aber vielleicht gab es keine andere Möglichkeit. »Du und ich, wir haben Abkommen und Geheimnisse, die wir nicht preisgeben dürfen, und Menschen, die wir beschützen müssen«, sagte er langsam. »Ich habe das respektiert, im Gegensatz zu dir.« Wieder blickte er auf den Anhänger hinab. »Du hättest mir das nicht antun dürfen. Ich weiß, warum du es getan hast, aber deswegen ist es trotzdem nicht richtig. Indem du mir diese Kette geschenkt hast, hast du es mir unmöglich gemacht, meine Versprechen zu halten.«

»Ich wollte deine Leute schützen.«

»Ich weiß.« Er brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Und auch das kann ich respektieren. Solange unsere Länder gegeneinander Krieg führen, dürfen wir unsere Gefühle nicht über die Sicherheit der Menschen stellen, die uns vertrauen. Also lass uns abwarten, wie die Dinge sich entwickeln. Wenn alles vorbei ist, werde ich dir vielleicht verzeihen. Bis dahin werde ich auf meiner Seite bleiben. Mehr kannst du nicht von mir erwarten.«

Sie senkte den Blick, dann nickte sie. »Ich verstehe.«


Der Dienstboteneingang von Zerrends Villa führte in eine Gasse, die gerade breit genug für einen Wagen war. Die Tür war geschlossen, aber das Schloss war aufgebrochen worden.

Von Tayend war keine Spur zu sehen – und auch von niemand anderem.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Farand.

»Ich weiß es nicht«, gestand Dannyl. »Ich möchte hier bleiben, falls er zurückkommt. Aber er könnte auch dazu gezwungen worden sein, aus der Stadt zu fliehen.«

Oder er könnte tot sein. Wann immer Dannyl an diese Möglichkeit dachte, wurde ihm übel vor Angst. Zuerst Rothen, dann Tayend…

Nein, sagte er sich. Denk nicht einmal daran. Nicht solange du es nicht mit eigenen Augen gesehen hast.

Die Vorstellung, er könnte Tayends Leichnam sehen, machte es ihm nur umso schwerer, klar zu denken. Er musste sich konzentrieren und entscheiden, wohin sie gehen sollten. Sie hatten drei Möglichkeiten: Sie konnten in der Villa bleiben und hoffen, dass Tayend irgendwann zurückkehrte; sie konnten in der Stadt nach ihm suchen oder es aufgeben und aus Imardin fliehen.

Ich werde die Stadt nicht verlassen, bevor ich weiß, was ihm zugestoßen ist.

Also konnten sie nur in der Villa warten oder sich auf die Suche machen. Keine der beiden Möglichkeiten wäre Farand gegenüber fair gewesen.

»Ich werde nach Tayend Ausschau halten«, erklärte Dannyl. »Ich werde es in den umliegenden Straßen versuchen und von Zeit zu Zeit wieder herkommen, um im Haus nachzusehen. Ihr solltet die Stadt verlassen. Es hat keinen Sinn, dass wir beide unser Leben aufs Spiel setzen.«

»Nein«, erwiderte Farand. »Ich werde hier bleiben, falls er zurückkommt.«

Dannyl sah Farand überrascht an. »Seid Ihr Euch sicher?«

Der junge Magier nickte. »Ich kenne mich in Imardin nicht aus, Dannyl. Ich weiß nicht, ob ich den Weg aus der Stadt überhaupt finden würde. Und Ihr braucht jemanden, der im Haus die Stellung hält, falls Tayend dorthin zurückkehrt.« Er zuckte die Achseln, dann wandte er sich ab. »Wir sehen uns später.«

Dannyl beobachtete Farand, bis dieser im Haus verschwunden war, dann kehrte er zum Ende der Gasse zurück und sah sich in der Straße dahinter um. Alles war still. Er trat aus dem Schatten des Hauses und eilte zur nächsten Gasse.

Zuerst fand Dannyl nur einige Holzkisten und Schutt in den Straßen. Dann traf er immer häufiger auf die Leichen von Magiern. Seine Angst um Tayend wurde stärker.

Er wählte einen Weg, der einen großen Kreis beschrieb, und hatte die Villa beinahe wieder erreicht, als ein Mann vor ihn hintrat. Er zuckte heftig zusammen, aber es war nur ein Diener oder ein Zünftler.

»Hier hinein«, sagte der Mann und deutete auf eine offene Müllluke in der Mauer. »Da unten ist es sicherer für Euch, Magier.«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank.« Als er weitergehen wollte, hielt der Mann ihn am Arm fest.

»Ein Sachakaner war hier, vor nicht allzu langer Zeit. Ihr solltet Euch in Sicherheit bringen.«

Dannyl befreite sich aus dem Griff des Fremden. »Ich suche nach jemandem.«

Der Mann zuckte die Achseln und trat zurück.

Kurze Zeit später erreichte Dannyl das Ende der Gasse. Die Straße dahinter war verlassen. Als er die nächste Gasse fast erreicht hatte, hörte er hinter sich eine Tür zufallen. Er drehte sich um, und das Blut gefror ihm in den Adern.

»Ah, das ist schon besser.« Die Frau, die mit langen Schritten auf ihn zukam, lächelte hinterhältig. »Ich habe tatsächlich langsam geglaubt, es gäbe keine hübschen Magier in Kyralia.«

Er machte einen Satz auf die Gasse zu, prallte aber gegen eine unsichtbare Barriere. Benommen und mit hämmerndem Herzen taumelte er rückwärts.

»Nicht dort entlang«, sagte die Frau. »Komm her zu mir. Ich werde dich nicht töten.«

Dannyl holte mehrmals tief Luft und drehte sich zu der Sachakanerin um. In ihren Augen lag ein boshaftes Glitzern. Dann wurde ihm klar, dass er sie schon einmal gesehen hatte. Sie war die Ichani, die sich Lord Fergun hatte »halten« wollen.

»Kariko würde dir nicht gestatten, mich am Leben zu lassen«, sagte er.

Sie warf den Kopf in den Nacken. »Jetzt, da wir hier sind und der größte Teil deiner Gilde tot ist, wird er seine Meinung vielleicht ändern.«

»Warum solltest du mich überhaupt behalten wollen?«, sagte er, während er vorsichtig weiter zurückwich.

Sie zuckte die Achseln. »Meine Sklaven sind tot. Ich brauche neue.«

Er musste jetzt in unmittelbarer Nähe der nächsten Gasse sein. Wenn er weiter redete, würde die Sachakanerin vielleicht vergessen, den Weg hinter ihm zu blockieren.

Mit einem verschlagenen Lächeln musterte sie ihn vom Kopf bis zu den Füßen. »Es gefällt mir, meine Lieblingssklaven zu belohnen.«

Er verspürte den verrückten Drang zu lachen. Wofür hält sie sich?, dachte er. Für eine unwiderstehliche Verführerin? Sie klingt absolut lächerlich.

»Du bist nicht mein Typ«, erwiderte er.

Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. »Nicht? Nun, das spielt keine Rolle. Du wirst tun, was ich sage, oder -« Sie verstummte und blickte sich überrascht auf der Straße um.

Überall um sie herum waren aus Türen und Gassen Gildemagier erschienen. Dannyl starrte sie an. Er erkannte nicht eins der Gesichter. Dann packte ihn jemand am Arm und riss ihn zur Seite.

Er stolperte durch eine Tür, die hinter ihm zufiel. Als Dannyl sich zu seinem Retter umdrehte, machte sein Herz einen Satz.

»Tayend!«

Der Gelehrte grinste ihn an. Dannyl keuchte vor Erleichterung auf, dann zog er Tayend fest an sich.

»Du hast das Haus verlassen. Warum hast du das getan?«

»Diese Frau ist hereingekommen. Ich dachte, ich warte in der Gasse, bis sie wieder herauskommt, aber dann ist sie in meine Richtung gegangen. Die Diebe haben mich gerettet. Ich habe ihnen gesagt, dass du nach mir suchen würdest, aber sie haben das Haus nicht rechtzeitig erreicht.«

Dannyl hörte ein gedämpftes Hüsteln und erstarrte, als ihm klar wurde, dass sie nicht allein waren. Er drehte sich um. Ein hochgewachsener Lonmar musterte ihn neugierig. Dannyls Gesicht wurde zuerst kalt, dann heiß.

»Ich sehe, Ihr beide seid gute Freunde«, sagte der Mann. »Jetzt, da Ihr Eure Neuigkeiten ausgetauscht habt, sollten wir -«

Die Tür erbebte unter einem schweren Schlag. Der Mann winkte sie hektisch zu sich heran.

»Schnell! Folgt mir.«

Tayend packte Dannyl am Handgelenk und zerrte ihn hinter dem Fremden her. Hinter ihnen krachte etwas. Der Lonmar verfiel in Laufschritt. Nachdem sie eine Treppe hinuntergerannt waren, führte er sie in einen Keller und verriegelte die Tür hinter ihnen.

»Das wird sie nicht aufhalten«, sagte Dannyl.

»Nein«, stimmte ihm der Fremde zu. »Aber es wird ihr Fortkommen verzögern.«

Er eilte zwischen Regalen mit Weinflaschen hindurch zu einem Schrank an der gegenüberliegenden Wand. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, zog er an den Regalen, auf denen Krüge mit Eingemachtem standen. Die Regale drehten sich vorwärts und gaben eine weitere Tür frei. Der Fremde öffnete auch diese Tür und trat beiseite. Tayend und Dannyl zwängten sich durch die Öffnung in einen Tunnel. In der Nähe stand ein Junge mit einer kleinen Lampe.

Der Lonmar folgte ihnen und schob die Regale dann wieder an ihren ursprünglichen Platz zurück. Hinter der Kellertür war jetzt ein leises Geräusch zu hören, das sich kurz darauf in eine Explosion verwandelte.

»Keine Zeit«, murmelte der Lonmar. Ohne den Schrank zur Gänze wieder zusammengebaut zu haben, schloss er die innere Tür. Er nahm dem Jungen die Lampe ab und rannte den Tunnel hinunter. Dannyl und Tayend eilten ihm nach.

»Es hat keinen Sinn«, murmelte der Fremde vor sich hin. »Wir können nur hoffen, dass sie -«

Hinter ihnen zerriss eine weitere Explosion die Luft. Dannyl drehte sich um und sah eine Lichtkugel aufflackern, wo zuvor die Geheimtür gewesen war. Der Lonmar sog scharf die Luft ein.

»Lauft!«

37 Energie aus Stein

Das Dienstbotengewand, das Sonea gegen ihr blutdurchtränktes Hemd und die Hose eingetauscht hatte, musste einer größeren Frau gehört haben. Es bedeckte ihre Roben gut, aber die Ärmel waren so lang, dass sie sie aufkrempeln musste, und sie trat immer wieder auf den Saum. Sie fand gerade ihr Gleichgewicht wieder, nachdem sie sich einmal mehr in dem Gewand verheddert hatte, als in dem Tunnel vor ihnen ein Bote erschien. Er sah sie und beschleunigte seine Schritte.

»Ich habe… schlechte Neuigkeiten«, keuchte er. »Einer der… Sachakaner… hat die Tunnel… gefunden.«

»Wo?«, fragte Akkarin.

»Nicht weit von hier.«

»Führ uns dorthin.«

Der Bote zögerte, dann nickte er. Er machte kehrt und ging den Tunnel hinunter; seine Lampe warf verzerrte Schatten an die Wände.

Wir werden es noch einmal mit dem gleichen Täuschungsmanöver versuchen, erklärte Akkarin Sonea. Diesmal wirst du dich heilen, wenn der Ichani dir eine Schnittwunde zufügt. Sobald er beginnt, dir Kraft zu entziehen, wirst du nicht mehr in der Lage sein, deine Magie zu benutzen.

Oh, ich werde den gleichen Fehler nicht noch einmal machen, erwiderte sie. Jetzt, da ich weiß, wie sich das anfühlt.

Ihr Führer setzte den Weg durch die Tunnel fort und blieb nur ab und zu stehen, um Helfer zu befragen, die an den Ausgängen postiert waren. Immer wieder trafen sie auf Flüchtlinge, bis ein dunkelhäutiger Mann vor ihnen erschien. Faren.

»Ihr seid hier«, stieß er atemlos hervor. »Gut. Sie kommt in diese Richtung.«

Also ist es die Frau, dachte Sonea. Avala.

»Wie weit ist sie noch entfernt?«

Faren deutete mit dem Kopf über die Schulter. »Noch fünfzig Schritte vielleicht. Haltet Euch an der nächsten Wegkreuzung links.«

Er trat beiseite und ließ Akkarin vorbeigehen. Sonea nahm die Lampe von ihrem Führer entgegen, dann folgte sie Akkarin. Ihr Herz schlug mit jedem Schritt schneller. Als sie die Kreuzung erreichten, blieben sie stehen, und Akkarin spähte in den Tunnel zu ihrer Linken, bevor sie ihren Weg fortsetzten. An der nächsten Biegung machten sie abermals Halt.

Sie kommt. Warte hier. Lass sie denken, sie hätte dich gefunden. Ich werde nicht weit entfernt sein.

Sonea nickte. Sie sah ihm nach, während er in einem Nebentunnel verschwand. Hinter ihr waren jetzt leise Schritte zu hören.

Die Schritte wurden langsam lauter. Ein schwaches Licht wurde an der Biegung sichtbar. Es wurde rasch heller, und Sonea wich zurück. Eine Lichtkugel kam in Sicht. Sonea keuchte mit geheucheltem Entsetzen auf.

Die Ichani sah sie an, dann lächelte sie. »Du bist es also. Kariko wird sehr erfreut sein.«

Sonea machte kehrt, um zu fliehen, stolperte jedoch über den Saum ihres Kleides und stürzte der Länge nach zu Boden. Avala lachte.

Wenn ich das beabsichtigt hätte, wäre es eine beeindruckende schauspielerische Leistung gewesen, dachte Sonea trocken, während sie sich wieder auf die Füße mühte. Sie hörte Schritte näher kommen, dann packte die Frau sie am Arm. Es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, Avala nicht mit einem wütenden Zauber von sich zu stoßen.

Die Ichani riss Sonea zu sich herum und streckte die Hand nach ihrem Kopf aus. Sonea umklammerte ihrerseits die Handgelenke ihrer Angreiferin und versuchte, ihren Geist in den Körper der Frau zu senden, traf jedoch auf einen Widerstand.

Avala war mit einem Schild geschützt.

Die Barriere lag auf der Oberfläche ihrer Haut. Einen Moment lang empfand Sonea Bewunderung für Avalas Geschick, ein Gefühl, das jedoch schnell durch Panik ersetzt wurde.

Sie würde ihre heilende Magie nicht gegen die Ichani einsetzen können.

Kämpf gegen sie, wies Akkarin sie an. Lock sie an der Wegkreuzung vorbei. Wir müssen sie zwischen uns bringen, damit sie nicht entkommen kann.

Sonea sandte eine Welle der Kraft aus. Avalas Augen weiteten sich, und sie taumelte zurück. Sonea raffte ihre Röcke, wirbelte herum und rannte den Tunnel hinunter.

Eine Barriere flammte vor ihr auf. Sie zerschmetterte sie mit einem Kraftzauber. Einige Schritte später kam sie an der Wegkreuzung vorbei, und eine weitere Barriere tauchte vor ihr auf. Sie blieb stehen und drehte sich zu der Ichani um.

Die Frau lächelte triumphierend.

Kariko. Schau mal, was ich gefunden habe.

Sonea wusste, was Kariko sehen würde: ein dünnes, nicht besonders großes Mädchen in einem zu langen Kleid.

Was für ein jämmerliches kleines Geschöpf sie ist!

Ah! Akkarins Lehrling, antwortete Kariko. Durchforsche ihre Gedanken. Wenn einer von den beiden hier ist, könnte der andere ganz in der Nähe sein – aber töte das Mädchen nicht. Bring sie zu mir.

Sonea schüttelte den Kopf.

Ich werde entscheiden, wann und wo wir uns begegnen, Kariko, sandte sie.

Ich freue mich schon darauf, antwortete Kariko. Und das Gleiche gilt übrigens für deinen ehemaligen Mentor. Rothen ist sein Name? Ich habe einen Blutstein von ihm. Er wird zusehen, wie du stirbst.

Sonea schnappte nach Luft. Rothen? Aber Rothen war tot. Warum sollte Kariko sich die Mühe machen, einen Stein aus Rothens Blut zu formen?

Bedeutet das, dass Rothen noch lebt?

Wahrscheinlich, wenn er tatsächlich einen Blutstein hat, flüsterte Akkarins Gedankenstimme durch ihren Ring. Aber möglicherweise lügt Kariko auch, um dich aus dem Gleichgewicht zu bringen und abzulenken.

Avala kam näher. Als sie an der Wegkreuzung vorbeiging, verspürte Sonea eine Mischung aus Erleichterung und Furcht. Die Frau war jetzt zwischen ihr und Akkarin. Sobald Akkarin jedoch aus seinem Versteck trat, würde Avala ihn erkennen.

Kariko kann sich nicht ganz sicher sein, dass du hier bist, solange er oder ein anderer Ichani dich nicht gesehen hat, wandte sie sich an Akkarin. Wir könnten ihn überlisten, so dass er glaubt, ich sei allein hier. Wenn also nur ich gegen Avala kämpfe…

Ja, stimmte Akkarin zu. Wenn deine Kräfte nachlassen, werde ich übernehmen. Halte dich einfach nur in sicherem Abstand.

Als die Ichani angriff, riss Sonea einen starken Schild hoch, dann schlug sie mit mächtigen Zaubern zurück. Avalas Angriffe waren ohne Strategie oder List, und wie bei ihrem Kampf mit Parika wurde Sonea schnell klar, dass ihre eigene Ausbildung ihr wenig nutzen würde. Es war ein brutaler Wettlauf, und der Verlierer würde derjenige sein, dessen Kräfte zuerst erlahmten.

Die Luft in dem Tunnel erwärmte sich, dann begannen die Mauern schwach zu glühen. Die Frau trat einen Schritt zurück, und plötzlich war die Welt um Sonea herum in grelles Weiß getaucht. Sie blinzelte, konnte aber nichts sehen.

Sie hat mich geblendet!

Sonea hätte um ein Haar laut aufgelacht, als ihr bewusst wurde, dass Avala den gleichen Trick angewandt hatte, mit dem sie selbst vor Jahren Regin und seine Bande in die Flucht geschlagen hatte. Nur dass die Novizen damals noch nicht genug über Heilkunst gewusst hatten, um…

Ihre Sehkraft kehrte langsam zurück. Sie konnte zwei Gestalten in dem Tunnel vor sich ausmachen. Akkarin war hinter Avala getreten. Er griff die Ichani mit unbarmherzigem Ingrimm an. Avala sah zu Sonea hinüber, und Angst stand in ihren Zügen. Ihre Kraft war verebbt, und ihr Schild löste sich abrupt auf. Akkarins letzter Zauber schleuderte sie gegen Soneas Schild. Dann hörte man ein übelkeiterregendes Knacken, als die Frau auf den Boden sackte.

Mit immer noch hämmerndem Herzen beobachtete Sonea, wie Akkarin sich der Ichani langsam näherte. Avala schlug die Augen auf, und einen Moment lang wurden Schmerz und Zorn von einem befriedigten Lächeln abgelöst; dann wanderte ihr Blick zu einem Punkt jenseits der Mauern hinüber, und sie stieß einen langen, letzten Atemzug aus.

»Bilde ich mir das nur ein«, fragte Sonea, »oder war sie ein wenig zu glücklich darüber, zu sterben?«

Akkarin ging in die Hocke und fuhr mit dem Finger unter den Kragen von Avalas Jacke. Während er ihre Kleider einer genauen Musterung unterzog, sah Sonea, dass die Hände der Ichani sich langsam entspannten. Dann öffneten sich ihre Finger, und eine kleine, rote Kugel fiel zu Boden.

»Ein Blutstein«, zischte Sonea.

Akkarin seufzte und blickte zu ihr auf. »Ja. Wem er gehört, können wir nur vermuten, aber ich denke, wir sollten vom schlimmsten Fall ausgehen: Kariko weiß, dass ich hier bin.«


Rothen blinzelte überrascht, als das Bild einer Frau in seinen Gedanken aufstieg. Dann erkannte er sie, und ein wildes Glücksgefühl breitete sich in ihm aus. Sie lebt!

»Sonea!«, rief Rothen. »Sie ist hier!«

Ah! Akkarins Lehrling.

Plötzlich konnte Rothen nicht mehr atmen. Die sachakanische Magierin hatte das Bild gesandt. Und offenkundig versuchte sie in diesem Moment, Sonea zu fangen. Wenn es ihr gelang …

»Rothen?«

Er blickte zu Balkan und Dorrien hinüber und stellte fest, dass beide Männer ihn anstarrten.

»Ihr habt einen Blutstein angefertigt?«, fragte Balkan leise.

»Kariko hat ihn gemacht. In Calia…« Rothen zwang sich, Luft zu holen. »Er hat meine Gedanken gelesen und Sonea dort gesehen, woraufhin er den Stein gemacht hat.« Er schauderte. »Seither habe ich den Tod all seiner Opfer gesehen… und gefühlt.«

Balkans Augen weiteten sich leicht, dann schnalzte er mitfühlend mit der Zunge.

»Was ist ein Blutstein?«, fragte Dorrien.

»Er ermöglicht es demjenigen, der ihn hergestellt hat, in die Gedanken eines anderen zu blicken«, erklärte Balkan. »Obwohl Kariko den Stein geschaffen hat, ist er auf Rothen eingestellt, weil der Sachakaner Rothens Blut benutzt hat.«

Dorrien starrte Rothen an. »Er hat dich gefangen. Warum hast du nichts davon gesagt?«

»Ich…« Rothen seufzte. »Ich weiß es nicht.«

»Aber was er dir angetan hat… Kannst du irgendwie verhindern, diese Tode mit ansehen zu müssen?«

»Nein, ich habe keine Kontrolle darüber.«

Dorriens Gesicht war sehr bleich. »Und wenn sie Sonea fangen…«

»Ja.« Rothen sah seinen Sohn an. »Und das ist das Geheimnis, von dem du uns nichts erzählen konntest, nicht wahr? Sie ist hier, genauso wie Akkarin.«

Dorrien öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte über seine Lippen. Unsicher blickte er zwischen Rothen und Balkan hin und her.

»Es wird keinen Unterschied mehr machen, wenn Ihr es uns jetzt erzählt«, sagte Balkan. »Sie wissen über Sonea Bescheid. Und vermutlich haben sie genau wie wir den Schluss daraus gezogen, dass Akkarin bei ihr ist.«

Dorrien ließ die Schultern sinken. »Ja, sie sind hier. Vor fünf Tagen sind Sonea und Akkarin über den Südpass gekommen. Ich habe sie in die Stadt gebracht.«

Balkan runzelte die Stirn. »Warum habt Ihr sie nicht nach Sachaka zurückgeschickt?«

»Ich habe es versucht. Die beiden haben keinen Widerstand geleistet, als ich sie zur Grenze eskortiert habe, aber dann wurden wir von einem Ichani überfallen. Wir haben nur mit knapper Not überlebt. Anschließend ist das Fort angegriffen worden. Danach wusste ich, dass alles, was Akkarin gesagt hatte, der Wahrheit entsprach.«

»Warum hast du niemandem davon erzählt?«, fragte Rothen.

»Wenn die Gilde von Akkarins Anwesenheit in Imardin gewusst hätte, hätten die Ichani aus den Gedanken ihrer Opfer davon erfahren. Akkarin war klar, dass er und Sonea eine bessere Chance haben würden als wir, die Sachakaner einen nach dem anderen zu töten. Wenn sie gewusst hätten, dass die beiden in der Stadt waren, wären sie zusammengeblieben.«

Balkan nickte. »Ihm war klar, dass die Ichani uns besiegen würden. Also, was hat er -«

Plötzlich erklang ein dumpfes Dröhnen, das aus der Stadt zu kommen schien. Rothen ging auf die Eingangshalle zu, dann drehte er sich zu Balkan um.

»Noch eine Explosion. Diesmal näher als die letzten. Was glaubt Ihr, geht da vor?«

Der Krieger zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht.«

Irgendwo über dem Inneren Ring stieg eine Staubwolke empor.

»Wenn wir aufs Dach gehen, sehen wir vielleicht mehr«, meinte Dorrien.

Balkan sah Dorrien an, dann wandte er sich zu den Treppen um. »Kommt mit.«

Auf dem Dach angelangt, blickten sie schweigend zu den Häusern im Inneren Ring hinüber. Nach einer langen Pause erklang das Echo einer weiteren Explosion, und abermals stieg Staub auf.

»Die gesamte Front dieses Hauses ist eingestürzt«, sagte Dorrien und deutete in die Richtung, aus der die Explosion gekommen war.

»Also zerstören sie jetzt Häuser«, erwiderte Rothen. »Warum vergeuden sie ihre Kraft?«

»Um Akkarin aus seinem Versteck zu locken«, meinte Balkan.

»Und wenn sie mit der Zerstörung des Inneren Rings keinen Erfolg haben, werden sie hierher kommen«, ergänzte Dorrien.

Balkan nickte. »Dann sollten wir uns besser darauf vorbereiten zu fliehen, bevor sie hier ankommen.«

Der Weg durch die Tunnel schien endlos. Dannyls Staunen wuchs, je weiter sie kamen. Als er vor Jahren Soneas wegen mit den Dieben verhandelt hatte, war er schon einmal durch die Tunnel unter den Hüttenvierteln gegangen und hatte angenommen, dass sie nicht weiter reichten als bis zur Äußeren Mauer. Jetzt sah er, dass die Diebe sogar den Inneren Ring untertunnelt hatten.

Er blickte zu seinen Begleitern hinüber. Tayend wirkte so munter wie eh und je. In Farands Zügen lag ein Ausdruck des Staunens. Der junge Magier hatte Dannyl zuerst nicht geglaubt, als dieser ihm erzählt hatte, dass die Unterwelt von Imardin ihnen helfen würde, aus der Stadt hinauszukommen.

Vor einer großen Tür, an der zwei stämmige Männer postiert waren, blieb ihr Führer schließlich stehen und wechselte einige Worte mit den Wächtern, woraufhin einer von ihnen an die Tür klopfte. Das Geräusch schwerer Riegel, die aus ihren Lagern glitten, folgte, dann schwangen die Türen lautlos auf.

Sie gingen durch einen kurzen Flur, in dem weitere Wachen standen, bis sie abermals zu einer hohen Tür gelangten. Diese war unverschlossen und führte in einen großen Raum voller Menschen.

Dannyl sah sich kurz um, dann lachte er leise. Er hatte während der letzten Stunden zu viele Überraschungen erlebt, um jetzt mehr als eine milde Erheiterung zu verspüren.

Der Raum war voller Magier. Einige lagen auf improvisierten Betten und wurden von Heilern versorgt. Andere bedienten sich von den Speisen, die auf mehreren großen Tischen in der Mitte des Raums standen. Wieder andere entspannten sich in bequemen Sesseln.

Also, wer hat überlebt?, dachte Dannyl. Er schaute sich um und stellte fest, dass von den höheren Magiern nur Rektor Jerrik, Lord Peakin, Lady Vinara und Lord Telano anwesend waren. Er ließ den Blick weiter durch den Raum wandern, konnte Rothen jedoch nirgends entdecken.

Vielleicht hat er es nicht in die Stadt zurück geschafft, dachte er. Die kurze Gedankenrede zwischen dem Ichani und Sonea hatte in Dannyl Hoffnungen geweckt. Er hatte Tayend gefunden, und vielleicht würde er auch seinen Mentor noch lebend finden.

Es sei denn, Kariko hat gelogen.

Als sich nun einige der Magier von den Esstischen abwandten, sah Dannyl den kostbar gewandeten Mann, der in der Mitte des Raums saß, und stellte fest, dass es doch noch möglich war, ihn zu überraschen.

Hier ist der König also abgeblieben, dachte er. Bevor er sich entscheiden konnte, was die Etikette in dieser Situation von ihm verlangte, sah der Monarch Dannyl an, nickte ihm kurz zu und wandte sich dann wieder zu seinem Gefährten um. Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht gestört werden wollte.

Der massige Mann, mit dem Merin sprach, kam Dannyl bekannt vor. Er lächelte, als er sich daran erinnerte, wo er diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Es war Gorin, der Dieb, mit dem Dannyl über Soneas Herausgabe verhandelt hatte.

Der König redet mit Dieben. Dannyl lachte leise. Also, jetzt habe ich wirklich alles erlebt, was ein Mensch erleben kann.

»Nun«, sagte Tayend, »willst du mich nicht vorstellen?«

Dannyl sah den Gelehrten an. »Ich denke, ja. Am besten fange ich mit den höheren Magiern an.«

Er ging auf Lord Peakin zu. Der Alchemist unterhielt sich mit Davin und Larkin.

»Botschafter«, sagte Peakin, als er Dannyl näher kommen sah, »habt Ihr irgendwelche Neuigkeiten?«

»Meinem Führer zufolge sind alle Ichani bis auf drei tot«, erwiderte Dannyl. Dann drehte er sich zu Tayend um. »Dies ist Tayend von Tremmelin, der in Imar -«

»Habt Ihr Sonea gesehen? Ist Akkarin hier?«, fragte Davin mit kaum verhohlener Erregung.

»Nein, ich habe Sonea nicht gesehen«, erwiderte Dannyl bedächtig. »Also weiß ich nicht, ob Akkarin bei ihr ist.« Er blickte zu Farand hinüber, der mit einem fast unmerklichen Nicken antwortete. Akkarin hatte sie angewiesen, seine Anwesenheit in der Stadt geheim zu halten, und Dannyl wollte nichts preisgeben, solange es nicht unbedingt notwendig war.

Davin wirkte enttäuscht. »Wie ist es dann möglich, dass so viele Ichani tot sind?«

»Vielleicht ist das alles Soneas Werk gewesen«, meinte Larkin.

Die anderen Magier blickten skeptisch drein.

»Ich weiß, dass die Diebe einen Ichani getötet haben«, sagte Tayend. »Der, der Faren genannt wird, hat mir davon erzählt.«

Peakin schüttelte den Kopf. »Diebe besiegen Ichani. Wenn uns das nicht wie Narren dastehen lässt.«

»Gibt es noch irgendwelche weiteren Neuigkeiten?«, fragte Larkin.

Dannyl sah sich im Raum um. »Ist Lord Osen hier?«

Die Alchemisten schüttelten den Kopf.

»Oh.« Dannyl blickte von einem Magier zum anderen, dann seufzte er. Also wussten sie noch nicht von Lorlen. »Dann habe ich Neuigkeiten, aber es sind keine guten.«


Summendes Stimmengewirr erfüllte den Lagerraum. Während der letzten Stunde waren noch mehr Menschen eingetroffen. Die beiden Diebe, Ravi und Sefli, waren angekommen, nachdem bekannt geworden war, dass die Ichani die Tunnel betreten hatte. Bald darauf hatte Senfel eine kurze Gedankenrede zwischen der Frau, Kariko und Sonea wiedergegeben. In angespanntem Schweigen hatten sie auf weitere Neuigkeiten gewartet, bis Takan verkündet hatte, dass es Akkarin und Sonea gelungen sei, die Frau zu töten.

Zwischenzeitlich hatten die anderen die Anwesenheit des Dieners vollkommen vergessen, aber jetzt, da er sie an seine Verbindung zu Akkarin erinnert hatte, wurde er mit einem Strom von Fragen überhäuft, die er offenkundig nicht beantworten konnte.

Gol fing Cerys Blick auf. Er wirkte verdrossen und unzufrieden. Cery kannte den Grund dafür: Gol nahm es ihm übel, dass er sich allein in den Palast geschlichen hatte. Tatsächlich hatte er ein wenig Gewissensbisse deswegen. Gol war schließlich sein Beschützer.

Was wäre wohl geschehen, wenn Gol bei ihm gewesen wäre, als er mit dem Ichani zusammengetroffen war? Er hätte seinem Stellvertreter befehlen können, den fremden Magier wegzulocken. Hätte er ihm diesen Befehl tatsächlich geben können, wohlwissend, dass er Gol damit in den Tod schickte? Hätte Gol ihm gehorcht oder vielleicht sogar selbst den Vorschlag gemacht? Gol war stets loyal gewesen, aber war er so loyal?

Interessante Fragen, dachte Cery, aber ich bin froh, dass ich nicht herausfinden musste, wie die Antworten ausgefallen wären.

Cery runzelte die Stirn. Was würde Gol von Savara denken, wenn er wüsste, was sie getan hat? Sie hatten sich vor den Palasttoren getrennt, und seither hatte er sie nicht wiedergesehen.

Plötzlich brach das Stimmengewirr im Raum ab. Als Cery aufblickte, sah er, dass Sonea und Akkarin auf ihn zukamen. Grinsend trat er vor.

»Takan hat uns soeben erzählt, dass Ihr die Frau erwischt habt.«

»Ja«, erwiderte Akkarin. »Sie hatte einen Blutstein bei sich, also weiß Kariko jetzt wahrscheinlich, dass wir hier sind.«

»Und er weiß auch von den Tunneln unter der Stadt«, fügte Faren hinzu. »Wir sind hier nicht länger sicher.«

»Werden die anderen Ichani in die Tunnel eindringen?«, fragte Ravi.

»Wahrscheinlich«, antwortete Akkarin. »Sie werden versuchen, uns so schnell wie möglich zu finden und zu töten.«

Sefli verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie werden Euch nicht finden. Sie kennen die Wege nicht, und niemand wird sie ihnen zeigen.«

»Um sich hier zurechtzufinden, brauchen sie lediglich einen Führer zu fangen und seine Gedanken zu lesen«, rief Akkarin ihm ins Gedächtnis.

Die Diebe tauschten einen Blick. »Dann werden wir die Helfer wegschicken«, sagte Cery. Er schaute zu Akkarin. »Ich werde von jetzt an Euer Führer sein.«

Akkarin nickte. »Danke.«

Sonea sah Akkarin an. »Wenn sie hier herunterkommen, werden sie sich vielleicht trennen, um uns in die Enge zu treiben. Wir könnten das zu unserem Vorteil nutzen und uns zurückschleichen, um sie einzeln anzugreifen.«

»Nein.« Akkarin schüttelte den Kopf. »Kariko wird es jetzt nicht mehr riskieren, sich von seinen Verbündeten zu trennen.« Er wandte sich zu Faren um. »Was tun die Ichani jetzt?«

»Reden«, antwortete Faren.

»Ich möchte wetten, dass sie das tun«, brummte Senfel.

»Jetzt tun sie es nicht mehr«, erklang eine neue Stimme.

Alle drehten sich um, um den Boten zu betrachten, der auf sie zugeeilt kam. »Sie zerstören Gebäude in der Stadt.«

Akkarin runzelte die Stirn. »Bist du dir sicher?«

Der Mann nickte.

»Glaubst du, dass sie auf diese Weise versuchen, uns herauszulocken?«, fragte Sonea.

»Vielleicht«, erwiderte Akkarin.

Akkarin weiß nicht, was die Ichani tun, dachte Cery. Aber ich weiß es. Er unterdrückte ein Lächeln.

»Sie nehmen die Magie, mit der die Häuser verstärkt worden sind.«

Akkarin musterte ihn überrascht. »Wie hast du dir das zusammengereimt?«

»Ich habe Kariko und zwei andere belauscht, als ich im Palast war.«

Faren keuchte. »Im Palast? Was hattest du da zu suchen?«

»Ich hab mich nur umgesehen.«

»Nur umgesehen!«, wiederholte Faren kopfschüttelnd.

Akkarin seufzte. »Das ist nicht gut«, murmelte er.

»Wie viel Energie werden sie auf diese Weise bekommen?«, fragte Sonea.

»Ich… bin mir nicht sicher. In einigen Häusern steckt mehr Magie als in anderen.«

»Ihr könntet diese Magie ebenfalls nehmen«, schlug Senfel vor.

Akkarin zuckte zusammen.

»Die Besitzer hätten gewiss nichts dagegen, wenn man ihre Häuser benutzen würde, um die Stadt zu verteidigen«, fügte Cery hinzu.

»Sie haben schon ziemlich viele Gebäude in Trümmer gelegt«, sagte Ravi. »Nicht alle Häuser in der Inneren Stadt sind magisch verstärkt. Es können nicht mehr viele übrig sein.«

»Aber sie waren noch nicht in der Gilde«, bemerkte Senfel.

Ein schmerzlicher Ausdruck trat in Akkarins Züge. »Die Universität. Sie ist nicht das einzige magisch verstärkte Gebäude in der Gilde, aber sie enthält mehr Macht als jedes andere Bauwerk in der Stadt.«

Sonea sog scharf den Atem ein. »Nein, das ist nicht wahr. Die Arena muss noch stärker sein.«

Senfel und Akkarin tauschten einen ernsten Blick. Der alte Magier fluchte inbrünstig.

»Genau«, stimmte Akkarin ihm zu.

Cery sah die drei Magier an. »Das ist schlecht, nicht wahr?«

»Oh ja«, erwiderte Sonea. »Die Barriere rund um die Arena wird jeden Monat von mehreren Magiern verstärkt. Sie muss stark genug sein, um fehlgehende Energie bei Übungskämpfen aufzunehmen.«

»Wir müssen die Ichani daran hindern, diese Energie für sich zu nutzen«, sagte Akkarin. »Wenn ihnen das gelingt, können wir ihnen die Stadt ebenso gut gleich ausliefern.«

»Dann nehmen wir diese Energie also selbst?«, fragte Sonea.

»Wenn es sein muss, ja.«

Sonea zögerte. »Und anschließend… fordern wir sie zum Kampf?«

Er sah ihr in die Augen. »Ja.«

»Sind wir stark genug dafür?«

»Wir haben die Stärke von vier Ichani genommen, wenn wir Parika mitrechnen. Auf der anderen Seite haben wir nur wenig von unserer eigenen Energie verbraucht, und wir haben Stärke von den Freiwilligen genommen.«

»Was Ihr durchaus noch einmal tun könntet«, rief Senfel ihnen ins Gedächtnis. »Es ist fast ein Tag vergangen, seit Ihr die Kraftreserven dieser Menschen angezapft habt. Sie werden inzwischen den größten Teil ihrer Kraft zurückgewonnen haben.«

»Und es sind nur noch drei Ichani übrig«, warf Faren ein.

Akkarin straffte sich. »Ja, ich denke, es ist an der Zeit, dass wir uns ihnen stellen.«

Sonea wurde ein wenig blass, nickte aber zustimmend. »So sieht es aus.«

Schweigen senkte sich über den Raum, bis Ravi sich schließlich räusperte.

»Nun ja«, sagte er. »Dann sollte ich Euch besser so schnell wie möglich zu unseren Freiwilligen bringen.«

Akkarin nickte. Als der Dieb sich zur Tür umwandte, musterte Cery Sonea forschend und hielt sie am Arm fest.

»Es ist also beschlossene Sache. Hast du Angst?«

Sie zuckte die Achseln. »Ein wenig. Aber vor allem bin ich erleichtert.«

»Erleichtert?«

»Ja. Endlich offen und direkt gegen sie kämpfen, ohne Gift oder Fallen und sogar ohne schwarze Magie.«

»Es ist schön und gut, einen fairen Kampf zu wollen, sofern die anderen genauso fair sind«, sagte Cery. »Sei vorsichtig. Ich werde keine Ruhe finden, bevor das alles vorbei ist und ich weiß, dass es dir gut geht.«

Sie lächelte, drückte seine Hand und drehte sich dann um, um Akkarin aus dem Raum zu folgen.

38 Die schwarzgewandeten Magier

Während der letzten Stunde hatten Boten berichtet, dass die Ichani sich langsam der Gilde näherten und unterwegs weitere Gebäude zerstörten. Sonea und Akkarin waren zu den Freiwilligen geeilt, die ihrer Bitte mit bewunderungswürdiger Gelassenheit nachgekommen waren. Auf dem Weg zur Gilde hatte Sonea brennende Ungeduld verspürt, doch als sie schließlich durch die Geheimtür in Lorlens Büro trat, wünschte sie sich plötzlich, die Zeit wäre nicht gar so schnell vergangen. Mit einem Mal waren ihre Knie weich, ihre Hände zitterten, und sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie irgendetwas zu tun vergessen hatten.

Akkarin hielt kurz inne, um sich im Büro umzusehen. Er seufzte, dann streifte er sein Hemd ab. Sonea zog ihr Gewand über den Kopf und warf es zu Boden. Anschließend blickte sie an sich hinab und schauderte. Magierroben…

Schwarze Magierroben…

Dann sah sie Akkarin an. Er wirkte aufrechter, größer. Ein leichtes Frösteln überlief sie.

Akkarin erwiderte ihren Blick und lächelte. »Sieh mich nicht so lüstern an.«

Sonea blinzelte arglos. »Ich? Lüstern?«

Sein Lächeln wurde breiter, dann erlosch es jäh. Er trat vor sie hin und umfasste mit beiden Händen sanft ihr Gesicht.

»Sonea«, begann er, »ich weiß nicht -«

Sie legte ihm einen Finger auf den Mund und zog dann seinen Kopf zu sich herunter, so dass sie ihn küssen konnte. Er presste die Lippen auf ihre und zog sie fest an sich.

»Wenn ich dich wegschicken könnte, würde ich es tun«, sagte er. »Aber ich weiß, dass du dich weigern würdest zu gehen. Nur… tu nichts Unüberlegtes. Ich habe die erste Frau, die ich geliebt habe, sterben sehen, und ich glaube nicht, dass ich es überleben würde, auch die zweite zu verlieren.«

Sonea sog überrascht den Atem ein, dann lächelte sie. »Ich liebe dich auch.«

Er lachte leise und küsste sie abermals. Einen Moment später erstarrten sie beide, als eine barsche Gedankenstimme erklang.

Akkarin! Akkarin! Wie hübsch du es hier hast.

Ein Bild von den Toren der Gilde flammte in Soneas Gedanken auf.

»Sie sind da«, murmelte Akkarin und ließ die Hände von ihren Schultern sinken.

»Die Arena?«

Er schüttelte den Kopf. »Nur im äußersten Notfall.« Seine Miene verhärtete sich, dann wandte er sich ab und ging mit raschen Schritten auf die Tür zu.

Sonea drückte die Schultern durch, holte tief Luft und folgte ihm.

»Sie sind also hier«, murmelte Balkan.

Rothen blickte auf die Stadt hinab. Die Nachmittagssonne warf lange Schatten über die Straßen. Drei Männer kamen in Sicht, die sich den Toren der Gilde näherten.

»Welchen Plan hatten Akkarin und Sonea für den Fall, dass die Ichani von ihrer Anwesenheit in der Stadt erfahren sollten, Dorrien?«, fragte Balkan.

»Das weiß ich nicht. Sie haben nicht darüber gesprochen.«

Balkan nickte. »Dann wird es für uns Zeit zu gehen.«

Aber er rührte sich nicht von der Stelle, ebenso wenig wie Rothen und Dorrien. Die drei Ichani hatten die Tore inzwischen durchschritten und gingen auf die Universität zu.

Dann ertönte irgendwo unter ihnen ein hohles Dröhnen.

»Was war das?«, rief Dorrien.

Sie beugten sich über das Geländer und blickten hinab. Rothen stockte der Atem, als er die beiden Magier auf der Treppe unter ihnen entdeckte.

»Sonea! Und Akkarin.«

»Sie haben die Tore der Universität geschlossen«, sagte Balkan.

Rothen schauderte. Die Tore der Universität waren seit Jahrhunderten nicht mehr geschlossen worden.

»Sollen wir uns bemerkbar machen?«, fragte Dorrien leise.

»Wenn Sonea wüsste, dass Ihr beide sie beobachtet, würde sie das vielleicht ablenken«, warnte Balkan.

»Aber ich kann jetzt meine Kräfte einsetzen. Ich kann ihnen helfen.«

»Ich ebenfalls«, warf Rothen ein. Dorrien sah ihn überrascht an, dann grinste er.

Balkan runzelte die Stirn. »Ich würde den Kampf gern dem Rest der Gilde übermitteln.«

»Dorrien und ich werden uns erst zu erkennen geben, wenn sich eine Gelegenheit bietet zu helfen«, schlug Rothen vor.

Balkan nickte. »Also gut. Aber seid vorsichtig und wählt den Augenblick, in dem Ihr Euch Sonea zu erkennen gebt, mit Bedacht.«


Goldenes Licht fiel durch das Blätterwerk des Waldes, der die Gilde umgab. Immer wieder knackten Zweige unter Gols Füßen, und Cery fragte sich langsam, ob sein Stellvertreter mit Absicht so viel Lärm machte. Er drehte sich nach dem massigen Mann um und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er dessen angespannte Miene sah.

»Keine Angst«, sagte Cery. »Ich bin früher schon hier gewesen. Wir werden den Fortgang der Ereignisse beobachten können, ohne selbst gesehen zu werden.«

Gol nickte, und sie setzten ihren Weg fort. Als die ersten Gebäude zwischen den Bäumen vor ihnen aufschimmerten, beschleunigte Cery seinen Schritt. Gol ließ sich ein wenig zurückfallen.

Dann entdeckte Cery hinter einem Baumstamm am Rand des Waldes eine Gestalt. Er blieb stehen und bedeutete Gol, sich still zu verhalten.

Savara spähte vorsichtig um den Baum herum, und Cery begriff, dass sie ängstlich darauf bedacht war, nicht gesehen zu werden. Zu spät, dachte er. Er schlich weiter. Als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, richtete er sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Anscheinend können wir es nicht vermeiden, einander in die Arme zu laufen, nicht wahr?«, sagte er.

Es war höchst befriedigend zu sehen, wie sie zusammenzuckte. Als sie ihn erkannte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Cery.« Sie schüttelte missbilligend den Kopf. »Es ist nicht klug, sich an Magier anzuschleichen.«

»Ach nein?«

»Nein.«

»Du bist also gekommen, um dir die Vorführung anzusehen?«

Sie lächelte schief. »So ist es. Willst du dich zu mir gesellen?«

Er nickte. Dann winkte er Gol zu sich heran und hockte sich hinter einen Baumstamm. Bei dem Bild, das sich ihm jetzt bot, zog sich sein Magen zusammen.

Die Tore der Universität waren geschlossen, und auf der Treppe davor standen Sonea und Akkarin. Die drei Ichani waren keine hundert Schritte von ihnen entfernt und rückten mit offensichtlicher Zuversicht näher.

»Du und deine Freunde, ihr habt eure Sache gut gemacht«, murmelte Savara, »wenn das alles ist, was von Karikos Verbündeten übrig geblieben ist. Vielleicht habt ihr ja doch eine Chance.«

Cery lächelte grimmig. »Vielleicht. Wir werden es abwarten müssen.«


Sonea blinzelte, als plötzlich ein Bild von ihr und Akkarin, von oben betrachtet, in ihren Gedanken auftauchte. Nach der Perspektive zu urteilen, musste der Beobachter hinter ihnen stehen, auf dem Dach der Universität. Sie konnte Balkans Persönlichkeit wahrnehmen, aber weder Gedanken noch Gefühle.

Wenn ich das spüren kann, können es die Ichani ebenfalls.

Ja, antwortete Akkarin. Du musst die Bilder ausblenden. Sie werden dich nur ablenken.

Aber auf diese Weise werden wir erfahren, welche Listen die Ichani anzuwenden versuchen.

Und die Ichani auf unsere eigene Strategie aufmerksam machen.

Oh. Sollen wir Balkan sagen, dass er damit aufhören soll?

Nein. Die Gilde sollte das mit ansehen. Sie werden daraus vielleicht lernen, wie —

»Akkarin.«

Karikos Stimme hallte über das Gelände.

»Kariko«, antwortete Akkarin.

»Ich sehe, du hast deinen Lehrling mitgebracht. Hast du die Absicht, sie als Unterpfand zu benutzen, um dein eigenes Überleben zu sichern?«

Ein Frösteln überlief Sonea, als der Ichani sie ansah. Sie erwiderte trotzig seinen Blick, und er lächelte boshaft.

»Ich würde es vielleicht in Erwägung ziehen, sie zu nehmen«, fuhr Kariko fort. »Ich habe zwar den Geschmack meines Bruders, was Sklaven betraf, nie geteilt, aber er hat mir immerhin gezeigt, dass Gildemagier überraschend unterhaltsam sein können.«

Akkarin ging langsam die Treppe hinunter. Während Sonea ihm folgte, achtete sie darauf, zu keiner Zeit den Bereich zu verlassen, in dem sich ihre beiden Schilde miteinander verbanden.

»Dakova war ein Narr, mich zu behalten«, sagte Akkarin, »aber andererseits hat er ständig dumme Fehler gemacht. Es ist schwer zu begreifen, dass ein Mann, der über solche Macht gebot, so wenig Verständnis für Politik oder Strategie hatte, aber ich nehme an, das ist der Grund, warum er ein Ichani war – und warum er mich behalten hat.«

Karikos Augen wurden schmal. »Das sagst ausgerechnet du? Wenn du so ein Meister der Strategie bist, warum bist du dann hier? Du musst wissen, dass ihr nicht siegen könnt.«

»Meinst du? Sieh dich doch um, Kariko. Wo sind all deine Verbündeten?«

Als Akkarin und Sonea am Fuß der Treppe ankamen, blieb Kariko stehen. Er war ungefähr zwanzig Schritte von ihnen entfernt.

»Ich nehme an, sie sind tot. Und du hast sie getötet.«

»Einige von ihnen.«

»Dann musst du ziemlich erschöpft sein.« Kariko blickte zu den anderen Ichani hinüber, dann wandte er sich wieder Akkarin zu. »Was für ein perfekter Abschluss für unseren Eroberungszug. Ich werde den Tod meines Bruders rächen, und gleichzeitig wird Sachaka endlich seine Rache für das bekommen, was deine Gilde unserem Land angetan hat.«

Er hob eine Hand, und die anderen Ichani folgten seinem Beispiel. Zauber schossen auf Sonea und Akkarin zu. Sie spürte, wie Magie auf ihren gemeinsamen Schild prallte, mächtiger als alle Angriffe, denen sie zuvor ausgesetzt gewesen war. Akkarin sandte seinerseits drei Zauber aus, die sich jedoch alle nach innen bogen und auf Kariko zielten.

Ein weiterer Schlagabtausch folgte, und die Luft summte unter der freigesetzten Magie. Als Akkarin seine Angriffe weiter auf Kariko konzentrierte und die anderen Ichani überhaupt nicht beachtete, runzelte der Anführer die Stirn. Er wechselte einige Worte mit seinen Gefährten, die daraufhin näher rückten und nur eine schmale Lücke zwischen ihren Schilden freiließen.

Greif Kariko von unten an, befahl Akkarin.

Während Sonea einen Hitzezauber durch die Erde schickte, ließ Akkarin Schläge von oben auf ihn niederprasseln. Die anderen Ichani hatten ihre Schilde gerade vereint, um Akkarins Schläge abzufangen, als der Boden unter Karikos Füßen zu dampfen begann.

Kariko blickte hinab und murmelte einige Worte, woraufhin seine Gefährten ihren Angriff verstärkten.

Greif Kariko weiterhin aus allen Richtungen an.

Kariko schien sich damit abgefunden zu haben, das Hauptziel der Attacken zu sein. Er konzentrierte sich auf seinen Schild, während die anderen angriffen. Sonea unterdrückte ein Lächeln. Das konnte Akkarin und ihr nur nutzen. Ein Schild kostete mehr Kraft, daher würde Kariko schneller müde werden.

Es sah so aus, als würden sie einander so lange bekämpfen, bis eine Seite entgültig geschwächt war. Dann bewegte sich heftig der Boden unter ihr. Sie taumelte, und Akkarin packte sie am Arm. Als sie hinabblickte, sah sie, dass sich ein dunkles Loch unter ihren Füßen bildete, und sie spürte eine magische Scheibe unter sich.

Halte den Schild aufrecht.

Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren gemeinsamen Schild zu richten, und fing die größte Wucht des Angriffs der Ichani ab, so dass Akkarin sich auf die Levitation konzentrieren konnte. Die Luft war voller Gras und Schmutz, und Zauber zuckten um sie herum. Akkarin ließ sie einige Schritte zurückgleiten, aber das aufgewühlte Erdreich folgte ihnen. Durch den Staub sah Sonea, dass die Ichani unausweichlich näher rückten.

Akkarin sandte ein Dutzend Zauber gegen die Ichani. Gleichzeitig kam ein Dutzend schwächerer Angriffe aus der Richtung, in der die Tore lagen. Die Sachakaner blickten zur Seite.

Sonea keuchte, als sie die Gestalt sah, die dort stand. Blaue Roben umwogten den Mann, der jetzt näher kam.

»Lorlen!«, stieß Sonea hervor. Aber wie konnte das sein? Lorlen war tot. Oder etwa nicht…?

Kariko schleuderte einen Energiestrahl auf den Administrator. Sein Angriff ging durch den Magier hindurch und traf die Tore. Die Metallgitter erbebten, und glühende Trümmer fielen herab.

Lorlen war verschwunden. Sonea blinzelte. Es war eine Illusion gewesen. Als sie ein leises Lachen hörte, wandte sie sich zu Akkarin um, der grimmig lächelte. Kariko und seine Gefährten wirkten unbeeindruckt. Sie setzten ihren Angriff mit noch größerer Wucht fort.

Akkarin ließ einen Hagel von Zaubern auf Kariko niederprasseln, um die Stärke von dessen Schild zu erproben. Kariko antwortete mit mächtigen Gegenschlägen. Akkarin sandte ein gewaltiges Netz von Hitzezaubern aus, das Kariko von allen Seiten umschlang. Die gleiche List hatte Sonea während der letzten Runde ihres Duells mit Regin angewandt. Bei der Erinnerung an jenen Kampf runzelte Sonea die Stirn. In der zweiten Runde hatte Regin seine Kraft geschont, indem er nur dann einen Schild benutzt hatte, wenn er getroffen wurde. Konnte sie das Gleiche tun? Etwas Derartiges würde all ihre Aufmerksamkeit verlangen …

Sie konzentrierte sich auf die Veränderung ihres Schilds, bis er hinter und über ihr schwächer wurde, aber nicht so schwach, dass sie ihn nicht im Notfall sehr schnell wieder verstärken konnte.

Sei vorsichtig, Sonea.

Sie behielt die Ichani genau im Auge, bereit zu reagieren, falls irgendwelche Zauber die Richtung wechseln sollten.

»SCHAUT ZU DEN TOREN!«

Die Stimme kam vom Dach der Universität. Sonea blickte auf und sah Balkan dort stehen; er zeigte auf die Tore. Sofort fuhr sie herum und trat instinktiv einen Schritt zurück, als sie verbogene schwarze Speere auf sich zufliegen sah – die Überreste der Tore. Sie prallten gegen ihren Schild und fielen zu Boden.

Wenn ich es sage, geh zur Arena hinüber. Ich werde sie aufhalten, während du die Energie aus dem Gebäude ziehst… Warte… Sie drehte sich zu ihm um und sah einen Ausdruck tiefer Konzentration auf seinen Zügen.

Die Ichani werden schwächer, sandte Akkarin.

Sonea wandte sich zu den Sachakanern um. Kariko stand lächelnd und sehr aufrecht da. Die übrigen Ichani wirkten nicht weniger zuversichtlich, aber die Zauber, die auf ihren Schild prallten, waren tatsächlich schwächer als zuvor.

Akkarin machte einen Schritt nach vorn, dann einen zweiten. Karikos Miene verdüsterte sich. Sonea folgte Akkarin und schleuderte ihre eigenen Zauber gegen die Ichani. Befriedigt beobachtete sie, wie die Männer zurückwichen.

Dann, als sie weiches Erdreich unter den Füßen spürte, traf etwas ihren Geist. Sie schleuderte es von sich, aber es kehrte zurück und setzte ihr aufs Neue zu.

Gedankenzauber. Blende ihn aus.

Wie?

So…

Etwas schlitzte die Haut ihrer Wade auf. Sonea taumelte und hörte Akkarin aufkeuchen. Als sie an sich hinabblickte, sah sie, dass ihre Robe am Bein aufgerissen war. Darunter klaffte eine langgezogene Schnittwunde. Akkarin griff nach ihrem Arm.

Aber statt sie zu stützen, zog er sie mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Sie landete auf den Knien, und als sie sich nach ihm umdrehte, erstarrte ihr Herz.

Er hockte neben ihr, das Gesicht schneeweiß und schmerzverzerrt. Leuchtendes Rot lenkte ihren Blick auf seine Hand, mit der er den glitzernden Griff eines sachakanischen Messers umklammerte.

Die Klinge steckte tief in seiner Brust.

»Akkarin!«

Er fiel auf die Seite, dann rollte er sich auf den Rücken. Sie beugte sich über ihn, und ihre Hände schwebten über dem Messer, während sie überlegte, was sie tun sollte.

Ich muss ihn heilen, dachte sie. Aber wo soll ich anfangen?

Sie versuchte, Akkarins Finger vom Griff des Messers zu lösen. Er ließ los und umklammerte ihre Handgelenke.

»Noch nicht«, stieß er hervor.

In seinen Augen stand ein Ausdruck der Qual. Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, aber er war stärker als sie.

Dann wurde die Stille von grausamem, freudlosem Gelächter unterbrochen.

»Also, da ist mein Messer abgeblieben«, höhnte Kariko. »Wie nett von dir, dass du es wiedergefunden hast.«

Plötzlich begriff Sonea, wie es geschehen war. Kariko hatte die Klinge in die aufgewühlte Erde fallen lassen. Als ihr Schild darüber hinweggestrichen war, hatte der Sachakaner das Messer in die Höhe schnellen lassen. Eine Falle. Ein Trick. Etwas Ähnliches hatte sie selbst getan, um in den Schild der Mörderin zu gelangen.

Es hatte funktioniert.

»Sonea«, keuchte Akkarin. Sein Blick wanderte zu einer Stelle irgendwo über ihr, und sie sah das Spiegelbild der Universität in seinen Pupillen.

Dann wurden über ihr Rufe laut. Magie blitzte auf und beleuchtete Akkarins Gesicht. Aber Sonea brachte es nicht fertig, sich von ihm abzuwenden.

»Ich werde dich heilen«, sagte sie und versuchte verzweifelt, sich von ihm loszureißen.

»Nein.« Akkarins Griff verstärkte sich noch. »Wenn du das tust, werden wir vielleicht verlieren. Du musst zuerst kämpfen. Dann heile mich. Für den Moment komme ich auch ohne deine Hilfe zurecht.«

Kälte breitete sich in ihr aus. »Aber was ist, wenn -«

»Dann werden wir ohnehin sterben.« Akkarins Stimme hatte einen entschlossenen Klang. »Ich werde dir meine Kraft senden. Du musst kämpfen. Schau nach oben, Sonea.«

Sie blickte auf, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Kariko stand nur zehn Schritte von ihnen entfernt. Er starrte zur Universität empor, von deren Dach Zauber herabprasselten. Dann entdeckte sie zwei vertraute Gesichter neben dem von Balkan.

»Du hast nicht einmal deinen Schild aufrechterhalten, Sonea«, flüsterte Akkarin.

Ein Frösteln überlief sie. Wenn Rothen und Dorrien nicht angegriffen hätten, wären sie und Akkarin beide …

Nimm meine Kraft. Greif ihn an, solange er abgelenkt ist. Lass nicht zu, dass alles, was wir getan und erlitten haben, umsonst war.

Sie nickte. Als die Angriffe von der Universität schwächer wurden, holte sie tief Luft. Für raffinierte Strategien blieb keine Zeit. Also musste es etwas Direkteres sein. Sie schloss die Augen und griff nach all ihrer Kraft und all ihrem Zorn über das, was Kariko Akkarin und Imardin angetan hatte. Dann spürte sie, dass ihre Energie wuchs. Akkarin hatte ihr seine Stärke geschickt.

Im nächsten Moment öffnete sie die Augen wieder und konzentrierte alles, was sie hatte, auf Kariko und seine Verbündeten.

Der Anführer der Ichani taumelte rückwärts. Einen Augenblick lang hielt sein Schild stand, dann öffnete er den Mund zu einem lautlosen Schrei, während ein Hitzezauber seinen Körper versengte. Der ihm am nächsten stehende Mann wich zurück, kam aber nur wenige Schritte weit, bevor ihre Magie seinen Schild sprengte und ihn durchbohrte. Triumph wallte in ihr auf. Der letzte Ichani ließ sich nicht von ihr in die Flucht treiben, und sie spürte, wie ihre Kraft verebbte. Der Mann kam auf sie zu, und sie hatte Mühe, ihre Angst im Zaum zu halten. Ein letztes Rinnsal von Energie durchflutete sie, und sie sandte abermals ihre Magie aus. Die Augen des Ichani weiteten sich, als sein Schild ins Wanken geriet. In dem Moment, als seine Abwehr entgültig zusammenbrach, floss auch der letzte Rest ihrer Kraft aus Sonea heraus. Ein Hitzezauber schoss durch den Sachakaner, und er sackte in sich zusammen.

Alles war still. Sonea blickte auf die drei Leichen, die vor der Universität lagen. Eine Woge der Erschöpfung schlug über ihr zusammen. Sie empfand keinen Triumph. Keine Freude. Nur Leere. Sie drehte sich zu Akkarin um.

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Seine Augen standen offen, aber sein Blick war in die Ferne gerichtet. Als sie sich bewegte, lösten seine Finger sich von ihren Handgelenken und fielen zu Boden.

»Nein«, flüsterte sie. »Akkarin.« Sie griff nach seinen Händen und sandte ihren Geist aus. Nichts. Nicht einmal der leiseste Funke von Leben.

Er hatte ihr zu viel Kraft gegeben.

Er hatte ihr alles gegeben.

Mit zitternden Fingern strich Sonea über sein Gesicht, beugte sich vor und küsste seinen leblosen Mund.

Dann schmiegte sie sich an ihn und begann zu weinen.

39 Eine neue Position

Am Ende des Flurs angekommen, blickte Rothen auf. Nach der Verwüstung der Stadt war die unbeschadete Erhabenheit der Großen Halle gleichzeitig ermutigend und ein wenig beschämend. Die Invasion der Ichani, wie man das fünftägige Wüten von Tod und Zerstörung inzwischen nannte, war eine Schlacht unter Magiern gewesen. Irgendwie schien es nicht recht zu sein, dass die Gilde unversehrt geblieben war, während ein großer Teil des Inneren Rings in Trümmern lag.

Für die gewöhnlichen Imardier hätte es weitaus schlimmer ausgehen können, rief Rothen sich ins Gedächtnis. Unter den Nichtmagiern hatte es nur wenige Todesfälle gegeben. Die Gilde jedoch war beinahe auf die Hälfte ihrer ehemaligen Größe geschrumpft. Es hatte Gerüchte gegeben, nach denen die höheren Magier es in Erwägung zogen, Novizen aus den wohlhabenden Kaufmannsfamilien außerhalb der Häuser aufzunehmen.

Er durchquerte die Gildehalle und trat durch die Türen. Während der Woche seit der Invasion hatten die Zusammenkünfte der höheren Magier in einem der kleinen Konferenzsäle vor der Halle stattgefunden. Bis zur Wahl eines neuen Administrators hielt man es für unpassend, Lorlens Büro zu benutzen.

Als er schließlich vor dem Saal stand, klopfte Rothen an. Die Tür schwang auf. Er trat ein und betrachtete die anwesenden Magier, wohlwissend, dass er die Gesichter der zukünftigen Leitung der Gilde vor sich hatte.

Lord Balkan ging im Raum auf und ab. Die Tatsache, dass die anderen sich automatisch seiner Führung unterstellt hatten, legte die Vermutung nahe, dass er gute Chancen hatte, zum nächsten Hohen Lord gewählt zu werden. Lord Osen beobachtete Balkan gelassen. Obwohl Lorlens Tod den jüngeren Magier offensichtlich sehr mitgenommen hatte, trat er deutlich selbstbewusster auf, seit man ihm die Aufgabe zugewiesen hatte, den Wiederaufbau der Stadt zu beaufsichtigen. Lorlen hatte während der vergangenen Jahre darauf hingearbeitet, dass Osen eines Tages sein Amt übernehmen würde, daher würde es niemanden überraschen, wenn er in dieser Situation zum Administrator gewählt wurde.

Es waren so viele Krieger getötet worden, dass es nur wenige Kandidaten für das Amt des Oberhaupts der Krieger gab. Lord Garrel hatte an den letzten Zusammenkünften teilgenommen, was Rothens Meinung nach nichts Gutes für die Zukunft verhieß. Balkan hatte in der Vergangenheit auch das geringere Amt des Oberhaupts der Kriegsstudien ausgefüllt, hatte jedoch in den vergangenen Tagen verschiedentlich angedeutet, dass die beiden Ämter in Zukunft durch zwei verschiedene Magier besetzt werden sollten. Also würde vielleicht ein Krieger von vernünftigerem Charakter ein gewisses Gegengewicht zu dem verschlagenen, engstirnigen Garrel darstellen.

Lady Vinara würde weiterhin als Oberhaupt der Heiler fungieren. Rektor Jerrik hatte ebenfalls durch nichts zu erkennen gegeben, dass er sein Amt wechseln wollte, und niemand hatte etwas Derartiges vorgeschlagen. Lord Telano würde wahrscheinlich Studienleiter für Heilkunde bleiben. Über die Besetzung der Position des Auslandsadministrators waren bisher keine Spekulationen angestellt worden.

Lord Peakin würde vermutlich an die Stelle von Lord Sarrin treten. Rothen vermutete, dass man einen der älteren Lehrer zum Oberhaupt der Alchemistischen Studien wählen würde. Ab und zu fragte er sich, wer wohl sein direkter Vorgesetzter werden würde, aber für den Augenblick beschäftigten ihn wichtigere Angelegenheiten. Wie zum Beispiel Sonea.

Und sie war offenkundig auch der Grund, warum die höheren Magier ihn heute zu der Versammlung gebeten hatten. Als Balkan Rothens Erscheinen bemerkte, blieb er jäh stehen.

»Wie geht es ihr?«

Rothen seufzte und schüttelte den Kopf. »Nicht besser. Sie wird Zeit brauchen.«

»Wir haben keine Zeit«, murmelte Balkan.

»Ich weiß.« Rothen wandte den Blick ab. »Aber ich habe Angst vor dem, was geschehen wird, wenn wir sie drängen.«

Vinara runzelte die Stirn. »Was wollt Ihr damit sagen?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich überhaupt erholen will.«

Die Menschen im Raum tauschten besorgte Blicke. Vinara schien jedoch nicht überrascht zu sein.

»Dann müsst Ihr sie vom Gegenteil überzeugen«, sagte Balkan. »Wir brauchen sie. Wenn acht Ausgestoßene so viel Schaden anrichten können, wozu wäre dann eine ganze Armee imstande? Selbst wenn der sachakanische König sich unsere Schwäche nicht zunutze macht, wäre nur ein einziger weiterer Ichani nötig gewesen, um uns zu vernichten. Wir brauchen einen schwarzen Magier. Wir brauchen Sonea – und sei es auch nur dafür, dass sie einen von uns in schwarzer Magie unterweist.«

Das entsprach der Wahrheit, war Sonea gegenüber jedoch nicht fair. Akkarins Tod lag erst eine Woche zurück. Ihre Trauer war natürlich. Verständlich. Sie hatte viel durchgemacht. Warum konnten sie sie nicht für eine Weile in Ruhe lassen?

»Was ist mit Akkarins Büchern?«, fragte er.

Balkan schüttelte den Kopf. »Sarrin hat es nicht geschafft, aus ihnen etwas zu lernen. Mir selbst ist es nicht besser ergangen.«

»Dann müsst Ihr mit Sonea reden«, sagte Vinara zu dem Krieger, »und wenn Ihr es tut, müsst Ihr ihr genau erklären können, was sie von uns zu erwarten hat. Wir können kaum von ihr verlangen, um unsertwillen weiterzuleben, wenn ihre Zukunft ungewiss ist.«

Balkan nickte und stieß einen schweren Seufzer aus. »Ihr habt natürlich Recht.« Er sah die anderen Magier an. »Also schön, wir müssen eine Versammlung einberufen, um über die Position des schwarzen Magiers und ihre Einschränkungen zu diskutieren.«

»Wir haben bereits darüber diskutiert, als Sarrin ausgewählt wurde«, warf Peakin ein.

»Die Einschränkungen müssen neu festgelegt werden«, sagte Garrel. »Im Moment steht nur fest, dass sie auf dem Grundstück der Gilde bleiben muss und weder ein hohes Amt bekleiden, noch unterrichten darf. Es sollte festgelegt werden, dass sie ihre Kräfte nur dann einsetzen darf, wenn wir alle es verlangen.«

Rothen unterdrückte ein Lächeln. Wir alle? Garrel war sich sehr sicher, dass er Balkans Position erhalten würde.

»Nun, zunächst einmal müssten wir die Auflage zurücknehmen, dass sie nicht unterrichten darf«, warf Jerrik ein.

Vinara sah Rothen an. »Was schlagt Ihr vor, Rothen?«

Er zögerte, denn er wusste, dass es ihnen nicht gefallen würde, was er zu sagen hatte.

»Ich glaube nicht, dass sie sich irgendwelchen Auflagen beugen würde, die ihr verbieten, die Gilde zu verlassen.«

Balkan runzelte die Stirn. »Warum nicht?«

»Sie hat ihre Kräfte schon immer dazu einsetzen wollen, den Armen zu helfen. Das ist einer der Gründe, warum sie damals beschlossen hat, sich uns anzuschließen, und in schwierigen Zeiten…«, er warf einen Seitenblick auf Garrel, »… in schwierigen Zeiten war das ein Anker für sie, an dem sie sich festhalten konnte. Wenn Ihr wollt, dass sie weiterlebt, dürft Ihr ihr das nicht nehmen.«

Vinara lächelte dünn. »Und ich nehme an, wenn wir ihr den Vorschlag machen würden, in der Stadt wohltätige Arbeit zu leisten, wäre das ein Grund für sie, bei uns zu bleiben.«

Rothen nickte.

Balkan verschränkte die Arme vor der Brust und trommelte mit den Fingern auf seinen Ärmel. »Eine solche Maßnahme würde uns außerdem helfen, das Wohlwollen der Menschen zurückzugewinnen. Was die Verteidigung der Stadt betrifft, haben wir uns nicht als besonders hilfreich erwiesen. Ich habe gehört, dass einige Leute uns sogar die Schuld an der Invasion geben.«

»Das ist doch unmöglich!«, entfuhr es Garrel.

»Es entspricht aber der Wahrheit«, sagte Osen leise.

Garrel runzelte die Stirn. »Undankbarer Abschaum.«

»Genau genommen waren es gewisse Mitglieder der Häuser, die bei ihrer Rückkehr in die Stadt dergleichen geäußert haben«, erklärte Osen. »Einschließlich einiger Mitglieder des Hauses Paren, wenn ich mich recht erinnere.«

Garrel blinzelte überrascht, dann röteten sich seine Wangen.

»Sollen wir also verfügen, dass sie zwar die Gilde, aber nicht die Stadt verlassen darf?«, schlug Telano vor.

»Diese Auflage hatte den Sinn, sicherzustellen, dass unser schwarzer Magier keinen Zugang zu einer größeren Zahl von Opfern haben sollte, falls er oder sie zu machtgierig würde«, sagte Peakin. »Was würde es nutzen, Soneas Bewegungsfreiheit einzuschränken, wenn man ihr Zutritt zum am dichtesten besiedelten Teil des Landes gewährt?«

Rothen lachte leise. »Und Ihr müsstet den König dazu bringen, neu zu definieren, was eigentlich Teil der Stadt ist und was nicht. Ich glaube nicht, dass Sonea die Absicht hatte, ihre Hilfe auf die Menschen innerhalb der Äußeren Mauer zu beschränken.«

»Eine Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit ist offensichtlich nicht durchführbar«, meinte Vinara. »Ich schlage eine Eskorte vor.«

Alle Anwesenden wandten sich zu ihr um. Balkan nickte zustimmend.

»Und wenn sie beabsichtigt, den Menschen als Heilerin zu helfen, liegen noch viele Jahre der Ausbildung vor ihr.« Vinara sah Rothen an.

Er nickte. »Ich bin davon überzeugt, dass sie das weiß. Mein Sohn hat den Wunsch geäußert, sie zu unterrichten. Er denkt, dass ihr das vielleicht helfen wird, sich zu erholen, aber wenn er sie bei dieser Arbeit unterstützen soll, könnte man möglicherweise ein offizielleres Arrangement treffen.«

Vinara schürzte die Lippen. »Es wäre unpassend, wenn sie in den Unterricht zurückkehren würde. Allerdings ist es unklug, einen Heiler nur von einem einzigen Lehrer ausbilden zu lassen. Ich werde ihr ebenfalls helfen.«

Rothen nickte und war plötzlich so überwältigt vor Dankbarkeit, dass er nicht sprechen konnte. Er hörte nur zu, während die anderen die Debatte fortsetzten.

»Also, werden wir sie auch weiterhin als die ›schwarze Magierin‹ bezeichnen?«, fragte Peakin.

»Ja«, erwiderte Balkan.

»Und welche Farbe sollen ihre Roben haben?«

Ein kurzes Schweigen folgte.

»Schwarz«, sagte Osen leise.

»Aber der Hohe Lord trägt Schwarz«, bemerkte Telano.

Osen nickte. »Vielleicht ist es an der Zeit, dem Hohen Lord eine andere Farbe zuzuweisen. Schwarz wird die Leute immer an schwarze Magie erinnern, und trotz allem, was geschehen ist, sollten wir die Menschen nicht in der Auffassung ermutigen, schwarze Magie sei durch und durch gut und erstrebenswert. Wir brauchen etwas Frisches und Sauberes.«

»Weiß«, sagte Vinara.

Osen nickte. »Ja.«

Während die anderen Magier ihre Meinung kundtaten, stieß Balkan einen erstickten Laut aus.

»Weiß!«, rief er. »Das kann nicht Euer Ernst sein. Es ist unpraktisch und lässt sich unmöglich sauber halten.«

Vinara lächelte. »Womit könnte der Hohe Lord zu tun haben, dass seine weißen Roben dadurch schmutzig würden?«

»Ein kleines Trinkgelage vielleicht?«, murmelte Jerrik.

Die anderen kicherten.

»Dann ist es also abgemacht. Der Hohe Lord wird in Zukunft weiße Roben tragen«, sagte Osen.

»Wartet.« Balkan blickte von einem zum anderen, dann schüttelte er den Kopf. »Warum habe ich nur das Gefühl, dass Eure Meinung bereits feststeht und ich keine Chance habe, etwas daran zu ändern?«

»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte Vinara. »Es lässt darauf schließen, dass wir uns starke Persönlichkeiten als höhere Magier gewählt haben.« Sie sah die anderen an und lächelte, als ihr Blick den Rothens traf. »Dann habt Ihr es also noch immer nicht erraten, Lord Rothen?«

Ihre plötzliche Frage verwirrte ihn, und er runzelte die Stirn. »Was soll ich erraten haben?«

»Es muss natürlich noch darüber abgestimmt werden, aber ich glaube nicht, dass irgendjemand dagegen protestieren wird.«

»Wogegen?«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Herzlichen Glückwunsch, Rothen. Ihr werdet das neue Oberhaupt der Alchemistischen Studien sein.«


Von dem Dach des zweistöckigen Hauses aus konnte man erkennen, dass die Trümmer einen perfekten Kreis bildeten. Es war ein ernüchternder Anblick.

Noch ein Bild, das ich meiner Liste hinzufügen muss, dachte Cery. Zusammen mit den Ruinen der Stadtmauern, den langen Reihen von Leichen, die die Gilde auf der Wiese vor der Universität ausgebreitet hatte, und dem Ausdruck in Soneas Augen, als es Rothen endlich gelungen war, sie dazu zu bewegen, von dem toten Akkarin abzulassen.

Er schauderte und zwang sich, wieder auf die Stadt hinabzublicken. Hunderte von Arbeitern räumten die Trümmer beiseite. Sie hatten einige Menschen, die am Rand der Zerstörung begraben gewesen waren, lebend geborgen. Niemand konnte sagen, wie viele Bewohner sich während des Angriffs der Ichani in den Häusern versteckt gehalten hatten. Die meisten von ihnen waren wahrscheinlich tot.

Und das alles war seine Schuld. Er hätte besser zuhören müssen, als Savara ihm erklärt hatte, was der Tod eines Ichani nach sich zog. Aber er war viel zu sehr mit der Frage beschäftigt gewesen, wie man einen Magier töten konnte, um darüber nachzudenken, wie seine Leute die Konsequenzen überleben sollten.

»Du bist wieder hier oben?«

Jemand trat von hinten an ihn heran und schlang ihm die Arme um die Taille. Ein vertrauter, würziger Duft berauschte seine Sinne. Einen Moment lang wurde ihm leichter ums Herz, dann kehrte der Schmerz zurück.

»Musst du fortgehen?«, flüsterte er.

»Ja«, antwortete Savara.

»Wir könnten deine Hilfe gebrauchen.«

»Nein. Ihr braucht mich nicht. Gewiss nicht als sachakanische Magierin. Und für die Arbeiten, die keine Magie verlangen, habt ihr reichlich freiwillige Helfer.«

»Ich brauche dich.«

Sie seufzte. »Nein, Cery. Du brauchst jemanden, dem du vertrauen kannst, uneingeschränkt und bedingungslos. Dieser Mensch werde ich niemals sein.«

Er nickte. Sie hatte Recht.

Aber es machte den Abschied nicht leichter.

Sie zog ihn fester an sich. »Ich werde dich vermissen«, fügte sie leise hinzu. »Falls… falls ich willkommen bin, werde ich vorbeischauen, wann immer meine Pflichten mich in diese Richtung führen.«

Er drehte sich zu ihr um und zog eine Augenbraue in die Höhe, als müsse er über ihre Worte nachdenken.

»Könnte sein, dass ich noch ein paar Flaschen anurischen Dunkelwein übrig habe.«

Sie lächelte breit, und einen Moment lang fühlte er sich ein wenig besser. Seit dem letzten Kampf quälte ihn eine schreckliche Angst, sie zu verlieren, und er hatte versucht, sie davon abzuhalten, wieder fortzugehen. Aber Savara gehörte nicht nach Kyralia. Nicht jetzt. Und er hatte gestattet, dass sein Herz die Oberhand über seinen Verstand gewann. Das war etwas, das ein Dieb niemals zulassen durfte.

Er legte ihr einen Finger unters Kinn und küsste sie langsam und entschlossen. Schließlich trat er einen Schritt zurück.

»Dann geh. Geh nach Hause. Ich mag keine langen Abschiede.«

Sie lächelte und wandte sich ab. Er sah ihr nach, während sie zu der Luke im Dach hinüberschlenderte. Als sie fort war, drehte er sich wieder zu der Stadt und den Arbeitern um.

Vieles hatte sich verändert. Er musste gerüstet sein für die Konsequenzen. Bruchstücke von Informationen waren ihm zu Ohren gekommen, und er war wahrscheinlich nicht der Einzige, der begriff, wozu diese Dinge führen könnten. Wenn der König tatsächlich beabsichtigte, den alljährlichen Säuberungen ein Ende zu machen, hätten die Diebe einen Grund weniger, zusammenzuarbeiten. Und dann gab es da noch die Gerüchte über gewisse Abmachungen, die die Führer der Unterwelt bereits untereinander getroffen hatten.

Er lächelte und drückte die Schultern durch. Er hatte sich auf den Tag vorbereitet, da Akkarins Unterstützung ein Ende finden würde. Es gab bereits Übereinkünfte mit nützlichen, einflussreichen Leuten, und er hatte Reichtum gehortet und Informationen gesammelt. Seine Position war sehr stark.

In Kürze würde er erfahren, ob sie stark genug war.


Die Kutsche schaukelte sanft hin und her. Draußen zogen endlose Felder und hier und da ein Bauernhaus langsam vorüber. Dannyl und Tayend, die im Wagen saßen, prosteten einander mit Weingläsern zu.

»Auf Lord Osen, der zu dem Schluss gekommen ist, dass du der Gilde am besten als Botschafter in Elyne würdest dienen können«, sagte Tayend. »Und der uns gestattet hat, über Land zu reisen.«

»Auf Osen«, erwiderte Dannyl und nahm einen Schluck von dem Wein. »Du weißt, dass ich in Imardin geblieben wäre, wenn Osen mich darum gebeten hätte.«

Tayend lächelte. »Ja, und ich wäre bei dir geblieben, obwohl ich froh darüber bin, dass das nicht nötig war. Die Kyralier sind so erdrückend konservativ.« Er führte sein Glas an die Lippen, dann wandte er den Blick ab, und seine Miene wurde wieder ernst. »Es war jedoch sehr klug von ihm, dich nach Elyne zurückzuschicken. Viele Leute werden die Autorität der Gilde jetzt in Frage stellen. Sie war doch ein wenig zu schlecht auf den Krieg vorbereitet.«

Dannyl lachte leise. »Ein wenig.«

»Und noch mehr Leute werden geneigt sein, genauso zu denken wie Dem Marane«, fuhr Tayend fort. »Du wirst diese Leute davon überzeugen müssen, dass die Gilde nach wie vor das Sagen hat, soweit es um Magie geht.«

»Ich weiß.«

»Dann wäre da noch das Thema der schwarzen Magie. Du wirst den Leuten klar machen müssen, dass die Gilde keine andere Wahl hat, als sich wieder mit dem Studium der schwarzen Magie zu beschäftigen. Ah, die Dinge könnten in den nächsten Monaten ein wenig schwierig werden.«

»Ich weiß.«

»Es könnte sogar Jahre dauern.« Tayend lächelte. »Aber es spricht natürlich nichts dagegen, dass du in Elyne bleibst, auch wenn deine Zeit als Botschafter vorüber ist, nicht wahr?«

»Nein.« Dannyl lächelte. »Osen hat mir das Amt auf unbefristete Dauer übertragen.«

Tayends Augen weiteten sich, dann grinste er. »Das hat er getan? Das ist ja wunderbar!«

»Er hat irgendetwas gemurmelt, dass Elyne besser zu mir passe als Kyralia. Und dass ich mich durch mögliche Gerüchte nicht davon abhalten lassen solle, unsere Freundschaft zu pflegen und zu genießen.«

Die Augenbrauen des Gelehrten zuckten in die Höhe. »Das hat er gesagt? Glaubst du, er weiß über uns Bescheid?«

»Diese Frage stelle ich mir ebenfalls. Er wirkte jedenfalls nicht so, als missbillige er unsere Beziehung. Aber vielleicht interpretiere ich mehr in seine Worte hinein, als er sagen wollte. Er hatte soeben einen guten Freund verloren.« Dannyl zögerte. »Obwohl ich mich doch der Frage nicht entziehen kann, wie viel sich wirklich für uns ändern würde, wenn die Leute Bescheid wüssten.«

Tayend runzelte die Stirn. »Nun, setz dir da nicht irgendwelche törichten Ideen in den Kopf. Wenn du der Gilde reinen Wein einschenken würdest und sie dich voller Entrüstung wegschicken würde, würde ich dir trotzdem folgen. Und wenn ich dich fände, würde ich dir einen ordentlichen Tritt dafür verpassen, dass du so ein Idiot warst.« Er hielt kurz inne, dann grinste er. »Ich liebe dich, aber ich liebe es auch, dass du ein wichtiger Magier der Gilde bist.«

Dannyl lachte leise. »Das ist wirklich eine glückliche Fügung. Ich könnte etwas daran ändern, wichtig zu sein, und ich könnte sogar etwas an meiner Zugehörigkeit zur Gilde ändern, aber ein Magier werde ich bleiben, was auch geschieht.«

Tayend lächelte. »Oh, ich bezweifle, dass ich meine Meinung über dich jemals ändern werde. Ich schätze, du wirst mich eine ziemlich lange Zeit am Hals haben.«

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