Sascha

Insgesamt hatte die Alarmanlage drei Polizeiwagen herbeigerufen, deren Besatzungen das Haus vom Keller bis zum Dachboden durchsuchten, während die junge Beamtin mit dem Pferdeschwanz Aton zu einem der wartenden Wagen führte. Als sie das Haus verließen, erlebte Aton eine weitere Überraschung: Von Sturm und Schnee war keine Spur mehr zu sehen. Rings um das Haus entdeckte Aton Schneeverwehungen und Rauhreif, aber tatsächlich nur in unmittelbarer Nähe - schon zwanzig Meter entfernt waren die Straße und das dahinterliegende Feld trocken und vollkommen eisfrei.

Den Sturm schien es nie gegeben zu haben, die Luft stand vollkommen unbewegt.

Trotzdem fror Aton erbärmlich - schließlich hatte ihn die Sprinkleranlage bis auf die Haut durchnäßt. Die Polizistin nahm eine Decke aus dem Kofferraum und legte sie ihm um die Schultern, doch Atons Zähne klapperten ebenso heftig weiter, wie seine Hände zitterten.

Die junge Frau sah ihn kopfschüttelnd an, dann sagte sie besorgt: »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

»Nein«, antwortete Aton erschrocken. »Mir fehlt nichts.«

»Ja, das sehe ich«, antwortete die Beamtin spöttisch. »Du zitterst nur wie Espenlaub.«

»Mir ist kalt«, antwortete Aton. Das war die Wahrheit - aber nicht der Grund für sein Zittern. Er brauchte einfach Zeit, um sich eine passende Geschichte einfallen zu lassen. Die Wahrheit würde ihm garantiert niemand glauben. Jetzt, wo der einzige Zeuge tot war, schon gar nicht.

»Ich habe eine Thermoskanne mit heißem Tee im Wagen«, sagte die Polizistin. »Möchtest du eine Tasse?«

Aton nickte heftig. Schon der Gedanke an etwas Warmes zum Trinken kam ihm schlichtweg paradiesisch vor. Daß der Schneesturm nun vorbei war, bedeutete nicht etwa, daß es warm gewesen wäre: im Gegenteil. Es war so bitter kalt, daß ihr Atem kleine Dampfwölkchen in die Luft zauberte und die Scheiben des Streifenwagens beschlagen waren.

Die Polizistin ging zu einem der anderen Wagen und kam nach einigen Augenblicken zurück; eine Thermosflasche in der Rechten und einen weißen Plastikbecher in der Linken. Aton schloß dankbar die Hände um den Becher und genoß für einen Moment die Wärme, die seine Finger durchströmte. Erst dann trank er - und hätte sich um ein Haar verbrüht, als die Polizistin so heftig zusammenfuhr, daß er eine unbedachte Bewegung machte.

»Was haben Sie?« fragte er. Zugleich sah er an sich hinab, wohin der Blick der jungen Beamtin gerichtet war. Und dann entdeckte er auch den Grund für ihr Erschrecken. Unter der Decke, in die er sich gehüllt hatte, war ein daumennagelgroßer, sechsbeiniger Käfer hervorgekrabbelt: ein Skarabäus, der sich irgendwie in seine Kleider verirrt hatte und so dem Zauber der Mumie entgangen war. Ganz instinktiv wollte Aton die Hand heben, um ihn wegzufegen, doch dann erinnerte er sich daran, daß er diesem Geschöpf und seinen Brüdern und Schwestern vermutlich das Leben zu verdanken hatte, und führte sein Vorhaben nicht aus. Es war auch nicht nötig: Das Tierchen machte ein paar unsichere Bewegungen vorwärts, kippte dann plötzlich zur Seite und fiel in den Schnee hinunter.

Die Polizeibeamtin hatte sich wieder in der Gewalt und zwang sich zu einem Lächeln. »Du wolltest mir sagen, was da drinnen passiert ist.«

Genau das hatte Aton nicht gewollt. Er hatte es auch weder gesagt, noch in irgendeiner Form angedeutet; aber das gehörte wohl zur Taktik der Beamtin, Antworten auf Fragen zu erhalten, die sie noch gar nicht gestellt hatte. Außerdem war es vielleicht besser, wenn er eine Geschichte parat hatte, bevor ihre Kollegen zurückkamen und Petachs Leichnam mit herausbrachten.

Atons Gedanken überschlugen sich für einen Moment. Er wußte, daß es wenig Sinn hatte, irgendeine Lügengeschichte zu erzählen, bei der er sich doch nur in Widersprüche verwickeln würde - aber er konnte auch unmöglich die Wahrheit sagen. Wenn er das tat, dann standen seine Chancen nicht schlecht, sich in Null Komma nichts in einem gemütlichen Zimmer ohne Fenster wiederzufinden, dessen Wände und Boden mit Gummi gepolstert waren, die Polizeibeamtin deutete sein Schweigen falsch. Sie griff nach seiner Hand und zwang ein aufmunterndes Lächeln auf ihr Gesicht, das die Sorge in ihrem Blick allerdings nicht ganz verbergen konnte. »Laß dir ruhig Zeit«, sagte sie. »Denk in Ruhe nach. Die Alarmanlage in eurem Haus ist losgegangen; wahrscheinlich, als jemand das Fenster oben im ersten Stock eingeschlagen hat. Warst du allein im Haus? Wo sind deine Eltern?«

»Nein«, antwortete Aton. »Meine Eltern sind nicht da, aber Herr Petach war bei mir. Ein ... Freund meines Vaters.«

»War?« hakte die Beamtin nach. Aton verfluchte sich innerlich. Warum mußte diese sympathische junge Frau auch so eine verdammt aufmerksame Zuhörerin sein?

»Er ist da«, korrigierte er sich hastig. »Aber er ist ... ich meine -«

Bevor er sich noch weiter verhaspeln konnte, erschienen die beiden Polizeibeamten, die ins Obergeschoß hinaufgerannt waren, wieder unter der Eingangstür - und Atons Augen quollen vor Unglauben fast aus den Höhlen, als er sah, wen sie bei sich hatten.

Es war niemand anderer als Petach. Und sie trugen nicht etwa seine Leiche oder stützten ihn auch nur. Petach bewegte sich aus eigener Kraft. Er sah ein wenig mitgenommen aus - wie Aton klitschnaß und alles andere als sauber, aber ganz offensichtlich unverletzt.

Aber er hatte doch gesehen, daß die Lanze seine Brust durchbohrt hatte! Die Spitze war zwischen seinen Schulterblättern wieder hervorgedrungen! Kein Mensch konnte eine solche Verletzung erleiden und dann in aller Seelenruhe wieder aufstehen und herumgehen.

Petach konnte es. Er humpelte nicht einmal, sondern bewegte sich nur deshalb ein wenig ungeschickt, weil einer der beiden Polizisten seine Hand gepackt und auf den Rücken gedreht hatte, während der andere mit seiner Pistole auf ihn zielte.

»Ist er das?« fragte die Polizistin. »Dieser Petach?«

Aton nickte, und die Beamtin erhob sich und gab ihren beiden Kollegen einen Wink. »Es ist alles in Ordnung. Der Mann gehört zum Haus.«

Petach wurde losgelassen, stolperte jedoch ein, zwei Schritte in der gleichen, unbeholfenen Weise weiter, ehe er stehenblieb und sich benommen umsah. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war der eines Menschen, der gar nicht richtig begreift, was mit ihm geschieht.

Während Petach und die beiden anderen Beamten näher kamen, wandte sich die Polizistin wieder an Aton und stellte eine weitere Frage, aber er hörte sie gar nicht. Vollkommen fassungslos starrte er Petach an. Dessen Hemd war zerrissen, und auf dem Stoff war dunkles, schon halb eingetrocknetes Blut, aber die Haut darunter war vollkommen unversehrt. Aber er hatte es doch gesehen!

»Ich glaube, ich rufe doch lieber einen Krankenwagen«, sagte die Polizistin, als Aton auch beim dritten Mal nicht auf ihre Worte reagierte. Sie beugte sich in den Wagen und nahm den Hörer des Funkgerätes ab, und Petach sagte ganz ruhig: »Ich glaube, das wird nicht notwendig sein.«

Die Polizistin zögerte. Aus dem Lautsprecher des Funkgerätes drang eine Stimme, die sich nach dem Grund des Anrufes erkundigte, aber die Beamtin starrte den Hörer verständnislos an, zuckte dann mit den Schultern und hängte wieder ein.

»Es ist alles in Ordnung, meine Herren«, fuhr Petach fort, nun an die beiden anderen Beamten gewandt, die ihn noch immer flankierten. »Es war ein Einbrecher im Haus, aber er ist wieder fort. Uns beiden ist nichts passiert.«

Und das gespenstische Geschehen, das Aton eben bei der Polizistin beobachtet hatte, wiederholte sich: Die beiden Beamten sahen sich eine Sekunde lang verwirrt an, dann zuckten sie gleichzeitig mit den Schultern - und gingen zu ihren Wagen. Aton sah, wie einer von ihnen in ein tragbares Funkgerät sprach. Wenige Augenblicke später erschienen weitere Polizisten unter der Haustür, die dabeigewesen waren, das Haus zu durchsuchen.

Petach warf Aton einen fast beschwörenden Blick zu, drehte sich halb herum und wandte sich direkt an die Polizistin. »Es ist in Ordnung. Ich kümmere mich jetzt um Aton. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Aber ich -« Die Polizistin blinzelte. Sekundenlang rang sie sichtbar nach Worten, aber schließlich zuckte sie nur abermals mit den Schultern und griff erneut nach dem Funkgerät, und Aton hörte fassungslos, wie sie in der Zentrale Bescheid gab, daß hier offensichtlich alles wieder in Ordnung sei und sie sich jetzt auf den Rückweg machen würden. Sie griff nach dem Zündschlüssel, zögerte aber dann doch noch einmal und wandte sich mit sichtbarer Überwindung wieder an Petach.

»Wir müssen noch ein Protokoll aufnehmen«, sagte sie. »Das ist Vorschrift.« Ihre Stimme klang flach, wie die eines Menschen, der im Traum oder unter Hypnose spricht, und Aton zweifelte keine Sekunde daran, daß es nur eines einzigen Wortes von Petach bedurft hätte, um sie alle ihre Vorschriften vergessen zu lassen. Aber möglicherweise sah der Ägypter ein, daß er es sich nicht zu leicht machen konnte - spätestens, wenn die Polizistin und ihre Kollegen zurück auf der Wache waren und man einen Bericht von ihnen verlangte, würden sie begreifen, daß hier irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war.

»Meinetwegen«, sagte er widerstrebend. »Aber schicken Sie die anderen weg. Es ist nicht nötig, daß eine ganze Ansammlung hier herumsteht, um einen Bericht aufzunehmen.«

Die Polizistin tat, was Petach ihr befohlen hatte, und obwohl sie das jüngste und somit zweifellos nicht das ranghöchste Mitglied der Polizei hier war, gehorchten ihr alle anderen widerspruchslos und sehr schnell. Nach kaum einer Minute fuhren zwei der drei Streifenwagen wieder ab.

Aton wandte sich im Flüsterton an Petach. »Wie haben Sie das gemacht?« fragte er.

Petach lächelte. »Das war leicht. Menschen sind so einfach zu beeinflussen, wenn man weiß, was sie wirklich wollen. Es hat nichts mit Zauberei zu tun. Und ich denke, es ist in deinem Sinn. Oder möchtest du ihnen erklären, was sich wirklich zugetragen hat?«

Aton wurde zornig - aber nur für einen Moment. Zweifellos hätte Petach ihn auf die gleiche Weise wie die Polizisten daran hindern können, lästige Fragen zu stellen.

»Wieso sind Sie überhaupt hier?« fragte er. »Ich habe doch gesehen, daß die Mumie Sie niedergestochen hat!«

»Das war nur ein Kratzer«, behauptete Petach. »Aber ich bin unglücklich gefallen und muß wohl das Bewußtsein verloren haben.«

»Das sind Sie nicht!« beharrte Aton. »Ich habe ganz deutlich gesehen, was geschehen ist!«

»Du mußt dich täuschen«, sagte Petach ruhig. Er wies auf sein zerrissenes Hemd. »Hier, sieh selbst. Nicht einmal eine Schramme. So leicht bin ich nicht umzubringen.«

Aton hatte nicht vor, sich mit dieser Antwort zufriedenzugeben. Sicher, alles war sehr schnell gegangen, und er war halb wahnsinnig vor Angst und Entsetzen gewesen, aber er wußte schließlich, was er gesehen hatte!

Doch - war das wirklich noch Zufall? - er kam auch jetzt wieder nicht dazu, Petach zur Rede zu stellen, denn in der Auffahrt erschien ein Scheinwerferpaar, und einen Augenblick später rollte der Wagen seiner Eltern vor das Haus und kam so abrupt zum Stehen, daß der Kies unter den Rädern aufspritzte. Beide Türen wurden aufgerissen, und sein Vater und seine Mutter sprangen heraus.

»Was ist hier pas -«, begann sein Vater und stockte mitten im Wort, als er seinen Sohn erblickte, der zitternd mit nassem Haar in eine Decke gehüllt dastand.

»Aton!« keuchte er. »Was ist geschehen? Ist dir etwas zugestoßen? Um Gottes willen!«

Er machte einen hastigen Schritt auf Aton zu, ebenso wie dessen Mutter - beide blieben wieder stehen, als Petach die Hand hob.

»Keine Angst«, sagte der Ägypter. »Es gab ein wenig Aufregung, aber es ist nichts passiert. Aton ist in Ordnung.«

Sein Vater rührte sich nicht. Atons Mutter machte noch einen weiteren Schritt auf ihn zu und blieb dann wieder stehen; für eine Sekunde war ihr Gesicht ein einziger Ausdruck der Qual, dann machte Petach erneut diese kaum sichtbare Handbewegung, und ihr Blick verschleierte sich.

»Hören Sie auf, Petach!« sagte Aton. Seine Stimme zitterte. »Hören Sie sofort auf, oder ich erzähle ihnen alles, ganz egal, was dann ge -«

Petach wandte den Kopf, und Atons Stimme versagte. Er wollte weitersprechen, versuchte es, aber er konnte es einfach nicht. Und eine Sekunde später wollte er es auch gar nicht mehr. Selbst sein Zorn auf Petach verrauchte. Er fragte sich, warum er überhaupt wütend auf den Ägypter gewesen war; und eine weitere Sekunde später hatte er sogar vergessen, daß er Zorn empfunden hatte.

»Jemand hat eingebrochen«, sagte Petach, wieder zu Atons Eltern gewandt. »Aber die Alarmanlage ist losgegangen, und der Lärm hat ihn vertrieben. Außerdem war die Polizei in wenigen Minuten zur Stelle. Aton war keine Sekunde in Gefahr.«

»Einbrecher?« wunderte sich Atons Vater. »Schon wieder? Was ist denn mit dem Hund?«

»Den haben sie übersehen«, sagte Aton. Der Witz kam nicht an. Wahrscheinlich registrierte ihn sein Vater gar nicht, denn er sah Petach noch einen Moment lang verstört an, ehe er sich einen Ruck gab und sich zu der Polizistin herumdrehte, die bereits ihren Notizblock und einen Stift gezückt hatte und offensichtlich darauf wartete, ihren Bericht zu schreiben.

»Wieso bist du so naß?« fragte Atons Mutter.

»Ich glaube, es gab einen Kurzschluß oder so etwas Ähnliches«, sagte Petach an Atons Stelle. »Vielleicht eine Fehlfunktion in der Elektronik. Ich verstehe nichts von solcherlei Dingen. Jedenfalls hat sich die Sprinkleranlage ausgelöst, als das Fenster eingeschlagen wurde. Wir sind beide durchnäßt worden. Und ich fürchte, ein Teil Ihres Wohnzimmers auch«, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu.

Atons Vater hielt darin inne, der Polizistin die gewünschten Angaben zu diktieren, und sah Petach erschrocken an. »Es ist nicht viel Sachschaden entstanden«, sagte der Ägypter beruhigend - und Aton war keineswegs erstaunt, daß sein Vater auch diese schon beinahe unverschämte Behauptung widerspruchslos schluckte. Er fragte sich, was Petach wohl tun würde, wenn sein Vater sah, was wirklich passiert war - daß sich sein Wohnzimmer nämlich in ein Schwimmbad mit Brandflecken auf dem Parkettboden verwandelt hatte.

»Gehen wir hinein«, sagte Atons Mutter. »Du mußt aus den nassen Sachen heraus, ehe du dir eine Lungenentzündung holst.«

Die Worte ließen Aton wieder spüren, wie erbärmlich er fror. Widerspruchslos folgte er seiner Mutter und Petach ins Haus, blieb aber dicht vor der Tür noch einmal stehen und sah zurück. Sein Vater redete noch immer mit der Polizeibeamtin, die seine Angaben eifrig auf ihren Block notierte. Plötzlich aber stockte sie und bückte sich, um etwas vom Boden aufzuheben. Ein erstaunter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, als sie auf den winzigen Gegenstand hinabblickte, der auf ihrer Handfläche lag.

Trotz der Entfernung konnte Aton erkennen, worum es sich handelte. Es war der Skarabäus, der aus seinen Kleidern gekrochen war und sie so erschreckt hatte.

Aber nun bestand er wieder aus gebranntem Ton.

Die Polizistin hob den Kopf und blickte zum Haus hinüber, und Petach machte eine rasche Handbewegung. Der ungläubige Ausdruck verschwand wie weggezaubert vom Gesicht der Beamtin. Einen Augenblick später ließ sie den Käfer achtlos fallen und konzentrierte sich wieder ganz darauf, mit Atons Vater zu sprechen.

»Überanstrengen Sie sich nicht, Petach«, sagte Aton feindselig. »Sie können nicht die ganze Welt an der Nase herumführen, wissen Sie?«

Petach sah ihn traurig an. »Ich verstehe deinen Zorn«, sagte er. »Aber bitte vertrau mir. Ich werde dir alles erklären, und dann wirst du mich verstehen. Es geht jetzt nicht anders.«

»O ja, darauf wette ich«, knurrte Aton wütend. »Und wenn ich es nicht verstehen sollte, dann werden Sie dafür sorgen, daß ich es verstehe, nicht wahr?«

Petach antwortete nicht, und Aton spürte, daß sein Zorn den Ägypter wirklich verletzt haben mußte, aber er bedauerte es nicht. Im Gegenteil - im Augenblick bereitete es ihm eine geradezu diebische Freude, noch Salz in die offene Wunde zu streuen. »Vielleicht wachen wir ja auch alle morgen früh auf und denken, wir hätten nur einen schlechten Traum gehabt, wie?« fragte er. »Oder wir wachen gar nicht mehr auf, und -«

»Das reicht«, sagte Petach scharf, und Aton verstummte. Doch diesmal hatte Petach seine unheimliche Macht gar nicht eingesetzt. Es war die Autorität in seiner Stimme gewesen, die es Aton unmöglich machte, weiterzusprechen.

Sie betraten das Haus. Atons Mutter schlug erschrocken die Hand vor den Mund, als sie sah, wie es drinnen aussah - zu allem Überfluß hatten die Polizisten auch noch die Vordertür eingeschlagen, um sich gewaltsam Zutritt zum Haus zu verschaffen, und der hereingewehte Schnee war mittlerweile längst geschmolzen, so daß der Hausflur tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem schlammigen Schwimmbad besaß. Die zerborstene Tür zu Atons Zimmer war die Treppe hinuntergestürzt und hatte dabei auch noch einen Teil des Geländers zertrümmert, und der Sturm hatte sämtliche Bilder von den Wänden gefegt.

Petach sorgte auf seine ganz eigene Art dafür, daß sich Mutters Erschrecken in Grenzen hielt, und es verging nur ein Augenblick, ehe sie sich wieder ganz Aton zuwandte.

»Geh schon hinauf ins Bad«, sagte sie. »Ich bringe dir gleich trockene Sachen. Am besten duschst du ausgiebig und wärmst dich richtig auf.«

Aton gehorchte sofort, denn er zitterte vor Kälte am ganzen Leib. Während sich Petach seiner Mutter zuwandte und mit leiser Stimme auf sie einzureden begann (wenn er mit ihr fertig ist, dachte Aton verärgert, dann wird sie wahrscheinlich vergessen haben, daß dieses Haus jemals anders ausgesehen hat als jetzt), eilte er die Treppe hinauf und begann sich schon auf dem Weg zum Badezimmer aus den nassen Kleidern zu schälen.

Oben angekommen, erlebte er die nächste Überraschung. Er hatte zwar mit eigenen Augen gesehen, wie die Mumie Bastet mit solcher Wucht gegen die Wand geschmettert hatte, daß der Aufprall ihr eigentlich jeden einzelnen Knochen im Leib hätte brechen müssen, aber die Katze saß vollkommen unversehrt auf dem Treppenabsatz, und Aton hätte keinen Pfennig darauf gewettet, daß der Ausdruck in ihren Augen kein spöttisches Lächeln war. Er ignorierte das Tier, eilte ins Bad und verbrachte die nächsten zwanzig Minuten damit, unter der Dusche zu stehen und das Gefühl zu genießen, wie das heiße Wasser die Kälte aus seinen Gliedern vertrieb.

Aton fühlte sich nicht nur körperlich wohler, als er wieder ins Erdgeschoß zurückkam.

Seine Mutter hatte ihm trockene Kleider gebracht, während er unter der Dusche gestanden hatte, und für eine kurze Weile hatte er ein emsiges Klopfen und Hämmern gehört, dessen Bedeutung ihm klar wurde, als er die Treppe hinunterkam. Sein Vater und Petach hatten die Haustür notdürftig repariert und die vollkommen zertrümmerte Hintertür mit Brettern vernagelt, so daß zwar noch die Kälte, wenigstens aber nicht mehr der Wind Einlaß ins Haus fand. Im Wohnzimmer brannte Licht, und Aton hörte die Stimmen seiner Eltern und Petachs, noch bevor er die Tür erreichte.

Sie hatten noch ein übriges getan: Das Chaos im Wohnzimmer war beseitigt worden, zumindest soweit es im Moment überhaupt möglich war. Die Möbel (die, die noch ganz waren, hieß das) waren wieder an ihren Platz gerückt und die größeren Trümmerstücke und Glasscherben zusammengefegt worden.

Trotzdem bot das Zimmer einen Anblick zum Gotterbarmen. Auf dem Boden stand zentimeterhoch das Wasser. Die meisten Bücher waren aus den Regalen gefegt worden, viele der kostbaren Bände lagen zerrissen und aufgeweicht am Boden und der allergrößte Teil von Vaters Sammlung dazu. Aton verstand zuerst kaum, wieso sein Vater diesen Anblick so gelassen hinnahm. Ein einziger Blick in Petachs Gesicht beantwortete diese Frage. Dann entdeckte er auch die blonde Polizeibeamtin, die noch geblieben war.

»Aton!« begrüßte ihn sein Vater. »Fühlst du dich besser?«

Aton nickte geistesabwesend und setzte seine Musterung des Zimmers fön. Auf dem Parkett, dort, wo der magische Kreis gewesen war, prangte ein gewaltiger Brandfleck, aber von der Mumie war nicht einmal Asche zurückgeblieben. Auch Schild und Lanze waren verschwunden. Aton vermutete, daß Petach diese Dinge beiseite geschafft hatte, um lästigen Fragen aus dem Weg zu gehen.

»Nun«, begann sein Vater, »jetzt, wo du -« Er brach wieder ab. Seine Augenbrauen zogen sich ärgerlich zusammen, während er etwas hinter Aton starrte. Aton wandte den Kopf und erkannte den Grund für die Verstimmung seines Vaters: Es war Bastet. Die Katze hatte hinter ihm das Zimmer betreten, sich gesetzt und in aller Seelenruhe damit begonnen, sich zu putzen.

»Was tut dieses kleine Monster hier im Haus?« fragte er.

»Bastet ist kein Monster!« hörte Aton sich zu seinem eigenen Erstaunen heftig widersprechen. »Sie hat mir das Leben gerettet!«

»Bastet?«

»Ich finde, der Name paßt«, antwortete Aton.

»Und wieso hat sie dir das Leben gerettet?« fragte die Polizistin.

»Das ist vielleicht ein bißchen übertrieben«, mischte sich Petach ein. »Aber immerhin hat sie Alarm gegeben, als der Mann oben das Fenster aufgebrochen hat. Sie gebärdete sich plötzlich wie wild.«

»Was man von deinem tapferen Wachhund nicht behaupten kann«, fügte Aton hinzu.

»Anubis?« Sein Vater sah sich suchend um. »Wo ist er überhaupt?«

»Er ist in den Garten gelaufen, als die Tür zu Bruch ging«, sagte Petach. »Aber er wird schon wiederkommen.« Er deutete auf Bastet. »Lassen Sie das Tier hier. Aton hängt daran.«

Atons Vater gab sich mit einem Seufzen geschlagen. »Na gut. Meinetwegen. Es ist ja sowieso nur noch für ein paar Stunden.« Er wandte sich an die Polizistin. »Ich denke, wir sind dann soweit fertig. Sie schicken Ihren Bericht direkt an meine Versicherung, wie besprochen?«

Die junge Frau klappte ihren Notizblock zu und verstaute ihn in einer Tasche ihrer Uniformjacke. »Ja«, sagte sie. »Ich muß jetzt wirklich los. Im Grunde bin ich schon viel zu lange hier. Meine Vorgesetzten werden sich fragen, wo ich bleibe.« Sie drehte sich zur Tür, blieb aber plötzlich wieder stehen und lächelte Aton an. »Begleitest du mich hinaus?«

»Gerne«, antwortete Aton. Er war ganz froh, aus diesem Zimmer herauszukommen. Der Schrecken war noch zu frisch, und alles hier drinnen erinnerte ihn an das entsetzliche Geschehen.

Sie verließen das Zimmer und einen Augenblick später das Haus. Aton verbarg fröstelnd die Hände in den Hosentaschen, während sie auf den Streifenwagen zugingen. Es war kälter geworden, und das Heulen des Windes und die Schatten, die das Haus belagerten, brachten die Angst von vorhin zurück.

»Das war sicher sehr aufregend, wie?« fragte die Polizistin. »So ein ungebetener Besucher kann einem einen ganz schönen Schrecken einjagen. Aber es ist ja nichts passiert - oder?«

Aton war ein wenig verwirrt. Er spürte, daß die junge Frau ihn nicht grundlos gebeten hatte, sie zu begleiten. Hatte sie vielleicht doch Verdacht geschöpft?

»Dein Name ist Aton, nicht?« fragte sie. Sie hatten den Wagen erreicht, aber sie machte keine Anstalten, einzusteigen. »Ein seltsamer Name. Aber hübsch.«

»Der Name des ägyptischen Sonnengottes unter Echnaton«, antwortete Aton. Er lächelte schüchtern. »Mein Vater liebt alles, was mit den alten Ägyptern zusammenhängt. Dabei habe ich noch Glück, daß er nicht die alte Schreibweise gewählt hat. Aton ist im Grunde ein Übersetzungsfehler. Eigentlich hieß er Aten. Aber mit dem Namen hätte ich wahrscheinlich Selbstmord begangen, ehe ich fünf geworden wäre.«

»Aton gefällt mir«, antwortete die Polizistin lächelnd. »Mein Name ist Sascha.«

»Sascha? Aber das ist ein Jungenname!«

»Das denken die meisten, aber es stimmt nicht.« Sie zog eine Karte aus der Tasche und reichte sie Aton. »Hier - meine Adresse. Auf der Rückseite steht meine Privatnummer. Du kannst mich jederzeit anrufen.«

»Aber wieso?« Aton drehte die Visitenkarte verwirrt in der Hand.

»Weil ich das Gefühl habe, daß hier irgend etwas nicht stimmt.« Sie hob rasch die Hand, als Aton widersprechen wollte. »Steck die Karte einfach ein, okay? Und jetzt geh wieder ins Haus, ehe du dich am Ende wirklich noch erkältest.«

Aton wich einige Schritte von dem Streifenwagen zurück, aber er blieb noch stehen, bis Sascha eingestiegen war und den Motor gestartet hatte. Ihre Worte hatten ihn verblüfft - aber zugleich auch froh gestimmt. Sie wußte natürlich nicht, was hier wirklich geschehen war, aber ganz offensichtlich spürte sie, daß irgend etwas hier nicht so war, wie es aussehen sollte. Und das wiederum erfüllte Aton mit einem Gefühl tiefer Erleichterung. Denn es bedeutete, daß Petachs Macht vielleicht doch nicht ganz so groß war, wie er bisher angenommen hatte.

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