Böse Mächte

Trotz der Aufregung hatte Aton gut und lange geschlafen, so daß er auch am nächsten Morgen erst wieder lang nach Sonnenaufgang erwachte. Sascha war bereits in einem Schnellimbiß gewesen und hatte ein Frühstück besorgt, und sowohl sie als auch Aton aßen mit großem Appetit.

Anschließend erklärte Sascha, ihn noch einmal für zwei oder allerhöchstens drei Stunden allein lassen zu müssen, ohne auch nur eine Andeutung zu machen, was sie in dieser Zeit vorhatte. Sie tröstete Aton mit dem Inhalt einer weißen Plastiktüte, die sie zusammen mit dem Frühstück gebracht hatte.

Diese enthielt ein kleines, batteriebetriebenes Kofferradio sowie einige Zeitschriften - eine ziemlich willkürliche Auswahl, wie Aton beim Durchblättern feststellte. Sascha hatte sich wohl gefragt, was einen Jungen seines Alters interessierte, und dann einfach alles mitgenommen, wovon sie dachte, daß er es gerne lesen würde, vom Musikmagazin bis zur Autozeitschrift. Im Grunde war nichts dabei, was Aton wirklich interessierte, aber alles war besser, als die nächsten Stunden damit zu verbringen, wie ein gefangener Tiger im Kreis herumzulaufen und darauf zu warten, daß die Zeit verging.

Er blätterte eine Weile in den Zeitschriften und schaltete schließlich das Radio ein. Da es fast die volle Stunde war, drehte er so lange an der Skala, bis er einen Lokalsender gefunden hatte, der Nachrichten brachte. Aton hörte aufmerksam zu. Aber worauf er wartete, kam nicht. Kein Wort von dem, was gestern abend in Saschas Wohnung geschehen war. Und das war wirklich sonderbar, denn es war ein Sender, von dem Aton wußte, daß er sich hauptsächlich mit dem beschäftigte, was hier in der Stadt vorging. Der Sprecher berichtete lang und breit über den geplanten Neubau eines Kindergartens, über irgendeine öde Haushaltsdebatte im Stadtrat, ja sogar über einen kleinen Autounfall in der vergangenen Nacht, bei dem niemand verletzt worden war, sondern nur ein geringer Sachschaden verzeichnet wurde. Ein Zwischenfall, bei dem eine komplette Wohnung verwüstet und ein ganzes Mietshaus in helle Aufregung versetzt wurde, wäre in diesem Sender normalerweise nicht verschwiegen, sondern eher zur Sensation gemacht worden. Da Sascha es ihm für heute nicht ausdrücklich verboten hatte, verließ er nach einer Weile das Zimmer und blieb draußen auf dem Gang einen Moment unschlüssig stehen. Einige Sekunden lang spielte er mit dem Gedanken, noch einmal eine der anderen Türen zu öffnen, um sich davon zu überzeugen, daß dahinter tatsächlich ganz normale Hotelzimmer waren und nicht gähnende Abgründe der Leere lagen. Aber er verwarf die Idee rasch wieder.

Er hatte Dringenderes zu tun. Aton hatte nämlich nicht vor, weiter tatenlos herumzusitzen und darauf zu warten, daß ihn irgendeines der Wesen, die ihn verfolgten, auch tatsächlich erwischte. Und er hatte auch schon einen - wenn auch noch recht vagen - Plan, was sein weiteres Vorgehen betraf.

Er ging ins Erdgeschoß hinunter und stellte mit Verwunderung fest, daß der Portier hinter der Theke derselbe wie in der vergangenen Nacht war. Er saß immer noch da und blätterte in seiner Zeitung, und als er Schritte hörte, sah er nur flüchtig auf und konzentrierte sich dann wieder auf die buntbedruckten Seiten. Obwohl er die ganze Nacht dort gesessen haben mußte, wirkte er kein bißchen müde. Er versuchte auch nicht, Aton am Verlassen des Hotels zu hindern. Mit einem angedeuteten Nicken ging er an dem alten Mann vorbei und öffnete die Tür.

Es war sehr kalt draußen. Aton vergrub fröstelnd die Hände in den Hosentaschen und wandte sich nach links, der Hauptstraße zu. Etwas Sonderbares geschah: Aton konnte die breite, vierspurig ausgebaute Straße deutlich sehen. Autos fuhren vorüber, Passanten hasteten, in dicke Wintermäntel gehüllt, vorbei, eine Straßenbahn bahnte sich ratternd ihren Weg durch den Verkehr - aber die Straße hier war und blieb vollkommen leer. Es war nicht nur so, daß kein einziger Wagen vorbeikam oder am Straßenrand geparkt war, er sah auch keine anderen Passanten, und selbst hinter den Fenstern der Häuser rührte sich nichts. Es war, als hätte die Stadt, deren lärmendes, pulsierendes Herz so nahe lag, diese Häuserblöcke vollkommen vergessen.

Aton marschierte in scharfem Tempo auf die Hauptstraße zu, blieb aber kurz davor noch einmal stehen und sah zu dem Straßenschild hoch, das an einer Hauswand über ihm angebracht war. Es war so alt und verblaßt, daß er Mühe hatte, den Straßennamen zu entziffern. Aton prägte ihn sich sorgfältig ein, ehe er weiterging, und kaum war er auf die Hauptstraße hinausgetreten, da verkehrte sich der unheimliche Effekt, den er beim Verlassen des Hotels bemerkt hatte, ins genaue Gegenteil. Als hätte er eine unsichtbare Grenze überschritten, schien der Verkehrslärm schlagartig auf das Dreifache seiner Lautstärke anzusteigen, und es wurde viel heller.

Die Schatten waren hier nicht so tief, die Kälte nicht ganz so beißend. Aton hätte niemals geglaubt, daß er beim Anblick einer überfüllten, lärmenden, von Autoabgasen verpesteten Straße erleichtert aufatmen würde, aber genau das geschah.

Und es geschah noch etwas: Ganz plötzlich wußte er, wo er war. Er befand sich in einem Teil der Stadt, den er eigentlich sehr gut zu kennen glaubte. Sonderbar, daß er sich an die heruntergekommene Seitenstraße mit den verfallenen Häusern gar nicht erinnert hatte.

Aton wartete, bis er eine Lücke in dem dicht fließenden Verkehr erspähte, dann überquerte er schnell und im Zickzack zwischen den Wagen hindurchspringend die Straße. Da er relativ nahe dem Stadtzentrum war, mußte er nicht allzulange suchen, bis er fand, was als erstes auf seiner Liste stand: ein Reisebüro.

Aton betrat das kleine, weihnachtlich geschmückte Ladenlokal und steuerte zielsicher einen der beiden Schreibtische an.

Er war nicht der einzige Kunde. An dem Tisch neben der Tür saß eine ältere Frau in einem Pelzmantel, die mit hektischen Bewegungen in einem bunten Prospekt blätterte und dabei dann und wann eine Frage an den jungen Mann auf der anderen Seite des Tisches richtete, die dieser geduldig beantwortete. Hinter dem anderen, freien Schreibtisch saß eine junge Frau, die beim Klingeln der kleinen Türglocke aufsah und Aton mit einem freundlichen Lächeln entgegenblickte, das Aton erwiderte.

»Guten Tag«, sagte die junge Frau. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich interessiere mich für die schnellste Verbindung nach Ägypten«, antwortete Aton. »Mein Vater ist dort. Ich will ihn zu Weihnachten überraschen und besuchen.«

Die junge Frau begann, mit der linken Hand die Tastatur des Computers zu betätigen, mit der anderen deutete sie Aton, sich zu setzen. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte sie, ohne vom Bildschirm aufzusehen. »Du kannst das Flugzeug direkt nach Kairo nehmen oder von Genua aus die Fähre nach Alexandria. Wenn du allerdings zu Weihnachten dort sein willst, bleibt eigentlich nur das Flugzeug. Die Maschine geht täglich zweimal, eine am Vormittag, eine am späten Abend. Aber das ist teuer, ist dir das klar?«

Aton nickte, Geld war gottlob kein Problem. Er verfügte über ein eigenes Konto, und da es im Internat wenig Möglichkeiten gab, Geld auszugeben, hatte sich dort im Laufe der letzten Jahre eine hübsche Summe angesammelt. Die Bank war Punkt zwei auf seiner Liste.

»Das Flugzeug ist in Ordnung«, sagte er. »Kann ich heute abend noch einen Platz bekommen?«

»Ich schaue nach.« Sie begann wieder, Zahlen in den Computer einzutippen. »Dann brauche ich deinen Namen, Geburtsdatum, deinen Paß und die Nummer deines Einreisevisums.«

Aton wäre am liebsten in den Erdboden versunken. Der Paß - daß er daran nicht gedacht hatte. Der Paß lag zu Hause im Safe - und in das Haus seiner Eltern konnte er nicht mehr zurück!

Ehe er der jungen Frau antworten konnte, klingelte die Türglocke erneut. Aton hätte es gar nicht zur Kenntnis genommen, hätte sein Gegenüber nicht aufgeblickt und für einen Moment erstaunt die Stirn gerunzelt. Automatisch drehte auch er sich im Sessel herum - und zog ebenfalls überrascht die Augenbrauen hoch. An der Tür war niemand. Sie war auch nicht aufgegangen, und trotzdem glaubte er für einen Moment einen eisigen Lufthauch zu spüren. Und da war noch etwas. Aton fröstelte. Es war, als ... als wäre etwas Unsichtbares, Düsteres in den Raum getreten. Ganz plötzlich schien der gerade noch so helle, freundliche Raum zu einem Teil jener unheimlichen Straße geworden zu sein, in der das Hotel lag. Die Schatten wirkten dunkler, das Licht gedämpft, alle Geräusche ein wenig flacher.

Aton schüttelte das Gefühl mit Mühe ab und wandte sich wieder um. »Der Paß«, wiederholte er.

Die junge Frau sah ihn durchdringend an. Sie lächelte noch immer, aber es war jetzt ein rein geschäftsmäßiges Lächeln, das nichts bedeutete, und Aton spürte die Ungeduld dahinter.

»So etwas braucht man, wenn man nach Ägypten reisen will«, sagte sie. Ihre Stimme klang nicht mehr so freundlich.

Aton setzte zu einer gestammelten Entschuldigung an, doch in diesem Moment erklang hinter ihm ein schepperndes Geräusch, unmittelbar gefolgt von einem spitzen, wütenden Schrei und dem Geräusch eines Stuhles, der heftig zurückgestoßen wurde. Aton drehte sich um und sah, daß dem Kollegen der jungen Frau ein Mißgeschick unterlaufen war. Offensichtlich hatte er sich vorgebeugt und dabei eine Kaffeetasse umgestoßen, die auf dem Tisch gestanden hatte. Der Inhalt hatte sich nicht nur über die Reiseprospekte und Papiere darauf, sondern auch über den Mantel der Kundin ergossen, die zwar schnell, aber nicht schnell genug aufgesprungen war.

»Verdammt noch mal, passen Sie doch auf!« schimpfte - nein, schrie - sie. Eine Sekunde lang blickte sie mit zornesrotem Gesicht auf den häßlichen Fleck hinab, der sich auf ihrem - Atons Meinung nach sowieso ziemlich geschmacklosen - Leopardenmantel ausbreitete, dann heftete sie ihre Augen wieder auf den jungen Mann, der vor lauter Verlegenheit gar nicht wußte, was er tun sollte. »Sie blöder Trottel!« giftete sie.

Der junge Mann schien in seinem Stuhl ein Stück zusammenzuschrumpfen. »Es ... es tut mir schrecklich leid«, sagte er. »Ich werde den Schaden selbstverständlich -«

»Schaden! Papperlapapp!« unterbrach ihn die Frau. »Wenn Sie zu dämlich sind, eine Tasse Kaffee zu trinken, dann arbeiten Sie doch bei der Müllabfuhr!«

Aton riß erstaunt die Augen auf, und aus dem Gesicht des unglückseligen Angestellten wich das letzte bißchen Farbe. Aton konnte den Zorn der Frau zwar verstehen, nicht aber ihre völlig übersteigerte Reaktion. Plötzlich beugte sie sich vor, funkelte den jungen Mann wutentbrannt an - und fegte mit einer einzigen Bewegung alles, was sich noch auf dem Tisch befand, zu Boden, einschließlich des Telefons und einer zweiten Tasse, die klirrend zerbrach.

»So!« sagte sie triumphierend. »Da sehen Sie, wie es ist, wenn man es mit Idioten zu tun hat!« Damit warf sie den Kopf in den Nacken, drehte sich herum und verließ im Laufschritt den Laden. Der junge Mann blickte ihr betroffen nach - aber Aton sah auch die Wut, die in seinen Augen erwachte. Plötzlich wirkte seine ganze Haltung angespannt. Er richtete sich halb im Sessel auf, und für eine Sekunde war Aton davon überzeugt, daß er aufspringen und der Frau hinterherlaufen würde, um den Streit draußen auf der Straße fortzusetzen. Aber dann ließ er sich wieder zurücksinken und versetzte statt dessen seinem Schreibtisch einen zornigen Fußtritt. »Blöde Kuh!« sagte er.

Aton, dem die ganze Geschichte mehr als peinlich war, wandte sich wieder zu der jungen Frau auf der anderen Seite des Tisches um - und blickte in ein Gesicht, aus dem mittlerweile auch die letzte Spur von Freundlichkeit gewichen war. »Also, was ist jetzt, Kleiner?« fragte sie schneidend. »Soll ich den Flug buchen oder nicht? Ich brauche deinen Paß und die Nummer deines Visums. Bezahlen kannst du das Ticket heute abend am Flughafen - falls du wirklich vorhast, zu fliegen, heißt das.«

Aton war so verblüfft, daß er gar nicht antworten konnte. Er verstand ja, daß auch die junge Frau nicht sehr erfreut über den häßlichen Zwischenfall war - aber wieso ließ sie ihre schlechte Laune an ihm aus?

»Ich fürchte, ich muß ...« stotterte er. »Ich habe ganz vergessen, daß -«

»Daß wir nicht hier sind, um die Zeit totzuschlagen?« unterbrach sie ihn. Sie gab sich jetzt nicht einmal mehr Mühe, höflich zu klingen. »Mein lieber, junger Freund, wenn dir langweilig ist, dann geh doch nach Hause und ärgere deine Eltern. Wir sind nämlich hier, um zu arbeiten.«

Aton riß vor Verblüffung Mund und Augen auf. Normalerweise hätte er sich einen solch unbegründeten Angriff von niemandem gefallen lassen, ganz egal, wie alt er nun war, aber er war viel zu perplex, entsprechend zu reagieren. Plötzlich hatte er wieder das Gefühl, nicht allein mit den beiden Angestellten im Raum zu sein. Da schien es noch etwas zu geben, etwas Unsichtbares, Finsteres, etwas, was Öl in die Flammen ihres Zornes goß und verhinderte, daß irgend jemand - Aton eingeschlossen - die Situation mit der angemessenen Ruhe betrachtete. Aton spürte, wie auch in ihm Zorn emporwallte. Er setzte zu einer scharfen Antwort an, doch noch bevor er auch nur den Mund auftun konnte, fuhr ihn der Mann hinter dem anderen Schreibtisch an: »Verschwinde hier, bevor ich dich hinauswerfe. Stiehl jemand anderem die Zeit!«

Aton verließ fluchtartig das Reisebüro. Er lief zwanzig, dreißig Meter weit die Straße hinunter, ehe seine Schritte langsamer wurden und sich sein rasender Puls allmählich beruhigte.

Er war wütend wie niemals zuvor im Leben. Es wurde nicht besser, nachdem er das Geschäft verlassen hatte, sondern eher schlimmer. Aton mußte sich mit aller Macht beherrschen, nicht zurückzugehen und diesen beiden unfreundlichen Menschen zu sagen, was er wirklich von ihnen hielt. Vielleicht hätte er es sogar getan, wäre nicht in diesem Moment schon wieder etwas passiert. Hinter ihm quietschten plötzlich Bremsen. Ein dumpfer Aufprall und das Klirren von Glas folgten. Aton drehte sich um und sah, daß unmittelbar neben ihm ein Wagen auf einen anderen aufgefahren war.

Der Schaden war nicht sehr groß. Ein zerbrochener Scheinwerfer, eine verbeulte Stoßstange und einige Kratzer im Lack, das war alles. Trotzdem rissen die beiden Fahrer die Türen auf, sprangen aus ihren Wagen und stürmten, offenbar kochend vor Zorn, aufeinander los. Völlig fassungslos beobachtete Aton, wie die beiden Männer sich anzuschreien begannen, ohne daß der eine dem anderen auch nur zugehört hätte. Einige Passanten, die den Unfall beobachtet hatten, mischten sich ein. Aber das änderte nichts, denn offensichtlich waren auch die Zeugen uneins, als hätte jeder etwas anderes gesehen. Binnen Sekunden brach auch unter ihnen ein lautstarker Streit aus, der rasch so eskalierte, daß sich Aton nicht weiter gewundert hätte, wenn sie plötzlich mit den Fäusten übereinander hergefallen wären. Dann, von einer Sekunde auf die andere, war alles vorbei. Die Passanten hörten auf, sich anzuschreien, und auch die beiden Autofahrer, die sich mit geballten Fäusten wie zwei Boxer im Ring gegenübergestanden hatten, brachen plötzlich mitten im Wort ab und sahen sich verblüfft an. Es war, als ob sich eine unsichtbare Dunkelheit von der Szenerie hob. Plötzlich war die aggressive, gewaltgeladene Stimmung nicht mehr da, und statt dessen machten sich Betroffenheit und Schrecken breit.

Aton wandte sich rasch um und ging. Er war völlig verwirrt, und plötzlich hatte er wieder Angst. Das war kein Zufall gewesen. Irgend etwas geschah hier, und er hatte sogar das Gefühl, eigentlich wissen zu müssen, was. Doch dann entglitt ihm der Gedanke wieder, und Aton wandte sich wichtigeren Problemen zu.

Und wie es aussah, hatte er davon eine ganze Menge. Eines davon hatte vier Beine, war schwarz wie die Nacht und stand zwanzig Schritte vor ihm inmitten der Passanten.

Aton blieb wie vom Donner gerührt stehen, als er den Hund sah.

Anubis stand völlig reglos da und starrte ihn an. Der Bürgersteig war voller Menschen, aber niemand nahm Notiz von dem riesigen Dobermann; dabei hätte der Anblick eines solchen Hundes, der völlig frei in der Stadt herumlief, zumindest für Aufsehen sorgen müssen. Doch niemand schien das Tier auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Atons Gedanken überschlugen sich. Der Hund stand weiter reglos da und starrte ihn aus seinen unheimlichen, goldgelben Augen an, und Aton spürte, daß er nicht gekommen war, um ihm etwas zuleide zu tun. Aber das Auftauchen des Hundes war eine Botschaft, wie sie deutlicher kaum hätte sein können. Hatte er wirklich geglaubt, Petach so leicht entwischen zu können?

Erschrocken sah er sich in alle Richtungen um, aber Petach war nicht da. Es war auch nicht nötig. Er verstand sehr gut, was das Erscheinen des Hundes bedeutete. Und er wußte auch, daß es im Grunde vollkommen sinnlos war, weiter davonlaufen zu wollen. Es gab keinen Ort, an dem er sich vor diesem Verfolger verstecken konnte.

Leider war Aton im Moment nicht in der Stimmung, auf die Stimme seiner Vernunft zu hören, und so fuhr er auf dem Absatz herum und begann zu laufen. Einmal sah er über die Schulter zurück. Anubis stand immer noch reglos da und blickte ihm nach, er machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Und gerade das machte die Drohung, die von ihm ausging, noch schlimmer.

Aton war für einen Moment unaufmerksam. Er sah die Gestalt zwar noch, konnte ihr aber nicht mehr gänzlich ausweichen. In vollem Lauf prallte er gegen einen Mann, der schwer beladen mit Paketen und Taschen aus einem Geschäft heraustrat, schlug der Länge nach hin und sah aus den Augenwinkeln, wie sich die Tüten und Pakete in weitem Umkreis auf dem Bürgersteig verteilten. Der Mann selbst fiel nicht, sondern fand im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder, aber sein Gesicht verdunkelte sich vor Zorn. Noch ehe Aton sich wieder aufrappeln konnte, trat der Mann auf ihn zu, packte ihn an der Schulter und riß ihn grob in die Höhe.

»Kannst du nicht aufpassen?« fuhr er ihn an. »Jetzt sieh dir an, was du angerichtet hast!«

»Bitte entschuldigen Sie«, stammelte Aton. »Es tut mir leid.«

Die Worte schienen den Zorn seines Gegenübers nur noch zu schüren. »Es tut dir leid, so?!« fauchte er. »Na, dann paß mal auf, wie leid es dir gleich tut!«

Und damit holte er aus und schlug zu.

Aton duckte sich blitzschnell und entging so einer schallenden Ohrfeige, die ihn unweigerlich wieder zu Boden geschleudert hätte, und der Schwung seiner eigenen Bewegung riß den Mann nach vorn und ließ ihn einen Schritt an ihm vorbeistolpern. Aton nutzte die Chance, um rasch herumzufahren und wegzulaufen.

Verfolgt von den Verwünschungen und Flüchen des Mannes, rannte er bis zur nächsten Ecke, bog in eine Seitenstraße und blieb schwer atmend stehen. Hastig sah er sich um. Er wäre nicht sehr erstaunt gewesen, den wütenden Mann hinter sich drein stürmen zu sehen, aber die Straße blieb leer.

Was geschieht hier? fragte sich Aton entsetzt. Es war, als ob er Zorn und Unmut verbreitete, wo immer er auftauchte. Er spürte die körperlose Kälte und Finsternis noch immer, nicht mehr so deutlich wie im Reisebüro oder danach auf der Straße, aber sie war noch da.

Aton wartete noch eine ganze Weile, bis er sicher war, tatsächlich nicht verfolgt zu werden, dann ging er wieder zur Hauptstraße zurück und spähte vorsichtig um die Ecke. Der Mann, den er angerempelt hatte, war damit beschäftigt, seine fallengelassenen Pakete und Tüten aufzuheben, und trotz der großen Entfernung konnte Aton deutlich erkennen, daß er jetzt gar nicht mehr zornig dreinsah, sondern nur noch betroffen. Aton schaute ihm noch einige Sekunden lang zu, dann wandte er sich zur Straße und winkte das erste Taxi heran, das er sah. Der Wagen hielt. Der Fahrer beugte sich über den Beifahrersitz, öffnete die Tür und sah Aton mißtrauisch ins Gesicht.

»Wohin?« fragte er.

Aton nannte die Adresse, die er auf dem Straßenschild gelesen hatte, stieg ein und zog die Tür hinter sich zu.

Der Taxifahrer sah ihn zweifelnd an. »Bist du sicher?« fragte er. Er wartete Atons Antwort allerdings gar nicht ab, sondern zuckte mit den Schultern, schaltete sein Taxameter ein und fuhr los.

Er fuhr sehr schnell. Der Verkehr war dicht, aber der Mann drängelte sich rücksichtslos voran, sprang mit dem Wagen von Lücke zu Lücke und fuhr ein paarmal sogar ein Stück weit über den Bürgersteig, so daß die Passanten hastig aus dem Weg springen mußten. Einmal raste er bei Rot über eine Ampel und quittierte das zornige Hupen und Bremsenquietschen hinter ihnen mit einem höhnischen Grinsen in den Rückspiegel, und als Aton ihn bat, etwas langsamer zu fahren, blickte er ihn nur verärgert an.

Wie durch ein Wunder erreichten sie die Straße, in der das Hotel lag, ohne irgend jemanden zu überfahren oder einen Unfall zu verursachen. Als der Wagen mit kreischenden Bremsen vor dem Hotel zum Stehen kam, erlebte Aton einen Schock.

Das Hotel war nicht mehr da. Das heißt - natürlich war das Gebäude noch da, aber irgendwie schien es seit seinem Weggang vor zwei Stunden um die gleiche Anzahl von Jahrzehnten gealtert zu sein. Die Leuchtreklame über der Tür war verschwunden, an ihrer Stelle ragten nur noch ein paar abgerissene Drähte aus der Wand. Von der Fassade blätterte der Putz, und in keinem einzigen Fenster befand sich noch Glas.

Die Tür hing schräg in den Angeln und gewährte Aton einen Blick auf die staubigen, zerborstenen Fliesen der kleinen Eingangshalle.

»Nun, was ist?« fauchte der Taxifahrer gereizt. »Du wolltest hier hin, und wir sind hier.« Er tippte mit den Fingerknöcheln auf den Taxameter. »Du kannst doch bezahlen, oder? Du hast doch Geld - wenigstens rate ich dir das.«

»Ja«, antwortete Aton hastig und korrigierte sich ein wenig leiser: »Das heißt, ich habe es drinnen. Der Portier wird Sie bezahlen. Bitte warten Sie einen Moment.«

Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, um auszusteigen, aber der Taxifahrer ergriff ihn rasch am Arm und hielt ihn fest. »Dort drin?« fragte er. »Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Aber er ist da«, sagte Aton. »Wirklich, ich -«

»Nichts da!« unterbrach ihn der Taxifahrer. Er verstärkte seinen Griff so sehr, daß Aton die Tränen in die Augen schossen. »Davon will ich mich selbst überzeugen. Und ich rate dir, daß du die Wahrheit gesagt hast. Wenn nicht, wirst du mich kennenlernen!«

Er riß die Tür an seiner Seite auf und sprang aus dem Wagen.

Ohne die geringste Rücksicht auf Aton zu nehmen, den er hinter sich her zerrte, ging er auf das zu, was vor zwei Stunden noch ein Hotel gewesen war, stieß die Tür vollends auf und ließ ein ärgerliches Schnauben hören, als sein Blick in die vollkommen leere und ganz offensichtlich seit einem Jahrzehnt von keinem Menschen mehr betretene Eingangshalle fiel.

Das Innere des Gebäudes bot einen noch schäbigeren Anblick als sein Äußeres. Auf dem Boden lagen knöchelhoch Staub und Unrat. Die Theke, hinter der der alte Mann mit seiner Zeitung gesessen hatte, war verschwunden, die nach oben führende Treppe mit einem rot-weißen Band gesperrt, ein großes Schild daneben verkündete, daß bei Betreten des Hauses Lebensgefahr bestünde. Die Luft roch alt und nach Moder und Fäulnis.

»So!« sagte der Taxifahrer wütend. »Du willst mich also auf den Arm nehmen, Bürschchen, wie? Dich werde ich lehren, mich -«

»Es ist schon in Ordnung«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Aton und der Taxifahrer drehten sich im selben Moment um, und hätte Aton nicht vor Schmerz ohnehin die Zähne zusammengebissen, dann hätte er in diesem Moment aufgestöhnt.

Hinter ihnen stand Petach. Trotz der Kälte war er nur mit einem dünnen Sommeranzug bekleidet, und trotz allem, was er gestern abend noch zu Aton gesagt hatte, lächelte er so freundlich und warm wie immer.

»Wer sind Sie denn?« fragte der Taxifahrer aggressiv.

Petach hob in einer fast beiläufigen Geste die Hand. »Der Junge gehört zu mir«, sagte er. »Sie können ihn loslassen. Ich werde Ihre Rechnung übernehmen.«

Der Taxifahrer maß zuerst Petach, dann Aton und dann noch einmal den Ägypter mit einem unsicheren Blick, ließ endlich Atons Arm los, wandte sich achselzuckend um und ging zu seinem Wagen zurück, ohne den ihm zustehenden Fahrpreis verlangt zu haben. Einen Augenblick später hatte er den Wagen angelassen und fuhr davon.

»Das war nicht sehr klug von dir, Aton«, sagte Petach. Seine Stimme klang wie immer. Ruhig, fast sanft, der Tadel darin nicht verletzend, und trotzdem hatte Aton plötzlich das Gefühl, schreien zu müssen.

»Warum tun Sie das, Petach?« fragte er. Seine Stimme schwankte. Sie klang, als kämpfte er mit äußerster Mühe gegen die Tränen, und Aton versuchte sich Selbst vergeblich einzureden, daß es nur der pochende Schmerz in seinem Arm war, der vom harten Griff des Taxifahrers herrührte.

Petach schwieg.

»Es geschieht wieder«, murmelte Aton. »Es ist ... dasselbe wie in Crailsfelden, nicht wahr? Es beginnt erneut.«

Petach antwortete auch darauf nicht, aber das war auch nicht nötig. Aton hatte es gespürt, seit er das Hotel verlassen hatte. Es war dasselbe wie in Crailsfelden. Die Dunkelheit, die sich über diesen Ort gelegt hatte, war jetzt auch hier in dieser Stadt.

»Warum?« fragte er. »Warum tun Sie das?«

Petach schüttelte den Kopf. »Das bin nicht ich, Aton«, sagte er. »Sie sind es.«

»Sie haben mich gefunden«, flüsterte Aton.

Petach nickte. »Sie werden dich überall finden, ganz egal, wo du dich versteckst«, sagte er. »Das war es, wovor ich dich warnen wollte.« Er lächelte traurig und deutete mit der linken Hand auf das Gebäude hinter Aton. »Auch diese Mauern hätten dich nicht geschützt. Ich hätte dich schon gestern abend gefunden, hätte ich es gewollt. Aber du mußtest es selbst erleben. Du kannst ihren Häschern entgehen. Du kannst vor den Kreaturen davonlaufen, die sie auf deine Spur setzen. Du kannst diese vielleicht sogar besiegen, denn du bist überraschend stark. Aber ihrem bösen Einfluß kannst du nicht entgehen. Und davor kann ich dich auch nicht schützen. Niemand kann das.«

»Dann wird es wieder geschehen?« fragte Aton leise. »Was in Crailsfelden passiert ist, wird sich ... wird sich wiederholen? Hier?«

»Vielleicht«, antwortete Petach. »Ich vermag es nicht vorherzusagen. Du kannst weiter davonlaufen, Aton, aber es wird dir folgen, wohin du auch gehst. Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an dem man sich vor seinem Schicksal verstecken könnte. Es muß sich erfüllen, so oder so.«

»Sie meinen, daß ich Unglück verbreite«, sagte Aton bitter.

»Nicht du«, korrigierte ihn Petach. »Aber das, was dir folgt.«

Er schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er ganz leise und in einem Ton, der etwas Endgültiges hatte: »Ich weiß, daß ich einen Fehler gemacht habe. Ich werde ihn nicht wiederholen. Ich werde dich nicht zwingen, mir zu helfen oder mit mir zu kommen. Es liegt allein bei dir, was du tust.«

Niemals zuvor im Leben war Aton eine Entscheidung so schwergefallen wie diese. Er wollte nicht mit Petach gehen. Er hatte panische Angst vor dem, was ihn an jenem unbekannten Ort erwarten mochte, zu dem Petach ihn brachte, aber noch mehr Angst hatte er vor dem, was hier geschah. Er dachte an Crailsfelden und die Katastrophe, an Werner, der jetzt tot war, und an Sascha, die demselben Schicksal am vergangenen Abend nur um Haaresbreite entgangen war, und an die Schwärze, die ihm folgte, und schließlich flüsterte er: »Also gut. Gehen wir.«

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