VII


Das Geborgene Land, Königreich Idoslän, 6241. Sonnenzyklus, Frühsommer.


Tungdil lag neben Balyndis und starrte an die Decke. Letztlich starrte er ins Dunkel und wusste, dass sich über ihm die Decke befand. Es machte keinen Unterschied. Er hätte auch in ein Feuer, in die Sonne oder einen Abgrund starren können.

Er dachte nach. Unentwegt und so sehr, dass er trotz der Ermattung, die in seinem Körper steckte, nicht zu schlafen vermochte.

Etwas stimmte nicht.

Die Freude über das Wiedersehen mit Balyndis hielt an, auch die gegenseitigen Beteuerungen ihrer Gefühle und die Zärtlichkeiten, die sie nach langer Zeit wieder ausgetauscht hatten, empfand er als echt. Dennoch besaß alles, was er tat und sagte, einen Beigeschmack. Es war wie ein unvollkommener Frühling ohne Blüten. Es grünte, aber die Farbenpracht und der Duft fehlten.

Und weil er sich so absurd unzufrieden und unausgefüllt fühlte, hasste er sich. Er war dabei, die neue Idylle von ihm und Balyndis völlig grundlos zu zerstören. In den vergangenen Zyklen hatte er dieses Gefühl für Schuld am Tod seines Sohnes gehalten. Es war nicht so.

Behutsam, um die Zwergin nicht zu wecken, stand er auf, streifte sich sein Nachtgewand über und verließ das Schlafzimmer.

Er schlenderte durch den Stollen, und sogar hier wollte sich das Gefühl nicht einstellen, zu Hause zu sein. Die Gänge und Kammern boten ihm keine Geborgenheit mehr.

Tungdil ging in die Küche, kochte sich einen Tee aus Schafgarbe, Nieswurz und Fenchel. Genüsslich schlürfte er ihn und wartete, dass er sich beruhigte und sein Verstand das Grübeln aufgab.

Gerade, als seine Lider schwer wurden und er mit dem Kopf auf den Tisch sank, hörte er ein dumpfes Krachen aus dem vorderen Teil des Stollens. Ein morsch gewordener Balken, der unter dem Gewicht einer Querstrebe einbrach, hätte anders geklungen. Jemand machte sich mit Wucht am Eingangstor zu schaffen, und Tungdil ahnte das Schlimmste. Schon war es mit der Ruhe vorbei, sämtliche Sinne erwachten. Er rannte zurück ins Zimmer, schlüpfte ins Kettenhemd und die Stiefel, dann nahm er die Feuerklinge.

»Was ist los?« Balyndis richtete sich auf.

»Wir bekommen Besuch«, erwiderte er gehetzt. »Ingrimmsch!«, brüllte er laut. »Steh auf. Es gibt Beschäftigung für deinen Krähenschnabel.« Er zurrte sein Wehrgehänge um die Hüfte und schaute zu ihr. »Denkst du, du kannst uns beistehen?«

Sie grinste. »Welchen Eindruck habe ich vorhin auf dich gemacht, als wir das Lager teilten?« Balyndis schwang sich auf die Füße, legte ebenfalls ihr Kettenhemd an, nahm nach kurzem Zögern ein Beil und einen Schild aus dem Waffenregal.

»Hussa, Beschäftigung?« Boindil hatte darauf verzichtet, sich zu rüsten, und stand mit freiem Oberkörper, offenen Haaren und wallendem Bart vor ihnen. Wenigstens trug er Lederhosen und Stiefel, und in seinen starken Fäusten blitzte der Krähenschnabel. Neben ihm erschien Goda, die etwas länger gebraucht hatte, um in ihre Rüstung zu steigen. »Was meinst du mit...«

Da krachte es erneut vom Eingang her, Holz splitterte.

»Ach, so. Ich verstehe«, stieß Boindil grimmig hervor. »Da will sich jemand einen Stein abholen, der ihm nicht gehört.«

Entweder das, oder die Elben nahmen den Zwergen die Fingerabdrücke auf dem Monolithen übler, als sie es sich erträumt hatten. Doch Tungdil hütete sich, vor den beiden Zwerginnen etwas von ihrem unrühmlichen Abenteuer in Älandur zu erzählen. »Sehen wir nach«, befahl er und schlich sich durch den Gang.

Abendluft wehte ihnen entgegen, die Flämmchen der Öllampen an den Wänden zuckten. Es roch nach taufeuchtem Gras und warmer Erde...

Das durfte eigentlich nicht sein! Demnach stand das Tor offen, und ihr ungebetener Besuch befand sich längst im Innern des Stollens!

Sie bogen um die Ecke und sahen das zerstörte Doppeltor, das in Einzelteilen am Boden lag. »Hat der einen Rammbock dabei?«, wisperte Boindil und schaute sich um. Es gab eine Unzahl von Einmündungen in den Tunnel, in dem sie sich befanden, und aus jeder konnte sie der Feind anspringen. »Wenn es eines dieser Monstren ist, braucht es keinen Rammbock«, gab Tungdil zurück und lauschte. Das nächste Geräusch drang an seine Ohren. Es stammte aus dem hinteren Teil der Behausung, wo sich einst die Schule der Famuli befunden hatte. »Los!«, rief er und rannte zum Laboratorium. »Es sucht den Diamanten genau an der richtigen Stelle.«

Balyndis fiel hinter den dreien zurück, sie kämpfte mit den Nachwirkungen ihrer Krankheit. Darauf durften die anderen keine Rücksicht nehmen. Sie eilten weiter, auch wenn es eine Schwächung ihrer Kampfkraft bedeutete. »Ich bin gespannt, welches von den Viechern wir bekämpfen«, sagte Ingrimmsch unterwegs. »Das in der Rüstung oder das, was in den Saal gerollt ist?« Seine Augen sprühten vor Leben und Kampfeslust. Goda und die neuen Aufgaben hatten die Lebensesse des Kriegers über das Notwendige hinaus entfacht. »Ho, wir dreschen es aus seinem Metall heraus und hacken es in kleine Streifchen, wenn...«

Urplötzlich stand das Wesen vor ihnen.

Es schien sich aus dem Schatten zu lösen, ohne Warnung und ohne Geräusch. Der Anblick genügte den Zwergen und der Zwergin, um zu erkennen, dass es keiner der beschriebenen Gegner war: Sie hatten eine dritte Variante des Ungeheuers vor sich.

Es überragte sie um das Zweifache, sowohl an Größe als auch an Breite. Der in unterschiedlichen Grau- und Grüntönen gefleckte Körper glich dem eines Orks, er bestand ganz aus Muskeln und zeigte kein einziges Streifchen Fett. Lange schwarze Haare hingen in Strähnen vom Kopf, zwei spitze Ohren schauten dazwischen hervor.

Das Gesicht erinnerte auf schreckliche Weise an einen Elben; die Schönheit wurde jedoch durch die gleichgültig blickenden Augen und die Reißzähne getrübt, welche das Wesen mit einem Fauchen entblößte. Es trug nichts außer einem ledernen Lendenschurz und einen Rucksack. Kein Eisen im Leib, kein Tionium am Leib, keine Ma schine. Um die Unterarme schlangen sich weiße Ketten, darunter lagen Eisenschoner, mit denen das jeweils hinterste Kettenglied verbunden war.

»Geht aus dem Weg, Unterirdische«, sagte es mit einer eibenfeinen Stimme, und die dunklen Augen loderten in finsterem Grün auf.

»Du wirst an uns nicht vorbeigelangen, Scheusal«, sagte Ingrimmsch selbstsicher und klopfte mit dem stumpfen Ende des Krähenschnabels gegen die Wand. »Wie nenne ich dich denn? Du siehst nicht aus wie ein Schweinchen.«

Goda schaute verwirrt zu ihrem Meister, der im Angesicht eines Furcht erregenden Wesens darüber nachdachte, welchen Namen man ihm geben könnte. Sie hatte schon seltsame Geschichten über Boindil gehört, und sie fürchtete, dass sie alle wahr waren.

»Hast du den Stein?«, wollte Tungdil wissen und zeigte dem Monstrum die Feuerklinge. »Gib ihn zurück. Du weißt, wie es sonst für dich enden wird.«

»Es wird doch auf alle Fälle schlecht für es enden, oder?«, raunte Ingrimmsch ihm besorgt zu. Das Scheusal schüttelte das schreckliche Haupt. »Geht weg«, sagte es noch einmal und machte einen Schritt nach vorn.

Boindil bleckte die Zähne und senkte den Kopf, die Haare fielen verwegen in seine Stirn. »Wie früher, Gelehrter?«

»Wie früher, Ingrimmsch.« Tungdil attackierte ansatzlos die rechte Hüfte und drehte sich dabei in den Feind hinein, im Rücken folgte ihm sein Freund.

Boindil löste sich ein Blinzeln vor Tungdils Schlag von ihm, ging in die Hocke und griff den rechten Unterschenkel an. Beide Angriffe konnte es nicht parieren - und vor allem: womit?

Die Bewegung, mit der ihr Gegner auswich, kam zu überraschend und zu schnell für die Zwerge. Das Wesen drückte sich vom Boden ab, sprang schräg gegen die Seitenwand des Tunnels und schnellte von dort über Goda hinweg. Ihr hastiger Hieb ging fehl, und der Räuber entkam in den Quergang dahinter. »Ho, der hopst ja wie ein Grünfrosch!«, erboste sich Boindil. »Komm zurück, Fröschi!« Er rannte an Goda vorbei. »Schlechter Schlag, Goda«, rügte er sie. »Dafür wirst du erneut Holzbalken schleppen müssen.« Sie eilte ihm nach, den Blick beschämt zu Boden gerichtet.

Gemeinsam nahmen sie die Verfolgung auf.

Das Scheusal hatte im Ganggewirr des Stollens die Orientierung verloren, wie Tungdil bald feststellte, denn es lief in Richtung Küche. Von dort gab es keine Möglichkeit zu entkommen.

Sie stürmten in den Raum und stellten es, als es versuchte, sich durch den Kamin zu zwängen. Seine Schultern waren zu breit, es würde nicht durch den Schlot gelangen.

Als es die Gegner hörte, zog es sich aus dem Kamin zurück und starrte sie an. Ein kurzes Schütteln der Arme genügte, und die Ketten glitten klirrend von den runengeschmückten Schonern. Die Fäuste schlössen sich um die hinteren Enden.

»Passt auf. Es wird die Ketten wie Peitschen einsetzen«, vermutete Tungdil angespannt. »Boindil und ich greifen gleichzeitig an, Goda bewacht den Ausgang.«

Die Zwerge setzten dem Monstrum von zwei Seiten zu, erkannten aber, dass es sich trotz der Größe um einen tückischen, verflucht flinken Gegner handelte.

Ingrimmsch tauchte unter der heranzuckenden Kette hinweg, steckte dafür einen Tritt gegen seinen Oberkörper ein und wurde rücklings in den Schrank mit den Töpfen und Pfannen befördert. Das Holz gab unter dem heftigen Aufprall nach, Regalböden fielen herab und begruben Boindil mit all ihrer Last unter sich. Tungdil hatte zunächst mehr Glück. Auch er zog den Kopf ein, entging der Kette und holte mit beiden Händen aus, um die Feuerklinge in die Leibesmitte des Feindes zu hacken; da schnellte die andere Klaue der Kreatur nach vorn und packte den Stiel.

Etwas Merkwürdiges geschah.

Der Axtkopf glühte auf, die Intarsien flammten auf, und die Diamanten erstrahlten wie kleine Sonnen, sodass Tungdil geblendet die Augen schloss.

Das Monstrum heulte wütend und erschrocken auf. Es hatte die Feuerklinge losgelassen und stapfte wohl rückwärts, wie der Zwerg an den Geräuschen erkannte. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase.

Kaum erkannte Tungdil den Gegner als Schatten, schlug er zu.

Die Feuerklinge hielt, einen feurigen Schweif hinter sich her ziehend, auf die Hüfte des Monstrums zu und wurde plötzlich ruckartig zur Seite gezogen. Beinahe hätte er sie losgelassen.

Leuchtende Kettenglieder wickelten sich um den Axtkopf und hielten ihn auf. Zischend rang die Magie beider Waffen miteinander, grüne und rote Funken schössen durch die Küche und versengten das Holz oder schwärzten den Stein. Was noch schlimmer war: Knisternd brannten sie Löcher in Tungdils Bart. Langsam, aber sicher erhitzte sich der Stiel.

»Verflucht, was geht hier vor sich!?«, tobte Ingrimmsch und wühlte sich aus dem Berg aus Pfannen. Er hatte den Krähenschnabel in dem Haufen verloren. »Magie?« Er hob eine besonders schwere Kasserolle auf und warf sie nach dem Wesen. »Hör auf damit, Fröschi! Kämpf gefälligst wie ein echtes Ungeheuer!«

Die Kasserolle prallte gegen die breite Brust.

Grunzend fuhr das Monstrum herum und schaute zu dem Krieger, der den Stiel seiner Waffe entdeckte, ihn umfasste und aufhob. Es vollführte eine schwungvolle Bewegung mit dem linken Arm, und die zweite Kette schnellte schlangengleich heran. Dieses Mal glühte sie dunkelgrün und machte keinen Hehl aus den magischen Energien, die in ihr steckten.

Boindil wich aus und achtete darauf, nicht mit ihr in Berührung zu kommen. Doch das Wesen wusste sehr gut mit seinen ungewöhnlichen Waffen umzugehen. Ein kurzes Zucken mit dem Arm genügte, und die Kette änderte im Flug ihre Richtung, schlang sich um den Hals des Zwerges.

Ingrimmsch schrie gellend, ließ den Krähenschnabel fallen und ging in die Knie.

Tungdil riss die Axt mit einem lauten Schrei los, klirrend fiel die Kette zu Boden.

»Zurück - oder der Unterirdische stirbt«, verlangte das Wesen hart. Wie zum Beweis seiner Worte glommen die albischen Gravuren der linken Unterarmschiene auf, das Leuchten der Kette, an der Ingrimmsch hing, steigerte sich. Er begann zu zucken, gurgelnde Laute entstiegen seiner Kehle, und er fiel zu Boden.

Goda stand plötzlich an Tungdils Seite. »Was tun wir?«

»Es gehen lassen«, knirschte er mit den Zähnen und trat zur Seite. Er wollte Boindil nicht verlieren. »Den Diamanten können wir uns schnappen, wenn es sich in Sicherheit wähnt und Ingrimmsch freigelassen hat.«

Das grüne Schimmern erlosch. Das Scheusal zog den gefangenen Zwerg zu sich heran, wickelte dabei die Kette um den Unterarm, bis sie nur noch einen halben Schritt lang war und Ingrimmsch dadurch auf die Beine gezwungen wurde. Er stand schwankend auf den Zehenspitzen, damit er sich nicht selbst erwürgte. Die Kette war heiß und hatte seinen schönen schwarzen Bart und das lange Haar abgesengt. »Nicht folgen«, sagte es und ging an Goda und Tungdil vorbei.

Rückwärts lief es durch den Tunnel hinaus, ein Auge immer auf die Zwerge gerichtet. Es schnupperte laut und orientierte sich anhand des Geruchs, wohin es gehen musste, um den Stollen zu verlassen; die Flügel der schlanken Nase blähten sich. Es setzte seinen Weg fort und schleifte den hustenden und keuchenden Ingrimmsch hinter sich her.

»Wann befreien wir ihn?«, flüsterte Goda feindselig. »Er wird bald keine Luft mehr bekommen.« »Solange er Geräusche von sich gibt, ist es gut«, antwortete Tungdil und überlegte unablässig, was er gegen den ungebetenen Besucher ausrichten konnte. Goda ignorierte anscheinend die magischen Kräfte des Eindringlings, die vermutlich nicht einmal voll zum Einsatz gebracht worden waren. Die Feuerklinge bewahrte ihn vor Zaubern, wie damals gegen die Macht des Nebeldämons im Schwarzjoch. Doch ein Treffer der schweren Ketten gegen den Kopf oder ein anderes Körperteil würde in jedem Fall eine schwere Verletzung nach sich ziehen. Das Wesen hatte den Gang gefunden, der zum Tor führte, und beschleunigte seine Schritte. Durch eine rasche Armbewegung öffnete es die Schlinge um Ingrimmschs Hals, und er fiel schnaufend auf den Boden. Fassungslos betastete er die verschmorten Überreste des Bartes und seiner Haarpracht. »Ich bin ein Krüppel! Dafür schneide ich dir die Haut in Streifen vom Leib, Fröschi«, krächzte er und stemmte sich auf die Füße. »Gib mir deine Waffe, Goda.«

»Nein, Meister. Ihr habt selbst gesagt, dass ein Krieger seine Waffe niemals aus der Hand gibt.« »Goda, das ist keine neuerliche Prüfung! Gib mir deine Waffe« hustete er mehr undeutlich, als dass er sprach. Ein leiser, entsetzter Schrei aus Tungdils Mund ließ ihn nach vorne schauen: Balyndis stellte sich der Kreatur unmittelbar vor dem Ausgang in den Weg. »Geh weg!«, schrie Tungdil. »Sonst...«

Seine Warnung kam zu spät. Balyndis griff unerschrocken mit ihrem Beil an, ließ die heranzischende Kette vom Schild abprallen und befand sich in bester Reichweite für einen Schlag.

Das Monstrum benutzte den linken, kettenumwickelten Unterarm zur Parade. Kaum berührten sich die Schneide und die Kettenglieder, wurde Magie freigesetzt.

Ein grüner Blitz fuhr in die Waffe, die zersprang und die Zwergin mit einem Hagel aus feinen Metallschrapnellen überschüttete. Sogar der Schild wurde durchlöchert. Balyndis wankte, fiel gegen die Tunnelwand und rutschte langsam daran zu Boden.

»Balyndis!« Tungdil rannte vorwärts, Ingrimmsch und Goda folgten ihm.

Brüllend wandte sich die Kreatur um, hob einen Teil des zerborstenen Holztores und schleuderte es ihnen entgegen.

Der Wurf war gut gezielt und fegte die drei von den Beinen, alles Dagegenstemmen und Ducken half nichts. Als sie wieder standen, fehlte von dem Monstrum jede Spur.

»Los, ihm nach«, befahl Tungdil Boindil und schaute zu Goda. »Du kümmerst dich um Balyndis.« Sie nickte und reichte ihrem Meister ohne ein weiteres Wort den Nachtstern.

Die Zwerge rannten aus dem Stollen und lauschten. Der Mond und die Sterne leuchteten auf Idoslän herab. Die guten Augen der beiden zeigten ihnen eine silberne, verschlafene Landschaft voller Frieden und Ruhe. »Wo ist es hin?«, flüsterte Ingrimmsch und blickte auf die Erde. »Es müsste Spuren hinterlassen, in die sich ein Kind setzen könnte.« Er beugte sich hinab. »Nichts. Als sei das Fröschi davongehüpft.«

Tungdil hatte eine Bewegung in weiter Entfernung ausgemacht. »Ist es auch«, sagte er und zeigte seufzend nach Westen. »Da hinten ist es.«

Tatsächlich eilte eine Gestalt mit großen Sprüngen durch das Gelände und verzichtete darauf, eine der Straßen zu nehmen. Sie setzte über kleinere Büsche und gedrungene Obstbäume hinweg, als sei es eine einfache Übung. »Es wählt den kürzesten Weg nach Hause«, vermutete Tungdil.

»Verdammtes Viech!« Boindil stampfte auf die Erde und trat seine Wut in den Boden. »Was macht es im Westen?«

»Warum nicht im Westen?«, hielt Tungdil dagegen. »Wir wissen gar nichts über es und seine beiden Geschwister. Der Westen ist so gut wie der Osten.«

»Schon. Aber ich hätte vermutet, dass es nach Toboribor geht. Die Höhlen des ehemaligen Reiches der Schweineschnauzen wären doch ein hervorragendes Versteck.«

»Es kann durchaus sein, dass es uns täuschen will.« Tungdil entdeckte die Gestalt nicht mehr. Ein dunkler Waldrand hatte sie verschlungen und ihr Deckung gewährt.

Ingrimmsch schulterte Godas Waffe. »Machen wir uns gleich an die Verfolgung?«

»Es hat keinen Sinn. Siehst du, wie schnell es ist? Nicht einmal ein Reiter würde es einholen.« Sie kehrten zurück in den Stollen. »Wir schauen morgen bei Tageslicht nach den Spuren. Vielleicht führt es uns an einen Ort, wo wir mehr über diese Scheusale erfahren können. Ich werde Prinz Mallen in Kenntnis setzen, damit er uns eine Abteilung Soldaten zur Seite stellt.«

Goda hatte Balyndis aufgesetzt, Blut lief in vielen kleinen Rinnsalen aus den Wunden in ihrer Haut; das rechte Auge war von einem Splitter knapp verfehlt worden, das fingerlange und strohdünne Bruchstück steckte im Schädelknochen. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht laut zu schreien, packte Tungdils Hand und umklammerte sie Hilfe suchend.

»Das wird schon wieder«, sagte er und lächelte ihr aufmunternd zu.

Ingrimmsch machte ihn auf den großen roten Fleck unter ihrem Kettenhemd aufmerksam. »Das sieht nicht gut aus. Wir brauchen auf der Stelle einen Heiler, der sich um ihre Verletzungen kümmert und ihr die Splitter aus dem Leib sucht«, murmelte er so leise, dass Balyndis nichts hörte.

Sie zog ihren Gemahl näher zu sich heran. »Ich werde gleich ohnmächtig, Tungdil«, presste sie hervor. »Nur Vraccas weiß, ob ich wieder erwache, deshalb hör mir zu.« Ihr Griff tat weh, so fest packte sie ihn. Eine Schmerzwelle schüttelte sie, ihre Lider flatterten. »Djerün...«, ächzte sie, dann erschlaffte sie.

Voller Sorge lauschte Tungdil nach ihrem Herzen. »Es schlägt noch«, atmete er erleichtert auf. »Rasch, Ingrimmsch, wir tragen sie ins Bett. Goda, du eilst in die Siedlung und holst einen Heiler. Mir ist gleich, was er gerade tut. Schaff ihn her.«

»Ja«, nickte sie eifrig und griente dennoch, als sie sah, welchen Fehler Boindil beging: Er lehnte den Nachtstern an die Stollenwand und packte die Füße von Balyndis. Sofort schnappte sie sich ihre Waffe. »Meister, nun wirst du wohl selbst Holzbalken tragen dürfen. Du weißt ja, wo ich sie hingestellt habe«, sagte sie keck und eilte hinaus.

Er schaute ihr nach. »So ein...« Den Rest ersparte er sich.

Als Balyndis auf ihrem Lager ruhte, die ersten eisernen Späne und scharfkantigen Splitter von Tungdil entfernt worden waren und der Heiler endlich ankam und sich um sie kümmerte, kehrte Ruhe ein.

Tungdil nutzte sie, um das Laboratorium aufzusuchen und sich traurige Gewissheit zu verschaffen. Es war, wie viele andere Räume, an denen er vorüberging, vollständig zerlegt worden, sodass nicht einmal ein halbwegs intaktes Regal übrig geblieben war.

Schnell wurde ihm klar, dass das Wesen den Diamanten durch einen Zufall gefunden hatte. In dem Glashaufen sah er einen riesigen blutigen Fußabdruck. Es war wohl hineingetreten, hatte sich verletzt und dabei den Stein zwischen den Scherben ausgemacht.

»Verdammt!«, schrie er seinen Ärger hinaus. Er ging in das Studierzimmer von Lot-Ionan, in dem er eine immense Sammlung von Büchern angehäuft hatte, begab sich an das Pult und setzte ein Schreiben an Prinz Mallen auf, in dem er die Vorgänge schilderte. Er ertappte sich dabei, dass er gelegentlich mit der Federspitze in der Nase bohrte - eine schlechte Angewohnheit aus einer Zeit, die noch nicht allzu lange hinter ihm lag. Sich selbst zur Ordnung rufend, nahm er einen neuen Kiel und warf den beschmutzen weg.

Es klopfte, und der Heiler trat ein. Er trug einen dunkelgrauen Mantel über seinem weißen Schlafgewand, die schweren Stiefel waren nicht geschnürt. Goda hatte ihn wirklich aus dem Bett ge zerrt. »Verzeiht, Herr Goldhand.« Er fuhr sich durch die halblangen grauen Haare, die in alle Richtungen davonstanden. »Ich bin fertig. Ich habe die Wunden genäht und mit Salben behandelt. Sie wird wieder gesund werden. Die Tinktur, die ich ihr eingeflößt habe, wird sie die nächsten zwei Umläufe schlafen lassen.« Tungdil nickte ihm zu, langte in die Schublade des Pultes und nahm eine Goldmünze heraus. »Die ist für Euch«, bedankte er sich. »Bringt mir, was sie zur weiteren Genesung braucht, morgen hierher.«

»Danke, Herr Goldhand.« Der Heiler nahm seinen Lohn entgegen, dann schaute er zu dem Zwerg. »Was ist geschehen, wenn ich mir die Frage erlauben darf? Es sieht aus, als sei eine Orkhorde durch das Tor gebrochen.« »Ihr dürft fragen«, sagte Tungdil kurz angebunden. Aber die Wahrheit verschwieg er lieber, im Geborgenen Land gingen ohnehin zu viele beunruhigende Gerüchte umher. »Räuber. Wir haben sie vertrieben. Und es wäre mir sehr recht, wenn Ihr für Euch behaltet, was ich Euch gesagt habe. Wenn Ihr gefragt werdet, so sprecht von einem Unfall.« Er warf ihm eine weitere Goldmünze zu.

»Sicher, Herr Goldhand. Ihr könnt beruhigt sein, und ich möchte versichern, dass ich Eurer Gemahlin von Herzen gute Genesung wünsche.« Der Heiler verbeugte sich, die Schöße des Mantels rutschten nach vorne und schwangen sachte. »Achtet darauf, dass sie sich mindestens vierzig Umläufe lang nicht bewegt und im Bett bleibt.«

»Weswegen?«

Er deutete auf seine rechte Seite. »Einer der größeren Splitter hat ein inneres Organ verletzt, was ich erkennen konnte. Ich war vorsichtig, was das Nähen und Verbinden angeht, doch meine bescheidenen Künste sind auf die Beschaffenheit von Menschen und nicht von Zwergen ausgelegt. Es sieht gut aus, nur, wie gesagt...« »Sie soll liegen bleiben«, nickte Tungdil ihn hinaus. »Danke.« Der Mann wandte sich um und verließ das Zimmer.

Tungdil beendete den Brief an Mallen eben, als Ingrimmsch eintrat. Er hatte sein Lederwams und das Kettenhemd übergestreift. »Balyndis schläft tief und fest«, berichtete er und setzte sich in den Ohrensessel neben dem Kamin. Mit seinen kurzen Haaren und dem verunstalteten Bart sah er merkwürdig aus. »Wie geht es weiter?«

»Das sehen wir, wenn sich die Sonne erhoben hat«, entgegnete Tungdil, unterzeichnete und siegelte das Schreiben. Er machte sich nicht viel Hoffnung, dass sie die Kreatur zu fassen bekamen, sagte jedoch nichts. »Schau dir an, was Fröschi angerichtet hat. Ich sehe aus wie ein gerupftes Huhn.« Ingrimmsch spielte mit den Resten seines Bartes, den er sich in Form geschnitten hatte, damit er trotz seiner Kürze einigermaßen gut aussah; es würde Zyklen dauern, bis er wieder die alte Pracht und Länge erreichte. Und die Haare hingen nur noch schulterlang von seinem Kopf herab. »Man wird mich auslachen. Schon allein deswegen hat es den Tod verdient.« Er legte die Füße hoch. »Denkst du, es ist immer das gleiche Wesen in anderer Rüstung?« »Schwierig zu sagen. Ich glaube es nicht.« Tungdil machte sich Gedanken über das letzte Wort seiner Gemahlin, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte, und sagte es auch seinem Freund.

»Djerün? Die alte Blechbüchse?« Ingrimmsch dachte an den riesigen Leibwächter Andökais. »Wollte sie sagen, dass Fröschi einer seiner Artgenossen ist? Die Ausmaße hätte es. Und es stammt ebenfalls aus dem Jenseitigen Land.«

»Nein, ich glaube nicht an eine Verwandtschaft. Dieses Wesen blutete in der Weise der Orks, Djerüns Blut dagegen war grellgelb.«

»Mh«, machte der Krieger ratlos. »Dann verstehe ich nicht, was sie gemeint...«

»Natürlich!« Tungdil schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Djerüns Rüstung!«

»Es trug aber keine Rüstung«, widersprach Ingrimmsch.

»Nein. Aber Unterarmschienen. Und Ketten.« Bestürzt blickte Tungdil ins flackernde Feuer. »Balyndis hat mir gewiss sagen wollen, dass sie aus dem gleichen Metall bestanden wie Djerüns Panzerung. Erinnerst du dich? Sie hat Magie geleitet.« Er stand auf und setzte sich neben seinen Freund an den Kamin.

»Das würde bedeuten, dass andere die Rezeptur kennen?«

»Noch viel mehr, Boindil. Es bedeutet, dass sie einen Weg gefunden haben, ihre magischen Energien darin zu speichern und bei Bedarf abzugeben. Es ist mehr als ein Schutz geworden. Es ist ein Reservoir, aus dem sie schöpfen, weil ihnen im Geborgenen Land die magischen Felder fehlen, aus denen sie ihre Kräfte aufstocken könnten.« Fieberhaft dachte er nach.

»Und wenn es anders herum läuft?«

Irritiert blickte er in das faltige Gesicht Ingrimmschs. »Wie meinst du das?«

»Vielleicht ist das Fröschi selbst magisch?« Er strich sich wehmütig über die Bartreste. »Es funktioniert wie mit diesem Draht, den die Eoil von der Quelle bis auf das Dach des Turmes hat legen lassen. Durch ihn hat sie die Energien nach oben gesogen und sich zu Nutze gemacht.«

»Ein umgedrehter Gewittermelker!«, entfuhr es Tungdil.

»Ein was«

»Ein Gewittermelker. In einem der Alchimie-Bücher stand, dass man bei gewissen Experimenten die Kraft der Gewitter benötigt. Kupfer und Eisen zieht Blitze an, schreibt der Verfasser.« Tungdil eilte zu dem Bücherregal und suchte hastig, sprang auf der Leiter auf und nieder, bis er das Werk fand. »Hier ist es!« Er schlug das Buch auf. »Man solle die Zutaten beim Nahen eines Unwetters in eine eiserne Wanne geben, diese auf einen Berg tragen und eine lange eiserne Lanze hineinstecken. Der Blitz fährt hinein und löst mit seiner Kraft die Wandlung aus.« Er klappte es schwungvoll zu. »Bei diesen Wesen ist es genau umgekehrt: Sie sind das Gewitter, und durch das Metall schießt die Energie hinaus!«

»Und da ist er wieder, der Gelehrte«, feixte Ingrimmsch.

»Ja.« Tungdil seufzte, seine Hochstimmung fiel in sich zusammen. »Es ist im Grunde alles bloß eine Annahme«, sagte er bedauernd. »Wir haben niemanden, der sich gut genug mit Magie auskennt und uns beraten könnte.« »Für mich klingt es einleuchtend«, tröstete ihn Boindil. »Schreib deine Vermutungen gleich an Mallen.« Tungdil zögerte. »Nein.«

»Weshalb?«

Er kehrte an seinen Platz am Feuer zurück. »Wer kennt diese Rezeptur, Ingrimmsch?«

»Von diesem besonderen Metall? Nun, Balyndis und Andökai.

Und die Eoil, schätze ich, aber dieses Wesen ist tot.« Boindil schaute Tungdil fragend an, weil er nicht wusste, worauf er abzielte.

»Ich frage mich, wie hoch die Möglichkeit ist, dass ein Volk aus dem Jenseitigen Land Magie beherrscht und die Formel für diese Legierung besitzt.«

Jetzt verstand Boindil. »Du denkst, diese Bestien stammen nicht aus dem Jenseitigen Land?« »Es gibt viele Möglichkeiten, das gebe ich zu«, nickte Tungdil. »Doch wo sind die Unauslöschlichen abgeblieben? Rodario und ich fanden auf dem Turm keine Spur von ihnen. Wohlgemerkt, nachdem der Stern der Prüfung erstrahlt war. Weder Rüstung noch Asche, wie bei den Albae oder Orks, die von der Energie vernichtet wurden.« Er lehnte sich zurück. »Balyndis hat einigen aus unserem Volk von der Zusammensetzung berichtet, ehe sie das Graue Gebirge verließ. Und die Dritten haben ihre Spione überall.«

»Du willst nicht andeuten, dass die Verbitterten unter den Dritten und die Unauslöschlichen sich verbündet haben?«

»Ich weiß es nicht.« Tungdil senkte den Kopf, massierte sich die Schläfen mit den Fingern. »Verdammt! Es liegt alles im Dunkeln, Ingrimmsch. Wir werden uns durch die Finsternis tasten müssen und ein Geheimnis nach dem anderen erhellen.«

Ingrimmsch stand auf. »Dann fangen wir morgen gleich damit an, wie wir es vorgehabt haben. Schauen wir nach Fröschi.« Er ging zur Tür. »Ich schicke Goda zum Tor, sie soll die erste Wache halten.«

»Hast du schon deine Balken geschleppt?«, erinnerte Tungdil ihn neckend an seinen Fehltritt. »Nein«, brummelte Boindil.

»Und du wirst natürlich mit gutem Beispiel vorangehen, richtig?«

Ingrimmsch wandte sich um und trat in den Gang hinaus. »Du bist ein schöner Freund«, sagte er gespielt beleidigt. »Verbündest dich mit meiner Schülerin. Ihr Dritten haltet eben doch zusammen.« Seine Schritte verhallten.

»Mh. Die Dritten halten zusammen«, wiederholte Tungdil grübelnd und schaute zu der halbvollen Flasche Met, die neben dem Schreibpult stand und ihn mit ihrem süßen, starken Inhalt lockte.

Aber der Alkohol reizte ihn nicht. Nicht in dieser Nacht. Da benötigte er einen klaren Verstand. Ein Zeichen auf dem Unterarmschoner des Wesens war Tungdil aufgefallen. Um sicher zu gehen, suchte er in dem Regal nach dem kleinen Büchlein, mit dem er sich früher lange Abende beschäftigt hatte, um nicht in der Nähe von Balyndis sein zu müssen, und blätterte es durch. Tatsächlich irrte er sich nicht. Es handelte sich um das elbische Wort haben.

Er klappte das Büchlein zu und stellte es zurück. Was bedeutet das nun wieder? Er musste Mallen und Ortger fragen, ob die anderen beiden Wesen ebenfalls elbische Runen auf ihren Rüstungen getragen hatten. Er stand auf und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Gekleidet wie er war, legte er sich neben die ruhende Balyndis auf die Laken, stützte den Kopf auf die Hand und betrachtete ihr Gesicht; dabei erkundete er die Gefühle, die ihr Anblick in ihm auslöste.

So verharrte er bis zum Morgengrauen.

Als Goda klopfte, ihm von einem Boten berichtete und ihm ein Schreiben von Gandogar überreichte, haderte er immer noch mit sich und seinen Empfindungen. Die Nacht hatte ihm keine Weisheit gebracht.


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