In Imardin, so heißt es, habe der Wind eine Seele und pfeife heulend durch die schmalen Straßen der Stadt, weil das, was er dort finde, ihn mit Trauer erfülle. Am Tag der Säuberung heulte der Wind durch die schwankenden Masten der Schiffe im Hafen, peitschte durch das Westtor und schrie die Gassen hinunter. Dann verstummte er plötzlich, bis nur noch ein Wimmern zu hören war, als seien ihm die zerfetzten Seelen, die ihm entlang des Weges begegneten, eine unerträgliche Qual.
So zumindest empfand es Sonea. Als sie abermals von einem eisigen Windstoß erfasst wurde, schlang sie die Arme um sich und hüllte sich fester in ihren abgetragenen Mantel. Mit ärgerlich gerunzelter Stirn sah sie zu Boden. Schmutziger Schneematsch schwappte ihr bei jedem Schritt über die Füße. Die Lappen, die sie in ihre viel zu großen Stiefel gestopft hatte, hatten sich bereits mit Wasser voll gesogen, und ihre Zehen schmerzten vor Kälte.
Dann nahm sie aus dem Augenwinkel eine plötzliche Bewegung zu ihrer Rechten wahr und machte einen Schritt zur Seite, als ein Mann mit wirrem, grauem Haar aus einer kleinen Seitenstraße gestolpert kam und auf die Knie fiel. Sonea blieb stehen und hielt ihm die Hand hin, aber der Alte schien sie gar nicht zu bemerken. Mühsam rappelte er sich hoch und schloss sich den Menschen an, die die Straße entlangzogen.
Seufzend hielt Sonea Ausschau, so gut es eben ging, ohne ihr von einer großen Kapuze verborgenes Gesicht den Blicken anderer zu enthüllen. An der Einmündung der Gasse war ein Wachsoldat postiert. Mit einem hämischen Grinsen beobachtete er die kleine Gruppe am unteren Ende der Straße. Sonea sah ihn mit schmalen Augen an, aber als er sich in ihre Richtung drehte, wandte sie hastig den Blick ab.
Zur Hölle mit den Wachen, dachte sie. Mögen sie alle giftige Faren in ihren Stiefeln finden. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen dachte sie an einige der freundlicheren Wachen, aber sie war nicht in der Stimmung, Ausnahmen zu machen.
Inzwischen hatte sie die kleine Gruppe schlurfender, gebeugter Gestalten erreicht und folgte ihnen auf eine breitere Durchgangsstraße. Die Straße war zu beiden Seiten von zwei- bis dreigeschossigen Gebäuden gesäumt. In den Fenstern der oberen Stockwerke reihte sich ein Gesicht an das andere. In einem Fenster entdeckte Sonea einen gut gekleideten Mann, der einen kleinen Jungen auf dem Arm hielt, damit er die Menschen unten auf der Straße sehen konnte. Der Mann rümpfte angeekelt die Nase, und der Junge schnitt eine Grimasse, als hätte er in einen faulen Apfel gebissen.
Sonea blickte wütend zu den beiden hinauf. Die würden nicht mehr so aufgeblasen dreinschauen, wenn ich ihnen einen Stein durchs Fenster werfen würde. Sie sah sich halbherzig um, aber falls irgendwo Steine herumlagen, waren sie unter dem Schneematsch gut verborgen.
Einige Schritte vor ihr standen zwei Wachen an der Mündung einer kleinen Gasse. Angetan mit steifen Mänteln aus gekochtem Leder und eisernen Helmen, sahen sie so aus, als wögen sie gut und gern doppelt so viel wie die Bettler, die sie beobachteten. Sie hielten Holzschilde in den Händen, und an ihrer Hüfte hingen Kebin – Eisenstangen, die als Schlagstöcke benutzt wurden. Allerdings war direkt über dem Griff zusätzlich noch ein Haken angebracht, um einem Angreifer damit das Messer zu entwinden. Sonea senkte den Blick und ging an den beiden Männern vorbei.
»…sollen sie von den anderen abschneiden, bevor sie den Platz erreichen«, sagte einer der Wachmänner soeben. »Es sind ungefähr zwanzig. Der Anführer der Bande ist ein großer Kerl. Hat eine Narbe am Hals und…«
Soneas Herz setzte einen Schlag aus. War es möglich…?
Einige Meter hinter den Wachen schlüpfte Sonea in einen Hauseingang und drehte den Kopf, um noch einmal verstohlen zu den beiden Männern hinüberzusehen. Dann zuckte sie heftig zusammen. Zwei dunkle Augen blickten ihr aus dem Flur entgegen.
Eine Frau starrte sie mit vor Überraschung geweiteten Augen an. Sonea wich einen Schritt zurück. Auch die Fremde zog sich zurück, dann lächelte sie, als Sonea kurz auflachte.
Nur ein Spiegelbild! Sonea streckte die Hand aus, und ihre Finger trafen auf ein blank poliertes Metallschild, das an der Wand befestigt war. In die Oberfläche waren Worte eingeritzt, aber sie wusste zu wenig über Buchstaben, um erkennen zu können, was dort geschrieben stand.
Sie begutachtete ihr Spiegelbild. Ein mageres Gesicht mit hohlen Wangen. Kurzes, dunkles Haar. Niemand hatte sie jemals hübsch genannt. Sie konnte noch immer als Junge durchgehen, wenn sie wollte. Ihre Tante meinte, sie käme mehr nach ihrer lange verstorbenen Mutter als nach ihrem Vater, aber Sonea hatte den Verdacht, dass Jonna einfach keine Ähnlichkeit mit ihrem verschwundenen Ehebruder erkennen wollte.
Sonea trat näher an die Metallplatte heran. Ihre Mutter war sehr schön gewesen. Vielleicht, wenn ich mir die Haare wachsen ließe, überlegte sie, und wenn ich etwas weiblichere Kleidung trüge…
…oh, spar dir die Mühe. Mit einem selbstironischen Schnauben wandte sie sich ab, verärgert darüber, dass sie sich von solchen Fantasien hatte ablenken lassen.
»…vor ungefähr zwanzig Minuten«, erklang in der Nähe eine Stimme. Sie erstarrte, als ihr wieder einfiel, warum sie in den Hauseingang getreten war.
»Und wo soll die Falle zuschnappen?«
»Keine Ahnung, Mol.«
»Ah, da wäre ich gern dabei. Ich habe gesehen, was sie letztes Jahr mit Porlen gemacht haben, diese kleinen Bastarde. Es hat Wochen gedauert, bis der Ausschlag wieder weg war, und er konnte tagelang nicht richtig sehen. Ich frage mich, ob… He! Das ist die falsche Richtung, Junge!«
Sonea ignorierte den Soldaten, denn sie wusste, dass er und sein Gefährte auf keinen Fall ihren Posten verlassen würden. Sie durften nicht riskieren, dass die Menschen auf der Straße sich ihre Unaufmerksamkeit zunutze machten und sich durch die Nebengasse davonstahlen. Sonea begann zu rennen und bahnte sich einen Weg durch die Menge, die jetzt immer dichter wurde. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um nach vertrauten Gesichtern Ausschau zu halten.
Sie zweifelte keinen Augenblick daran, von welcher Bande die Wachen gesprochen hatten. Die Geschichten darüber, was Harrins Jungen während der letzten Säuberung getan hatten, waren während des ganzen harten letzten Winters wieder und wieder erzählt worden. Es hatte sie sehr erheitert, dass ihre alten Freunde immer noch ihren Schabernack trieben, obwohl sie ihrer Tante Recht geben musste, dass sie besser beraten war, sich von ihnen fern zu halten, denn sie brachten sich allzu oft in Schwierigkeiten. Jetzt sah es so aus, als planten die Wachen, sich an ihnen zu rächen.
Was nur beweist, dass Jonna Recht hat. Sonea lächelte grimmig. Sie würde mir eine schöne Tracht Prügel verpassen, wenn sie wüsste, was ich hier treibe, aber ich muss Harrin warnen. Wieder ließ sie den Blick über die Menge wandern. Ich will mich der Bande ja nicht wieder anschließen. Ich brauche nur irgendwo einen Späher zu finden – da!
In einem dunklen Hauseingang kauerte ein Junge, der seine Umgebung mit verdrossener Feindseligkeit musterte und ständig von einer Straßenkreuzung zur anderen sah. Als sein Blick den ihren traf, hob Sonea die Hand, um sich die Kapuze tiefer ins Gesicht zu ziehen, und machte eine Bewegung mit den Fingern, die die meisten Menschen für äußerst unhöflich gehalten hätten. Die Augen des Jungen wurden schmal, und er antwortete ihr mit dem gleichen Zeichen.
Jetzt wusste sie, dass er tatsächlich ein Späher war, und ging weiter. Wenige Schritte von der Tür entfernt blieb sie stehen und tat so, als müsse sie sich ihren Stiefel neu binden.
»Zu wem gehörst du?«, fragte er, ohne sie anzusehen.
»Zu niemandem.«
»Du hast ein altes Zeichen benutzt.«
»Ich war schon einige Zeit nicht mehr hier«, erwiderte sie. »Ich möchte jemanden treffen.«
Der Späher schnaubte abfällig. »Und warum sollte ich dir glauben?«
»Ich habe früher mal Harrin gekannt«, antwortete sie und richtete sich auf.
Der Junge dachte einen Moment lang nach, dann trat er aus dem Hauseingang und packte sie am Arm. »Dann wollen wir doch mal sehen, ob er sich an dich erinnert.«
Soneas Herz setzte einen Schlag aus, als der Junge sie mitten in das Gedränge zerrte. Der Boden war rutschig, und sie wusste, dass sie der Länge nach hinschlagen würde, wenn sie versuchte, sich gegen den Späher zu wehren. Sie murmelte einen Fluch.
»Du brauchst mich nicht zu ihm zu bringen«, erklärte sie. »Sag ihm einfach meinen Namen. Er wird wissen, dass ich ihm nichts Böses will.«
Der Junge beachtete sie gar nicht. Die Wachsoldaten, an denen sie vorbeikamen, warfen ihnen argwöhnische Blicke zu. Sonea versuchte den Arm freizubekommen, aber der Junge war stärker als sie. Er zog sie in eine Nebenstraße.
»Hör mir zu«, sagte sie. »Ich heiße Sonea. Er kennt mich. Und Cery kennt mich auch.«
»Dann wirst du ja nichts dagegen haben, ihn wiederzusehen«, zischte der Junge ihr über die Schulter hinweg zu.
In der Nebenstraße drängten sich die Menschen dicht an dicht, und sie schienen es alle sehr eilig zu haben. Sonea hielt sich an einem Laternenpfosten fest und zwang den Jungen so, stehen zu bleiben.
»Ich kann nicht mit dir gehen. Meine Tante wartet auf mich. Lass mich los…«
Die Menge hatte sich inzwischen auf das untere Ende der Straße zubewegt, und Sonea blickte stöhnend auf.
»Jonna wird mich umbringen.«
Eine lange Reihe von Wachmännern bildete, mit hochgehaltenen Schilden, eine Kette quer über die Straße. Einige Jugendliche liefen vor ihnen auf und ab und riefen Beleidigungen und Schmähungen. Dann warf einer von ihnen einen kleinen Gegenstand nach den Soldaten. Das Wurfgeschoss prallte von einem Schild ab und explodierte zu einer Wolke roten Staubs. Als die Wachen einige Schritte zurückwichen, brachen die Jungen und Mädchen in lauten Jubel aus.
Einige Schritte von ihnen entfernt entdeckte Sonea zwei vertraute Gestalten, beides Männer. Einer von ihnen hatte die Hände in die Hüften gestemmt und war größer und massiger, als Sonea es in Erinnerung gehabt hatte. In den vergangenen zwei Jahren hatte Harrin sein jungenhaftes Aussehen verloren, aber seine ganze Haltung sagte ihr, dass sich davon abgesehen wenig verändert hatte. Er war schon immer der unbestrittene Anführer der Bande gewesen und hatte sich, wenn nötig, schnell mit einem wohlplatzierten Fausthieb Respekt verschafft.
Der Junge neben ihm schien kaum mehr als halb so groß zu sein. Sonea konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Cery war, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, kaum gewachsen, und sie wusste, wie sehr ihn diese Tatsache ärgern musste. Trotz seiner zierlichen Gestalt hatte Cery bei der Bande jedoch stets beträchtliches Ansehen genossen, weil sein Vater für die »Diebe« gearbeitet hatte.
Als der Späher sie näher zu sich heranzog, sah sie, dass Cery einen Finger mit der Zunge befeuchtete, ihn in die Höhe hielt und dann nickte. Harrin rief einen Befehl. Seine Gefolgsleute zogen kleine Bündel aus ihren Kleidern hervor und warfen sie nach den Wachen. Eine rote Wolke erhob sich über den Schilden, und Sonea grinste, während die Männer zu fluchen oder vor Schmerz zu schreien begannen.
Dann trat aus einer Gasse hinter den Soldaten eine einzelne Gestalt auf die Straße hinaus. Sonea blickte auf, und das Blut gefror ihr in den Adern.
»Ein Magier!«, keuchte sie.
Der Junge neben ihr sog scharf die Luft ein. Auch er hatte die in weite Roben gehüllte Gestalt gesehen. »He! Magier!«, rief er. Sowohl die Jugendlichen als auch die Wachen wandten sich dem Neuankömmling zu.
Ein heißer Windschwall schlug ihnen entgegen, und sie taumelten rückwärts. Ein unangenehmer Geruch drang an Soneas Nase, und ihre Augen begannen zu brennen, als ihr der rote Staub ins Gesicht wehte. Dann flaute der Wind abrupt ab, und Stille kehrte ein.
Sonea rieb sich die Tränen aus den Augen und blickte blinzelnd zu Boden, weil sie hoffte, ein wenig sauberen Schnee zu finden, um das Brennen zu lindern. Der Boden um sie herum war von einer glatten Schlammschicht bedeckt, die keine Fußabdrücke aufwies. Aber das konnte nicht sein. Als ihr Blick sich klärte, sah sie, dass sich feine Linien durch den Schlamm zogen – Linien, die allesamt von den Füßen des Magiers ausgingen.
»Lauft!«, brüllte Harrin. Im nächsten Moment sprangen die Jungen und Mädchen von den Wachen weg und rannten an Sonea vorbei. Der Späher stieß einen kurzen, schrillen Schrei aus und lief ihnen nach, wobei er Sonea hinter sich herzerrte.
Ihr Mund wurde trocken, als sie sah, dass sich am anderen Ende der Straße bereits eine weitere Reihe von Soldaten formiert hatte. Es war eine Falle! Und ich habe es fertig gebracht, mich zusammen mit Harrins Bande schnappen zu lassen!
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als hinter dem Späher, der ihre Hand fest umklammert hielt, herzulaufen. Als sie sich den Wachen näherten, hoben die Männer in Erwartung eines Kampfes ihre Schilde. Wenige Schritte von den Soldaten entfernt bogen die Jugendlichen in eine Gasse ein. Vor dem ersten der Häuser in dieser Gasse lagen zwei uniformierte Männer am Boden.
»In Deckung!«, erklang eine laute, vertraute Stimme.
Eine Hand packte sie und riss sie so plötzlich zu Boden, dass sie sich die Knie auf den Pflastersteinen aufschlug. Hinter ihr herrschte wilder Aufruhr, und als sie sich umdrehte, sah sie rudernde Arme und erhobene Schilde, die die schmale Lücke zwischen den Gebäuden ausfüllten. Eine Wolke roten Staubs umwogte die Kämpfenden.
»Sonea?«
Die Stimme klang vertraut und voller Erstaunen. Sie blickte auf und lächelte. Cery hockte neben ihr.
»Sie hat mir erzählt, die Wachen würden einen Hinterhalt planen«, sagte der Späher.
Cery nickte. »Das wussten wir bereits.« Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinen Zügen aus, dann blickte er über sie hinweg zu den Soldaten hinüber, und das Lächeln verschwand. »Kommt. Es wird Zeit zu gehen!«
Er griff nach ihrer Hand, zog sie auf die Füße und führte sie zwischen den Jugendlichen hindurch, die die Wachen abermals mit Wurfgeschossen bombardierten. Plötzlich zuckte ein Lichtblitz auf und tauchte die Gasse in blendendes Weiß.
»Was war das?«, stieß Sonea hervor. Sie blinzelte heftig, um das Bild von der schmalen Straße zu verscheuchen, das sich auf ihrer Netzhaut eingebrannt zu haben schien.
»Der Magier«, zischte Cery.
»Lauft!«, brüllte Harrin ganz in ihrer Nähe. Halb blind stolperte Sonea weiter. Sie stieß mit jemandem zusammen und fiel der Länge nach hin. Cery packte sie an den Armen, riss sie hoch und führte sie weiter.
Wenige Augenblicke später fand Sonea sich auf der Hauptstraße wieder. Die Mitglieder von Harrins Bande zogen sich die Kapuzen tief ins Gesicht und mischten sich unter die Menge. Sonea folgte ihrem Beispiel, und eine Weile gingen sie und Cery schweigend nebeneinander her. Dann erschien ein hochgewachsener Mann neben Cery und sah Sonea von der Seite an.
»He! Wen haben wir denn da!« Harrins Augen weiteten sich. »Sonea! Was machst du hier?«
Sie lächelte. »Ich lasse mich mal wieder von dir in Schwierigkeiten bringen, Harrin.«
»Sie hat gehört, dass die Wachen einen Hinterhalt planten, und wollte uns warnen«, erklärte Cery.
Harrin machte eine abschätzige Handbewegung. »Wir haben mit so etwas gerechnet und uns vorher einen Fluchtweg zurechtgelegt.«
Sonea dachte an die Wachen, die am Eingang der Gasse gelegen hatten, und nickte. »Ich hätte wissen müssen, dass ihr nicht ahnungslos in die Falle tappen würdet.«
»Also, wo hast du gesteckt? Wie lange ist das jetzt her? Es müssen Jahre sein…«
»Zwei Jahre. Wir haben im Nordviertel gelebt. Onkel Ranel hatte ein Zimmer in einem Bleibehaus bekommen.«
»Die Miete in den Bleibehäusern soll himmelschreiend überhöht sein, wie ich gehört habe. Und alles kostet das Doppelte, nur weil man innerhalb der Stadtmauern lebt.«
»Das stimmt, aber wir sind zurechtgekommen.«
»Wie denn?«, fragte Cery.
»Indem wir Schuhe und Kleider geflickt haben.«
Harrin nickte. »Deshalb haben wir dich also so lange nicht mehr gesehen.«
Sonea lächelte. Deshalb und weil Jonna verhindern wollte, dass ich mich mit eurer Bande einlasse. Ihre Tante missbilligte Harrin und seine Freunde. Sehr sogar…
»Das klingt ja nicht besonders aufregend«, murmelte Cery.
Sonea sah ihn an und stellte fest, dass er zwar in den letzten Jahren nicht viel gewachsen war, sein Gesicht jedoch das Jungenhafte verloren hatte. Er trug einen neuen Mantel, von dem lose Fäden herabbaumelten, wo er abgeschnitten worden war. Und wahrscheinlich waren in den Taschen und Beuteln im Futter Dietriche, Messer, allerlei Kinkerlitzchen und Süßigkeiten versteckt. Sie hatte sich immer gefragt, was Cery wohl tun würde, wenn er seinen Diebereien entwachsen war.
»Im Bleibehaus war ich jedenfalls sicherer als bei euch«, beschied sie ihm.
Cerys Augen wurden schmal. »Jonnas Gerede.«
Früher einmal hätten diese Worte ihr wehgetan. Jetzt lächelte sie nur. »Jonnas Gerede hat uns aus den Hüttensiedlungen rausgebracht.«
»Also«, fiel Harrin ihr ins Wort. »Wenn du ein Zimmer in einem Bleibehaus hast, warum bist du dann hier?«
Soneas Miene verdüsterte sich. »Der König vertreibt die Leute aus den Bleibehäusern«, antwortete sie. »Er möchte nicht, dass so viele Menschen in einem einzigen Gebäude leben – angeblich weil es unsauber sei. Heute Morgen waren Soldaten da und haben uns rausgeworfen.«
Harrin runzelte die Stirn und murmelte einen Fluch. Als sie sich zu Cery umdrehte, sah sie, dass der neckende Ausdruck in seinen Augen erloschen war. Sie wandte den Blick ab, dankbar für das Verständnis der beiden, aber nicht getröstet.
Mit einem einzigen Wort aus dem Palast war ihr binnen eines Morgens alles genommen worden, wofür sie, ihre Tante und ihr Onkel gearbeitet hatten. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt, über die Konsequenzen dieses Ereignisses nachzudenken, als sie in aller Eile ihre Habe zusammengepackt hatten und im nächsten Moment schon auf die Straße hinausgezerrt worden waren.
»Wo sind Jonna und Ranel jetzt?«, fragte Harrin.
»Sie haben mich vorgeschickt, um festzustellen, ob wir vielleicht ein Zimmer in unserem alten Haus bekommen können.«
Cery sah sie direkt an. »Wenn du nichts findest, komm zu mir.«
Sie nickte. »Danke.«
Die Menge wogte langsam auf einen großen, gepflasterten Bereich zu. Dies war der Nordplatz, auf dem jede Woche ein kleiner Markt abgehalten wurde. Sie und ihre Tante gingen regelmäßig dorthin – oder genauer gesagt, sie hatten es getan.
Inzwischen hatten sich mehrere hundert Menschen auf dem Platz eingefunden. Viele von ihnen gingen weiter durch die Nordtore, andere warteten in der Hoffnung, Freunde und Verwandte zu finden, bevor sie sich dem Chaos der Hüttenviertel überließen. Manche weigerten sich auch, sich von der Stelle zu rühren, bis man sie dazu zwang.
Cery und Harrin blieben am ummauerten Rand des kleinen Teichs in der Mitte des Marktplatzes stehen. Aus dem Wasser erhob sich eine Statue von König Kalpol. Der lange verstorbene Monarch war fast vierzig Jahre alt gewesen, als er die Bergbanditen in die Flucht geschlagen hatte, aber trotzdem wurde er als junger Mann dargestellt. Mit der rechten Hand schwang er ein Abbild seines berühmten juwelenbesetzten Schwerts, und in der linken hielt er einen gleichermaßen kunstvollen Kelch.
Früher einmal hatte eine andere Statue an dieser Stelle gestanden, aber die war vor dreißig Jahren abgerissen worden. Im Laufe der Jahre hatte man verschiedene Statuen von König Terrel errichtet, aber bis auf eine einzige waren sie alle zerstört worden, und es hieß, dass selbst die eine noch existierende Statue, die geschützt hinter den Mauern des Palastes stand, schwer verunstaltet worden war. Trotz all der anderen Dinge, die er getan hatte, würden die Bürger von Imardin König Terrel stets als den Mann in Erinnerung behalten, der die alljährlichen Säuberungen begonnen hatte.
Ihr Onkel hatte ihr die Geschichte viele Male erzählt. Vor dreißig Jahren hatten sich einflussreiche Mitglieder der Häuser darüber beschwert, dass die Straßen nicht sicher seien. Daraufhin hatte der König den Wachsoldaten den Befehl gegeben, alle Bettler aus der Stadt zu vertreiben, ebenso die Vagabunden und alle, die möglicherweise gegen das Gesetz verstoßen hatten. Voller Wut hatten die Stärksten der Verbannten sich zusammengetan und sich mit Waffen, die die wohlhabenderen Schmuggler und Diebe beigesteuert hatten, gegen die Obrigkeit gewehrt. Der König, der sich plötzlich mit Straßenkämpfen und Aufständen konfrontiert sah, hatte sich Hilfe suchend an die Magiergilde gewandt.
Gegen Magie waren die Rebellen machtlos gewesen. Man hatte sie gefangen genommen oder aus der Stadt vertrieben, wo sie außerhalb der äußeren Mauern ihre Hütten errichteten, die dort bald ausgedehnte Siedlungen bildeten. Die Feste, mit denen die Häuser daraufhin die Austreibung der Habenichtse feierten, gefielen dem König so gut, dass er einen Entschluss traf: In Zukunft würde die Stadt jedes Jahr im Winter von Vagabunden gesäubert werden.
Als der alte König vor fünf Jahren gestorben war, hatten viele Menschen gehofft, dass die Säuberungen damit ein Ende nehmen würden, aber Terrels Sohn, König Merin, hatte die Tradition fortgesetzt. Als Sonea sich auf dem Marktplatz umsah, konnte sie sich kaum vorstellen, dass die gebrechlichen, kränkelnden Menschen um sie herum jemals eine Bedrohung darstellen könnten. Dann fiel ihr auf, dass sich einige Jungen um Harrin geschart hatten, die ihren Anführer erwartungsvoll beobachteten. Plötzlich krampfte sich ihr Magen vor Angst zusammen.
»Ich muss gehen«, sagte sie. »Nein, geh nicht«, protestierte Cery. »Wir haben einander doch gerade erst wiedergefunden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war schon viel zu lange weg. Jonna und Ranel sind vielleicht schon außerhalb der Stadtmauern.«
»Dann steckst du ohnehin in Schwierigkeiten.« Cery zuckte die Achseln. »Du hast immer noch Angst vor Jonnas Strafpredigten, wie?«
Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu. Cery, den das nicht im Mindesten aus dem Gleichgewicht brachte, antwortete ihr mit einem Lächeln.
»Hier.« Er drückte ihr etwas in die Hand. Es war ein kleines, in Papier gewickeltes Päckchen.
»Ist das das Zeug, mit dem ihr die Wachen bewerft?«
Cery nickte. »Papea-Staub«, sagte er. »Brennt in den Augen und verursacht einen hübschen Ausschlag.«
»Aber gegen Magier wird euch das nicht helfen.«
Er grinste. »Einmal habe ich einen erwischt. Er hat mich nicht kommen sehen.«
Sonea wollte Cery das Päckchen zurückgeben, aber dieser wehrte ab.
»Behalte es«, sagte er. »Hier kann ich ohnehin nichts damit anfangen. Die Magier errichten immer eine Mauer.«
Sonea schüttelte den Kopf. »Also werft ihr stattdessen mit Steinen? Warum spart ihr euch die Mühe nicht?«
»Es tut gut.« Cery sah wieder zu der Straße hinüber, und seine Augen nahmen einen stählernen Grauton an. »Wenn wir es nicht täten, könnten wir genauso gut erklären, dass uns die Säuberungen nichts ausmachen. Wir dürfen uns nicht aus der Stadt vertreiben lassen, ohne zumindest irgendwie darauf zu reagieren, findest du nicht auch?«
Achselzuckend sah sie Harrins Jungen an. Ihre Augen leuchteten erwartungsvoll. Sonea war es immer sinnlos und töricht erschienen, die Magier mit irgendetwas zu bewerfen.
»Aber ihr beide, du und Harrin, ihr kommt doch kaum je einmal in die Stadt«, wandte sie ein.
»Trotzdem sollten wir es tun können, wenn wir wollen.« Cery grinste. »Und die Säuberungen sind die einzige Gelegenheit, bei der wir Ärger machen können, ohne dass die Diebe ihre Nase in unsere Angelegenheiten stecken.«
Sonea verdrehte die Augen. »Das ist es also.«
»He! Gehen wir!«, brüllte Harrin über das Lärmen der Menge hinweg.
Als seine Jungen sich mit lautem Gejohle in Bewegung setzten, sah Cery Sonea fragend an.
»Komm mit«, drängte er sie. »Das wird lustig.«
Sonea schüttelte den Kopf.
»Du brauchst ja nicht mitzumachen. Sieh einfach nur zu«, sagte er. »Danach komme ich mit dir und sorge dafür, dass du ein Quartier findest.«
»Aber…«
»Hier.« Er streckte die Hand aus und knotete ihr Halstuch auf. Dann faltete er es zu einem Dreieck, legte es ihr um den Kopf und band es unter ihrem Kinn fest. »So, jetzt siehst du mehr wie ein Mädchen aus. Selbst wenn die Wachen auf die Idee kommen sollten, uns zu jagen – was sie niemals tun –, würden sie dich nicht für einen Unruhestifter halten. Hm.« Er tätschelte ihre Wange. »Schon viel besser. Jetzt komm. Ich werde dich nicht noch einmal verschwinden lassen.«
Sie seufzte. »Na schön.«
Die Menge war angewachsen, und Harrins Bande drängte sich zwischen den Menschen hindurch nach vorn. Zu Soneas Überraschung stießen sie auf keinerlei Protest; niemand schien ihnen ihr ungestümes Verhalten zu verübeln. Stattdessen drückten ihr die Männer und Frauen, an denen sie vorbeikam, Steine und überreife Früchte in die Hand und flüsterten ihr Ermutigungen zu. Erregung stieg in ihr auf, als sie die erwartungsvollen Mienen der anderen sah. Vernünftige Leute wie ihre Tante und ihr Onkel hatten den Nordplatz bereits verlassen. Wer übrig geblieben war, wollte einen Kampf sehen – auch wenn er noch so sinnlos war.
Zum Rand hin wurde die Menschenmenge dünner. Wenn Sonea zur einen Seite blickte, konnte sie sehen, dass aus einer Nebenstraße immer noch Menschen auf den Platz strömten. Auf der anderen Seite erhoben sich die fernen Tore über der Menge. Und vor ihr…
Sonea hielt inne, und ihre Zuversicht löste sich in nichts auf. Cery ging weiter, aber sie trat einige Schritte zurück und blieb hinter einer älteren Frau stehen. Keine zwanzig Meter von ihnen entfernt hatten sich Magier zu einer Reihe aufgestellt.
Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. Sie wusste, dass die Magier sich nicht von der Stelle bewegen würden. Sie würden die Menge ignorieren, bis sie so weit waren, sie vom Marktplatz zu vertreiben. Es gab keinen Grund, Angst zu haben.
Sonea schluckte und zwang sich, den Blick abzuwenden und nach ihren Gefährten Ausschau zu halten. Harrin, Cery und die anderen bewegten sich weiter vorwärts; inzwischen war ihre Gruppe deutlich kleiner geworden.
Schließlich wandte Sonea sich schaudernd wieder zu den Magiern um. Sie war ihnen noch nie zuvor so nahe gekommen, ebenso wenig wie sie je eine Gelegenheit gehabt hatte, sie gründlicher zu betrachten.
Sie trugen eine Uniform: Roben mit weiten Ärmeln, die in der Taille mit einer Schärpe gegürtet wurden. Ihrem Onkel Ranel zufolge waren solche Kleider vor Jahrhunderten in Mode gewesen, aber heutzutage war es für gewöhnliche Menschen ein Verbrechen, sich zu kleiden wie ein Magier.
Es waren ausnahmslos Männer. Von ihrem Platz aus konnte sie insgesamt neun von ihnen zählen, die allein oder paarweise dastanden und einen Teil der Linie bildeten, von der sie wusste, dass sie den ganzen Marktplatz umfasste. Einige der Magier waren nicht älter als zwanzig, während andere uralt aussahen. Einer der Magier, die ihr am nächsten standen, war ein blonder Mann von etwa dreißig Jahren, und er war auf eine glatte, gepflegte Art und Weise attraktiv. Die anderen sahen überraschend gewöhnlich aus.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine abrupte Bewegung wahr und drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie Harrin den Arm hochriss. Ein Stein flog durch die Luft auf die Magier zu. Obwohl sie wusste, was geschehen würde, hielt Sonea den Atem an.
Der Stein prallte auf etwas Hartes, Unsichtbares und fiel zu Boden. Sonea stieß langsam die Luft aus, während immer mehr junge Leute Steine warfen. Einige der Magier blickten auf, um zu beobachten, wie die Wurfgeschosse gegen die Luft vor ihnen prasselten. Andere musterten ihre Angreifer nur kurz und wandten sich dann wieder ihren Gesprächen zu.
Sonea starrte die Stelle an, wo die Barriere der Magier hing. Sie konnte nichts sehen. Schließlich machte sie einen Schritt nach vorn, nahm einen der Klumpen aus ihrer Tasche, riss den Arm hoch und schleuderte ihr Wurfgeschoss mit aller Kraft durch die Luft. Es zerfiel, als es auf die unsichtbare Mauer traf, und einen Moment lang hing eine Staubwolke in der Luft.
Sie hörte dicht hinter sich ein leises Kichern und drehte sich um. Die alte Frau grinste sie an.
»Ein guter Wurf«, murmelte sie glucksend. »Zeig’s ihnen. Mach weiter.«
Sonea schob eine Hand in die Tasche und ertastete einen größeren Stein. Sie trat einige Schritte auf die Magier zu und lächelte. In ein paar Gesichtern spiegelte sich Ärger wider. Sie schätzten es offensichtlich nicht, wenn man ihnen trotzte, aber irgendetwas hielt sie davon ab, den Kampf gegen die jungen Leute aufzunehmen.
Stimmen durchdrangen den Dunstschleier. Der gut aussehende Magier blickte auf, dann wandte er sich wieder seinem Gefährten zu, einem alten Mann mit grau gesträhntem Haar.
»Jämmerliches Ungeziefer«, höhnte er. »Wie lange müssen wir noch warten, bis wir sie verscheuchen können?«
Etwas in Soneas Magen krampfte sich zusammen, und sie umklammerte den Stein fester. Dann zog sie ihn aus der Tasche und wog sein Gewicht in der Hand. Ein ziemlich schwerer Stein. Sie drehte sich zu den Magiern um, griff nach ihrer Wut darüber, aus ihrem Heim vertrieben worden zu sein, griff nach ihrem tief verwurzelten Hass auf die Magier und warf den Stein nach dem Mann, der gesprochen hatte. Sie verfolgte den Flug des Steins durch die Luft, und als er sich der Barriere der Magier näherte, legte sie ihre ganze Willenskraft in den einen Gedanken, dass der Stein den Schild durchdringen und sein Ziel treffen möge.
Blaues Licht kräuselte sich auf dem Schild und lief wie Wasser daran entlang. Dann krachte der Stein mit einem dumpfen Aufprall gegen die Schläfe des Magiers. Der Mann erstarrte und blickte ins Leere. Dann gaben die Knie unter ihm nach, und sein Gefährte trat vor, um ihn aufzufangen.
Sonea starrte den älteren Magier, der seinen Gefährten vorsichtig auf den Boden bettete, mit weit geöffnetem Mund an. Das Geschrei der Menschen erstarb. Stille breitete sich wie Rauch in der Menge aus.
Dann wurden Rufe laut, als zwei weitere Magier herbeisprangen, um neben ihrem am Boden liegenden Gefährten in die Hocke zu gehen. Harrins Freunde und viele andere brachen in Jubel aus. Plötzlich war die Stille durchbrochen, während die Menschen einander zuriefen, was soeben geschehen war.
Sonea blickte auf ihre Hände hinab. Es hat funktioniert. Ich habe die Barriere durchbrochen, aber das ist unmöglich, es sei denn...
Es sei denn, ich hätte Magie benutzt.
Kälte durchströmte sie, als sie daran dachte, wie sie all ihren Zorn und ihren Hass in den Stein hineingegeben, wie sie seinen Flug verfolgt und versucht hatte, ihn mit purer Willenskraft dazu zu bringen, die Barriere zu durchbrechen. Etwas regte sich in ihr, als wolle es sie dazu treiben, ihr Tun zu wiederholen.
Als sie aufblickte, sah sie, dass sich mehrere Magier um ihren gefallenen Kameraden geschart hatten. Einige hockten neben ihm, aber die meisten starrten mit forschendem Blick in die Menge. Sie suchen nach mir, dachte Sonea plötzlich. Als hätte er ihren Gedanken gehört, drehte einer der Männer sich zu ihr um und sah sie an. Sie erstarrte vor Entsetzen, aber dann wanderte sein Blick weiter durch die Menge.
Sie wissen nicht, wer es war. Sie seufzte erleichtert. Dann stellte sie plötzlich fest, dass die Menge mehrere Schritte zurückgewichen war. Auch Harrins Freunde zogen sich langsam zurück. Mit hämmerndem Herzen folgte sie ihrem Beispiel.
Dann erhob sich der ältere Magier. Im Gegensatz zu den anderen fiel sein Blick ohne eine Spur des Zögerns auf Sonea. Er deutete mit dem Finger in ihre Richtung, und die übrigen Magier wandten sich wieder um. Als sie die Hände hoben, stieg heiße Panik in Sonea auf. Sie wirbelte herum und rannte auf die Menge zu. Jetzt ergriffen auch die übrigen jungen Leute die Flucht. Einen Moment lang war Sonea fast blind, als mehrere Lichtblitze in schneller Folge die Gesichter um sie herum beleuchteten, dann gellten Schreie durch die Luft. Eine Woge heißer Luft überspülte sie, und sie fiel keuchend auf die Knie.
»HALT!«
Sie verspürte keinen Schmerz. Als sie an sich hinabblickte, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass sie unverletzt war. Um sie herum rannten die Menschen immer noch in wilder Flucht davon, ohne auf den seltsam verstärkten Befehl zu achten, dessen Echo noch immer über dem Marktplatz hing.
Brandgeruch drang an Soneas Nase. Als sie sich umdrehte, sah sie einige Schritte entfernt eine Gestalt mit dem Gesicht nach unten auf dem Pflaster liegen. Obwohl Flammen hungrig an den Kleidern züngelten, war die Gestalt vollkommen reglos. Dann sah sie die geschwärzte Masse, die früher einmal ein Arm gewesen war, und Übelkeit krampfte ihr den Magen zusammen.
»TUT IHR NICHTS!«
Sie rappelte sich mühsam hoch und taumelte von dem Leichnam weg. Dann nahm sie all ihre Kraft zusammen und zwang sich, hinter den letzten von Harrins Freunden herzulaufen, die vom Marktplatz flohen.
Am Nordtor holte sie die anderen ein und benutzte die Ellbogen, um sich in das Gedränge zu mischen. Sie konnte die schweren Steine in ihren Taschen spüren und riss sie in blinder Panik heraus. Ihre Beine prallten gegen ein Hindernis, und sie stolperte, aber sofort zog sie sich wieder auf die Füße und rannte weiter.
Plötzlich wurde sie von groben Händen gepackt. Sie setzte sich zur Wehr und holte Atem, um zu schreien, aber die Hände drehten sie um, und mit einem Mal blickte sie in Harrins vertraute blaue Augen.
Obwohl er die Gildehalle seit seinem Abschluss vor mehr als dreißig Jahren schon ungezählte Male betreten hatte, hatte Lord Rothen dort nur selten ein solches Stimmengewirr gehört.
Er betrachtete das Meer von in Roben gekleideten Männern und Frauen vor sich. Die Magier hatten sich zu Gruppen zusammengefunden, und wie immer waren es dieselben Zirkel, die beisammen standen. Andere Magier schlenderten durch die Halle und wanderten von einer Gruppe zur nächsten. Sie unterhielten sich mit ausladenden Gesten, und ab und an erhob sich ein entrüsteter Ausruf über den Lärm.
Gildeversammlungen waren im Allgemeinen würdevolle, wohlgeordnete Angelegenheiten, aber bis zur Ankunft des Administrators, der für Ruhe sorgen würde, würde weiter Durcheinander herrschen. Als Rothen auf die Menge zuging, schnappte er Bruchstücke von Gesprächen auf, die vom Dach herunterzuwehen schienen. Die Gildehalle verstärkte Geräusche auf seltsame und unerwartete Art und Weise, besonders dann, wenn lauter als gewöhnlich gesprochen wurde.
Dieses Phänomen hatte nichts mit Magie zu tun, wie unbegabte Besucher häufig annahmen, sondern war ein unbeabsichtigtes Resultat des Umbaus dieses alten Gebäudes zu einem großen Saal. Früher einmal hatte es in diesem ersten und ältesten Bau der Gilde zahlreiche Räume zur Unterbringung von Magiern und ihren Lehrlingen gegeben sowie Säle für Lektionen und Zusammenkünfte. Vier Jahrhunderte später hatte die Gilde angesichts einer schnell wachsenden Mitgliederzahl mehrere neue Gebäude errichtet. Da sie jedoch ihr erstes nicht hatte zerstören wollen, war man auf die Idee gekommen, daraus einfach die Innenwände zu entfernen und für zusätzliche Sitzplätze zu sorgen, um dort die Gildeversammlungen, die Aufnahme- und Abschlusszeremonien sowie die Anhörungen stattfinden zu lassen.
Jetzt löste sich ein hochgewachsener, in purpurne Roben gewandeter Mann aus der Menge und kam auf Rothen zu. Als Rothen den eifrigen Gesichtsausdruck des jüngeren Magiers sah, lächelte er – Dannyl hatte sich mehr als einmal darüber beklagt, dass in der Gilde niemals etwas besonders Aufregendes geschah.
»Nun, mein alter Freund. Wie ist es gelaufen?«, fragte Dannyl.
Rothen verschränkte die Arme vor der Brust. »Alter Freund, wahrhaftig!«
»Dann eben alter Feind.« Dannyl machte eine abschätzige Handbewegung. »Was hat der Administrator gesagt?«
»Nichts. Er hat sich nur von mir beschreiben lassen, was vorgefallen ist. Wie es aussieht, bin ich der Einzige, der sie gesehen hat.«
»Dann kann sie sich glücklich schätzen«, erwiderte Dannyl. »Warum haben die anderen versucht, sie zu töten?«
Rothen schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie das beabsichtigt haben.«
Ein Gong übertönte das Summen der Gespräche, und dann erfüllte die verstärkte Stimme des Gildeadministrators die Halle.
»Würden bitte alle Magier ihre Plätze einnehmen!«
Rothen sah, dass die großen Haupttüren im hinteren Teil der Halle sich geschlossen hatten. Das Meer der Roben teilte sich, während die Magier auf ihre Plätze zu beiden Seiten des Raums zustrebten.
»Wir haben heute seltene Gesellschaft«, bemerkte Dannyl.
Rothen folgte dem Blick seines Freundes. Die Höheren Magier setzten sich. Zum Zeichen ihrer Position und Autorität innerhalb der Gilde waren ihre Plätze in fünf Reihen an der Stirnseite der Halle untergebracht. Man erreichte die erhöhten Sitze über zwei schmale Treppen. In der Mitte der höchsten Reihe stand ein mit Gold beschlagener Thron, in dessen Polster das Signum des Königs eingestickt war: ein stilisierter Nachtvogel. Der Thron war leer, aber auf den beiden Plätzen links und rechts davon saßen Magier, die goldfarbene Schärpen um die Taille trugen.
»Die Ratgeber des Königs«, murmelte Rothen. »Interessant.«
»Ja«, erwiderte Dannyl. »Ich hatte mich schon gefragt, ob König Merin diese Versammlung für wichtig genug halten würde, um selbst daran teilzunehmen.«
»Nicht wichtig genug, um persönlich zu erscheinen, nein.«
»Natürlich nicht.« Dannyl lächelte. »Dann müssten wir uns ja benehmen.«
Rothen zuckte die Achseln. »Es macht keinen Unterschied, Dannyl. Selbst wenn die Ratgeber nicht hier wären, würde keiner von uns etwas sagen, was er nicht auch in Gegenwart des Königs gesagt hätte. Nein, die beiden sind hier, um dafür zu sorgen, dass wir mehr tun, als nur über das Mädchen zu reden.«
Als sie ihre gewohnten Plätze erreicht hatten, setzten sie sich. Dannyl lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Und das alles für ein einziges schmutziges Straßenkind.«
Rothen kicherte. »Sie hat einen hübschen Aufruhr verursacht, nicht wahr?«
»Fergun ist noch nicht erschienen.« Dannyl betrachtete mit schmalen Augen die Stuhlreihen an der gegenüberliegenden Wand. »Aber seine Gefolgsleute sind da.«
Obwohl Rothen es nicht billigte, dass sein Freund sich in der Öffentlichkeit abfällig über einen anderen Magier äußerte, konnte er sich eines Lächelns nicht erwehren. Ferguns selbstgefälliges Gehabe trug ihm keine Sympathie bei anderen ein. »Dem Bericht des Heilers zufolge hat der Schlag beträchtliche Verwirrung und Erregung ausgelöst. Der Heiler hielt es für klug, Fergun ein Beruhigungsmittel zu verabreichen.«
Dannyl stieß einen Laut puren Entzückens aus. »Fergun schläft! Wenn ihm klar wird, dass er diese Versammlung verpasst hat, wird er fuchsteufelswild sein!«
Abermals erklang der Gong, und Stille senkte sich über den Raum.
»Und wie du dir sicher vorstellen kannst, war Administrator Lorlen sehr enttäuscht darüber, dass Lord Fergun seine Version der Ereignisse nicht wird vortragen können«, fügte Rothen leise hinzu.
Dannyl hatte Mühe, nicht laut aufzulachen. Inzwischen hatten die Höheren Magier, wie Rothen feststellte, alle ihre Plätze eingenommen. Nur Administrator Lorlen stand noch, einen Gong in der einen Hand, einen Klöppel in der anderen.
Lorlens Miene war ungewöhnlich ernst. Rothens Heiterkeit verflog im Nu, als ihm bewusst wurde, dass dies die erste Krise war, die der andere Magier seit seiner Wahl meistern musste. Lorlen hatte unter Beweis gestellt, dass er mit den alltäglichen Belangen der Gilde durchaus fertig zu werden wusste, aber gewiss stellten sich in diesem Augenblick nicht wenige Magier die Frage, wie der Administrator an ein Problem wie dieses herangehen würde.
»Ich habe diese Versammlung einberufen, damit wir über den Zwischenfall diskutieren können, der sich heute Morgen am Nordplatz ereignet hat«, begann Lorlen. »Dabei müssen wir uns mit zwei äußerst ernsten Themen befassen: dem Tod eines Unschuldigen und der Existenz eines Magiers, der sich unserer Kontrolle entzieht. Zunächst wollen wir uns dem ersten und ernsteren dieser beiden Dinge zuwenden. Ich rufe Lord Rothen als Zeugen des Vorfalls auf.«
Dannyl sah Rothen überrascht an, dann lächelte er. »Natürlich. Es muss Jahre her sein, seit du das letzte Mal da unten gestanden hast. Viel Glück.«
Rothen erhob sich, nicht ohne seinem Freund zuvor einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. »Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst. Ich werde schon zurechtkommen.«
Die versammelten Magier drehten die Köpfe, um Rothen zu beobachten, wie er die Halle durchquerte, um vor die Höheren Magier zu treten. Er verneigte sich kurz vor dem Administrator, der ihm seinerseits zunickte.
»Erzählt uns, was Ihr beobachtet habt, Lord Rothen.« Rothen hielt einen Moment lang inne, um seine Worte abzuwägen. Wenn ein Magier vor der Gilde zum Sprechen aufgefordert wurde, erwartete man von ihm, dass er sich präzise und ohne Umschweife ausdrückte.
»Als ich heute Morgen auf dem Nordplatz ankam, war Lord Fergun bereits dort«, begann er. »Ich habe meine Position neben ihm eingenommen und meine Energie dem Schild hinzugefügt. Einige der jüngeren Vagabunden bewarfen uns mit Steinen, aber wie immer haben wir sie ignoriert.« Die Höheren Magier beobachteten ihn genau. Rothen kämpfte seine aufsteigende Nervosität nieder. Es war tatsächlich lange her, dass er das letzte Mal vor der Gilde gesprochen hatte.
»Als Nächstes habe ich aus den Augenwinkeln ein blaues Licht aufblitzen sehen und eine Störung des Schildes wahrgenommen. Ein kleiner Gegenstand kam auf mich zugeflogen, aber bevor ich reagieren konnte, traf er Lord Fergun an der Schläfe, und dieser verlor das Bewusstsein. Ich habe ihn aufgefangen, ihn vorsichtig auf den Boden gelegt und mich davon überzeugt, dass seine Verletzung nicht ernst war. Als dann einige andere herbeikamen, um Lord Fergun beizustehen, habe ich nach dem Werfer Ausschau gehalten.«
Rothen lächelte schief. »Während die meisten der Jugendlichen verwirrt und überrascht zu sein schienen, starrte eine junge Frau voller Staunen auf ihre Hände hinab. Ich habe sie dann kurz aus den Augen verloren, als meine Kollegen herbeikamen. Da sie den Werfer nicht ausmachen konnten, baten sie mich, ihn ihnen zu zeigen.«
Er schüttelte den Kopf. »Als ich ihrem Wunsch entsprach und in die Richtung des Mädchens deutete, glaubten sie irrigerweise, ich hätte auf einen Jungen gezeigt, der neben ihr stand, und… und übten Vergeltung.«
Lorlen bedeutete Rothen, zu schweigen. Er sah auf die Magier in den Sitzreihen unter ihm hinab, und sein Blick fiel auf Lord Balkan, den Dekan der Krieger.
»Lord Balkan, Ihr habt mit denjenigen gesprochen, die den Jungen getötet haben. Was hat Eure Befragung erbracht?«
Der rotgewandete Magier erhob sich. »Es waren insgesamt neunzehn Magier beteiligt, und sie alle gingen davon aus, dass einer der Jungen in der Menge der Angreifer gewesen sei, da sie es für unwahrscheinlich hielten, dass jemand ein Mädchen widerrechtlich zu einem wilden Magier ausbilden würde. Jeder dieser Magier hatte die Absicht, den Jungen zu betäuben, nicht ihn zu verletzen. Nachdem ich mir die Berichte der Zeugen angehört hatte, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es sich tatsächlich so zugetragen hat. Darüber hinaus weisen die Berichte darauf hin, dass einige der Betäubungsschläge sich zu einer Art diffusem Feuerschlag zusammengeballt haben. Das war es, was den Jungen getötet hat.«
Vor Rothens innerem Auge blitzte das Bild einer schwelenden Gestalt auf. Eine jähe Übelkeit befiel ihn, und er senkte den Blick. Selbst wenn die Schläge nicht miteinander verschmolzen wären, hätten neunzehn Betäubungsschläge dem Körper des Jungen furchtbaren Schaden zugefügt. Rothen fühlte sich verantwortlich für das Geschehene. Wenn er doch nur selbst etwas unternommen hätte, bevor die anderen reagieren konnten …
»Dieser Vorfall wirft schwierige Fragen auf«, erklärte Lorlen nun. »Es ist unwahrscheinlich, dass die Öffentlichkeit uns glauben wird, wenn wir sagen, wir hätten lediglich einen Fehler begangen. Eine Entschuldigung genügt nicht. Wir müssen versuchen, Wiedergutmachung zu leisten. Sollen wir die Familie des Jungen entschädigen?«
Mehrere der Höheren Magier nickten, und Rothen hörte zustimmendes Gemurmel hinter sich.
»Falls man die Familie überhaupt finden kann«, bemerkte einer der Höheren Magier.
»Ich fürchte, eine Entschädigung wird den Makel, den wir unserem Ruf zugefügt haben, nicht aus der Welt schaffen.« Lorlen runzelte die Stirn. »Wie sollen wir den Respekt und das Vertrauen der Menschen zurückerlangen?«
Weiteres Gemurmel folgte, dann wurde eine einzelne Stimme laut: »Eine Entschädigung genügt.«
»Lasst einfach etwas Zeit verstreichen – die Leute werden schon vergessen«, sagte ein anderer Magier.
»Wir haben alles getan, was wir können.«
Und irgendjemand rechts von Rothen murmelte: »… nur ein Junge aus den Hüttenvierteln. Wen kümmert das schon?«
Rothen seufzte. Obwohl die Worte ihn nicht überraschten, weckten sie in ihm einen vertrauten Zorn. Dem Gesetz nach existierte die Gilde zum Schutz anderer – und dieses Gesetz machte keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Er hatte andere Magier sagen hören, dass die Hüttenleute allesamt Diebe seien und den Schutz der Gilde nicht verdient hätten.
»Viel mehr können wir kaum tun«, warf Lord Balkan ein. »Die oberen Klassen werden akzeptieren, dass der Tod des Jungen ein Unfall war. Die Armen werden es nicht akzeptieren, und nichts, was wir tun oder sagen könnten, wird ihre Meinung ändern.«
Administrator Lorlen sah die Höheren Magier einen nach dem anderen an. Alle nickten.
»Also schön«, sagte er. »Wir werden diese Angelegenheit bei der nächsten Versammlung noch einmal ansprechen, wenn wir Zeit hatten, die Auswirkungen dieser Tragödie abzuschätzen.« Er holte tief Luft, straffte die Schultern und sah sich in der Halle um. »Nun zum zweiten Punkt: der wilden Magierin. Hat außer Lord Rothen noch jemand dieses Mädchen gesehen oder beobachtet, wie sie den Stein geworfen hat?«
Schweigen folgte. Lorlen runzelte enttäuscht die Stirn. Die meisten Diskussionen bei den Gildeversammlungen wurden von den drei Dekanen der Disziplinen beherrscht: Lady Vinara, Lord Balkan und Lord Sarrin. Lady Vinara, das Oberhaupt der Heiler, war eine praktisch veranlagte, strenge Frau, die jedoch überraschend mitfühlend sein konnte. Der stämmige Lord Balkan besaß eine scharfe Beobachtungsgabe und legte Wert darauf, stets alle Seiten eines Problems zu beleuchten. Andererseits war er in der Lage, in einer Krise schnelle oder schwierige Entscheidungen zu treffen, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Der Älteste der drei, Lord Sarrin, konnte in seinem Urteil sehr hart sein, war jedoch stets geneigt, auch andere Meinungen gelten zu lassen.
Diese Höheren Magier waren es, die Lorlen jetzt vor allem ansprach. »Wir müssen zunächst einmal die Tatsachen untersuchen, die offenkundig sind und von Zeugen bekräftigt wurden. Es besteht kein Zweifel daran, dass ein bloßer Stein einen magischen Schild durchdrungen hat. Lord Balkan, wie ist so etwas möglich?«
Der Krieger zuckte die Achseln. »Der Schild, der bei Säuberungen benutzt wird, um Steine abzuwehren, ist relativ schwach: stark genug, um Wurfgeschosse aufzuhalten, aber nicht, um Magie abzuwehren. Es hat jedoch einen blauen Lichtblitz gegeben, und diejenigen, die den Schild aufrecht hielten, haben über eine deutliche Störung im Gesamtgefüge berichtet. Diese Dinge weisen darauf hin, dass Magie benutzt wurde. Damit Magie jedoch einen Schild durchdringen kann, muss sie zu diesem speziellen Zweck geformt worden sein. Ich glaube, die Angreiferin hat zusammen mit dem Stein einen ›Schlag‹ ausgesandt – wenn auch einen sehr simplen.«
»Aber warum sollte sie dann überhaupt einen Stein benutzen?«, hakte Lady Vinara nach. »Warum hat sie nicht einfach mit Magie geschlagen?«
»Vielleicht um den Schlag zu verbergen?«, meinte Lord Sarrin. »Wenn die Magier den Schlag hätten kommen sehen, hätten sie vielleicht Zeit gehabt, den Schild zu stützen.«
»Das ist möglich«, sagte Balkan, »aber die Wucht des Schlages wurde einzig dazu benutzt, die Barriere zu durchdringen. Wenn die Angreiferin in böser Absicht gehandelt hätte, hätte Lord Fergun Schlimmeres davongetragen als eine Prellung an der Schläfe.«
Vinara runzelte die Stirn. »Dann hat diese Angreiferin also nicht damit gerechnet, dass sie einen großen Schaden anrichten würde? Warum hat sie es dann überhaupt getan?«
»Um ihre Macht zu demonstrieren. Und vielleicht, um uns zu trotzen«, erwiderte Balkan.
Sarrins Gesicht legte sich in missbilligende Falten. Rothen schüttelte den Kopf. Balkan, der diese Bewegung beobachtete, lächelte. »Ihr seid nicht unserer Meinung, Lord Rothen?«
»Sie hat nicht damit gerechnet, dass sie überhaupt etwas bewirken würde«, erklärte Rothen. »Ihrem Gesichtsausdruck nach war sie unzweifelhaft schockiert und überrascht über das, was sie getan hatte. Ich glaube, dass sie gar nicht ausgebildet ist.«
»Unmöglich.« Sarrin hob abwehrend die Hand. »Irgendjemand muss ihre Kräfte entfesselt haben.«
»Und wir wollen hoffen, dass dieser Jemand ihr auch beigebracht hat, wie sie sie kontrollieren kann«, fügte Vinara hinzu. »Oder wir haben es mit einem ganz anderen und sehr ernsten Problem zu tun.«
In der Halle erhob sich ein nervöses Raunen. Lorlen hob die Hand, und jäh wurde es wieder still.
»Als Lord Rothen mir von seinen Beobachtungen erzählte, habe ich Lord Solend zu mir gebeten. Er hat die Geschichte der Gilde gründlich studiert, und ich habe ihn gefragt, ob er jemals von Magiern gelesen habe, deren Kräfte sich ohne Hilfe entwickelt hätten.« Lorlens Miene war sehr ernst. »Wir sind bisher immer davon ausgegangen, dass nur ein anderer Magier die Kräfte eines Magiers entfesseln kann. Aber wie es aussieht, ist das ein Irrtum. In den Unterlagen über die frühen Jahrhunderte der Existenz der Gilde finden sich Hinweise darauf, dass einzelne Personen, die um Ausbildung baten, bereits zuvor Magie benutzt hatten. Ihre Kräfte hatten sich im Laufe des körperlichen Reifungsprozesses auf natürliche Weise entwickelt. Da wir Novizen schon in sehr jungen Jahren aufnehmen und initiieren, kommt es nicht länger zu einer solchen natürlichen Entwicklung magischen Potenzials.« Lorlen wandte sich zur Seite. »Lord Solend hat auf meinen Wunsch hin alle ihm vorliegenden Informationen über dieses Phänomen zusammengetragen. Ich möchte ihn jetzt bitten, uns die Ergebnisse seiner Arbeit vorzutragen.«
Ein älterer Mann erhob sich und stieg die Treppe hinunter. Alle anderen Magier warteten schweigend, bis der alte Historiker in der Mitte des Saales angekommen war und sich schlurfend zu Rothen gesellt hatte. Er verbeugte sich steif vor den Höheren Magiern, bevor er zu sprechen begann.
»Bis vor fünfhundert Jahren«, erklärte der alte Mann mit mürrischer Stimme, »war es üblich, dass ein Mann oder eine Frau, wenn sie die Magie erlernen wollten, an einzelne Magier herantraten, um eine Lehre bei ihnen zu beginnen. Sie wurden geprüft und danach ausgewählt, wie stark sie waren und wie viel sie bezahlen konnten. Aufgrund dieser Tradition waren einige Lehrlinge schon in reiferem Alter, als sie ihre Ausbildung begannen, da es vieler Jahre Arbeit und eines großzügigen Erbes bedurfte, bevor sie in der Lage waren, für ihre Ausbildung aufzukommen. Manchmal jedoch erschien ein junger Mann oder eine junge Frau, deren Kräfte bereits ›gelöst‹ waren, wie man es damals ausdrückte. Diese Personen, die man ›Naturtalente‹ nannte, wurden niemals abgewiesen. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen waren ihre Kräfte immer sehr stark. Zum anderen musste man sie die Kontrolle ihrer Kräfte lehren.« Der alte Mann hielt inne, und seine Stimme klang jetzt ein wenig schriller. »Wir wissen bereits, was geschieht, wenn Novizen außerstande sind, die Kontrolle zu meistern. Falls es sich bei dieser jungen Frau um ein magisches Naturtalent handelt, müssen wir davon ausgehen, dass sie stärker ist als unsere durchschnittlichen Novizen, vielleicht sogar stärker als durchschnittliche Magier. Wenn man sie nicht findet und Kontrolle lehrt, wird sie zu einer großen Gefahr für die Stadt.«
Kurzes Schweigen folgte, dann ging ein bestürztes Summen durch die Halle.
»Falls ihre Kräfte sich tatsächlich von selbst entwickelt haben sollten«, bemerkte Balkan.
Der alte Historiker nickte. »Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass sie von irgendjemandem ausgebildet wurde.«
»Dann müssen wir sie finden – und denjenigen, der sie unterwiesen hat«, rief einer der Magier.
Abermals breitete sich Unruhe aus, bis Lorlen wieder das Wort ergriff. »Falls sie eine wilde Magierin ist, sind wir vom Gesetz dazu verpflichtet, sie und ihre Lehrer vor den König zu bringen. Wenn sie eine natürliche Magierin ist, müssen wir sie Kontrolle lehren. So oder so, wir müssen sie finden.«
»Wie?«, rief jemand.
Lorlen blickte hinab. »Lord Balkan?«
»Eine systematische Durchsuchung der Hüttensiedlungen«, erwiderte der Krieger. Dann wandte er sich an die Ratgeber des Königs. »Wir werden Hilfe benötigen.«
Lorlen zog die Brauen in die Höhe und folgte dem Blick des Kriegers. »Die Gilde erbittet hiermit offiziell die Unterstützung durch die Städtische Garde.«
Die beiden Ratgeber sahen einander an und nickten. »Sie sei gewährt«, erwiderte einer von ihnen.
»Wir sollten so schnell wie möglich beginnen«, erklärte Balkan. »Vorzugsweise noch heute Abend.«
»Wenn wir die Hilfe der Garde wollen, wird das einige Zeit dauern. Ich schlage vor, dass wir morgen früh beginnen«, erwiderte Lorlen.
»Was ist mit dem Unterricht?«, rief jemand.
Lorlen sah die Magier an, die neben ihm saßen. »Ich denke, ein zusätzlicher Tag für private Studien wird die Fortschritte der Novizen nicht beeinträchtigen.«
»Ein Tag wird keinen großen Unterschied machen.« Der mürrische Rektor der Universität, Jerrik, zuckte die Achseln. »Aber werden wir sie binnen eines Tages finden?«
Lorlen schürzte die Lippen. »Falls wir sie bis morgen Abend nicht gefunden haben, werden wir erneut zusammenkommen, um darüber zu beraten, wer die Suche fortsetzen soll.«
»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Administrator Lorlen?«
Rothen drehte sich überrascht um, als er die Stimme hörte. Dannyl trat vor.
»Ja, Lord Dannyl?«, fragte Lorlen.
»Die Hüttenleute werden unsere Suche sicher behindern, und das Mädchen wird sich wahrscheinlich vor uns verstecken. Wir haben vielleicht bessere Erfolgschancen, wenn wir in Verkleidung in ihre Viertel gehen.«
Lorlen runzelte die Stirn. »Welche Art von Verkleidung würdet Ihr denn vorschlagen?«
Dannyl hob die Schultern. »Je unauffälliger wir sind, desto größer sind unsere Chancen auf Erfolg. Ich möchte vorschlagen, dass zumindest einige von uns sich so kleiden, wie die Hüttenleute es tun. Wenn wir mit ihnen sprechen, werden sie wahrscheinlich wissen, wer wir sind, aber –«
»Auf keinen Fall«, knurrte Balkan. »Was würde passieren, wenn einer von uns in der Verkleidung eines greinenden Bettlers entdeckt würde? Wir würden uns überall in den Verbündeten Ländern zum Gespött machen.«
Mehrere der Magier stimmten ihm lautstark zu.
Lorlen nickte langsam. »Ich gebe Lord Balkan Recht. Als Magier haben wir die Befugnis, jedes Haus dieser Stadt zu betreten. Unsere Suche würde behindert werden, wenn wir keine Roben tragen.«
»Woher werden wir wissen, wonach wir Ausschau halten sollen?«, erkundigte sich Vinara.
Lorlen blickte zu Rothen hinunter. »Erinnert Ihr Euch daran, wie Sie ausgesehen hat?«
Rothen nickte. Er trat einige Schritte zurück, schloss die Augen und beschwor die Erinnerung an ein kleines, mageres Mädchen mit schmalem, kindlichem Gesicht herauf. Dann griff er nach dem Quell seiner Kraft, öffnete die Augen wieder und ließ in der Luft vor sich ein Leuchten erscheinen, das sich schnell zu einem leicht durchsichtigen Gesicht formte. Als seine Erinnerung dem Bild die übrigen Einzelheiten beisteuerte, erschienen auch die groben Kleider des Mädchens: ein ausgeblichenes Halstuch um ihren Kopf, ein dickes Kapuzenhemd, Hosen. Als die Illusion vollständig war, blickte er zu den Höheren Magiern auf.
»Das ist das Mädchen, das uns angegriffen hat?«, knurrte Balkan. »Sie ist kaum mehr als ein Kind.«
»Ein kleines Paket mit einer großen Überraschung darin«, bemerkte Sarrin trocken.
»Und wenn sie nicht die Angreiferin ist?«, wollte Jerrik wissen. »Was ist, wenn Lord Rothen sich irrt?«
Lorlen sah Rothen an und lächelte schwach. »Für den Augenblick können wir nur davon ausgehen, dass seine Beobachtungen zutreffend sind. Wir werden schon bald mehr wissen, wenn die Klatschbasen der Stadt mitmachen und man weitere Zeugen findet.« Er deutete mit dem Kopf auf die Illusion. »Das genügt, Lord Rothen.«
Rothen machte eine knappe Handbewegung, und die Illusion erlosch. Als er wieder aufsah, begegnete er dem abschätzenden Blick Lord Sarrins.
»Was tun wir, wenn wir sie gefunden haben?«, fragte Vinara.
»Wenn sie eine wilde Magierin ist, werden wir das Gesetz anwenden«, antwortete Lorlen. »Wenn nicht, werden wir sie lehren, ihre Kräfte zu kontrollieren.«
»Ja, natürlich, aber danach? Was dann?«
»Ich denke, die Frage, die Lady Vinara stellt, ist folgende: Sollen wir sie zu einer von uns machen?«, warf Balkan ein.
Sofort war die Halle erfüllt von Stimmengewirr.
»Nein! Sie ist wahrscheinlich eine Diebin!«
»Sie hat einen der unseren angegriffen! Sie sollte bestraft und nicht belohnt werden!«
Rothen schüttelte den Kopf und seufzte, während immer neue Proteste laut wurden. Obwohl kein Gesetz es untersagte, Kinder niederer Klassen zu prüfen, war die Gilde bestrebt, nur die Kinder der Häuser in Magie zu unterweisen.
»Die Gilde hat seit Jahrhunderten keinen Novizen von außerhalb der Häuser angenommen«, sagte Balkan leise.
»Aber wenn Solend Recht hat, könnte sie eine ungewöhnlich starke Magierin sein«, rief Vinara ihm ins Gedächtnis.
Rothen unterdrückte ein Lächeln. Die meisten weiblichen Magier wurden Heilerinnen, und er wusste, dass Lady Vinara die Herkunft des Mädchens nur allzu gern übersehen würde, wenn sie auf diese Weise eine weitere starke Helferin gewann.
»›Stärke ist kein Segen, wenn ein Magier sich als verderbt erweist‹«, zitierte Sarrin. »Sie könnte eine Diebin sein oder sogar eine Hure. Welchen Einfluss würde jemand wie sie auf unsere anderen Novizen haben? Woher sollen wir wissen, ob sie unserem Gelöbnis treu bleiben würde?«
Vinara zog die Brauen in die Höhe. »Also wollt Ihr ihr zeigen, wozu sie in der Lage ist, und dann ihre Kräfte binden und sie in die Armut zurückschicken?«
Sarrin nickte. Vinara sah Balkan an, der nur die Schultern hob. Rothen zwang sich, Stillschweigen zu bewahren. Lorlen betrachtete mit ausdrucksloser Miene die drei Magier, die in der Reihe unter ihm saßen.
»Wir sollten ihr zumindest eine Chance geben«, erklärte Vinara. »Wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass sie sich an unsere Regeln halten und zu einer verantwortungsbewussten jungen Frau heranwachsen wird, sollten wir ihr die Möglichkeit dazu geben.«
»Je weiter sich ihre Kräfte entwickeln, umso schwieriger wird es sein, sie zu binden«, erinnerte Sarrin sie.
»Ich weiß.« Vinara beugte sich vor. »Aber es ist nicht unmöglich. Bedenkt auch, wie sehr es unserem Ansehen zugute käme, wenn wir das Mädchen aufnehmen würden. Eine großzügige Geste wie diese würde den Schaden, den unser Ruf heute erlitten hat, wohl eher wieder gutmachen als der Versuch, ihre Kräfte zu binden, um sie dann wieder in die Vorstadt zurückzuschicken.«
Balkan hob die Augenbrauen. »Das stimmt. Außerdem würde uns das vielleicht die Mühe ersparen, nach ihr suchen zu müssen. Wenn sie erfährt, dass sie eine Magierin werden kann, mit all dem damit verbundenen Ansehen und Wohlstand, wird sie aus freien Stücken zu uns kommen.«
»Und sollte sie jemals in Erwägung ziehen, in ihre früheren schändlichen Gewohnheiten zurückzufallen, könnte sie der Verlust dieses Wohlstands durchaus dazu bewegen, unserem Schwur die Treue zu halten«, warf Sarrin ein.
Lady Vinara nickte. Sie sah sich in der Halle um, dann wanderte ihr Blick zu Rothen, und ihre Augen wurden schmal. »Was sagt Ihr dazu, Lord Rothen?«
Rothen schnitt eine Grimasse. »Ich frage mich, ob sie uns nach den Ereignissen von heute Morgen überhaupt Glauben schenken wird.«
Balkans Miene verdüsterte sich. »Hm, das möchte ich bezweifeln. Wahrscheinlich werden wir sie zuerst gefangen nehmen müssen und ihr anschließend unsere guten Absichten erläutern.«
»Dann hat es wenig Sinn, abzuwarten, ob sie freiwillig zu uns kommt«, stellte Lorlen fest. »Wir werden morgen wie geplant mit der Suche beginnen.« Er schürzte die Lippen, dann wandte er sich zu dem Platz über seinem um.
Rothen blickte auf. Zwischen dem Stuhl des Administrators und dem Thron des Königs war ein einzelner Platz für den Führer der Gilde reserviert: den Hohen Lord Akkarin. Der schwarzgewandete Magier hatte während der ganzen Versammlung kein Wort gesagt, aber das war nichts Ungewöhnliches. Obwohl Akkarin bisweilen den Verlauf einer Debatte mit einigen wenigen milden Worten beeinflusst hatte, bewahrte er in den meisten Fällen Stillschweigen.
»Hoher Lord, habt Ihr Grund zu der Vermutung, dass es in den Hüttenvierteln wilde Magier gibt?«, fragte Lorlen.
»Nein. Es gibt keine wilden Magier in den Hüttensiedlungen«, erwiderte Akkarin.
Rothen stand nahe genug, um zu sehen, dass Balkan und Vinara einen schnellen Blick tauschten. Er unterdrückte ein Lächeln. Es hieß, der Hohe Lord habe besonders scharfe Sinne, und fast alle Magier begegneten ihm mit ein wenig Ehrfurcht. Lorlen nickte und wandte sich dann wieder der Halle zu. Er schlug den Gong, und sein sanftes Läuten strich durch den Raum.
»Die Entscheidung, ob das Mädchen unterrichtet werden soll oder nicht, wird vertagt, bis man sie gefunden und sich ein Bild von ihrer Wesensart gemacht hat. Fürs Erste werden wir uns darauf konzentrieren, nach ihr zu suchen. Die Suche wird morgen zur vierten Stunde hier beginnen. Wer glaubt, einen triftigen Grund zu haben, in der Gilde zurückzubleiben, möge bitte einen Antrag formulieren und ihn heute Abend meinem Assistenten vorlegen. Hiermit erkläre ich die Versammlung für beendet.«
Das Rascheln von Roben und das Klappern von Absätzen erfüllte die Halle. Rothen trat einen Schritt zurück, als der erste aus der Reihe der Höheren Magier die Treppe herunterkam und auf die Nebeneingänge der Halle zustrebte.
»Hast du Lord Kerrin gehört?«, fragte Dannyl, der auf ihn zugeeilt war. »Er möchte, dass das Mädchen bestraft wird, weil sie seinen lieben Freund Fergun angegriffen hat. Ich persönlich finde ja, das Mädchen hätte keine bessere Wahl treffen können, wenn sie denn schon einen Magier bewusstlos schlagen wollte.«
»Also wirklich, Dannyl…«, begann Rothen.
»… und jetzt verlangen sie von uns auch noch, im Müll der Hüttensiedlungen herumzuwühlen«, erklang eine Stimme hinter ihm.
»Ich weiß nicht, was die größere Tragödie ist: dass sie den Jungen getötet haben oder dass sie das Mädchen verfehlt haben«, erwiderte ein anderer.
Rothen drehte sich voller Abscheu zu dem Sprecher um, einem alten Alchemisten, der zu beschäftigt damit war, düster zu Boden zu blicken, um Rothen irgendwelche Beachtung zu schenken. Als der Magier davongeschlurft war, schüttelte Rothen den Kopf.
»Ich wollte dir gerade einen Vortrag darüber halten, dass du keine so unfreundlichen Reden führen sollst, Dannyl, aber das dürfte wohl wenig Sinn haben, nicht wahr?«
»Nein«, pflichtete Dannyl ihm bei und trat beiseite, um Administrator Lorlen und den Hohen Lord vorbeigehen zu lassen.
»Was ist, wenn wir sie nicht finden?«, fragte der Administrator den anderen Mann.
Der Hohe Lord lachte leise. »Oh, Ihr werdet sie finden, auf die eine oder andere Weise – obwohl ich wetten möchte, dass sich die meisten bis morgen Abend zugunsten der spektakuläreren, aber weniger gut riechenden Alternative aussprechen werden.«
Als die beiden Höheren Magier vorbeigegangen waren, schüttelte Rothen abermals den Kopf. »Bin ich eigentlich der Einzige hier, der sich dafür interessiert, was aus diesem armen Mädchen wird?«
Dannyl klopfte ihm auf die Schulter. »Natürlich nicht, aber ich hoffe, du hast nicht die Absicht, ihm einen Vortrag zu halten, alter Freund.«
»Sie ist ein Petz.«
Die Stimme klang männlich, jung und fremd. Wo bin ich?, dachte Sonea. Zunächst einmal lag sie auf etwas Weichem, so viel stand fest. Ein Bett? Ich kann mich nicht daran erinnern, mich in ein Bett gelegt zu haben…
»Auf keinen Fall.«
Das war Harrins Stimme, und er verteidigte sie. Erst nach und nach ging ihr die Bedeutung dessen auf, was der Fremde gesagt hatte, und mit einiger Verzögerung machte sich Erleichterung in ihr breit. Ein Petz war im Sprachgebrauch der Hütten ein Spitzel. Wenn Harrin dem anderen Mann Recht gegeben hätte, wäre sie in Schwierigkeiten gewesen… Aber für wen sollte sie denn spionieren?
»Was könnte sie anderes sein als ein Petz?«, gab die erste Stimme zurück. »Sie verfügt über Magie. Magier müssen über viele Jahre hinweg ausgebildet werden. Wer macht hier in der Gegend so etwas?«
Magie? Plötzlich strömten die Erinnerungen zurück: der Marktplatz, die Magier …
»Magie hin oder her, ich kenne sie genauso lange, wie ich Cery kenne«, erklärte Harrin dem Jungen. »Sie hat immer auf der richtigen Seite gestanden.«
Sonea achtete kaum auf seine Worte. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich den Stein werfen, sah ihn durch die Barriere fliegen und den Magier treffen. Das war ich, dachte sie. Aber das ist nicht möglich…
»Du hast doch selbst gesagt, dass sie für ein paar Jahre verschwunden war. Wer weiß, in welcher Gesellschaft sie sich seither herumgetrieben hat.«
Dann fiel ihr wieder ein, dass sie aus irgendeinem Kraftquell in ihrem Innern geschöpft hatte – etwas, das sie nicht hätte besitzen dürfen…
»Sie war bei ihrer Familie, Burril«, erwiderte Harrin. »Ich glaube ihr, Cery glaubt ihr, und das genügt.«
Und die Gilde weiß, dass ich es war! Der alte Magier hatte sie gesehen, hatte die anderen auf sie aufmerksam gemacht. Die Erinnerung an eine schwelende Leiche durchzuckte sie, und sie schauderte.
»Ich habe dich gewarnt.« Burril war nicht überzeugt, klang jedoch so, als gebe er sich geschlagen. »Wenn sie dich verpfeift, vergiss nicht, wer dich gewarnt –«
»Ich glaube, sie wacht auf«, murmelte eine andere vertraute Stimme. Cery. Er musste ganz in der Nähe sein.
Harrin seufzte. »Hinaus mit dir, Burril.«
Sonea hörte sich entfernende Schritte und dann eine Tür, die ins Schloss fiel.
»Du kannst jetzt aufhören, so zu tun, als schliefest du noch, Sonea«, sagte Cery leise.
Eine Hand berührte ihr Gesicht, und sie öffnete blinzelnd die Augen. Cery beugte sich grinsend über sie.
Sonea stützte sich auf die Ellbogen. Sie lag auf einem alten Bett in einem unvertrauten Zimmer. Als sie sich aufsetzte, musterte Cery sie prüfend.
»Du siehst besser aus«, bemerkte er.
»Ich fühle mich auch nicht schlecht«, stimmte sie ihm zu. »Was ist passiert?« Als Harrin vor sie hintrat, blickte sie auf. »Wo bin ich? Wie spät ist es?«
Cery lachte. »Es geht ihr gut.«
»Erinnerst du dich nicht mehr?« Harrin ging in die Hocke, so dass er ihr direkt in die Augen sehen konnte.
Sonea schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich, dass wir durch die Hüttenviertel gegangen sind, aber…« Sie breitete die Hände aus. »Ich habe keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin.«
»Harrin hat dich getragen«, erklang jetzt eine Frauenstimme. »Er hat gesagt, du seist im Gehen eingeschlafen.«
Sonea drehte sich um. Auf einem Stuhl hinter ihr saß ein Mädchen, das ihr bekannt vorkam. »Donia?«
Das Mädchen lächelte. »Stimmt.« Sie tippte mit dem Fuß auf den Boden. »Du bist im Bolhaus meines Vaters. Er hat uns erlaubt, dich hier unterzubringen. Du hast die ganze Nacht durchgeschlafen.«
Sonea sah sich um, dann lächelte sie. Sie erinnerte sich wieder daran, wie Harrin und seine Freunde Donia früher bestochen hatten, damit sie ein wenig Bol für sie stahl. Das Gebräu war stark, und wenn sie davon getrunken hatten, waren sie stets besonders ausgelassen gewesen.
Gellins Bolhaus lag ganz in der Nähe der Äußeren Mauer, inmitten der solideren Häuser in dem Teil der Hüttensiedlungen, der Nordseite genannt wurde. Die Bewohner dieses Viertels bezeichneten die Hüttensiedlungen als den Äußeren Ring, eine Geste des Trotzes und ihre Art, sich dagegen zu wehren, dass die Menschen im Innenbezirk so taten, als seien die Hütten der Vorstadtsiedlungen kein Teil der Stadt.
Sonea vermutete, dass sie sich in einem der Räume befand, die Gellin an Gäste vermietete. Das Zimmer war klein und wurde zum größten Teil von dem Bett, dem alten Stuhl, auf dem Donia saß, und einem kleinen Tisch ausgefüllt. Alte, ausgeblichene Papierblenden bedeckten die Fenster. Sie ließen nur schwaches Licht ein, und Sonea vermutete, dass es früh am Morgen sein musste.
Harrin winkte Donia zu sich. Als das Mädchen aufgestanden war, legte Harrin ihr einen Arm um die Taille und zog sie zu sich heran. Sie lächelte ihn voller Zuneigung an.
»Meinst du, du könntest etwas zu essen für uns auftreiben?«, fragte er.
»Mal sehen, was sich da machen lässt.« Sie schlenderte zur Tür hinüber und schlüpfte aus dem Raum.
Sonea warf Cery einen fragenden Blick zu und bekam zur Antwort ein selbstgefälliges Grinsen. Harrin, der sich inzwischen auf den frei gewordenen Stuhl hatte fallen lassen, runzelte die Stirn. »Bist du dir sicher, dass es dir wieder besser geht, Sonea?«, fragte er. »Gestern Abend warst du ziemlich übel dran.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich fühle mich wohl, wirklich. Als hätte ich besonders gut geschlafen.«
»Das hast du auch. Fast einen ganzen Tag lang.« Er musterte sie prüfend. »Was ist passiert, Sonea? Du warst es doch, die diesen Stein geworfen hat, nicht wahr?«
Sonea, deren Kehle plötzlich sehr trocken geworden war, schluckte. Einen Moment lang fragte sie sich, ob er ihr wohl glauben würde, wenn sie es abstritt.
Cery legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Sonea. Wir werden niemandem irgendetwas erzählen, wenn du es nicht willst.«
Sie nickte. »Ich war es tatsächlich, aber… ich weiß nicht, was passiert ist.«
»Hast du Magie benutzt?«, fragte Cery eifrig.
Sonea wandte den Blick ab. »Ich weiß es nicht. Ich habe mir nur gewünscht, dass der Stein die Barriere durchdringen möge… und er hat es getan.«
»Du hast den Schild der Magier durchbrochen«, warf Harrin ein. »Das kann man nur mit Hilfe von Magie, oder? Steine prallen normalerweise von der Barriere ab.«
»Und dann war da dieser Lichtblitz«, fügte Cery hinzu.
Harrin nickte. »Und die Magier haben es mit der Angst zu tun bekommen, so viel steht fest.«
Cery beugte sich vor. »Meinst du, du könntest es noch einmal tun?«
Sonea starrte ihn verständnislos an. »Noch einmal?«
»Nicht das Gleiche natürlich. Wir dürfen nicht zulassen, dass du Magier mit Steinen bewirfst – es gefällt ihnen offensichtlich nicht besonders. Ich meine etwas anderes. Wenn es funktioniert, würdest du wissen, dass du tatsächlich über Magie gebietest.«
Sonea schauderte. »Ich glaube nicht, dass ich das überhaupt wissen will.«
Cery lachte. »Warum denn nicht? Überleg doch nur, was du alles tun könntest! Es wäre fantastisch!
»Niemand würde dir mehr Schwierigkeiten machen wollen«, erklärte Harrin.
Sie schüttelte den Kopf. »Da irrst du dich. Die Leute hätten umso mehr Grund dazu.« Nachdenklich zog sie die Brauen zusammen. »Alle hassen die Magier. Sie würden auch mich hassen.«
»Alle hassen die Magier der Gilde«, widersprach Cery ihr. »Die kommen alle aus den Häusern und interessieren sich nur für sich selbst. Jeder weiß, dass du zum Hüttenvolk gehörst, genau wie wir.«
Zum Hüttenvolk. Nachdem sie zwei Jahre lang in der Stadt gelebt hatten, identifizierten ihre Tante und ihr Onkel sich nicht länger mit dem Ausdruck, den die Bewohner der wild gewachsenen Vorstadt sich gegeben hatten. Sie hatten den Sprung von der Vorstadt in die Stadt hinein geschafft. Stattdessen nannten sie sich heute Zünftler.
»Das Hüttenvolk hätte bestimmt liebend gern seine eigene Magierin«, beharrte Cery, »vor allem, wenn du anfängst, ihnen gute Dienste zu erweisen.«
Sonea schüttelte den Kopf. »Gute Dienste? Magier tun niemals etwas Gutes. Warum sollte das Hüttenvolk glauben, ich sei anders?«
»Wie wäre es, wenn du heilen könntest?«, fragte er. »Hat Ranel nicht ein schlimmes Bein? Du könntest es wieder in Ordnung bringen!«
Sonea schnappte nach Luft. Sie dachte an den Schmerz, den ihr Onkel erleiden musste, und plötzlich verstand sie Cerys Begeisterung. Es wäre tatsächlich wunderbar, wenn sie ihren Onkel wieder gesund machen könnte. Und wenn sie ihm half, warum dann nicht auch anderen?
Dann fiel ihr wieder ein, was Ranel von den »Kurierern« hielt, die sein Bein behandelt hatten. Abermals schüttelte sie den Kopf. »Die Leute haben kein Vertrauen in die Kurierer, warum sollten sie dann mir vertrauen?«
»Das liegt doch nur daran, dass die Leute glauben, die Kurierer würden genauso viel Schaden wie Nutzen anrichten«, erklärte Cery. »Sie haben Angst, dass es ihnen anschließend nur noch schlechter geht.«
»Vor Magie haben sie noch mehr Angst. Sie würden denken, die Magier hätten mich geschickt, um sie loszuwerden.«
Cery lachte. »Das ist doch absurd. Niemand wird das denken.«
»Was ist mit Burril?«
Er schnitt eine Grimasse. »Burril ist ein Torfkopf. Niemand denkt so wie er.«
Sonea, die keineswegs überzeugt war, schnaubte. »Trotzdem, ich weiß nichts über Magie. Wenn die Menschen denken, ich könnte sie heilen, werden sie es mir sehr verübeln, wenn ich ihnen doch nicht helfen kann.«
Cery runzelte die Stirn. »Das ist wahr.« Er blickte zu Harrin auf. »Sie hat Recht. Das Ganze könnte ziemlich schlimm ausgehen. Selbst wenn Sonea bereit wäre, es noch einmal mit der Magie zu versuchen, müssten wir das trotzdem eine Weile geheim halten.«
Harrin schürzte die Lippen, dann nickte er. »Wenn irgendjemand uns fragt, ob du über Magie gebietest, Sonea, werden wir antworten, dass du gar nichts getan hast – dass die Magier in ihrer Konzentration nachgelassen haben müssen oder etwas in der Art. Wir werden sagen, der Stein habe die Barriere auf ganz natürliche Art und Weise durchbrochen.«
Sonea sah ihn hoffnungsvoll an. »Vielleicht war es ja auch wirklich so. Vielleicht habe ich gar nichts getan.«
»Wenn es dir nicht noch einmal gelingt, Magie zu benutzen, werden wir es endgültig wissen.« Cery klopfte ihr auf die Schulter. »Solltest du aber wirklich über Magie gebieten, werden wir dafür sorgen, dass niemand davon erfährt. In einigen Wochen werden alle glauben, die Magier hätten einfach einen Fehler gemacht. Lass ein oder zwei Monate verstreichen, dann haben sie dich vergessen.«
Es klopfte an der Tür, und Sonea zuckte heftig zusammen. Harrin öffnete und ließ Donia herein. Das Mädchen trug ein Tablett mit mehreren schweren Bechern und einem großen Brotteller.
»Hier«, sagte sie und stellte das Tablett auf den Tisch. »Ein Krug Bol für jeden von uns, um die Rückkehr einer alten Freundin zu feiern. Harrin, Vater möchte, dass du eine Besorgung für ihn machst.«
»Dann werde ich mir wohl besser gleich sagen lassen, was er von mir will.« Harrin griff nach einem der Becher und leerte ihn. »Bis später, Sonea«, sagte er. Dann legte er Donia einen Arm um die Taille und zog sie kichernd aus dem Raum. Als die Tür hinter ihnen zufiel, schüttelte Sonea den Kopf.
»Wie lange geht das denn schon?«
»Die Sache mit den beiden?«, fragte Cery, der den Mund voller Brot hatte. »Seit fast einem Jahr, glaube ich. Harrin sagt, er würde sie heiraten und das Gasthaus erben.«
Sonea lachte. »Weiß Gellin es schon?«
Cery lächelte. »Jedenfalls hat er Harrin noch nicht aus dem Haus geworfen.«
Sie nahm sich ein Stück von dem dunklen Brot. Schon beim ersten Bissen gab ihr Magen ihr zu verstehen, dass sie ihn mehr als einen Tag lang vernachlässigt hatte, und sie fiel gierig über die spärliche Mahlzeit her. Das Bol war ihr – obwohl ziemlich sauer – nach dem salzigen Brot hochwillkommen. Als sie alles verzehrt hatten, ließ Sonea sich auf den einzigen Stuhl in der Kammer sinken und seufzte.
»Wenn Harrin alle Hände voll mit einem Gasthaus zu tun hat, was wirst du dann machen, Cery?«
Er zuckte die Achseln. »Dies und das. Zum Beispiel Harrins Bol stehlen. Seinen Kindern beibringen, wie man Schlösser öffnet. Zumindest werden wir es in diesem Winter warm haben. Und was hast du vor?«
»Keine Ahnung. Jonna und Ranel haben gesagt… oh!« Sie sprang auf die Füße. »Wir wollten uns treffen. Die beiden wissen nicht, wo ich bin!«
Cery machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie werden hier schon irgendwo sein.«
Sonea tastete nach ihrem Geldbeutel und stellte fest, dass er nach wie vor voll und schwer an ihrer Hüfte baumelte.
»Ein hübsches Sümmchen hast du da bei dir«, bemerkte Cery.
»Ranel meinte, wir sollten jeder einen Teil des Geldes nehmen und auf getrennten Wegen die Stadt verlassen. Es wäre schreckliches Pech, wenn wir alle von den Stadtwachen durchsucht würden.« Sie sah ihn mit schmalen Augen an. »Ich weiß genau, wie viel da drin war.«
Er lachte. »Ich auch, und es ist noch alles da. Komm, ich helfe dir, Ranel und Jonna zu finden.«
Er erhob sich und trat durch die Tür in einen kurzen Korridor. Sonea folgte ihm durch das schmale Treppenhaus in die vertraute Schankstube. Wie immer lag der schwere Geruch von Bol in der Luft, und der Raum war erfüllt von fröhlichem Geplauder und gutmütigen Flüchen. Ein hochgewachsener Mann lümmelte sich auf der Bank, an der der Schnaps ausgeschenkt wurde.
»Guten Morgen, Gellin«, rief Cery.
Der Mann musterte Sonea mit schmalen, kurzsichtigen Augen, dann grinste er.
»Ha! Wenn das nicht die kleine Sonea ist!« Gellin kam gemächlich auf sie zu und schlug ihr auf die Schulter. »Und erwachsen bist du geworden. Ich erinnere mich noch gut daran, wie du mir früher das Bol stibitzt hast, Mädchen. Eine geschickte kleine Diebin warst du, jawohl.«
Sonea warf Cery einen verschmitzten Blick zu. »Und das war natürlich ganz allein meine Idee, nicht wahr, Cery?«
Cery breitete die Hände aus und lächelte unschuldig. »Wie meinst du das, Sonea?«
Gellin kicherte. »Das kommt davon, wenn man sich mit den Dieben gemein macht. Aber sag mir, wie geht es deinen Eltern?«
»Du meinst Tante Jonna und Onkel Ranel?«
Er hob die Hand. »Die meine ich.«
Sonea zuckte die Achseln und erzählte von der Vertreibung ihrer Familie aus dem Bleibehaus. Gellin nickte mitfühlend.
»Die beiden fragen sich sicher schon, wo ich abgeblieben bin«, fügte sie hinzu. »Ich –«
Die Tür des Gasthauses wurde krachend aufgestoßen, und Sonea zuckte zusammen. Sofort herrschte Ruhe im Schankraum, und alle blickten zum Eingang hinüber. Im Türrahmen lehnte Harrin, atemlos und mit Schweiß auf der Stirn.
»Pass bloß mit meiner Tür auf!«, brüllte Gellin.
Harrin blickte auf. Als er Sonea und Cery entdeckte, wurde er bleich und lief auf sie zu. Im nächsten Moment hatte er Sonea auch schon am Arm gepackt und zog sie, Cery dicht hinter ihnen, in die Küche des Gasthauses.
»Was ist passiert?«, flüsterte Cery.
»Die Magier durchsuchen die Vorstadt«, keuchte Harrin.
Sonea starrte ihn entsetzt an.
»Sie sind hier?«, rief Cery. »Warum?«
Harrin warf Sonea einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Sie suchen nach mir«, wisperte sie.
Harrin nickte grimmig, dann wandte er sich an Cery. »Wohin sollen wir gehen?«
»Wie nah sind sie?«
»Sehr nah. Sie haben ihre Suche an der Äußeren Mauer begonnen und arbeiten sich von dort aus vor.«
Cery stieß einen leisen Pfiff aus. »So nah.«
Sonea presste sich eine Hand auf die Brust. Ihr Herz hämmerte viel zu schnell, und ihr war mit einem Mal übel.
»Wir haben nur ein paar Minuten Zeit«, erklärte Harrin. »Wir müssen sofort von hier verschwinden. Sie durchsuchen jedes Haus.«
»Dann müssen wir sie irgendwo unterbringen, wo sie schon gewesen sind.«
Sonea lehnte sich an die Wand, und die Knie drohten unter ihr nachzugeben, als die Erinnerung an einen geschwärzten Leichnam vor ihren Augen aufstieg.
»Sie werden mich töten!«, stieß sie hervor.
Cery sah sie an. »Nein, Sonea«, erklärte er entschieden.
»Sie haben diesen Jungen getötet…« Sie schauderte.
Er packte sie an den Schultern. »Das werden wir nicht zulassen, Sonea.«
Sein Blick war viel härter, als sie es von ihm gewohnt war. Sie forschte in seinen Augen nach Zweifeln, konnte aber keine entdecken.
»Vertraust du mir?«, fragte er.
Sie nickte, und er lächelte ihr aufmunternd zu.
»Dann komm.«
Er zog sie hinter sich her durch die Küche, und Harrin folgte ihnen. Sie kamen durch eine weitere Tür und traten schließlich auf eine durchweichte Gasse hinaus. Sonea schauderte, als die kalte Winterluft durch ihre Kleider drang.
Am Ende der Gasse angekommen, erklärte Cery ihnen, dass sie warten sollten, während er herausfinden wollte, ob die Luft rein war. Er blieb nur einen Moment lang am Eingang stehen, dann kam er kopfschüttelnd zurück. Und schon rannten sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Etwa in der Mitte des Hausblocks hielt Cery inne und hob ein kleines, in eine Mauer eingelassenes Gitter hoch. Harrin warf seinem Freund einen zweifelnden Blick zu, dann legte er sich auf den Boden und schob sich durch die Öffnung. Sonea folgte ihm, und fand sich kurz darauf in einem dunklen Gang wieder. Während Harrin ihr auf die Füße half, zwängte auch Cery sich durch das Loch in der Mauer. Dann schloss er das Gitter hinter sich, eine Prozedur, die ohne jedes Geräusch verlief, was darauf hindeutete, dass die Scharniere regelmäßig geölt wurden.
»Bist du dir wirklich sicher?«, flüsterte Harrin.
»Die Diebe werden alle Hände voll zu tun haben, um zu verhindern, dass die Magier ihre Sachen finden. Sie haben gar keine Zeit, sich um uns Gedanken zu machen«, antwortete Cery. »Außerdem werden wir nicht lange hier unten sein. Leg mir eine Hand auf die Schulter und folge mir, Sonea.«
Sie gehorchte und hielt sich an seinem Mantel fest. Harrin legte ihr seinerseits eine Hand fest auf die Schulter. Mit hämmerndem Herzen starrte Sonea in die Dunkelheit, die vor ihnen lag.
Harrins Frage entnahm sie, dass sie auf der »Straße der Diebe« waren.
Es war verboten, das unterirdische Tunnelnetz zu benutzen, ohne vorher die Erlaubnis einzuholen, und Sonea hatte schreckliche Geschichten darüber gehört, wie die Diebe jene bestraften, die gegen dieses Gesetz verstießen.
Seit sie denken konnte, hatten die Menschen Cery scherzhaft einen Freund der Diebe genannt. In ihren Neckereien hatte stets ein Anflug von Furcht und Respekt mitgeschwungen. Sein Vater war Schmuggler gewesen, das wusste Sonea, daher war es durchaus möglich, dass Cery seine Privilegien und Beziehungen geerbt hatte. Bisher hatte sie jedoch nie einen Beweis dafür gesehen, und sie hatte immer vermutet, dass er die Spekulationen in Gang hielt, um seinen angesehenen Platz als Harrins Stellvertreter in der Bande zu behaupten. Soweit sie wusste, hatte Cery keinerlei Verbindung zu den Dieben, was bedeutete, dass sie ihrem Tod entgegenlief.
Allerdings war es besser, eine Begegnung mit den Dieben zu riskieren, als oberhalb der Erde dem sicheren Tod ausgeliefert zu sein. Zumindest suchten die Diebe nicht nach ihr.
Der Weg wurde noch dunkler, bis Sonea nichts mehr sehen konnte als verschiedene Nuancen von Schwärze. Dann wurde es nach und nach wieder heller, als sie sich einem weiteren Gitter näherten. Cery bog um eine Ecke, und wieder hüllte sie absolute Finsternis ein. Sie wechselten noch mehrmals die Richtung, bevor Cery stehen blieb.
»Hier sollten sie längst vorbei sein«, flüsterte Cery Harrin zu. »Wir werden lange genug bleiben, um etwas zu kaufen, und dann weitergehen. Du solltest die anderen holen und dich davon überzeugen, dass niemand etwas über Sonea gesagt hat. Irgendjemand könnte auf den Gedanken kommen, uns mit der Drohung zu erpressen, uns an die Magier zu verraten.«
»Ich trommle unsere Freunde zusammen«, versicherte Harrin ihm. »Und wenn ich sie gefunden habe, werde ich ihnen sagen, dass sie den Mund halten sollen.«
»Gut«, erwiderte Cery. »Also, wir sind hier, um ein wenig Iker-Pulver zu kaufen, das ist alles.«
Leise Geräusche hallten in der Dunkelheit wider, dann wurde eine Tür geöffnet, und sie traten in helles Tageslicht hinaus – und in einen Käfig voller Rassooks.
Beim Anblick der Eindringlinge begannen die Vögel mit ihren winzigen, nutzlosen Flügeln zu schlagen und brachen in laute, kreischende Rufe aus. Der Lärm wurde von den vier Mauern des kleinen Innenhofs noch verstärkt. In einer Tür in der Nähe erschien eine Frau. Als sie Sonea und Harrin in ihrem Käfig sah, verdüsterte sich ihre Miene.
»Hai! Wer seid ihr?«
Sonea drehte sich zu Cery um, der hinter ihr hockte und mit der Hand über den staubigen Boden strich. Jetzt erhob er sich und grinste die Frau an. »Wir wollten dich besuchen, Laria«, sagte er.
Die Frau sah ihn von oben herab an. Ihre finstere Miene verschwand, und ein runzliges Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus. »Ceryni! Ich freue mich immer, dich zu sehen. Sind das Freunde von dir? Willkommen! Willkommen! Kommt in mein Haus und trinkt einen Becher Raka.«
»Wie laufen die Geschäfte?«, fragte Cery, als sie aus dem Käfig traten und Laria durch die Tür in einen winzigen Raum folgten. Die eine Hälfte des Zimmers wurde von einem schmalen Bett eingenommen, und ein Herd und ein Tisch beanspruchten den anderen Teil. Sie legte die Stirn in Falten. »Viel zu tun heute. Vor weniger als einer Stunde hatte ich ein paar Besucher hier. Ziemlich neugierige Bande.«
»Besucher in Roben?«, fragte Cery.
Sie nickte. »Die haben mich fast zu Tode erschreckt. Haben überall gesucht, aber nichts gefunden, wenn du weißt, was ich meine. Bei den Wachen war es anders. Die kommen bestimmt zurück, aber bis dahin wird es nichts mehr geben, was sie hier finden könnten.« Sie kicherte. »Dann ist es zu spät.« Sie stellte einen Kessel mit Wasser zum Kochen auf den Herd. »Also, was willst du hier?«
»Das Übliche.«
Ein boshaftes Funkeln trat in Larias Augen. »Du willst also ein paar Nächte ordentlich feiern, ja? Wie viel kannst du mir denn anbieten?«
Er lächelte. »Du schuldest mir noch einen Gefallen, wenn ich mich recht erinnere.«
Die Frau schürzte die Lippen, und ihre klugen Augen wurden schmal. »Warte hier.«
Sie verschwand durch die Tür. Mit einem Seufzen ließ Cery sich auf das Bett fallen, das laut knarrte. »Ganz ruhig, Sonea«, sagte er. »Sie sind schon hier gewesen. Sie werden nicht noch einmal nachsehen.«
Sie nickte. Ihr Herz raste noch immer, und ihre Übelkeit hatte sich keineswegs gelegt. Sie holte tief Luft und lehnte sich an die Wand. Als das Wasser kochte, nahm Cery sich einen Krug mit dunklem Pulver und löffelte etwas davon in die Becher, die Laria bereitgestellt hatte. Ein tröstlich vertrauter, scharfer Duft durchzog den Raum.
»Ich schätze, dann wissen wir jetzt wohl Bescheid, Sonea«, bemerkte Harrin, als Cery ihm einen Becher gab.
Sonea runzelte die Stirn. »Was wissen wir?«
»Was du getan hast, muss Magie gewesen sein.« Er grinste. »Wenn sie das nicht dächten, würden sie nicht nach dir suchen, nicht wahr?«
Mit einer ungeduldigen Geste verscheuchte Dannyl die Feuchtigkeit aus seinen Roben. Kleine Dampfwolken wogten aus dem Tuch auf. Die Wachen wichen zurück, als ein eisiger Windschwall den Nebel fortblies, dann kehrten die vier Männer an ihre Plätze zurück.
Sie gingen in einer strengen Formation – zwei neben ihm, zwei hinter ihm. Eine lächerliche Vorsichtsmaßnahme. Das Hüttenvolk war nicht dumm genug, um sie anzugreifen. Und wenn es zu einem Übergriff käme, würden die Soldaten sich wohl eher um Schutz an Dannyl wenden als umgekehrt.
Als er einen nachdenklichen Blick von einem der Männer auffing, durchzuckte Dannyl ein Anflug schlechten Gewissens. Am Morgen waren sie ängstlich und unterwürfig gewesen. Da er gewusst hatte, dass er den ganzen Tag mit ihnen würde verbringen müssen, hatte Dannyl sich alle Mühe gegeben, zugänglich und freundlich zu erscheinen.
Für die Soldaten war dies wie ein Festtag – unendlich unterhaltsamer als stundenlang an einem der Tore stehen oder durch die Straßen der Stadt patrouillieren zu müssen. Obwohl sie erpicht darauf waren, die Vorratslager der Schmuggler und die Hurenhäuser aufzuspüren, waren sie bei der Suche selbst keine große Hilfe gewesen. Er brauchte niemanden, der mit Gewalt Türen oder Transportkisten öffnete, und das Hüttenvolk hatte sich, wenn auch widerstrebend, hilfsbereit gezeigt.
Dannyl seufzte. Er hatte genug gesehen, um zu wissen, dass viele dieser Menschen sich nur allzu gut darauf verstanden, versteckt zu halten, was sie verstecken wollten. Außerdem hatte er auf den Gesichtern, die ihn beobachteten, immer wieder ein unterdrücktes Lächeln gesehen. Welche Chance hatten hundert Magier, inmitten Tausender Hüttenbewohner ein einziges, vollkommen alltäglich aussehendes Mädchen zu finden?
Überhaupt keine. Dannyl biss die Zähne zusammen, als ihm Lord Balkans Worte vom Vorabend noch einmal durch den Kopf gingen.
Was würde passieren, wenn einer von uns in der Verkleidung eines greinenden Bettlers entdeckt würde? Wir würden uns überall in den Verbündeten Ländern zum Gespött machen.
Er schnaubte. Und jetzt machen wir uns nicht zum Narren?
Ein scharfer Gestank drang an Dannyls Nase. Angewidert betrachtete er eine überquellende Kloake. Die Menschen, die auf den Gehsteigen standen, wichen hastig vor ihm zurück. Es kostete ihn einige Anstrengung, tief durchzuatmen und seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten.
Es gefiel ihm nicht, Menschen zu erschrecken. Sie beeindrucken? Ja. Ihren Respekt gewinnen? Noch besser. Aber sie erschrecken – nein. Es verstörte ihn, dass diese Menschen davonhuschten, sobald er näher kam, und ihm dann nachstarrten, wenn er an ihnen vorbeigegangen war. Die Kinder waren mutiger und folgten ihm, aber auch sie rannten davon, wenn er sie ansah. Männer und Frauen, Alt und Jung, beobachteten ihn voller Argwohn. Alle sahen hart und gerissen aus. Er fragte sich, wie viele von ihnen für die Diebe arbeiteten.
Dannyl hielt jäh inne.
Die Diebe… Die Wachen blieben ebenfalls stehen und sahen ihn fragend an. Er beachtete sie nicht.
Wenn die Geschichten der Wahrheit entsprachen, wussten die Diebe mehr über die Hüttensiedlung als jeder andere. Wussten sie auch, wo sich dieses Mädchen befand? Und wenn nicht, konnten sie es finden? Wären sie bereit, der Gilde zu helfen? Vielleicht, wenn der Preis stimmte …
Wie würden die anderen Magier reagieren, wenn er ihnen vorschlug, einen Handel mit den Dieben zu machen?
Sie würden entsetzt sein. Entrüstet.
Dannyl betrachtete den flachen, stinkenden Graben, der als Gosse diente. Wenn die Magier erst einige Tage durch die Hüttenviertel gewandert waren, würden sie seiner Idee vielleicht nicht mehr ganz so ablehnend gegenüberstehen. Was bedeutete, dass er noch eine Weile warten sollte, bevor er ihnen diesen Vorschlag unterbreitete. Die Chancen, ihre Zustimmung zu gewinnen, würden sich von Tag zu Tag verbessern.
Andererseits gab jede Stunde, die verstrich, dem Mädchen mehr Zeit, sich zu verstecken. Dannyl schürzte die Lippen.
Es würde nicht schaden, festzustellen, ob die Diebe überhaupt zu einem Handel bereit waren, bevor er der Gilde seine Idee unterbreitete. Wenn er zuerst die Zustimmung der Gilde einholte und die Diebe ihr Angebot ablehnten, hätte er nur Zeit und Kraft verschwendet.
Er drehte sich zu dem ältesten der Wachsoldaten um. »Hauptmann Garrin. Wisst Ihr, wie man Kontakt zu den Dieben herstellen kann?«
Die Brauen des Kapitäns wanderten so hoch, dass sie unter seinem Helm verschwanden. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Herr.«
»Ich weiß es, Herr.«
Dannyl musterte den jüngsten der vier Soldaten, einen schlaksigen jungen Mann namens Ollin.
»Ich habe früher einmal hier gelebt, Herr«, gestand Ollin, »bevor ich der Wache beigetreten bin. Es gibt immer irgendwo Leute, die den Dieben eine Nachricht überbringen können, wenn man weiß, wo man nach ihnen suchen muss.«
»Verstehe.« Dannyl kaute auf seiner Unterlippe und dachte nach. »Finde einen dieser Leute für mich. Frag ihn, ob die Diebe bereit wären, mit uns zusammenzuarbeiten. Und komm mit ihrer Antwort direkt zu mir – zu niemandem sonst.«
Ollin nickte und sah dann den Hauptmann an. Die Lippen des älteren Mannes waren schmal vor Missbilligung, aber er nickte und deutete mit dem Kinn auf einen der anderen Soldaten. »Nimm Keran mit.«
Dannyl sah den beiden Männern nach, wie sie die Straße hinuntergingen. Dann drehte er sich um und setzte, in Gedanken bei den möglichen Konsequenzen seiner Entscheidung, seinen Weg fort. Ein wenig weiter unten an der Straße trat eine vertraute Gestalt aus einem Haus. Dannyl lächelte und beschleunigte seinen Schritt.
— Rothen!
Der Mann hielt inne, und der Wind fuhr ihm unter die Robe, so dass sie um seine Beine peitschte.
— Dannyl? Rothens gedankliche Erwiderung klang schwach und unsicher.
— Ich bin hier. Dannyl sandte dem anderen Magier ein schnelles Bild von der Straße und ein Gefühl der Nähe. Rothen wandte sich zu ihm um und richtete sich auf, als er Dannyl entdeckte. Als Dannyl näher kam, sah er, dass ein gehetzter Ausdruck in den blauen Augen Rothens lag.
»Irgendwelche Fortschritte?«
»Nein.« Rothen schüttelte den Kopf. Er betrachtete die provisorischen Bauten auf der einen Straßenseite. »Ich hatte ja keine Ahnung, wie es hier aussieht.«
»Es ist wie in einem Harrel-Bau, nicht wahr?«, kicherte Dannyl. »Ein echtes Chaos.«
»Oh ja, aber ich meinte eigentlich die Menschen.« Rothen deutete auf eine kleine Gruppe von Männern und Frauen. »Die Lebensbedingungen sind so schlecht… Ich hätte das nie für möglich gehalten…«
Dannyl zuckte die Achseln. »Wir haben keine Chance, das Mädchen zu finden, Rothen. Wir sind einfach zu wenige.«
Rothen nickte. »Meinst du, den anderen ist es besser ergangen?«
»Wenn dem so wäre, hätte man sich bereits mit uns in Verbindung gesetzt.«
»Du hast Recht.« Rothen runzelte die Stirn. »Mir ist heute eine Frage in den Sinn gekommen, die wir uns noch gar nicht gestellt haben: Woher wissen wir, dass sie überhaupt noch in der Stadt ist? Sie hätte aufs Land fliehen können.« Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, du hast Recht. Ich mache hier jetzt Schluss. Lass uns in die Gilde zurückkehren.«
Frühes Morgenlicht überzog die frostüberhauchten Fenster mit Gold. Die Luft im Raum war herrlich warm, beheizt von einer leuchtenden Kugel, die hinter einer in die Wand eingelassenen Milchglasscheibe schwebte. Rothen gürtete die Schärpe seiner Robe, dann trat er in den Gästeraum, um seine Freunde zu begrüßen.
Eine zweite Scheibe ermöglichte es der Wärmekugel, gleichzeitig das Schlafzimmer und den Gästeraum zu beheizen. Ein älterer Magier stand vor dieser zweiten Scheibe und hielt die Hände über das Glas. Obwohl er weit über achtzig war, war Yaldin noch immer robust und mit einem scharfen Verstand gesegnet; dies war einer der Vorteile, die magische Fähigkeiten mit sich brachten: hohes Alter und gute Gesundheit. Ein größerer und jüngerer Magier stand neben Yaldin. Dannyl hatte die Augen halb geschlossen, und er machte den Eindruck, als könne er jeden Moment einschlafen.
»Guten Morgen«, sagte Rothen. »Sieht so aus, als würde das Wetter heute aufklaren.«
Yaldin lächelte schief. »Lord Davin meint, wir würden noch ein paar warme Tage haben, bevor der Winter kommt.«
Dannyl zog die Brauen zusammen. »Das sagt Davin schon seit Wochen.«
»Er hat nicht gesagt, wann es passieren würde«, bemerkte Yaldin mit einem vergnügten Kichern. »Er hat nur gesagt, dass es passieren würde.«
Rothen lächelte. Es gab ein altes Sprichwort in Kyralia: »Die Sonne trachtet nicht danach, Königen zu gefallen, ja nicht einmal Magiern.« Lord Davin, ein exzentrischer Alchemist, hatte vor drei Jahren mit Wetterstudien begonnen, fest entschlossen, das Gegenteil zu beweisen. In letzter Zeit hatte er die Gilde mit »Voraussagen« versorgt. Rothen vermutete allerdings, dass seine Erfolgsrate eher auf Zufall als auf Genie schließen ließ.
Die Haupttür des Raums wurde geöffnet, und Rothens Dienerin, Tania, trat ein. Sie brachte ein Tablett zum Tisch und stellte es ab. Auf dem Tablett standen mehrere kleine, mit Gold verzierte Tassen und ein Teller, auf dem sich süße, kunstvoll verzierte Kuchen türmten.
»Sumi, die Herren?«, fragte sie.
Dannyl und Yaldin nickten begeistert. Nachdem Rothen die beiden aufgefordert hatte, Platz zu nehmen, maß Tania einige Löffel getrockneter Blätter ab, gab sie in eine goldene Kanne und goss heißes Wasser darüber.
Yaldin seufzte und schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, warum ich mich freiwillig erboten habe, heute in die Hüttensiedlung zu gehen. Ich hätte es auch nicht getan, wenn Ezrille nicht darauf bestanden hätte. Ich habe zu ihr gesagt: ›Wenn nur die Hälfte von uns hingeht, welche Chancen haben wir dann?‹ Sie hat geantwortet: ›Jedenfalls bessere, als wenn keiner von euch geht.‹«
Rothen lächelte. »Eure Gattin ist sehr vernünftig.«
»Ich hätte gedacht, dass unsere Kollegen stärker daran interessiert wären, bei der Suche zu helfen. Vor allem, nachdem die Ratgeber des Königs erklärt haben, dass er eine Ausbildung für das Mädchen wünscht, sollte sie keine wilde Magierin sein«, warf Dannyl ein.
Yaldin schnitt eine Grimasse. »Ich nehme an, einige unserer Freunde haben aus Protest gegen diese Entscheidung ihre Unterstützung zurückgezogen. Sie wollen kein Mädchen aus den Hütten in der Gilde.«
»Nun, jetzt haben sie keine andere Wahl mehr. Und wir haben einen neuen Helfer hinzugewonnen«, rief Rothen ihm ins Gedächtnis, während er von Tania eine Tasse entgegennahm.
»Fergun.« Dannyl stieß einen Laut aus, der äußerst unhöflich war. »Das Mädchen hätte wirklich fester werfen sollen.«
»Dannyl!« Rothen drohte dem jüngeren Magier mit dem Finger. »Fergun ist der einzige Grund, warum die Gilde überhaupt noch nach ihr sucht. Bei der Versammlung gestern Abend war er sehr überzeugend.«
Yaldin lächelte grimmig. »Ich bezweifle, dass seine Begeisterung lange anhalten wird. Als ich gestern endlich nach Hause kam, bin ich geradewegs ins Badehaus gegangen, aber Ezrille meinte, selbst dadurch sei ich den Gestank des Hüttenviertels nicht losgeworden.«
»Ich hoffe, unsere flüchtige kleine Magierin wird nicht gar so schrecklich stinken«, sagte Dannyl und zeigte Rothen ein schiefes Grinsen. »Sonst wird ihre erste Lektion wohl darin bestehen, dass man ihr beibringt, wie man sich wäscht.«
Als Rothen an das halb verhungerte, schmutzige Gesicht und die vor Staunen geweiteten Augen des Mädchens dachte, überlief ihn ein Schauer. Die ganze Nacht hatte er von den Hüttensiedlungen geträumt. Er war durch Hütten mit dünnen Wänden gestrichen, hatte kränkelnde Menschen beobachtet, alte Männer, die in ihren Lumpen zitterten, magere Kinder, die halb verfaultes Essen zu sich nahmen, grausam entstellte Krüppel …
Ein höfliches Klopfen unterbrach seine Gedanken. Er wandte sich der Tür zu und gab ihr einen Gedankenbefehl. Die Tür schwang auf, und ein junger Mann in der Gewandung eines Boten trat ein.
»Lord Dannyl.« Der Bote verneigte sich tief vor dem jüngeren Magier.
»Sprich«, befahl Dannyl.
»Hauptmann Garrin schickt Euch eine Nachricht, Herr. Ich soll Euch ausrichten, die Wachen Ollin und Keran seien ausgeraubt und schwer verprügelt worden. Der Mann, nach dem Ihr sie habt suchen lassen, wünsche nicht, mit Magiern zu sprechen.«
Dannyl starrte den Diener an, dann runzelte er die Stirn, als er die Neuigkeiten überdachte. Als die Stille sich in die Länge zog, begann der junge Mann beklommen von einem Fuß auf den anderen zu treten.
»Sind sie schlimm verletzt?«, fragte Rothen.
Der Bote schüttelte den Kopf. »Ein paar Prellungen, Herr. Keine gebrochenen Knochen.«
Dannyl machte eine abschätzige Handbewegung. »Dankt dem Hauptmann für seine Nachricht. Und jetzt darfst du gehen.«
Der Bote verneigte sich abermals und verließ den Raum.
»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte Yaldin, als die Tür sich schloss.
Dannyl schürzte die Lippen. »Wie es aussieht, sind uns die Diebe nicht allzu wohl gesinnt.«
Yaldin stieß ein leises Schnauben aus und griff nach einem Stück Kuchen. »Das möchte ich meinen! Warum sollten sie…?« Der ältere Magier brach ab und musterte den jüngeren mit schmalen Augen. »Ihr habt doch nicht etwa…?«
Dannyl breitete die Hände aus. »Einen Versuch war es wert. Angeblich wissen sie über alles Bescheid, was sich im Hüttenviertel ereignet.«
»Ihr habt versucht, Kontakt zu den Dieben aufzunehmen!«
»Soweit ich weiß, habe ich damit kein Gesetz gebrochen.«
Yaldin stöhnte und schüttelte den Kopf.
»Nein, Dannyl«, sagte Rothen, »aber der König und die Häuser werden es gewiss nicht billigen, wenn die Gilde mit den Dieben Geschäfte macht.«
»Wer hat hier von Geschäften gesprochen?« Dannyl lächelte und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. »Denkt darüber nach. Die Diebe kennen die Hüttensiedlungen viel besser, als wir es uns jemals erhoffen könnten. Sie sind in einer viel besseren Position, das Mädchen zu finden, als wir – und ich bin davon überzeugt, dass sie lieber selbst nach ihr suchen, als das Risiko einzugehen, dass wir auf ihrem Territorium herumschnüffeln. Wir brauchen es vor dem König nur so darzustellen, dass wir die Diebe eingeschüchtert oder überredet hätten, uns das Mädchen auszuliefern, und wir werden alle Zustimmung bekommen, die wir brauchen.«
Rothen runzelte die Stirn. »Du wirst viel Zeit und Mühe brauchen, um die Höheren Magier für diese Idee zu gewinnen.«
»Sie müssen es ja nicht sofort erfahren.«
Rothen verschränkte die Arme vor der Brust. »Oh doch, das müssen sie«, erwiderte er entschieden.
Dannyl zuckte zusammen. »Ja, du hast wahrscheinlich Recht, aber wenn mein Plan funktioniert und ich ihnen ein Argument liefere, mit dem sie das Ganze beim König rechtfertigen können, werden sie mir sicher verzeihen.«
Yaldin lachte trocken auf. »Vermutlich ist es gut, dass Euer Plan nicht funktioniert hat.«
Rothen erhob sich und trat an ein Fenster. Er rieb an einer Stelle den Raureif weg und spähte hinaus in die säuberlich angelegten und gepflegten Gärten. Unwillkürlich musste er an die zitternden, hungrigen Menschen denken, die er gesehen hatte. War das das Leben, das dieses Mädchen führte? Hatte ihre Suche sie aus der zweifelhaften Sicherheit irgendeiner Hütte auf die Straßen hinausgetrieben? Der Winter nahte, und es war durchaus möglich, dass sie verhungerte oder erfror, lange bevor ihre Kräfte instabil und gefährlich wurden. Er trommelte mit den Fingern auf das Fenstersims.
»Es gibt mehrere Gruppen unter den Dieben, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Dannyl.
»Spricht dieser Mann, den du zu kontaktieren versucht hast, für sie alle?«
»Keine Ahnung«, gab Dannyl zu. »Vielleicht nicht.«
Rothen drehte sich zu seinem Freund um. »Es könnte nicht schaden, das herauszufinden, nicht wahr?«
Yaldin starrte Rothen entgeistert an, dann schlug er sich mit der Hand gegen die Stirn. »Ihr zwei werdet uns alle in Schwierigkeiten bringen«, stöhnte er.
Dannyl legte dem älteren Mann die Hand auf die Schulter. »Macht Euch keine Sorgen, Yaldin. Es muss sich nur einer von uns um die Angelegenheit kümmern.« Er grinste Rothen an. »Überlasst die Sache mir. Und in der Zwischenzeit sollten wir den Dieben einen guten Grund liefern, uns zu helfen. Ich würde mir diese unterirdischen Gänge, die wir gestern entdeckt haben, gern einmal etwas näher ansehen. Ich möchte wetten, dass es den Dieben lieber wäre, wenn wir da unten nicht allzu gründlich herumschnüffeln würden.«
»Mir gefallen diese unterirdischen Räume nicht«, bemerkte Donia. »Sie haben keine Fenster. Ich finde es unheimlich hier unten.«
Sonea kratzte sich die winzigen Stiche, die sie sich während der Nacht eingefangen hatte. Ihre Tante wusch regelmäßig ihre Betten und die Decken mit einem Kräutersud, um die Wanzen zu verscheuchen, und ausnahmsweise einmal sehnte Sonea sich nach der peniblen Ordnungsliebe ihrer Tante. Seufzend sah sie sich in dem staubigen Raum um.
»Ich hoffe, Cery bekommt keinen Ärger, weil er mich hier versteckt.«
Donia zuckte die Achseln. »Er erledigt schon seit Jahren kleinere Aufträge für Opia und die Mädchen aus dem Tanzenden Pantoffel. Sie haben nichts dagegen, wenn du ein paar Tage in ihrem Lagerraum wohnst. Seine Ma hat mal hier gearbeitet, musst du wissen.« Donia stellte eine große Holzschale vor Sonea auf den Tisch. »Beug dich mal darüber.«
Sonea gehorchte und zuckte zusammen, als sie das eiskalte Wasser auf ihrer Kopfhaut spürte. Nachdem Donia ihr Haar mehrmals durchgespült hatte, brachte sie die Schale weg, die jetzt mit trübem, grauem Wasser gefüllt war. Anschließend rubbelte sie Soneas Haar mit einem fadenscheinigen Handtuch trocken. Dann trat sie einen Schritt zurück und unterzog ihr Werk einer kritischen Musterung.
»Das hat nichts genützt«, sagte Donia kopfschüttelnd.
Sonea hob die Hand, um ihr Haar zu berühren. Es klebte noch von der Paste, die Donia aufgetragen hatte. »Gar nichts?«
Donia beugte sich über sie und zupfte an Soneas Haar. »Nun, ein wenig heller ist es geworden, aber auf den ersten Blick fällt es praktisch nicht auf.« Sie seufzte. »Und viel kürzer können wir es auch nicht schneiden. Aber…« Sie zuckte die Achseln. »Wenn die Magier nach einem Mädchen suchen, wie die Leute sagen, werden sie dich vielleicht gar nicht beachten. Mit dem kurzen Haar siehst du wirklich aus wie ein Junge, zumindest auf den ersten Blick.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und neigte den Kopf zur Seite. »Warum trägst du es überhaupt so kurz?«
Sonea lächelte. »Damit ich aussehe wie ein Junge. Auf diese Weise werde ich nicht ständig belästigt.«
»In dem Bleibehaus?«
»Nein. Ich habe die meisten Botengänge für Jonna und Ranel erledigt. Ranel ist wegen seines Beins zu langsam, und Jonna verstand sich besser auf die eigentliche Arbeit. Außerdem fand ich es grässlich, die ganze Zeit in dem Bleibehaus zu sitzen, also habe ich stattdessen die Wäsche abgeholt und wieder ausgeliefert.« Sonea schnitt eine Grimasse. »Als ich das erste Mal Sachen zu einem Händler bringen musste, habe ich gesehen, wie einige Zünftler und Stallburschen einem Bäckermädchen zugesetzt haben. Ich wollte vermeiden, dass es mir genauso ergeht, also habe ich angefangen, mich wie ein Junge zu kleiden und mich auch wie einer zu benehmen.«
Donia zog die Brauen in die Höhe. »Und es hat funktioniert?«
»Meistens.« Sonea lächelte schief. »Aber manchmal kann es auch ziemlich unpraktisch sein, wie ein Junge auszusehen. Einmal hat sich eine Dienstmagd in mich verliebt! Ein anderes Mal war es ein Gärtner, der mich in die Enge trieb, und ich war mir sicher, dass er wusste, dass ich ein Mädchen bin. Bis er mich angefasst hat. Er wäre fast in Ohnmacht gefallen, dann wurde er plötzlich ganz rot im Gesicht und hat mir das Versprechen abgenommen, niemandem davon zu erzählen. Da draußen laufen alle möglichen Leute herum.«
Donia kicherte. »Die Mädchen hier nennen diese Männer Goldminen. Opia verlangt einen höheren Preis für Jungen, denn wenn die Wachen dahinterkämen, würden sie sie hängen. Aber mit Mädchen ist es nicht verboten. Erinnerst du dich noch an Kalia?«
Sonea nickte. Kalia war das dünne Mädchen gewesen, das in einem Bolhaus in der Nähe des Marktes bedient hatte.
»Es hat sich herausgestellt, dass ihr Vater sie jahrelang an Kunden verkauft hat«, erklärte Donia kopfschüttelnd. »Seine eigne Tochter! Letztes Jahr ist sie ihm davongelaufen und hat bei Opia angefangen. Sie meint, auf diese Weise würde sie wenigstens etwas von dem Geld zu sehen bekommen. Das hat mir erst richtig klar gemacht, wie viel Glück ich habe. Vater sorgt dafür, dass mich niemand auf ungebührliche Weise belästigt. Das Schlimmste, was ich –« Sie hielt inne und sah zur Tür, dann lief sie durch den Raum und spähte durchs Schlüsselloch. Ein erleichtertes Lächeln trat auf ihre Züge, und sie öffnete die Tür.
Cery schlüpfte hindurch und reichte Donia ein Bündel.
»Du siehst nicht anders aus«, sagte er, nachdem er Sonea kritisch beäugt hatte.
Donia seufzte. »Das Färbemittel hat nicht funktioniert. Kyralisches Haar lässt sich nicht so einfach verändern.«
Er zuckte die Achseln, dann deutete er mit dem Kopf auf das Bündel. »Ich habe dir etwas zum Anziehen mitgebracht, Sonea.« Er wandte sich wieder der Tür zu. »Wenn du fertig bist, klopf einfach.«
Als die Tür hinter ihm zufiel, griff Donia nach dem Bündel und wickelte es aus.
»Noch mehr Jungenkleider«, sagte sie naserümpfend und warf Sonea eine Hose und ein Hemd mit hohem Kragen zu. Anschließend förderte sie ein langes Gewand aus schwerem, schwarzem Tuch zutage. »Aber der Umhang ist in Ordnung.«
Sonea wechselte die Kleidung. Als sie sich den Umhang über die Schultern legte, klopfte es an der Tür.
»Wir brechen auf«, erklärte Cery, als er in den Raum trat. Harrin folgte ihm mit einer kleinen Lampe. Beide Männer blickten grimmig drein, und Soneas Herz setzte einen Schlag aus.
»Haben sie schon mit der Suche angefangen?«
Cery nickte, dann ging er zu einem alten, hölzernen Schrank im hinteren Teil des Raums. Er öffnete seine Türen und zog an den Regalbrettern. Sie ließen sich mühelos – die Tassen und Teller, die darauf standen, zitterten nur leicht – nach vorn aus dem Schrank schwenken und gaben auf dessen Rückseite eine rechteckige Öffnung frei.
»Sie suchen schon seit einigen Stunden«, sagte Harrin, als Sonea durch die verborgene Tür in die Finsternis der Geheimgänge trat.
»Wirklich?«
»Hier unten verliert man leicht das Zeitgefühl«, erklärte er. »Draußen ist bereits heller Vormittag.«
Cery scheuchte Harrin und Donia durch die Tür. Sonea hörte ein schwaches Quietschen, dann fiel der Schein von Harrins Lampe auf die feuchten Wände des Gangs. Cery zog von hinten die Schrankbretter wieder an ihren Platz und schloss die Schranktüren. Dann wandte er sich zu Harrin um.
»Kein Licht. Ich finde mich im Dunkeln besser zurecht.«
Der Korridor verschwand, als Harrin die Blende über seine Lampe schob.
»Und reden dürft ihr auch nicht«, fuhr Cery fort. »Sonea, halt dich an meinem Mantel fest und leg die andere Hand an die Mauer.«
Sie griff nach dem groben Stoff seines langen Mantels. Eine Hand legte sich sachte auf ihre Schulter. Im nächsten Moment hallten auch schon ihre Schritte durch den Korridor.
Kein Lichtstrahl erhellte ihren Weg, als sie sich an den Mauern entlangtasteten und mehrmals die Richtung wechselten. Das schwache Echo von tropfendem Wasser kam und ging und kehrte wieder zurück. Opias Bordell lag in der Nähe des Flusses, wie Sonea sich erinnerte. Daher befanden sich die Gänge wahrscheinlich unterhalb des Wasserspiegels. Was nicht gerade ein tröstlicher Gedanke war.
Cery blieb stehen, und sein Mantel entglitt Soneas Fingern, als er sich plötzlich nach oben bewegte. Sie streckte die Hand aus und traf nur auf grobe Holzbretter. Sie hatte Angst, Cery zu verlieren, wenn sie zu lange zögerte, daher eilte sie die Leiter hinauf, was ihr einen Tritt von Cerys Stiefel eintrug. Sie unterdrückte einen Fluch und setzte ihren Weg deutlich behutsamer fort. Hinter ihr war das leise Scharren von Schuhen auf Holz zu hören; Harrin und Donia folgten ihnen nach oben.
Über ihnen wurde jetzt ein Quadrat aus bleicherem Schwarz sichtbar. Sonea trat hinter Cery durch eine Falltür in einen langen, schnurgeraden Gang. Schwaches Licht fiel hier und da durch Risse im Mauerwerk. Nach mehr als hundert Schritten erreichten sie eine Biegung des Gangs, und Cery blieb abrupt stehen.
Der Weg vor ihnen wurde jetzt von einer Lichtquelle erhellt, die sich irgendwo jenseits der Biegung befinden musste. Sonea konnte Cerys Silhouette ausmachen. Dann drang eine ferne Stimme an ihre Ohren, männlich und sehr kultiviert. »Ah! Noch ein Geheimgang. Komm, lass uns nachsehen, wie weit der Gang reicht.«
»Sie sind in den Korridoren!«, hauchte Donia.
Cery fuhr herum und winkte Sonea verzweifelt zu. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Harrin und Donia bereits auf Zehenspitzen in dieselbe Richtung zurückkehrten, aus der sie gekommen waren.
Obwohl sie sich so leise und so schnell bewegten wie nur möglich, schienen ihre Schritte in dem engen Raum laut widerzuhallen. Sonea spitzte die Ohren, weil sie jeden Augenblick damit rechnete, einen Ausruf hinter sich zu hören. Als sie hinabblickte, sah sie, dass ihr eigener Schatten immer deutlicher wurde. Das Licht hinter ihnen näherte sich der Biegung.
Der Gang vor ihnen verlor sich in unendlicher Dunkelheit. Sonea drehte sich noch einmal um. Das Licht hinter ihnen war jetzt so hell, dass es keinen Zweifel mehr für sie gab: Der Magier musste die Biegung im nächsten Moment erreichen. Und dann würde er sie sehen …
Hände hielten sie plötzlich an den Schultern fest, und Sonea sog scharf die Luft ein. Cery drückte sie an die Wand. Das Mauerwerk schien hinter ihr nachzugeben, und sie taumelte einen Schritt rückwärts.
Dann stieß sie gegen eine weitere Mauer. Cery schob sie zur Seite und trat dann neben sie in die winzige Nische im Mauerwerk. Er traf Sonea mit seinem knochigen Ellbogen in die Rippen, dann hörte sie ein trockenes Scharren: Die Ziegelsteine rückten wieder an ihren ursprünglichen Platz.
In dem engen Raum klang ihr Atem wie Donnern. Mit hämmerndem Herzen lauschte Sonea in die Dunkelheit, bis gedämpfte Stimmen das Mauerwerk durchdrangen. Licht fiel durch die Ritzen zwischen den Steinen. Sonea beugte sich vor und spähte durch eine der Öffnungen.
In der Luft direkt vor ihr hing ein leuchtender Ball aus Licht. Fasziniert beobachtete sie, wie das Licht durch den Korridor wehte, bis es nicht mehr zu sehen war. Allerdings standen ihr jetzt rote Flecken vor den Augen. Dann erschien eine bleiche Hand, gefolgt von einem weiten, purpurfarbenen Ärmel und der Brust eines Mannes – eines Mannes, der Roben trug. Ein Magier!
Ihr Puls raste. Er war so nah – nur eine Armlänge von ihr entfernt. Und zwischen ihnen stand nichts als eine dünne Mauer alter Ziegelsteine.
Und er war stehen geblieben.
»Einen Moment mal.« Der Magier klang verwirrt. Er hielt mitten in der Bewegung inne, dann drehte er sich langsam zu Sonea um.
Sie erstarrte vor Entsetzen. Es war der Magier vom Nordplatz, der, der sie gesehen hatte. Der Mann, der mit der Hand auf sie gedeutet hatte, um seine Gefährten auf sie aufmerksam zu machen. Jetzt wirkte er seltsam geistesabwesend, als horche er auf etwas, und er schien durch die Mauer hindurch direkt in Soneas Augen zu blicken.
Ihr Mund wurde trocken, und sie schmeckte Staub auf der Zunge. Sie schluckte und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Das Hämmern ihres Herzens musste laut genug sein, um sie zu verraten. Konnte der Mann das hören? Oder konnte er sie atmen hören?
Vielleicht kann er die Gedanken in meinem Kopf hören.
Sonea spürte, wie die Beine unter ihr nachzugeben drohten. Es hieß, Magier könnten dergleichen. Sie presste die Augen fest zusammen. Er kann mich nicht sehen, dachte sie. Es gibt mich nicht, ich bin nicht hier. Ich bin nichts. Niemand kann mich sehen. Niemand kann mich hören…
Ein eigentümliches Gefühl befiel sie, als hätte man ihr eine Decke um den Kopf geschlungen und ihre Sinne betäubt. Sie begann zu zittern, denn sie wusste plötzlich, dass sie irgendetwas getan hatte – aber diesmal hatte sie es mit sich selbst getan.
Oder vielleicht hat ja auch der Magier irgendeine Art von Magie in meine Richtung gesandt, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Erschrocken öffnete sie die Augen – und starrte in ungebrochene Dunkelheit.
Der Magier und sein Licht waren verschwunden.
Dannyl betrachtete das Gebäude vor sich voller Abscheu. Es war das jüngste Bauwerk der Gilde, und ihm fehlten die Pracht und die Schönheit, die er bei den anderen Gebäuden so sehr bewunderte. Während einige Magier ein Loblied auf die moderne Architektur sangen, fand Dannyl dieses Machwerk genauso lächerlich protzig wie dessen Namen.
Bei den Sieben Bögen handelte es sich um ein flaches, rechteckiges Gebilde mit sieben schmucklosen Bögen an der Frontseite. Der Bau beherbergte den Tagessaal, in dem wichtige Gäste empfangen wurden, den Bankettsaal und den Abendsaal, in dem die Magier an jedem Vierttag des Abends zwanglos zusammenfanden, um sich an teurem Wein und Tratsch gütlich zu tun. Dorthin waren er und Rothen jetzt unterwegs. Es war ein kühler Abend, aber ein wenig kalte Luft hatte die regelmäßigen Gäste des Abendsaals noch nie von einem Besuch abgehalten. Dannyl lächelte, als er eintrat. Sobald er die Tür durchschritten hatte, konnte er die architektonischen Schnitzer der Fassade vergessen und sich an der geschmackvollen Inneneinrichtung ergötzen.
Nachdem er den zweiten Tag in den feuchten, kalten Geheimgängen des Hüttenviertels verbracht hatte, wusste er den Luxus dieses Saals umso mehr zu schätzen. Bequem gepolsterte Sessel standen bereit, und an den Wänden hingen die Gemälde und Schnitzereien der besten Künstler der Verbündeten Länder.
An diesem Abend hatten sich mehr Magier hier eingefunden als sonst, stellte er fest. Sogar einige der Magier, die normalerweise wenig gesellig waren, hatten heute den Weg hierher gefunden. Dann erblickte Dannyl in einer Ecke eine schwarze Robe, und er hielt jäh inne.
»Der Hohe Lord beehrt uns heute Abend mit seiner Anwesenheit«, murmelte er.
»Akkarin? Wo?« Rothen sah sich im Raum um und zog die Augenbrauen in die Höhe, als er die schwarzgewandete Gestalt entdeckte. »Interessant. Wie lange ist er nicht mehr hier gewesen? Seit zwei Monaten?«
Dannyl ließ sich von einem Dienstboten ein Glas Wein geben und nickte. »Mindestens.«
»Ist das Administrator Lorlen, der da neben ihm steht?«
»Natürlich«, antwortete Dannyl und nahm einen Schluck von seinem Wein. »Lorlen unterhält sich mit irgendjemandem, aber ich kann nicht sehen, wer es ist.«
Jetzt hob Lorlen den Kopf, und sein Blick fiel auf Dannyl und Rothen. Er hob die Hand.
— Dannyl. Rothen. Ich würde gern mit Euch sprechen.
Überrascht und ein wenig nervös folgte Dannyl Rothen durch den Raum. Hinter dem Sessel, der Dannyl den Blick auf Lorlens zweiten Begleiter versperrt hatte, blieben sie stehen. Eine kultivierte Stimme erklang.
»Die Hüttensiedlungen sind ein hässlicher Schandfleck für diese Stadt. Sie sind eine Brutstätte für Verbrechen und Seuchen. Der König hätte niemals zulassen dürfen, dass sie so groß werden. Dies ist die perfekte Gelegenheit, um Imardin davon zu befreien.«
Dannyl zwang sich zu einer ausdruckslosen Miene, bevor er auf den Mann hinabblickte, der in dem Sessel saß. Das tadellos gekämmte, blonde Haar glänzte im Licht des Raums. Der Mann hatte die Augen halb geschlossen und die Beine übereinander geschlagen. Jetzt zeigte er auf den Hohen Lord. Auf seiner Schläfe klebte ein kleines, quadratisches Pflaster.
»Und wie wollt Ihr das zuwege bringen, Lord Fergun?«, fragte Lorlen sanft.
Fergun zuckte die Achseln. »Es wäre nicht allzu schwierig, den Bereich zu räumen. Die Häuser sind nicht besonders stabil gebaut, und es dürfte keine große Anstrengung kosten, die Tunnel darunter zum Einsturz zu bringen.«
»Aber jede Stadt wächst und dehnt sich aus«, bemerkte Lorlen. »Wenn es innerhalb der Stadtmauern keinen Platz mehr gibt, ist es nur natürlich, dass die Menschen außerhalb der Mauern bauen. Es gibt in den Hüttensiedlungen Bereiche, die kaum anders aussehen als die Stadtviertel innerhalb der Mauern. Die Grundmauern dort sind stabil, und die Straßen verfügen über eine gut funktionierende Kanalisation. Die Bewohner dieser Stadtteile nennen die Hüttensiedlungen inzwischen den Äußeren Ring.«
Fergun beugte sich vor. »Aber selbst unter diesen Häusern gibt es Geheimgänge. Ich versichere Euch, ihre Bewohner sind ausgesprochen argwöhnische Menschen. Jedes Haus, das auf derartigen Tunneln erbaut ist, sollte als Teil einer kriminellen Verschwörung eingeschätzt und abgerissen werden.«
Akkarin hob kaum merklich die Augenbrauen. Lorlen sah den Hohen Lord von der Seite an und lächelte. »Wenn sich das Problem der Diebe doch nur auch so leicht lösen ließe.« Dann wandte er sich Rothen zu und lächelte. »Guten Abend, Lord Rothen und Lord Dannyl.«
Fergun hob den Kopf. Sein Blick wanderte zwischen Dannyl und Rothen hin und her, und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ah, Lord Rothen.«
»Guten Abend, Hoher Lord, Administrator«, sagte Rothen und nickte den Höheren Magiern zu. »Und guten Abend, Lord Fergun. Geht es Euch wieder besser?«
»Ja, ja«, erwiderte Fergun und legte eine Hand auf den kleinen Verband an seiner Schläfe. »Danke der Nachfrage.«
Dannyl sah den anderen Mann ausdruckslos an. Es war unhöflich, aber nicht ungewöhnlich, dass Fergun »vergaß«, ihn zu begrüßen. Dass er es jedoch in Gegenwart des Hohen Lords tat, war überraschend.
Lorlen verschränkte die Hände. »Mir ist aufgefallen, dass ihr beide heute länger als die meisten anderen in den Hüttensiedlungen geblieben seid. Habt Ihr irgendwelche Hinweise gefunden, die uns zu dem Mädchen führen könnten?«
Rothen schüttelte den Kopf und berichtete dann über ihre Versuche, den unterirdischen Gängen zu folgen. Dannyl selbst sagte nichts, sondern sah nur den Hohen Lord an. Eine vertraute Nervosität regte sich in ihm. Es ist zehn Jahre her, dass ich meinen Abschluss gemacht habe, aber ich reagiere noch immer auf ihn, als sei ich ein Novize, überlegte er.
Dannyls Pflichten und Interessen brachten ihn nur selten mit dem Führer der Gilde zusammen. Wie immer empfand er ein leichtes Staunen über die jugendliche Erscheinung Akkarins. Als Akkarin vor fünf Jahren in sein Amt erhoben worden war, hatten sich viele seiner Kollegen dagegen gewehrt, einen so jungen Magier zum Hohen Lord zu machen. Die Führer der Gilde wurden zwar aus den Reihen der stärksten Magier gewählt, aber dennoch bevorzugte man im Allgemeinen ältere Magier, weil sie den jüngeren an Erfahrung und Reife überlegen waren.
Akkarin hatte Kräfte an den Tag gelegt, die weit stärker waren als die jedes anderen Magiers. Dennoch waren es das Wissen und die diplomatischen Fähigkeiten gewesen, die er bei seinen Auslandsreisen erworben hatte, die die Gilde schließlich dazu bewogen hatten, ihn zu wählen. Von einem Führer der Gilde erwartete man Stärke, Talent, Würde und Autorität, und all diese Dinge besaß Akkarin im Übermaß. Zur Zeit von Akkarins Wahl hatten viele Magier argumentiert, dass Alter im Grunde keine Rolle für diese Position spiele. Wichtige Entscheidungen wurden stets durch Abstimmung getroffen, und die Alltagsgeschäfte der Gilde lagen in den Händen des Administrators.
Obwohl das alles sehr vernünftig klang, vermutete Dannyl, dass einige seiner Kollegen noch immer an der Jugend des Hohen Lords Anstoß nahmen. Ihm war aufgefallen, dass Akkarin inzwischen die altmodische, distinguierte Frisur trug, wie ältere Männer sie bevorzugten: lang und im Nacken säuberlich zusammengebunden. Auch Lorlen hatte diesen Stil übernommen.
Dannyl wandte den Blick dem Administrator zu, der Rothens Schilderung voller Konzentration lauschte. Als engster Freund des Hohen Lords war Lorlen seinerzeit auf Akkarins Vorschlag hin zum Assistenten des damaligen Gildeadministrators ernannt worden. Als der Administrator dann vor zwei Jahren in den Ruhestand getreten war, hatte Lorlen seinen Platz eingenommen.
Lorlen hatte sich als überaus geeignet für diese Position erwiesen. Er war tüchtig und besaß Autorität, vor allem aber war er ein zugänglicher Mensch. Es war keine einfache Rolle, und Dannyl beneidete Lorlen nicht um die langen Arbeitsstunden, die sein Amt erforderte. Von den beiden Positionen war die des Administrators die anstrengendere.
Als Rothen mit seinem Bericht über den vergangenen Tag zum Ende kam, schüttelte Lorlen den Kopf. »Nach allem, was ich bisher über die Hüttenviertel gehört habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass wir sie jemals finden werden.« Er seufzte. »Der König hat befohlen, den Hafen morgen wieder zu öffnen.«
Fergun runzelte die Stirn. »So bald schon? Was ist, wenn sie auf einem Schiff entkommt?«
»Ich bezweifle, dass das Embargo sie daran hindern würde, Imardin zu verlassen, wenn sie es wirklich wollte.« Lorlen blickte zu Rothen auf und lächelte schief. »Wie Lord Rothens ehemaliger Mentor zu sagen pflegte: ›Kyralia würde sich bestens selbst verwalten können, wenn man das Herrschen zum Verbrechen erklärte.‹«
Rothen kicherte. »Ja, Lord Margen war ein wahrer Quell solcher Weisheiten. Ich glaube jedoch nicht, dass wir schon all unsere Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Heute Morgen hat Dannyl mich darauf hingewiesen, dass die Menschen, die die besten Aussichten haben, das Mädchen zu finden, die Hüttenleute selbst sind. Ich denke, er hat Recht.«
Dannyl starrte seinen Freund überrascht an. Rothen würde doch gewiss nicht ihre Absicht offenbaren, Kontakt zu den Dieben aufzunehmen!
»Warum sollten sie uns helfen?«, fragte Lorlen.
Rothen sah Dannyl an und lächelte. »Wir könnten eine Belohnung aussetzen.«
Langsam stieß Dannyl den Atem aus, den er angehalten hatte. Du hättest mich vorwarnen sollen, alter Freund!
»Eine Belohnung!«, rief Lorlen. »Ja, das könnte funktionieren.«
»Eine glänzende Idee«, stimmte auch Fergun zu. »Und wir sollten gleichzeitig jenen, die unsere Suche behindern, eine Geldstrafe auferlegen.«
Lorlen warf Fergun einen tadelnden Blick zu. »Eine Belohnung wird genügen. Eines möchte ich allerdings klarstellen: Bis das Mädchen gefunden ist, soll nichts bezahlt werden, ansonsten wird die gesamte Bevölkerung der Hüttensiedlungen behaupten, sie gesehen zu haben.« Er legte die Stirn in Falten. »Hm, außerdem sollten wir die Menschen nicht ermutigen, selbst Jagd auf das Mädchen zu machen…«
»Wir könnten an den Straßenecken eine Beschreibung von ihr veröffentlichen, zusammen mit den Bedingungen für die Belohnung. Und der Warnung, sich ihr nach Möglichkeit nicht zu nähern«, schlug Dannyl vor. »Außerdem sollten wir die Leute auch dazu ermutigen, uns Bericht zu erstatten, wenn sie sie irgendwo sehen. Das könnte uns einen Hinweis darauf geben, in welchen Stadtteilen sie sich regelmäßig aufhält.«
»Wir könnten einen Plan der Siedlungen zeichnen lassen und die Stellen darin eintragen, an denen sie gesehen wurde«, warf Fergun ein.
»Hm, das wäre tatsächlich hilfreich«, sagte Dannyl und heuchelte widerstrebende Überraschung. Angesichts des Labyrinths von ungezählten Korridoren und Straßen in den Hüttenvierteln würde eine Aufgabe wie diese Fergun monatelang in Atem halten – und er würde ihm nicht in die Quere kommen. Rothen musterte Dannyl mit schmalen Augen, sagte jedoch nichts.
»Ihr kümmert Euch darum, dass die Hüttenleute von der Belohnung erfahren?«, fragte Lorlen Dannyl.
»Gleich morgen.« Dannyl neigte den Kopf. »Ich werde die übrigen Suchtrupps morgen früh davon in Kenntnis setzen«, erklärte Lorlen. Dann sah er mit einem Lächeln zu Rothen und Dannyl. »Sonst noch irgendwelche Ideen?«
»Dieses Mädchen muss eine Aura haben«, bemerkte der Hohe Lord leise. »Sie ist nicht ausgebildet und weiß deshalb nicht, wie sie ihre Aura verbergen kann – oder dass sie überhaupt eine solche besitzt. Hat irgendjemand schon einmal danach Ausschau gehalten?«
Einen Moment lang schwiegen alle Männer, die an dem Gespräch beteiligt waren, dann lachte Lorlen kleinlaut auf. »Ich kann nicht fassen, dass ich daran nicht selbst gedacht habe. Niemand hat bisher erwähnt, dass er nach ihrer Aura gesucht hat.« Er schüttelte den Kopf. »Wie es aussieht, haben wir alle vergessen, was wir sind – und was sie ist.«
»Eine Aura«, murmelte Rothen. »Ich denke, ich…«
Als Rothen seinen Satz nicht beendete, runzelte Lorlen die Stirn. »Ja?«
»Ich werde morgen eine mentale Suche organisieren«, bot Rothen an.
Lorlen lächelte. »Da habt Ihr beide einen arbeitsreichen Tag vor Euch.«
Rothen neigte den Kopf. »In diesem Falle sollten wir früh zu Bett gehen. Gute Nacht, Administrator. Hoher Lord, Lord Fergun.«
Die drei Magier antworteten mit einem Nicken. Dannyl folgte Rothen zur Tür des Abendsaals. Als sie in die kühle Luft hinaustraten, stieß Rothen ein lautes Zischen aus.
»Jetzt begreife ich!« Er schlug sich an die Stirn.
»Was begreifst du?«, fragte Dannyl verwundert.
»Als ich heute einem dieser Korridore gefolgt bin, habe ich etwas gespürt. Es war, als würde ich beobachtet.«
»Eine Aura?«
»Vielleicht.«
»Bist du der Sache nachgegangen?«
Rothen nickte. »Es schien keinen Sinn zu ergeben. Was ich wahrgenommen habe, hätte direkt vor mir sein müssen, aber da war nichts außer einer Ziegelsteinmauer.«
»Hast du nach einer Geheimtür Ausschau gehalten?«
»Nein, aber…« Rothen zögerte und runzelte die Stirn. »Es hat plötzlich aufgehört.«
»Es hat aufgehört?« Dannyl schüttelte verständnislos den Kopf. »Wie kann so etwas einfach aufhören? Eine Aura hört nicht einfach auf – es sei denn, sie ist verborgen worden. Aber dazu ist das Mädchen nicht ausgebildet.«
»Oder vielleicht doch?« Rothen lächelte grimmig. »Wenn sie es war, dann ist sie entweder von jemandem unterrichtet worden, oder sie ist selbst darauf gekommen.«
»Es ist nicht schwierig, das zu lernen«, bemerkte Dannyl. »Wir bringen es den Novizen bei, indem wir sie Verstecken spielen lassen.«
Rothen nickte langsam. »Ich denke, morgen werden wir es wissen. Ich gehe am besten noch einmal zurück in den Abendsaal, um um Unterstützung zu bitten. Ich glaube, dass viele unserer Kollegen, die nicht noch einmal in die Siedlungen gehen wollen, uns mit Freude bei einer mentalen Suche helfen werden. Und ich möchte, dass du dich uns anschließt, Dannyl. Du hast besonders feine Sinne.«
Dannyl hob die Schultern. »Wie könnte ich ablehnen, wenn du es so hübsch ausdrückst?«
»Wir werden morgen schon früh beginnen, denke ich. Du solltest zusehen, dass du die Plakate so schnell wie möglich drucken und verschicken lässt.«
»Ah.« Dannyl schnitt eine Grimasse. »Nicht schon wieder ein Tag, der vor dem Morgengrauen beginnt.«
»Cery?«
Cery hob den Kopf vom Tisch und blinzelte. Es musste Morgen sein, vermutete er, obwohl sich das immer schwer sagen ließ, wenn man sich unter der Erde befand. Er richtete sich auf und blickte zu dem Bett hinüber. Die Kerze war fast heruntergebrannt, und ihr Licht reichte nur so weit, dass er den Glanz in Soneas Augen gerade noch erkennen konnte.
»Ich bin wach«, erklärte er und reckte sich, um seine verkrampften Schultern zu lockern. Dann nahm er die Kerze vom Tisch und ging damit zum Bett hinüber. Sonea hatte sich die Arme unter den Kopf gelegt und starrte zu der niedrigen Decke empor. Bei ihrem Anblick durchzuckte ihn ein seltsames Unbehagen. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass er vor zwei Jahren dasselbe empfunden hatte, kurz bevor sie aufgehört hatte, sich mit der Bande zu treffen. Als sie verschwunden war, hatte er zu spät begriffen, was er im Grunde schon immer gewusst hatte: dass sie sie eines Tages verlassen würde.
»Guten Morgen«, sagte er.
Sie brachte ein Lächeln zustande, das der gehetzte Ausdruck in ihren Augen jedoch Lügen strafte. »Wer war dieser Junge auf dem Marktplatz – der Junge, der gestorben ist?«
Er setzte sich ans Fußende des Bettes und seufzte. »Ich glaube, er hieß Arrel. Ich habe ihn eigentlich nicht richtig gekannt. Er war der Sohn einer Frau, die im Tanzenden Pantoffel gearbeitet hat, wenn ich mich nicht sehr irre.«
Sonea nickte langsam. Dann schwieg sie lange Zeit. »Hast du Jonna und Ranel seit gestern gesehen?«, fragte sie schließlich.
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ich vermisse sie.« Plötzlich lachte sie laut auf. »Ich hätte nie gedacht, dass ich sie so sehr vermissen würde. Weißt du…« Sie drehte sich auf die Seite und sah ihn direkt an. »Ich vermisse die beiden mehr als meine Mutter. Ist das nicht seltsam?«
»Ranel und Jonna haben sich die größte Zeit deines Lebens um dich gekümmert«, rief Cery ihr ins Gedächtnis. »Und deine Mutter ist schon lange tot.«
Sonea nickte. »Ich sehe sie manchmal im Traum, aber wenn ich aufwache, kann ich mich nicht daran erinnern, wie sie aussah. Aber ich erinnere mich an das Haus, in dem wir gelebt haben. Es war wunderschön.«
»Euer Haus?« Davon hatte er noch nie etwas gehört.
Sie schüttelte den Kopf. »Mutter und Vater waren als Dienstboten bei einer der Familien beschäftigt, aber dann hat jemand behauptet, Vater habe gestohlen, und wir wurden hinausgeworfen.«
Cery lächelte. »Hat er wirklich etwas gestohlen?«
»Wahrscheinlich.« Sonea gähnte. »Jonna gibt ihm die Schuld an allem, was ich tue und was ihrer Meinung nach falsch oder schlecht ist. Sie missbilligt jede Art von Diebstahl, selbst wenn die Opfer reiche oder unangenehme Menschen sind.«
»Wo ist dein Vater jetzt?«
Sie hob die Schultern. »Er ist nach Mutters Tod fortgegangen. Als ich sechs war, ist er einmal kurz aufgetaucht. Er hat Jonna ein wenig Geld gegeben und ist dann weitergezogen.«
Cery brach ein wenig Wachs ab, das an der Kerze herabgelaufen und hart geworden war. »Meinen Vater haben die Diebe getötet, als sie dahinterkamen, dass er sie betrogen hatte.«
Soneas Augen weiteten sich. »Wie schrecklich! Ich wusste, dass er tot war, aber das hast du mir nie erzählt.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wer erzählt schon gern, dass der eigene Vater ein Petz war. Er ist törichte Risiken eingegangen und erwischt worden. Das jedenfalls behauptet Ma. Aber er hat mir’ne Menge beigebracht.«
»Unter anderem hat er dir die Straße der Diebe gezeigt.«
Er nickte.
»Wir haben sie benutzt, nicht wahr?«
Wieder nickte er nur.
Sonea grinste. »Dann ist es also wahr? Du arbeitest wirklich für die Diebe.«
»Nein«, antwortete er und wandte den Blick ab. »Mein Vater hat mir die Straße gezeigt.«
»Dann hast du die Erlaubnis, sie zu benutzen?«
Er zuckte die Achseln. »Ja und nein.«
Sonea legte die Stirn in Falten, hakte jedoch nicht weiter nach.
Während er auf die Kerze hinabblickte, dachte Cery an einen Tag vor drei Jahren zurück. Damals hatte er sich in den Geheimgängen vor einem Wachsoldaten versteckt, der es ihm übelgenommen hatte, dass er sich den Inhalt seiner Taschen einmal näher hatte ansehen wollen. Ein Schatten war in der Dunkelheit aufgetaucht, hatte Cery am Kragen gepackt und ihn bis in einen Raum irgendwo außerhalb des Tunnels gezerrt und dort eingesperrt. So geschickt Cery auch war, wenn es darum ging, Schlösser zu öffnen, es war ihm nicht gelungen, sich zu befreien. Etliche Stunden später war die Tür wieder geöffnet worden, und eine Lampe hatte ihn geblendet. Das Licht war so grell gewesen, dass er nur die Silhouette des Mannes erkennen konnte, der soeben eingetreten war.
»Wer bist du?«, hatte der Fremde gefragt. »Wie heißt du?«
»Ceryni«, hatte er mit piepsiger Stimme geantwortet.
Nach einer längeren Pause war das Licht schließlich näher gekommen.
»Das bist du allerdings«, hatte der Fremde erheitert bemerkt. »Und du erinnerst mich an ein anderes kleines Nagetier. Ah, jetzt weiß ich, wer du bist. Torrins Sohn. Hm. Kennst du den Preis für die Benutzung der Straße ohne die Genehmigung der Diebe?«
Cery hatte angstvoll genickt.
»Nun denn, kleiner Ceryni. Du sitzt ganz schön tief in der Klemme. Aber ich kann dir ein wenig helfen. Benutze die Straße nicht regelmäßig – aber wenn es sein muss, darfst du sie benutzen. Falls jemand fragt, sag ihm, Ravi habe es dir erlaubt. Aber vergiss nicht, du stehst in meiner Schuld. Wenn ich dich um etwas bitte, wirst du es mir geben. Wenn du mich hintergehst, wirst du nie wieder irgendeine Straße benutzen. Haben wir uns verstanden?«
Zu verängstigt, um sprechen zu können, hatte Cery nur abermals genickt.
Der Fremde hatte leise gelacht. »Gut. Und jetzt verzieh dich.« Das Licht war verschwunden, und unsichtbare Hände hatten Cery zum nächsten Ausgang der »Straße« gezogen und ihn hinausgeworfen.
Seither hatte er kaum je wieder den Fuß auf die »Straße der Diebe« gesetzt. Bei den wenigen Malen, da er in das Labyrinth zurückgekehrt war, hatte es ihn ungemein überrascht, dass seine Erinnerung an die unterirdischen Korridore nicht verblasst war. Gelegentlich war er anderen Wanderern dort begegnet, aber sie waren niemals stehen geblieben und hatten ihm auch niemals Fragen gestellt.
In den letzten Tagen hatte er das Gesetz der Diebe jedoch viel zu häufig gebrochen, um sich keine Sorgen zu machen. Wenn jemand ihn zur Rede stellte, konnte er nur darauf hoffen, dass Ravis Name noch immer etwas galt. Das allerdings würde er Sonea nicht erzählen. Es würde ihr zu große Angst machen.
Als er nun auf sie hinabblickte, stieg wieder dieses seltsame Unbehagen in ihm auf. Er hatte immer gehofft, dass sie eines Tages zurückkommen würde, obwohl er es nie wirklich geglaubt hatte. Sie war anders. Etwas Besonderes. Er hatte immer gewusst, dass sie eines Tages aus den Hütten herauskommen würde.
Und sie war wirklich etwas Besonderes, aber auf eine Art und Weise, wie er es niemals vermutet hätte. Sie gebot über Magie! Allerdings hatte sie diese Gabe auch zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt entdeckt. Warum hatte sie nicht darauf stoßen können, während sie eine Tasse Raka zubereitete oder Schuhe putzte? Warum musste sie diese Entdeckung ausgerechnet vor den Augen der Magiergilde machen?
Aber das ließ sich nicht mehr ändern, und jetzt musste er alles in seinen Kräften Stehende tun, um sie zu beschützen. Zumindest konnten sie auf diese Weise viel Zeit miteinander verbringen. Selbst wenn er deswegen seine Abmachung mit Ravi brach, war es das wert. Allerdings konnte er es kaum ertragen, sie so bedrückt zu sehen…
»Mach dir keine Sorgen. Solange die Magier in den Tunneln herumschnüffeln, werden die Diebe sich nicht darum kümmern, dass –«
»Scht!«, unterbrach sie ihn und hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Blinzelnd beobachtete er, wie sie aus dem Bett stieg und in die Mitte des Raumes trat. Dort drehte sie sich einmal um die eigene Achse und starrte dann konzentriert auf die Wände. Er spitzte die Ohren, konnte aber nichts Ungewöhnliches hören.
»Was ist los?«
Sie schüttelte den Kopf, dann wich sie plötzlich zurück. Ein Ausdruck von Angst und Überraschung breitete sich auf ihren Zügen aus. Cery sprang erschrocken auf.
»Was ist los?«, wiederholte er.
»Sie suchen nach mir«, zischte sie.
»Ich kann nichts hören.«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. »Ich kann sie sehen, aber es ist kein normales Sehen. Es ist mehr ein Hören, aber dann auch wieder nicht, weil ich nicht herausfinden kann, was sie sagen. Es ist mehr so, als würden sie…« Sie biss sich auf die Unterlippe und wirbelte herum, während sie mit ihrem Blick etwas verfolgte, das seinen Sinnen nicht zugänglich war. »Sie suchen mit ihren Gedanken.«
Cery sah sie hilflos an. Wenn er noch irgendwelche Zweifel an ihren magischen Fähigkeiten gehabt hatte, waren sie jetzt endgültig beseitigt.
»Können sie dich sehen?«
Sie warf ihm einen erschrockenen Blick zu. »Ich weiß es nicht.«
Er ballte die Fäuste. Er war sich so sicher gewesen, dass er sie vor den Magiern würde beschützen können, aber es gab keinen Ort, an dem er sie davor verstecken konnte.
Er sog scharf die Luft ein, dann machte er einen Schritt auf Sonea zu und griff nach ihren Händen. »Kannst du sie daran hindern, dich zu sehen?«
Sonea machte eine hilflose Geste. »Wie? Ich weiß nicht, wie man Magie benutzt.«
»Versuch es!«, drängte er sie. »Versuch etwas. Irgendetwas!«
Sie schüttelte den Kopf, dann straffte sie sich plötzlich und atmete scharf ein. Cery beobachtete, wie jede Farbe aus ihrem Gesicht wich.
»Dieser Magier schien mich direkt anzusehen…« Sie drehte sich zu Cery um. »Aber dann ist das Gefühl verstrichen. Sie sehen immer wieder an mir vorbei.« Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Sie können mich nicht finden.«
Er musterte sie forschend. »Bist du dir sicher?«
Sie nickte. »Ja.«
Dann löste sie sich aus seinem Griff und ließ sich mit nachdenklicher Miene aufs Bett sinken. »Ich glaube, ich habe gestern irgendetwas getan, als dieser Magier uns um ein Haar erwischt hätte. Ich habe mich sozusagen unsichtbar gemacht. Wenn ich es nicht getan hätte, hätte er mich wahrscheinlich gefunden.« Plötzlich blickte sie auf, dann entspannte sich ihre Miene, und sie lächelte. »Es ist so, als wären sie blind.«
Cery stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er schüttelte den Kopf. »Du hast mir wirklich Angst gemacht, Sonea. Ich kann dich vor den Augen der Magier verstecken, aber ich fürchte, es wäre ein bisschen viel verlangt, dich auch vor ihren Gedanken zu verstecken. Meiner Meinung nach solltest du weiterziehen. Mir schwebt da ein Quartier vor, das nicht zum System der Geheimgänge gehört. Dort könntest du vielleicht für ein paar Tage unterkommen.«
Das einzige Geräusch, das man in der Gildehalle vernehmen konnte, war das Wispern des Atems der dort versammelten Magier. Rothen öffnete die Augen und ließ den Blick über die Gesichter seiner Kollegen gleiten.
Wie immer, wenn er andere Magier bei höchster gedanklicher Anstrengung beobachtete, verspürte er eine vage Verlegenheit. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, ihnen nachzuspionieren, sie bei einem höchst privaten Tun zu stören.
Gleichzeitig löste ihr Mienenspiel eine beinahe kindliche Erheiterung in ihm aus. Einige Magier runzelten die Stirn, andere wirkten verwirrt oder überrascht. Die meisten von ihnen hätten genauso gut schlafen können, so glatt und friedlich waren ihre Gesichter.
Als Rothen ein leises Schnarchen hörte, musste er lächeln. Lord Sharrel hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, und der kahle Kopf sackte ihm langsam auf die Brust. Offensichtlich hatte er seinen Geist allzu wirkungsvoll beruhigt.
— Er ist nicht der Einzige, der nicht bei der Sache ist, wie, Rothen?
Dannyl öffnete ein Auge und grinste. Rothen schüttelte missbilligend den Kopf, dann ließ er den Blick über die Gesichter der Magier wandern, um festzustellen, ob sein Freund die anderen in ihrer Konzentration gestört hatte. Dannyl zuckte kaum merklich die Achseln und schloss das Auge wieder.
Rothen seufzte. Mittlerweile hätten sie sie eigentlich finden müssen. Er runzelte die Stirn. Noch eine halbe Stunde, beschloss er. Dann holte er tief Luft und begann von Neuem mit der Übung, die den Magiern half, ihren Geist zu beruhigen.
Es war später Vormittag, und helles Sonnenlicht hatte den Nebel über der Stadt zerstreut. Dannyl, der am Fenster stand, nahm sich einen Moment Zeit, um die Stille zu genießen. Die Druckmaschinen mochten zwar schneller sein als Schreiber, aber ihr Summen und Stampfen klingelte ihm jedes Mal noch stundenlang in den Ohren.
Er schürzte die Lippen. Jetzt, da das letzte Bündel Plakate gedruckt und in die verschiedenen Stadtteile geschickt worden war, war er endlich frei. Die mentale Suche war gescheitert, und Rothen hatte sich bereits wieder zu den Hüttensiedlungen begeben. Dannyl war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte, dass er bei dem schönen Wetter nach draußen kam, oder verärgert sein sollte, weil er einmal mehr zwischen den ärmlichen Hütten umherstreifen musste.
»Lord Dannyl«, erklang eine Stimme, »vor den Toren der Gilde hat sich eine große Menschenmenge versammelt, die Euch zu sprechen wünscht.«
Erschrocken drehte Dannyl sich um. Administrator Lorlen stand in der Tür.
»Jetzt schon?«, entfuhr es ihm.
Lorlen nickte und verzog die Lippen zu einem erheiterten Lächeln. »Ich weiß nicht, wie sie dort hingekommen sind. Sie müssen sich an zwei Trupps der Stadtwache vorbeigeschlichen haben und in den Inneren Ring vorgedrungen sein, um es bis hierher zu schaffen – es sei denn, es handelt sich um Vagabunden, die uns bei der Säuberung entgangen sind.«
»Wie viele?«
»Ungefähr zweihundert«, erwiderte Lorlen. »Die Wachen sagen, sie behaupteten alle, zu wissen, wo sich das gesuchte Mädchen aufhält.«
Dannyl sah vor seinem inneren Auge die vielen Diebe und Bettler, die vor den Toren auf ihn warteten, und griff sich stöhnend an die Stirn.
»Genau«, sagte Lorlen. »Was wollt Ihr jetzt tun?«
Dannyl lehnte sich an den Tisch und dachte nach. Es war kaum mehr als eine Stunde vergangen, seit er die ersten Boten mit Kopien seines Plakats ausgeschickt hatte. Die Menschen vor den Toren waren die Ersten von einer Horde von Informanten, die gewiss noch folgen würden.
»Wir brauchen einen Raum, in dem wir sie befragen können«, überlegte er laut.
»Nicht in der Gilde«, erwiderte Lorlen sofort, »sonst werden die Leute Geschichten erfinden, nur um eine Gelegenheit zu bekommen, einen Blick auf uns zu werfen.«
»Dann eben irgendwo in der Stadt.«
Lorlen trommelte leise mit den Fingern auf den Türrahmen. »Die Garde hat mehrere Hallen in verschiedenen Teilen der Stadt. Ich werde veranlassen, dass eine davon für unsere Zwecke hergerichtet wird.«
Dannyl nickte. »Könntet Ihr auch dafür sorgen, dass ein paar Soldaten dort sein werden, um für Ordnung zu sorgen?«
Der Administrator nickte. »Ich bin davon überzeugt, dass die Leute die Gelegenheit, in der Stadt zu bleiben, nur allzu gern nutzen würden.«
»Dann mache ich mich jetzt auf die Suche nach Freiwilligen, die mir bei der Befragung der Informanten helfen.«
»Das klingt so, als hättet Ihr alles im Griff.« Lorlen trat einen Schritt von der Tür zurück.
Dannyl lächelte. »Vielen Dank, Administrator.«
»Wenn Ihr sonst noch irgendetwas benötigen solltet, schickt einfach einen Boten zu mir.« Lorlen nickte und wandte sich dann zum Gehen.
Dannyl sammelte die Werkzeuge ein, die er für den Entwurf des Plakats benötigt hatte, und legte sie in eine kunstvoll gearbeitete Schreibschatulle. Dann verließ er den Raum und eilte zu seinem Quartier. Unterwegs sprach er einen Novizen an, der gerade aus einem nahen Klassenzimmer getreten war.
»Du da«, rief Dannyl. Der Junge erstarrte und fuhr zu ihm herum. Nach einem raschen Blick senkte er den Kopf und verneigte sich. Dannyl drückte dem Jungen ohne viel Federlesens die Schatulle in die Hände.
»Bring das hier in die Bibliothek der Magier und sag Lord Jullen, dass ich die Sachen später wieder abholen werde.«
»Jawohl, Lord Dannyl«, erwiderte der Novize und hätte in seinem Eifer um ein Haar die Schatulle fallen lassen, als er sich abermals verbeugte. Dann machte er kehrt und eilte davon.
Dannyl setzte seinen Weg fort und stieg die Treppe hinunter. In der Eingangshalle standen mehrere Magier, die alle durch die offenen Türen zu den Toren des Gildeviertels hinüberstarrten. Als Dannyl die untersten Stufen der Treppe erreicht hatte, blickte einer der Magier auf. Es war Larkin, ein junger Alchemist, der erst vor kurzem seinen Abschluss gemacht hatte.
»Sind das Eure Informanten, Lord Dannyl?«, fragte er grinsend.
»Sie sind wohl eher scharf auf die Belohnung«, entgegnete Dannyl trocken.
»Ihr werdet sie nicht in die Gilde bringen«, erklang eine schroffe Stimme.
Dannyl, der sofort den säuerlichen Tonfall des Rektors der Universität erkannt hatte, drehte sich zu dem Magier um.
»Wirklich nicht, Rektor Jerrik?«, fragte Dannyl.
»Auf keinen Fall!«
Larkin, der den Wortwechsel verfolgt hatte, prustete leise, und Dannyl widerstand der Versuchung zu lächeln. Jerrik schien sich niemals zu ändern. Er war noch immer derselbe mürrische alte Mann wie damals, als Dannyl als Novize an die Universität gekommen war.
»Ich werde sie in eine der Hallen der Garde schicken«, erklärte Dannyl dem alten Magier. Dann wandte er sich ab, schlängelte sich zwischen den anderen Magiern hindurch und ging die nächste Treppe hinunter.
»Viel Glück«, rief Larkin ihm nach.
Dannyl hob zur Antwort nur die Hand. Vor ihm drängte sich eine dunkle Masse von Leibern gegen die kunstvoll geschmiedeten Gitter der Tore. Dannyl schnitt eine Grimasse und suchte in Gedanken nach einem verwandten Geist.
-Rothen!
-Ja?
-Sieh dir das an. Dannyl sandte seinem Freund ein mentales Bild der Szene vor ihm. Er spürte das Erschrecken des anderen Magiers, das sich schnell in Erheiterung verwandelte, als Rothen begriff, wer diese Leute waren.
-Da sind also schon die ersten Informanten! Was wirst du tun?
-Ihnen sagen, dass sie später noch einmal herkommen sollen, antwortete Dannyl, und dass wir niemanden mit Geld überhäufen werden, bevor wir das Mädchen haben. So schnell und so deutlich die Gedankenübertragung es gestattete, erklärte er Rothen, dass Administrator Lorlen ihnen einen Raum in der Stadt beschaffen würde, in dem sie die »Informanten« befragen konnten.
-Soll ich zurückkommen, um dir zu helfen?
-Selbst wenn ich es versuchte, könnte ich dich davon wohl kaum abhalten.
Er spürte abermals ein Gefühl der Belustigung bei dem älteren Magier, bevor Rothens Aura in seiner Wahrnehmung verblasste.
Inzwischen hatte Dannyl sich dem Tor genähert und konnte die Menschen erkennen, die sich vor dem Gitter drängelten. Ein wildes Stimmengewirr scholl ihm entgegen, als sie alle gleichzeitig begannen, ihm etwas zuzurufen. Die Wachsoldaten musterten Dannyl mit einer Mischung aus Erleichterung und Neugier.
Etwa zehn Schritte vor den Toren blieb er stehen und drückte den Rücken durch, um seine Körpergröße besser zur Geltung zu bringen. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und wartete. Langsam verebbte der Lärm. Als es einigermaßen still geworden war, manipulierte Dannyl die Luft um ihn herum, um seine Stimme zu verstärken.
»Wie viele von euch sind hier, weil sie Informationen über das Mädchen haben, nach dem wir suchen?«
Sofort begannen die Menschen wieder, durcheinander zu schreien. Dannyl nickte und hob die Hand, um sie abermals zum Schweigen zu bringen.
»Die Gilde weiß eure Mitarbeit in dieser Angelegenheit zu schätzen. Ihr werdet Gelegenheit haben, einzeln mit uns zu sprechen. Zur Zeit bemühen wir uns darum, eine Halle der Garde zu diesem Zweck herrichten zu lassen. Binnen einer Stunde werden an diesem Tor und den Toren der Stadt Plakate ausgehängt, denen ihr den genauen Ort entnehmen könnt. In der Zwischenzeit bitten wir euch, in eure Häuser zurückzukehren.«
Ein missbilligendes Raunen lief durch die hinteren Reihen der Menge. Dannyl reckte das Kinn und legte einen warnenden Unterton in seine Stimme.
»Niemand wird eine Belohnung erhalten, bevor sich das Mädchen nicht sicher in unserer Obhut befindet. Erst dann wird die Belohnung ausgezahlt werden, und es werden nur diejenigen etwas bekommen, die uns nützliche Hinweise gegeben haben. Aber ich warne euch, tretet nicht selbst an das Mädchen heran. Sie könnte eine Ge-«
»Sie ist hier!«, kreischte jemand.
Obwohl er wusste, dass es unvernünftig war, regte sich Hoffnung in Dannyl. Die Menge teilte sich, und jemand drängelte sich nach vorn.
»Lasst sie durch«, befahl Dannyl.
Kurz darauf drückte sich eine verhutzelte alte Frau gegen das Tor. Eine knochige Hand schob sich durch die Gitterstangen und winkte Dannyl heran. Die andere Hand hielt den Arm eines dünnen, in schmutzige, fadenscheinige Kleider gehüllten Mädchens umklammert.
»Das ist sie!«, erklärte die Frau und starrte ihn mit riesigen Augen an.
Dannyl besah sich das Mädchen näher. Klein, mit ungleichmäßig geschnittenem Haar und einem mageren, hohlwangigen Gesicht. Das Mädchen war zum Erbarmen dünn, und die Kleider hingen an dem formlosen Körper herab. Als Dannyl die Kleine ansah, brach sie in Tränen aus.
Zweifel befielen ihn, als ihm klar wurde, dass er sich nicht mehr an das Gesicht des Mädchens erinnerte, das Rothen in der Gildehalle heraufbeschworen hatte.
-Rothen?
-Ja?
Er sandte dem Magier ein Bild des Mädchens.
-Das ist sie nicht.
Dannyl seufzte vor Erleichterung. »Sie ist nicht die, die wir suchen«, erklärte er kopfschüttelnd und wandte sich ab.
»Heh!«, protestierte die Frau. Als er sich noch einmal umdrehte, funkelte sie ihn wütend an. Er hielt ihrem Blick stand, und sie senkte hastig den Kopf. »Seid Ihr Euch sicher, Herr?«, fragte sie mit schmeichelndem Tonfall. »Ihr habt sie Euch gar nicht aus der Nähe angesehen.«
Das Meer der ihm zugewandten, erwartungsvollen Gesichter vor sich, begriff er, dass die Menschen einen sichtbaren Beweis haben wollten. Wenn er sie nicht davon überzeugte, dass man ihn nicht täuschen konnte, würden auch andere junge Mädchen herbringen, um sich auf diese Weise die Belohnung zu verdienen – und er konnte Rothen unmöglich bitten, jedes einzelne Mädchen zu identifizieren, das man zu ihm brachte.
Langsam trat er auf das Tor zu. Das Mädchen hatte aufgehört zu weinen, aber als Dannyl näher kam, wurde es schneeweiß vor Angst.
Dannyl streckte die Hand nach ihm aus und lächelte. Das Mädchen wich zurück, aber die Frau packte seinen Arm und stieß ihn durch die Gitter des Tores.
Dannyl griff nach der Hand des Mädchens und sandte eine Gedankenfrage in ihren Geist. Sofort spürte er in ihr eine starke, verborgene Quelle der Kraft. Überrascht zögerte er einen Moment, bevor er ihre Hand losließ und zurücktrat.
»Sie ist nicht die, nach der wir suchen«, wiederholte er.
Die Informanten begannen von Neuem durcheinander zu rufen, aber ohne die Entschlossenheit, die zuvor in ihren Stimmen gelegen hatte. Er entfernte sich einige Schritte vom Tor und hob die Arme. Die Menschen wichen zurück.
»Geht jetzt!«, rief Dannyl. »Kommt am Nachmittag wieder.«
Dann drehte er sich so schnell um, dass seine Roben ihn dramatisch umflatterten, und schritt davon. Ein ehrfürchtiges Murmeln erhob sich hinter ihm, und er beschleunigte lächelnd seine Schritte.
Aber sein Lächeln verschwand, als er an die magische Kraft dachte, die er bei dem Bettlermädchen wahrgenommen hatte. Hätte es sich um eine Tochter aus einem der Häuser gehandelt, hätte man sie wohl kaum der Gilde zur Ausbildung geschickt. Als Braut, die die magischen Blutlinien ihres Hauses stärkte, wäre sie für ihre Familie kostbarer gewesen. Aber als zweiter oder dritter Sohn wäre sie jeder Familie hochwillkommen gewesen. Selbst ein schwacher Magier trug dem Namen einer Familie Ansehen ein.
Kopfschüttelnd näherte sich Dannyl der Universität. Es war nur ein Zufall, dass das einzige Mädchen aus dem Hüttenvolk, das er bisher geprüft hatte, magisches Potenzial besaß. Vielleicht war sie die Tochter einer Prostituierten, die das Kind eines Magiers empfangen hatte. Dannyl gab sich keinerlei Illusionen hin, was die Gewohnheiten seiner Kollegen betraf.
Dann fielen ihm wieder Lord Solends Worte ein: »Falls es sich bei dieser jungen Frau um eine geborene Magierin handelt, müssen wir davon ausgehen, dass sie stärker ist als unsere durchschnittlichen Novizen, vielleicht sogar stärker als durchschnittliche Magier.« Das Mädchen, nach dem sie suchten, war möglicherweise mindestens so stark wie er selbst. Es könnte sogar stärker sein…
Er schauderte. Plötzlich fiel es ihm nur allzu leicht, sich die Existenz von Dieben und Mördern vorzustellen, die insgeheim Kräfte benutzten, die zu besitzen einzig den Magiern der Gilde gestattet war. Es war ein beängstigender Gedanke, und Dannyl wusste, dass er sich, wenn er das nächste Mal durch die Straßen der Hüttensiedlungen wanderte, nicht mehr ganz so unverletzbar fühlen würde.
Die Luft auf dem Dachboden war herrlich warm. Das Licht des späten Nachmittags fiel durch zwei kleine Fenster und zeichnete helle Quadrate an die Wände. Die Gerüche von Reber-Wolle und Rauch kämpften um die Vorherrschaft im Raum. Hier und da saßen in Decken gehüllte Kinder beieinander, die sich leise unterhielten.
Sonea beobachtete sie von ihrem Platz in der Ecke aus, den sie sich erobert hatte. Als die Falltür zum Dachboden geöffnet wurde, blickte sie eifrig auf, aber der Junge, der in den Raum kletterte, war nicht Cery. Die anderen begrüßten den Neuankömmling stürmisch.
»Habt ihr schon gehört?«, fragte er, während er sich auf ein Bündel Decken fallen ließ. »Die Magier sagen, sie zahlen jedem eine Belohnung, der ihnen zeigt, wo das Mädchen sich aufhält.«
»Eine Belohnung!«
»Wirklich?«
»Wie viel?«
Die Augen des Jungen weiteten sich. »Hundert Goldmünzen.«
Die Kinder begannen aufgeregt miteinander zu tuscheln. Sie hatten sich um den Neuankömmling geschart, und einige von ihnen sahen nachdenklich in Soneas Richtung.
Sonea zwang sich, die Kinder mit ausdrucksloser Miene zu beobachten. Seit ihrer Ankunft hatte sie zahlreiche neugierige Blicke auf sich gezogen. Der Dachboden war eine Zuflucht für heimatlose Kinder. Er lag in dem Gebiet, wo die Hütten an die Märkte grenzten, und aus den winzigen Fenstern konnte man den Hafen sehen. Sonea war eigentlich zu alt, um hier Aufnahme zu finden, aber Cery kannte den Besitzer – einen freundlichen alten Mann namens Norin – und hatte ihm als Gegenleistung eine Gefälligkeit versprochen.
»Die Magier wollen dieses Mädchen unbedingt haben, nicht wahr?«, bemerkte eins der Mädchen.
»Sie sind der Meinung, dass niemand außer ihnen selbst über Magie gebieten darf«, erwiderte ein untersetzter Junge.
»Es wird inzwischen überall gesucht«, bemerkte der Neuankömmling mit einem weisen Nicken. »Es geht um eine Menge Geld.«
»Es ist Blutgeld, Ral«, erwiderte das Mädchen und rümpfte die Nase.
»Na und?«, entgegnete Ral. »Manchen Leuten wird das völlig egal sein. Sie wollen einfach nur das Geld.«
»Also, ich würde sie nicht ausliefern«, erklärte das Mädchen. »Ich hasse die Magier. Sie haben vor einigen Jahren meinen Vetter verbrannt.«
»Wirklich?«, fragte ein anderes Mädchen, aus dessen Augen jetzt helle Neugier leuchtete.
»Es ist wahr.« Das erste Mädchen nickte. »Es ist bei einer der Säuberungen passiert. Aber Gilen hat Unfug gemacht. Wahrscheinlich hat er es geradezu herausgefordert. Einer dieser Magier hat ihn mit seiner Magie erwischt. Die eine Hälfte seines Gesichts war anschließend völlig verbrannt. Er hat heute noch eine große, rote Narbe.«
Sonea schauderte. Verbrannt. Die Erinnerung an einen verkohlten Leichnam blitzte in ihren Gedanken auf. Sie wandte sich von den Kindern ab. Der Dachboden hatte mit einem Mal seine Behaglichkeit verloren. Sie wäre am liebsten aufgestanden und gegangen, aber Cery hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie hier bleiben und nur ja keine Aufmerksamkeit auf sich lenken solle.
»Mein Onkel hat einmal versucht, einen Magier zu berauben«, sagte jetzt ein Mädchen mit langem, verfilztem Haar.
»Dein Onkel war ein Dummkopf«, murmelte ein Junge, der neben ihr stand. Sie funkelte ihn wütend an und versuchte, ihm gegen das Schienbein zu treten, ein Unterfangen, das er mühelos vereiteln konnte.
»Er wusste doch nicht, dass es ein Magier war«, erklärte das Mädchen. »Der Mann trug einen weiten Mantel über seinen Roben.«
Der Junge prustete ungläubig, und das Mädchen hob die Faust. »Was wolltest du sagen?«, fragte er unschuldig.
»Er hat versucht, ihm die Börse vom Gürtel zu schneiden«, fuhr das Mädchen fort, »aber der Magier hatte sie verzaubert, so dass er es bemerken würde, falls jemand sich an seiner Habe vergreifen sollte. Nun, der Magier hat sich blitzschnell zu ihm umgedreht, ihm seine Magie entgegengeschleudert und ihm beide Arme gebrochen.«
»Beide Arme?«, fragte einer der kleineren Jungen.
Sie nickte. »Ohne ihn auch nur zu berühren. Er hat einfach so die Hände ausgestreckt…« Sie hob die Hände, so dass die Innenflächen auf die Zuhörer zeigten, dann sprach sie weiter: »Und die Magie hat meinen Onkel getroffen, als hätte ihm jemand eine ganze Mauer entgegengeschleudert. So hat er es erzählt, mein Onkel.«
»Hai!«, flüsterte der Junge ehrfürchtig. Anschließend blieb es für ein paar Minuten still im Raum, dann durchbrach eine neue Stimme das Schweigen.
»Meine Schwester ist gestorben wegen der Magier.«
Alle Gesichter wandten sich jetzt einem dürren Jungen zu, der im Schneidersitz am Rand des Kreises hockte.
»Es herrschte ein ziemliches Gedränge um uns herum«, erzählte er ihnen. »Die Magier haben in der Straße hinter uns ihre Lichter aufblitzen lassen, und alle sind plötzlich losgelaufen. Ma hat meine kleine Schwester fallen lassen, aber sie konnte nicht mehr stehen bleiben, weil so viele Menschen da waren, die alle voller Angst wegrannten. Mein Pa ist dann zurückgekehrt und hat sie gefunden. Ich habe gehört, wie er die Magier verfluchte. Er hat gesagt, es sei ihre Schuld, dass meine Schwester gestorben ist. Die Schuld der Magier.« Verdrossen starrte er zu Boden. »Ich hasse sie.«
Mehrere Kinder in dem Kreis nickten. Nachdenkliches Schweigen folgte, dann stieß das erste Mädchen einen Laut der Befriedigung aus.
»Da habt ihr’s«, sagte sie, »wollt ihr wirklich den Magiern helfen? Ich jedenfalls nicht. Das Mädchen hat ihnen die Stirn geboten, jawohl. Vielleicht erwischt sie beim nächsten Mal noch mehr von ihnen.«
Die Kinder grinsten und nickten einander zu. Sonea stieß den Atem, den sie angehalten hatte, lautlos aus. Dann hörte sie das Knarren des Riegels, als die Falltür geöffnet wurde. Cery kam auf den Dachboden geklettert. Er trat auf sie zu, dann ließ er sich grinsend zu Boden sinken.
»Wir sind verraten worden«, murmelte er. »Das Haus wird gleich durchsucht werden. Folg mir.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Als sie ihn jetzt ansah, stellte sie fest, dass das Grinsen seine Augen nicht erreicht hatte. Er rappelte sich wieder hoch, und sie sprang auf, um ihm zu folgen. Einige Kinder sahen ihr nach, aber sie wich ihren Blicken aus. Sie spürte das wachsende Interesse der anderen, als Cery stehen blieb und die Türen zu einem großen Schrank im hinteren Teil des Raumes öffnete.
»Das ist eine Tür, die von hier aus in die Geheimgänge führt«, murmelte er und griff in das Innere des Schranks. Er zog sachte an einem Brett, dann runzelte er die Stirn und zog kräftiger. »Sie ist von der anderen Seite blockiert.« Er fluchte leise.
»Sitzen wir in der Falle?«
Er drehte sich um und sah, dass die meisten Kinder sie jetzt beobachteten. Cery schloss die Schranktür, dann ging er zu einem der Fenster hinüber.
»Es hat keinen Sinn, uns jetzt etwas vorzumachen. Wie gut kannst du klettern?«
»Es ist schon ein Weilchen her…« Sie blickte auf. Die Fenster waren in das Dach eingelassen, das fast bis zum Boden schräg abfiel.
»Mach mir eine Räuberleiter.«
Sonea faltete die Finger beider Hände ineinander und schnitt eine Grimasse, als Cery darauf trat. Cery stieg auf ihre Schultern, und Sonea taumelte. Dann bekam er einen Dachbalken zu fassen, gewann das Gleichgewicht zurück, nahm ein Messer aus seinem Mantel und machte sich daran, das Fenster zu bearbeiten.
Irgendwo unter ihnen krachte eine Tür gegen eine Wand, dann folgte das gedämpfte Geräusch erhobener Stimmen. Ein Stich der Angst durchzuckte Sonea, als die Falltür aufgerissen wurde, aber das Gesicht, das dort erschien, gehörte Norins Nichte, Yalia.
Die Frau erfasste mit einem einzigen Blick die Kinder, Sonea und Cery, der auf Soneas Schultern balancierte.
»Die Tür?«, fragte sie.
»Blockiert«, erwiderte er.
Sie runzelte die Stirn, dann sah sie die Kinder an. »Die Magier sind hier«, sagte sie zu ihnen. »Sie werden das Haus durchsuchen.«
Die Kinder bombardierten sie mit Fragen. Über Sonea stieß Cery einen kräftigen Fluch aus, und als er plötzlich das Gewicht verlagerte, hätte Sonea ihn um ein Haar fallen lassen.
»Hai! Du bist als Leiter keine große Hilfe, Sonea.«
Plötzlich ließ der schmerzhafte Druck auf ihre Schultern nach. Cerys Fuß rutschte ab und traf sie an der Brust. Sonea unterdrückte jeden Kommentar und brachte sich mit einem Sprung vor seinen baumelnden Beinen in Sicherheit.
»Sie werden uns nichts tun«, erklärte Yalia den Kindern auf dem Dachboden. »Sie werden es nicht wagen. Ganz bestimmt sehen sie sofort, dass ihr alle viel zu klein seid. Sie werden sich eher für jemanden interessieren, der –«
»Hai! Sonea!«, flüsterte Cery rau.
Cery hatte die Beine inzwischen durch das Fenster geschoben und beugte sich herab, um Sonea nach oben zu ziehen.
»Komm schon!«
Sie streckte ihm die Hände entgegen, und mit überraschender Kraft hob Cery sie so weit hoch, dass sie selbst das Sims des Fensters zu fassen bekam. Einen Moment lang hing sie in der Luft, dann zwängte auch sie sich hindurch. Auf der anderen Seite des Fensters angekommen, legte sie sich bäuchlings und atemlos vor Erschöpfung flach auf die kalten Ziegel. Die Luft war eisig und drang ihr sofort durch die Kleider. Sie blickte auf. Ein Meer von Dächern erhob sich vor ihr. Die Sonne hing tief am Himmel.
Cery wollte gerade das Fenster schließen, als er jäh erstarrte. Hinter ihnen wurde die Falltür knarrend wieder geöffnet, dann hörten sie die leisen Stimmen der Kinder, in denen jetzt Angst und Ehrfurcht mitschwangen. Sonea spähte durch das Fenster.
Ein Mann in roten Roben stand neben der geöffneten Falltür und sah sich zornig im Raum um. Sein Haar war hell und lag dicht am Kopf an. An seiner Schläfe leuchtete eine kleine, rote Narbe. Mit hämmerndem Herzen drückte Sonea sich auf das Dach. Der Mann kam ihr irgendwie vertraut vor, aber sie konnte keinen zweiten Blick riskieren.
Seine Stimme drang an ihre Ohren.
»Wo ist sie?«, fragte er scharf.
»Wen meint Ihr?«, erwiderte Yalia.
»Das Mädchen. Man hat mich informiert, dass ich es hier finden würde. Wo habt ihr es versteckt?«
»Ich habe niemanden versteckt«, mischte sich eine ältere Stimme ein. Norin, vermutete Sonea.
»Was hat es mit diesem Haus auf sich? Warum sind diese Bettler hier?«
»Ich lasse sie hier wohnen. Im Winter können sie sonst nirgendwohin.«
»War das Mädchen hier?«
»Ich frage nicht nach ihren Namen. Wenn das Mädchen, das Ihr sucht, bei den anderen war, dann weiß ich nichts darüber.«
»Ich denke, du lügst, alter Mann.« Der Tonfall des Magiers klang jetzt noch um einiges düsterer.
Einige der Kinder begannen zu weinen. Cery zupfte Sonea am Ärmel.
»Ich sage die Wahrheit«, erklärte der alte Kaufmann. »Ich habe keine Ahnung, wer sie sind, aber es sind allesamt Kinder –«
»Weißt du, welche Strafe demjenigen blüht, der Feinde der Gilde versteckt, alter Mann?«, zischte der Magier. »Wenn du mir nicht zeigst, wo du dieses Mädchen verborgen hältst, werde ich dein Haus abreißen lassen, Stein für Stein, und dann…«
»Sonea«, flüsterte Cery.
Sie drehte sich zu ihm um. Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, bevor er sich langsam über das Dach schob. Sonea zwang sich dazu, Arme und Beine zu bewegen.
Sie wagte es nicht, sich allzu schnell heruntergleiten zu lassen, weil sie befürchtete, der Magier könnte sie hören. Langsam näherte sie sich der Dachtraufe. Als sie sie erreicht hatte, wandte Sonea den Kopf. Cery war verschwunden. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine flüchtige Bewegung wahr, und dann sah sie seine Hände, die die Regenrinne unter ihr umfassten.
»Sonea«, zischte Cery. »Komm mir nach!«
Langsam beugte sie die Knie und ließ sich weiter nach unten rutschen, bis sie der Länge nach neben der Regenrinne lag. Cery hing zwei Stockwerke über dem Boden. Jetzt deutete er mit dem Kopf auf ein eingeschossiges Gebäude gleich neben dem Haus des Kaufmanns.
»Dort wollen wir hin«, sagte er zu ihr. »Beobachte mich und tu dann genau das, was ich tue.«
Cery beugte sich vor und legte die Arme um ein Rohr, das an der Wand entlang von der Dachrinne bis zum Boden hinabführte. Das Rohr knarrte erschreckend, aber Cery kletterte flink hinunter und benutzte die Klammern, mit denen das Rohr an der Hauswand befestigt war. Mit einem einzigen großen Schritt ließ er sich im richtigen Augenblick auf das andere Dach fallen und winkte Sonea von dort aus zu.
Sonea holte tief Luft, klammerte sich an die Regenrinne und ließ sich vom Dach hinunterrollen. Einen Moment lang hing sie in der Luft. Ihre Hände protestierten gegen die ungewohnte Anstrengung, aber dann bekam sie das Rohr zu fassen. So schnell sie konnte, kletterte sie daran bis auf das Dach des anderen Hauses hinunter.
Cery grinste. »Das war doch ganz einfach, nicht wahr?«
Sie rieb sich die Finger, in die sich die scharfen Kanten der Regenrinne eingegraben hatten, und zuckte die Achseln. »Ja und nein.«
»Komm weiter. Lass uns von hier verschwinden.«
Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg über das Dach, über das bitterkalter Wind strich. Auf dem Nachbarhaus angekommen, ließen sie sich an einem weiteren Abflussrohr in eine schmale Gasse zwischen den Häusern hinab.
Cery legte einen Finger an die Lippen und setzte sich wieder in Bewegung. Auf halber Höhe der Gasse blieb er stehen, versicherte sich kurz, dass niemand ihnen gefolgt war, und zog ein kleines Gitter aus einer Mauer. Er ließ sich auf den Bauch fallen und zwängte sich geschickt durch die Öffnung. Sonea tat es ihm gleich.
Dunkelheit umfing sie. Soneas Augen gewöhnten sich langsam an das Fehlen von Licht, bis sie die Wände eines engen, aus Ziegelsteinen gemauerten Ganges erkennen konnte. Cery starrte durch die Dunkelheit zu Norins Haus hinüber.
»Armer Norin«, flüsterte Sonea. »Was wird jetzt mit ihm geschehen?«
»Ich weiß es nicht, aber es schaut nicht gut aus.«
Sonea schluckte. »Und das alles ist meine Schuld.«
Er drehte sich zu ihr um. »Nein«, knurrte er. »Es ist die Schuld der Magier – und desjenigen, der uns verraten hat, wer immer es sein mag.« Stirnrunzelnd blickte er den Gang entlang. »Ich würde ja umkehren und herausfinden, wer es war, aber zuerst einmal muss ich dich in Sicherheit bringen.«
Sonea sah ihn an und bemerkte mit einem Mal eine Härte in seinen Zügen, die sie dort noch nie gesehen hatte. Ohne ihn hätten die Magier sie schon vor Tagen gefunden. Ohne ihn wäre sie jetzt wahrscheinlich tot.
Sie brauchte ihn, aber welchen Preis würde er dafür zahlen müssen, dass er ihr half? Er hatte um ihretwillen schon Gefälligkeiten für die Zukunft versprochen und Gefälligkeiten eingefordert, die andere ihm schuldeten. Außerdem riskierte er die Missbilligung der Diebe, indem er ihre Tunnel benutzte.
Und was würde geschehen, wenn die Magier sie fanden?
Wenn Norin schon sein Haus verlor, weil die Magier ihn in Verdacht hatten, sie zu verstecken, was würden sie dann erst Cery antun? »Weißt du, welche Strafe demjenigen blüht, der Feinde der Gilde versteckt, alter Mann?« Sie schauderte und griff nach Cerys Arm.
»Du musst mir ein Versprechen geben, Cery.«
Mit großen Augen starrte er sie an. »Ein Versprechen?«
Sie nickte. »Falls sie uns jemals fangen sollten, musst du so tun, als würdest du mich nicht kennen. Versprich mir das.« Er öffnete den Mund, um zu protestieren, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Falls sie dich dabei sehen sollten, dass du mir hilfst, dann lauf weg. Lass dich nicht auch noch von ihnen fangen.«
Er schüttelte den Kopf. »Sonea, ich würde niemals –«
»Sag einfach, dass du es tun wirst. Ich… ich könnte es nicht ertragen, wenn die Magier dich meinetwegen töten würden.«
Cerys Augen weiteten sich, dann legte er ihr lächelnd eine Hand auf die Schulter. »Sie werden dich nicht fangen«, erklärte er. »Und selbst wenn sie es tun, hole ich dich zurück. Das verspreche ich dir.«
Auf dem Schild des Bolhauses stand: Das Kühne Messer. Kein ermutigender Name, aber ein kurzer Blick ins Innere der Schankstube hatte einen ruhigen Raum gezeigt. Im Gegensatz zu den Gästen aller anderen Bolhäuser, die Dannyl betreten hatte, wirkten die Leute hier gesittet und unterhielten sich in gedämpftem Tonfall.
Also drückte er die Tür auf und trat ein. Einige der Zecher blickten in seine Richtung, aber die meisten beachteten ihn gar nicht. Auch dies war eine willkommene Abwechslung. Ein leichtes Unbehagen stieg in ihm auf. Warum unterschied sich dieses Lokal so sehr von den anderen, die er besucht hatte?
Er war zuvor nie in Bolhäusern gewesen und hatte auch nie den Wunsch danach verspürt, aber der Soldat, den er mit der Suche nach den Dieben betraut hatte, hatte ihm genaue Anweisungen gegeben: Geh in ein Bolhaus, sag dem Besitzer, mit wem du reden willst, und wenn dann ein Führer auftaucht, bezahle die entsprechende Gebühr. So wurden diese Dinge offensichtlich gehandhabt.
Natürlich konnte er nicht in seiner Robe ein Bolhaus betreten und die Art von Zusammenarbeit erwarten, die er sich erhoffte. Daher hatte er sich dem Gebot der anderen Magier widersetzt und war in die schlichte Gewandung eines Kaufmanns geschlüpft.
Er hatte seine Verkleidung mit großer Sorgfalt ausgewählt. Kein noch so schäbiges Gewand hätte seine ungewöhnliche Körpergröße, seinen hervorragenden Gesundheitszustand und seine kultivierte Stimme verbergen können. Die Geschichte, die er sich ausgedacht hatte, erzählte von unglücklichen Investitionen und üblen Schulden. Niemand wollte ihm Geld leihen. Die Diebe waren seine letzte Hoffnung. Ein Kaufmann in dieser Situation wäre genauso ratlos, wie Dannyl es war, auch wenn er erheblich größere Angst gehabt hätte.
Dannyl holte noch einmal tief Luft und ging dann zur Theke hinüber. Der Wirt war ein dünner Mann mit hohen Wangenknochen und grimmiger Miene. Graue Strähnen zogen sich durch sein schwarzes Haar. Er musterte Dannyl mit harten Augen.
»Was soll es sein?«
»Etwas zu trinken.«
Der Mann griff nach einem hölzernen Becher und füllte ihn aus einem der Fässer hinter der Theke. Dannyl nahm eine Kupfer- und eine Silbermünze aus seiner Börse. Das Silber versteckte er, während er dem Mann die Kupfermünze in die ausgestreckte Hand legte.
»Ihr sucht wohl nach einem Messer?«, fragte der Wirt leise.
Dannyl sah den Mann überrascht an.
Der Wirt lächelte grimmig. »Warum sonst solltet Ihr Das Kühne Messer aufsuchen? Habt Ihr so etwas schon mal gemacht?«
Dannyl schüttelte den Kopf und überlegte hastig. Dem Tonfall des Mannes nach war die Suche nach diesem »Messer« offensichtlich etwas, das man in aller Heimlichkeit tat. Es gab kein Gesetz gegen den Besitz von Klingen, daher musste »Messer« ein Wort für einen verbotenen Gegenstand sein – oder einen verbotenen Dienst. Er hatte keine Ahnung, was das sein mochte, aber dieser Mann hatte ihm bereits zu verstehen gegeben, dass er zwielichtige Geschäfte erwartete, also konnte es nichts schaden, das Spiel mitzuspielen.
»Ich will kein Messer.« Dannyl warf dem Mann ein nervöses Lächeln zu. »Ich möchte Kontakt zu den Dieben aufnehmen.«
Der Mann zog die Augenbrauen in die Höhe. »Tatsächlich?« Mit schmalen Augen musterte er Dannyl. »Es braucht ein wenig mehr Farbe, um ihr Interesse an einem Gespräch zu wecken. Ihr wisst schon, was ich meine.«
Dannyl öffnete die Hand, um die Silbermünze vorzuzeigen. Als der Wirt danach greifen wollte, schloss Dannyl die Finger wieder zur Faust. Der Mann schnaubte, dann drehte er sich zur Seite.
»He, Kollin!«
In einer Tür hinter der Theke erschien ein Junge. Er sah Dannyl an und musterte ihn mit verständigem Blick von den Haarspitzen bis hinab zu den Stiefeln.
»Bring diesen Mann ins Schlachthaus.«
Kollin bedeutete Dannyl, ihm zu folgen. Als Dannyl hinter die Theke treten wollte, versperrte der Wirt ihm den Weg und hielt ihm die Hand hin.
»Es gibt eine Gebühr. Silber.«
Dannyl musterte die ausgestreckte Hand voller Zweifel.
»Keine Sorge«, sagte der Wirt. »Wenn sie dahinterkämen, dass ich jene betrüge, die um ihre Hilfe nachsuchen, würden sie mich bei lebendigem Leib häuten und meine Haut dann als Lektion für andere an der Dachtraufe trocknen lassen.«
Dannyl fragte sich kurz, ob er übertölpelt wurde, dann drückte er dem Wirt die Silbermünze in die Hand. Der Mann trat zur Seite, und Dannyl ging hinter Kollin durch die Tür.
»Folgt mir, aber sprecht kein Wort«, sagte der Junge. Sie kamen in eine kleine Küche, wo Kollin eine weitere Tür öffnete und in die Gasse hinausspähte, bevor er das Haus verließ.
Der Junge schlug ein schnelles Tempo an und führte Dannyl durch ein Labyrinth enger Straßen. Aus einigen Türen wehte ihnen der Geruch von frisch gebackenem Brot, gekochtem Fleisch oder geöltem Leder entgegen. Schließlich blieb der Junge stehen und zeigte auf den Eingang zu einer Gasse. Die schmale Straße war bedeckt von Schlamm und Unrat und mündete nach zwanzig Schritten in eine Sackgasse.
»Das Schlachthaus. Dort geht Ihr hinein«, sagte der Junge und zeigte die Gasse hinunter. Dann drehte er sich um und eilte davon.
Dannyl sah sich zweifelnd um. Es gab keine Türen in dieser Gasse. Keine Fenster. Niemand kam heraus, um ihn zu begrüßen. Als er das Ende der Gasse erreichte, seufzte er. Man hatte ihn tatsächlich übertölpelt. Wenn er an den Namen des Lokals dachte, war ein Hinterhalt wohl das Geringste, was er zu erwarten hatte.
Achselzuckend drehte er sich um und sah sich jäh drei stämmigen Männern gegenüber, die am Eingang der Gasse standen.
»He! Sucht Ihr nach jemandem?«
»Ja.« Dannyl ging auf die Männer zu. Sie alle trugen schwere Langmäntel und Handschuhe. Den Mann in der Mitte zierte überdies eine Narbe auf einer Wange. Und alle musterten ihn mit kaltem Blick. Ganz gewöhnliche Räuber, überlegte Dannyl. Vielleicht war dies ja tatsächlich ein Hinterhalt.
Einige Schritte vor den Männern blieb er stehen, dann blickte er die Gasse hinunter und lächelte. »Das also ist das Schlachthaus. Wie passend. Seid Ihr drei jetzt meine Eskorte?«
Der Mann in der Mitte streckte die Hand aus. »Für einen gewissen Preis.«
»Ich habe mein Geld schon dem Wirt vom Kühnen Messer gegeben.«
Sein Gegenüber runzelte die Stirn. »Ihr wollt ein Messer?«
»Nein.« Dannyl seufzte. »Ich will mit den Dieben reden.«
Der Mann sah seine Gefährten an, die beide übers ganze Gesicht grinsten. »Mit welchem von ihnen?«
»Mit dem, der über den größten Einfluss verfügt.«
Der mittlere der Männer kicherte leise. »Das wäre dann wohl Gorin.« Einer seiner Begleiter unterdrückte ein Lachen. Immer noch grinsend, bedeutete der Anführer Dannyl, ihm zu folgen. »Kommt mit mir.«
Die beiden anderen traten beiseite. Dannyl folgte seinem neuen Führer bis zur Mündung einer breiteren Straße. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, dass die beiden anderen ihn, immer noch mit einem breiten Lächeln im Gesicht, beobachteten.
Sie gingen eine Weile durch gewundene Straßen und enge Gassen. Dannyl fragte sich langsam, ob die Rückfronten sämtlicher Bäckereien, Lederwerkstätten, Schneidereien und Bolhäuser gleich aussahen. Dann erkannte er eins der Schilder wieder und blieb jäh stehen.
»Hier sind wir schon einmal gewesen. Warum führt Ihr mich im Kreis herum?«
Der Räuber drehte sich um, musterte Dannyl kurz und ging dann zu einer nahen Mauer hinüber. Dort bückte er sich, umfasste den Rand eines Belüftungsgitters und zog. Das Gitter schwang auf.
Der Räuber zeigte auf das Loch. »Ihr zuerst.«
Dannyl ging in die Hocke und blickte hinein. Er konnte nichts sehen. Bedauerlicherweise musste er der Versuchung widerstehen, eine Lichtkugel zu erschaffen. Also schob er seufzend ein Bein durch das Loch, trat aber ins Leere. Er blickte zu seinem Führer hinauf.
»Der Gang liegt so, dass die Straße etwa auf Brusthöhe ist, wenn Ihr darin steht«, erklärte der Mann. »Geht nur.«
Dannyl kletterte durch die Öffnung. Als er mit dem Fuß einen Vorsprung im Mauerwerk ertastet hatte, zog er das andere Bein nach. Als Nächstes stieß er mit der Schulter an eine Mauer. Der Räuber ließ sich mit einer Geschicklichkeit, die man nur durch lange Übung erwarb, ebenfalls durch die Öffnung gleiten. Da Dannyl in dem schwachen Licht nicht viel mehr erkennen konnte als die Umrisse des Mannes, hielt er Abstand.
»Folgt meinen Schritten«, sagte der Mann. Als er sich den Gang entlang in Bewegung setzte, hielt Dannyl sich einige Schritte hinter ihm und ließ die Hände zu beiden Seiten über das Mauerwerk gleiten. Sie waren mehrere Minuten gegangen und hatten viele Male die Richtung gewechselt, als die Schritte vor Dannyl jäh verstummten und er ganz in der Nähe ein Klopfen hörte.
»Ihr habt noch einen weiten Weg vor Euch«, bemerkte der Räuber. »Seid Ihr Euch wirklich sicher, dass Ihr das wollt? Wenn Ihr Eure Meinung jetzt ändert, bringe ich Euch zurück.«
»Warum sollte ich das tun?«, fragte Dannyl.
»Ihr könntet es tun, das ist alles.«
Ein Lichtstrahl wurde sichtbar, der die Silhouette eines anderen Mannes nachzeichnete. Das Licht war zu grell, als dass Dannyl die Gesichtszüge des Mannes hätte erkennen können.
»Der da ist für Gorin«, sagte der Räuber. Er sah Dannyl an, machte eine schnelle Handbewegung und drehte sich dann um, um in der Dunkelheit zu verschwinden.
»Gorin, wie?«, fragte der Mann in der Tür. Die Stimme hätte einem Mann irgendwo zwischen zwanzig und sechzig Jahren gehören können. »Wie heißt Ihr?«
»Larkin.«
»Was ist Euer Gewerbe?«
»Ich verkaufe Simba-Matten.« Während der letzten Jahre waren überall in Imardin die Werkstätten von Mattenmachern aus dem Boden geschossen.
»Ein Markt, auf dem es reichlich Konkurrenz gibt.«
»Wem sagt Ihr das!«
Der Mann brummte etwas Unverständliches.
»Warum wollt Ihr mit Gorin reden?«, fragte er nach kurzem Schweigen.
»Das geht nur Gorin etwas an.«
»Natürlich.« Der Mann zuckte die Achseln. »Dreht Euch um«, befahl er. »Von hier an werdet Ihr mit verbundenen Augen weitergehen.«
Dannyl zögerte kurz, bevor er sich widerstrebend umdrehte. Er hatte etwas in dieser Art erwartet. Im nächsten Moment wurde ihm ein Stück Tuch über die Augen gelegt, und er spürte, wie der Mann es ihm am Hinterkopf verknotete. Das schwache Licht der Lampe enthüllte nicht mehr als die grobe Webart des Stoffes.
»Folgt meinen Schritten, bitte.«
Einmal mehr orientierte sich Dannyl, indem er sich mit beiden Händen an den Mauern entlangtastete. Sein neuer Führer schlug ein schnelles Tempo an. Dannyl zählte seine Schritte. Sobald er die Gelegenheit dazu hatte, würde er abmessen, wie weit tausend Schritte ihn unter normalen Umständen bringen konnten.
Plötzlich drückte etwas, wahrscheinlich eine Hand, gegen seine Brust, und er blieb stehen. Er hörte, wie eine Tür geöffnet wurde, dann schob ihn jemand vorwärts. Der Geruch von Gewürzen und Blumen schlug ihm entgegen, und er fühlte etwas Weiches unter seinen Stiefeln, das auf einen Teppich schließen ließ.
»Bleibt hier. Und nehmt auf keinen Fall die Augenbinde ab.«
Die Tür wurde geschlossen.
Über ihm erklangen Stimmen und Schritte, und er vermutete, dass er sich unter einem der weniger zivilisierten Bolhäuser befand. Er lauschte den Geräuschen, dann begann er, seine Atemzüge zu zählen. Als ihn dies schließlich langweilte, hob er die Hände, um seine Augenbinde abzunehmen. Er hörte ein leises Geräusch hinter sich, wie es nackte Füße auf einem mit Teppich belegten Fußboden verursachen. Er drehte sich um und berührte mit den Händen die Augenbinde, dann erstarrte er, als er hörte, wie der Türknauf heruntergedrückt wurde. Hastig ließ er den Stoff los.
Die Tür wurde nicht geöffnet. Dannyl wartete ab und konzentrierte sich auf die Stille im Raum. Irgendetwas erregte seine Aufmerksamkeit. Etwas Feineres, Ungreifbareres als das leise Geräusch, das er zuvor gehört hatte.
Eine Aura.
Sie schwebte hinter ihm. Mit einem tiefen Atemzug streckte er die Arme aus und tat so, als taste er nach den Mauern. Als er sich umdrehte, rückte die Aura beiseite.
Irgendjemand war bei ihm im Raum. Jemand der nicht bemerkt werden wollte. Der Teppich dämpfte seine Schritte, und der Lärm aus dem Bolhaus übertönte alle anderen Geräusche. Das blumige Parfüm, das in der Luft hing, würde die schwächeren Gerüche eines Körpers überdecken. Einzig mithilfe der Sinneswahrnehmungen, die nur ihm als Magier zu Gebote standen, hatte er den Fremden aufgespürt.
Er wurde auf die Probe gestellt. Jemand wollte herausfinden, ob er etwas wahrnehmen würde. Ob er ein Magier war.
Dannyl sandte seine Sinne aus und entdeckte eine weitere schwache Aura. Diese Aura bewegte sich nicht. Vorsichtig streckte er die Arme aus und machte einen Schritt nach vorn. Die erste Aura wich ihm aus, aber er ignorierte sie. Nach zehn Schritten stieß er auf eine Wand. Er legte die Hände auf die raue Oberfläche und tastete sich durch den Raum in die Richtung, in der er die andere Aura wahrgenommen hatte. Die erste Aura entfernte sich, dann näherte sie sich ihm plötzlich mit großer Eile. Er spürte einen schwachen Lufthauch im Nacken. Ohne darauf zu achten, setzte er seinen Weg fort.
Er ertastete den Türrahmen, dann einen Ärmel. Jemand nahm ihm die Augenbinde ab, und er sah sich plötzlich einem alten Mann gegenüber.
»Ich entschuldige mich dafür, dass ich Euch warten ließ«, erklärte der Mann. Dannyl erkannte die Stimme. Es war sein Führer. Hatte der Mann den Raum überhaupt verlassen?
Sein Führer bot ihm keine weiteren Erklärungen an, sondern öffnete die Tür. »Wenn Ihr mir jetzt bitte folgen wollt.«
Dannyl blickte sich in dem mittlerweile leeren Raum um, dann trat er in einen weiteren Gang hinein.
Diesmal gingen sie langsamer, und die Lampe baumelte in der Hand des Alten hin und her. Die Mauern waren solide gebaut. An jeder Wegbiegung war ein kleines Paneel mit seltsamen Symbolen darauf in die Ziegelsteine eingelassen. Es ließ sich unmöglich erraten, wie spät es war, aber Dannyl wusste, dass viele Stunden verstrichen sein mussten, seit er das erste Bolhaus betreten hatte. Er war sehr zufrieden mit sich, weil es ihm gelungen war, den Test des Mannes zu durchschauen. Hätten sie ihn auch zu den Dieben gebracht, wenn er sich als Magier zu erkennen gegeben hätte? Er bezweifelte es.
Es würde möglicherweise weitere Tests geben – er musste in jedem Fall vorsichtig sein. Er wusste nicht, wie nah er einem Gespräch mit Gorin bereits gekommen war. In der Zwischenzeit sollte er so viel wie möglich über die Menschen in Erfahrung bringen, mit denen er verhandeln wollte. Nachdenklich betrachtete er seinen Begleiter.
»Was ist ein ›Messer‹?«
Der alte Mann knurrte. »Ein Auftragsmörder.«
Dannyl blinzelte, dann unterdrückte er ein Lächeln. Das Kühne Messer war also ein wahrhaft passender Name. Wieso konnte der Besitzer damit durchkommen, dass er sein Gewerbe so offen zur Schau trug?
Nun, über diese Frage würde er später nachdenken. Für den Augenblick gab es nützlichere Dinge, die es herauszufinden galt.
»Gibt es noch irgendwelche anderen erfundenen Ausdrücke, die ich kennen sollte?«
Der alte Mann lächelte. »Wenn Euch jemand einen Boten schickt, ist das entweder eine Drohung für Euch – oder aber bereits die Ausführung dieser Drohung.«
»Ich verstehe.«
»Und ein Petz ist jemand, der die Diebe verrät. Zu der Sorte wollt Ihr gewiss nicht gehören. Sie führen ein kurzes Leben.«
»Ich werde es mir merken.«
»Wenn alles gut geht, wird man Euch als Klienten bezeichnen. Kommt ganz darauf an, weshalb Ihr hier seid.« Er blieb stehen und drehte sich zu Dannyl um. »Ich schätze, es wird langsam Zeit, das herauszufinden.«
Er klopfte an die Wand. Stille folgte, dann gaben die Ziegelsteine an zwei Stellen nach. Der alte Mann deutete auf die Öffnung.
Der Raum, den Dannyl nun betrat, war klein. Ein Tisch passte genau zwischen die Wände und versperrte den Weg zu dem hochgewachsenen Mann, der auf dem Stuhl dahinter saß. Außerdem bemerkte Dannyl noch zwei Türen, die einen Spaltbreit offen standen.
»Larkin, der Matten-Händler«, sagte der Mann. Seine Stimme war überraschend tief.
Dannyl neigte den Kopf. »Und Ihr seid?«
Der Mann lächelte. »Gorin.«
Für Besucher gab es keinen Stuhl. Dannyl trat näher an den Tisch heran. Gorin war kein gut aussehender Mann, aber sein massiger Körper bestand eher aus Muskeln denn aus Fett. Sein Haar war dicht und gewellt, und auf seinem Kinn spross wie dicke Wolle ein Bart. Er machte seinen Namensvettern, den gewaltigen Tieren, die die Kähne den Tarali-Fluss hinaufschleppten, alle Ehre.
»Ihr führt die Diebe?«, fragte Dannyl.
Gorins Mundwinkel zuckten. »Niemand führt die Diebe.«
»Woher weiß ich dann, ob ich mit dem richtigen Mann spreche?«
»Ihr wollt ein Abkommen treffen? Ihr trefft es mit mir.« Er breitete die Hände aus. »Wenn Ihr das Abkommen brecht, werde ich Euch bestrafen. Betrachtet mich als etwas zwischen einem Vater und einem König. Ich helfe Euch, aber wenn Ihr mich betrügt, werde ich Euch töten. Klingt das vernünftig?«
Dannyl schürzte die Lippen. »Ich dachte eher an etwas Ausgewogeneres. Ein Handel von Vater zu Vater vielleicht? Den Titel eines Königs möchte ich mir nicht anmaßen, obwohl er verlockend klingt.«
Wieder lächelte Gorin, aber das Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. »Was wollt Ihr, Mattenhändler Larkin?«
»Ich möchte, dass Ihr mir helft, jemanden zu finden.«
»Ah.« Der Dieb nickte. Er zog einen kleinen Schreibblock, einen Füllfederhalter und ein Tintenfass zu sich heran. »Wen?«
»Ein Mädchen. Zwischen vierzehn und sechzehn. Klein, mager, dunkles Haar.«
»Sie ist davongelaufen, wie?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ein Missverständnis.«
Gorin nickte mitfühlend. »Was glaubt Ihr, wo sie sich versteckt haben könnte?«
»In den Hütten.«
»Wenn sie noch lebt, werde ich sie finden. Wenn sie tot ist oder wir sie innerhalb eines bestimmten Zeitraums – den wir noch miteinander vereinbaren werden – nicht finden können, enden damit Eure Verpflichtungen mir gegenüber. Wie heißt sie?«
»Wir kennen ihren Namen noch nicht.«
»Ihr kennt…« Gorin blickte mit schmalen Augen auf. »Wir?«
Dannyl gestattete sich ein Lächeln. »Ihr müsst die Tests, denen Ihr Eure Besucher unterzieht, verfeinern.«
Gorins Augen weiteten sich kaum merklich. Dann schluckte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ach ja?«
»Was hattet Ihr mit mir vor, wenn ich Euren Test nicht bestanden hätte?«
»Euch an einen weit entfernten Ort zu bringen.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, dann hob er die Schultern. »Aber Ihr seid hier. Was wollt Ihr?«
»Wie ich schon sagte: Wir wollen, dass Ihr uns helft, das Mädchen zu finden.«
»Und wenn wir es nicht tun?«
Dannyl ließ das Lächeln auf seinem Gesicht erlöschen. »Dann wird sie sterben. Ihre eigenen Kräfte werden sie töten, und sie werden auch einen Teil der Stadt zerstören – obwohl ich Euch nicht sagen kann, wie groß genau der Schaden sein wird, da ich ihre Stärke nicht kenne.« Er machte einen Schritt nach vorn, legte die Hände auf den Tisch und sah den Dieb fest an. »Wenn Ihr uns helft, kann das durchaus zu Eurem Nutzen sein – obwohl Euch klar sein muss, dass die Dinge, die wir offiziell tun können, ihre Grenzen haben.«
Gorin musterte ihn schweigend. Schließlich legte er Feder und Papier fort und wandte den Kopf ganz leicht zur Seite. »He, Dagan! Hol einen Stuhl für unseren Besucher.«
Der Raum war dunkel und muffig. An der einen Wand stapelten sich Versandkisten, von denen viele zerbrochen waren. Wasserpfützen hatten sich in den Ecken gebildet, und überall sonst lag eine dicke Staubschicht.
»Hier hat dein Vater also seine Sachen versteckt?«, fragte Harrin.
Cery nickte. »Pas alter Lagerraum.« Er wischte den Staub von einer der Kisten und setzte sich.
»Hier gibt’s kein Bett«, bemerkte Donia.
»Wir werden irgendetwas zusammenbauen«, erwiderte Harrin. Er ging zu den Kisten hinüber und stöberte eine Weile herum.
Sonea war in der Tür stehen geblieben, entsetzt über die Aussicht, die Nacht an einem so kalten und unfreundlichen Ort verbringen zu müssen. Seufzend ließ sie sich auf die unterste Treppenstufe sinken. Sie hatten während der Nacht dreimal das Versteck gewechselt, um den Leuten aus dem Weg zu gehen, die versessen darauf waren, die Belohnung der Magier einzustreichen. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie tagelang nicht mehr geschlafen. Jetzt schloss sie die Augen und gestattete sich, ein wenig zu dösen. Harrins Gespräch mit Donia verblasste, ebenso wie der Klang von Schritten aus dem Gang hinter ihr.
Schritte?
Sonea schlug die Augen auf, drehte sich um und bemerkte ein Licht, das in einiger Entfernung in der Dunkelheit hin und her schwankte.
»He! Da kommt jemand.«
»Was?« Harrin durchquerte hastig den Raum und blickte in den Korridor hinaus. Er lauschte einen Moment lang, dann zog er Sonea auf die Füße und zeigte in die gegenüberliegende Ecke des Lagerraums. »Da rüber mit dir. Und lass dich auf keinen Fall sehen.«
Als Sonea seinen Befehl befolgt hatte, trat Cery neben Harrin. »Niemand kommt hierher«, sagte er. »Der Staub auf den Treppenstufen war unberührt.«
»Dann müssen sie uns gefolgt sein.«
Cery fluchte leise und wandte sich zu Sonea um. »Bedeck dein Gesicht. Vielleicht suchen sie etwas anderes.«
»Wir bleiben hier?«, fragte Donia.
Cery nickte. »Es bleibt uns nichts anderes übrig. Früher einmal gab es einen weiteren Gang, aber den haben die Diebe schon vor Jahren dicht gemacht. Deshalb habe ich es so lange vermieden, hierher zu kommen.«
Inzwischen waren die Schritte deutlicher zu hören. Harrin und Cery zogen sich von der Tür zurück und warteten. Sonea hüllte sich tiefer in ihren Kapuzenmantel und ging zu Donia hinüber, die an der gegenüberliegenden Wand stand.
Stiefel erschienen im Korridor, dann Hosen, Oberkörper und Gesichter, während die Neuankömmlinge langsam die Treppe hinunterstiegen. Vier Jungen traten durch die Tür. Sie sahen Harrin und Cery an, und als sie Sonea entdeckten, tauschten sie eifrige Blicke.
»Burril«, sagte Harrin. »Was hast du hier zu suchen?«
Ein stämmiger Junge mit muskulösen Armen ging breitbeinig auf Harrin zu. Sonea fröstelte. Dies war der Junge, der sie bezichtigt hatte, eine Spionin zu sein.
Ein Stich durchzuckte sie, als sie einen seiner Begleiter erkannte. Sie hatte Evin als einen der stilleren Jungen von Harrins Bande in Erinnerung. Er hatte ihr beigebracht, wie man beim Kästchenspiel mogeln konnte. Als er jetzt, eine schwere Eisenstange in der Hand, herumfuhr, lag keine Freundschaft mehr in seinem Blick. Sonea schauderte und wandte sich zur Seite.
Die beiden anderen Jungen hatten schwere Holzprügel mitgebracht. Wahrscheinlich hatten sie diese behelfsmäßigen Knüppel irgendwo entlang des Weges aufgelesen. Sonea rechnete sich verzweifelt ihre Chancen im Falle eines Kampfes aus. Vier gegen vier. Sie bezweifelte, dass Donia jemals zu kämpfen gelernt hatte oder dass eine von ihnen es mit Burrils Verbündeten würde aufnehmen können. Aber wenn sie sich beide zusammen auf einen dieser Jungen stürzten, konnten sie vielleicht etwas ausrichten. Sie bückte sich und griff nach einem Holzbrett von einer der zerbrochenen Kisten.
»Wir wollen nur das Mädchen«, erklärte Burril.
»Wir sind unter die Petze gegangen, wie, Burril?« Harrins Stimme troff vor Verachtung.
»Das Gleiche wollte ich dich eigentlich fragen«, entgegnete Burril. »Wir haben dich seit Tagen nicht mehr gesehen. Dann hören wir von der Belohnung, und plötzlich ergibt alles einen Sinn. Du wolltest das Geld für dich behalten.«
»Nein, Burril«, widersprach Harrin entschieden. »Sonea ist eine Freundin. Ich verkaufe meine Freunde nicht.«
»Unsere Freundin ist sie nicht«, erwiderte Burril und sah seine Gefährten an.
Harrin verschränkte die Arme vor der Brust. »So ist das also. Du hast nicht lange gebraucht, um dich zum Anführer aufzuschwingen. Du kennst die Regeln, Burril. Entweder du stehst auf meiner Seite, oder du bist draußen.« Er blickte zu Burrils Verbündeten hinüber. »Für euch drei gilt das Gleiche. Wollt ihr diesem Petz folgen?«
Obwohl die drei nicht von der Stelle wichen, wirkten sie ein wenig verunsichert. Ihre Mienen waren verschlossen.
»Hundert Goldstücke«, sagte Burril leise. »Ihr wollt auf so viel Geld verzichten, nur damit ihr diesem Narren weiter auf Schritt und Tritt folgen könnt? Wir könnten leben wie Könige.«
Die Mienen der Jungen verhärteten sich.
»Verschwinde, Burril«, knurrte Harrin.
Plötzlich blitzte in Burrils Hand ein Messer auf, und er deutete damit auf Sonea. »Nicht ohne das Mädchen. Schick sie rüber.«
»Nein.«
»Dann müssen wir sie uns holen.«
Burril trat einen Schritt auf Harrin zu. Als Burrils Kumpane Anstalten machten, ihn zu umzingeln, sprang Cery mit einem Satz neben seinen Freund, die Hände in den Taschen vergraben und einen stählernen Ausdruck in den Augen.
»Na komm schon, Harrin«, schmeichelte Burril. »Das ist doch gar nicht nötig. Überlass sie uns. Und anschließend teilen wir uns das Geld, ganz wie in alten Zeiten.«
Harrins Gesicht war verzerrt von Wut und Verachtung. Im nächsten Moment hatte auch er ein Messer in der Hand und sprang auf Burril zu. Burril wich ihm aus und hieb mit seiner eigenen Klinge auf den Älteren ein. Sonea stockte der Atem, als das Messer Harrins Ärmel aufschlitzte und eine rote Blutspur zurückließ. Evin versuchte, Harrin einen Hieb mit der Eisenstange zu versetzen, doch dieser wich mit einem geschickten Sprung aus.
Donia packte sie am Arm. »Halt sie auf, Sonea«, flüsterte sie drängend. »Benutz deine Magie!«
Sonea starrte das andere Mädchen an. »Aber… ich weiß nicht, wie!«
»Versuch einfach etwas. Irgendetwas!«
Als die beiden anderen Jungen auf ihn zukamen, zog Cery zwei Dolche aus seinen Taschen. Als sie die Waffen sahen, zögerten die Jungen. Die Dolche waren mit Lederriemen an seine Handgelenke gebunden, damit er im Notfall die Hände gebrauchen konnte, ohne die Waffen zu verlieren. Sonea konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Cery hatte sich wirklich nicht im Mindesten verändert.
Als der kräftigere der Angreifer auf ihn zusprang, bekam Cery dessen Handgelenk zu fassen und zog ihn ruckartig zu sich heran, so dass der Junge das Gleichgewicht verlor. Er taumelte, und sein Holzknüppel fiel klappernd zu Boden. Im nächsten Moment hatte Cery ihm den Arm auf den Rücken gedreht und versetzte ihm mit dem Knauf eines Dolchs einen betäubenden Schlag auf den Kopf.
Der Junge sackte auf die Knie. Als sein Gefährte seinen Knüppel in Cerys Richtung schwang, brachte dieser sich mit einem schnellen Schritt in Sicherheit. Hinter ihm wich Harrin Burrils nächstem Hieb aus. Während ihre beiden Beschützer ganz auf den Kampf konzentriert waren, schob Evin sich an ihnen vorbei und kam auf Sonea zu.
Seine Hände waren leer, wie Sonea erleichtert feststellte. Sie hatte keine Ahnung, wo die Eisenstange geblieben war. Vielleicht hatte er sie in seinen Mantel geschoben …
»Tu etwas!«, kreischte Donia und umklammerte Soneas Arm noch fester.
Sonea blickte auf das Brett in ihren Händen hinab. Es wäre sinnlos gewesen, in dieser Situation das Gleiche zu tun, was sie auf dem Nordplatz getan hatte. Hier gab es keinen magischen Schild, den sie durchdringen musste, und sie zweifelte daran, dass es Evin aufhalten würde, wenn sie ihm das Brett entgegenschleuderte.
Sie musste etwas anderes versuchen. Vielleicht konnte sie das Brett mit purer Willenskraft dazu bringen, ihren Widersacher härter zu treffen, wenn sie ihn damit schlug? Kann ich das tun? Sie blickte zu Evin auf. Soll ich es tun? Was ist, wenn ich ihn schwer verletze?
»Tu es!«, zischte Donia, während sie vor Evin zurückwich.
Sonea holte tief Luft, schleuderte Evin das Brett entgegen und gab dem Holz den Befehl, den Jungen umzuwerfen. Evin wehrte das Brett ab, ohne auch nur innezuhalten. Als er direkt vor Sonea stand, trat Donia zwischen die beiden.
»Wie kannst du das tun, Evin?«, fragte sie scharf. »Du warst einmal unser Freund. Ich erinnere mich daran, dass du und Sonea oft miteinander gespielt habt. Ist das –«
Evin packte Donia an den Schultern und stieß sie beiseite. Sonea machte einen Satz nach vorn und versetzte ihm mit aller Kraft, die sie besaß, einen Hieb in den Magen. Er schnappte nach Luft und taumelte einen Schritt zurück. Als sie wieder zuschlug – und diesmal zielte sie auf sein Gesicht –, wehrte er ihre Fäuste ab.
Plötzlich erklang ein erstickter Aufschrei. Sonea sah, dass Cerys Gegner sich den Arm hielt und zurücktaumelte. Dann krachte etwas gegen ihre Brust, und sie stürzte zu Boden. Evin hatte sich auf sie geworfen, und sosehr sie sich auch gegen ihn zur Wehr setzte, er war schwerer als sie und hielt sie unerbittlich fest.
»Geh runter von ihr!«, schrie Donia. Ein Holzbrett in Händen, stand das Mädchen vor Evin. Sie ließ das Brett auf seinen Kopf hinunterkrachen, und er heulte laut auf und rollte sich zur Seite. Donias zweiter Schlag traf ihn an der Schläfe. Erschlafft sackte er zu Boden.
Donia zielte noch einmal mit ihrer Waffe auf den bewusstlosen Jungen, dann entspannte sie sich und grinste Sonea an. Sie streckte die Hand aus und zog ihre Freundin auf die Füße. Als die beiden Mädchen sich umdrehten, sahen sie, dass Burril und Harrin noch immer kämpften. Cery hatte seine beiden Angreifer inzwischen einigermaßen unter Kontrolle: Einer hielt sich die Seite, und der andere sackte gerade, eine Hand gegen die Stirn gedrückt, an einer Wand hinunter.
»Hai!«, rief Donia. »Ich glaube, wir gewinnen!«
Burril trat einen Schritt von Harrin zurück und sah sie an. Er griff in eine seiner Taschen, dann machte er eine abrupte Handbewegung. Roter Staub erfüllte die Luft um Harrins Kopf herum.
Harrin fluchte laut, als der Papea-Staub ihm in den Augen zu brennen begann. Heftig blinzelnd wich er vor Burril zurück.
Als Donia einen Schritt auf Harrin zumachen wollte, packte Sonea das Mädchen am Arm.
Als Burril erneut zum Schlag ausholte, wich Harrin ihm abermals aus, allerdings nicht schnell genug. Ein Schmerzensschrei folgte, dann fiel Harrins Messer klappernd zu Boden. Cery schoss auf Burril zu, der sich gerade rechtzeitig umgedreht hatte, um seinen Angriff abzuwehren. Harrin ging in die Hocke und tastete nach seinem Messer. Er rieb sich immer noch die tränenden Augen.
Burril stieß Cery von sich und holte abermals eine Hand voll roten Staubs aus seinem Mantel. Cery reagierte zu spät. Das Gesicht schmerzverzerrt, schwankte er unsicher, während Burril ihn von neuem angriff.
»Er wird die beiden töten!«, schrie Donia.
Sonea bückte sich und hob ein anderes Holzbrett vom Boden auf. Einen Moment lang schloss sie die Augen und versuchte sich daran zu erinnern, was sie auf dem Nordplatz getan hatte. Sie konzentrierte sich auf ihre Wut, auf ihre Angst und ließ ihr ganzes Wesen von diesen beiden Gefühlen ergreifen. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Brett und schlug mit aller Kraft zu.
Das Brett traf Burril im Rücken, und er drehte sich mit einem Ächzen zu ihr um. Dann riss er die Arme hoch, als Donia ihn mit allem zu bewerfen begann, was sie finden konnte.
»Benutz deine Magie«, bedrängte Donia Sonea erneut.
»Ich habe es versucht. Es funktioniert nicht.«
»Dann versuch es noch einmal«, stieß Donia atemlos hervor.
Burril schob eine Hand in die Tasche und zog ein winziges Päckchen hervor. Als Sonea es erkannte, wallte Ärger in ihr auf. Sie wollte Burril schon das Brett an den Kopf werfen, als sie plötzlich zögerte.
Vielleicht konzentrierte sie sich zu sehr auf die Wucht des Wurfes. Magie war nichts Körperliches. Donia warf eine Kiste nach Burril. Sie selbst hatte es nicht nötig, irgendetwas zu werfen…
Sie konzentrierte ihren Willen auf die Kiste, gab ihr einen geistigen Stoß und wollte sie gerade heftig genug nach vorn schnellen lassen, um Burril bewusstlos zu schlagen.
Sie spürte, wie sich etwas in ihrem Innern löste.
Ein Lichtblitz durchzuckte den Raum, und die Kiste brach in Flammen aus. Burril heulte laut auf, als sie auf ihn zuflog, dann brachte er sich mit einem Sprung in Sicherheit. Die Kiste krachte zu Boden und kam in einer Pfütze zu liegen. Das Wasser zischte, dann war es auch schon verdunstet.
Das Päckchen mit Papea-Staub fiel zu Boden. Burril starrte Sonea an. Lächelnd bückte sie sich, um nach einem weiteren Brett zu greifen, dann richtete sie sich auf und musterte ihn kühl.
Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Ohne einen Blick auf seine Verbündeten zu werfen, hechtete er zur Tür und rannte taumelnd davon.
Ein leises Geräusch hinter ihr erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie drehte sich um. Evin stand nur wenige Schritte entfernt. Er wich vor ihr zurück, dann stürzte auch er zur Tür hinüber. Als die beiden anderen Jungen ihre Gefährten verschwinden sahen, rappelten sie sich hoch und folgten ihnen.
Während ihre Schritte verhallten, brach Harrin in lautes Gelächter aus. Er erhob sich, schwankte ein wenig und ging dann bedächtig zur Tür. »Wo liegt das Problem?«, rief er. »Habt ihr geglaubt, sie würde euch einfach erlauben, sie mitzunehmen?« Dann grinste er Sonea an. »Gut gemacht!«
»Hübsches Finale«, stimmte Cery ihm zu. Er schnitt eine Grimasse und rieb sich das Gesicht. Dann griff er in seinen Mantel, zog ein kleines Fläschchen daraus hervor und begann, sich mit dem Inhalt die Augen zu spülen. Donia eilte an Harrins Seite und untersuchte seine Verletzungen.
»Die müssen verbunden werden. Tut dir etwas weh, Cery?«
»Nein.« Cery reichte ihr das Fläschchen.
Donia machte sich daran, auch Harrins Gesicht zu waschen. Seine Haut war rot und fleckig. »Das wird noch tagelang brennen. Meinst du, du könntest ihn heilen, Sonea?«
Sonea schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Dieses Holz hätte kein Feuer fangen sollen. Was ist, wenn ich Harrin zu heilen versuche und ihn stattdessen verbrenne?«
Donia sah Sonea mit weit aufgerissenen Augen an. »Was für ein schrecklicher Gedanke.«
»Du brauchst Übung«, erklärte Cery.
Sonea drehte sich zu ihm um. »Ich brauche Zeit, um zu üben, und einen Ort, an dem ich keine Aufmerksamkeit auf mich lenke, wenn ich es tue.«
Er zog einen Lappen aus seinem Mantel und wischte seine Dolche ab. »Sobald sich das hier herumspricht, werden die Leute zu große Angst haben, um noch länger Jagd auf dich zu machen. Das wird uns ein wenig Spielraum geben.«
»Nein, wird es nicht«, widersprach ihm Harrin. »Du kannst darauf wetten, dass Burril und die anderen niemandem von diesem Vorfall erzählen werden. Und selbst wenn sie reden, werden einige Leute denken, dass sie es besser machen können.«
Cery runzelte die Stirn, dann fluchte er.
»In diesem Fall sollten wir besser zusehen, dass wir von hier verschwinden«, sagte Donia. »Wohin gehen wir als Nächstes, Cery?«
Er kratzte sich am Kopf und lächelte schließlich. »Wer hat Geld?«
Harrin und Donia sahen Sonea an.
»Das Geld gehört nicht mir«, protestierte sie. »Es gehört Jonna und Ranel.«
»Sie hätten bestimmt nichts dagegen, wenn du ein wenig davon ausgibst, um dein Leben zu retten«, erwiderte Donia.
»Und sie würden dich für ziemlich dumm halten, wenn du es nicht tätest«, fügte Cery hinzu.
Seufzend griff Sonea in ihre Bluse und tastete nach der Schnalle des Geldbeutels. »Ich schätze, falls ich jemals aus diesem Schlamassel herauskomme, kann ich ihnen das Geld zurückzahlen.« Sie sah Cery an. »Ich hoffe, du findest sie bald.«
»Keine Sorge«, beruhigte er sie. »Sobald du in Sicherheit bist, mache ich mich auf die Suche nach deinem Onkel und deiner Tante. Für den Augenblick denke ich, dass wir uns trennen sollten. In einer Stunde treffen wir uns hier wieder. Ich habe einen Ort im Sinn, an dem bestimmt niemand nach dir Ausschau halten wird. Wir können nur ein paar Stunden dort bleiben, aber das wird uns eine Gelegenheit geben, uns ein neues Versteck zu überlegen.«
Rothen verlangsamte seine Schritte, als er die Gärten erreichte. Die Luft war kalt, aber nicht unangenehm, und nach dem hektischen Getriebe der Stadt war ihm die Stille hier hochwillkommen. Er holte tief Atem und seufzte.
Obwohl er zahlreiche Informanten befragt hatte, hatten nur wenige ihm nützliche Hinweise geben können. Die meisten Informanten waren in der Hoffnung gekommen, dass irgendetwas von dem, was sie sagten – und sei es auch noch so geringfügig –, zu Soneas Gefangennahme führen und ihnen die Belohnung eintragen würde. Einige wenige waren nur gekommen, um sich über kleine Kümmernisse mit der Gilde zu beklagen.
Andere jedoch hatten behauptet, junge Mädchen gesehen zu haben, die sich versteckt hielten. Nach einigen Streifzügen durch die Hüttensiedlungen wurde offenkundig, dass es jede Menge Straßenkinder gab, die sich in dunklen Winkeln verbargen. Gespräche mit den anderen Magiern, die die Informanten befragt hatten, enthüllten viele ähnliche Enttäuschungen.
Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn man auf den Plakaten ein Bild des Mädchens hätte abdrucken können. Rothen dachte wehmütig an seinen verstorbenen Mentor, Lord Margen, der erfolglos nach einer Möglichkeit gesucht hatte, mentale Bilder auf Papier zu überführen. Dannyl hatte die Herausforderung angenommen, bisher jedoch kaum Fortschritte gemacht.
Er fragte sich, wie es Dannyl ergangen sein mochte. Sie hatten sich kurz mithilfe von Gedankenrede verständigt, daher wusste er, dass sein Freund wohlauf war und bei Sonnenuntergang zurückkehren würde. Natürlich konnten sie nicht über Dannyls wahre Beweggründe für seinen Besuch im Hüttenviertel sprechen, da immer die Möglichkeit bestand, dass andere Magier ihr Gespräch mit anhörten. Trotzdem hatte Rothen eine vielversprechende Zufriedenheit bei seinem Freund wahrgenommen.
»… weiß… Rothen…«
Als Rothen seinen eigenen Namen hörte, blickte er auf. Das dichte Blätterwerk der Gartenhecken verbarg den Sprecher, aber Rothen war sich sicher, dass er die Stimme erkannt hatte.
»… diese Dinge darf man nicht überstürzen.«
Die Stimme gehörte Administrator Lorlen. Die beiden Männer kamen jetzt auf Rothen zu. Dieser zog sich in einen kleinen Innenhof zurück, setzte sich auf eine Bank und lauschte angestrengt, während die Unterredung deutlicher wurde.
»Ich habe Eure Forderung zur Kenntnis genommen, Fergun«, sagte Lorlen geduldig. »Mehr kann ich nicht tun. Wenn wir das Mädchen gefunden haben, wird die Angelegenheit auf die gewohnte Art und Weise abgewickelt werden. Für den Augenblick interessiert mich nur die Suche nach ihr.«
»Aber sind all diese… diese Umstände wirklich nötig? Rothen war nicht der Erste, der von ihrem Potenzial erfahren hat. Das war ich! Wie kann er mir meine Ansprüche streitig machen?«
Die Stimme des Administrators klang vollkommen unbewegt, als er antwortete, aber sein Schritt verriet Eile. Rothen schmunzelte, als die beiden Männer vorbeigingen.
»Es sind keine Umstände, Fergun«, antwortete Lorlen streng. »Es ist das Gesetz der Gilde. Das Gesetz besagt –«
»›Der Magier, der als Erster magisches Potenzial bei einem anderen erkennt, hat das Recht, diesen zu seinem Schüler zu machen‹«, zitierte Fergun hastig. »Ich war der Erste, der die Wirkung ihrer Kraft gespürt hat, nicht Rothen.«
»Trotzdem kann die Angelegenheit erst entschieden werden, wenn das Mädchen gefunden ist…«
Die beiden hatten sich inzwischen ein gutes Stück von Rothen entfernt, und er konnte ihre Worte nicht länger verstehen. Er erhob sich von der Bank und schlenderte langsam auf die Magierquartiere zu.
Also hatte Fergun die Absicht, sich zum Mentor des Mädchens machen zu lassen. Als Rothen angeboten hatte, die Verantwortung für ihre Ausbildung zu übernehmen, hatte er geglaubt, dass kein anderer Magier ihm diese Aufgabe streitig machen würde. Schon gar nicht Fergun, der die unteren Klassen stets mit Verachtung betrachtet hatte.
Rothen lächelte vor sich hin. Das würde Dannyl gar nicht gefallen. Sein Freund hegte eine tiefe Abneigung gegen Fergun, seit sie beide Novizen gewesen waren. Wenn er die Neuigkeit erfuhr, würde Dannyl erst recht entschlossen sein, das Mädchen selbst zu finden.
Es war Jahre her, seit Cery das letzte Mal ein Badehaus besucht hatte, und die teuren Privaträume hatte er nie zu Gesicht bekommen. Sauber geschrubbt und in ein dickes Handtuch gehüllt, war ihm zum ersten Mal seit Tagen warm genug, und er war bester Laune, als er dem Handtuchmädchen jetzt in einen luftigen Trockenraum folgte. Sonea saß auf einer Simba-Matte. Ihr magerer Körper verlor sich beinahe in dem schweren Handtuch, und ihr Gesicht glühte, so intensiv hatten die Badehausmädchen sie bearbeitet. Als er sie so entspannt sah, wurde Cerys ohnehin gute Laune noch besser.
Er grinste sie an. »Hai! Was für eine Wonne! Jonna wäre sicher hochzufrieden mit uns!«
Sonea zuckte zusammen, und Cery bedauerte seine Worte sofort.
»Tut mir leid, Sonea.« Er grinste entschuldigend. »Ich hätte dich nicht daran erinnern sollen.« Er ließ sich neben ihr auf die Matte sinken und lehnte sich an die Wand. »Wenn wir leise sprechen, dürfte eigentlich keine Gefahr drohen«, fügte er flüsternd hinzu.
Sie nickte. »Was jetzt? Hier können wir nicht bleiben.«
»Ich weiß. Ich habe darüber nachgedacht.« Er seufzte. »Die Dinge stehen ziemlich schlimm, Sonea. Unter normalen Umständen wäre es einfach gewesen, dich vor den Magiern zu verstecken, aber die Belohnung hat die Situation verändert. Ich kann niemandem mehr trauen. Ich kann keine alten Schulden einfordern, und… und mir sind die Verstecke ausgegangen, wo ich dich unterbringen könnte.«
Sie erbleichte. »Was sollen wir dann tun?«
Er zögerte. Nach dem Kampf mit Burril und seinen Gefährten war ihm klar geworden, dass Sonea jetzt nur noch eine einzige Möglichkeit blieb. Die Idee würde ihr nicht gefallen – und ihm gefiel sie auch nicht. Wenn es nur irgendjemanden gegeben hätte, dem er trauen konnte. Er schüttelte den Kopf und wandte sich zu Sonea um.
»Ich denke, wir sollten die Diebe bitten, uns zu helfen.«
Soneas Augen weiteten sich. »Bist du wahnsinnig geworden?!«
»Wahnsinnig wäre ich, wenn ich versuchte, dich weiter selbst zu verstecken. Früher oder später wird irgendjemand dich verraten.«
»Und was ist mit den Dieben? Warum sollten sie mich nicht verraten?«
»Du hast etwas, das sie haben wollen.«
Sie runzelte die Stirn, dann verdüsterte sich ihre Miene. »Magie?«
»Genau das. Ich wette, sie hätten liebend gern ihre eigene Magierin.« Er strich mit den Fingerspitzen über die Matten. »Sobald du unter ihrem Schutz stehst, wird niemand dich anrühren. Niemand stellt sich den Dieben in den Weg. Nicht einmal für hundert Goldmünzen.«
Sie schloss die Augen. »Jonna und Ranel haben immer gesagt, dass man von den Dieben nie wieder freikommt. Sie schlagen dir ihre Haken ins Fleisch und halten dich dein Leben lang fest. Selbst wenn ein Handel abgeschlossen und erledigt ist, kannst du deine Schulden ihnen gegenüber niemals wirklich begleichen.«
Cery schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass du schlimme Geschichten gehört hast. Jeder hat diese Geschichten gehört. Du brauchst dich lediglich an ihre Regeln zu halten, dann werden sie dich anständig behandeln. Das hat mein Pa immer gesagt.«
»Sie haben deinen Pa getötet.«
»Er war dumm. Er hat sie verraten.«
»Was ist, wenn…?« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Welche Wahl habe ich schon? Wenn ich nicht zu den Dieben gehe, wird die Gilde mich finden. Ich schätze, es ist immer noch besser, ein Sklave der Diebe zu sein, als zu sterben.«
Cery schnitt eine Grimasse. »So wird es nicht sein. Sobald du gelernt hast, deine Kräfte zu benutzen, wirst du wichtig sein und beträchtliche Macht haben. Sie werden dir eine Menge Raum lassen. Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Schließlich werden sie dich zu nichts zwingen können, was du nicht tun willst, nicht wahr?«
Sie blickte ihm beinahe unerträglich lange forschend ins Gesicht. »Du bist dir da selbst nicht sicher, hab ich Recht?«
Er zwang sich, ihr in die Augen zu sehen. »Ich bin mir sicher, dass es deine einzige Chance ist. Ich bin mir sicher, dass sie dich anständig behandeln werden.«
»Aber?«
Er seufzte. »Ich bin mir nicht sicher, was sie als Gegenleistung von dir verlangen werden.«
Sie nickte, dann lehnte sie sich zurück und starrte minutenlang an die Wand.
»Wenn du glaubst, dass ich es tun sollte, dann werde ich es tun, Cery. Lieber gehe ich zu den Dieben, als mich der Gilde auszuliefern.«
Als er ihr schneeweißes Gesicht betrachtete, kehrte das mittlerweile so vertraute Unbehagen zurück, nur dass es sich diesmal mehr wie Schuld anfühlte. Sie hatte Angst, aber sie würde den Dieben trotzdem mit ihrer gewohnten Entschlossenheit gegenübertreten. Was ihn keineswegs tröstete, sondern seine Sorgen nur verschlimmerte. Obwohl er sich nichts vormachte, was seine Fähigkeit betraf, sie zu beschützen, kam es ihm doch wie Verrat vor, sie zu den Dieben zu bringen. Er wollte sie nicht noch einmal verlieren.
Aber er hatte keine andere Wahl.
Schließlich stand er auf und ging zur Tür. »Ich werde mich auf die Suche nach Harrin und Donia machen«, erklärte er. »Kommst du allein zurecht?«
Sie blickte nicht zu ihm auf, sondern nickte nur.
Das Handtuchmädchen stand im Korridor. Er fragte sie nach Harrin und Donia, und das Mädchen deutete mit dem Kopf auf die Tür gleich nebenan. Cery biss sich auf die Unterlippe und klopfte.
»Herein«, rief Harrin.
Harrin und Donia saßen auf Simba-Matten. Donia rubbelte sich das Haar mit einem Handtuch trocken.
»Ich habe es ihr gesagt, und sie ist einverstanden.«
Harrin runzelte die Stirn. »Ich bin mir immer noch nicht sicher. Wie wäre es, wenn wir sie aus der Stadt hinausbrächten?«
Cery schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass wir weit kommen würden. Du kannst fest davon ausgehen, dass die Diebe inzwischen genau über sie Bescheid wissen. Sie haben mit Sicherheit herausgefunden, wo sie gewesen ist und wo sie gewohnt hat. Sie werden wissen, wie sie aussieht, wer ihre Eltern waren und wo ihr Onkel und ihre Tante sich jetzt aufhalten. Es wird nicht schwierig sein, von Burril und seinen Kumpanen zu erfahren, dass sie –«
»Wenn sie so viel wissen«, unterbrach ihn Donia, »warum sind sie dann nicht einfach aufgetaucht und haben sie in ihre Gewalt gebracht?«
»So arbeiten die Diebe nicht«, antwortete Cery. »Sie machen lieber Geschäfte; so sind die meisten Leute, die für sie arbeiten, zufrieden und verursachen später keinen Ärger. Sie könnten zu uns kommen und uns ihren Schutz anbieten, aber das haben sie nicht getan. Deshalb glaube ich, dass sie sich nicht sicher sind, ob sie wirklich über Magie gebietet. Wenn wir nicht zu ihnen gehen, werden sie einen von ihren Leuten ausschicken, der Sonea an die Magier ausliefert. Deshalb würden wir sie niemals aus der Stadt herausbekommen.«
Donia und Harrin tauschten einen Blick.
»Was sagt sie denn dazu?«, fragte Donia.
Cery schnitt eine Grimasse. »Sie hat die Geschichten gehört. Sie hat Angst, aber sie weiß, dass ihr nichts anderes übrig bleibt.«
Harrin stand auf. »Bist du dir wirklich sicher, dass das das Richtige ist, Cery?«, fragte er. »Ich dachte, du hättest ein Auge auf sie geworfen. Du wirst sie vielleicht nicht wiedersehen.«
Cery blinzelte überrascht, und er spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. »Glaubst du, ich würde sie wiedersehen, wenn die Magier sie bekämen?«
Harrin seufzte leise. »Nein.«
Cery begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Ich werde sie begleiten. Sie sollte jemanden um sich haben, der ihr vertraut ist. So kann ich mich wenigstens nützlich machen.«
Harrin fasste Cery am Arm. Er blickte ihm forschend in die Augen, dann ließ er ihn wieder los.
»Dann werden wir dich auch nicht mehr allzu häufig sehen?«
Cery schüttelte den Kopf. Gewissensbisse durchzuckten ihn. Harrin hatte vier Mitglieder seiner Bande verloren und war sich nicht mehr sicher, was die übrigen betraf. Jetzt musste er sich auch noch von seinem engsten Freund verabschieden. »Ich komme vorbei, wann immer ich kann. Gellin denkt ohnehin schon, dass ich für die Diebe arbeite.«
Harrin lächelte. »Also gut. Wann wirst du sie zu ihnen bringen?«
»Heute Nacht.«
Donia legte Cery eine Hand auf den Arm. »Aber was ist, wenn sie sie nicht haben wollen?«
Cery verzog grimmig das Gesicht. »Sie werden sie haben wollen.«
Der Flur im Wohntrakt der Magier lag still und verlassen da. Dannyls Schritte hallten laut wider, als er auf Yaldins Tür zuging. Er klopfte an und wartete. Leise Geräusche drangen aus dem Raum vor ihm. Dann erhob sich eine Frauenstimme über das Gemurmel.
»Er hat was getan?«
Einen Moment später wurde die Tür geöffnet. Ezrille, Yaldins Gemahlin, lächelte geistesabwesend und trat beiseite, um Dannyl hereinzulassen. Mehrere gepolsterte Stühle standen um einen niedrigen Tisch herum, und auf zweien davon saßen Yaldin und Rothen.
»Er hat der Garde befohlen, den Mann aus seinem Haus zu vertreiben«, sagte Yaldin.
»Nur weil er Kindern erlaubt hat, auf seinem Dachboden zu schlafen? Das ist ja schrecklich!«, entfuhr es Ezrille. Dann bedeutete sie Dannyl, Platz zu nehmen.
Yaldin nickte. »Guten Abend, Dannyl. Wollt Ihr eine Tasse Sumi?«
»Guten Abend«, erwiderte Dannyl, während er sich auf einen Stuhl fallen ließ. »Für eine Tasse Sumi wäre ich dankbar, ja. Ich habe einen langen Tag hinter mir.«
Rothen zog die Augenbrauen in die Höhe und sah seinen Freund fragend an. Dannyl zuckte die Achseln. Er wusste, dass Rothen darauf brennen würde, Näheres über seine Verhandlungen mit den Dieben zu erfahren, aber zuerst wollte Dannyl wissen, was Ezrille, die normalerweise so friedlich und versöhnlich war, derart in Wut versetzt hatte.
»Was habe ich verpasst?«
»Gestern ist einer unserer Sucher einem Informanten in ein Haus in dem besseren Teil der Hüttensiedlungen gefolgt«, erklärte Rothen. »Der Besitzer hat obdachlose Kinder auf seinem Dachboden schlafen lassen, und der Informant hat behauptet, dass sich dort auch ein älteres Mädchen versteckt halte. Unser Kollege meint, das Mädchen und seine Begleiter seien kurz vor seiner Ankunft mithilfe des Hausbesitzers entkommen. Also hat er der Wache befohlen, den Mann und seine Familie auf die Straße zu setzen.«
Dannyls Miene verdüsterte sich. »Unser Kollege? Wer…?« Er spitzte die Lippen. »Könnte es sich dabei zufällig um einen gewissen Krieger namens Fergun handeln?«
»Es könnte.«
Dannyl gab einen Knurrlaut von sich, dann lächelte er, als Ezrille ihm eine dampfende Tasse Sumi reichte. »Vielen Dank.«
»Also, was ist passiert?«, hakte Ezrille nach. »Hat man den Mann tatsächlich aus seinem Heim vertrieben?«
»Lorlen hat natürlich Widerspruch gegen diesen Befehl eingelegt«, erwiderte Yaldin, »aber Fergun hatte das Haus bereits zum großen Teil zerstört – angeblich, um nach Verstecken zu suchen.«
Ezrille schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass Fergun so… so…«
»Dass er so rachsüchtig sein könnte?«, schnaubte Dannyl. »Es überrascht mich, dass er nicht auf den Gedanken gekommen ist, den armen Mann zum Verhör abzuführen.«
»Das würde er nicht wagen«, sagte Yaldin verächtlich.
»Nicht jetzt«, pflichtete Dannyl ihm bei.
Rothen lehnte sich seufzend auf seinem Stuhl zurück. »Es kommt noch mehr. Ich habe heute Abend ein interessantes Gespräch mitangehört. Fergun verlangt, dass man ihn zu ihrem Mentor macht.«
Dannyl erstarrte das Blut in den Adern.
»Fergun?« Ezrille schnalzte mit der Zunge. »Er ist kein starker Magier. Ich dachte, die Gilde sähe es nicht gern, wenn schwächere Magier Novizen unter ihre Fittiche nehmen.«
»Das ist richtig«, erwiderte Yaldin. »Aber es gibt kein Gesetz, das das verbietet.«
»Welche Chancen hat er, mit seiner Forderung durchzukommen?«
»Er behauptet, er sei der Erste gewesen, der ihr Potenzial entdeckt habe, weil er als Erster dessen Auswirkungen zu spüren bekommen hat«, erklärte Rothen.
»Ist das ein gutes Argument?«
»Ich hoffe nicht«, murmelte Dannyl.
Diese Neuigkeit beunruhigte ihn. Er kannte Fergun gut. Zu gut. Weshalb wollte Fergun, der nur Verachtung für die niederen Klassen hatte, ein Mädchen aus den Hütten?
»Vielleicht will er sich dafür rächen, dass sie ihn auf dem Nordplatz gedemütigt hat?«
Rothen runzelte die Stirn. »Also, Dannyl –«
»Man muss diese Möglichkeit in Betracht ziehen«, unterbrach ihn Dannyl.
»Fergun würde sich wegen einer kleinen Schramme nicht solche Mühe machen, selbst wenn der Vorfall sein Ego verletzt hat«, sagte Rothen entschieden. »Er möchte einfach nur derjenige sein, der sie gefangen nimmt – und er will verhindern, dass seine Leistung anschließend in Vergessenheit gerät.«
Dannyl wandte den Blick ab. Der ältere Magier hatte nie begriffen, dass seine Abneigung gegen Fergun weit mehr war als nur ein Groll aus Novizentagen. Dannyl hatte am eigenen Leib erfahren, wie entschlossen Fergun sein konnte, wenn es um Rache ging.
»Ich sehe da einen unangenehmen Streit auf uns zukommen.« Yaldin kicherte. »Die arme Kleine hat ja keine Ahnung, wie viel Aufruhr sie in der Gilde gestiftet hat. Es kommt nicht oft vor, dass zwei Magier gleichzeitig verlangen, zum Mentor eines Novizen zu werden.«
Rothen schnaubte leise. »Ich bin davon überzeugt, dass das die geringste ihrer Sorgen ist. Nach dem, was auf dem Nordplatz geschehen ist, ist sie wahrscheinlich davon überzeugt, dass wir sie töten wollen.«
Yaldins Lächeln verblasste. »Unglücklicherweise können wir sie nicht vom Gegenteil überzeugen, solange wir sie nicht gefunden haben.«
»Oh, da bin ich mir nicht so sicher«, warf Dannyl leise ein.
Rothen blickte auf. »Hast du einen Vorschlag, Dannyl?«
»Ich nehme an, dass mein neuer Freund bei den Dieben seine eigene Methode hat, Informationen in den Hüttenvierteln zu verbreiten.«
»Freund?« Yaldin stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Jetzt nennt Ihr sie schon Freunde.«
»Verbündete.« Dannyl verzog spitzbübisch die Lippen.
»Ich darf also davon ausgehen, dass du einen gewissen Erfolg verzeichnen konntest?« Rothen zog eine Augenbraue in die Höhe.
»Einen kleinen Erfolg. Einen Anfang.« Dannyl breitete die Hände aus. »Ich glaube, dass ich mit einem ihrer Anführer gesprochen habe.«
Ezrilles Augen weiteten sich. »Wie ist er denn so?«
»Er heißt Gorin.«
»Gorin?« Yaldin wirkte ratlos. »Was für ein seltsamer Name.«
»Anscheinend geben die Anführer sich Tiernamen. Ich vermute, dass sie sich einen Titel aussuchen, der zu ihrer äußeren Erscheinung passt, denn der Mann hat eindeutig große Ähnlichkeit mit seinen Namensvettern. Er ist riesig und behaart. Ich habe fast damit gerechnet, Hörner zu sehen.«
»Also, was hat er gesagt?«, fragte Rothen interessiert.
»Er hat keine Versprechen gegeben. Ich habe ihm erklärt, wie gefährlich es ist, sich in der Nähe einer Magierin aufzuhalten, die noch nicht gelernt hat, ihre Kräfte zu kontrollieren. Er schien sich mehr Gedanken darüber zu machen, welche Gegenleistung die Gilde erbringen wird, wenn er das Mädchen findet.«
Yaldin verzog den Mund. »Die Höheren Magier werden einem Handel mit den Dieben gewiss nicht zustimmen.«
Dannyl machte eine wegwerfende Handbewegung. »Natürlich nicht. Ich habe es ihm erklärt, und er hat es verstanden. Ich denke, er würde sich mit Geld zufrieden geben.«
»Geld?« Yaldin schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht…«
»Da wir ohnehin schon eine Belohnung ausgesetzt haben, dürfte es wohl kaum noch eine Rolle spielen, wenn sie an die Diebe geht.« Dannyl breitete die Arme aus. »Es ist ohnehin klar, dass das Geld an jemanden aus dem Hüttenring gehen wird, deshalb wird sich niemand wundern, dass der Empfänger eine zweifelhafte Erscheinung ist.«
Ezrille verdrehte die Augen. »Nur Ihr bringt es fertig, eine solche Bemerkung vollkommen vernünftig klingen zu lassen, Dannyl.«
Dannyl grinste. »Oh, es kommt noch besser. Wenn wir die Sache geschickt einfädeln, werden sich anschließend alle auf die Schulter klopfen, weil es ihnen gelungen ist, die Diebe dazu zu bewegen, der Stadt einen guten Dienst zu erweisen.«
Ezrille lachte. »Ich hoffe, die Diebe wissen das nicht, sonst würden sie sich weigern, Euch zu helfen.«
»Nun, für den Augenblick muss es ein Geheimnis bleiben«, erwiderte Dannyl. »Ich möchte keinen Aufruhr in der Gilde, bevor ich weiß, ob Gorin uns helfen wird oder nicht. Kann ich mich auf Euer Stillschweigen verlassen?«
Er sah die anderen an. Ezrille nickte begeistert. Rothen neigte den Kopf. Yaldin runzelte die Stirn, dann hob er die Schultern.
»In Ordnung. Aber seid vorsichtig, Dannyl. Es ist nicht nur Eure Haut, die Ihr hier riskiert.«
»Ich weiß.« Dannyl lächelte. »Ich weiß.«
Wenn man im Licht einer Lampe über die »Straße der Diebe« ging, kam man erheblich schneller voran als jemand, der sich in der Dunkelheit durch das Labyrinth der unterirdischen Gänge tastete. Und interessanter war es außerdem. Die Wände der Tunnel waren aus einer scheinbar endlosen Vielzahl von Ziegelsteinen erbaut. In das Mauerwerk waren Symbole eingeritzt, und rätselhafte Zeichen markierten einige der größeren Wegkreuzungen.
An einer solchen Kreuzung von Korridoren blieb der Führer stehen und stellte seine Lampe auf den Fußboden. Dann zog er ein schwarzes Tuch aus der Tasche.
»Von hier an müsst ihr mit verbundenen Augen weitergehen.«
Cery nickte und stand still, während der Mann ihm einen Stoffstreifen um die Augen band. Anschließend trat der Mann hinter Sonea, und sie spürte, wie grober Stoff fest um ihr Gesicht gebunden wurde. Dann legte ihr Führer ihr eine Hand auf die linke Schulter, und irgendjemand griff nach ihrem rechten Arm und zog sie hinter sich her durch den Gang.
Obwohl sie versuchte, sich die verschiedenen Richtungswechsel einzuprägen, verlor sie schon bald die Orientierung. Sie schlurften langsam durch die Dunkelheit. Schwache Geräusche drangen an ihre Ohren: Stimmen, Schritte, tropfendes Wasser und einige Laute, die Sonea nicht identifizieren konnte. Die Haut unter der Augenbinde juckte, aber sie wagte es nicht, sich zu kratzen, damit der Führer nicht auf den Gedanken kam, dass sie unter dem Stoff hindurchzuspähen versuchte.
Als der Mann wieder stehen blieb, stieß Sonea einen Seufzer der Erleichterung aus. Jemand nahm ihr die Augenbinde ab. Sie blickte Cery an, und er antwortete ihr mit einem aufmunternden Lächeln.
Der Führer zog einen polierten Stock unter seinem Mantel hervor und stieß ihn in ein Loch in der Mauer. Nach einem kurzen Augenblick schwang ein Teil der Wand nach innen, und ein großer, muskulöser Mann trat durch die Öffnung.
»Ja?«
»Ceryni und Sonea für Faren«, erklärte der Führer.
Der Mann nickte, öffnete die Tür ein wenig weiter und deutete mit dem Kopf auf Sonea und Cery.
»Geht rüber.«
Cery zögerte, dann drehte er sich zu dem Führer um. »Ich habe darum gebeten, dass man mich zu Ravi bringt.«
Der Mann lächelte schief. »Dann muss Ravi wollen, dass du mit Faren sprichst.«
Cery zuckte die Achseln, dann schob er sich durch die Tür. Sonea, die ihm folgte, fragte sich, ob ein Dieb, der nach einem giftigen, achtbeinigen Insekt benannt war, gefährlicher war als ein Dieb, der den Namen eines Nagetiers trug.
Sie kamen in einen kleinen Raum. Zwei stämmige Männer, die zu beiden Seiten auf Stühlen saßen, musterten sie eingehend. Der Erste schloss die Tür hinter ihnen, öffnete dann eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite und bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
An den Wänden des nächsten Raums hingen Laternen, die Kreise aus warmem, gelbem Licht an die Decke zeichneten. Auf dem Boden lag ein dicker Teppich mit goldfarbenen Quasten. Auf der anderen Seite des Raums saß ein dunkelhäutiger Mann in schwarzer, eng anliegender Kleidung an einem Tisch. Verblüffend helle, gelbe Augen leuchteten aus seinem Gesicht und unterzogen sie einer gründlichen Betrachtung.
Sonea starrte den Mann an. Der Dieb war ein Lonmar, ein Vertreter der stolzen Wüstenrasse, deren Land weit nördlich von Kyralia lag. In Imardin traf man nur selten auf Lonmar; es gab nicht viele von ihnen, die außerhalb ihrer eigenen starren Kultur lebten. Diebstahl galt in Lonmar als ein übles Vergehen; die Menschen dort glaubten, dass man einen Teil seiner Seele verlor, wenn man jemandem etwas stahl, auch wenn es nur eine Kleinigkeit war. Und trotzdem hatte sie hier einen lonmarischen Dieb vor sich.
Die Augen des Mannes wurden schmal. Als Sonea bewusst wurde, dass sie ihn angestarrt hatte, senkte sie hastig den Blick. Der Lonmar lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, lächelte und deutete mit einem langen, braunen Finger auf sie.
»Komm näher, Mädchen.«
Sonea trat vor, bis sie direkt vor dem Tisch stand.
»Du bist also diejenige, nach der die Gilde sucht, wie?«
»Ja.«
»Du heißt Sonea?«
»Ja.«
Faren schürzte die Lippen. »Ich hatte eigentlich jemanden erwartet, der ein wenig beeindruckender aussieht.« Er zuckte die Achseln, dann beugte er sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Woher soll ich wissen, dass du wirklich bist, was du zu sein behauptest?«
Sonea warf einen Blick über die Schulter. »Cery hat gesagt, Ihr würdet wissen, dass ich die Richtige bin. Er meinte, Ihr hättet mich gewiss beobachtet.«
»Das meinte er, ja?« Faren kicherte und sah zu ihrem Freund hinüber. »Ein kluger Bursche, dieser kleine Ceryni, ganz wie sein Vater. Ja, ich habe dich beobachtet – euch beide. Obwohl ich Cery schon ein wenig länger im Auge behalte. Komm her, Cery.«
Cery trat neben Sonea.
»Ich soll dich von Ravi grüßen.«
»Von einem Nagetier zum anderen?« In Cerys Stimme schwang ein leichtes Zittern mit.
Weiße Zähne blitzten auf, aber Farens Grinsen erlosch schnell wieder, und seine gelben Augen wanderten zu Sonea zurück. »Du kannst also Magie benutzen, ja?«
Sonea schluckte, um sich die Kehle zu befeuchten. »Das ist richtig.«
»Und hast du sie seit deiner kleinen Überraschung auf dem Nordplatz noch einmal benutzt?«
»Ja.«
Faren zog die Brauen in die Höhe. Dann fuhr er sich mit den Händen durch die Haare. An seinen Schläfen waren einige graue Strähnen zu sehen, aber seine Haut war glatt und ohne Falten. An den Fingern trug er mehrere Ringe, von denen einige mit großen Steinen besetzt waren. Noch nie zuvor hatte Sonea so große Steine an den Händen eines Hüttenbewohners gesehen, aber dieser Mann gehörte ja auch nicht zum gewöhnlichen Hüttenvolk.
»Du hast einen ungünstigen Augenblick gewählt, um deine Fähigkeiten zu entdecken, Sonea«, erklärte Faren. »Jetzt brennen die Magier darauf, dich zu finden. Ihre Suche hat uns eine Menge Unannehmlichkeiten bereitet – und die Belohnung verursacht dir zweifellos eine Menge Unannehmlichkeiten. Jetzt möchtest du, dass wir dich vor ihnen verstecken. Wäre es nicht weitaus besser für uns, dich auszuliefern und die Belohnung einzustreichen? Die Suche hört auf. Ich werde ein wenig reicher. Die lästigen Magier verschwinden…«
Sonea sah wieder zu Cery hinüber. »Oder wir könnten einen Handel abschließen.«
Faren spitzte die Lippen. »Das könnten wir. Was hättest du uns als Gegenleistung zu bieten?«
»Mein Vater hat gesagt, Ihr wärt ihm etwas schuldig…«, begann Cery.
Die gelben Augen nahmen Cery ins Visier. »Dein Vater hat alles verwirkt, was ihm zustand, als er uns betrogen hat«, fuhr Faren ihn an.
Cery ließ den Kopf hängen, dann reckte er das Kinn vor und sah dem Dieb direkt ins Gesicht. »Mein Vater hat mir vieles beigebracht«, erklärte er. »Vielleicht kann ich –«
Faren schnaubte und hob geringschätzig die Hand. »Du könntest uns eines Tages vielleicht von Nutzen sein, kleiner Ceryni, aber im Augenblick hast du noch nicht die Freunde, die dein Vater hatte – und die Gefälligkeit, die du verlangst, ist eine große. Wusstest du, dass den, der einen wilden Magier vor der Gilde versteckt, die Todesstrafe erwartet? Nichts behagt dem König weniger als der Gedanke an einen Magier, der umherschleicht und Dinge tut, die der König nicht angeordnet hat.« Sein Blick wanderte zu Sonea, und er lächelte verschlagen. »Aber es ist eine interessante Idee. Eine, die mir ungemein gut gefällt.« Er verschränkte die Hände. »Wozu hast du deine Kräfte seit der Säuberung noch eingesetzt?«
»Ich habe etwas in Brand gesteckt.«
Farens Augen glänzten. »Wirklich? Hast du sonst noch etwas getan?«
»Nein.«
»Wie wär’s, wenn du mir deine Fähigkeiten demonstrieren würdest.«
Sie sah ihn entgeistert an. »Jetzt?«
Er zeigte auf eins der Bücher auf dem Tisch. »Versuche, das da zu bewegen.«
Sonea blickte zu Cery hinüber. Ihr Freund nickte kaum merklich. Sie biss sich auf die Unterlippe und rief sich ins Gedächtnis, was sie getan hatte: In dem Moment, als sie sich bereit erklärt hatte, die Hilfe der Diebe zu suchen, hatte sie sich damit abgefunden, Magie zu benutzen. Sie hatte diese Tatsache akzeptiert, ganz gleich, wie unwohl sie sich dabei fühlte.
Faren lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Nur zu.«
Sonea holte tief Luft, starrte das Buch an und befahl ihm, sich zu bewegen.
Nichts geschah.
Stirnrunzelnd dachte sie an die Ereignisse auf dem Nordplatz und den Kampf mit Burril zurück. Beide Male war sie wütend gewesen. Also schloss sie die Augen und dachte an die Magier. Sie hatten ihr Leben zerstört. Ihre Schuld war es, dass sie sich an die Diebe verkaufen musste. Als sie den Zorn in sich spüren konnte, schlug sie die Augen wieder auf und richtete ihren Groll auf das Buch.
Die Luft knisterte, und ein Lichtblitz erhellte den Raum. Faren sprang mit einem Fluch beiseite, als das Buch in Flammen ausbrach. Er griff nach einem Glas und kippte hastig den Inhalt über das Buch, um das Feuer zu löschen.
»Tut mir Leid«, stieß Sonea hastig hervor. »Beim letzten Mal ist auch nicht das passiert, was ich wollte. Ich werde –«
Faren hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und grinste. »Ich denke, du besitzt etwas, das es wert ist, geschützt zu werden, kleine Sonea.«
Rothen sah sich in dem überfüllten Abendsaal um und begriff, dass es ein Fehler gewesen war, frühzeitig hier zu erscheinen. Statt in der Menge unterzugehen, hatten ihn einzelne Magier oder kleine Gruppen angesprochen und ihn gezwungen, wieder und wieder die gleichen Fragen zu beantworten.
»Langsam höre ich mich an wie ein Novize, der Formeln aufsagt«, flüsterte er Dannyl gereizt zu.
»Vielleicht solltest du jeden Abend einen Bericht über deine Fortschritte schreiben und ihn an deine Tür nageln.«
»Ich glaube nicht, dass das helfen würde. Wahrscheinlich würden sie denken, sie hätten irgendeine winzige Information nicht mitbekommen, wenn sie mich nicht persönlich befragen.« Rothen schüttelte den Kopf und betrachtete seine Kollegen, die im Raum verteilt standen und ihre Gedanken miteinander teilten. »Und aus irgendeinem Grund wollen sie diese Dinge immer von mir wissen. Warum gehen sie dir nie auf die Nerven?«
»Aus Respekt vor deinem offenkundig höheren Alter«, erwiderte Dannyl.
Rothen sah seinen Freund mit schmalen Augen an. »Offenkundig?«
»Ah, da kommt eine Karaffe Wein, um deine armen, müden Stimmbänder zu befeuchten.« Dannyl winkte einen Diener herbei, der ein Tablett trug.
Rothen nahm ein Glas von seinem Freund entgegen und nippte anerkennend. Irgendwie war er zum inoffiziellen Organisator der Suche nach dem Mädchen geworden. Mit Ausnahme von Fergun und seinen Freunden wurde allenthalben erwartet, dass er die Dinge in die Hand nahm. Diese Entwicklung hatte ihn dazu gezwungen, weniger Zeit mit der aktiven Suche nach dem Mädchen zu verbringen, und er wurde viele Male am Tag gestört, wenn seine Kollegen ihn mit Hilfe der Gedankenrede baten, ein Mädchen zu identifizieren, das sie gefunden hatten.
Plötzlich legte ihm jemand eine Hand auf die Schulter, und Rothen zuckte zusammen. Als er sich umwandte, stand Administrator Lorlen neben ihm.
»Guten Abend, Lord Rothen, Lord Dannyl«, sagte Lorlen. »Der Hohe Lord wünscht, Euch zu sprechen.«
Rothen sah sich im Raum um. Der Hohe Lord hatte soeben in seinem bevorzugten Sessel Platz genommen. Als die anderen Magier Akkarins Anwesenheit bemerkten, veränderte sich die Atmosphäre im Saal, und ein neugieriges Raunen erklang. Dann werde ich mich also ein weiteres Mal wiederholen müssen, überlegte Rothen, während er und Dannyl auf den Führer der Gilde zugingen.
Bei ihrem Näherkommen blickte der Hohe Lord auf und begrüßte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Die langen Finger hatte er um ein Weinglas geschlungen.
»Bitte, setzt Euch.« Lorlen deutete auf zwei leere Sessel. »Erzählt uns, welche Fortschritte Eure Suche macht.«
Rothen ließ sich in einem der Sessel nieder. »Wir haben über zweihundert Informanten befragt, aber von den meisten haben wir nichts Nützliches erfahren. Einige hatten ganz gewöhnliche Bettlermädchen eingesperrt. Manche Informanten legten allerdings überzeugende Enttäuschung an den Tag, als sich herausstellte, dass der Ort, an dem sich das Mädchen angeblich versteckt hatte, mit einem Mal leer war. Und das ist leider das Einzige, was ich bisher berichten kann.«
Lorlen nickte. »Lord Fergun vermutet, dass irgendjemand sie beschützt.«
Dannyls Lippen wurden zu einer schmalen Linie, aber er sagte nichts.
»Die Diebe?«, fragte Rothen.
Lorlen zuckte die Achseln. »Oder ein wilder Magier. Sie hat sehr schnell gelernt, ihre Aura zu verbergen.«
»Ein wilder Magier?« Rothen sah zu Akkarin hinüber und dachte daran, dass der Hohe Lord beteuert hatte, dass es keinen wilden Magier in den Hütten gebe. »Habt Ihr Grund zu der Vermutung, dass wir es nun doch mit einem wilden Magier zu tun haben?«
»Ich habe gespürt, dass jemand Magie benutzt«, erwiderte Akkarin leise. »Nicht viel Magie und noch nicht lange. Ich glaube, sie experimentiert allein, da ein Lehrer ihr mittlerweile gewiss beigebracht hätte, ihre Aktivitäten zu verbergen.«
Rothen sah den Hohen Lord forschend an. Dass Akkarin eine derart schwache Magie in der Stadt spüren konnte, war erstaunlich, ja sogar beunruhigend. Als der andere Mann seinem Blick begegnete, sah Rothen hastig auf seine Hände hinab.
»Das sind… interessante Neuigkeiten«, bemerkte er.
»Konntet Ihr… konntet Ihr erkennen, wo sie sich aufhält?«, fragte Dannyl.
Akkarin schürzte die Lippen. »Sie benutzt Magie immer nur stoßweise; manchmal ist es ein einzelnes Vorkommnis, manchmal mehrere im Laufe einer Stunde. Ihr würdet die Magie des Mädchens spüren, wenn Ihr wüsstet, worauf Ihr achten müsst, aber solange sie ihre Kräfte nicht über einen längeren Zeitraum hinweg benutzt, besteht kaum eine Chance, sie zu finden und gefangen zu nehmen.«
»Aber wir könnten ihr jedes Mal, wenn sie Magie benutzt, ein klein wenig näher kommen«, sagte Dannyl langsam. »Wir könnten uns in der Stadt verteilen und warten. Sobald sie zu experimentieren beginnt, könnten wir den Kreis ein wenig enger ziehen, bis wir ihren Aufenthaltsort kennen.«
Der Hohe Lord nickte. »Sie befindet sich im nördlichen Bereich des Äußeren Rings.«
»Dann werden wir morgen dort mit der Suche beginnen.« Dannyl legte die Fingerspitzen aneinander. »Aber wir müssen darauf achten, dass wir unsere Strategie nicht verraten und sie auf diese Weise vorwarnen. Wer sie beschützt, hat vielleicht Helfer, die nach Magiern Ausschau halten.« Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Unsere Erfolgsaussichten wären größer, wenn wir unsere Identität geheim halten könnten.«
Akkarins Mundwinkel zuckten leicht. »Weite Umhänge dürften genügen, um Eure Roben zu verbergen.«
Dannyl nickte hastig. »Natürlich.«
»Ihr werdet nur eine einzige Chance haben«, warnte Lorlen. »Wenn das Mädchen erfährt, dass Ihr ihre Magie spüren könnt, wird sie Euch ausweichen, indem sie nach jedem Experiment den Aufenthaltsort wechselt.«
»Dann müssen wir schnell sein – und je mehr Magier uns zur Verfügung stehen, desto eher können wir das Mädchen finden.«
»Ich werde um weitere Freiwillige bitten.«
»Vielen Dank, Administrator.« Dannyl neigte den Kopf.
Lorlen lächelte und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
»Ich muss sagen, ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so glücklich darüber sein würde, zu hören, dass unser kleiner Flüchtling anfängt, seine Kräfte zu benutzen.«
Rothen runzelte die Stirn. Ja, dachte er, aber wann immer sie das tut, kommt sie dem Punkt, an dem sie endgültig die Kontrolle über ihre Magie verliert, ein klein wenig näher.
Das Päckchen war schwer, wenn auch klein. Cery ließ es mit einem befriedigenden Krachen auf den Tisch fallen. Faren griff danach und riss das Einwickelpapier herunter. Eine kleine, hölzerne Schatulle kam zum Vorschein. Als er den Deckel öffnete, warfen winzige Scheiben ihr Licht über den Dieb und die Wand hinter ihm.
Beim Anblick der polierten Münzen krampfte sich Cerys Brust zusammen. Faren zog einen kleinen Holzblock mit drei darin eingelassenen Stiften hervor. Dann machte sich der Dieb daran, die Münzen auf die Stifte zu schieben. Die Löcher in den Münzen schmiegten sich mühelos um die entsprechenden Stifte: Gold kam auf den runden Stift, Silber auf den eckigen, und große Kupfermünzen wurden auf den dreieckigen geschoben. Der Stift, der für das Kupfer gedacht war, blieb leer. Als der Stapel mit Gold zehn Münzen hoch war, schob Faren ihn von dem Stift auf eine »Kappe«, einen kleinen Holzpflock mit Verschlussklammern an beiden Seiten.
»Ich habe noch eine Aufgabe für dich, Ceryni.«
Cery riss sich widerstrebend von dem Anblick des Reichtums vor ihm los, straffte die Schultern und runzelte dann die Stirn, als ihm die Bedeutung von Farens Worten dämmerte. Wie viele »Aufgaben« musste er noch erledigen, bevor er Sonea sehen durfte? Es war über eine Woche vergangen, seit Faren sie unter seine Fittiche genommen hatte. Cery schluckte seinen Ärger herunter und nickte dem Dieb zu.
»Was soll ich tun?«
Faren lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, und in seinen gelben Augen leuchtete Erheiterung auf. »Die nächste Aufgabe dürfte deinen Talenten wohl ein wenig mehr entgegenkommen. Seit einiger Zeit haben es sich zwei Gauner zur Gewohnheit gemacht, Läden im Norden des Inneren Rings auszurauben – Läden, mit deren Besitzern ich ein Abkommen habe. Ich möchte, dass du herausfindest, wo diese beiden Narren leben. Dann wirst du ihnen eine Botschaft von mir überbringen – auf eine Art und Weise, die ihnen sehr deutlich macht, dass ich sie genau beobachte. Kannst du das für mich erledigen?«
Cery nickte. »Wie sehen die Männer aus?«
»Ich habe einen meiner Männer zu den Ladenbesitzern geschickt, um sie zu befragen. Er wird dir alles erzählen, was er weiß. Dies hier wirst du mitnehmen.« Er reichte Cery ein kleines, zusammengefaltetes Blatt Papier. »Warte im Vorraum.«
Cery wandte sich zum Gehen, dann zögerte er plötzlich. Er drehte sich noch einmal zu Faren um und überlegte, ob dies ein geeigneter Augenblick war, um nach Sonea zu fragen.
»Bald«, sagte Faren. »Morgen, wenn alles gut geht.«
Cery nickte, dann trat er durch die Tür in den Vorraum. Obwohl die stämmigen Wachen ihn argwöhnisch beobachteten, schenkte Cery ihnen ein Lächeln. Man sollte sich niemals mit den Lakaien eines mächtigen Mannes anlegen, hatte sein Vater ihm beigebracht. Besser noch, man brachte sie dazu, einen zu mögen. Diese beiden sahen einander so ähnlich, dass sie wohl Brüder sein mussten, obwohl einer der Männer eine lange Narbe an der Wange hatte, die ihn deutlich von dem anderen unterschied, so dass man die beiden mühelos auseinander halten konnte.
»Ich soll hier warten«, erklärte er den beiden und deutete auf einen Stuhl. »Ist der noch frei?«
Der Mann mit der Narbe zuckte die Achseln. Cery setzte sich und sah sich im Raum um. Sein Blick wurde von einem leuchtend grünen Tuch angezogen, das an einer Wand hing. Am oberen Rand des Tuchs war ein goldenes Wappen eingestickt.
»Hai! Ist es das, wofür ich es halte?«, fragte er und stand wieder auf.
Der narbige Mann grinste. »Allerdings.«
»Ein Satteltuch von Donnerwind?«, flüsterte Cery ehrfürchtig. »Woher habt Ihr das?«
»Mein Vetter ist Stallbursche im Haus Arran«, antwortete der Mann. »Der hat es mir beschafft.« Er streckte die Hand aus und strich zärtlich über den Stoff. »Hat mir zwanzig Goldmünzen gewonnen, dieses Pferd.«
»Es heißt, Donnerwind habe einige prächtige Rennpferde gezeugt.«
»Aber einen Hengst wie ihn hat es nie wieder gegeben.«
»Hast du das Rennen gesehen?«
»Nein. Du?«
Cery grinste. »Ich habe mich an den Zahlmeistern vorbeigeschlichen. War nicht einfach. Ich wusste nicht, dass Donnerwind an diesem Tag laufen würde. War einfach nur Glück.« Die Augen des Narbigen wurden glasig, während er zuhörte, wie Cery von dem Rennen erzählte.
Schließlich wurden sie von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Der zweite Wächter, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, öffnete die Tür, und ein hochgewachsener, drahtiger Mann mit einem schwarzen Langmantel trat ein.
»Ceryni?«, fragte er mit verdrossener Miene.
Cery trat vor. Der Mann musterte ihn mit hochgezogenen Brauen, dann bedeutete er Cery, ihm zu folgen. Cery nickte den Wachen zu und trat in den Korridor hinaus.
»Ich soll dir Informationen geben«, erklärte der Mann.
Cery nickte. »Wie sehen die beiden Kerle aus?«
»Einer ist etwa so groß wie ich, aber schwerer. Der andere ist kleiner und nur eine halbe Portion. Sie haben beide kurzes, schwarzes Haar – wie man hört, schneiden sie es sich selbst. An den Augen des Größeren ist irgendetwas merkwürdig. Einer der Ladenbesitzer meinte, die Augen hätten eine komische Farbe, ein anderer sagte, sie würden in zwei verschiedene Richtungen blicken. Davon abgesehen sind die beiden ganz gewöhnliche Hüttenleute.«
»Waffen?«
»Messer.«
»Weißt du, wo sie wohnen?«
»Nein, aber einer der Ladenbesitzer hat sie heute Abend in einem Bolhaus gesehen. Du wirst jetzt dorthin gehen, damit du ihnen anschließend folgen kannst. Sie werden mit Sicherheit einen Umweg nach Hause nehmen, also sei auf der Hut.«
»Natürlich. Was ist ihre Methode?«
Der Mann sah ihn mit undeutbarer Miene an. »Nicht gerade raffiniert. Sie haben die Ladenbesitzer und einige ihrer Verwandten zusammengeschlagen. Aber sie haben sich nie länger aufgehalten als nötig. Sobald sie hatten, was sie wollten, sind sie wieder verschwunden.«
»Was haben sie mitgenommen?«
»Größtenteils Münzen. Wenn irgendwo eine Karaffe mit Wein herumstand, haben sie die auch mitgenommen. Wir sind gleich da.«
Sie traten aus den Durchgängen auf eine dunkle Straße hinaus. Der Führer löschte die Lampe und begleitete Cery noch bis zu einer größeren Durchgangsstraße, dann blieb er in einem dunklen Türeingang stehen. Aus einem Bolhaus auf der anderen Straßenseite drang das Lärmen ausgelassener Zecher.
Cerys Begleiter machte eine schnelle Handbewegung. Cery folgte dem Blick des Mannes und nahm eine Bewegung in einer schmalen Gasse in ihrer Nähe wahr.
»Sie sind noch da. Wir warten.«
Cery lehnte sich an die Tür. Sein Begleiter sagte nichts mehr, sondern beobachtete konzentriert das Bolhaus. Es begann zu regnen, und die Tropfen prasselten auf die Dächer und bildeten Pfützen auf dem Boden. Während sie warteten, stieg der Mond über den Häusern auf und tauchte die Straße in sein Licht, bevor graue Wolken ihn verdeckten und zu einem geisterhaften Schimmer am Himmel machten.
Kleine Gruppen von Männern und Frauen verließen das Bolhaus. Als schließlich eine größere Gruppe lachender, taumelnder Männer auf die Straße hinaustrat, straffte Cerys Begleiter plötzlich die Schultern. Als Cery genauer hinsah, entdeckte er zwei Gestalten, die sich an den anderen Zechern vorbeischoben. Der Beobachter in der Gasse machte abermals eine knappe Bewegung mit den Händen, und Cerys Begleiter nickte.
»Das sind sie.«
Cery trat in den Regen hinaus. Während er den beiden Männern die Straße hinunter folgte, hielt er sich vorsichtig im Schatten der Häuser. Einer der beiden war offensichtlich betrunken; der andere dagegen wich den Pfützen auf dem Boden mit sicherem Schritt aus. Cery ließ sich ein klein wenig zurückfallen und lauschte, während der betrunkene Mann seinen Gefährten beschimpfte, weil er dem Wein zu wenig zugesprochen habe.
»Wird schon nichts passieren, Tullin«, nuschelte er. »Wir sind zu gerissen für diese Dummköpfe.«
»Halt die Klappe, Nig.«
Die beiden bewegten sich auf Umwegen durch das Viertel. Von Zeit zu Zeit blieb Tullin stehen und sah sich um. Cery, der sich immer noch im Schatten hielt, entdeckte er nicht. Nach einer Weile wurde ihm das Geplapper seines Freundes allzu lästig, und er legte auf geradem Weg einige hundert Schritte zurück, bis er vor einem leerstehenden Laden angelangt war.
Sobald die beiden im Haus verschwunden waren, stahl Cery sich näher heran und unterzog das Gebäude einer genauen Musterung. Auf dem Boden draußen lag ein Türschild. Er erkannte das Wort für Raka. Er legte die Hand auf seine Brust und dachte über die Botschaft nach, die in seiner Tasche wartete.
Faren wünschte, dass er die Botschaft auf eine Art und Weise übermittelte, die den beiden Räubern Angst machte. Man musste ihnen zeigen, dass die Diebe alles wussten: wer sie waren, wo sie sich versteckten und was sie getan hatten. Und die beiden sollten erfahren, wie leicht die Diebe sie töten konnten. Cery biss sich auf die Unterlippe und überlegte.
Er könnte ihnen das Papier unter der Tür hindurchschieben, aber das wäre zu einfach gewesen. Es würde die Räuber weniger erschrecken als die Entdeckung, dass jemand in ihr Versteck hineingelangt war. Er würde warten müssen, bis sie wieder herauskamen, und sich dann ins Haus stehlen. Oder vielleicht nicht? Natürlich würde es ihnen Angst machen, wenn sie heimkehrten und eine Botschaft vorfanden, aber es gab etwas, das sie noch viel mehr erschrecken würde: zu begreifen, dass jemand in ihrem Haus gewesen war, während sie geschlafen hatten.
Lächelnd besah sich Cery das Versteck ein wenig näher. Das Gebäude stand in einer Häuserreihe, und es teilte sich eine Wand mit beiden Nachbarhäusern. Das bedeutete, dass er entweder von vorn oder über die Rückseite eindringen musste. Nach kurzem Überlegen ging Cery zum Ende der Straße hinunter und trat in die Gasse, die hinter den Gebäuden verlief. An den Hauswänden stapelten sich leere Kisten, und überall häufte sich der Unrat. Cery zählte die Türen, und als er etliche stinkende Beutel mit verfaulenden Raka-Blättern an einer Hauswand entdeckte, wusste er, dass er den Laden der Räuber gefunden hatte. Im nächsten Moment hockte er bereits vor der Tür und spähte durchs Schlüsselloch.
In dem Raum auf der anderen Seite brannte eine Lampe. Nig lag leise schnarchend in einem Bett. Tullin ging im Raum auf und ab und rieb sich das Gesicht. Als er in den Schein der Lampe trat, konnte Cery seine schief im Gesicht sitzenden Augen und die dunklen Schatten darunter erkennen.
Der hochgewachsene Mann hatte wohl nicht gut geschlafen – wahrscheinlich befürchtete er, die Diebe könnten auf einen Besuch vorbeikommen. Als hätte er Cerys Gedanken gelesen, eilte er plötzlich auf die Hintertür zu. Cery wollte sich schon lautlos zurückziehen, aber Tullin streckte nicht, wie erwartet, die Hand nach dem Türgriff aus. Stattdessen schlossen sich seine Finger um irgendetwas in der Luft und verfolgten seinen Weg zur Decke hinauf, wo Cery sie nicht beobachten konnte. Eine Schnur, vermutete Cery. Er brauchte nicht zu sehen, was über der Tür hing, um zu erraten, dass Tullin eine Falle für unerwünschte Besucher aufgebaut hatte.
Nachdem Tullin sich davon überzeugt hatte, dass alles in Ordnung war, ging er zu einem zweiten Bett hinüber. Er zog ein Messer aus dem Gürtel, legte es auf einen Tisch neben sich und füllte dann das Öl in der Lampe nach. Nachdem er sich ein letztes Mal im Raum umgesehen hatte, streckte er sich auf dem Bett aus.
Cery unterzog die Tür einer eingehenden Musterung. Raka wurde in großen Büscheln nach Imardin gebracht: Pflanzenstiele mit Blättern und Bohnen. Die Ladenbesitzer streiften die Bohnen von den Stängeln ab und rösteten sie. Die Blätter und die Stängel wurden im Allgemeinen in einen Schacht geworfen, der zu einer Wanne vor dem Haus führte. Diese Wannen wurden später von Jungen abgeholt, die ihren Inhalt an die Bauern in der Nähe der Stadt verkauften.
Cery schob sich vorsichtig an der Mauer entlang, bis er die äußere Klappe des Schachts gefunden hatte. Sie war von innen mit einem schlichten Riegel versperrt – leicht zu öffnen. Er zog eine winzige Flasche und einen schlanken, hohlen Grashalm aus dem Mantel. Dann saugte er ein wenig Öl in den Halm und schmierte sorgfältig den Riegel und die Scharniere der Klappe damit ein. Schließlich verstaute er die Flasche und den Halm wieder in seinen Taschen, zog einige Dorne und Hebel heraus und machte sich daran, den Riegel zu öffnen.
Die Arbeit ging langsam voran, gab Tullin jedoch reichlich Zeit, in einen tiefen Schlaf zu sinken. Als er den Riegel beiseite geschoben hatte, öffnete Cery vorsichtig die Klappe und besah sich den winzigen Hohlraum dahinter. Dann steckte er das Werkzeug, das er bisher benutzt hatte, wieder ein und nahm ein kleines, in fein gewobenes Tuch gewickeltes Bündel heraus, das ein flaches, poliertes Metallstück enthielt. Schließlich schob er einen Arm durch den Schacht und benutzte diesen hilfreichen Gegenstand, um Tullins Falle näher in Augenschein zu nehmen.
Er hätte beinahe laut aufgelacht: Ein Rechen hing quer über der Tür. Das Ende des Stiels war mit einer Schnur an einem Haken über dem Türrahmen befestigt. Die metallene Harke lag auf einem Dachsparren auf, vermutlich von einem Nagel gehalten. Ein Tau war daran und am Türriegel festgebunden.
Zu einfach, überlegte Cery. Er sah sich nach anderen Fallen um, konnte aber keine entdecken. Nach einer Weile zog er den Arm wieder aus dem Schacht, kehrte zur Hintertür zurück und packte abermals sein Werkzeug zum Ölen von Scharnieren aus. Eine schnelle Begutachtung des Schlosses zeigte ihm, dass es schon einmal aufgebrochen worden war, wahrscheinlich von den Dieben, als sie das erste Mal in den Laden eingedrungen waren.
Cery zog eine kleine Schachtel aus seinem Mantel, öffnete sie und wählte eine dünne Klinge aus. Aus einer anderen Tasche nahm er ein Werkzeug, einen Teil des Erbes, das sein Vater ihm hinterlassen hatte. Er befestigte dieses Werkzeug an der Klinge, schob es durch das Schlüsselloch und tastete nach dem Türdrücker. Als er ihn gefunden hatte, arbeitete er sich langsam die Klinke entlang vor, bis er den leichten Widerstand des Taus spürte. Er drückte die Schneide der Klinge fest dagegen.
Dann kehrte er zu dem Schacht zurück und vergewisserte sich mit dem Spiegel, dass die Schnur jetzt ungefährlich von den Dachsparren herabbaumelte. Zufrieden packte er sein Arbeitsgerät weg, wickelte sich zwei Lappen um die Stiefel und holte tief Luft, um sich zu beruhigen.
Vollkommen lautlos öffnete Cery die Tür, schlüpfte in den Raum und betrachtete die schlafenden Männer.
Sein Vater hatte auch für diese Situation einen Rat gehabt: Die beste Art, sich an jemanden heranzuschleichen, so hatte er gesagt, sei die, nicht zu versuchen, sich anzuschleichen. Er betrachtete die beiden Räuber. Beide schliefen, und der betrunkene Mann schnarchte leise.
Cery durchquerte den Raum und untersuchte die Vordertür. Ein Schlüssel ragte aus dem Schloss. Er drehte sich wieder um und besah sich noch einmal die beiden Männer.
Tullins Messer glitzerte in der Dunkelheit. Cery nahm Farens Botschaft aus der Brusttasche und trat neben den Räuber. Dann griff er nach dessen Messer und benutzte es, um das Blatt Papier damit auf der Tischplatte zu befestigen.
Das müsste eigentlich reichen. Mit einem grimmigen Lächeln kehrte er zur Tür zurück und griff nach dem Schlüssel. Als er ihn umdrehte, erklang ein leises Klicken. Tullins Lider flatterten, aber seine Augen blieben geschlossen. Cery verließ das Haus und schlug die Tür krachend hinter sich zu.
Drinnen ertönte ein Schrei. Cery huschte zu dem dunklen Hauseingang des Ladens nebenan und drehte sich um, um die Ereignisse aus sicherer Entfernung zu verfolgen. Im nächsten Moment wurde die Tür des Nachbarhauses aufgerissen, und Tullin starrte in die Nacht hinaus; sein Gesicht wirkte bleich in dem gedämpften Mondlicht. Dann erklang eine wütende Stimme im Haus, gefolgt von einem Entsetzensschrei. Tullin runzelte die Stirn und kehrte in den Raum zurück.
Cery stahl sich lächelnd in die Nacht davon.
Sonea verfluchte Faren.
Auf der Herdstelle vor ihr lag ein kurzer Stock. Nachdem sie mit verschiedenen Gegenständen experimentiert hatte, hatte sie sich für Holz entschieden, da dieses Material, wenn man Magie benutzte, am wenigsten Gefahren bot. Es war nicht billig – Brennholz wurde in den nördlichen Bergen geschlagen und über den Tarali nach Imardin verschifft –, aber trotzdem war es entbehrlich, und in dem Raum, in dem sie sich befand, gab es einen reichlichen Vorrat davon.
Zweifelnd beäugte sie den Stock, dann sah sie sich in ihrem Quartier um und rief sich ins Gedächtnis, dass ihre Bemühungen durchaus sinnvoll waren. Polierte Tische und gepolsterte Sessel standen um sie herum. In den angrenzenden Räumen gab es weiche Betten, reichlich Nahrungsmittel und einen großzügigen Vorrat an berauschenden Getränken. Faren behandelte sie wie einen Ehrengast in einem der großen Häuser.
Aber sie fühlte sich wie eine Gefangene. Das Versteck hatte keine Fenster, da es zur Gänze unter der Erde lag. Man erreichte es nur über die »Straße«, und es wurde Tag und Nacht bewacht. Lediglich Farens engste Vertraute, seine »Vettern«, kannten diesen Ort.
Seufzend ließ Sonea die Schultern sinken. Jetzt, da sie sowohl vor Magiern als auch vor geldgierigen Hüttenleuten sicher war, hatte sie Mühe, der Langeweile Herr zu werden. Nachdem sie sechs Tage lang dieselben Wände gesehen hatte, konnte sie nicht einmal mehr die behagliche Einrichtung des Raums ablenken, und obwohl Faren von Zeit zu Zeit vorbeikam, hatte sie kaum mehr zu tun, als mit Magie zu experimentieren.
Vielleicht war es genau das, was Faren beabsichtigte. Als sie auf den Stock hinabblickte, durchzuckte sie einmal mehr ein Stich der Enttäuschung. Obwohl sie, seit sie in das Versteck gekommen war, mehrmals am Tag ihre Kräfte heraufbeschwor, funktionierten sie nie so, wie Sonea es wollte. Wenn sie etwas verbrennen wollte, bewegte es sich. Wenn sie einem Gegenstand befahl, sich zu bewegen, explodierte er.
Wenn sie etwas zerbrechen wollte, fing es Feuer. Wenn sie Faren von ihren Misserfolgen erzählte, lächelte dieser nur und erwiderte, sie solle weiter üben.
Mit einer Grimasse richtete Sonea ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Stock. Sie holte tief Luft und starrte wie gebannt auf das Holzstück. Dann befahl sie ihm, über die Steine in der Herdstelle zu rollen.
Nichts geschah.
Geduld, ermahnte sie sich. Sie brauchte oft mehrere Versuche, bis ihre Magie funktionierte. Also nahm sie alle Willenskraft zusammen und befahl dem Stock abermals, sich zu bewegen.
Das Holz blieb vollkommen reglos liegen.
Sonea seufzte und hockte sich auf den Boden. Wann immer die Magie bisher funktioniert hatte, war sie wütend gewesen, sei es aus Frustration oder aus Hass auf die Gilde. Sie konnte diese Gefühle zwar heraufbeschwören, indem sie sich auf etwas konzentrierte, das sie wütend machte, aber diese Strategie war anstrengend und deprimierend.
Die Magier dagegen benutzten ihre Fähigkeiten ständig, rief sie sich ins Gedächtnis. Trugen sie einen Vorrat an Wut und Hass in sich, der ihren Kräften Nahrung gab? Sonea schauderte. Was waren das für Menschen?
Als sie nun das Holzstück anstarrte, wurde ihr klar, dass sie genau das würde tun müssen. Sie würde ihren Zorn und ihren Hass horten müssen, würde sie aufbewahren müssen für die Gelegenheiten, bei denen sie diese Gefühle brauchte, um Magie zu wirken. Wenn sie es nicht tat, würde sie scheitern, und Faren würde sie an die Gilde ausliefern.
Sie schlang die Arme um sich, und Verzweiflung erfüllte sie. Ich sitze in der Falle, dachte sie. Mir bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder, ich werde eine von ihnen, oder ich lasse mich von ihnen töten.
Ein leises Knistern drang an ihre Ohren, ein Geräusch, wie man es hörte, wenn man ein Stück Stoff hochwarf und es hastig wieder zurückriss. Sonea sprang auf und drehte sich um.
Leuchtend orangefarbene Flammen züngelten an einem kleinen Tisch zwischen zwei Stühlen. Sonea wich mit hämmerndem Herzen zurück.
Habe ich das getan?, dachte sie. Aber ich war doch gar nicht wütend.
Das Feuer knisterte und prasselte, während sich die Flammen vervielfachten. Unsicher, was sie tun sollte, ging Sonea langsam näher heran. Was würde Faren sagen, wenn er feststellen musste, dass sein Versteck zu Asche verbrannt war? Sonea schnaubte leise. Er würde wütend sein und ein klein wenig enttäuscht, weil sein zauberkundiger Schoßhund den Tod gefunden hatte.
Rauch stieg auf und kräuselte sich unter der Decke. Sonea kroch auf Händen und Füßen durch den Raum, packte den Tisch an einem seiner Beine und zog ihn zu sich heran. Die Bewegung ließ das Feuer noch weiter auflodern. Sonea prallte vor der Hitze zurück, dann hob sie den Tisch an und warf ihn in den Kamin.
Seufzend sah sie zu, wie das Feuer den Tisch verschlang. Immerhin hatte sie soeben etwas hinzugelernt. Tische brachen nicht aus eigenem Antrieb in Flammen aus. Wie es aussah, war auch Verzweiflung ein Gefühl, mit dem sich Magie heraufbeschwören ließ.
Wut, Hass und Verzweiflung, überlegte Sonea. Was für ein Spaß es doch ist, Magierin zu sein.
»Hast du das gespürt?«, fragte Rothen mit vor Erregung angespannter Stimme.
Dannyl nickte. »Ja. Es ist allerdings nicht das, was ich erwartet hatte. Ich habe es mir vollkommen anders vorgestellt, Magie zu spüren – ich dachte, es sei eher so, als könne man Gesang fühlen. Dies hier fühlte sich mehr wie ein Husten an.«
»Ein magisches Husten.« Rothen kicherte. »Was für eine interessante Art, dieses Phänomen zu beschreiben.«
»Wenn du nicht wüsstest, wie man singt oder spricht, würdest du dann nicht auch stattdessen unkontrollierte Laute von dir geben? Vielleicht hört sich Magie so an, wenn man sie nicht beherrscht.« Dannyl blinzelte, dann trat er vom Fenster zurück und rieb sich die Augen. »Es ist schon spät, und ich kann mich nicht mehr richtig konzentrieren. Wir sollten zusehen, dass wir ein wenig Schlaf bekommen.«
Rothen nickte, trat aber nicht vom Fenster weg. Er blickte hinaus auf die wenigen Lichter, die die Stadt noch erhellten.
»Wir lauschen schon seit Stunden. Es wird nichts dabei herauskommen, wenn wir weitermachen«, bemerkte Dannyl. »Wir wissen jetzt, dass wir sie spüren können. Du solltest auch ein wenig schlafen, Rothen. Wir müssen morgen hellwach sein.«
»Es erscheint mir unglaublich, dass sie uns so nahe ist, wir sie aber trotzdem bisher nicht finden konnten«, erwiderte Rothen leise. »Ich frage mich, was sie zu tun versucht haben mag.«
»Rothen«, sagte Dannyl streng.
Der alte Magier seufzte und wandte sich vom Fenster ab. Er lächelte matt. »Na gut. Ich werde versuchen, etwas zu schlafen.«
»Schön.« Solchermaßen zufriedengestellt, ging Dannyl zur Tür hinüber. »Ich sehe dich dann morgen.«
»Gute Nacht, Dannyl.«
Nachdem sein Freund die Tür geschlossen hatte, drehte Dannyl sich noch einmal um und sah zu seiner Beruhigung, dass sein Freund tatsächlich ins Schlafzimmer ging. Rothens Interesse daran, das Mädchen zu finden, überstieg bloße Pflichterfüllung bei weitem. Während Dannyl den Korridor hinunterschlenderte, spielte ein leichtes Lächeln um seine Lippen.
Vor etlichen Jahren, als Dannyl noch Novize gewesen war, hatte Fergun als Rache für einen Streich gewisse Gerüchte über ihn in Umlauf gebracht. Dannyl hatte nicht erwartet, dass irgendjemand Fergun ernst nehmen würde, aber als die Lehrer und Novizen anfingen, ihn anders zu behandeln als die anderen, und er begriff, dass er nichts tun konnte, um ihre Wertschätzung wiederzugewinnen, hatte er jeden Respekt vor seinesgleichen verloren. Die Begeisterung, mit der er früher am Unterricht teilgenommen hatte, verebbte, und er fiel immer weiter hinter die anderen zurück.
Irgendwann hatte Rothen ihn dann beiseite genommen, und mit scheinbar endloser Entschlossenheit war es ihm gelungen, Dannyls Interesse an der Magie neu zu entfachen. Anscheinend hatte er eine besondere Leidenschaft dafür, jungen Menschen in Nöten beizustehen. Obwohl Dannyl davon überzeugt war, dass sein Freund so entschlossen war wie eh und je, konnte er sich der Frage nicht erwehren, ob Rothen wirklich darauf vorbereitet war, die Ausbildung dieses Mädchens in die Hand zu nehmen. Zwischen einem mürrischen Novizen und einem Mädchen aus den Hüttensiedlungen, das die Magier höchstwahrscheinlich hasste, bestand ein großer Unterschied.
Eines jedoch war sicher: Wenn die Kleine erst gefunden war, würde das Leben ungemein interessant werden.
Ein kühler Wind peitschte den Regen auf und schlug seine feuchten Finger in die Winterkleidung. Cery hüllte sich fester in seinen Langmantel und zog sich tiefer in die Falten seines Schals zurück. Als der Regen ihm ins Gesicht klatschte, schnitt er eine Grimasse, dann bot er dem Wind entschlossen die Stirn.
In dem Bolhaus bei Harrin hatte verführerische Wärme geherrscht. Donias Vater war in großzügiger Laune gewesen, aber nicht einmal der kostenlose Bol hatte Cery zum Bleiben verlocken können – nicht, nachdem Faren ihm endlich gestattet hatte, Sonea zu besuchen.
Cery brummte verdrossen, als sich ein hochgewachsener Mann an ihm vorbeidrängte. Mit finsterem Blick sah er dem Fremden nach, als der Mann die Straße hinuntereilte. Ein Händler, vermutete Cery, denn der Regen glitzerte auf nagelneuen Stiefeln und einem ebenso neuen Mantel. Er murmelte eine Schmähung und trottete weiter.
Als Cery von seinem Besuch bei den Räubern zurückgekehrt war, hatte sich Faren über sein Vorgehen genau Bericht erstatten lassen. Der Dieb hatte nur zugehört und dabei weder Lob noch Missbilligung geäußert, bevor er schließlich nickte.
Er stellt mich auf die Probe, um herauszufinden, wie nützlich ich ihm sein kann, überlegte Cery. Er will wissen, wo meine Grenzen liegen. Ich frage mich, was er als Nächstes von mir verlangen wird.
Er sah sich auf der Straße um. Einige Hüttenleute hasteten durch den Regen. Daran war nichts weiter ungewöhnlich. Der Händler, der ihn angerempelt hatte, war einige Schritte entfernt ohne erkennbaren Grund vor einem Gebäude stehen geblieben.
Langsam schlenderte Cery weiter und blickte kurz zu dem Händler auf, als er an ihm vorbeikam. Der Fremde hatte die Augen geschlossen und runzelte die Stirn, als konzentriere er sich angestrengt. Cery zog sich in die nächste Gasse zurück und drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, dass der Mann den Kopf hochriss und den Blick auf die Straße heftete.
Nein, dachte Cery, und ein Zittern überlief ihn. Er sieht nicht auf die Straße, sondern auf etwas, das darunter liegt. Jetzt betrachtete er die Kleidung des Kaufmanns eingehender. Die Schuhe des Mannes waren ebenso vertraut wie ungewöhnlich. In dem fahlen Licht glänzte ein kleines Symbol auf…
Cerys Herz setzte einen Schlag aus. Dann drehte er sich um und begann zu rennen.
Im Regen konnte Rothen nur die Umrisse eines hochgewachsenen Mannes an der gegenüberliegenden Straßenecke erkennen.
-Wir sind ganz in ihrer Nähe, sandte Dannyl. Sie ist irgendwo unter diesen Häusern.
-Dann brauchen wir nur noch einen Weg hinein zu finden, antwortete Rothen.
Es war ein quälend mühsamer Tag gewesen. Bisweilen hatte das Mädchen mehrmals hintereinander Magie benutzt, und sie hatten gute Fortschritte gemacht. Dann wieder mussten sie stundenlang warten, bis sie einen einzigen Versuch unternahm und dann wieder aufhörte.
Rothen hatte schnell gemerkt, dass sein Umhang zwar seine Roben verbarg, dass er darin aber für die Hütten immer noch zu gut gekleidet war. Nach einer Weile hatte er die meisten seiner Kollegen weggeschickt, weil sie zu viel Aufmerksamkeit erregten, wenn sie sich in größerer Zahl an ein und demselben Ort aufhielten.
Ein Summen am Rande seiner Wahrnehmung riss ihn aus seinen Gedanken, und er konzentrierte sich wieder auf das Mädchen. Dannyl zog sich von seinem Posten zurück und trat in eine Gasse. Nachdem Rothen hastig Kontakt zu den anderen Suchern aufgenommen hatte, kam er zu dem Schluss, dass das Mädchen irgendwo unter dem Haus zu seiner Linken sein müsse.
-Ich glaube, ich habe einen Eingang zu den Tunneln gefunden, sagte Dannyl in Rothens Gedanken. Ein Belüftungsgitter in der Mauer, ähnlich denen, die wir schon früher gesehen haben.
-Näher werden wir nicht an sie herankommen, ohne uns zu verraten, ließ Rothen die anderen Sucher wissen. Wir sollten nicht länger warten. Makin und ich behalten den Vordereingang im Auge. Kiano und Yaldih, ihr beobachtet die Hintertür. Dannyl und Jolen werden in den Geheimgang eindringen.
Als alle anderen ihre Positionen bezogen hatten, gab Rothen Dannyl und Jolen das Zeichen, jetzt das ihre zu tun. Dannyl öffnete das Gitter und sandte seinen Kollegen die Bilder, die er sah.
Dann stieg er durch die Öffnung und ließ sich auf den Boden des Tunnels fallen. Er schuf eine Lichtkugel und wartete, bis Lord Jolen ihm gefolgt war. Die beiden Männer trennten sich und verschwanden zu beiden Seiten des dunklen Korridors.
Nach etwa hundert Schritten blieb Dannyl stehen und sandte sein Licht voraus. Es bewegte sich einige Meter durch den Gang, bevor es an eine Wegbiegung kam.
-Ich glaube, dieser Tunnel verläuft unterhalb der Straße. Ich kehre um.
Einen Moment später sandte Lord Jolen das Bild einer schmalen, abwärts führenden Treppe. Er ging die Stufen hinunter und blieb jäh stehen, als ein Mann vor ihn hintrat. Der Neuankömmling starrte Jolens Lichtkugel an, dann drehte er sich um und flüchtete in einen Nebenkorridor.
-Man hat uns entdeckt, warnte Jolen die anderen.
-Geht weiter, antwortete Rothen.
Dannyl schickte jetzt keine Bilder mehr, so dass Rothen Jolens Weg verfolgen konnte. Als er auf der untersten Treppenstufe angekommen war, schritt Jolen einen schmalen Gang entlang. Schließlich erreichte er eine Wegbiegung, und Staub, Lärm und das Gefühl von Furcht überfluteten Rothens Sinne. Dann war da nur noch Verwirrung, als alle Magier gleichzeitig Fragen schickten.
-Sie haben den Korridor zum Einsturz gebracht. Jolen sandte das Bild einer Mauer aus Schutt und Trümmern. Dannyl war hinter mir.
Ein Stich der Angst durchzuckte Rothen. Dannyl?
Stille folgte, dann erklang eine schwache Gedankenstimme.
-Begraben. Warte… Ich bin frei. Nichts passiert. Geht weiter, Jolen. Sie wollten uns offensichtlich daran hindern, die Gänge von hier aus weiter zu erkunden. Geht weiter und findet sie.
-Geht, wiederholte Rothen. Jolen wandte sich von den Trümmern ab und eilte weiter.
Eine Glocke erklang. Sonea blickte von der Feuerstelle auf und erhob sich. Ein Paneel in der Mauer glitt zurück, und Faren trat hindurch. Er war ganz in Schwarz gekleidet, und seine verblüffenden Augen glänzten, so dass er Ähnlichkeit mit einem gefährlichen Insekt hatte. Er lächelte sie an, dann reichte er ihr ein Päckchen, das in Stoff eingewickelt war und von einer Schnur zusammengehalten wurde.
»Das ist für dich.«
Sie drehte das Päckchen in den Händen. »Was ist das?«
»Mach es auf«, drängte Faren sie und ließ sich auf einen der Sessel sinken.
Sonea nahm ihm gegenüber Platz und zog das Band auf. Unter dem Stoff kam ein altes Buch mit ledernem Einband zum Vorschein. Etliche Blätter hatten sich aus der Bindung gelöst. Sonea sah Faren fragend an. »Ein altes Buch?«
Er nickte. »Sieh dir den Titel an.«
Sonea betrachtete den Einband, dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich kann nicht lesen.«
Faren blinzelte überrascht. »Natürlich.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, das hätte mir klar sein müssen. Es ist ein Buch über Magie. Ich habe meine Leute zu sämtlichen Pfandleihern und Hehlern geschickt, um nach etwas Derartigem zu suchen. Anscheinend verbrennen die Magier ihre alten Bücher, aber dem Ladenbesitzer zufolge ist dieses Buch von einem unternehmungslustigen, ungehorsamen Diener verkauft worden. Sieh hinein.«
Sonea schlug den Einband auf und entdeckte ein zusammengefaltetes Stück Papier. Sie bemerkte sofort, dass es sich um dickes Pergament handelte. Pergament von solcher Qualität kostete im Allgemeinen mehr als eine Mahlzeit für eine große Familie. Sie faltete das Blatt auseinander und besah sich die schwarzen Buchstaben, die sich in makellosen Reihen über die Seite zogen, dann sog sie plötzlich scharf die Luft ein. Sie hatte das Symbol entdeckt, das in eine Ecke des Blattes gestempelt worden war. Ein Diamant mit einem »Y«, das ihn teilte – das Symbol der Gilde.
»Was ist das?«, flüsterte sie.
»Eine Nachricht«, antwortete Faren. »Für dich.«
»Für mich?« Sie blickte zu ihm auf.
Er nickte.
»Woher wussten sie, dass dieses Buch den Weg zu mir finden würde?«
»Sie wussten es nicht, aber sie haben es jemandem gegeben, von dem sie wussten, dass er in Verbindung zu den Dieben steht, und dieser Jemand hat das Schreiben weitergeleitet.«
Sie hielt ihm das Pergament hin.
»Was steht dort?«
Er nahm das Papier von ihr entgegen. »Hier steht: ›An die junge Lady mit magischen Kräften. Da wir nicht persönlich mit dir sprechen können, schicken wir dir diese Nachricht über die Diebe, in der Hoffnung, dass es ihnen möglich sein wird, dich zu erreichen. Wir möchten dir versichern, dass wir nicht die Absicht haben, dir in irgendeiner Weise zu schaden. Außerdem möchten wir betonen, dass wir am Tag der Säuberung nicht die Absicht hatten, dich oder den jungen Mann zu verletzen. Sein Tod war ein tragischer Unfall. Wir haben einzig und allein den Wunsch, dich zu lehren, wie du deine Kräfte beherrschen kannst. Außerdem möchten wir dir die Möglichkeit anbieten, dich der Gilde anzuschließen. Wir würden dich gern in unserer Mitte willkommen heißen.‹ Dann kommt die Unterschrift: ›Lord Rothen von der Magiergilde‹.«
Sonea starrte die Botschaft ungläubig an. Die Gilde wollte sie, ein Mädchen aus den Hütten, aufnehmen?
Es musste ein Trick sein, überlegte sie, ein Versuch, sie aus ihrem Versteck zu locken. Sie musste an den Magier denken, der die Zuflucht auf dem Dachboden überfallen hatte, und daran, dass er sie als Feindin der Gilde bezeichnet hatte. Er hatte nicht gewusst, dass sie zuhörte. Und seine Worte entsprachen vermutlich eher der Wahrheit als das Schreiben dieses unbekannten Mannes.
Faren faltete das Pergament zusammen und schob es in seine Tasche. Als Sonea sein gerissenes Lächeln sah, regte sich leichter Argwohn in ihr. Woher sollte sie wissen, ob auf dem Pergament wirklich das stand, was er ihr vorgelesen hatte?
Aber warum sollte er sich so etwas ausdenken? Er wollte, dass sie für ihn arbeitete, nicht dass sie zu den Magiern überlief. Es sei denn, er stellte sie auf die Probe …
Der Dieb zog eine Augenbraue in die Höhe. »Was hältst du davon, kleine Sonea?«
»Ich glaube den Magiern nicht.«
»Warum nicht?«
»Sie würden niemals jemanden aus den Hütten bei sich aufnehmen.«
Faren strich mit der Hand über die Armlehne seines Stuhls. »Was würdest du tun, wenn du wüsstest, dass sie dich tatsächlich in der Gilde aufnehmen wollen? Viele gewöhnliche Menschen träumen davon, Magier zu werden. Vielleicht hat die Gilde den Wunsch, sich in den Augen der Öffentlichkeit reinzuwaschen.«
Sonea schüttelte den Kopf. »Es ist ein Trick. Das Versehen war, dass sie den Falschen erwischt haben, nicht dass sie einen von uns getötet haben.«
Faren nickte langsam. »Das sagen die meisten Zeugen. Nun, wir werden die Einladung der Gilde ausschlagen und uns jetzt wichtigeren Angelegenheiten zuwenden.« Er zeigte auf das Buch in ihrem Schoß. »Ich weiß nicht, ob du etwas Nützliches daraus lernen kannst. Ich werde dir jemanden schicken, der es dir vorliest. Allerdings wäre es vielleicht sinnvoll, wenn du selbst lesen lernen würdest.«
»Meine Tante hat mir ein paar Buchstaben beigebracht«, erklärte Sonea, während sie in den Seiten blätterte. »Aber das ist schon lange her.« Sie blickte auf. »Kann ich Jonna und Ranel bald sehen? Jonna könnte mir bestimmt das Lesen beibringen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht bevor die Magier aufhören –« Er legte die Stirn in Falten und lauschte. Ein leises Klingeln drang an ihre Ohren.
»Was ist das?«
Faren stand auf. »Warte hier«, sagte er und verschwand in der Dunkelheit hinter dem Paneel.
Sonea legte das Buch beiseite und trat vor die Feuerstelle. Wenige Augenblicke später stand Faren wieder im Raum.
»Schnell«, zischte er, »folge mir – und sprich kein Wort.«
Er ging an ihr vorbei, und einen Herzschlag lang starrte Sonea ihn nur an, bevor sie ihm durch den Raum folgte.
Faren zog einen kleinen Gegenstand aus einer Tasche und strich damit über die Wandvertäfelung. Als Sonea näher kam, sah sie, dass sich eine Verdickung im Holz vorschob, bis sie um die Länge eines halben Fingers in den Raum hineinragte. Faren griff nach dem kleinen Holzknauf und zog daran.
Ein Teil der Wand schwang nach innen. Faren griff nach Soneas Arm und zog sie in die Dunkelheit hinein. Nachdem er den Knauf wieder in das Paneel gedrückt hatte, schloss er die Tür hinter sich.
Vollkommene Finsternis umgab sie. Als Soneas Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, dass die Tür in Schulterhöhe fünf winzige, nebeneinander liegende Löcher aufwies. Durch eines dieser Löcher spähte Faren jetzt.
»Es gibt schnellere Methoden, den Raum zu verlassen«, erklärte er ihr, »aber da wir noch genug Zeit hatten, hielt ich es für besser, die Tür zu wählen, die zu öffnen fast unmöglich ist. Sieh es dir an.«
Er rückte von dem Guckloch weg. Sonea blinzelte; eine Flamme erhellte plötzlich die Dunkelheit. Faren hob eine kleine Lampe und legte die Blende vor, bis nur noch ein winziger Lichtstrahl den Korridor erhellte. Im Schein der Lampe machte er sie auf mehrere metallene Riegel und einige kompliziert aussehende Vorrichtungen auf der Rückseite der Tür aufmerksam.
»Also, was ist passiert?«, fragte sie.
Farens gelbe Augen funkelten in dem fahlen Licht, als er die Riegel vorlegte. »Inzwischen sucht nur noch eine Hand voll Magier nach dir. Meine Spione wissen jetzt, wie sie aussehen, sie kennen ihre Namen und die Art, wie sie vorgehen.« Faren kicherte. »Wir haben ihnen falsche Informationen zugespielt, damit sie etwas zu tun hatten. Heute haben sie sich dann plötzlich ziemlich seltsam benommen. Sie sind in größerer Zahl in den Siedlungen erschienen als normalerweise, und sie trugen Umhänge über ihren Roben. Sie haben überall Position bezogen, und es sah so aus, als warteten sie auf etwas. Ich weiß nicht, worauf, aber sie haben immer wieder den Standort gewechselt. Und jedes Mal, wenn sie das taten, sind sie diesem Haus ein wenig näher gekommen. Und gerade eben hat Ceryni mir gesagt, er glaube, die Magier seien dir auf die Spur gekommen. Seiner Meinung nach sind sie offensichtlich in der Lage, zu spüren, dass du Magie benutzt. Ich habe ihm nicht geglaubt, bis –«
Faren hielt inne, dann erlosch der dünne Lichtstrahl seiner Lampe plötzlich, und Dunkelheit erfüllte den Korridor. Sonea hörte, wie der Dieb sich zur Mauer hin zurückzog. Sie trat vorsichtig vor und drückte ein Auge auf eins der kleinen Löcher.
Die Tür zum Raum stand offen. Zuerst glaubte Sonea, das Versteck sei leer, dann trat plötzlich eine Gestalt aus einem der Nebenzimmer, und sie sah eine wallende, grüne Robe.
»Es ist meinen Leuten gelungen, die Magier aufzuhalten, indem sie den Gang zum Einsturz gebracht haben«, flüsterte Faren, »aber einer von ihnen ist trotzdem durchgekommen. Hab keine Angst. Niemand schafft es durch diese Tür. Sie ist…« Er sog leise die Luft ein. Sonea blickte abermals durch das Loch und spürte, wie ihr Herz aussetzte. Der Magier schien ihr direkt ins Gesicht zu starren.
»Kann er uns hören?«, murmelte Faren. »Ich habe die Mauer viele Male erprobt.«
»Vielleicht kann er die Tür sehen«, sagte Sonea.
»Nein, dazu müsste er sie sehr genau untersuchen. Selbst wenn er tatsächlich nach Türen Ausschau hielte, es gibt fünf Ausgänge aus dem Raum. Warum sollte er sich gerade für diesen hier entscheiden?«
Der Magier kam auf sie zu und blieb dann stehen. Er starrte das Holz an und schloss die Augen. Sonea nahm ein allzu vertrautes Gefühl wahr, das über sie hinwegstrich. Als der Magier die Augen wieder öffnete, hatte seine Miene sich entspannt, und er sah direkt zu Faren hinüber.
»Woher weiß er es?«, zischte Faren. »Benutzt du gerade Magie?«
»Nein«, antwortete Sonea, erstaunt über die Zuversicht in ihrer Stimme. »Ich kann mich vor ihm verstecken. Du bist es. Er spürt dich.«
»Mich?« Faren wandte sich von dem Loch ab und sah Sonea forschend ins Gesicht.
Sonea zuckte die Achseln. »Frag mich nicht, warum.«
»Kannst du mich verstecken?« Farens Stimme klang beunruhigt. »Kannst du uns beide verstecken?«
Sonea trat einen Schritt von der Tür zurück. Konnte sie das? Was immer der Magier wahrnahm, sie konnte es nicht verstecken, solange sie es nicht selbst gefunden hatte. Sie sah Faren an, dann sah sie Faren. Es war, als hätte sie ihre Sinne ausgestreckt – nein, sie benutzte irgendeinen Sinn, der weder von den Augen noch von den Ohren gesteuert wurde. Was es auch war, sie konnte plötzlich eine Person neben sich spüren.
Faren stieß einen leisen Fluch aus.
»Was immer du tust, hör auf damit!«, keuchte er. Etwas strich über die Mauer. Faren wich zurück. »Er versucht, die Tür zu öffnen«, erklärte er Sonea. »Ich hatte Angst, dass er auf die Idee kommen könnte, die Mauer zu sprengen. Das verschafft uns ein wenig Zeit.« Er öffnete die Blende der Lampe und bedeutete Sonea, ihm zu folgen.
Sie waren nur wenige Schritte gegangen, als ein Geräusch sie jäh innehalten ließ: Ein Riegel wurde zurückgeschoben. Faren drehte sich um und fluchte. Dann hob er die Lampe, bis ihr Licht auf die Mauer fiel.
Ein Riegel nach dem anderen glitt zurück, scheinbar aus eigenem Antrieb. Sonea sah, wie die Zahnräder des komplizierten Mechanismus sich drehten, dann herrschte plötzlich tiefe Dunkelheit um sie herum. Faren hatte die Lampe fallen lassen.
»Lauf!«, stieß er hervor. »Folg mir!«
Sonea legte eine Hand auf die Mauer, um nicht die Orientierung zu verlieren, dann rannte sie hinter Faren her. Sie war nicht mehr als zwanzig Schritte weit gelaufen, als ein Lichtkeil an ihr vorbeischoss und ihren Schatten auf den Boden warf. Der Klang von Stiefeln hallte durch den Korridor hinter ihr.
Plötzlich war der Tunnel von grellem Licht erfüllt, und Soneas Schatten schrumpfte zusammen. Hitze strich über ihr Ohr, und sie prallte zurück, als eine leuchtende Lichtkugel sie einholte. Das Licht schoss an Faren vorbei und formte eine glühende Barriere vor ihnen.
Faren kam schlitternd zum Stehen und wirbelte zu ihrem Verfolger herum. Sein Gesicht wirkte sehr bleich in dem weißen Licht. Als sie ihn erreicht hatte, drehte Sonea sich ebenfalls um. Eine in Roben gewandete Gestalt kam mit langen Schritten auf sie zu. Mit hämmerndem Herzen zog Sonea sich zurück, bis sie die Vibrationen und die Hitze der Barriere hinter sich spüren konnte.
Faren stieß ein Knurren aus, dann ballte er die Fäuste und rannte den Gang zurück, direkt auf den Magier zu. In ihrer Überraschung konnte Sonea ihm nur hinterherstarren.
»Du da!« Faren zeigte mit dem Finger auf den Magier. »Wofür hältst du dich? Das hier ist mein Territorium. Du hast kein Recht, hier einzudringen!«
Seine Stimme hallte durch den Gang. Der Magier verlangsamte seinen Schritt und musterte den Dieb mit wachsamem Blick.
»Das Gesetz gestattet uns, hinzugehen, wo immer wir hingehen müssen«, erklärte der Magier.
»Das Gesetz besagt außerdem, dass Ihr weder Menschen noch deren Besitz Schaden zufügen dürft«, gab Faren zurück. »Meiner Meinung nach habt Ihr während der letzten Wochen nur allzu oft gegen beide Gebote verstoßen.«
Der Magier blieb stehen und hob beschwichtigend die Hände.
»Es war nicht unsere Absicht, diesen Jungen zu töten. Es war ein Versehen.« Der Magier sah Sonea an, und ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinab. »Es gibt viele Dinge, die wir dir erklären müssen. Wir müssen dich lehren, wie du deine Kräfte kontrollieren kannst –«
»Habt Ihr es immer noch nicht verstanden?«, zischte Faren. »Sie möchte keine Magierin werden. Sie will nichts mit Euch zu tun haben. Lasst sie einfach in Ruhe.«
»Das kann ich nicht.« Der Magier schüttelte den Kopf. »Sie muss mit uns kommen –«
»Nein!«, schrie Faren.
Die Augen des Magiers wurden plötzlich kalt, und Sonea begann zu zittern.
»Nicht, Faren!«, rief sie. »Er wird dich töten.«
Faren achtete jedoch nicht auf sie, sondern breitete die Arme aus, so dass seine Hände die beiden Mauern des Tunnels berührten.
»Wenn Ihr sie haben wollt«, knurrte er, »dann werdet Ihr es zuerst mit mir aufnehmen müssen.«
Der Magier zögerte kurz, bevor er einen Schritt nach vorn machte und die Hände hob, so dass die Innenflächen auf Faren gerichtet waren. Ein Klirren erfüllte den Korridor.
Dann riss der Magier die Arme hoch und verschwand.
Verwirrt starrte Sonea auf den Boden, wo der Magier noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte. Ein dunkles Quadrat war dort erschienen.
Faren ließ die Hände sinken, warf den Kopf in den Nacken und begann zu lachen. Sonea, deren Herz immer noch hämmerte, schlich zu ihm hinüber. Sie senkte den Blick und sah, dass das schwarze Quadrat ein großes Loch im Fußboden war.
»W-was ist passiert?«
Farens Lachen verebbte zu einem Kichern. Er streckte die Hand aus und drehte einen Ziegelstein in der Mauer. Er griff nach irgendetwas in der dunklen Öffnung und zog es, vor Anstrengung keuchend, heraus. Eine Falltür stieg langsam aus der Tiefe empor und schob sich dann mit einem Klicken über das Loch. Faren scharrte mit dem Fuß ein wenig Staub über die Öffnung.
»Das war wirklich zu einfach«, sagte er, während er sich die Hände an einem Nasentuch abwischte. Er grinste Sonea an, dann vollführte er eine kecke kleine Verbeugung. »Wie hat dir meine Vorstellung gefallen?«
Ein Lächeln umspielte Soneas Lippen. »Ich schätze, ich bin immer noch wach, und dies ist kein Traum.«
»Ha!« Faren zog die Augenbrauen hoch. »Du warst von seiner Darbietung ja offensichtlich überzeugt. ›Nicht, Faren! Er wird dich töten!‹«, äffte er sie mit schriller Stimme nach. Er legte sich eine Hand aufs Herz und lächelte. »Deine Sorge um meine Sicherheit rührt mich zutiefst.«
»Freu dich nur daran«, erwiderte sie. »Es könnte durchaus sein, dass dieses Gefühl nicht lange anhält.« Sie strich mit dem Fuß über die Falltür. »Wohin führt diese Tür?«
Faren zuckte die Achseln. »Oh, geradewegs hinunter in eine Grube voller eiserner Dornen.«
Sonea starrte ihn entgeistert an. »Du meinst… er ist tot?«
»Sehr tot.« Farens Augen blitzten.
Sonea sah zu Boden. Das konnte unmöglich wahr sein… Aber wenn Faren sagte, dass… Obwohl es dem Magier vielleicht gelungen sein mochte …
Ihr war plötzlich übel, und sie fror. Sie hatte nie darüber nachgedacht, dass einer der Magier bei der Suche nach ihr getötet werden könnte. Verletzt vielleicht, aber doch nicht getötet. Was würde die Gilde tun, wenn sie erfuhr, dass einer der ihren den Tod gefunden hatte?
»Sonea.« Faren legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Er ist nicht tot. Die Falle führt in eine Kloake. Sie ist als Fluchtweg gedacht. Wenn er da unten rauskommt, wird er schlimmer stinken als der Tarali-Fluss, aber er wird noch leben.«
Sonea nickte erleichtert.
»Denk doch nur daran, was er dir angetan hätte, Sonea. Eines Tages könntest du gezwungen sein, selbst zu töten, um deine Freiheit zu retten.« Faren betrachtete sie eindringlich. »Hast du jemals darüber nachgedacht?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, machte er kehrt und besah sich die Barriere aus Licht und Wärme, die immer noch den Durchgang versperrte. Dann schüttelte er den Kopf und ging den Korridor hinunter, zurück zu ihrem Versteck. Sonea trat nervös über die Falltür und folgte ihm.
»Wir können hier nicht länger bleiben«, überlegte er laut, während er weiterging, »falls auch andere Magier einen Weg ins Haus gefunden haben. Wir müssen…« Er trat näher an die Mauer heran, um sie in Augenschein zu nehmen. »Ah, da ist es.« Er berührte etwas in der Mauer.
Sonea keuchte, als der Boden plötzlich unter ihr hinwegglitt. Irgendetwas schlug hart gegen ihren Rücken, dann rutschte sie über eine steile, glatte Fläche in die Tiefe. Die Luft erwärmte sich schnell, und ein unverkennbarer Gestank schlug ihr entgegen.
Dann schien sie plötzlich zu fliegen, bevor sie in feuchte Dunkelheit getaucht wurde. Wasser drang ihr in die Ohren und die Nase, aber sie hielt den Mund fest geschlossen. Sie trat mit den Beinen um sich, fand schließlich festen Grund und stieß sich an die Oberfläche des Wassers empor. Dann schlug sie gerade rechtzeitig die Augen auf, um Faren dabei zu beobachten, wie er aus einem Tunnel geflogen kam und mit einem Klatschen in dem Becken landete. Er fuchtelte mit den Armen und tauchte schließlich fluchend neben ihr auf.
»Ah!«, brüllte er. Er wischte sich über die Augen und fluchte abermals. »Die falsche Falltür!«
Sonea verschränkte die Arme vor der Brust. »Also, wo ist der Magier nun wirklich gelandet?«
Faren blickte auf, und ein boshaftes Schimmern trat in seine gelben Augen.
»In dem Müllschacht der Bolbrauerei einige Häuser weiter die Straße hinunter«, murmelte er. »Wenn er da rauskommt, wird er eine Woche lang stinken wie fermentierter Tugor-Brei.«
Sonea prustete und watete dann auf den Rand des Beckens zu. »Und das soll schlimmer sein als dies hier?«
Faren zuckte die Achseln. »Für einen Magier vermutlich schon. Nach allem, was ich höre, hassen sie dieses Zeug.« Er folgte ihr aus dem Becken, dann musterte er sie versonnen. »Ich denke, ich bin dir ein Bad und frische Kleidung schuldig, wie?«
»Weil du es um ein Haar nicht geschafft hättest, mich zu beschützen?« Sonea hob die Schultern. »Für den Augenblick werde ich mich mit einem Bad und frischer Kleidung zufrieden geben, aber wenn du mich das nächste Mal in eine Kloake wirfst, musst du dir schon etwas Besseres ausdenken.«
Er grinste. »Ich werde mal sehen, was sich da machen lässt.«
Obwohl der nahe Winter der Luft schneidende Kälte verlieh und dichte, graue Wolken am Himmel hingen, besserte sich Rothens Stimmung sofort, als er aus dem Haus trat. Heute war Freitag, der Tag, an dem alle Arbeit ruhte. Für die meisten Magier war der fünfte und letzte Tag der Woche ein Tag des Müßiggangs. Von den Novizen erwartete man dagegen, dass sie sich zumindest für einige Stunden ihren Studien widmeten, und die Lehrer hatten an diesem Tag ein wenig Zeit, um Rückschau auf die Unterrichtsstunden zu halten und sich für die kommende Woche vorzubereiten.
Rothen ging am Mußetag im Allgemeinen für eine Stunde in den Gärten spazieren, bevor er in sein Quartier zurückkehrte, um an den Lektionen zu arbeiten. In dieser Woche gab es jedoch nichts, worauf er sich hätte vorbereiten müssen. Da er offiziell zum Organisator der Suche erklärt worden war, hatte ein anderer Magier seine Pflichten als Lehrer übernommen.
Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er damit, die Suche der Freiwilligen zu koordinieren. Es war eine anstrengende Arbeit – für ihn und die Freiwilligen. Die letzten drei Wochen hatten sie, einschließlich der Freitage, mit der Suche verbracht. Rothen wusste, dass einige seiner Helfer ihre Arbeit niederlegen würden, wenn er weiterhin so viel Einsatz von ihnen verlangte. Daher hatte er beschlossen, die Suche für einen Tag ruhen zu lassen.
Als er um eine Ecke bog, kam die Arena der Gilde in Sicht. Acht Türme erhoben sich elegant rings um den runden Kampfplatz und bildeten ein Netzwerk für den machtvollen Schild, der alles außerhalb des Kampffeldes vor den Kräften schützte, die während der Kriegerlektionen benutzt wurden. Vier Novizen standen auf dem Feld, aber heute stellte niemand ein Aufsehen erregendes Spektakel zur Schau.
Stattdessen standen die Novizen paarweise nebeneinander und schwangen mit kontrollierten, genau aufeinander abgestimmten Bewegungen Schwerter. Einige Schritte von ihnen entfernt stand Fergun, das Schwert in der Hand, und beobachtete die Novizen genau.
Rothen hatte Mühe, eine Aufwallung von Missbilligung zu unterdrücken. Sollten die Novizen ihre Zeit nicht besser zum Lernen nutzen, statt sich in dieser überflüssig gewordenen Kampfkunst zu üben?
Der Schwertkampf gehörte nicht zu den Studienfächern der Universität. Novizen, die diese Kunst erlernen wollten, opferten dafür ihre Freizeit. Es war ein Hobby, und Rothen wusste, dass es nur gesund für junge Leute war, ein Interesse zu entwickeln, das nichts mit Magie zu tun hatte und das sie aus ihren stickigen Zimmern herausholte.
Allerdings war er immer schon der Auffassung gewesen, dass Roben und Schwerter nicht gut zusammenpassten. Es gab schon zu viele Möglichkeiten, wie ein Magier einem anderen Menschen Schaden zufügen konnte. Warum sollte man dieser Liste noch eine nichtmagische Fähigkeit hinzufügen?
Auf den Stufen, die die Arena umgaben, standen zwei Magier, die das Geschehen aufmerksam verfolgten. Rothen erkannte Ferguns Freund, Lord Kerrin, und neben ihm Lord Elben, einen Lehrer der Alchemie. Beide stammten aus dem mächtigen Haus Maron, ebenso wie Fergun selbst. Rothen lächelte. Wenn jemand der Gilde beitrat, erwartete man, dass er sich von allen Bündnissen und Feindseligkeiten zwischen den Häusern abwandte, aber nur wenige Magier befolgten dieses Gebot.
Jetzt rief Fergun einen der Novizen zu sich herüber. Lehrer und Novize grüßten einander und ließen sich dann in die Hocke sinken. Als der Novize mit blitzendem Schwert zum Angriff ansetzte, hielt Rothen den Atem an. Fergun trat vor, und seine Waffe wurde praktisch unsichtbar, so schnell ließ er sie durch die Luft wirbeln. Der Novize erstarrte. Ferguns Schwert drückte sich auf seine Brust.
»Verlangt es Euch etwa, an Lord Ferguns Unterricht teilzunehmen?«, erklang eine vertraute Stimme hinter ihm.
Rothen drehte sich um. »In meinem Alter, Administrator?« Er schüttelte den Kopf. »Und selbst wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, könnte ich keinen Sinn darin entdecken.«
»Wie ich höre, schärft die Kampfkunst die Reflexe, und überdies soll sie recht nützlich sein, wenn es darum geht, jemandem Disziplin und Konzentration beizubringen«, erwiderte Lorlen. »Lord Fergun findet derzeit bei vielen Magiern Unterstützung für diese alte Kunst, und er hat uns darum gebeten, einmal darüber nachzudenken, ob wir den Schwertkampf nicht in die Studienpläne der Universität aufnehmen wollen.«
»Diese Entscheidung läge doch bei Lord Balkan, nicht wahr?«
»Zum Teil. Das Oberhaupt der Krieger müsste den Höheren Magiern eine solche Erweiterung der Studienpläne zur Abstimmung vorlegen. Ob er das tut, liegt allein bei ihm.« Lorlen breitete die Hände aus. »Wie ich höre, habt Ihr beschlossen, den Suchern für heute freizugeben.«
Rothen nickte. »Sie haben alle hart gearbeitet, manchmal bis spät in die Nacht hinein.«
»Es waren anstrengende vier Wochen für Euch alle«, pflichtete Lorlen ihm bei. »Habt Ihr Fortschritte gemacht?«
»Eigentlich nicht«, gab Rothen zu. »Jedenfalls nicht mehr seit der vergangenen Woche. Wann immer wir sie wahrnehmen, wechselt sie ihren Standort, bevor wir sie finden.«
»Wie Dannyl es vorausgesagt hat.«
»Ja, aber wir haben Ausschau nach Mustern in ihren Bewegungen gehalten. Wenn sie irgendwann zu einem früheren Versteck zurückkehrt, könnten wir sie schneller aufspüren als beim ersten Mal.«
»Und was ist mit diesem Mann, der ihr geholfen hat zu fliehen? Glaubt Ihr, er war einer der Diebe?«
Rothen zuckte die Achseln. »Möglicherweise. Er hat Lord Jolen beschuldigt, in sein Territorium eingedrungen zu sein, was die Vermutung nahelegt, dass er ein Dieb war. Aber mir fällt es schwer zu glauben, dass einer der Diebe ein Lonmar sein soll. Vielleicht war der Mann lediglich ein Beschützer und seine Anklage dazu gedacht, Jolen auf die Falltür zu locken.«
»Dann besteht also die Möglichkeit, dass sie nichts mit den Dieben zu tun hat?«
»Die Möglichkeit, ja, aber es ist unwahrscheinlich. Ich bezweifle, dass sie das Geld hat, um Beschützer zu bezahlen. Der Mann, dem Jolen in dem Tunnel begegnet ist, und die behaglichen Räume, in denen das Mädchen untergebracht war, lassen darauf schließen, dass jemand sich um sie kümmert. Und zwar jemand, der sowohl über die finanziellen Mittel als auch über die Organisation dafür verfügt.«
»So oder so – das sind keine guten Neuigkeiten.« Lorlen seufzte und betrachtete die Novizen in der Arena. »Der König ist gar nicht glücklich über die Entwicklung der Dinge, und daran wird sich auch nichts ändern, solange wir das Mädchen nicht unter Kontrolle haben.«
»Das Gleiche gilt für mich.«
Lorlen nickte. Er schürzte die Lippen, dann sah er Rothen wieder an. »Da ist noch etwas, über das ich mit Euch reden sollte.«
»Ja?«
Lorlen zögerte, als wolle er seine Worte sorgfältig abwägen. »Lord Fergun hat den Wunsch geäußert, zu ihrem Mentor bestellt zu werden.«
»Ja, ich weiß.«
Lorlen zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ihr seid unerwartet gut informiert, Lord Rothen.«
Rothen lächelte. »Unerwartet, ja. Ich habe durch Zufall davon erfahren.«
»Habt Ihr immer noch die Absicht, Eurerseits den Antrag zu stellen, als Mentor für das Mädchen eingesetzt zu werden?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden. Sollte ich?«
Lorlen schüttelte den Kopf. »Ich halte es nicht für nötig, dieses Problem anzugehen, bevor wir sie finden. Aber Euch ist doch klar, dass ich eine Anhörung einberufen muss, sobald wir sie haben, falls Ihr beide zu ihrem Mentor bestellt werden wollt?«
»Ja, natürlich.« Rothen zögerte. »Darf ich Euch eine Frage stellen?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Lorlen.
»Hat Fergun gute Argumente, um seine Forderung zu stützen?«
»Vielleicht. Da er die Konsequenzen ihrer Magie zu spüren bekommen hat, war er, wie er behauptet, der Erste, der ihre Kräfte entdeckt hat. Ihr habt berichtet, dass Ihr das Mädchen gesehen habt, nachdem sie ihre Kräfte eingesetzt hatte. Ferner habt Ihr erklärt, Ihr hättet ihrem Gesichtsausdruck entnommen, dass sie die Angreiferin war, was bedeutet, dass Ihr ihre Kräfte nicht selbst gespürt habt. Es ist unklar, wie man das Gesetz in einem solchen Fall zur Anwendung bringen muss, und wenn es darum geht, ein bestimmtes Gesetz einer bestimmten Situation anzupassen, schließt sich die Mehrheit unserer Kollegen häufig der einfachsten Auslegung an.«
Rothen runzelte die Stirn. »Ja, da könntet Ihr Recht haben.«
Lorlen bedeutete Rothen, ihm zu folgen, dann ging er mit langsamen Schritten zur Arena hinüber. »Fergun ist fest entschlossen«, sagte er leise, »und er hat viele Anhänger, aber es gibt auch viele unter den Magiern, die sich auf Eure Seite stellen würden.«
Rothen nickte seufzend. »Es ist keine einfache Entscheidung. Wäre es Euch lieber, wenn ich keine Unruhe in die Gilde brächte, indem ich Ferguns Ansprüche anfechte? Das würde Euch weniger Scherereien machen.«
»Ihr fragt mich, was mir lieber wäre?« Lorlen kicherte und sah Rothen direkt in die Augen. »Wenn Ihr es nicht tut, werde ich ebenso viele Scherereien haben.« Er lächelte schief, dann neigte er den Kopf. »Auf Wiedersehen, Lord Rothen.«
»Auf Wiedersehen«, erwiderte Rothen. Sie hatten inzwischen die Treppen erreicht, die die Arena umgaben. Die Novizen hatten sich wieder zu Paaren zusammengefunden und trainierten miteinander. Rothen blieb stehen und verfolgte gedankenverloren das Geschehen in der Arena, während Lorlen zu den beiden Magiern hinunterging, die den Unterricht beobachteten. Etwas in dem Blick, den Lorlen ihm zugeworfen hatte, sagte ihm, dass sich hinter den Worten des Administrators noch etwas anderes verbarg.
Die beiden Beobachter zuckten zusammen, als Lorlen plötzlich neben ihnen erschien.
»Seid mir gegrüßt, Lord Kerrin, Lord Elben.«
»Administrator.« Die beiden Männer neigten die Köpfe, dann sahen sie hastig wieder zur Arena hinüber, wo einer der Novizen einen Schrei der Überraschung ausgestoßen hatte.
»Ein hervorragender Lehrer«, bemerkte Lord Elben und deutete begeistert auf die Arena. »Wir haben gerade darüber gesprochen, dass Lord Fergun einen würdigen Mentor für dieses Mädchen aus den Hütten abgäbe. Nach ein paar Monaten seiner strengen Führung wäre sie gewiss ebenso weltgewandt und diszipliniert wie die Besten von uns.«
»Lord Fergun ist ein verantwortungsbewusster Mann«, erwiderte Lorlen. »Ich wüsste keinen guten Grund, der dagegen spräche, dass er sich intensiv um die Ausbildung eines einzelnen Novizen bemüht.«
Nur dass er bisher keinerlei Interesse an diesen Dingen gezeigt hat, dachte Rothen. Schließlich wandte er sich ab und setzte seinen Spaziergang durch die Gärten fort.
Es war keineswegs die Regel, dass ein Magier sich besonders um die Ausbildung eines Schülers kümmerte. Nur wenige Novizen wurden derart ausgezeichnet, und wenn es geschah, handelte es sich stets um einen Schüler, der herausragendes Talent bewiesen hatte. Wie stark oder begabt dieses Mädchen auch sein mochte, es würde in jedem Falle Hilfe und Unterstützung brauchen, während es sich an das Leben in der Gilde gewöhnte. Indem er sich zu ihrem Mentor bestimmen ließ, konnte er dafür sorgen, dass ihr diese Hilfe zuteil wurde.
Er bezweifelte jedoch stark, dass Ferguns Beweggründe für seinen Antrag sich aus der gleichen Quelle speisten. Nach Lord Elbens Worten zu schließen, hatte Fergun die Absicht, aus dem ungebärdigen Straßenkind mit Gewalt eine unterwürfige und gehorsame Novizin zu machen. Falls er Erfolg haben sollte, würde seine Leistung ihm ein gewisses Maß an Lob und Bewunderung eintragen.
Wie Fergun sein Ziel erreichte, würde gewiss interessant sein, da die Kräfte des Mädchens scheinbar besonders stark waren und seine eher schwach. Wenn sie es sich in den Kopf setzte, sich gegen ihn aufzulehnen, würde er sie nicht daran hindern können.
Aus diesem und anderen Gründen legte man den Magiern im Allgemeinen nahe, keinen Schützling unter die Fittiche zu nehmen, dessen Kräfte stärker waren als die eigenen. Schwache Magier wurden daher nur sehr selten zu Mentoren ernannt. Und wenn sie sich einem Novizen mit einem geringeren magischen Potenzial, als sie selbst es besaßen, zuwandten, lenkten sie damit lediglich Aufmerksamkeit auf ihre eigenen Mängel – und auf die Schwäche des betreffenden Novizen.
Aber bei diesem Straßenmädchen lagen die Dinge anders. Niemand würde sich dafür interessieren, wenn Fergun sie durch seine eigenen Grenzen bei ihren Studien behinderte. Soweit es die meisten seiner Kollegen betraf, konnte sie von Glück sagen, überhaupt ausgebildet zu werden.
Und wenn seine Bemühungen scheiterten, wer würde Fergun dann einen Vorwurf machen? Er konnte sich stets auf ihre Herkunft berufen… und wenn er ihre Ausbildung vernachlässigte, würde ihn deswegen niemand zur Rede stellen…
Rothen schüttelte den Kopf. Langsam fing er an, genauso zu denken wie Dannyl. Fergun war bereit, dem Mädchen zu helfen, was durchaus eine noble Geste war. Im Gegensatz zu Rothen, der bereits der Mentor zweier Novizen gewesen war, konnte Fergun sich auf diese Weise ein gewisses Maß an Ruhm verschaffen – und daran war nichts auszusetzen. Zumindest schien Lorlen so zu denken.
Oder vielleicht doch nicht? Was hatte Lorlen genau gesagt? Wenn Ihr es nicht tut, werde ich ebenso viele Scherereien haben.
Rothen kicherte leise, als ihm endlich die wahre Bedeutung von Lorlens Worten aufging. Wenn er Recht hatte, glaubte Lorlen, dass ihm in jedem Fall Scherereien ins Haus standen. Es würde Ärger geben, wenn er Fergun zum Mentor des Mädchens bestimmte, und es würde Ärger geben, wenn es in dieser Angelegenheit zum Streit käme.
Was bedeutete, dass Lorlen Rothen indirekt seine Unterstützung zu verstehen gegeben hatte, ein seltenes Ereignis.
Wie immer sagten Soneas Beschützer kein Wort, während sie sie durch die Tunnel führten. Abgesehen von den Wochen, die sie in ihrem ersten Versteck zugebracht hatte, war sie seit der Säuberung fast ständig in Bewegung gewesen. Der einzige erfreuliche Unterschied zu ihrer früheren Lage war der, dass sie jetzt keine Entdeckung zu befürchten brauchte.
Der Anführer ihrer kleinen Gruppe blieb vor einer Tür stehen und klopfte. Im Eingang erschien ein vertrautes, dunkles Gesicht.
»Bleibt hier und bewacht die Tür«, befahl Faren. »Komm herein, Sonea.«
Als sie den Raum betrat, hüpfte ihr Herz vor Freude, denn hinter Faren stand eine kleinere Gestalt.
»Cery!«
Er grinste und zog sie hastig an sich. »Wie geht es dir?«
»Gut«, antwortete sie. »Und dir?«
»Ich freue mich, dich wiederzusehen.« Er blickte ihr forschend ins Gesicht. »Du siehst besser aus.«
»Ich bin seit – hm, seit mehreren Tagen keinem Magier mehr begegnet«, sagte sie und sah kurz zu Faren hinüber.
Der Dieb kicherte. »Anscheinend haben wir sie überlistet.«
Der Raum war klein, aber behaglich. An der einen Seite brannte ein üppiges Feuer. Faren führte sie zu drei Stühlen hinüber. »Hast du irgendwelche Fortschritte gemacht, Sonea?«
Sie zuckte leicht zusammen. »Nein, bisher nicht. Ich versuche es immer wieder, aber es passiert nie das, was ich will.« Sie runzelte die Stirn. »Obwohl inzwischen fast immer irgendetwas passiert. Früher habe ich stets einige Anläufe gebraucht, bis es so weit war.«
Faren lehnte sich zurück und lächelte. »Nun, das ist ein Fortschritt. Haben die Bücher dir geholfen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe sie nicht.«
»Liest der Schreiber nicht deutlich genug?«
»Nein, das ist es nicht. Er macht seine Arbeit gut. Es ist nur, nun ja, es kommen zu viele fremde Wörter in dem Text vor, und manche Dinge ergeben einfach keinen Sinn.«
Faren nickte. »Wenn du ein wenig mehr Zeit hättest, sie zu studieren, würdest du ihre Bedeutung vielleicht verstehen. Ich bin immer noch auf der Suche nach weiteren Büchern.« Er schürzte die Lippen und betrachtete seine beiden Gäste nachdenklich. »Außerdem gehe ich einigen Gerüchten nach. Man erzählt sich seit Jahren, dass ein gewisser Dieb sich mit einem Mann angefreundet habe, der etwas von Magie verstehe. Ich dachte immer, er habe diese Geschichte nur erfunden, um dafür zu sorgen, dass wir anderen uns ordentlich benehmen, aber ich gehe der Sache trotzdem nach.«
»Ein Magier?«, fragte Cery.
Faren zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich bezweifle es. Es dürfte sich wohl eher um einen Mann handeln, der einige Tricks gelernt hat und sie als Magie ausgibt. Falls er jedoch irgendwelche Kenntnisse über echte Magie besitzen sollte, könnte er uns vielleicht von Nutzen sein. Sobald ich mehr weiß, gebe ich dir Bescheid.« Er lächelte. »Darüber hinaus habe ich keine Neuigkeiten, aber ich glaube, Cery hat dir etwas zu erzählen.«
Cery nickte. »Harrin und Donia haben deinen Onkel und deine Tante gefunden.«
»Wirklich?« Sonea setzte sich auf die äußerste Kante ihres Stuhls. »Wo sind sie? Geht es ihnen gut? Haben sie ein anständiges Quartier gefunden? Hat Harrin –«
Cery hob die Hände. »He! Eine Frage nach der anderen!«
Grinsend beugte sich Sonea zu ihm hinüber. »Entschuldige. Erzähl mir, was du weißt.«
»Nun«, begann er, »anscheinend konnten sie dort, wo sie früher gelebt haben, kein Zimmer mehr bekommen, haben aber einige Straßen entfernt ein noch besseres gefunden. Ranel hat jeden Tag nach dir gesucht. Die beiden hatten gehört, dass die Magier nach einem Mädchen Ausschau halten, sind aber nicht auf die Idee gekommen, dass es sich um dich handeln könnte.« Er lachte leise. »Als Harrin Jonna erzählte, dass du dich bei der Säuberung seiner Bande angeschlossen hast, hatte deine Tante das eine oder andere zu sagen, aber dann hat er den beiden berichtet, was du getan hast. Zuerst wollten sie ihm nicht glauben. Er hat ihnen erzählt, dass wir versucht haben, dich zu verstecken, und er hat von der Belohnung gesprochen und davon, dass die Diebe dich beschützen. Harrin meint, sie wären nicht so wütend darüber gewesen, wie er es erwartet hatte – nicht nachdem er alles erklärt hatte.«
»Haben sie ihm eine Nachricht für mich mitgegeben?«
»Sie lassen dir ausrichten, dass du auf dich aufpassen sollst. Außerdem sollst du dir genau überlegen, wem du vertraust.«
»Dieser letzte Rat kommt bestimmt von Jonna.« Sonea lächelte wehmütig. »Ich bin sehr froh, dass sie ein Quartier gefunden haben – und dass sie jetzt wissen, dass ich ihnen nicht einfach weggelaufen bin.«
»Harrin hatte Angst, dass Jonna ihm womöglich die Haut vom Leib ziehen würde, weil er dich aufgefordert hat, dich während der Säuberung uns anzuschließen. Er sagt, dass die beiden in Zukunft täglich in das Gasthaus kommen würden, um sich nach dir zu erkundigen. Soll er ihnen etwas von dir ausrichten?«
»Nur dass es mir gut geht und ich in Sicherheit bin.« Sie sah Faren an. »Dürfen die beiden mich besuchen?«
Faren runzelte die Stirn. »Ja, aber erst, wenn ich mich davon überzeugt habe, dass es ungefährlich ist. Es ist möglich – wenn auch zweifelhaft –, dass die Magier wissen, wer die beiden sind, und dass sie versuchen werden, über deinen Onkel und deine Tante an dich heranzukommen.«
Sonea sog scharf die Luft ein. »Was ist, wenn die Magier wissen, wer sie sind, und damit drohen, ihnen etwas anzutun, wenn ich mich nicht stelle?«
Der Dieb lächelte. »Ich glaube nicht, dass sie so etwas tun würden. Gewiss nicht in der Öffentlichkeit. Wenn sie versuchen sollten, es heimlich zu tun…?« Er deutete mit dem Kopf auf Cery. »Wir würden schon einen Ausweg finden, Sonea. Mach dir um solche Dinge keine Gedanken.«
Cery lächelte schwach. Es überraschte Sonea, dass Faren und Cery in dieser Angelegenheit Komplizen zu sein schienen, und sie unterzog ihren Freund einer eingehenden Musterung. Seine Schultern wirkten angespannt, und wann immer er zu Faren hinüberblickte, erschien eine Falte zwischen seinen Brauen. Sie hatte nicht erwartet, dass er sich in Gegenwart des Diebes unbefangen geben würde, aber dennoch kam er ihr allzu nervös vor.
Sie drehte sich zu dem Dieb um. »Dürfen Cery und ich uns ein wenig unterhalten?«, fragte sie. »Ich meine, allein?«
»Natürlich.« Faren erhob sich und ging zur Tür, sah sich dann aber noch einmal um. »Cery, wenn du hier fertig bist, hätte ich eine kleine Aufgabe für dich. Nichts Dringendes. Lass dir Zeit. Und wir sehen uns dann morgen, Sonea.«
»Morgen«, erwiderte sie und nickte.
Als sich die Tür hinter dem Dieb schloss, wandte Sonea sich zu Cery um.
»Bin ich hier wirklich in Sicherheit?«, fragte sie mit leiser Stimme.
»Für den Augenblick ja«, sagte er.
»Und später?«
Er hob die Schultern. »Das hängt von deiner Magie ab.«
Ein Stich der Furcht durchzuckte sie. »Was ist, wenn ich es nie lerne?«
Er beugte sich vor und griff nach ihrer Hand. »Du wirst es lernen. Du brauchst nur Übung. Wenn es so einfach wäre, gäbe es keine Gilde, nicht wahr? Nach allem, was ich gehört habe, brauchen Novizen fünf Jahre, bevor sie so gut sind, dass man sie ›Lord‹ Soundso nennt.«
»Weiß Faren das auch?«
Cery nickte. »Er wird dir Zeit geben.«
»Dann kann mir nichts passieren.«
Er lächelte. »So ist es.«
Sonea seufzte. »Was ist mit dir?«
»Ich mache mich nützlich.«
Sie sah ihn direkt an. »Indem du dich zu Farens Sklaven machst?«
Er wandte den Blick ab.
»Du brauchst nicht hierher zu kommen«, erklärte sie. »Ich bin in Sicherheit. Das hast du selbst gesagt. Geh. Geh fort, bevor sie dich endgültig am Haken haben.«
Kopfschüttelnd erhob er sich und ließ ihre Hand los. »Nein, Sonea. Du brauchst einen Freund. Jemanden, dem du vertrauen kannst. Ich werde dich nicht mit den Dieben allein lassen.«
»Aber du darfst dich nicht zu Farens Sklaven machen, nur damit ich einen Freund zum Reden habe. Geh zurück zu Harrin und Donia. Faren wird dir gewiss gestatten, mich ab und zu zu besuchen.«
Er wandte sich der Tür zu, dann drehte er sich wieder zu Sonea um. »Ich möchte das tun, Sonea.« Seine Augen leuchteten. »Seit ich denken kann, reden die Leute, als würde ich schon lange für die Diebe arbeiten. Jetzt habe ich die Gelegenheit, ihrem Gerede einen echten Anlass zu geben.«
Sonea starrte ihn an. War es wirklich das, was er wollte? Konnte ein so netter Kerl wie Cery aus freien Stücken zu einem Dieb werden? Zu einem unbarmherzigen, geldgierigen Mörder? Sie wandte den Blick ab. Das war es, was Jonna von den Dieben dachte. Cery selbst hatte immer beteuert, die Diebe trachteten ebenso danach, anderen zu helfen und sie zu beschützen, statt nur zu schmuggeln und zu stehlen.
Sie konnte – durfte – ihn nicht daran hindern, zu tun, was er immer hatte tun wollen. Falls sich herausstellte, dass diese Arbeit seinen Hoffnungen nicht entsprach, war er klug genug, um aus dem Netz der Diebe wieder zu entkommen. Sie schluckte und stellte fest, dass ihre Kehle plötzlich wie zugeschnürt war.
»Wenn es das ist, was du willst«, sagte sie. »Gib nur auf dich Acht.«
Er zuckte die Achseln. »Das tue ich immer.«
Sie lächelte. »Es wäre wunderbar, wenn du jeden Tag vorbeikommen könntest.«
Er grinste. »Nichts könnte mich davon abhalten.«
Das Bordell lag im dunkelsten und schmutzigsten Teil der Hüttenviertel. Wie in den meisten Fällen war die untere Etage ein Bolhaus, in den oberen Räumen arbeiteten die hübscheren Mädchen, und alle anderen Geschäfte wurden in den Ställen im hinteren Teil des Gebäudes abgewickelt.
Als Cery eintrat, gingen ihm noch einmal Farens Worte durch den Kopf. »Er kennt die meisten Gesichter. Aber dich wird er nicht erkennen. Tu so, als seist du neu in dem Gewerbe. Biete ihm einen guten Preis für das, was er hat. Und bring seine Waren dann zu mir.«
Als er den Raum durchquerte, machten sich mehrere der Mädchen an ihn heran. Sie wirkten blass und müde. Auf einer Seite des Schankraums verströmte ein kränkliches Feuer nur wenig Wärme. Der Wirt lümmelte sich hinter der Theke und unterhielt sich mit zwei Kunden. Cery lächelte den Mädchen zu und besah sich beide, als zöge er sie in Erwägung. Dann näherte er sich, wie Faren ihm aufgetragen hatte, einer dicken jungen Frau aus Elyne mit einer eintätowierten Feder an der Schulter.
»Möchtest du dich ein bisschen amüsieren?«, fragte sie.
»Vielleicht später«, antwortete er. »Ich habe gehört, ihr habt hier einen Raum, in dem man Leute kennen lernen kann.«
Ihre Augen weiteten sich, und sie nickte hastig. »Ja, das stimmt. Oben. Die letzte Tür rechts. Ich bringe dich hin.«
Sie griff nach seiner Hand und begleitete ihn die Treppe hinauf. Ihre Finger zitterten leicht, wie er feststellte. Während er die Stufen emporstieg, blickte er nach unten. Viele der Mädchen beobachteten ihn mit furchtsamen Augen.
Beunruhigt sah er sich um, bevor er den Korridor auf der oberen Etage hinunterging. Das tätowierte Mädchen ließ seine Hand los und zeigte auf die Räume am Ende des Ganges.
»Es ist die letzte Tür.«
Er drückte ihr eine Münze in die Hand und setzte seinen Weg fort. Nachdem er die Tür vorsichtig geöffnet hatte, spähte er hinein. Der Raum war winzig und nur mit einem kleinen Tisch und zwei Stühlen möbliert. Cery trat ein und sah sich schnell um. In die Wände waren mehrere Gucklöcher gebohrt worden. Er vermutete, dass sich unter den abgetretenen Simba-Matten auf dem Fußboden eine Falltür befand. Ein kleines Fenster gab den Blick auf eine Mauer und wenig sonst frei.
Er öffnete das Fenster und besah sich die Mauer gegenüber. Das Bordell war ungewöhnlich still für eine derartige Einrichtung. In der Nähe wurde eine Tür geöffnet, dann näherten sich Schritte. Cery kehrte an den Tisch zurück und setzte eine wachsame Miene auf. Ein Mann erschien in der Tür.
»Bist du der Hehler?«, fragte der Mann mit kehliger Stimme.
Cery hob die Schultern. »Das ist meine Aufgabe.«
Die Augen des Mannes zuckten in ihren Höhlen hin und her. Sein Gesicht hätte hübsch sein können, wäre es nicht so dünn gewesen und das Licht in den Augen des Mannes nicht so wild und kalt.
»Ich habe etwas zu verkaufen«, sagte der Mann nun. Seine Hände, die er tief in den Taschen verborgen gehalten hatte, kamen zum Vorschein. Eine Hand war leer, in der anderen lag eine glitzernde Halskette. Cery sog scharf die Luft ein; er brauchte seine Überraschung nicht zu heucheln. Ein solches Stück konnte nur einem reichen Mann oder einer reichen Frau gehört haben – falls es echt war.
Cery streckte die Hand nach der Kette aus, aber der Mann riss das Schmuckstück mit einer schnellen Bewegung an sich.
»Ich muss mich davon überzeugen, dass es keine Fälschung ist«, erklärte Cery.
Der Mann runzelte die Stirn, und seine Augen waren hart vor Misstrauen. Er schürzte die Lippen und legte die Kette dann widerstrebend auf den Tisch.
»Ansehen darfst du sie«, sagte er. »Aber nicht berühren.«
Cery seufzte, dann beugte er sich vor, um die Steine zu untersuchen. Er hatte keine Ahnung, wie man den Unterschied zwischen echten und gefälschten Juwelen ermittelte – ein Mangel, den er würde beheben müssen –, aber er hatte bisweilen Pfandleiher bei der Untersuchung von Schmuckstücken beobachtet.
»Dreh sie um«, befahl er.
Der Mann gehorchte. Als Cery genauer hinsah, entdeckte er eine Gravur in dem Verschluss. »Halt sie so, dass das Licht durch die Steine fällt.«
Der Mann hob die Kette mit einer Hand hoch und beobachtete Cery, während dieser sie mit schmalen Augen betrachtete.
»Was sagst du dazu?«
»Für zehn Silbermünzen nehme ich sie.«
Der Mann ließ die Hand sinken. »Sie ist mindestens fünfzig Goldmünzen wert!«
Cery schnaubte. »Wer wird dir in den Hütten fünfzig Goldstücke geben?«
Die Mundwinkel des Mannes zuckten. »Zwanzig Goldstücke«, sagte er.
»Fünf«, konterte Cery.
»Zehn.«
Cery schnitt eine Grimasse. »Sieben.«
»Leg das Geld auf den Tisch.«
Cery griff in seine Manteltasche, zählte die Münzen mit den Fingerspitzen ab und nahm dann die Hälfte davon heraus. Er holte weitere Münzen aus anderen Verstecken in seiner Kleidung hervor, legte sechs Stapel von Münzen übereinander, die jeweils einem Goldstück entsprachen, und stieß dann einen vernehmlichen Seufzer aus, bevor er aus seinem Stiefel eine glänzende Goldmünze zutage förderte.
»Leg den Schmuck hin«, sagte Cery.
Der Mann ließ die Kette neben das Geld auf den Tisch fallen. Als er nach den Münzen griff, streckte Cery die Hand nach der Kette aus und ließ die Juwelen in seinen Mantel gleiten. Der Mann blickte auf das kleine Vermögen in seinen Händen und grinste.
»Ein guter Handel, Junge. Du wirst es weit bringen in diesem Gewerbe.« Er zog sich rückwärts aus dem Raum zurück, dann drehte er sich um und eilte davon.
Cery sah dem Mann nach, wie er durch eine der anderen Türen verschwand. Als er in den Korridor hinaustrat, hörte er ein Mädchen einen spitzen Schrei der Überraschung ausstoßen.
»Jetzt werden wir uns niemals wieder trennen«, erklang die kehlige Stimme.
Als Cery an dem Raum vorbeikam, blickte er hinein. Das tätowierte Mädchen saß an einem Ende des Bettes. Mit angstgeweiteten Augen sah sie Cery an. Der Mann stand hinter ihr und betrachtete noch immer die Münzen in seinen Händen. Cery setzte seinen Weg fort. Als er in das Bolhaus hinunterkam, gab er sich alle Mühe, missmutig dreinzublicken. Die Mädchen, die sein Gesicht sahen, ließen ihn in Ruhe. Die männlichen Kunden beobachteten ihn, aber niemand sprach ihn an.
Draußen war es nur geringfügig kälter, als es in dem Haus gewesen war. Während er die Straße überquerte und in die Dunkelheit der Gasse trat, überlegte er, wie wenig Kunden das Bordell gehabt hatte, und empfand Mitleid mit den Huren, die dort arbeiteten.
»Du wirkst gelangweilt, kleiner Ceryni.«
Cery fuhr herum. Es dauerte beunruhigend lange, bis er den dunkelhäutigen Mann in der Finsternis ausmachen konnte. Und selbst als er Faren bereits entdeckt hatte, verstörte es ihn zutiefst, dass er nur zwei gelbe Augen und Zähne sehen konnte, die gelegentlich aufblitzten.
»Hast du bekommen, was du mir bringen solltest?«
»Ja.« Cery zog die Kette aus der Tasche und hielt sie in Farens Richtung. Behandschuhte Finger strichen über seine, dann war die Kette aus seiner Hand verschwunden.
»Ah, das ist die richtige.« Faren seufzte und drehte sich zu dem Bordell um. »Du bist noch nicht fertig für heute Nacht. Es gibt noch etwas, das du für mich tun sollst.«
»Ja?«
»Ich möchte, dass du in das Bordell zurückkehrst und ihn tötest.«
Ein eisiges Frösteln durchströmte Cerys Körper; genau so, glaubte er, würde es sich anfühlen, wenn man ihm mit einem Messer die Eingeweide aufschlitzte. Einen Moment lang konnte er nicht denken, dann begann sein Verstand hastig zu arbeiten.
Dies war eine weitere Prüfung. Faren wollte lediglich herausfinden, wie weit er seinen neuen Mann drängen konnte.
Was sollte er tun? Cery hatte keine Ahnung, was geschehen würde, wenn er sich weigerte. Und er wollte sich weigern. Unbedingt. Die Erkenntnis war gleichermaßen eine Erleichterung wie eine Beunruhigung für ihn. Dass er nicht töten wollte, bedeutete nicht, dass er nicht dazu imstande wäre… Aber als er sich vorstellte, er müsse die Straße überqueren und sein Messer in die lebenswichtigen Organe eines Menschen bohren, konnte er sich mit einem Mal nicht mehr bewegen.
»Warum?« Noch während er sprach, wusste er, dass er in einer Prüfung bereits gescheitert war.
»Weil ich ihn tot sehen möchte«, antwortete Faren.
»W-warum willst du ihn tot sehen?«
»Muss ich mich dafür rechtfertigen?«
Cery nahm seinen ganzen Mut zusammen. Mal sehen, wie weit ich gehen darf. »Ja.«
Faren stieß einen Laut der Erheiterung aus. »Also schön. Der Mann, mit dem du das Geschäft gemacht hast, heißt Verran. Er arbeitet von Zeit zu Zeit für einen anderen Dieb, aber bisweilen benutzt er die Dinge, die er bei dieser Arbeit erfährt, um nebenbei ein wenig Geld zu machen. Bis vor einigen Tagen hat der Dieb dieses Verhalten geduldet – bis Verran unaufgefordert in ein bestimmtes Haus eingedrungen ist. In das Haus eines reichen Kaufmanns, mit dem der Dieb ein Abkommen hat. Als Verran in das Haus eindrang, hielten sich die Tochter des Kaufmanns und einige Dienstboten dort auf.« Faren hielt inne, dann stieß er ein wütendes Zischen aus. »Der Dieb hat mir das Recht gegeben, Verran zu bestrafen. Selbst wenn das Mädchen überlebt hätte, wäre Verran jetzt ein toter Mann.« Faren richtete seine gelben Augen auf Cery. »Du wirst dich natürlich fragen, ob ich mir diese Geschichte nicht nur ausgedacht habe. Du musst dich entscheiden, ob du mir vertrauen willst oder nicht.«
Cery nickte, dann sah er zu dem Bordell hinüber. Wann immer er eine Entscheidung treffen musste, ohne sich sicher zu sein, dass er die Wahrheit kannte, verließ er sich auf seinen Instinkt. Und was sagte dieser Instinkt ihm jetzt?
Er dachte an den kalten, wilden Ausdruck in den Augen des Mannes und an die Furcht im Gesicht des dicken Mädchens. Ja, dieser Mann war fähig, Böses zu tun. Dann dachte er an die anderen Huren, an die Anspannung, die in der Luft gelegen hatte, an den Mangel an Kunden. Die beiden einzigen Männer in dem Lokal hatten mit dem Besitzer geredet. Waren die beiden Verrans Freunde? Irgendetwas ging in diesem Haus vor.
Und Faren? Cery erwog noch einmal alles, was er über den Mann in Erfahrung gebracht hatte. Er ahnte, dass der Dieb, wenn man ihn dazu trieb, gnadenlos sein konnte, aber in allen anderen Dingen hatte Faren sich stets gerecht und ehrlich gezeigt. Und als er von Verrans Verbrechen berichtet hatte, hatte unverhohlener Zorn in seiner Stimme gelegen.
»Ich habe noch nie zuvor einen Menschen getötet«, gestand Cery.
»Ich weiß.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es tun kann.«
»Du würdest es tun, wenn jemand Sonea bedrohte. Hab ich Recht?«
»Ja, aber dies hier ist etwas anderes.«
»Wirklich?«
Cery betrachtete den Dieb mit schmalen Augen.
Faren seufzte. »Nein, das war nicht ehrlich. So arbeite ich nicht. Ich stelle dich auf die Probe. Aber das weißt du sicher. Du brauchst diesen Mann nicht zu töten. Es kommt mir mehr darauf an, dass du lernst, mir zu vertrauen, und dass ich herausfinde, wo deine Grenzen liegen.«
Cerys Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte mit Prüfungen gerechnet. Aber Faren hatte ihm so viele verschiedene Aufgaben gestellt, dass Cery sich zu fragen begann, wonach der Dieb eigentlich suchte. Hatte er etwas Bestimmtes mit ihm im Sinn?
Vielleicht war dies eine Prüfung, der er Cery später noch einmal unterziehen würde, wenn er älter war. Wenn er außerstande oder nicht willens war, zu töten, würde er vielleicht sich selbst oder andere in Gefahr bringen, falls er tatsächlich einmal zu etwas Derartigem gezwungen wäre. Und falls diese andere Sonea wäre …
Plötzlich fiel alles Zögern und alle Unentschlossenheit von ihm ab.
Faren blickte seufzend zu dem Bordell hinüber. »Ich möchte diesen Mann wirklich tot sehen. Ich würde es selbst tun, nur… Ah, es spielt keine Rolle. Wir werden ihn irgendwann wiederfinden.« Er drehte sich um und ging einige Schritte die Gasse hinunter, blieb dann jedoch stehen, als ihm klar wurde, dass Cery ihm nicht gefolgt war.
»Cery?«
Cery griff in seinen Mantel und zog seine Dolche heraus. Farens Blick huschte zu den Klingen, die das schwache Licht aus den Fenstern des Bordells auffingen. Er machte einen Schritt zurück.
Cery lächelte. »Ich bin gleich wieder da.«
Nach einer halben Stunde wurde der Gestank des Bol beinahe angenehm. Es lag eine behagliche Wärme darin, die Trost versprach. Dannyl beäugte den Becher vor sich auf dem Tisch.
Da er sich nur allzu gut an die Geschichten über unsaubere Brauhäuser und Bolfässer, in denen ertrunkene Ravi schwammen, erinnerte, hatte er sich bisher nicht dazu durchringen können, von dem sirupartigen Getränk zu kosten. Heute Abend jedoch hatten ihn düsterere Ahnungen gequält. Wenn die Hüttenleute tatsächlich herausgefunden hatten, was er war, was würde sie dann daran hindern, Gift in seinen Becher zu geben?
Seine Befürchtungen waren wahrscheinlich unbegründet. Er hatte seine Roben einmal mehr gegen die Gewänder eines Kaufmanns vertauscht und sorgfältig darauf geachtet, sich ein leicht schäbiges Aussehen zu geben. Die anderen Kunden hatten ihm – oder vielmehr der Geldbörse an seiner Hüfte – nur einen abschätzenden Blick zugeworfen und ihn anschließend ignoriert.
Dennoch konnte Dannyl das Gefühl nicht abschütteln, dass jeder Mann und jede Frau in dem überfüllten Raum wussten, wer und was er war. Es waren allesamt mürrische Gesellen, gelangweilt und teilnahmslos. Sie hatten vor dem Unwetter draußen in dem Lokal Zuflucht gesucht und lungerten in jeder Ecke des Raumes herum. Manchmal hörte er sie das Wetter verfluchen, dann wieder schimpften sie auf die Gilde. Zu Anfang hatte ihr Gerede ihn erheitert. Offensichtlich hielten sie es für ungefährlicher, die Gilde für ihre Probleme verantwortlich zu machen als den König.
Einer der Gäste, ein Mann mit einem vernarbten Gesicht, starrte beständig zu Dannyl hinüber. Dannyl drückte die Schultern durch, dann sah er sich im Raum um. Als er sich wieder umdrehte, um dem Blick des aufdringlichen Mannes zu begegnen, entwickelte dieser ein plötzliches Interesse an der Machart seiner Handschuhe. Bevor Dannyl sich wieder seinem Trinkbecher zuwandte, fielen ihm noch die goldbraune Hautfarbe und das breite Gesicht des Mannes auf.
Er hatte in den Bolhäusern Männer und Frauen aller Rassen gesehen. Die kleinwüchsigen Elyner waren am zahlreichsten vertreten, da ihre Heimat Kyralias nächster Nachbar war. Die braunhäutigen Vindo fand man eher in den Hütten als in den übrigen Teilen der Stadt, da viele von ihnen auf der Suche nach Arbeit nach Imardin kamen. Die athletischen Lan, die in Stammesverbänden lebten, und die würdevollen Lonmar waren seltener.
Dies jedoch war der erste Sachakaner, den er seit Jahren gesehen hatte. Obwohl Sachaka direkt an Kyralia grenzte, vergällten die hohe Gebirgskette und die Wüste, die zwischen den beiden Ländern lagen, den Menschen die Lust am Reisen. Die wenigen Kaufleute, die die Strapazen des Weges auf sich nahmen, hatten Geschichten von barbarischen Völkern erzählt, die in der Wüste ums Überleben kämpften, und von einer verderbten Stadt, die einem Händler wenig Reizvolles zu bieten hatte.
Es war nicht immer so gewesen. Viele Jahrhunderte zuvor war Sachaka ein großes, von kultivierten Magiern beherrschtes Reich gewesen. Ein verlorener Krieg gegen Kyralia und die neu gebildete Gilde hatten dem ein Ende gemacht.
Plötzlich legte ihm jemand die Hand auf die Schulter. Als er sich umdrehte, stand ein dunkelhäutiger Mann hinter ihm. Der Mann schüttelte nur kurz den Kopf, dann ging er wieder.
Seufzend erhob sich Dannyl und bahnte sich einen Weg durch die Menge zur Tür hinüber. Draußen vor dem Haus trottete er durch die Pfützen, die den größten Teil der Straße bedeckten. Drei Wochen waren verstrichen, seit die Gilde das Mädchen in ihrem unterirdischen Versteck aufgespürt und der Lonmar Lord Jolen ausgetrickst hatte. Seitdem hatte Gorin Dannyls Bitte um ein Gespräch viermal abgelehnt.
Administrator Lorlen mochte nicht recht glauben, dass die Diebe das Mädchen beschützten. Dannyl verstand seine Beweggründe durchaus. Nichts beunruhigte einen König mehr als die Existenz eines wilden Magiers in seinem Reich. Die Diebe hingegen wurden geduldet. Sie hielten den kriminellen Untergrund in Schach, und die größte Gefahr, die von ihnen ausging, bestand im Verlust von Steuern durch ihre Schmuggelgeschäfte. Selbst wenn der König sie hätte finden und vertreiben können, wusste er doch, dass andere schnell ihren Platz einnehmen würden.
Aber wenn der König jenseits aller Zweifel wüsste, dass es einen wilden Magier in der Stadt gab, könnte er durchaus willens sein, die Hüttensiedlungen dem Erdboden gleichzumachen.
Dannyl fragte sich, ob den Dieben das klar war. Er hatte diese Möglichkeit bei seinen Gesprächen mit Gorin nicht erwähnt, da er nicht drohend auftreten wollte. Stattdessen hatte er den Dieb nur immer wieder vor der Gefahr gewarnt, die das Mädchen darstellte.
Als er jetzt das Ende der Gasse erreichte, eilte er über eine breitere Straße auf den schmalen Durchgang zwischen zwei Gebäuden zu. Das Gebiet, das dahinter lag, war ein einziges Labyrinth. Der Wind fuhr durch jede schmale Gasse und wimmerte wie ein hungriges Kind. Gelegentlich erstarb er vollkommen, und in einer dieser Pausen hörte Dannyl den Klang von Schritten hinter sich. Er drehte sich um.
Die Gasse war verlassen. Achselzuckend ging er weiter.
Seine Fantasie gaukelte ihm immer wieder vor, dass er verfolgt wurde. In der Stille zwischen seinen eigenen Schritten konnte er das Knirschen anderer Schritte hören, und wenn er sich umdrehte, bemerkte er hier und da eine Bewegung an einer Häuserecke. Während das Gefühl sich verstärkte, wuchs Dannyls Ärger auf sich selbst. Schließlich blieb er an einer Ecke stehen, öffnete geschickt das Schloss einer Tür und schlüpfte in das Gebäude hinein.
Zu seiner Erleichterung hielt sich niemand in dem Raum auf. Er spähte durch das Schlüsselloch und schnaubte leise, als er sah, dass die Gasse draußen immer noch verlassen dalag. Dann kam plötzlich eine Gestalt in Sicht.
Er runzelte die Stirn, als er die Narben in dem breiten Gesicht des Mannes wiedererkannte. Der Sachakaner blickte sich suchend um. Direkt vor ihm blitzte etwas auf, und im nächsten Moment begriff Dannyl, dass der Mann ein Furcht erregendes Messer in der Hand hielt.
Dannyl kicherte leise vor sich hin. Dein Glück, dass ich dich gehört habe, dachte er. Er fragte sich, ob er den Straßenräuber angreifen und auf die nächste Wache schleppen sollte, entschied sich aber dagegen. Die Nacht senkte sich bereits über die Stadt, und Dannyl verspürte ein heftiges Verlangen nach der Wärme seines Quartiers. Der Sachakaner suchte den Boden ab, dann machte er auf dem Absatz kehrt. Dannyl zählte bis hundert, bevor er wieder durch die Tür schlüpfte und seinen Weg fortsetzte. Seine Befürchtung, die Hüttenleute könnten seine wahre Identität kennen, schien unbegründet zu sein. Vom Hüttenvolk wäre niemand töricht genug, einen Magier mit einem bloßen Messer anzugreifen.
Als Cery Soneas Versteck betrat, saß sie über ein großes Buch gebeugt an einem Tisch. Sie blickte auf und lächelte.
»Was macht die Magie?«, erkundigte er sich.
Ihr Lächeln verschwand. »Das Übliche.«
»Das Buch hilft dir nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist jetzt fünf Wochen her, dass ich angefangen habe zu üben, aber das Einzige, was ich wirklich lerne, ist das Lesen. Ich kann Faren keine Gegenleistung für seinen Schutz anbieten.«
»Das, was du tust, lässt sich nicht beschleunigen«, erwiderte er. Jedenfalls nicht, wenn sie immer nur einmal am Tag üben kann, fügte er in Gedanken hinzu.
Seitdem sie beinahe gefangen worden wäre, lungerten, wann immer sie Magie benutzte, vor jedem von Farens Verstecken einige Magier herum, die ihn dazu zwangen, immer neue Verstecke zu suchen. Cery wusste, dass Faren überall in den Siedlungen Gefälligkeiten einforderte, die die Menschen ihm schuldeten. Außerdem wusste er, dass der Dieb eine feste Überzeugung hatte: Sonea war jede Münze und jede Gefälligkeit wert, die er auf sie verwandte.
»Was brauchst du deiner Meinung nach, um deine Magie beherrschen zu lernen?«, fragte er.
Sie stützte das Kinn auf die Hand. »Ich brauche jemanden, der es mir zeigt.« Sie hob eine Augenbraue. »Hat Faren etwas von diesem Mann gesagt, über den er Erkundigungen einziehen wollte?«
Cery schüttelte den Kopf. »Mir gegenüber jedenfalls nicht. Allerdings habe ich ein Gespräch mitangehört, das nicht allzu hoffnungsvoll klang.«
Sie seufzte. »Du kennst nicht zufällig irgendeinen freundlichen Magier, der bereit wäre, die Geheimnisse der Gilde an die Diebe zu verraten? Vielleicht könntest du ja einen von ihnen für mich entführen.«
Cery lachte, dann brach er jäh ab, als eine Idee Gestalt annahm. »Meinst du –«
»Scht!«, zischte Sonea. »Horch!«
Jetzt hörte auch Cery das leise Klopfen, das aus dem Fußboden kam, und sprang auf.
»Das Signal!«
Cery lief zu dem Fenster hinüber, von dem aus man einen Blick auf die Straße hatte, und spähte in die Schatten unter ihm. Statt des Wächters entdeckte er dort eine unvertraute Gestalt. Er warf Sonea ihren Umhang zu, der über einer Stuhllehne gelegen hatte.
»Steck ihn unter dein Hemd«, befahl er ihr. »Und dann folg mir.«
Er griff sich einen Eimer voll Wasser, der neben ihrem Tisch stand, und kippte seinen Inhalt auf die spärliche Glut in der Feuerstelle. Das Holz zischte, und Dampf stieg im Schornstein auf. Dann zog Cery das Gitter aus der Wand, zwängte sich hindurch und kletterte den Schornstein hinauf, wobei er die Spitzen seiner Stiefel in die Ritzen zwischen den groben, heißen Ziegelsteinen stellte.
»Du machst Witze«, murmelte Sonea von unten.
»Mir nach«, drängte er sie. »Wir gehen über die Dächer.«
Mit einem leisen Fluch machte sie sich an den Aufstieg.
Als die Sonne hinter den Gewitterwolken hervorkam, tauchte sie die Dächer in goldenes Licht. Cery trat in den Schatten eines Schornsteins.
»Es ist so hell«, erklärte er. »Man kann uns bestimmt sehen. Ich denke, wir sollten hier bleiben, bis es dunkel wird.«
Sonea ließ sich neben ihm nieder. »Sind wir weit genug entfernt?«
Er drehte sich zu dem Versteck um, aus dem sie gekommen waren. »Ich hoffe es.«
Sie sah sich um. »Wir sind auf der Hohen Straße, nicht wahr? Diese Seile und Holzbrücken – die Haltegriffe.« Als Cery nickte, lächelte sie. »Das bringt alte Erinnerungen zurück.«
Der sehnsüchtige Ausdruck in ihren Augen entlockte ihm ein Grinsen. »Es scheint alles so weit zurückzuliegen.«
»Das tut es auch. Meistens kann ich nicht glauben, dass wir einige dieser Dinge wirklich getan haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Dazu habe ich heute gar nicht mehr den Mut.«
Er zuckte die Achseln. »Wir waren Kinder.«
»Kinder, die sich in Häuser geschlichen und gestohlen haben.« Sie lächelte. »Weißt du noch, wie wir einmal in dem Zimmer dieser Frau standen, die so viele Perücken hatte? Du hast dich auf den Boden gelegt, und wir haben dich mit den Dingern zugedeckt. Als sie dann reinkam, hast du furchtbar gestöhnt.«
Cery lachte auf. »Schreien konnte sie, wahrhaftig.«
Soneas Augen leuchteten im Licht der untergehenden Sonne. »Und ich habe mächtig Ärger gekriegt, als Jonna dahinterkam, dass ich mich nachts aus dem Haus schlich, um mich dir anzuschließen.«
»Was dich allerdings nicht aufgehalten hat«, rief er ihr ins Gedächtnis.
»Nein. Damals hattest du mir schon beigebracht, wie man Schlösser öffnet.«
Er musterte sie eingehend. »Warum bist du dann eines Tages nicht mehr gekommen?«
Sie seufzte und zog die Knie an die Brust. »Die Dinge haben sich verändert. Harrins Bande hat plötzlich angefangen, mich anders zu behandeln. Es war so, als sei ihnen plötzlich eingefallen, dass ich ein Mädchen war, und ich hatte das Gefühl, dass sie glaubten, ich sei aus ganz anderen Gründen mit ihnen zusammen. Es machte einfach keinen Spaß mehr.«
»Ich habe dich nicht anders behandelt…« Er zögerte, dann nahm er all seinen Mut zusammen. »Aber du hattest auch keine Lust mehr, mit mir zusammen zu sein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es lag nicht an dir, Cery. Ich denke, ich bin dieser Dinge irgendwann einfach überdrüssig geworden. Ich musste erwachsen werden und aufhören, mir etwas vorzumachen. Jonna hat mir immer wieder eingeschärft, dass Ehrlichkeit etwas Kostbares sei und Stehlen falsch. Ich dachte, es könne nicht falsch sein, zu stehlen, wenn einem keine andere Wahl blieb, aber das war es nicht, was wir getan haben. Als wir dann in die Stadt zogen, war ich beinahe froh darüber, denn das bedeutete, dass ich über all das nicht länger nachzudenken brauchte.«
Cery nickte. Vielleicht war es tatsächlich besser gewesen, dass sie fortgegangen war. Die Jungen in Harrins Bande benahmen sich nicht immer freundlich und anständig gegenüber den Mädchen, die ihnen begegneten.
»War die Arbeit in der Stadt besser?«
»Ein wenig. Man kann immer noch eine Menge Scherereien kriegen, wenn man nicht aufpasst. Am schlimmsten waren die Wachen, denn es hindert sie niemand daran, einen zu schikanieren.«
Stirnrunzelnd versuchte er sich vorzustellen, wie Sonea übermäßig interessierte Wachsoldaten abwehrte. Gab es denn nirgendwo Sicherheit für sie? Er wünschte, er hätte sie irgendwo hinbringen können, wo keine Wachen und keine Magier ihnen etwas anhaben konnten.
»Das Buch haben wir verloren, nicht wahr?«, sagte Sonea plötzlich.
Als er an den dicken Band dachte, der auf dem Tisch in dem Versteck zurückgeblieben war, fluchte Cery laut.
»Aber irgendwie war es ohnehin nicht von großem Nutzen.«
In ihrer Stimme schwang kein Bedauern mit. Cery dachte angestrengt nach. Es musste doch eine andere Möglichkeit für sie geben, die Magie zu erlernen. Dann erinnerte er sich wieder an die Idee, auf die sie ihn kurz zuvor gebracht hatte, und biss sich auf die Unterlippe.
»Ich würde dich gern aus den Hütten herausbringen«, sagte er. »Es wird hier heute Nacht von Magiern nur so wimmeln.«
Sie runzelte die Stirn. »Du willst mich aus den Hüttenvierteln fortbringen?«
»Ja«, erwiderte er. »In der Stadt wärst du sicherer.«
»In der Stadt? Glaubst du wirklich?«
»Warum nicht?« Er grinste. »Das ist der letzte Ort, an dem sie suchen würden.«
Sonea dachte darüber nach, dann hob sie die Schultern. »Aber wie sollen wir hineinkommen?«
»Über die Hohe Straße.«
»Sie wird uns nicht weiter als bis zu den Toren bringen.«
Cery lächelte. »Wir brauchen sie ja nicht zu benutzen. Komm mit.«
Die Äußere Stadtmauer ragte hoch über die Hüttenviertel hinaus. Zehn Schritte tief, wurde sie von der städtischen Garde zu jeder Zeit gut instand gehalten, obwohl viele Jahrhunderte vergangen waren, seit Imardin das letzte Mal durch eine Invasion bedroht worden war. Eine Straße verlief an der Außenseite und hielt die Hütten auf Abstand.
Nicht weit entfernt von dieser Straße stiegen Sonea und Cery von den Dächern hinunter in eine Gasse. Cery führte Sonea am Arm zwischen Stapeln von Kisten hindurch, die einen scharfen Geruch nach jungem Holz und alten Früchten verströmten. Dann trat er mitten in einen solchen Stapel hinein.
Cery ging in die Hocke und klopfte auf den Boden. Zu Soneas Überraschung klang das Geräusch metallisch und hohl. Der Boden bewegte sich, und eine runde Metallplatte wurde aufgestemmt. Ein breites Gesicht erschien darunter, umrahmt von einem Ring aus Dunkelheit. Die Luft um den Kopf herum verströmte einen Übelkeit erregenden Gestank.
»Hallo, Tul«, sagte Cery.
Zitternd verzog sich das Gesicht des Mannes zu einem Grinsen.
»Wie geht’s denn so, Cery?«
Cery grinste ebenfalls. »Gut. Möchtest du eine Schuld abarbeiten?«
»Klar.« Die Augen des Mannes glänzten. »Sicheres Geleit?«
»Für zwei Personen«, sagte Cery.
Der Mann nickte und stieg wieder in die abgestandene Luft hinunter. Cery lächelte Sonea zu und zeigte auf das Loch.
»Nach dir.«
Sie schob einen Fuß in das Loch und stieß auf die oberste Sprosse einer Leiter. Dann sog sie ihre Lunge noch ein letztes Mal mit halbwegs frischer und sauberer Luft voll, bevor sie langsam in die schummrige Düsternis hinabstieg. Das Geräusch von fließendem Wasser hallte in der Dunkelheit wider, und die Luft war schwer von Feuchtigkeit. Als ihre Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, sah sie, dass sie auf einem schmalen Vorsprung neben einem unterirdischen Abwasserkanal stand. Die Decke war so niedrig, dass sie sich bücken musste.
Das dicke Gesicht des Mannes, mit dem sie gesprochen hatten, gehörte zu einem umfangreichen Körper. Cery bedankte sich und reichte dem Mann etwas, das ihm ein breites Lächeln ins Gesicht trieb.
Während er Tul an seinem Posten zurückließ, begleitete Cery Sonea durch den Tunnel in Richtung Stadt. Nach mehreren hundert Schritten kamen eine weitere Gestalt und eine Leiter in Sicht. Der Mann mochte früher einmal hochgewachsen gewesen sein, aber sein Rücken war gebeugt, als habe er sich in seinem Wachstum der Krümmung des Tunnels angepasst. Er blickte auf und beobachtete mit großen Augen, die von schweren Lidern überschattet wurden, wie Cery und Sonea sich näherten.
Dann drehte der Mann sich abrupt um, um hinter sich zu blicken. Irgendwo weiter entfernt im Tunnel erklang jetzt ein schwaches Klirren.
»Schnell«, flüsterte er ihnen rau zu. Cery packte Sonea am Arm und zerrte sie im Laufschritt hinter sich her.
Der Mann holte etwas unter seinem Mantel hervor und klopfte mit einem alten Löffel dagegen. Das Klirren klang in dem Tunnel ohrenbetäubend.
Als sie die Leiter erreichten, blieb er stehen, und sie hörten abermals diese schrillen Geräusche hinter sich. Der Mann stieß einen dumpfen Laut aus, dann begann er, mit den Armen zu rudern.
»Hinauf! Hinauf!«, schrie er.
Cery kletterte die Leiter empor. Sonea hörte ein metallisches Scheppern, dann erschien ein Quadrat aus Licht. Cery zwängte sich hindurch und verschwand. Als Sonea ihm folgte, erklang irgendwo im Tunnel hinter ihr abermals ein Geräusch, das sie nicht zu benennen wusste. Der Bucklige bildete das Schlusslicht und zog die Leiter nach oben.
Sonea sah sich um. Sie standen in einer schmalen Gasse, verborgen durch die hereinbrechende Dunkelheit. Als sie noch einmal das gleiche Geräusch aus dem Tunnel hörte, drehte sie sich um. Der Lärm wurde jetzt rasch lauter und verwandelte sich in ein tiefes Dröhnen, das plötzlich gedämpft wurde, als der Bucklige vorsichtig den Deckel über dem Tunnel schloss. Einen Moment später spürte sie eine schwache Vibration unter den Füßen. Cery beugte sich zu ihr hinüber, bis sein Mund über ihr Ohr strich.
»Die Diebe benutzen diese Tunnel seit Jahren, um die Äußere Stadtmauer zu überwinden«, murmelte er. »Als die Stadtwache dahinterkam, hat sie angefangen, die Rohre zu fluten. Keine schlechte Idee eigentlich – auf diese Weise bleiben die Tunnel sauber. Natürlich wussten die Diebe immer im Voraus, wann die Wache eingreifen würde, und alles ging so weiter wie bisher. Woraufhin die Soldaten sich angewöhnt haben, die Rohre in unregelmäßigen Abständen zu fluten.«
Er bedeutete ihr, neben dem Deckel in die Hocke zu gehen, dann hob er ihn vorsichtig an. Nur wenige Zoll von ihrem Gesicht entfernt strömte Wasser vorbei, und das Tosen wurde beinahe ohrenbetäubend. Im nächsten Moment hatte Cery den Deckel bereits wieder geschlossen.
»Deshalb läuten sie die Glocken«, flüsterte sie.
Cery nickte. »Eine Warnung.« Er wandte sich ab und drückte dem Buckligen etwas in die Hand, bevor er Sonea die Gasse hinunter zu einer dunklen Ecke führte. Aus dem Mauerwerk eines Hauses ragten genau auf der Ecke jeweils abwechselnd zu beiden Seiten die Steine etwas heraus, so dass sie darauf wie auf einer Trittleiter aufs Dach klettern konnten. Die Luft wurde langsam kälter, daher zog Sonea ihren Umhang hervor und legte ihn sich um die Schultern.
»Ich hatte gehofft, wir müssten nicht so weit gehen«, murmelte Cery, »aber…« Er zuckte die Achseln. »Schöne Aussicht von hier oben, wie?«
Sie nickte. Obwohl die Sonne bereits am Horizont versunken war, verströmte der Himmel immer noch ein warmes Leuchten. Die letzten Sturmwolken hingen über dem Südviertel, wanderten jetzt aber langsam gen Osten. Die Stadt breitete sich vor Sonea aus, eingehüllt in ein orangefarbenes Licht.
»Von hier aus kannst du sogar einen Teil des königlichen Palastes sehen«, bemerkte Cery.
Hinter der hohen inneren Mauer ragten die Türme des Palastes auf, und man konnte eine glitzernde Kuppel erkennen.
»Dort bin ich noch nie gewesen«, flüsterte Cery. »Aber eines Tages werde ich hineingelangen.«
Sonea lachte laut auf. »Du? In den Palast des Königs?«
»Das ist etwas, das ich mir selbst geschworen habe«, erklärte er ihr, »dass ich wenigstens einmal in jedes der großen Stadtschlösser hineinkommen werde.«
»Wo bist du denn bisher schon gewesen?«
Er zeigte auf die Tore zum Inneren Ring. Durch den Eingang konnte Sonea die Mauern und Dächer der Villen auf der anderen Seite erkennen, die von dem gelben Schein der Straßenlaternen beleuchtet wurden.
»Ich war in einigen der großen Häuser dort.«
Sie schnaubte ungläubig. Bei ihren Botengängen für Jonna und Ranel hatte sie bisweilen in den Inneren Ring gehen müssen. In den Straßen patrouillierten Wachsoldaten, die jeden befragten, der nicht kostbar gewandet war oder die Dienstbotenuniform eines der Häuser trug. Ihre Kunden dort hatten ihr ein kleines Abzeichen mitgegeben, damit man sofort sah, dass sie erlaubten Geschäften nachging.
Und jeder ihrer Besuche im Inneren Ring hatte neue Wunder enthüllt. Sie erinnerte sich nur allzu gut an ungewöhnliche Häuser in fantastischen Formen und Farben, einige davon mit Terrassen und Türmen, die so zierlich aussahen, als müssten sie unter ihrem eigenen Gewicht einstürzen. Selbst die Dienstbotenquartiere waren luxuriös gewesen.
Die schlichteren Häuser, die sie jetzt umgaben, waren ihr vertrauter. Im Nordviertel lebten Kaufleute und Familien von geringerem Rang. Sie hatten nur wenige Diener und nutzten für alle anderen Belange des Lebens die Dienste der Zünftler. Im Laufe der beiden Jahre, die Jonna und Ranel dort gearbeitet hatten, hatten sie einen festen Kundenstamm gewonnen.
In die Fenster, die sie von ihrem Platz aus sehen konnte, waren bemalte Papierblenden eingesetzt. Durch einige erkannte sie jetzt die Schatten von Menschen. Mit einem leisen Seufzer dachte sie an die Kunden, die ihre Tante und ihr Onkel verloren hatten, als die Wachen sie aus dem Bleibehaus vertrieben hatten. »Wohin jetzt?«
Er lächelte. »Folg mir.«
Sie setzten ihren Weg über die Dächer fort. Anders als die Bewohner der Hütten kamen die Städter den Dieben nicht immer entgegen, indem sie Brücken oder Haltegriffe dort beließen, wo die Diebe sie angebracht hatten. Immer wieder mussten Cery und Sonea auf den Boden hinunter, wenn sie eine Wegbiegung erreichten. Und da in den größeren Straßen Wachsoldaten patrouillierten, mussten sie häufig warten, bis die Männer vorbeimarschiert waren, bevor sie die Straße überqueren konnten.
Nach einer Stunde legten sie eine kurze Rast ein, und als schließlich eine dünne Mondsichel über dem Horizont erschien, gingen sie weiter. Sonea folgte Cery ohne ein Wort, denn sie musste sich in dem schwachen Licht darauf konzentrieren, wohin sie ihre Füße setzte. Als er endlich stehen blieb, überwältigte sie die Erschöpfung beinahe, und sie ließ sich stöhnend zu Boden sinken.
»Ich hoffe, wir sind bald da«, sagte sie. »Ich bin todmüde.«
»Es ist jetzt nicht mehr weit«, beruhigte Cery sie.
Sie folgte ihm über eine Mauer in einen großen, gepflegten Garten. Die Bäume dort waren hoch und regelmäßig gewachsen. Er führte sie an einer Mauer entlang, die überhaupt kein Ende zu nehmen schien.
»Wo sind wir?«
»Du wirst es gleich sehen«, antwortete Cery.
Sonea stolperte plötzlich und prallte gegen einen Baum. Wie rau seine Borke war! Sie blickte auf. Ungezählte Bäume standen wie Wächter vor ihr. In der Dunkelheit wirkten sie fremdartig und finster, ein Wald krallenbewehrter Arme.
Ein Wald? Sie runzelte die Stirn und erschauderte dann. Es gibt keine Gärten im Nordviertel, und es gibt überhaupt nur einen einzigen Wald in Imardin…
Ihr Herz begann zu rasen. Sie rannte hinter Cery her und packte ihn am Arm. »He! Was tust du?«, stieß sie hervor. »Wir sind in der Gilde!«
Seine Zähne blitzten auf. »Stimmt.«
Sie starrte ihn an. Er war nur eine schwarze Silhouette in dem mondbeschienenen Wald, und sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Ein schrecklicher Verdacht beschlich sie. Es war doch unmöglich, dass er… Er würde nicht… nicht Cery. Nein, er würde sie niemals den Magiern ausliefern.
Er legte seine Hand auf ihre Schulter. »Keine Angst, Sonea. Denk doch einmal darüber nach. Wo sind die Magier? In den Hüttenvierteln. Also wirst du hier sicherer sein als dort.«
»Aber… haben sie denn keine Wachen?«
»Ein paar an den Toren, das ist alles.«
»Patrouillen?«
»Nein.«
»Was ist mit einer magischen Mauer?«
»Nein.« Er lachte leise. »Sie glauben wahrscheinlich, dass die Menschen zu große Angst vor ihnen haben, um hier einzudringen.«
»Woher weißt du, ob es eine Mauer oder Wachen in der Gilde gibt?«
Er kicherte. »Ich war schon mal hier.«
Sie sog scharf die Luft ein. »Warum?«
»Nachdem ich beschlossen hatte, dass ich jeden Ort in der Stadt besuchen würde, bin ich hergekommen und habe ein wenig herumgeschnüffelt. Damals konnte ich gar nicht fassen, wie einfach es war. Ich habe natürlich nicht versucht, in eins der Gebäude einzudringen, sondern die Magier nur durch die Fenster beobachtet.«
Sonea sah sein umschattetes Gesicht ungläubig an. »Du hast die Gilde ausspioniert?«
»Na klar. Und es war hochinteressant. Sie haben hier einige Gebäude, in denen sie die neuen Magier unterrichten, und andere, in denen sie leben. Beim letzten Mal habe ich die Heiler bei der Arbeit gesehen. Das war ein echtes Erlebnis. Sie haben sich um einen Jungen gekümmert, dessen Gesicht von Schnittwunden übersät war. Als der Heiler ihn berührte, haben die Wunden sich einfach geschlossen. Erstaunlich.« Er hielt inne und wandte ihr das Gesicht zu. »Weißt du noch, wie du einmal gesagt hast, du wünschtest dir, jemand würde dir zeigen, wie man Magie benutzt? Wenn du sie beobachtest, siehst du vielleicht etwas, das dir beim Lernen helfen kann.«
»Aber… die Gilde, Cery.«
Er zuckte die Achseln. »Ich würde dich nicht hierher bringen, wenn ich glaubte, es sei wirklich gefährlich, oder?«
Sonea schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich schrecklich, weil sie an ihm gezweifelt hatte. Wenn er die Absicht gehabt hätte, sie auszuliefern, hätte er die Magier einfach nur in ihr Versteck führen müssen. Aber er würde sie niemals verraten. Obwohl seine Erklärung absolut unglaublich war.
Wenn das hier eine Falle ist, ist es ohnehin bereits um mich geschehen.
Sie drängte den Gedanken mit aller Macht beiseite und konzentrierte sich stattdessen auf Cerys Vorschlag.
»Glaubst du wirklich, dass wir das tun können?«
»Natürlich.«
»Das ist Wahnsinn, Cery.«
Er lachte. »Versuch es wenigstens. Wir werden bis zur Straße gehen, und dann kannst du dich selbst davon überzeugen, wie einfach es ist. Wenn du es nicht versuchen möchtest, kehren wir um. Aber lass uns jetzt weitergehen.«
Sonea schluckte ihre Angst herunter und folgte ihm durch die Bäume. Der Wald wurde ein wenig lichter, und durch die Zweige konnte sie Mauern erkennen. Cery, der sich vorsichtig im Schatten hielt, näherte sich bis auf zwanzig Schritte einer Straße, dann trat er hinter den Stamm eines mächtigen Baumes.
Sonea eilte ihm nach und drückte sich an einen anderen Baum. Ihre Beine schienen mit einem Mal alle Kraft verloren zu haben, und sie fühlte sich benommen und schwindlig. Cery grinste, dann zeigte er auf etwas hinter den Bäumen.
Sonea blickte zu dem Gebäude vor sich auf und schnappte nach Luft.
Das Gebäude war so hoch, dass es beinahe die Sterne zu berühren schien.
An jeder Ecke ragte ein Turm auf. Zwischen den Türmen schimmerten weiße Mauern im Mondlicht. Auf der Vorderseite wölbten sich steinerne Bögen, die sich über die gesamte Breite des Bauwerks zogen, einer über dem anderen, und von jedem dieser Bögen hing ein Vorhang aus Stein herab. Eine breite Treppe führte zu zwei prächtigen Portalen hinauf, die beide offen standen.
»Es ist wunderschön«, wisperte Sonea.
Cery lachte leise. »Ja, nicht wahr? Siehst du diese Türen? Sie sind ungefähr viermal so hoch wie ein ausgewachsener Mann.«
»Sie müssen furchtbar schwer sein. Wie schließt man sie?«
»Mit Magie, vermute ich.«
Als eine Gestalt in blauen Roben in der Tür erschien, verkrampfte Sonea sich jäh. Der Mann hielt inne, dann ging er mit langen Schritten die Treppe hinunter und näherte sich einem kleineren Gebäude auf der rechten Seite.
»Keine Angst. Sie können uns nicht sehen«, versicherte ihr Cery.
Sonea stieß den Atem, den sie angehalten hatte, aus und riss den Blick von der fernen Gestalt los. »Was befindet sich im Innern des Gebäudes?«
»Unterrichtsräume. Das ist die Universität.«
Drei Fensterreihen zogen sich an der Seitenmauer des Gebäudes entlang. Die beiden unteren Reihen verschwanden beinahe hinter den Bäumen, aber Sonea konnte ein warmes, gelbes Licht ausmachen, das durch die Blätter schien. Links von der Universität befand sich ein großer Garten. Cery zeigte auf ein Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite.
»Dort sind die Novizen untergebracht«, erklärte er. »Auf der anderen Seite der Universität befindet sich ein ganz ähnliches Gebäude, in dem die Magier leben. Da drüben…« Er zeigte auf einen Rundbau, der einige hundert Schritte links von ihnen lag. »Dort verrichten die Heiler ihre Arbeit.«
»Und was ist das?«, fragte Sonea und deutete mit dem Kopf auf eine Reihe gebogener Masten, die aus dem Garten aufragten.
Cery zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht«, gab er zu. »Das konnte ich nicht herausfinden.«
Er zeigte auf die Straße vor ihnen. »Wenn man dort hinuntergeht, kommt man zu den Dienstbotenquartieren.« Er zeigte nach links, dann drehte er sich um. »Und in der Richtung liegen die Ställe. Hinter der Universität befinden sich noch einige andere Gebäude, und vor den Quartieren der Magier liegt ein weiterer Garten. Oh, außerdem kommst du, wenn du den Hügel hinaufgehst, zu einigen Häusern, in denen ebenfalls Magier leben.«
»So viele Gebäude«, flüsterte sie. »Wie viele Magier gibt es eigentlich?«
»Hier leben über hundert von ihnen«, antwortete er. »Es gibt noch weitere, die nicht hier wohnen. Einige leben in der Stadt, einige draußen auf dem Land, und in anderen Ländern gibt es natürlich noch mehr von ihnen. Außerdem sind in der Gilde ungefähr zweihundert Diener untergebracht. Die Magier haben Mägde, Stallburschen, Köche, Schreiber, Gärtner und sogar Bauern.«
»Bauern?«
»In der Nähe der Dienstbotenquartiere gibt es einige Felder.«
Sonea runzelte die Stirn. »Warum kaufen sie ihr Getreide nicht einfach?«
»Ich habe gehört, dass sie alle möglichen Pflanzen anbauen, um daraus Medizin herzustellen.«
»Oh.« Sonea sah Cery beeindruckt an. »Woher weißt du so viel über die Gilde?«
Er grinste. »Ich habe eine Menge Fragen gestellt, vor allem nachdem ich mich das letzte Mal hier umgesehen hatte.«
»Warum?«
»Ich war neugierig.«
»Neugierig?« Sonea schnaubte. »Einfach nur neugierig?«
»Jeder fragt sich, was sie hier drin tun. Du nicht?«
Sonea zögerte. »Nun ja… manchmal.«
»Natürlich stellst du dir Fragen. Du hast mehr Grund dazu als die meisten anderen. Also, möchtest du ein paar Magier ausspionieren?«
Sonea blickte zu den Gebäuden hinauf. »Wie können wir sie beobachten, ohne gesehen zu werden?«
»Der Garten führt direkt bis zu den Mauern der Gebäude«, erklärte Cery. »Das ganze Grundstück ist von Wegen überzogen, die kreuz und quer verlaufen, und all diese Wege werden von Hecken zu beiden Seiten gesäumt. Zwischen diesen Hecken kannst du umhergehen, ohne dass dich irgendjemand sieht.«
Sonea schüttelte den Kopf. »Nur du kannst auf eine so verrückte Idee kommen.«
Er lächelte. »Aber du weißt, dass ich keine törichten Risiken eingehe.«
Sie biss sich auf die Unterlippe, immer noch beschämt darüber, dass sie auf den Gedanken gekommen war, er könne sie verraten haben. Er war schon immer der Klügste in Harrins Bande gewesen. Wenn es möglich war, die Gilde auszuspionieren, dann würde Cery wissen, wie man es machte.
Sie wusste, dass sie ihn eigentlich hätte bitten müssen, sie zu Faren zurückzubringen. Wenn irgendjemand sie entdeckte… Es war zu furchtbar, auch nur darüber nachzudenken. Cery musterte sie erwartungsvoll. Es wäre eine Schande, es nicht wenigstens zu versuchen, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, und vielleicht bekomme ich ja wirklich etwas Nützliches zu sehen.
»Also gut.« Sie seufzte. »Wohin zuerst?«
Cery grinste und zeigte auf das Gebäude der Heiler. »Wir werden in die Gärten dort unten gehen, wo die Straße im Dunkeln liegt. Folge mir.«
Er huschte zurück in den Wald und bahnte sich einen Weg zwischen den Bäumen hindurch. Nach einigen hundert Schritten wandte er sich wieder in Richtung Straße und blieb schließlich neben einem Baum stehen.
»Die Magier sind im Augenblick beim Unterricht«, murmelte er. »Und einige andere sind in ihre Quartiere gegangen. Wir haben Zeit, bis die Abendkurse zu Ende sind, dann werden wir uns verstecken. Fürs Erste brauchen wir nur nach Dienstboten Ausschau zu halten. Stopf dir den Umhang in dein Hemd. Er würde dir nur im Weg sein.«
Sie gehorchte. Cery griff nach ihrer Hand und ging auf die Straße zu. Sonea blickte zweifelnd zu den Fenstern der Universität empor.
»Was ist, wenn sie nach draußen sehen? Sie würden uns entdecken.«
»Keine Sorge«, antwortete er. »In all ihren Räumen brennt helles Licht, so dass sie draußen nichts sehen können, es sei denn, sie würden direkt ans Fenster treten. Und dazu sind sie viel zu beschäftigt.«
Er zog sie hinter sich her auf die andere Straßenseite. Mit angehaltenem Atem suchte sie nach Beobachtern in den Fenstern, aber niemand tauchte auf. Als sie in die Dunkelheit des Gartens kamen, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus.
Im nächsten Moment ließ Cery sich auf den Bauch fallen und schlängelte sich durch eine Hecke. Sonea tat es ihm gleich, bis sie kurz darauf unter dichtem Blätterwerk hockte.
»Die Hecke ist ein wenig gewachsen, seit ich das letzte Mal hier war«, murmelte Cery. »Wir werden hindurchkriechen müssen.«
Auf Händen und Knien bewegten sie sich vorwärts, durch einen dichten Tunnel aus Pflanzen. Etwa alle zwanzig Schritte mussten sie sich an einem Baumstamm vorbeizwängen. Nachdem sie auf diese Weise mehrere hundert Schritt zurückgelegt hatten, hielt Cery inne.
»Wir befinden uns jetzt direkt vor dem Gebäude der Heiler«, erklärte er. »Wir überqueren einen Weg, dann verstecken wir uns zwischen den Bäumen vor einer der Mauern. Ich gehe vor. Du wirst dich zuerst davon überzeugen, dass die Luft rein ist, dann folgst du mir.«
Wieder legte er sich bäuchlings auf den Boden, schob sich durch die Hecke und verschwand. Durch die Lücke, die er dabei geschaffen hatte, spähte Sonea auf die andere Seite hinüber. Entlang der Hecke verlief ein Fußweg.
Es war niemand zu sehen, daher eilte sie Cery hinterher. Als sie ihn erreichte, saß er, mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, gegenüber einer hohen Mauer.
»Glaubst du, du kannst da raufklettern?«, fragte Cery leise und klopfte auf die Mauer. »Du musst in den zweiten Stock hinauf. Dort findet der Unterricht statt.«
Sonea besah sich die Mauer, die aus großen Ziegeln bestand. Der Mörtel in den Fugen war bereits alt und krümelig. Zwei Mauervorsprünge verliefen rund um das Gebäude und bildeten die Simse der Fenster. Sobald sie eins der Fenster erreicht hätte, würde sie sich auf den Mauervorsprung hocken können, während sie hineinspähte.
»Kein Problem«, flüsterte sie.
Cerys Augen wurden schmal, dann begann er, in seinen Taschen zu kramen. Schließlich förderte er einen kleinen Krug zutage, schraubte ihn auf und machte sich daran, Sonea eine dunkle Paste aufs Gesicht zu schmieren.
»So. Jetzt siehst du genauso aus wie Faren.« Er grinste, dann wurde er wieder ernst. »Halt dich im Schutz der Bäume. Wenn ich jemanden kommen sehe, schreie ich wie ein Mullook. Dann bleibst du, wo du bist, und verhältst dich mucksmäuschenstill.«
Sonea nickte, wandte sich der Mauer zu und schob vorsichtig die Zehen in eine Ritze. Die Finger grub sie in den brüchigen Mörtel, dann tastete sie nach der nächsten Stelle, an der sie den Fuß aufsetzen konnte. Schon bald klammerte sie sich an die Mauer; ihre Füße befanden sich jetzt auf derselben Höhe wie Cerys Kopf. Als sie zu ihm hinunterblickte, grinste er, und sie sah kurz das Aufblitzen seiner Zähne.
Ihre Muskeln protestierten, als sie sich weiter hochzog, aber sie hielt erst inne, nachdem sie den zweiten Mauervorsprung erreicht hatte. Dort nahm sie sich ein wenig Zeit, um wieder zu Atem zu kommen, dann wandte sie sich dem Fenster in ihrer unmittelbaren Nähe zu.
Es hatte die Höhe einer Tür und vier große Glasscheiben. Vorsichtig schob sie sich weiter den Mauervorsprung hinunter, bis sie in den Raum dahinter sehen konnte.
Eine große Gruppe in braune Roben gewandeter Magier saß dort, und alle betrachteten aufmerksam etwas in der gegenüberliegenden Ecke. Sonea zögerte, denn sie hatte Angst, dass einer aufblicken und sie sehen würde, aber niemand wandte sich in ihre Richtung. Mit hämmerndem Herzen stahl sie sich weiter vor, bis sie erkennen konnte, was die Aufmerksamkeit der Magier fesselte.
Ein Mann in einer dunkelgrünen Robe stand dort. Er hielt einen geschnitzten Arm in Händen, in den farbige Linien und Wörter eingezeichnet waren. Mit einem kurzen Holzstock zeigte der Magier auf die verschiedenen Wörter.
Eine Woge der Erregung überschwemmte Sonea. Die Stimme des Magiers wurde durch das Glas etwas gedämpft, aber wenn sie genau hinhörte, konnte sie ihn trotzdem verstehen.
Und dann stieg eine vertraute Frustration in ihr auf. Ein großer Teil des Vortrags bestand aus fremden Wörtern und Ausdrücken. Was sie hörte, ergab genauso viel Sinn, als würde sie einer unbekannten Sprache lauschen. Sie wollte gerade dem Brennen in ihren Fingern nachgeben und zu Cery zurückkehren, als der Sprecher sich umdrehte und laut rief: »Bringt Jenia herein.«
Die Novizen wandten sich der offenen Tür zu. Eine junge Frau trat in den Raum, begleitet von einem alten Diener. Ihr Arm war bandagiert und hing in einer Schlinge, die am Hals verknotet war.
Die Frau lächelte breit und lachte dann über etwas, das einer der Novizen sagte. Ein strenger Blick des Lehrers brachte die Klasse zum Schweigen.
»Jenia hat sich heute Nachmittag bei einem Sturz vom Pferd den Arm gebrochen«, erklärte der Magier. Er bedeutete der jungen Frau, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Als er sich daranmachte, ihre Verbände abzuwickeln, verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht.
Der Unterarm, der unter den Verbänden zum Vorschein kam, war geschwollen und voller blauer Flecken. Der Lehrer wählte zwei Novizen aus der Klasse aus. Die beiden strichen vorsichtig mit den Fingern über den verletzten Arm, traten dann zurück und äußerten ihre Meinung zu den Verletzungen. Der Lehrer nickte zufrieden.
»Also.« Er hob die Stimme und sprach nun wieder die ganze Klasse an. »Als Erstes müssen wir dafür sorgen, dass sie keine Schmerzen mehr hat.«
Auf ein Zeichen des Lehrers griff einer der Novizen nach der Hand der Frau. Er schloss die Augen, und einen Moment lang senkte sich Stille über den Raum. Ein Ausdruck der Erleichterung zeigte sich auf dem Gesicht der Frau. Der Novize ließ sie los und nickte dem Lehrer zu.
»Es ist immer besser, dem Körper die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu heilen«, fuhr der Magier fort, »aber wir können die Heilung bis zu dem Punkt beschleunigen, an dem die Knochen wieder zusammentreffen und die Schwellung abklingt.«
Jetzt ließ der andere Novize langsam die Hand über den Arm der Frau gleiten. Unter seiner Berührung verblassten die Prellungen. Als der Junge sich abwandte, lächelte die Frau wieder und bewegte zaghaft die Finger.
Der Lehrer untersuchte ihren Arm, dann legte er die Schlinge wieder an, was der Frau offenkundig missfiel. Schließlich ermahnte er sie mit strengen Worten, den Arm zwei Wochen lang nicht zu benutzen. Einer der Novizen machte eine Bemerkung, und die übrigen lachten.
Sonea wandte sich von dem Fenster ab. Sie hatte soeben mitangesehen, wie die legendären Heilkräfte der Magier ihre Wirkung taten, etwas, das nur wenige Hüttenleute von sich behaupten konnten. Es war genauso beeindruckend, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Aber sie hatte nichts darüber erfahren, wie sie diese Wunder bewerkstelligten.
Das muss eine Klasse für fortgeschrittene Novizen sein, überlegte sie. Anfänger hätten nicht gewusst, wie sie eine solche Verletzung behandeln mussten. Wenn sie eine Anfängerklasse fand, würde sie vielleicht größeren Nutzen daraus ziehen können.
Sie kletterte wieder hinunter. Als sie die Füße auf den Boden setzte, griff Cery nach ihrem Arm.
»Hast du eine Heilung gesehen?«, flüsterte er.
Sie nickte.
Cery grinste übers ganze Gesicht. »Ich hab dir doch gesagt, dass es einfach ist, stimmt’s?«
»Für dich vielleicht«, erwiderte sie und massierte ihre Hände. »Ich bin aus der Übung.« Sie ging zum nächsten Baum weiter, zwang ihre müden Finger, einen Ziegelstein zu ergreifen, und zog sich wieder nach oben.
Der Lehrer im nächsten Klassenzimmer war eine Frau, und auch sie trug grüne Roben. Sie sagte nichts, sondern beobachtete schweigend ihre Novizen, die sich über ihre Pulte beugten und hektisch auf große Bögen Papier schrieben oder in abgenutzten, in Leder gebundenen Büchern blätterten. Sonea, deren Arme immer heftiger schmerzten, kehrte zu Cery zurück. »Nun?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts Interessantes.«
Der Blick durch das nächste Fenster gab eine Klasse von Novizen frei, die in kleinen Krügen Flüssigkeiten, getrocknete Pulver und Pasten mischten. Durch das Fenster danach konnte sie nur einen einzigen jungen Mann in grünen Roben sehen, dessen Kopf auf den aufgeschlagenen Seiten seines Buches lag, während er vor sich hin döste.
»In den übrigen Räumen brennt kein Licht«, bemerkte Cery, als sie wieder auf dem Erdboden angekommen war. »Ich schätze, mehr wirst du hier nicht zu sehen bekommen.« Er drehte sich um und zeigte auf die Universität. »Da drüben liegen noch mehr Klassenzimmer.«
Sie nickte. »Dann lass uns gehen.«
Wieder zwängten sie sich durch die Hecke, überquerten eilig den Fußweg und verschwanden in dem Blätterwerk auf der anderen Seite. Als sie sich mitten in dem Garten befanden, blieb Cery stehen und deutete auf eine Lücke in der Hecke.
Sonea stellte fest, dass sie bei den seltsamen Masten angelangt waren, die sie schon zuvor gesehen hatten. Die Masten bogen sich nach innen, als verneigten sie sich voreinander, und nach oben hin liefen sie spitz zu. Sie waren gleichmäßig um einen großen, runden Steinbrocken angeordnet, der in den Boden eingelassen war.
Sonea schauderte. Eine vage vertraute Vibration besudelte die Luft um sie herum. Beunruhigt legte sie Cery eine Hand auf die Schulter.
»Ich möchte hier nicht bleiben.«
Cery nickte, warf noch einen letzten Blick auf die hohen Masten und setzte seinen Weg dann fort.
Sie überquerten zwei weitere Pfade, bevor sie schließlich zu der Mauer der Universität kamen. Cery ließ die Hand über den Stein gleiten.
»An dieser Mauer wirst du nicht hochklettern können«, flüsterte er ihr zu. »Aber es gibt auch im Erdgeschoss reichlich Fenster.«
Sonea berührte die Mauer. Der Stein war fein gemasert, aber sie konnte nirgendwo Risse oder Fugen ausmachen. Es war, als sei das ganze Gebäude aus einem einzigen riesigen Steinquader gehauen worden.
Cery war inzwischen hinter einen Baum getreten und verschränkte die Finger. Sonea erhob sich und stellte einen Fuß in seine Hände. Dann zog sie sich hinauf und spähte über das Fenstersims in den Raum dahinter.
Ein Mann in purpurfarbenen Roben schrieb mit einem Stück Kohle auf eine Tafel. Der Klang seiner Stimme wehte zu ihr herüber, aber sie konnte nicht verstehen, was er sagte. Die Zeichnungen an der Tafel waren ebenso unbegreiflich wie die Worte des Heilers. Ein Stich der Enttäuschung durchzuckte Sonea, dann bedeutete sie Cery, sie hinunterzulassen.
Sie schlichen an dem Gebäude entlang bis zum nächsten Fenster. Die Szene, die sich dort entfaltete, war ebenso rätselhaft wie die erste. Die Novizen saßen stocksteif auf ihren Stühlen und hielten die Augen geschlossen. Hinter jedem Novizen stand ein anderer, der die Hände auf die Schläfen seines Kameraden drückte. Der Lehrer, ein streng aussehender Mann in roten Roben, beobachtete sie schweigend.
Sonea wollte sich gerade abwenden, als der Mann plötzlich zu sprechen begann.
»Löst euch jetzt.« Sein Tonfall war unerwartet sanft für einen Mann mit so harten Gesichtszügen. Die Novizen schlugen die Augen auf. Diejenigen, die gestanden hatten, rieben sich die Schläfen und schnitten eine Grimasse.
»Wie ihr festgestellt habt, ist es unmöglich, in den Geist eines anderen zu sehen, wenn dieser euch nicht dazu auffordert«, erklärte der Lehrer ihnen. »Nun, es ist nicht wirklich unmöglich, wie unser Hoher Lord bewiesen hat, aber gewöhnliche Magier wie ihr oder ich sind dazu nicht einmal ansatzweise in der Lage.«
Sein Blick wanderte kurz zum Fenster hinüber, und Sonea zog sich hastig zurück. Cery ließ sie hinunter, und sie ging unter dem Fenstersims in die Hocke, presste sich mit dem Rücken an die Mauer und bedeutete Cery, es ihr gleichzutun.
»Hat man dich gesehen?«, flüsterte Cery.
Sonea legte sich eine Hand aufs Herz, das heftig hämmerte. »Ich bin mir nicht sicher.« Lief der Magier vielleicht gerade eben durch die Universität, um in den Gärten nach ihnen zu suchen? Oder stand er am Fenster und wartete darauf, dass sie unter dem Sims hervorkamen?
Sie schluckte mit trockenem Mund. Dann drehte sie sich zu Cery um, um ihm nahezulegen, durch den Wald zurückzulaufen, hielt jedoch plötzlich inne. In dem Raum hinter ihr war wieder die gedämpfte Stimme des Lehrers zu hören. Sie schloss die Augen und seufzte vor Erleichterung.
Cery beugte sich vor und spähte vorsichtig zu dem Fenster hinauf. Er sah sie an und zuckte die Achseln. »Wollen wir weiter?«
Sonea holte tief Luft und nickte. Sie erhoben sich, gingen an dem Gebäude entlang und blieben unter dem nächsten Fenster stehen. Cery legte erneut die Hände zusammen und hob Sonea hoch.
Als sie durch das Fenster spähte, konnte sie schnelle Bewegungen ausmachen. Voller Staunen betrachtete sie das Bild, das sich ihr bot. Mehrere Novizen rannten kreuz und quer durch den Raum und taten ihr Bestes, um einem winzigen Lichtpunkt auszuweichen, der um sie herumflog. Auf einem Stuhl in einer Ecke stand ein rotgewandeter Magier und verfolgte mit ausgestreckter Hand die Bewegungen des Lichts. Plötzlich schrie er die Novizen an: »Bleibt stehen! Lasst euch nicht in die Enge treiben!«
Vier der Novizen standen bereits reglos da. Wenn der leuchtende Funke sie fast erreicht hatte, wurde er wie von unsichtbarer Hand beiseite geschleudert. Nach und nach folgten auch andere Novizen dem Beispiel ihrer Mitschüler, aber der Funke war schnell. Einige der weniger begabten jungen Leute hatten winzige rote Flecken auf dem Gesicht und auf den Armen.
Plötzlich erlosch der Funke. Der Lehrer sprang leichtfüßig vom Stuhl. Die Novizen entspannten sich und grinsten einander an. Sonea, die Angst hatte, sie könnten in ihre Richtung sehen, ließ sich zu Boden fallen.
Am nächsten Fenster beobachtete sie einen rotgewandeten Magier, der seiner Klasse ein seltsames Experiment mit farbigen Flüssigkeiten vorführte. In einem anderen Raum arbeitete eine Gruppe von Novizen mit schwebenden Kugeln aus geschmolzenem Glas, die sie zu raffinierten, leuchtenden Skulpturen formten. In der nächsten Klasse hielt ein freundlich aussehender Mann in roten Roben einen Vortrag darüber, wie man Feuer machte.
Plötzlich hallte ein dunkler Glockenton durch die Gilde. Der Magier blickte überrascht auf, und die Novizen erhoben sich von ihren Stühlen. Sonea zog sich hastig von dem Fenster zurück.
Cery ließ sie auf den Boden nieder. »Diese Glocke beendet die Unterrichtsstunden«, erklärte er ihr. »Wir werden uns jetzt ganz still verhalten. Die Magier verlassen gleich die Universität und gehen in ihre Quartiere.«
Sie kauerten sich hinter einen Baumstamm.
Minutenlang blieb alles still, dann hörte Sonea den Klang von Schritten auf der anderen Seite der Hecke.
»… ein langer Tag«, bemerkte eine Frau. »Seit dieser Winterhusten grassiert, können wir uns vor Arbeit kaum retten. Ich hoffe, die Suche nimmt bald ein Ende.«
»Ja«, stimmte eine zweite Frau ihr zu. »Aber der Administrator ist vernünftig. Er hat den größten Teil der Arbeit den Kriegern und Alchimisten übertragen.«
»Das stimmt«, antwortete die erste Frau. »Aber jetzt erzähl mal. Wie geht es Makins Frau? Sie muss inzwischen doch über den achten Monat hinaus sein…«
Die Stimmen der Frauen entfernten sich, und an ihre Stelle trat jungenhaftes Gelächter.
»… hat dich ganz schön überlistet. Er hat dich ja praktisch verprügelt, Kamo!«
»Es war nur ein Trick, mehr nicht«, erwiderte ein Junge mit starkem vinischen Akzent. »Ein zweites Mal wird er damit nicht durchkommen.«
»Ha!« rief ein dritter Junge. »Das war das zweite Mal!«
Die Jungen brachen in Gelächter aus, aber im nächsten Moment konnte Sonea Schritte hören, die sich von links näherten. Sofort verfielen die Jungen in Schweigen.
»Lord Sarrin«, murmelten sie respektvoll, als die Schritte sie erreicht hatten. Als der Magier weitergegangen war, fuhren die Jungen fort, einander zu necken. Dann waren sie schließlich außer Hörweite.
Mehrere weitere Gruppen von Magiern gingen an ihrem Versteck vorbei. Die meisten schwiegen. Allmählich verebbte das Hin und Her. Als Cery den Kopf durch die Hecke schob, um auf den Fußweg zu blicken, hatten sie sich fast eine Stunde lang dort verborgen gehalten.
»Wir machen uns jetzt wieder auf den Weg in Richtung Wald«, erklärte er. »Der Unterricht ist für heute beendet, und es gibt hier nichts mehr für dich zu sehen.«
Sie folgte ihm über den Fußweg und in die nächste Hecke. Langsam bewegten sie sich durch den Garten und liefen dann quer über die Straße in den Wald hinein.
Dort hockte Cery sich unter einen Baum und grinste Sonea mit vor Erregung glänzenden Augen an. »Das war einfach, wie?«
Sonea drehte sich noch einmal nach der Gilde um, und ein Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus. »Ja!«
»Siehst du. Überleg doch nur: Während die Magier rings um die Stadt Jagd auf dich machen, haben wir auf ihrem Territorium herumgeschnüffelt.«
Sie kicherten leise, dann atmete Sonea tief durch und seufzte. »Ich bin froh, dass wir hier fertig sind«, gestand sie. »Können wir jetzt zurückgehen?«
Cery schürzte die Lippen. »Wo wir schon mal hier sind, möchte ich noch etwas anderes ausprobieren.«
Sonea beäugte ihn argwöhnisch. »Was?«
Ohne auf ihre Frage zu antworten, erhob er sich und bahnte sich abermals einen Weg zwischen den Bäumen hindurch. Sonea zögerte, dann lief sie hinter ihm her. Als sie tiefer in den Wald vordrangen, wurde es dunkler um sie herum, und mehrmals stolperte Sonea über verborgene Wurzeln und Zweige. Cery wandte sich nach rechts, und als sie plötzlich festeren Grund unter den Füßen spürte, wurde ihr klar, dass sie sich wieder auf der Straße befanden.
Von dort aus stieg der Boden langsam an. Nach mehreren hundert Schritten überquerten sie einen schmalen Fußweg, und der Hang wurde steiler. Cery blieb stehen.
»Sieh nur.«
Durch die Baumstämme konnte man jetzt ein langgestrecktes, zweigeschossiges Gebäude erkennen.
»Die Quartiere der Novizen«, erklärte Cery. »Wir befinden uns hinter dem Gebäude. Von hier aus kannst du hineinschauen.«
Durch eins der Fenster konnte sie einen Teil eines Raumes erkennen. An einer der Wände stand ein einfaches, stabiles Bett und gegenüber ein schmaler Tisch mit einem Stuhl davor. In der Nähe der Tür hingen an zwei Haken braune Roben.
»Nicht gerade der Inbegriff von Luxus.«
Cery nickte. »Die Quartiere sind alle so.«
»Aber die Magier sind doch reich, oder?«
»Ich vermute, dass sie sich erst nach dem Abschluss ihrer Ausbildung ihre eigenen Sachen aussuchen dürfen.«
»Wie sind denn die Quartiere der Magier?«
»Prächtig.« Seine Augen leuchteten. »Willst du sie sehen?«
Sonea nickte.
»Dann komm mit.«
Er ging tiefer in den Wald hinein und weiter hügelaufwärts. Als sie sich einmal mehr dem Waldrand näherten, stellte Sonea fest, dass jenseits der Universität mehrere Gebäude und ein großer, gepflasterter Innenhof lagen. Eins der Bauwerke schmiegte sich wie eine lange Treppe an den Hügel, und es schimmerte, als bestünde es zur Gänze aus geschmolzenem Glas. Ein anderes sah aus wie eine riesige Schale, glatt und weiß. Der gesamte Bereich wurde erhellt von zwei Reihen großer, runder Lampen, die auf hohen Eisenpfosten ruhten.
»Wozu dienen all diese Gebäude?«, wollte Sonea wissen.
Cery blieb stehen. »Ich bin mir nicht sicher. Ich denke, in dem gläsernen befinden sich die Bäder. Die anderen…?« Er zuckte die Achseln. »Das konnte ich nicht in Erfahrung bringen.«
Er lief weiter durch den Wald. Als wieder Gebäude in Sicht kamen, hatten sie den Innenhof hinter sich gelassen und befanden sich bereits in der Nähe der Magierquartiere. Cery verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn.
»Sie haben alle Blenden vor den Fenstern«, sagte er. »Hm, vielleicht sehen wir ja mehr, wenn wir um das Gebäude herumgehen.«
Wieder kehrten sie in den Schutz der Bäume zurück, und Sonea taten bereits die Beine weh. Obwohl der Wald hier dichter an das Gebäude heranreichte, konnte sie durch das offene Fenster, auf das Cery sie aufmerksam gemacht hatte, nur einen flüchtigen Blick auf einige Möbelstücke erhaschen. Inzwischen hatte ihre Müdigkeit die Oberhand über die Neugier gewonnen, und sie ließ sich zu Boden sinken.
»Ich weiß nicht, wie ich es zurück in die Hüttenviertel schaffen soll«, stöhnte sie. »Meine Beine weigern sich, auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu machen.«
Cery hockte sich grinsend neben sie. »Du bist in den letzten Jahren wirklich ganz schön verweichlicht.«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Er kicherte und drehte sich wieder zu den Gebäuden um.
»Setz dich hin und ruh dich ein Weilchen aus«, sagte er, während er selbst wieder aufstand. »Ich möchte hier noch etwas erledigen. Es wird nicht lange dauern.«
Sonea zog die Brauen hoch. »Wohin gehst du?«
»Ich will näher heran. Mach dir keine Sorgen. Ich bin gleich wieder da.« Er wandte sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Zu müde, um sich über sein Verhalten zu ärgern, betrachtete Sonea den Wald. Zwischen den Baumstämmen konnte sie etwas Flaches, Graues ausmachen. Als ihr mit einem Mal klar wurde, dass sie sich keine vierzig Schritte von einem kleinen, zweistöckigen Gebäude entfernt befand, blinzelte sie überrascht. Sie stand auf, um sich näher an das Gebäude heranzuschleichen. Erstaunlich, dass Cery sie nicht darauf aufmerksam gemacht hatte, dachte sie. Vielleicht hatte er es nicht bemerkt. Es war aus einem anderen, dunkleren Stein errichtet als die übrigen Gebäude der Gilde, und im Schatten der Bäume war es beinahe unsichtbar.
Wie die Universität lag auch dieses Haus hinter einer Hecke verborgen. Nach einigen Schritten spürte Sonea den harten Stein eines gepflasterten Wegs unter den Füßen. Dunkle Fenster verlockten sie zum Weitergehen.
Sie drehte sich kurz um und überlegte, wie lange Cery wohl fort sein würde. Wenn sie nicht allzu viel Zeit vertrödelte, konnte sie einen Blick durch die Fenster werfen und wieder an ihrem Treffpunkt sein, bevor Cery zurückkehrte.
Also schlich sie sich weiter den Weg hinunter, trat hinter die Hecke und spähte durch das erste Fenster. Der Raum dahinter lag im Dunkeln, und sie konnte kaum etwas erkennen. Sie ging zum nächsten Fenster weiter, dann zum übernächsten, aber das Bild, das sich ihr bot, war überall das gleiche. Enttäuscht wandte sie sich zum Gehen und erstarrte jäh, als sie Schritte hinter sich hörte.
Mit einem Satz stand sie wieder hinter der Hecke und beobachtete einen Mann, der um das Gebäude herumging. Obwohl sie kaum mehr als eine Silhouette erkennen konnte, sah sie doch, dass der Mann keine Roben trug. Ein Diener?
Jetzt öffnete der Mann eine Tür. Als Sonea hörte, wie der Riegel hinter ihm ins Schloss fiel, atmete sie erleichtert auf. Sie wollte sich gerade vom Boden hochstemmen, als sie ganz in der Nähe ein leises Klirren hörte.
Sie sah sich um und entdeckte ein schmales Gitter, das direkt über dem Boden in die Mauer eingelassen war. Also ließ sie sich auf Hände und Knie fallen und beugte sich vor, um das Gitter in Augenschein zu nehmen. Der winzige Luftschacht war voller Dreck und Erde, aber dennoch konnte sie auf der anderen Seite eine Treppe ausmachen, die zu einer geöffneten Tür hinunterführte.
Jenseits der Tür lag ein Raum, der von einer unsichtbaren Lichtquelle in einen gelben Schein getaucht wurde. Dann erschien plötzlich ein Mann mit langen Haaren in einem schweren, schwarzen Umhang. Kräftige Schultern versperrten ihr für einen Moment die Sicht, als eine weitere Gestalt die Treppe hinunterging, die in den Raum mündete. Sonea bemerkte gerade noch, dass der Neuankömmling die Kleidung eines Dienstboten trug, bevor er sich ihrem Blick wieder entzog.
Sie hörte eine Stimme, konnte aber die Worte nicht verstehen.
Der Mann in dem Umhang nickte. »Es ist vollbracht«, sagte er, befingerte die Schließe und streifte sich den Umhang von den Schultern.
Sonea stockte der Atem, als sie sah, was darunter zum Vorschein kam. Der Mann trug die zerlumpten Kleider eines Bettlers.
Und sie waren voller Blutflecken.
Der Mann blickte an sich hinab, und ein Ausdruck von Ekel trat in seine Züge. »Hast du meine Roben mitgebracht?«
Der Diener murmelte eine Antwort. Sonea unterdrückte einen Aufschrei der Überraschung und des Entsetzens. Der Mann war ein Magier.
Er zog sich das blutbespritzte Hemd über den Kopf und entblößte dabei einen ledernen Gürtel, den er um die Taille trug. An dem Gürtel hing eine große Dolchscheide.
Im nächsten Moment nahm er den Gürtel ab und warf ihn mitsamt dem Hemd auf einen Tisch, dann zog er eine große Wasserschale und ein Handtuch zu sich heran. Der Magier tauchte das Handtuch ins Wasser und wusch sich mit geschickten Bewegungen die roten Flecken von seiner nackten Brust. Wann immer er das Handtuch ausspülte, färbte das Wasser sich ein wenig dunkler.
Dann konnte Sonea einen Arm sehen; der Diener hielt dem anderen Mann ein Bündel schwarzen Stoffs hin. Der Magier nahm es entgegen und verschwand kurz aus Soneas Blickfeld.
Sie lehnte sich ein wenig zurück. Schwarze Roben? Ein schwarzgewandeter Magier war ihr noch nie begegnet. Bei der Säuberung hatte keiner der Magier schwarz getragen. Die Position, die dieser Mann innerhalb der Gilde einnahm, musste einzigartig sein. Sie beugte sich wieder vor und betrachtete einmal mehr die blutbefleckten Kleider. Vielleicht war der Mann einer der gefürchteten Assassinen, ein fanatischer Mörder, der vor nichts zurückschreckte.
Dann kam der Magier wieder in Sicht. Er trug jetzt die schwarzen Roben und hatte sich das dunkle Haar gekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er griff nach dem Gürtel und öffnete den Verschluss der Dolchscheide.
Sonea sog scharf die Luft ein. Der Griff des Dolches, der jetzt zum Vorschein kam, glitzerte im Licht. Die Juwelen, die darin eingelassen waren, funkelten rot und grün. Der Magier untersuchte die lange, gebogene Klinge und wischte sie dann sorgfältig an dem Handtuch ab. Anschließend wandte er sich dem Diener zu, der irgendwo außerhalb von Soneas Blickfeld stand.
»Der Kampf hat mich geschwächt«, sagte er. »Ich brauche deine Kraft.«
Sie hörte eine gemurmelte Erwiderung. Dann konnte sie die Beine des Dieners sehen und schließlich seinen ganzen Körper, bis auf den Kopf, als er sich auf ein Knie niederließ und den Arm ausstreckte. Der Magier umfasste das Handgelenk des Mannes. Er drehte es nach oben und ließ den Dolch sachte über die Haut des Mannes gleiten. Blut quoll hervor, und der Magier drückte seine Hand auf die Wunde, als wolle er sie heilen.
Und plötzlich begann etwas in Soneas Ohren zu flattern. Sie straffte sich kopfschüttelnd, weil sie glaubte, ein Insekt sei ihr ins Ohr gekrochen, aber das Summen ließ sich nicht vertreiben. Ein Frösteln überlief sie, als ihr klar wurde, dass das Geräusch von irgendwo innerhalb ihres Kopfes kam.
Das Gefühl brach ebenso plötzlich ab, wie es begonnen hatte. Als sie sich wieder über das Gitter beugte, sah Sonea, dass der Magier den Diener losgelassen hatte. Langsam drehte er sich um und ließ den Blick über die Mauern gleiten, als suche er nach etwas.
»Seltsam«, sagte er. »Es ist beinahe so, als…«
Er konzentriert sich nicht auf die Mauer, dachte Sonea plötzlich. Er sucht nach etwas hinter der Mauer.
Angst stieg in ihr auf. Sie rappelte sich hoch, schlüpfte durch die Hecke und entfernte sich von dem Haus.
Du darfst nicht rennen, ermahnte sie sich. Du darfst kein Geräusch machen. Mit Mühe widerstand sie dem Drang, auf die Bäume zuzustürzen, und zwang sich stattdessen, sich vorsichtig davonzuschleichen. Als sie den Fußweg erreicht hatte, beschleunigte sie ihre Schritte, und wann immer ein Zweig unter ihren Füßen knackte, zuckte sie heftig zusammen. Der Wald erschien ihr dunkler als zuvor, und mit wachsender Panik begriff sie, dass sie nicht mehr genau wusste, wo sie gesessen hatte, als Cery fortgegangen war.
»Sonea?«
Als eine Gestalt aus dem Schatten trat, fuhr sie jäh zusammen. Dann erkannte sie jedoch Cerys Gesicht und keuchte vor Erleichterung. Er hielt etwas Großes, Schweres in den Armen. »Schau dir das an«, sagte er und hielt ihr seine Last hin.
»Was ist das?«
Er grinste. »Bücher!«
»Bücher?«
»Bücher über Magie.« Sein Grinsen erlosch. »Wo bist du gewesen? Ich bin gerade erst zurückgekommen und –«
»Ich war dort drüben.« Sie zeigte auf das Haus und schauderte. Es kam ihr mit einem Mal wie eine lebendige Kreatur vor, die am Rand der Gärten lauerte. »Wir müssen gehen! Sofort!«
»Da warst du!«, entfuhr es Cery. »Dort lebt ihr Anführer – der Hohe Lord.«
Sie packte ihn am Arm. »Ich glaube, einer seiner Magier hat mich gehört!«
Cerys Augen weiteten sich. Er blickte über ihre Schulter, dann drehte er sich um, und sie eilten zurück durch den Wald, nur fort von dem finsteren Gebäude.
Nur etwa zwanzig Magier waren im Abendsaal versammelt, als Rothen eintrat. Nachdem er festgestellt hatte, dass Dannyl noch nicht eingetroffen war, ging er auf eine Gruppe von Sesseln zu.
»Das Fenster war geöffnet. Wer immer es war, er ist durchs Fenster gekommen.«
Als er die Sorge in der Stimme des anderen Mannes bemerkte, hielt Rothen inne und sah sich nach dem Sprecher um. Ganz in seiner Nähe stand Jerrik, der sich mit Yaldin unterhielt. Neugierig zu erfahren, was den Rektor der Universität derart in Aufruhr versetzt haben mochte, ging er auf die beiden Männer zu.
»Seid mir gegrüßt.« Rothen nickte höflich. »Ihr scheint über irgendetwas beunruhigt zu sein, Rektor.«
»Einer unserer Novizen muss ein raffinierter Dieb sein«, erklärte Yaldin. »Jerrik hat einige wertvolle Bücher eingebüßt.«
»Ein Dieb?«, wiederholte Rothen überrascht. »Was für Bücher?«
»Das Sagengut der Südlichen Magier, Künste des Minken-Archipels und das Handbuch des Feuermachens«, antwortete Jerrik.
Rothen runzelte die Stirn. »Eine eigenartige Zusammenstellung von Büchern.«
»Es waren teure Bücher«, erklärte Jerrik bekümmert. »Ich habe zwanzig Goldstücke dafür gezahlt, sie kopieren zu lassen.«
Rothen stieß einen leisen Pfiff aus. »Dann hat Euer Dieb ein gutes Auge für Werte.« Er runzelte die Stirn. »Es dürfte schwierig sein, derart seltene Bücher zu verstecken. Ich meine mich daran zu erinnern, dass es sich um sehr dicke Bände handelt. Ihr solltet eine Suche in den Quartieren der Novizen veranlassen.«
Jerrik schnitt eine Grimasse. »Ich hatte gehofft, das vermeiden zu können.«
»Vielleicht hat sich jemand die Bücher ja nur ausgeliehen«, sagte Yaldin.
»Ich habe alle gefragt.« Jerrik seufzte und schüttelte den Kopf. »Niemand hat sie gesehen.«
»Mich habt Ihr aber nicht gefragt«, bemerkte Rothen.
Jerrik blickte scharf auf.
»Nein, ich habe sie nicht genommen.« Rothen lachte. »Aber es wäre immerhin möglich, dass Ihr auch andere vergessen habt. Vielleicht solltet Ihr bei der nächsten Versammlung noch einmal jeden fragen. Sie ist schon in zwei Tagen, und wer weiß, vielleicht sind die Bücher bis dahin ja wieder aufgetaucht.«
Jerrik hob die Schultern. »Ja… Das sollte ich wohl besser zuerst tun.«
Eine vertraute, hochgewachsene Gestalt hatte den Abendsaal betreten, und Rothen entschuldigte sich. Er ging mit schnellen Schritten zu Dannyl hinüber und zog den anderen Magier in eine stille Ecke des Raums.
»Glück gehabt?«, fragte er leise.
Dannyl schüttelte den Kopf. »Nein, kein Glück, aber zumindest haben mich diesmal keine messerschwingenden Ausländer verfolgt. Und bei dir?«
Rothen öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn aber gleich wieder, als ein Diener neben ihnen stehen blieb, um ihnen mit Wein gefüllte Gläser anzubieten. Er streckte die Hand aus, um nach einem zu greifen, und erstarrte mitten in der Bewegung, als ein schwarzer Ärmel hinter Dannyl auftauchte, um sich ebenfalls von dem Tablett zu bedienen. Akkarin wählte ein Glas aus und trat auf Rothen zu.
»Wie geht die Suche voran, Lord Rothen?«
Dannyls Augen weiteten sich, als er plötzlich den hohen Lord neben sich stehen sah.
»Vor zwei Wochen hätten wir sie um ein Haar gefangen, Hoher Lord«, antwortete Rothen. »Ihre Beschützer haben sich eine List zunutze gemacht. Als wir begriffen, dass wir das falsche Mädchen hatten, war sie bereits entkommen. Außerdem haben wir ein Buch über Magie in ihrem Versteck gefunden.«
Die Miene des Hohen Lords verdüsterte sich. »Das sind keine guten Neuigkeiten.«
»Das Buch war alt und überholt«, warf Dannyl ein.
»Trotzdem, wir dürfen nicht zulassen, dass man außerhalb der Gilde solche Bücher findet«, erwiderte Akkarin. »Wir sollten eine Durchsuchung sämtlicher Pfandleihen veranlassen, um festzustellen, ob viele solcher Bücher den Weg in die Stadt gefunden haben. Ich werde mit Lorlen darüber sprechen, aber in der Zwischenzeit…« Er wandte sich Dannyl zu. »Konntet Ihr Eure Kontakte zu den Dieben auffrischen?«
Dannyl wurde zuerst blass, dann rot. »Nein«, antwortete er mit gepresster Stimme. »Sie haben seit vielen Wochen all meine Bitten um ein Zusammentreffen abgelehnt.«
Ein schwaches Lächeln spielte um Akkarins Lippen. »Ihr habt gewiss bereits versucht, sie mit den Gefahren zu beeindrucken, die von einer unausgebildeten Magierin in ihrer Mitte ausgehen würden?«
Dannyl nickte. »Ja, aber das schien sie nicht weiter zu beunruhigen.«
»Das wird sich bald ändern. Setzt Eure Versuche fort, die Diebe zu einem Treffen zu bewegen. Wenn sie sich weigern, Euch persönlich zu empfangen, schickt ihnen Nachrichten. Beschreibt in allen Einzelheiten die Probleme, auf die das Mädchen stoßen wird, während sie immer mehr die Kontrolle über ihre Magie verliert. Es wird nicht lange dauern, bis die Diebe begreifen, dass Ihr die Wahrheit sprecht. Haltet mich über Eure Fortschritte auf dem Laufenden.«
Dannyl schluckte. »Selbstverständlich, Hoher Lord.«
Akkarin nickte ihnen zu. »Dann wünsche ich Euch noch einen angenehmen Abend.« Er drehte sich um und ging davon, und die beiden Magier starrten ihm nach. Dann stieß Dannyl scharf die Luft aus.
»Woher hat er das gewusst?«, flüsterte er.
Rothen zuckte die Achseln. »Es heißt, er wisse mehr über die Angelegenheiten der Stadt als der König selbst. Andererseits könnte auch Yaldin ihm davon erzählt haben.«
Dannyl runzelte die Stirn und blickte quer durch den Raum zu dem alternden Magier hinüber. »Das sieht Yaldin nicht ähnlich.«
»Nein«, pflichtete Rothen ihm bei. Er lächelte und klopfte Dannyl auf die Schulter. »Allerdings sieht es dir auch nicht ähnlich, dich in Schwierigkeiten zu bringen. Genau genommen sieht es so aus, als hättest du soeben einen persönlichen Auftrag vom Hohen Lord bekommen.«
Sonea knibbelte am Rand der Seite und seufzte. Warum konnten diese Magier keine normalen, vernünftigen Wörter benutzen! Der Verfasser dieses Buches schien es geradezu zu genießen, seine Sätze so anzuordnen, dass sie nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit einer normalen Ausdrucksweise hatten. Selbst Serin, der nicht mehr ganz junge Schreiber, der ihr das Lesen beibrachte, konnte sich auf viele der Redewendungen keinen Reim machen.
Sie rieb sich die Augen und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Serin bot ihr schon seit einigen Tagen Zuflucht in seinem Keller. Es war ein überraschend behaglicher Raum mit einem großen Kamin und einfachen Möbeln, und sie wusste, dass sie enttäuscht sein würde, wenn sie von hier fortgehen musste.
Nachdem sie an dem Abend, an dem Cery sie in die Gilde gebracht hatte, beinahe gefangen genommen worden wäre, hatte Faren sie in Serins Haus im Nordviertel untergebracht. Er war zu dem Schluss gekommen, dass sie aufhören müsse, sich in ihrer Magie zu üben, bis er neue, bessere Verstecke für sie gefunden hatte. In der Zwischenzeit, sagte er, solle sie stattdessen die Bücher studieren, die Cery »gefunden« hatte.
Wieder senkte sie den Blick auf die Seite und seufzte. Ein Wort lag vor ihr – ein fremdartiges, seltsames, ärgerliches Wort, das einfach keinen Sinn ergeben wollte. Sie starrte es an, wohlwissend, dass die Bedeutung des ganzen Satzes sich um dieses eine lästige Wort drehte. Einmal mehr rieb sie sich die Augen und zuckte dann jäh zusammen, als es an der Tür klopfte.
Vorsichtig erhob sie sich, spähte durch das Guckloch, lächelte und schloss die Tür auf.
»Guten Abend«, sagte Faren, während er in den Raum schlüpfte. Er reichte ihr eine Flasche. »Ich habe dir eine kleine Ermutigung mitgebracht.«
Sonea zog den Korken aus der Flasche und schnupperte. »Pachi-Wein!«, rief sie.
»Stimmt.«
Sie ging zu einem Schrank hinüber und nahm zwei Becher heraus. »Ich glaube nicht, dass das die richtigen Gläser für Pachi-Wein sind«, bemerkte sie. »Aber das ist alles, was ich habe – es sei denn, du möchtest Serin bitten, dir etwas Besseres zu holen.«
»Die Becher sind in Ordnung.« Faren zog sich einen Stuhl an den Tisch und ließ sich darauf nieder. Nachdem er einen Becher mit der klaren, grünen Flüssigkeit entgegengenommen hatte, nippte er daran, stieß einen zufriedenen Seufzer aus und lehnte sich zurück. »Gewürzt und angewärmt schmeckt er natürlich besser.«
»Das kann ich nicht beurteilen«, sagte Sonea. »Ich habe noch nie welchen getrunken.« Sie nahm ebenfalls einen Schluck und lächelte, als sich ein süßer, frischer Geschmack in ihrem Mund ausbreitete. Ihr Gesichtsausdruck entlockte Faren ein Kichern.
»Ich dachte mir, dass er dir schmecken würde.« Er streckte die Beine aus. »Und ich habe Neuigkeiten für dich. Deine Tante und dein Onkel erwarten ein Kind.«
Sonea starrte ihn an. »Wirklich?«
»Du wirst schon bald einen kleinen Vetter oder eine Cousine haben«, erwiderte er. Dann nahm er noch einen Schluck und sah sie versonnen an. »Cery hat mir erzählt, dass deine Mutter gestorben sei, als du noch ein Kind warst, und dass dein Vater Kyralia kurz darauf verlassen habe.« Er hielt inne. »Gab es irgendwelche Anzeichen dafür, dass einer von ihnen Magie im Blut hatte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.«
Er schürzte die Lippen. »Ich habe Cery gebeten, deine Tante danach zu fragen. Sie sagt, sie habe weder bei deinen Eltern noch bei deinen Großeltern auch nur das geringste magische Talent beobachten können.«
»Ist das wichtig?«
»Magier sehen es gern, wenn sie ihre Blutlinien zu ihren Ahnen zurückverfolgen können«, erklärte er ihr. »Meine Mutter hatte Magie im Blut. Das weiß ich, weil ihr Bruder – mein Onkel – Magier ist, und der Bruder meines Großvaters ist ebenfalls Magier – falls er noch lebt.«
»Du hast Magier in deiner Familie?«
»Ja, obwohl ich niemals einem von ihnen begegnet bin und ihnen wahrscheinlich auch nicht begegnen werde.«
»Aber…« Sonea schüttelte den Kopf. »Wie kann das sein?«
»Meine Mutter war die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns aus Lonmar«, erwiderte er. »Mein Vater war ein kyralischer Seemann und hat für einen Schiffskapitän gearbeitet, der regelmäßig Waren für den Vater meiner Mutter transportiert hat.«
»Wie haben die beiden sich kennen gelernt?«
»Durch Zufall, und später haben sie sich dann heimlich getroffen. Die Lonmar halten ihre Frauen, wie du sicher weißt, streng verborgen. Sie prüfen sie nicht auf Magie, da es nur einen Ort gibt, an dem sie lernen könnten, sie zu benutzen: die Gilde. Und die Lonmar sind der Meinung, es sei unziemlich für Frauen, sich allzu weit von zu Hause zu entfernen – oder auch nur mit Männern zu sprechen, die nicht zu ihrer Familie gehören.« Faren hielt inne, um noch einen Schluck Wein zu trinken, und Sonea beobachtete ihn erwartungsvoll. Er lächelte schwach.
»Als ihr Vater herausfand, dass meine Mutter sich mit einem Seemann getroffen hatte, wurde sie streng bestraft«, fuhr er fort. »Man hat sie ausgepeitscht und dann in einem der Türme ihrer Familie eingekerkert. Mein Vater hat sein Schiff verlassen und ist in Lonmar geblieben, um eine Möglichkeit zu finden, sie zu befreien. Er brauchte nicht lange zu warten, denn als ihre Familie erfuhr, dass sie ein Kind erwartete, hat sie sie in Schande verstoßen.«
»Sie verstoßen? Man hätte doch gewiss einfach ein Zuhause für das Kind finden können?«
»Nein.« Farens Miene verdüsterte sich. »Man war der Meinung, sie sei besudelt und eine Schande für ihre Familie. Die Traditionen der Lonmar verlangten, dass sie gezeichnet wurde, damit andere Männer von ihrem Verbrechen erfuhren. Anschließend hat man sie auf einem Sklavenmarkt verkauft. Sie hatte zwei lange Narben auf jeder Wange und eine auf der Stirn.«
»Wie schrecklich«, entfuhr es Sonea.
Faren zuckte die Achseln. »Ja, uns erscheint es schrecklich. Die Lonmar halten sich jedoch für das zivilisierteste aller Völker auf der Welt.« Wieder nippte er an seinem Wein. »Mein Vater hat sie gekauft und eine Überfahrt für sie beide zurück nach Imardin. Damit hatten ihre Schwierigkeiten jedoch noch kein Ende. Durch seine Schuld hatte der Schiffskapitän einen wichtigen Kunden verloren, da die Familie meiner Mutter keine Geschäfte mehr mit ihm machen wollte. Und kein anderer Schiffseigentümer wollte meinen Vater in seine Dienste nehmen, so dass meine Eltern schnell verarmten. Sie bauten sich ein Haus in der Hüttensiedlung, und mein Vater nahm eine Arbeit in einem Gorin-Schlachthaus an. Kurz danach bin ich dann zur Welt gekommen.« Er leerte seinen Becher. Dann sah er sie lächelnd an. »Verstehst du? Selbst ein erbärmlicher Dieb kann Magie im Blut haben.«
»Ein erbärmlicher Dieb?« Sonea prustete.
Sie hatte Faren noch nie so redselig erlebt. Was mochte er ihr noch alles erzählen? Sie schenkte ihm Wein nach und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Also, wie ist der Sohn eines Schlachters zu einem Anführer der Diebe geworden?«
Faren hob den Becher an die Lippen. »Mein Vater ist bei den Kämpfen nach der ersten Säuberung ums Leben gekommen. Um uns durchzubringen, hat meine Mutter sich als Tänzerin in einem Hurenhaus verdingt.« Er verzog das Gesicht. »Das Leben war hart. Einer ihrer Kunden war ein einflussreicher Dieb. Er mochte mich und hat mich als seinen Sohn bei sich aufgenommen. Als er sich später zurückzog, bin ich an seine Stelle getreten und habe mich von dort aus weiter nach oben gearbeitet.«
Sonea spitzte die Lippen. »Dann kann also jeder ein Dieb werden? Man braucht sich lediglich mit den richtigen Leuten zu befreunden.«
»Es genügt keineswegs, nur ein netter Kerl zu sein.« Er lächelte. »Hast du vielleicht Pläne für deinen Freund?«
Sie runzelte mit gespielter Verwirrung die Stirn. »Meinen Freund? Nein, ich dachte eher an mich selbst.«
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte, dann prostete er ihr mit seinem Becher zu.
»Auf Sonea – eine Frau von geringem Ehrgeiz. Zuerst Magierin, dann Diebin.«
Gemeinsam leerten sie ihre Becher, dann senkte Faren den Blick auf den Tisch. Er streckte die Hand aus und zog das Buch zu sich heran.
»Es ergibt immer noch keinen Sinn für dich?«
Sie seufzte. »Manche dieser Dinge kann nicht einmal Serin verstehen. Das Buch ist für jemanden geschrieben, der mehr weiß als ich. Ich brauche etwas für Anfänger. Ist Cery irgendwie weitergekommen?«
Er schüttelte den Kopf. »Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn du deine Übungen fortgesetzt hättest. Auf diese Weise hätte die Gilde etwas zu tun gehabt. In den letzten Wochen haben sie jede Pfandleihe innerhalb und außerhalb der Mauern durchsucht. Falls es noch irgendwelche Bücher über Magie in der Stadt gab, sind sie inzwischen verschwunden.«
Sonea seufzte und presste sich die Hände auf die Schläfen. »Was tun die Magier jetzt?«
»Sie schnüffeln immer noch in den Hütten herum«, antwortete er. »Und warten wahrscheinlich darauf, dass du deine Magie benutzt.«
Sonea dachte an ihre Tante und ihren Onkel und an das Kind, das die beiden erwarteten. Solange die Magier ihre Suche fortsetzten, würde sie sie nicht besuchen können. Wie sehr sie sich danach sehnte, mit den beiden zu reden! Sie blickte auf das Buch hinab, und plötzlich stieg Ärger in ihr auf. »Werden sie denn niemals aufgeben?«
Plötzlich hallte ein lautes Krachen durch den Raum, gefolgt von einem leisen Aufschlag von etwas, das zu Boden fiel. Sonea sprang auf und sah die Splitter einer weißen Keramikvase vor sich liegen.
»Wirklich, Sonea«, sagte Faren und drohte ihr mit dem Finger, »ich finde nicht, dass das eine nette Art und Weise ist, Serin zu vergelten, dass –« Er brach abrupt ab, dann schlug er sich an die Stirn und stöhnte. »Jetzt werden sie wissen, dass du in der Stadt bist.« Er fluchte und sah sie missbilligend an. »Es gab mehr als einen Grund, warum ich dir geraten habe, keine Magie zu benutzen, solange du hier bist, Sonea.«
Sonea errötete. »Entschuldige, Faren. Ich habe es nicht mit Absicht getan.« Sie bückte sich und hob einen der Splitter auf. »Am Anfang wollte es mir nicht gelingen, zu bewerkstelligen, was ich bewerkstelligen wollte, und jetzt geschehen solche Dinge, wenn ich nicht einmal daran denke.«
Farens Miene wurde weicher. »Nun, wenn du es nicht verhindern kannst, dann ist es eben so.« Er hob die Hand, dann versteifte er sich plötzlich und starrte sie an.
»Was ist?«, fragte sie.
Er schluckte und wandte den Blick ab. »Nichts. Nur… ein Gedanke. Die Magier werden nicht nahe genug gewesen sein, um deinen Standort ausmachen zu können, aber morgen werden sie wahrscheinlich überall im Nordviertel herumlaufen. Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, dich jetzt schon in ein neues Versteck zu bringen – versuch nur, deine Magie nicht noch einmal zu benutzen.«
Sonea nickte. »Ich werde es versuchen.«
»Larkin, der Kaufmann?«
Als Dannyl sich umwandte, stand ein Arbeiter aus dem Bolhaus neben ihm. Er nickte. Der Mann bedeutete ihm mit einer ruckartigen Kopfbewegung, ihm zu folgen.
Einen Moment lang starrte Dannyl sein Gegenüber nur an, außerstande zu glauben, dass sich endlich ein Erfolg abzeichnete. Dann erhob er sich hastig von dem Hocker und drängte sich hinter dem Mann durch die Menge, während er noch einmal über den Inhalt seines Briefes an Gorin nachdachte. Was hatte den Dieb bewogen, sich diesmal zu einem Treffen bereit zu erklären?
Draußen schneite es. Der Führer zog die Schultern hoch und hüllte sich fester in seinen Mantel, dann eilte er die Straße hinunter. Als sie den Zugang zu einer nahen Gasse erreichten, trat eine in einen weiten Umhang gehüllte Gestalt vor Dannyl hin und versperrte ihm den Weg.
»Lord Dannyl. Was für eine Überraschung! Oder sollte ich lieber sagen, was für eine Verkleidung?«
Fergun lächelte breit. Dannyl starrte den Magier an; seine Ungläubigkeit verwandelte sich schnell in Ärger. Er dachte an andere Gelegenheiten vor vielen Jahren, als ein jüngerer Fergun ihn verfolgt und gequält hatte, und Unbehagen stieg in ihm auf. Im nächsten Moment war er nur noch wütend auf sich selbst. Er drückte die Schultern durch und empfand eine kleine, schäbige Befriedigung darüber, dass er einen Kopf größer war als der andere Magier.
»Was willst du, Fergun?«
Ferguns fein gezeichnete Brauen hoben sich. »Wissen, warum du in einem solchen Aufzug durch die Hüttenviertel spazierst, Lord Dannyl.«
»Und du glaubst, dass ich es dir erzählen werde?«
Der Krieger hob die Schultern. »Nun, wenn du es nicht tust, werde ich gezwungen sein, mir meine eigenen Gedanken zu machen, nicht wahr? Meine Freunde würden mir sicher nur allzu gern helfen, deine Gründe zu erraten.« Er legte einen Finger an die Lippen. »Hm, offensichtlich möchtest du nicht, dass bekannt wird, warum du hier bist. Handelt es sich vielleicht um irgendeinen Skandal, den du verbergen willst? Bist du in etwas so Peinliches verwickelt, dass du dich wie ein Bettler kleiden musst, um einer Entdeckung zu entgehen? Ah!« Ferguns Augen weiteten sich. »Besuchst du die Bordelle?«
Dannyl blickte über Ferguns Schulter. Wie erwartet, war der Führer verschwunden.
»Oh, war er derjenige welcher?«, fragte Fergun. »Ich fand ihn ja ziemlich primitiv. Nicht dass ich auch nur die geringste Ahnung hätte, welche speziellen Vorlieben du hast.«
Eine Woge des Zorns überschwemmte Dannyl wie Eiswasser. Es war viele Jahre her, dass Fergun ihn das letzte Mal solchermaßen angegangen war, aber der Hass, den sein Seitenhieb in Dannyl weckte, war so stark wie eh und je. »Geh mir aus dem Weg, Fergun.«
Ferguns Augen blitzten vor Vergnügen. »Oh nein«, sagte er, und aller Hohn war aus seiner Stimme verschwunden. »Nicht bevor du mir verraten hast, was du im Schilde führst.«
Es wäre nicht schwierig, Fergun von den Füßen zu reißen, durchzuckte es Dannyl.
Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Wut unter Kontrolle zu halten. »Fergun, nicht einmal, wenn du es wirklich wolltest, würde es dir gelingen, andere nicht zu verleumden – jeder weiß das. Niemand wird dir auch nur ein einziges Wort glauben. Jetzt geh mir aus dem Weg, bevor ich mich gezwungen sehe, dich anzuzeigen.«
Ein stählerner Ausdruck trat in die Augen des Kriegers. »Ich bin davon überzeugt, dass die Höheren Magier sich vielmehr für dein Verhalten interessieren werden. Soweit ich mich erinnere, gibt es ein ziemlich strenges Gesetz, das vorschreibt, an welchen Orten Magier Roben tragen müssen. Weiß man in der Gilde, dass du gegen dieses Gesetz verstößt?«
Dannyl lächelte. »Es ist nicht völlig unbekannt.«
Zweifel flackerte in Ferguns Blick auf. »Du hast die Genehmigung der Gilde?«
»Sie – oder sollte ich besser sagen, er – haben es mir befohlen«, erwiderte Dannyl. Er setzte eine nachdenkliche Miene auf, dann schüttelte er den Kopf. »Ich war noch nie in der Lage, festzustellen, ob er mich gerade beobachtet oder nicht. Er wird von diesem Zwischenfall erfahren müssen. Ich werde es ihm erzählen, wenn ich zurückkehre.«
Ferguns Gesicht war eine Spur weißer geworden. »Das ist nicht nötig! Ich werde selbst mit ihm reden.« Er trat beiseite. »Geh. Beende deine Arbeit.« Er trat noch einen Schritt zurück, dann drehte er sich um und eilte davon.
Lächelnd beobachtete Dannyl, wie der Krieger in dem dichter gewordenen Schneetreiben verschwand. Er bezweifelte, dass Fergun dem Hohen Lord auch nur ein einziges Wort sagen würde.
Seine Befriedigung erstarb, als er feststellen musste, dass er sich allein auf einer verlassenen Straße befand. Er suchte in der Dunkelheit, in der der Führer verschwunden war. Fergun musste natürlich genau in dem Moment auftauchen, als die Diebe sich endlich zu einem Treffen bereit gefunden hatten. Seufzend setzte sich Dannyl in Richtung Nordstraße und Gilde in Bewegung.
Hastige Schritte knirschten hinter ihm im frisch gefallenen Schnee. Er drehte sich um und blinzelte überrascht, als er seinen Führer näher kommen sah. Er blieb stehen und gab dem Mann Zeit, zu ihm aufzuschließen.
»He! Was war denn das gerade?«, fragte der Mann.
»Einer unserer Sucher ist ein wenig zu neugierig geworden.« Er lächelte. »Ich nehme an, du würdest ihn als Spitzel bezeichnen – einen ziemlich aufdringlichen Spitzel.«
Der Mann grinste und entblößte dabei eine Reihe fleckiger Zähne. »Ich verstehe, was Ihr meint.« Er zuckte die Achseln, dann bedeutete er Dannyl mit einer knappen Kopfbewegung, ihm zu folgen. Dannyl überzeugte sich davon, dass Fergun nicht mehr in der Nähe war, um ihn zu beobachten, bevor er sich von neuem auf den Weg durch das Schneetreiben machte.
»›Erhöhe allmählich die Menge an Kraft, bis die Hitze das Glas zum Schmelzen bringt‹«, las Serin vor.
»Aber da steht nichts darüber, wie es funktioniert!«, rief Sonea. Sie erhob sich und ging im Raum auf und ab. »Es ist mehr wie ein… ein Wasserschlauch mit einem winzigen Loch darin. Wenn man den Schlauch zusammendrückt, sprudelt das Wasser heraus, aber man kann es nicht auf ein bestimmtes Ziel richten oder –«
Es klopfte an der Tür, und sie brach mitten im Satz ab. Serin stand auf und blickte durch das Guckloch, bevor er die Tür öffnete.
»Sonea«, sagte Faren und gab dem Schreiber ein Zeichen, den Raum zu verlassen. »Ich habe Besuch für dich mitgebracht.«
Grinsend trat er ein. Hinter ihm standen ein untersetzter Mann mit schläfrigen Augen und eine kleine Frau, die sich einen dicken Schal um den Kopf geschlungen hatte.
»Ranel!«, rief Sonea. »Jonna!« Sie lief um den Tisch herum und zog ihre Tante an sich.
»Sonea.« Jonna stieß einen leisen Seufzer aus. »Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.« Dann hielt sie Sonea auf Armeslänge von sich weg und nickte zufrieden. »Du siehst recht gut aus.«
Zu Soneas Erheiterung warf Jonna Faren einen abweisenden Blick zu. Der Dieb lehnte lächelnd an der Wand. Sonea trat auf Ranel zu und umarmte auch ihn.
Ihr Onkel musterte sie forschend. »Harrin hat uns erzählt, dass du Magie gewirkt hast.«
Sonea schnitt eine Grimasse. »Das ist wahr.«
»Und die Magier suchen nach dir.«
»Ja. Faren versteckt mich vor ihnen.«
»Um welchen Preis? Deine Magie?«
Sonea nickte. »So ist es. Nicht dass ihm das bisher viel genutzt hätte. Ich mache meine Sache nicht allzu gut.«
Jonna schnaubte leise. »Ganz so schlecht kannst du aber auch nicht sein, sonst würde er dich nicht verstecken.« Sie sah sich in Soneas Versteck um und nickte. »Nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt habe.« Dann ließ sie sich auf einen Stuhl sinken, nahm ihren Schal ab und stieß hörbar die Luft aus.
Sonea ging neben dem Stuhl in die Hocke. »Ich habe gehört, ihr betätigt euch in einem neuen Gewerbe.«
Ihre Tante runzelte die Stirn. »Ein neues Gewerbe?«
»Wenn ich mich nicht irre, produziert ihr jetzt Vettern und Cousinen für mich.«
Die Miene ihrer Tante wurde weicher, und sie klopfte sich sachte auf den Bauch. »Ah, diese Neuigkeit hat dich also erreicht. Ja, im nächsten Sommer wird unsere kleine Familie ein neues Mitglied bekommen.« Jonna blickte zu Ranel auf, in dessen Gesicht ein breites Lächeln erschien.
Eine jähe Zuneigung für die beiden stieg in Sonea auf, gepaart mit einer starken Sehnsucht. Plötzlich durchzuckte sie ein vertrautes Gefühl, und sie sog scharf die Luft ein. Sie rappelte sich hoch und sah sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.
»Was ist los?«, fragte Faren.
»Ich habe irgendetwas gemacht.« Sie errötete, denn ihr war bewusst geworden, dass ihr Onkel und ihre Tante sie anstarrten. »Nun ja, es fühlte sich jedenfalls so an.«
Der Dieb zuckte die Achseln. »Vielleicht hast du ein wenig Dreck jenseits der Mauern aufgewühlt.«
Jonna wirkte verwirrt. »Was soll das heißen?«
»Ich habe Magie benutzt«, erklärte Sonea. »Allerdings unbeabsichtigt. Das passiert gelegentlich.«
»Und du weißt nicht, was du getan hast?« Jonna legte schützend die Hände auf ihren Leib.
»Nein.« Sonea schluckte und wandte sich ab. Die Furcht in den Augen ihrer Tante machte sie traurig, aber sie verstand Jonnas Angst. Der Gedanke, dass sie ungewollt Schaden anrichten könnte…
Nein, ging es ihr durch den Kopf. Denk nicht einmal daran. Sie holte tief Luft.
»Faren, ich denke, du solltest die beiden wegbringen. Nur für den Fall des Falles.«
Faren nickte. Jonna erhob sich, und Sorge spiegelte sich auf ihren Zügen wider. Sie drehte sich zu Sonea um und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schüttelte sie jedoch nur stumm den Kopf und streckte die Arme nach ihrer Nichte aus. Sonea drückte ihre Tante fest an sich, bevor sie einen Schritt zurücktrat.
»Wir werden uns wiedersehen«, erklärte sie. »Sobald diese ganze Geschichte geregelt ist.«
Ranel nickte. »Pass auf dich auf.«
»Das tue ich«, versprach sie.
Faren begleitete die beiden nach draußen. Sonea lauschte ihren Schritten, als sie die Treppe hinaufstiegen. Ein rotes Tuch auf dem Fußboden erregte ihre Aufmerksamkeit. Der Schal ihrer Tante.
Sie hob ihn auf und eilte zur Tür und die Treppe hinauf. Auf halber Höhe der Treppe sah sie, dass ihr Onkel und ihre Tante mit Faren in Serins Küche standen. Alle drei starrten etwas an, das Sonea noch nicht erkennen konnte. Als sie näher kam, begriff sie, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
Früher war der Fußboden von großen Fliesen bedeckt gewesen. Jetzt waren nur noch scharfkantige Trümmer aus Stein und Dreck zurückgeblieben. Noch am Morgen hatte ein schwerer Holztisch den Raum beherrscht, doch alles, was von ihm übrig geblieben war, war verbogenes, gesplittertes Holz.
Soneas Mund wurde trocken, dann regte sich abermals etwas in ihrem Geist, und der Tisch brach plötzlich in Flammen aus. Faren drehte sich zu ihr um und schien einen Augenblick lang mit sich zu kämpfen, bevor er zu sprechen begann.
»Wie ich schon sagte«, bemerkte er. »Sie macht wahrscheinlich nur eine schwierige Phase durch. Sonea, geh wieder nach unten, und pack deine Tasche. Ich werde deine Besucher nach Hause bringen und jemanden herschicken, der das Feuer löscht. Es wird alles gut.«
Nickend reichte Sonea ihrer Tante den Schal und floh zurück in den Keller.
Rothen, der in einer Gasse stehen geblieben war, schloss die Augen und zog ein wenig Kraft aus seiner Magie, um seine Müdigkeit zu verscheuchen.
Dann öffnete er die Augen wieder und betrachtete die Schneewälle, die sich an den Hauswänden gebildet hatten. Das milde Wetter der vergangenen Wochen war nur noch eine ferne Erinnerung, nachdem die winterlichen Schneestürme Imardin erreicht hatten. Er überzeugte sich davon, dass sein Umhang seine Roben verbarg, dann schickte er sich an, auf die Straße hinauszutreten.
Als er ein vertrautes Summen in seinen Gedanken wahrnahm, hielt er inne. Er schloss die Augen und fluchte leise vor sich hin, denn er spürte, dass er viel zu weit von der Quelle dieses Summens entfernt war. Kopfschüttelnd machte er den ersten Schritt hinaus auf die Straße.
— Dannyl?
— Ich habe sie gehört. Mich trennen nur wenige Straßen von ihrem Standort.
— Hat sie sich bewegt?
— Ja.
Rothen runzelte die Stirn. Wenn sie geflohen war, warum benutzte sie dann noch immer ihre Kräfte?
— Wer ist sonst noch in der Nähe?
— Wir dürften ihr am nächsten sein, erklang Lord Kerrins Gedankenstimme. Sie kann nicht mehr als hundert Schritte von uns entfernt sein.
— Sarle und ich sind ebenfalls in der Nähe, ließ Lord Kiano ihn wissen.
— Dann bewegt euch weiter auf das Ziel zu, trug Rothen ihnen auf. Aber ihr dürft ihr nicht allein gegenübertreten.
Rothen überquerte die Straße und eilte eine Gasse hinunter. Ein alter Bettler starrte ihn mit blinden Augen an, als er an ihm vorbeiging.
— Rothen?, rief Dannyl. Sieh dir das an.
Ein Bild blitzte in Rothens Gedanken auf. Ein Haus, das in orangefarbene Flammen eingehüllt war. Rauch wogte gen Himmel. Argwohn und Furcht begleiteten das Bild.
— Glaubst du, dass sie…?
— In dem Falle würden wir etwas Dramatischeres zu sehen bekommen, antwortete Rothen.
Am Ende der Gasse angekommen, trat Rothen auf eine breitere Straße hinaus. Als er das brennende Haus sah, verlangsamte er seine Schritte. Es hatten sich bereits Menschen dort eingefunden, die das Feuer beobachteten, und als er näher kam, sah er, dass die Bewohner der Nachbarhäuser, beladen mit Besitztümern, ihre Wohnungen verließen.
Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit einer anderen Gasse und trat auf ihn zu.
»Sie muss ganz in der Nähe sein«, sagte Dannyl. »Wenn wir –«
Beide Männer versteiften sich, als mit einem Mal ein stärkerer, kürzerer Summton in ihre Sinne drang.
»Hinter diesem Haus da«, erklärte Rothen und zeigte in die Richtung, die er meinte.
Dannyl hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. »Ich kenne dieses Viertel. Hinter dem Gebäude verläuft eine Gasse, die zu zwei anderen Straßen führt.«
Als er etwa hundert Schritte links von der ersten Vibration eine weitere spürte, verlangsamte Rothen abermals das Tempo.
»Sie bewegt sich ziemlich schnell«, murmelte Dannyl und verfiel in Laufschritt.
Rothen eilte hinter ihm her. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, keuchte er. »Wochenlang hat Schweigen geherrscht, und in dieser Woche spüren wir sie jeden Tag – und warum benutzt sie ihre Kräfte immer noch?«
»Vielleicht kann sie es nicht verhindern.«
»Dann hatte Akkarin Recht.«
Rothen sandte einen Gedankenruf aus.
— Kiano?
-Sie bewegt sich auf uns zu.
— Kerrin?
— Sie hat gerade unseren Weg gekreuzt und ist in südlicher Richtung weitergelaufen.
— Wir haben sie umzingelt, teilte Rothen den anderen Magiern mit. Seid vorsichtig. Es ist gut möglich, dass sie die Kontrolle über ihre Kräfte verliert. Kiano und Sarle, bewegt Euch langsam auf sie zu. Kerrin und Fergun, Ihr haltet Euch rechts von dem Mädchen. Wir nähern uns dann von –
— Ich habe sie gefunden, teilte Fergun mit.
Rothen runzelte die Stirn.
— Fergun, wo seid Ihr?
Stille folgte.
— Sie ist in den Tunneln unter mir. Ich kann sie durch ein Gitter in der Mauer sehen.
— Bleibt dort, befahl Rothen. Ihr dürft Euch dem Mädchen auf keinen Fall allein nähern.
Einen Moment später fing Rothen eine weitere Vibration auf, der mehrere andere folgten. Er spürte die Furcht der übrigen Magier und beschleunigte seine Schritte.
— Fergun? Was ist passiert?
— Sie hat mich gesehen.
— Haltet Euch von ihr fern!, warnte Rothen ihn.
Dann war das Summen der Magie plötzlich erstorben. Dannyl und Rothen tauschten einen Blick, bevor sie weiterliefen. Als sie an eine Kreuzung kamen, sahen sie Fergun in einer der Gassen stehen. Er spähte durch ein Gitter in der Mauer vor ihm.
»Sie ist weg«, erklärte er.
Dannyl entfernte das Gitter hastig und blickte in den Gang dahinter.
»Was ist passiert?«, wollte Rothen wissen.
Fergun antwortete. »Ich habe hier auf Kerrin gewartet, als plötzlich aus dem Gitter Geräusche drangen.«
Dannyl erhob sich. »Also seid Ihr allein hineingegangen und habt sie verschreckt.«
Fergun musterte den hochgewachsenen Magier mit schmalen Augen. »Nein. Ich bin, wie befohlen, hier geblieben.«
»Hat sie Euch gesehen und es mit der Angst bekommen?«, fragte Rothen. »War das der Grund, warum sie angefangen hat, ihre Kräfte zu benutzen?«
»Ja.« Fergun zuckte die Achseln. »Bis ihre Freunde sie bewusstlos geschlagen haben und weggerannt sind.«
»Du bist ihnen nicht gefolgt?«, fragte Dannyl.
Fergun zog die Augenbrauen hoch. »Nein. Ich bin hier geblieben, wie befohlen«, wiederholte er.
Dannyl murmelte etwas Unverständliches und eilte dann die Gasse hinunter. Als die anderen Magier erschienen, ging Rothen ihnen entgegen. Er erklärte, was geschehen war, und schickte sie anschließend zusammen mit Fergun zur Gilde zurück.
Er fand Dannyl in einem Hauseingang, wo er auf der Schwelle saß und aus einer Hand voll Schnee einen Ball formte.
»Sie verliert die Kontrolle.«
»Ja«, stimmte Rothen ihm zu. »Ich werde die Suche abblasen. Wenn wir sie weiter verfolgen, wird sie wahrscheinlich auch noch den letzten Rest an Kontrolle verlieren.«
»Und was machen wir jetzt?«
Rothen sah seinen Freund vielsagend an. »Verhandeln.«
Der beißende Geruch von Rauch füllte Cerys Lunge. Er rannte durch den Geheimgang und wich dabei immer wieder anderen Männern aus, die die »Straße« benutzten und nur als schwache Schemen in der Dunkelheit zu erkennen waren. Als er schließlich vor einer Tür stehen blieb, hielt er kurz inne, um Atem zu schöpfen.
Der Wachposten, der die Tür öffnete, erkannte Cery und begrüßte ihn mit einem Nicken. Cery eilte eine schmale Holztreppe hinauf, drückte die Falltür am oberen Ende auf und kletterte in einen schwach beleuchteten Raum.
Mit einem schnellen Blick erfasste er die drei stämmigen Wachen, die in der Dunkelheit herumlungerten, den dunkelhäutigen Mann am Fenster und die kleine Gestalt, die schlafend in einem Sessel lag.
»Was ist passiert?«
Faren drehte sich zu ihm um. »Wir haben ihr eine Droge gegeben, damit sie einschläft. Sie hatte Angst, dass sie noch mehr Schaden anrichten würde.«
Cery ging zu dem Sessel hinüber und beugte sich vor, um Soneas Gesicht zu betrachten. Sie hatte eine dunkle, geschwollene Prellung an der Schläfe. Ihre Haut war bleich und ihr Haar feucht von Schweiß. Außerdem war der Saum ihres Ärmels verkohlt, und sie trug einen Verband um die Hand.
»Das Feuer breitet sich aus«, bemerkte Faren.
Cery richtete sich auf und trat neben den Dieb ans Fenster. Drei der Häuser auf der anderen Straßenseite brannten. Die Flammen züngelten zu den Fenstern hinaus und erhoben sich wie wirres, orangefarbenes Haar, wo früher einmal die Dächer gewesen waren. Aus den Fenstern eines anderen Hauses wogte schwarzer Rauch.
»Sie hat gesagt, sie hätte geträumt – einen Alptraum«, erklärte Faren. »Als sie erwachte, brannten überall in ihrem Zimmer kleine Feuer. Zu viele, um sie zu löschen. Je größer ihre Angst wurde, umso mehr Feuer loderten auf.« Faren seufzte. Lange Zeit sagte keiner von ihnen etwas, dann holte Cery tief Luft und wandte sich zu dem Dieb um.
»Was wirst du jetzt tun?«
Zu seiner Überraschung lächelte Faren. »Sie dem Freund eines alten Bekannten von uns vorstellen.« Er zeigte auf die Männer, die sich immer noch in dem Bereich des Raumes aufhielten, den das Licht nicht erreichte. »Jarin, du wirst sie tragen.«
Ein großer, muskulöser Mann trat aus dem Schatten in das orangefarbene Licht der Feuer. Er beugte sich vor, um Sonea hochzuheben, aber als er sie berührte, öffnete sie flatternd die Lider. Jarin zog die Hände zurück und entfernte sich hastig von ihr.
»Cery?«, murmelte sie.
Cery eilte an ihre Seite. Sie blinzelte langsam, als versuche sie, ihn zu erkennen.
»Hallo«, sagte er lächelnd.
Sie hatte die Augen bereits wieder geschlossen. »Sie sind uns nicht gefolgt, Cery. Sie haben uns einfach gehen lassen. Ist das nicht eigenartig?«
Als sie die Augen wieder aufschlug, warf sie einen Blick über die Schulter. »Faren?«
»Du bist wach«, bemerkte Faren. »Du hättest mindestens noch zwei Stunden schlafen sollen.«
Sie gähnte. »Ich fühle mich aber nicht wach.«
Cery kicherte. »Du siehst auch nicht wach aus. Schlaf einfach weiter. Du brauchst Ruhe. Wir werden dich irgendwo hinbringen, wo du in Sicherheit bist.«
Sie nickte und schloss die Augen. Ihre Atmung nahm wieder den trägen Rhythmus des Schlafes an. Faren gab Jarin ein Zeichen und deutete dann auf das bewusstlose Mädchen.
Der große Mann nahm sie widerstrebend auf die Arme. Soneas Lider flatterten kurz, aber sie wachte nicht noch einmal auf. Faren griff nach einer Lampe, ging zu der Falltür hinüber, öffnete sie mit einem Tritt und schob sich hindurch.
Schweigend gingen sie durch die Korridore. Als Cery einen Blick auf Soneas Gesicht warf, krampfte sich ihm das Herz zusammen. Das altvertraute Unbehagen war inzwischen mächtiger geworden als alles, was er je zuvor empfunden hatte. Es hielt ihn nachts wach und quälte ihn bei Tag, und er konnte sich kaum noch an eine Zeit erinnern, als er noch nicht an diesem Gefühl gekrankt hatte.
Er hatte vor allem Angst um sie, aber seit einigen Wochen hatte er auch Angst, in ihrer Nähe zu sein. Die Magie, über die sie gebot, hatte sich endgültig ihrem Zugriff entzogen. Jeden Tag, manchmal jede Stunde, explodierte irgendetwas in ihrer Nähe, brach in Flammen aus oder zerfiel zu Trümmern. Am Morgen hatte sie noch darüber gelacht und gescherzt, dass sie inzwischen reichlich Übung darin habe, Feuer zu löschen und fliegenden Gegenständen auszuweichen.
Wann immer ihre Magie die Oberhand gewann, kamen Magier aus allen Teilen der Stadt herbeigelaufen. Sonea war praktisch ständig in Bewegung gewesen und hatte mehr Zeit in den Tunneln verbracht als in Farens Verstecken. Kein Wunder, dass sie zu Tode erschöpft und unglücklich war.
Gedankenverloren, achtete Cery kaum auf den Weg. An einer Stelle stiegen sie eine steile Treppe hinunter und kamen kurz darauf unter einem riesigen Steinbrocken vorbei. Als er den Sockel des Äußeren Walls erkannte, wusste er, dass sie auf dem Weg ins Nordviertel waren, und er fragte sich, wer Farens rätselhafter Freund wohl sein mochte.
Nicht lange danach blieb Faren stehen und befahl dem Wachposten, Sonea abzusetzen. Als sie diesmal erwachte, schien sie ein wenig mehr von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Faren zog seinen Mantel aus, und mit Jarins Hilfe gelang es ihm, Soneas Arme in die Ärmel zu schieben und ihr die Kapuze über die Stirn zu ziehen.
»Meinst du, du kannst gehen?«, fragte er sie.
Sie zuckte die Achseln. »Ich werde es versuchen.«
»Wenn wir jemandem begegnen, halt dich möglichst im Hintergrund«, sagte er.
Zuerst brauchte sie Hilfe, aber nach einigen Minuten hatte sie das Gleichgewicht wiedergefunden. Sie wanderten noch einmal eine halbe Stunde durch die Tunnel und begegneten, je weiter sie kamen, immer mehr Menschen, die ebenfalls in den Korridoren unterwegs waren. Schließlich blieb Faren vor einer Tür stehen und klopfte an. Ein Wachposten öffnete ihnen und ließ sie in einen kleinen Raum eintreten, bevor er an eine zweite Tür klopfte.
Ein kleiner, dunkelhäutiger Mann mit einer spitzen Nase öffnete die Tür und musterte den Dieb von Kopf bis Fuß.
»Faren«, sagte er. »Was führt dich hierher?«
»Geschäfte«, antwortete Faren.
Cery runzelte die Stirn. Die Stimme kam ihm irgendwie vertraut vor. Dann wurden die runden Augen des Mannes mit einem Mal schmal.
»Kommt herein.«
Faren trat durch die Tür, hielt noch einmal inne und zeigte auf seine Wachposten. »Ihr bleibt hier«, erklärte er. Dann deutete er mit dem Kopf auf Cery und Sonea. »Ihr beide kommt mit mir.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Ich möchte nicht…« Er zögerte, besah sich Cery noch einmal genauer und lächelte schließlich. »Ah, das ist der kleine Ceryni. Du hast Torrins Waisenjungen also bei dir behalten, Faren. Ich hatte mich schon gefragt, ob du das tun würdest.«
Cery lächelte, als ihm klar wurde, wer der Mann war. »Hallo, Ravi.«
»Kommt herein.«
Cery trat in den Raum, und Sonea folgte ihm. Als er sich umsah, fiel Cerys Blick auf einen alten Mann, der in einem Sessel saß und sich über den langen weißen Bart strich. Cery nickte, aber der Mann ließ seinen höflichen Gruß unbeantwortet.
»Und wer ist das da?«, fragte Ravi und nickte dabei in Soneas Richtung.
Faren zog ihr die Kapuze aus dem Gesicht. Sonea sah Ravi an. Ihre Pupillen waren groß und schwarz, eine Folge der Droge.
»Das ist Sonea«, sagte Faren, und seine Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln. »Sonea, ich möchte dich mit Ravi bekannt machen.«
»Hallo«, murmelte Sonea.
Ravi wich einen Schritt zurück. Sein Gesicht war schneeweiß geworden. »Das ist… sie? Aber ich –«
»Wie könnt ihr es wagen, sie hierher zu bringen!«
Sie wandten sich alle gleichzeitig in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Der alte Mann hatte sich auf die Füße gezogen und funkelte Faren wütend an. Sonea unterdrückte einen Schrei und taumelte rückwärts.
Faren legte ihr die Hände auf die Schultern, um ihr Halt zu geben. »Keine Angst, Sonea«, sagte er besänftigend. »Er würde es nicht wagen, dir etwas anzutun. Wenn er es täte, müssten wir der Gilde nämlich alles über ihn erzählen, und den Magiern wäre es gar nicht recht, wenn sie entdecken müssten, dass er keineswegs tot ist, wie sie es vermuten.«
Cery starrte den alten Mann an. Plötzlich begriff er, warum der Fremde sich nicht die Mühe gemacht hatte, seinen Gruß zu erwidern.
»Verstehst du«, fuhr Faren jetzt in selbstgefälligem Tonfall fort, »du und er, ihr habt eine Menge gemeinsam, Sonea. Ihr steht beide unter dem Schutz der Diebe, ihr verfügt beide über Magie, und ihr wollt beide nicht von der Gilde gefunden werden. Und jetzt, da du unseren Freund Senfel kennen gelernt hast, wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als dir zu zeigen, wie du deine Magie kontrollieren kannst – denn wenn er es nicht tut, könnten die Magier dich vielleicht finden, und du könntest ihnen vielleicht eine Menge Dinge über ihn erzählen.«
»Er ist ein Magier?«, wisperte sie und starrte den alten Mann mit großen Augen an.
»Ein ehemaliger Magier«, korrigierte Faren sie.
Zu Cerys Erleichterung flackerte in Soneas Augen keine Furcht auf, sondern Hoffnung.
»Ihr könnt mir helfen?«, fragte sie.
Senfel verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein.«
»Nein?«, wiederholte sie leise.
Der alte Mann runzelte die Stirn, dann verzog er verächtlich die Lippen. »Wenn du sie unter Drogen setzt, machst du damit alles nur noch schlimmer, Dieb.«
Sonea sog scharf die Luft ein. Als Cery sah, dass die Angst in ihren Blick zurückgekehrt war, trat er neben sie und griff nach ihren Händen.
»Es ist alles in Ordnung«, flüsterte er ihr zu. »Es war nur eine Schlafdroge.«
»Nein, nichts ist in Ordnung«, widersprach Senfel. Dann wandte er sich mit wütendem Gesichtsausdruck wieder an Faren. »Ich kann ihr nicht helfen.«
»Du hast keine andere Wahl«, entgegnete Faren.
Senfel lächelte. »Ach ja? Dann geh doch zur Gilde. Erzähl ihnen, dass ich hier bin. Es ist mir lieber, dass die Magier mich finden, als zu sterben, wenn die Kleine die Kontrolle über ihre Kräfte verliert.«
Als er spürte, wie Sonea sich verkrampfte, trat Cery auf den alten Mann zu. »Hör auf, ihr Angst zu machen«, zischte er.
Senfel musterte ihn, dann huschte sein Blick zu Sonea hinüber. Sie sah ihm herausfordernd in die Augen. Die Miene des alten Mannes wurde ein wenig weicher.
»Geh zu ihnen«, drängte er sie. »Sie werden dich nicht töten. Schlimmstenfalls werden sie deine Kräfte binden, so dass du sie nicht benutzen kannst. Das wäre doch immerhin besser als der Tod, oder?«
Sonea funkelte ihn immer noch trotzig an. Senfel straffte sich und bedachte Faren mit einem stählernen Blick.
»Es sind mindestens drei Magier in der Nähe. Es würde mich nur wenig Mühe kosten, sie herzurufen, und ich könnte euch ohne Weiteres bis zu ihrem Eintreffen hier im Haus festhalten. Habt ihr immer noch den Wunsch, mich an die Gilde zu verraten?«
Faren biss die Zähne zusammen und hielt dem Blick des Magiers stand. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein.«
»Dann geht jetzt, und wenn sie wieder nüchtern ist, wiederholt ihr, was ich soeben gesagt habe. Wenn sie nicht Hilfe bei der Gilde sucht, wird sie sterben.«
»Dann könnt auch Ihr Sonea helfen«, warf Cery ein.
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht. Meine Kräfte sind zu schwach, und das Mädchen ist schon zu weit. Nur die Gilde kann ihr jetzt noch helfen.«
Der Besitzer des Bolhauses zog ein Fass hervor, hievte es hoch und ließ es mit einem Ächzen auf die Theke fallen. Während er sich daranmachte, einige Becher zu füllen und sie am Tisch zu verteilen, bedachte er Dannyl mit einem vielsagenden Blick. Zu guter Letzt beugte er sich vor, stellte mit einem vernehmlichen Krachen einen Becher vor Dannyl hin, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete.
Dannyl sah den Mann nervös an und schob ihm eine Münze hin. Der Mann zuckte nicht mit der Wimper. Dannyl beäugte seinen Becher, bis ihm klar wurde, dass es sich nicht länger vermeiden ließ. Er würde das Zeug trinken müssen.
Er hob den Becher, nahm einen zaghaften Schluck und blinzelte dann überrascht. Ein süßes, schweres Aroma breitete sich in seinem Mund aus. Der Geschmack war vertraut, und nach dem zweiten Schluck erkannte er ihn. Chebol-Sauce, aber ohne die Gewürze.
Er trank weiter, und schon bald stieg eine wohlige Wärme in ihm auf. Er prostete dem Besitzer des Lokals zu, der daraufhin zufrieden den Kopf neigte. Er hörte jedoch nicht auf, ihn zu beobachten, und Dannyl war erleichtert, als ein junger Mann in den Schankraum trat und den Wirt in ein Gespräch verwickelte.
»Was machen die Geschäfte, Kol?«
Der Mann breitete die Hände aus. »Das Übliche.«
»Wie viele Fässer willst du diesmal?«
Die beiden begannen zu feilschen, und Dannyl lauschte interessiert. Nachdem sie sich auf einen Preis geeinigt hatten, ließ der Neuankömmling sich auf einem Stuhl nieder und seufzte.
»Wo ist eigentlich dieser Fremde abgeblieben? Der mit dem protzigen Ring?«
»Du meinst den Sachakaner?« Der Wirt zuckte die Achseln. »Den haben sie vor ein paar Wochen erledigt. Man hat ihn in der Gasse gefunden.«
»Wirklich?«
»Allerdings.«
Dannyl schnaubte leise. Ein passendes Ende, ging es ihm durch den Kopf.
»Hast du schon von dem Feuer letzte Nacht gehört?«, fragte der Wirt.
»Ich wohne in der Nähe. Es hat die ganze Straße ausgelöscht. Nur gut, dass wir nicht Sommer haben. Sonst wäre womöglich das gesamte Hüttenviertel abgebrannt.«
»Nicht dass die Städter sich darum scheren würden«, meinte der Wirt. »Das Feuer hat vor der Stadtmauer Halt gemacht.«
Plötzlich legte jemand Dannyl eine Hand auf die Schulter. Er blickte auf und erkannte den dünnen Mann, den die Diebe zu seinem Führer bestimmt hatten. Der Mann deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung zur Tür.
Dannyl trank seinen Bol aus und stellte den Becher beiseite. Als er aufstand, nickte der Besitzer ihm freundlich zu. Dannyl erwiderte den Gruß mit einem Lächeln, dann folgte er seinem Führer zur Tür.
Sonea sah zu, wie das Wasser durch einen Riss hoch oben in einer der Mauern sickerte, sich zu einem Rinnsal zusammenfand, an dem verwaisten Lampenhaken hinunterlief und dann auf den harten Fußboden spritzte.
Ihr neuestes Versteck hatte Faren mit großer Umsicht ausgewählt. Es war ein leerstehender, unterirdischer Lagerraum mit Ziegelmauern und einem steinernen Sims als Bett. Es gab hier nichts, was von Wert war oder verbrennen konnte.
Nichts, außer ihr selbst.
Bei dem Gedanken daran überlief sie ein Angstschauer. Sie schloss die Augen und schob den Gedanken hastig beiseite.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon in diesem Raum war. Es hätten Tage sein können oder auch nur Stunden. Sie hatte keine Möglichkeit, das Verstreichen der Zeit zu messen.
Aber bisher hatte sie noch kein einziges Mal die vertraute Veränderung in ihrem Geist gespürt. Die Liste von Gefühlen, die ihre Kräfte freizusetzen vermochten, war so lang geworden, dass Sonea inzwischen gar nicht mehr mitzählte. Sie lag auf dem steinernen Bett und konzentrierte sich einzig darauf, ruhig zu bleiben. Wann immer irgendein Gedanke diese Ruhe zu stören drohte, holte sie tief Luft und schob ihn von sich. Inzwischen hatte sich ein tröstliches Gefühl der Leere in ihr ausgebreitet.
Vielleicht war das die Wirkung des Getränks, das Faren ihr gegeben hatte.
Wenn du sie unter Drogen setzt, machst du damit alles nur noch schlimmer. Bei der Erinnerung an den seltsamen Traum, den sie nach dem Brand gehabt hatte, fröstelte sie. In diesem Traum hatte sie in den Hütten einen Magier aufgesucht. Obwohl ihre Fantasie einen Helfer erfunden hatte, waren seine Worte keineswegs beruhigend gewesen. Sonea atmete tief durch und verbannte die Erinnerung aus ihren Gedanken.
Offensichtlich war es ein Trugschluss gewesen, anzunehmen, dass sie einen Vorrat an Zorn in sich tragen musste, den sie heraufbeschwören konnte, wenn sie Magie benutzen wollte. Inzwischen bewunderte sie die Magier, denen es gelang, ihre Kräfte derart zu kontrollieren, aber die Erkenntnis, dass sie gefühllose Wesen waren, gab ihr wahrhaftig keinen Grund, sie zu mögen.
Sie vernahm ein leises Klopfen, dann wurde die Tür geöffnet. Sie kämpfte die aufkeimende Furcht nieder, stand von ihrem Bett auf und blickte zu dem nur langsam breiter werdenden Türspalt hinüber. Cery stand mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht auf der anderen Seite. Als es ihm schließlich gelang, die schwere Metalltür aufzudrücken, schlüpfte er hindurch und gab ihr ein Zeichen.
»Du musst wieder umziehen.«
»Aber ich habe doch gar nichts getan.«
»Vielleicht war es dir nicht bewusst.«
Während sie sich durch die Tür schob, fragte sie sich, was seine Worte bedeuten mochten. Hatte die Droge dazu geführt, dass sie es nicht einmal mehr bemerkte, wenn die Magie aus ihrem Geist strömte? Sie hatte nichts explodieren oder in Flammen aufgehen sehen. Hatten ihre Kräfte immer noch ein Eigenleben, auch wenn sie sich weniger zerstörerisch auswirkten?
Diese Fragen brachten sie gefährlich nahe an den Rand starker Gefühle, daher unterdrückte sie sie mit aller Macht. Sie folgte Cery und konzentrierte sich darauf, weiterhin Ruhe zu bewahren. Schließlich blieb er stehen und stieg eine in die Mauer eingelassene, rostige Leiter hinauf. Nachdem er die Bodentür aufgedrückt hatte, schob er sich durch die Öffnung. Frischer Schnee rieselte in den Tunnel.
Sonea, die dicht hinter ihm war, spürte einen kalten Lufthauch auf ihrem Gesicht, dann trat sie hinaus in helles Tageslicht. Sie standen in einer verlassenen Gasse. Während sie sich den Schnee von den Kleidern klopfte, grinste Cery sie jungenhaft an.
»Du hast Schneeflocken im Haar«, sagte er. Er beugte sich vor, um die weißen Kristalle wegzuwischen, keuchte jedoch auf und riss die Hand zurück.
»Autsch! Was…?« Er versuchte es noch einmal und zuckte zusammen. »Du hast eine von diesen Barrieren erschaffen, Sonea.«
»Nein, habe ich nicht«, antwortete sie, immer noch fest davon überzeugt, dass sie keinerlei Magie benutzt hatte. Sie streckte ihrerseits die Hand aus und zuckte vor Schmerz zusammen, als sie auf eine unsichtbare Mauer traf. Im nächsten Moment nahm sie eine Bewegung hinter Cerys Schulter wahr und sah an ihm vorbei. Ein Mann war soeben in die Gasse getreten und kam auf sie zu.
»Hinter dir«, warnte sie Cery, aber dessen ganze Aufmerksamkeit war auf etwas über ihrem Kopf gerichtet.
»Ein Magier!«, stieß er hervor.
Sonea blickte auf und keuchte. Auf dem Dach über ihnen stand ein Mann, der sie aufmerksam beobachtete. Sie schnappte nach Luft. Der Mann trat über den Rand des Gebäudes hinaus, aber statt zu stürzen, schwebte er langsam zu Boden.
Ein Zittern durchlief sie, als Cery gegen die Barriere hämmerte.
»Lauf!«, schrie er. »Weg hier!«
Sie wich vor dem Magier, der den Boden noch nicht ganz erreicht hatte, zurück, gab alle Bemühungen auf, Ruhe zu bewahren, und rannte die Gasse hinunter. Schnelle Schritte hinter ihr sagten ihr, dass der schwebende Magier die Straße erreicht hatte.
Vor ihr lag eine Wegkreuzung. Und von dort kam eine weitere Gestalt auf sie zu. Ächzend und getrieben von der ganzen Kraft ihrer Panik, machte sie einen Satz nach vorn. Ein Gefühl des Triumphs durchzuckte sie. Sie hatte die Kreuzung deutlich vor dem zweiten Magier erreicht.
Schlitternd kam sie zum Stehen, rannte auf den Durchgang zu ihrer Rechten zu…
… und hielt sich an einer Hausecke fest, um ihren Schwung zu bremsen. Ein weiterer Mann stand dort, die Arme vor der Brust verschränkt. Keuchend stürzte sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Inzwischen war nur noch eine Gasse übrig, in der sie es noch nicht versucht hatte, aber auch dort hatte sie keinen Erfolg. Einige Schritte entfernt stand ein vierter Mann, der ihr letztes Ausweichmanöver beobachtet hatte. Sie stieß einen Fluch aus und wirbelte herum. Der dritte Mann sah sie zwar an, bewegte sich jedoch nicht von der Stelle. Sie drehte sich noch einmal zu dem vierten Magier um. Er ging langsam in ihre Richtung.
Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Sie blickte auf und überlegte, ob sie an der Mauer hinaufklettern konnte. Die Häuserfassade war aus dem üblichen, grob behauenen Stein erbaut, aber selbst wenn sie Zeit gehabt hätte, daran emporzuklettern, hätten die Magier sie mühelos wieder herunterziehen können. Eine schreckliche, entmutigende Kälte überlief sie.
Ich sitze in der Falle. Es gibt keinen Ausweg.
Ein Stich der Angst durchzuckte sie, als sie sah, dass die beiden ersten Männer inzwischen neben dem dritten an der Wegkreuzung standen, und sie nahm ein vertrautes Flattern in ihren Gedanken wahr. Staub und Steinbrocken prasselten auf sie herab; ein Teil der Mauer über den Männern war eingestürzt. Der Schutt prallte in der Luft über ihnen ab, ohne dass sie dabei Schaden nahmen.
Die Magier sahen zu der Mauer, dann richteten sie berechnende Blicke auf Sonea. Sie wollte ihnen keinen Grund liefern, sie anzugreifen, daher zog sie sich zurück. Wieder geschah etwas in ihrem Kopf. Sengende Hitze schlang sich um ihr Bein. Sie blickte zu Boden, wo der Schnee zu einer Wasserlache rund um ihre Füße geschmolzen war. Dampf stieg auf und erfüllte die Gasse mit warmem, undurchdringlichem Nebel.
Sie können mich nicht sehen! Jähe Hoffnung wallte in ihr auf. Ich kann an ihnen vorbeischlüpfen.
Sie drehte sich um und rannte die Gasse hinunter. Der dunkle Schatten des Mannes bewegte sich und versperrte ihr den Weg. Sie zögerte, dann schob sie eine Hand in ihren Mantel und ertastete den kalten Griff ihres Messers. Als der Magier sie packen wollte, tauchte sie unter seinen ausgestreckten Händen hindurch und warf sich mit aller Kraft gegen ihn. Er taumelte zurück, fiel jedoch nicht zu Boden. Bevor er das Gleichgewicht wiederfinden konnte, rammte sie ihm die dünne Klinge in den Oberschenkel. Ihre Waffe bohrte sich tief in sein Fleisch, und einen Moment lang wurde ihr übel. Dennoch befriedigte es sie zu hören, wie er vor Überraschung und Schmerz aufschrie. Sie riss ihr Messer aus der Wunde und stieß den Mann von sich. Als er stöhnend gegen die Mauer prallte, drehte sie sich um, um wegzulaufen.
Finger umschlangen ihr Handgelenk. Mit einem wütenden Knurren versuchte sie, sich zu befreien. Der Mann fasste jetzt so fest zu, dass es wehtat, und das Messer entglitt ihrem Griff.
Ein Windstoß vertrieb den Nebel aus der Gasse, und die drei anderen Magier kamen auf sie zugestürzt. Panik stieg in ihr auf, während sie ihren sinnlosen Kampf fortsetzte, bis sie auf dem feuchten Boden ausglitt. Keuchend vor Anstrengung stieß der am Boden liegende Magier sie auf seine drei Gefährten zu.
Sie versuchte noch einmal, sich loszureißen, aber inzwischen hatten die drei anderen Männer sie ebenfalls gepackt und drückten sie gegen die Mauer, so dass sie sich nicht mehr bewegen konnte.
»Sie ist eine richtige Wildkatze«, sagte einer der Magier. Der verletzte Mann am Boden stieß ein klägliches Lachen aus.
Als Sonea sich dem Magier zuwandte, der ihr am nächsten stand, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass sie sein Gesicht kannte. Er war es, der sie bei der Säuberung gesehen hatte. Jetzt blickte er ihr eindringlich in die Augen.
»Hab keine Angst vor uns, Sonea«, sagte er. »Wir werden dir nichts Böses antun.«
Ein anderer Magier murmelte etwas. Der ältere Mann nickte, dann ließen die anderen langsam die Hände sinken.
Eine unsichtbare Kraft drückte sie an die Mauer. Außerstande, sich zu bewegen, schlug eine Woge der Verzweiflung über ihr zusammen, gefolgt von dem vertrauten Gefühl von Magie, die ihrem Zugriff entglitt. Plötzlich explodierte die Mauer hinter den drei anderen Magiern, und sie brachten sich hastig vor den durch die Luft fliegenden Ziegelsteinen in Sicherheit.
Ein Mann, der eine Bäckerschürze trug, trat durch die Öffnung, das Gesicht umwölkt vor Zorn. Als er die vier Magier sah, zögerte er, und seine Augen weiteten sich. Einer der Magier drehte sich zu ihm und machte eine schroffe Handbewegung.
»Bring dich in Sicherheit«, blaffte er den Bäcker an. »Dich und alle anderen in diesem Häuserblock.«
Der Mann verschwand in der Dunkelheit des Hauses.
»Sonea.« Der ältere Magier sah sie eindringlich an. »Hör mir zu. Wir werden dir nichts antun. Wir –«
Sengende Hitze legte sich über ihr Gesicht. Als sie sich umwandte, stellte sie fest, dass die Ziegelsteine in ihrer Nähe rot glühten. Irgendetwas sickerte an der Mauer hinunter. Sie hörte einen der Magier einen Fluch ausstoßen.
»Sonea«, wiederholte der ältere Magier, und seine Stimme hatte jetzt einen strengeren Klang als zuvor. »Hör auf, gegen uns zu kämpfen. Du wirst dir nur selbst Schaden zufügen.«
Die Mauer hinter ihr begann zu zittern. Als die Vibrationen sich weiter ausbreiteten, rissen die Magier die Arme hoch. Sonea keuchte auf. Im Boden unter ihren Füßen taten sich plötzlich Risse auf.
»Du musst deinen Atem verlangsamen«, drängte der Magier sie. »Versuche, dich zu beruhigen.«
Sie schloss die Augen, dann schüttelte sie den Kopf. Es hatte keinen Sinn. Die Magie entströmte ihr wie Wasser einem gebrochenen Rohr. Als etwas sie an der Stirn berührte, schlug sie die Augen auf.
Der Magier zog die Hand zurück. Sein Gesicht wirkte angespannt. Er gab seinen Gefährten einen knappen Befehl, dann wandte er sich wieder zu ihr um.
»Ich kann dir helfen, Sonea«, sagte er. »Ich kann dir zeigen, wie man solchen Dingen Einhalt gebietet, aber wenn du es mir nicht gestattest, kann ich nichts für dich tun. Ich weiß, dass du jeden Grund hast, uns zu fürchten und zu misstrauen, aber wenn du deine Gegenwehr jetzt nicht aufgibst, wirst du dich und viele andere Menschen in diesem Viertel verletzen. Verstehst du mich?«
Sie starrte ihn an. Ihr helfen? Warum sollte er ihr helfen wollen?
Aber wenn er die Absicht gehabt hätte, mich zu töten, ging es ihr plötzlich durch den Kopf, hätte er das bereits tun können.
Mit einem Mal begann sein Gesicht zu leuchten, und sie begriff, dass die Luft um sie herum sich unerträglich aufgeheizt hatte – sie hatte Mühe, einen Schmerzensschrei zu unterdrücken. Den Magiern konnte die Hitze anscheinend nichts anhaben, aber ihre Mienen waren dennoch grimmig.
Obwohl ein Teil von ihr sich gegen die Idee auflehnte, wusste sie, dass etwas Furchtbares geschehen würde, wenn sie nicht tat, was diese Magier von ihr wollten.
Der ältere Magier runzelte die Stirn. »Sonea«, sagte er mahnend. »Wir haben nicht genug Zeit, um dir alles zu erklären. Ich werde versuchen, es dir zu zeigen, aber du darfst keinen Widerstand leisten.« Er hob die Hand und berührte ihre Stirn. Dann schloss er die Augen.
Schon im nächsten Moment spürte sie eine Person tief in ihren Gedanken. Sie wusste sofort, dass der Mann Rothen hieß. Im Gegensatz zu den anderen Magiern, die mit ihren Gedanken nach ihr gesucht hatten, konnte dieser Mann sie sehen.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Gegenwart in ihrem Geist.
— Hör mir zu. Du hast die Kontrolle über deine Kräfte beinahe zur Gänze verloren.
Obwohl sie keine Worte vernehmen konnte, war die Bedeutung dessen, was er sagte, absolut klar – und erschreckend. Sie begriff sofort, dass die Magie, über die sie gebot, sie töten würde, wenn sie sie nicht zu beherrschen lernte.
— Das ist es, wonach du in deinem Geist suchen musst.
Etwas – ein wortloser Gedanke – gab ihr den Befehl zu suchen. Sie wurde sich eines Ortes in ihrem Innern bewusst, der gleichzeitig vertraut und fremd war. Als sie sich darauf konzentrierte, wurde er immer klarer. Eine große, blendende Kugel aus Licht, die in der Dunkelheit schwebte …
— Das ist deine Magie. Sie ist zu einer gewaltigen Energiequelle angewachsen, obwohl du einen Teil dieser Energie bereits abgezogen hast. Du musst sie freisetzen – aber auf eine kontrollierte Art und Weise.
Das war ihre Magie? Sie versuchte, danach zu greifen. Unverzüglich blitzte weißes Licht aus der Kugel auf. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, und irgendwo in weiter Ferne hörte sie einen Aufschrei.
— Versuche nicht, sie zu erreichen – nicht bevor ich dir gezeigt habe, wie. Und jetzt beobachte mich…
Er lenkte ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Sie folgte ihm, auch wenn sie nicht wusste, wohin, und nahm schließlich eine andere Kugel aus Licht wahr.
— Sieh genau hin.
Sie beobachtete, wie er seine Willenskraft ausdehnte, Magie aus der Kugel heraussog, sie formte und schließlich losließ.
— Und jetzt versuch du es.
Sie konzentrierte sich auf ihr eigenes Licht und entlockte ihm ein klein wenig von seiner Energie. Magie überflutete ihren Geist. Sie brauchte nur daran zu denken, was sie damit tun wollte, und schon setzte dieser Strom wieder ein.
— So ist es richtig. Jetzt mach es noch einmal, aber hör nicht auf, bis du alles an Energie verbraucht hast, was du besitzt.
— Alles?
— Hab keine Angst. Du bist in der Lage, mit einer solchen Menge an Energie fertig zu werden, und die Übung, die ich dir gezeigt habe, wird deine Energie auf eine Art und Weise abschöpfen, die keinen Schaden anrichtet.
Ihre Brust hob sich, als sie tief ein- und wieder ausatmete. Abermals griff sie nach ihrer Magie, formte sie nach ihrem Willen und ließ sie frei, wieder und wieder. Nachdem sie erst einmal damit begonnen hatte, erschien es ihr ganz einfach. Die Kugel begann zu schrumpfen und löste sich langsam auf, bis sie nicht mehr war als ein Funke, der in der Dunkelheit trieb.
— So, es ist vorbei.
Sie öffnete die Augen und besah sich blinzelnd das Bild der Zerstörung, das sich ihr darbot. Die Mauern waren fort, und in einem Umkreis von zwanzig Schritten war nichts zurückgeblieben als schwelender Schutt. Die Magier beobachteten sie argwöhnisch.
Obwohl die Mauer hinter ihr nicht mehr existierte, hielt die unsichtbare Macht Sonea nach wie vor aufrecht. Dann wurde sie plötzlich freigelassen und taumelte. Ihre Beine zitterten vor Anstrengung und gaben schließlich unter ihr nach. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre kraftlos in sich zusammengesunken.
Der ältere Magier lächelte ihr zu und legte ihr die Hand auf die Schulter.
— Für den Augenblick bist du außer Gefahr, Sonea. Du hast deine gesamte Energie erschöpft. Ruh dich aus. Wir werden bald wieder miteinander reden.
Als er sie vom Boden hochhob, überfiel sie ein jäher Schwindel, und tiefe Schwärze löschte alle Gedanken aus.
Cery, der vor Anstrengung und Schmerz keuchte, lehnte sich an die zerstörte Mauer. Soneas Schrei hallte noch immer in seinen Ohren wider. Er presste die Hände gegen die Schläfen und schloss die Augen.
»Sonea…«, flüsterte er.
Seufzend ließ er die Hände sinken und hörte zu spät die Schritte hinter sich. Er blickte auf. Der Mann, der ihm den Fluchtweg durch die Gasse versperrt hatte, war zurückgekehrt und starrte ihn jetzt eindringlich an.
Cery ignorierte ihn. Er hatte inmitten des Staubs und der Trümmer einen leuchtenden Fleck entdeckt. Langsam ging er in die Hocke und berührte die rote Flüssigkeit, die von einem zerbrochenen Ziegelstein heruntertropfte. Blut.
Schritte näherten sich, und ein Stiefel kam neben dem Blut in Sicht – ein Stiefel mit Knöpfen in der Form des Symbols der Gilde. Eine Woge des Zorns schlug über ihm zusammen. Mit einer raschen Bewegung rappelte er sich hoch und zielte mit der Faust auf das Gesicht des Mannes.
Der Mann packte Cerys Handgelenk und verdrehte ihm den Arm. Cery verlor das Gleichgewicht, stürzte und schlug mit dem Kopf gegen die Mauer. Bunte Lichter blitzten vor seinen Augen auf. Keuchend zog er sich wieder auf die Füße und drückte die Hände an die Schläfen, weil er hoffte, dass die Welt dann aufhören würde sich zu drehen. Der Mann kicherte.
»Törichter Hüttentölpel«, sagte er.
Dann fuhr der Magier mit den Fingern durch sein feines, blondes Haar, drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte davon.