Der Raum war eine eigene Welt aus Nebel und Dunkelheit. Ein Stück Unendlichkeit: ohne Form, ohne feste Körper, nur von tanzenden Schatten erfüllt, die unstet hin und her huschten und doch wieder eine Winzigkeit zu stofflich waren, um nur aus dem Fehlen von Licht zu bestehen.
Und sie waren auch mehr, wie jeder der acht wußte, die im Kreis auf dem Boden saßen. Dies war ihre ureigene, seit mehr als tausend Jahren versunkene Welt. Oder das, was davon geblieben war. Sie waren die Wächter der alten Zeit, die Mächtigsten des Ordens der Schwarzen Magier. Nur noch wenige, und längst nicht mehr so mächtig wie einst; und doch genug, und doch schrecklich.
»Im Namen Ch’tuons, des Herrn! Ihr wißt, was geschehen ist, meine Brüder. Einem unserer letzten Bollwerke droht Gefahr.« Es war Baarolam, der mächtigste der acht – vielleicht der mächtigste von allen –, der diese Worte in das bedrückende Schweigen hinein sprach. »Das magische Herz gerät außer Kontrolle. Uns bleibt keine andere Wahl, als es zu vernichten.«
Die Stille währte noch einige Sekunden, dann setzte das leise Summen wieder ein, mit dem der Kreis die Beschwörung begonnen hatte, steigerte sich zu einem tiefen, unangenehm dröhnenden Ton, der nach und nach den ganzen Saal zum Vibrieren brachte und schließlich in ihre Körper kroch, sich als dumpfer Schmerz einnistete. Sie schlossen ihre Hände noch fester zusammen.
Der Ring war stark, so stark wie lange nicht mehr, und trotzdem war sich Baarolam nicht sicher, ob er halten würde, denn auch das, was aus den Schatten herankroch und allmählich zwischen ihnen Gestalt anzunehmen begann, war stärker als alles, was er bislang erlebt hatte.
Mühsam verscheuchte er die Furcht und konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe. Was sie taten, stellte ein Risiko dar, aber es war unvermeidlich.
Die Schatten im Zentrum des Kreises bewegten sich deutlicher. Es war, als wolle sich ein Körper bilden, ein Ding aus Rauch und schwarzer wogender Bewegung, das immer wieder auseinandergerissen wurde, kurz bevor es wirklich Substanz annehmen konnte. Baarolam spürte, wie das blinde Suchen und Tasten des Kreises plötzlich zielgerichteter, fordernder wurde. Und wie Etwas antwortete. Nicht zögernd, sondern so hart und gierig, daß er sich wie unter einem Hieb krümmte. Er vernahm einen lautlosen Todesschrei, der über die Brücke durch das Nichts, die er bis zu den Katakomben Der Letzten Nacht geschlagen hatte, direkt in seine Gedanken drang und die Beschwörung für Bruchteile von Sekunden störte.
Sekundenbruchteile, welche die Katastrophe auslösten.
Ein sengender Blitz fuhr durch Baarolams Geist, als das Tor endgültig zwischen ihnen Gestalt annahm. Er fühlte, wie eine neue Macht nach ihm griff, eine Macht, die der seinen und der seiner Brüder grenzenlos überlegen war. Ein Schwall bösartiger, ungezügelter Kraft brach über sie herein und schien den Kreis zu sprengen. Plötzlich roch die Luft verbrannt. Etwas zischte, und dann sah Baarolam den aus dem Nichts entstehenden Flammenschlauch, der sich wie eine Schlange auf ihn zuwand und ihn zu packen versuchte. Er schrie auf, sank zu Boden und begann schreckliche, keuchende Laute auszustoßen. Der Flammenarm kroch weiter auf ihn zu, nicht mehr mit ungestümer Macht, sondern langsam und sich windend wie eine wirkliche Schlange, eine verbrannte, rauchende Spur hinterlassend. Etwas Schwarzes nahm dahinter Form an. Etwas, das zu gräßlich war, als daß er es wirklich erkennen konnte.
Er schrie. Verzweifelt versuchte er, sich mit seiner geistigen Macht irgendwo festzuklammern, aber seine Kräfte reichten nicht. Wie durch eine Wand aus grellem Licht spürte er die Ruhe der Ewigkeit und die Kraft der Sterne auf sich einwirken; doch nichts vermochte seinen rasenden Fall zu stoppen. Gleichzeitig steigerte sich der Schmerz in seinem Inneren zu purer Agonie. Er fühlte die rasende Wut der fremden Macht, ihren Hunger, ihre Gier nach Vernichtung und Leben und sträubte sich nicht länger.
Das Schreien erstickte in einem röchelnden Seufzen. Einen Augenblick später wurde es in der Halle der Beschwörung still wie in einer Gruft. Aber es war eine böse Stille, ein drohendes, schweres Schweigen, wie die Ruhe vor einem entsetzlichen Sturm. Das in den Farben des Wahnsinns schimmernde Ding, das aus dem Nichts entstanden war, hörte auf zu wachsen, als es keine neue Nahrung erhielt. Es zuckte, wand sich hin und her —
aber es verschwand nicht.
Statt dessen begann es damit, sich dort neue Nahrung zu suchen, wo es ursprünglich hatte entstehen sollen…
Sie saßen in der Falle, dachte Torian verzweifelt. Die Gasse war eine tiefe, von wogenden Schatten erfüllte Schlucht; an drei Seiten ragten fenster- und türlose, doppelt mannshohe Mauern auf – rauhe und halbverfallene Ziegelsteinmauern, aber die zahlreichen Fugen und Risse waren auch um genau die Winzigkeit zu klein, die nötig gewesen wäre, ihnen Halt zu bieten; und außerdem blieb ihnen gar nicht mehr genug Zeit, denn von der vierten Seite her näherten sich die Straßenräuber; ohne jede Eile, offen und in einer Reihe nebeneinander. Sie waren nur noch kaum zwanzig Schritte entfernt, sieben Schatten, die fast mit denen ihrer Umgebung verschmolzen, was sie unwirklicher und noch bedrohlicher erscheinen ließ. Nun ja, dachte Torian, bedrohlich waren sie sicherlich. Was das unwirklich anging, hatte er so seine Zweifel… Er hätte wissen müssen, daß sie keinem Verfolger entkommen konnten, der in diesem Straßenlabyrinth jeden Winkel kannte. Vielleicht hätten sie im Kampf eine winzige Chance gehabt – aber selbst dafür war es zu spät. Die Übermacht war jetzt einfach zu groß. Langsam wich er zurück, bis er den feuchten Stein der Mauer in seinem Rücken spürte.
»Wenn wir ihnen keinen Widerstand leisten, lassen sie uns vielleicht am Leben«, flüsterte Shyleen.
Torian schüttelte den Kopf und bückte sich nach einer Latte, die vor ihm auf dem Boden lag. Ein kräftiger, armlanger Prügel aus fast steinhartem Holz, aber ein Nichts gegen die Schwerter, die in den Händen der Angreifer lagen. Dennoch fühlte er sich mit der Waffe in der Hand ein wenig wohler.
»Nicht, nachdem wir sie durch die halbe Stadt gehetzt haben.«
»Aber es sind zu viele, um gegen sie zu kämpfen!«
»Dann frag sie doch, ob sie so fair sind, nur zu zweit gegen uns anzutreten«, fauchte Torian. Er entdeckte noch eine Holzlatte, bückte sich danach und hob sie auf. Sie war kürzer als sein Knüppel, lag dafür aber besser in der Hand. Er reichte sie Shyleen. »Wir müssen versuchen, zwischen ihnen durchzubrechen.«
Er kam nicht mehr dazu, weitere ebenso schöne wie undurchführbare Pläne zu schmieden, denn in diesem Moment war der erste Angreifer heran. Und er griff sofort an.
Kaum eine Handbreit über Torian prallte die Klinge mit furchtbarer Wucht gegen die Mauer und schlug Funken aus dem Stein. Der Angreifer stieß ein schmerzvolles Keuchen aus, als ihm die Waffe aus den Fingern geprellt wurde, und preßte die gestauchte Hand gegen den Leib. Aber es waren immer noch neunzehn übrig. Selbst für einen Mann wie ihn entschieden zuviel.
Aus den Augenwinkeln nahm Torian eine Bewegung neben sich wahr und riß instinktiv den Knüppel hoch. Die Klinge des Unbekannten riß fingerlange Späne aus dem Holz; und allein die ungestüme Wucht des Hiebes hätte Torian die Latte fast aus der Hand geschlagen. Ein furchtbarer Schmerz raste durch seinen Arm, aber auch sein Gegner wurde von der Wucht seines eigenen Angriffs zurückgeschleudert.
Für eine Sekunde hatte er Luft. Torian parierte einen weiteren Schwerthieb. Ein hartes Knacken ertönte, als der Knüppel dicht über seiner Hand von der Klinge durchtrennt wurde und er plötzlich nur noch einen nutzlosen Stumpf in den Fingern hielt. Mit einem triumphierenden Grinsen kam sein Gegner näher.
Torian vergaß seine Erschöpfung und die Schmerzen und konzentrierte jedes bißchen Kraft auf den Kampf. Es war eine nur geliehene Kraft aus seinem Unterbewußtsein, die ihm nur für kurze Zeit zur Verfügung stand und für die er einen hohen Preis würde zahlen müssen, denn sie würde seinen anschließenden Zusammenbruch nur noch beschleunigen, aber jetzt wandte er sie, ohne zu zögern, an. Instinktive Reflexe, in Jahren voller unzähliger Kämpfe herantrainiert, übernahmen die Kontrolle über seinen Körper. Er stieß sich von der Mauer ab und flog wie ein lebendes Geschoß durch die Luft. Noch im Sprung riß er die Beine hoch. Seine Füße durchbrachen scheinbar mühelos die Deckung des Unbekannten. Mit dem linken Fuß trat er dem Mann das Schwert aus der Hand, sein rechter Fuß streifte das breite Kinn des Burschen und löschte sein Grinsen nachhaltig aus.
Torian fiel, griff blitzschnell nach dem Schwert, das der Bandit fallen gelassen hatte, und kam mit einer einzigen, fließenden Bewegung wieder auf die Beine. Fast blind schlug er nach der Waffe eines weiteren Angreifers.
Aber der Hieb kam schwerfällig und kraftlos. Er war ausgelaugt, völlig am Ende. Dieser, spätestens der nächste ernstgemeinte Angriff würde der letzte sein, das wußte er. Ein weiteres Schwert sauste heran, traf seine Waffe im unglücklichsten nur denkbaren Winkel und ließ sie wie Glas zersplittern. Torian ahnte den nachfolgenden Schlag des Unbekannten, und irgendwie gelang es ihm noch, sich im letzten Moment zur Seite zu werfen. Hart prallte er auf den Pflastersteinen auf. Instinktiv wälzte er sich zur Seite, als sich der Schatten mit vorgestreckter Klinge auf ihn stürzte, und er wußte selbst nicht, wie er der Schwertklinge hatte ausweichen können, die dicht neben seinem Kopf funkensprühend auf das Pflaster klirrte und zerbrach. Ein Metallsplitter traf seine Schulter und biß tief und schmerzhaft hinein.
Er wollte aufspringen, aber die Hand des Fremden erwischte ihn am Arm und stieß ihn grob auf den Boden zurück. Der Mann warf sich auf ihn und nagelte ihn mit den Knien auf der Erde fest. Sein Schwert blitzte auf.
Torian schloß die Augen und wartete auf den letzten, alles auslöschenden Schmerz – aber er spürte nichts. Als er die Augen nach ein paar Sekunden wieder öffnete, kniete der Mann immer noch auf ihm, den Schwertstumpf zum tödlichen Stich erhoben – aber er stieß nicht zu. Er beachtete Torian nicht einmal, sondern starrte offenkundig entsetzt auf einen Punkt irgendwo hinter sich.
Torian nutzte die Gelegenheit, seinem reglosen Gegner das Knie mit solcher Wucht in den Rücken zu rammen, daß der Mann über ihn hinweggeschleudert wurde, sprang auf die Beine – und erstarrte ebenfalls.
Der Anblick war unglaublich, so bizarr und fürchterlich zugleich, daß er für einen Moment selbst die Gefahr vergaß, in der sie noch immer schwebten. Etwas… verschlang die Wirklichkeit. Jedenfalls sah es so aus, dachte Torian verwirrt.
Der unheimliche Effekt betraf nur eines der Häuser hinter ihnen, aber er breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Es war, als hätte sich der Himmel auf das Haus herabgesenkt, es unter einer Decke aus Nacht begraben. Der Dachstuhl und fast das halbe Obergeschoß hatten sich bereits in Nichts aufgelöst, und der gespenstische Prozeß setzte sich immer weiter fort, lautlos und rasend schnell. Es war… gespenstisch. Wo gerade noch massives Mauerwerk gewesen war, wogte plötzlich Nebel, oder jedenfalls etwas wie Nebel, und gleichzeitig streifte irgend etwas Torians Seele, wie ein düsterer Hauch aus einer fremden, unendlich bösen Welt. Der Anblick lähmte ihn.
Einer der Straßenräuber begann gellend zu schreien. »Das ist Zauberei!»
»Das Werk von Dämonen!« kreischte ein anderer. Sein Ruf durchbrach den Bann. Die Männer erwachten aus ihrer Erstarrung und ergriffen in wilder Panik die Flucht. Nur der Bewußtlose und ein weiterer Mann, den Shyleen niedergeschlagen hatte, blieben zurück.
Am liebsten wäre auch Torian gerannt, so schnell er konnte, aber da war noch Shyleen. Sie lag reglos ein Stück entfernt auf dem Boden. Er überwand seine Furcht und taumelte auf sie zu, sich selbst mit letzter Kraft vorwärtsschleppend. Als er sie erreichte, schlug sie die Augen auf und stöhnte leise. Sie hatte eine klaffende, heftig blutende Wunde davongetragen, und ihr Gesicht war grau vor Schmerz. Aber ihnen blieb keine Zeit, sich um die Verletzungen zu kümmern.
Torian packte Shyleen und zog sie mit einem Ruck auf die Beine, wobei er vor Schwäche beinahe selbst gestürzt wäre. »Wir müssen weg!« schrie er. »Das Haus – «
Shyleen starrte ihn einen Moment lang aus weit aufgerissenen Augen und völlig verständnislos an, dann fiel ihr Blick auf den kaum mehr mannshohen Rest des Hauses – und plötzlich schien sie jeden Schmerz zu vergessen. Sie fuhr herum und begann zu rennen. Mit einem Male war sie es, die ihn hinter sich herzerrte, nicht umgekehrt.
Sie kamen nur einige Dutzend Schritte weit.
Der unheimliche Auflösungsprozeß hielt keineswegs inne, sondern setzte sich fort, sehr viel schneller plötzlich und scheinbar vollkommen wahllos. Ein zweites Haus neigte sich, knisternd und stöhnend wie unter einer unvorstellbaren Last. Das ganze Gebäude schwankte ein kleines Stück zurück und dann wieder vor, bis es unter dem Hieb eines unsichtbaren Riesen in einer Wolke von hochgeschleudertem Staub und Gestein zerbarst. Trümmerstücke regneten wie tödlicher Hagel durch die Luft, und obwohl sich ein Teil von ihnen noch im Fall buchstäblich in Nichts auflöste, stürzten andere in unmittelbarer Nähe der beiden Menschen zu Boden, zermalmten das Pflaster und gruben kleine, flache Trichter in den Boden.
»Zurück«, keuchte Torian. »Wir müssen – «
»Nein!« Shyleen deutete auf eine schmale Lücke zwischen zwei Häusern, gerade breit genug, daß sich ein Mensch hindurchzwängen konnte. Torian warf sich mehr in den Durchschlupf hinein, als daß er ging. Alles drehte sich vor seinen Augen; Schwäche drohte ihn zu überwältigen, und er blieb einige Sekunden keuchend liegen, bis Shyleen ihm ein paarmal mit der flachen Hand hart ins Gesicht schlug und ihn so aus seiner Benommenheit riß.
»Wir müssen weiter!« rief sie gellend, riß ihn hoch und versetzte ihm einen kräftigen Stoß, der ihn vorwärtstaumeln ließ. Er schrammte sich die Handflächen an dem rauhen Gestein blutig. Immer wieder drohte er zusammenzubrechen, doch Shyleen trieb ihn unerbittlich voran.
Und das unheimliche Etwas folgte ihnen. Es war jetzt schneller, und nicht mehr lautlos – im Gegenteil: Torian hörte ein ungeheures Krachen und Bersten, begleitet von einem fast krampfartigen Zucken und Beben, das in immer kürzeren Stößen durch den Boden lief. Shyleen bewegte die Lippen und schrie etwas, ohne daß er einen Laut vernahm. Ihre Stimme ging in dem unbeschreiblichen Getöse des vorweggenommenen Weltunterganges einfach unter.
Sie gelangten auf einen schmutzigen, mit Unrat übersäten Hinterhof. Wieder bewegte sich etwas vor Torian, und ein faustgroßer Stein traf seine Schulter. Er heulte auf, stolperte über irgend etwas und stürzte zu Boden.
Diesmal stand er nicht mehr auf, sondern krümmte sich zu einem Knäuel zusammen, verbarg den Kopf zwischen den Armen und wartete mit angehaltenem Atem darauf, erschlagen zu werden.
Aber die Götter hatten noch einmal ein Einsehen mit ihm. Trümmer von Steinen und Dachziegeln und zerfetzten Balken regneten rings um ihn zu Boden, aber wie durch ein Wunder traf ihn nicht ein einziger. Irgendwann – er wußte nicht, ob Stunden oder nur Minuten vergangen waren – hörte es auf, aber er blieb immer noch liegen. Es dauerte lange, bis er die Kraft fand, wenigstens den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen.
Was er sah, überraschte ihn nicht einmal besonders – aber es erschreckte ihn zutiefst.
Shyleen und er waren nicht mehr allein. Stiefel schälten sich aus dem grauen Nebel, der vor seinen Augen wallte, und als er mühsam nach oben blickte, sah er viele, sehr viele der blauen Umhänge, die charakteristisch für die Soldaten der Palastgarde waren. Und plötzlich war er gar nicht mehr so sicher, ob sie wirklich gerettet waren…
»Ja – warum eigentlich nicht, bei Ch’tuon? Warum nicht?«
Der Mann, der diese Worte zum vielleicht fünfzigsten Male an diesem Abend vor sich hinmurmelte, war ein wahrer Riese von Statur, das war trotz der nach vorne gesunkenen Haltung gut zu erkennen, in der er dahockte: die Schultern, die breit wie die eines Ochsen waren, wie unter einer unsichtbaren Last gebeugt, die nackten Unterarme auf dem Tisch aufgestützt, so daß die narbige Platte unter Wülsten von Fleisch zu versinken schien, und den Kopf auf die Fäuste gestemmt, außer wenn er ihn hob, um zu trinken – was oft vorkam –, wirkte der Fremde trotz seines riesenhaften Wuchses wie das sprichwörtliche Häufchen – nun ja, vielleicht schon eher ein ausgewachsener Haufen – Elend. Trotz des schlechten Lichtes im Inneren der Taverne – das Gasthaus hatte nur ein einziges Fenster, das gerade breit genug war, einer ausgehungerten Mücke Platz zu bieten, einem Lichtstrahl dann aber schon nicht mehr – war die ungesunde, kränkliche Tönung seiner Haut deutlich zu erkennen, das Zittern seiner fleischigen Finger und der trübe Glanz seiner Augen; obwohl letzterer durchaus an den ungefähr zehn Litern Bier liegen mochte, die er im Verlauf des Abends in sich hineingeschüttet hatte.
»Warum eigentlich was nicht?« fragte eine Stimme neben ihm.
Der Riese sah mit einer trägen Bewegung auf, blinzelte ein paarmal und fuhr sich schließlich mit dem Handrücken über die Augen, wie um die Gestalt des Wirtes deutlicher erkennen zu können. Der Mann, kaum weniger fettleibig als er selbst, aber einen guten Meter kleiner geraten, war beinahe unbemerkt an seinen Tisch getreten und funkelte ihn mit einer Mischung aus angeborener Feindseligkeit und Neugier an. Da der Gigant noch immer nach vorne gebeugt dasaß, befanden sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe, aber dieser Umstand schien dem Wirt entweder zu entgehen, oder er fühlte sich sehr sicher, hier auf seinem eigenen Boden. So oder so machte er jedenfalls keinen ernstgemeinten Versuch, seine wahren Gefühle dem Fremdling gegenüber zu verbergen: Er mochte ihn nicht. Sein bloßes Dasein stellte bereits eine Herausforderung dar. Allerdings war an dieser Feindseligkeit nichts irgendwie Persönliches – der Wirt hatte den betrunkenen Riesen niemals zuvor gesehen und kannte nicht einmal seinen Namen – wozu auch? –, aber hier, in der Hafengegend von Armar, mochte man eben Fremde nicht, basta. Wenn sie Geld hatten, ertrug man sie, bis sich eine Gelegenheit fand, es ihnen auf die eine oder andere Weise abzunehmen, aber das hieß nicht, daß man sie liebte. Der Fremde machte da keine Ausnahme. Der einzige Grund, weshalb bisher noch keiner der Gäste aufgestanden war, um ihm erst den Geldbeutel und dann den Kopf abzuschneiden (oder umgekehrt), war der, daß der Fremde so aussah, als könne er es gut und gerne mit dem Dutzend Zecher gemeinsam aufnehmen, das die Taverne bevölkerte.
»Eh?« nuschelte der Riese. »Waschmeinschu?« Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. Seine Zunge war schwer vom Bier – was kein Wunder war; der Wirt hatte schließlich genug Schlafkraut hineingetan, um einen Ochsen zu betäuben, und eigentlich war er auch bloß gekommen, um sich davon zu überzeugen, daß das Mittel auch seine Wirkung tat – was all seinen Erfahrungen zum Trotz bislang offenbar nur begrenzt der Fall war. Unschlüssig knetete er seine Hände, dann hob er einen Finger und begann seelenruhig damit in der Nase zu bohren.
»Den halben Abend sitzt Ihr jetzt hier und fragt: Warum eigentlich nicht?« antwortete er. »Was zum Teufel meint Ihr damit?«
Der Riese schwieg einen Moment, und für einen noch kürzeren Moment erschien auf seinem Gesicht ein Ausdruck, als wolle er wirklich antworten. Dann grinste er ein fröhliches Betrunkenengrinsen, stocherte mit dem Zeigefinger in die Richtung, in der er in dem Alkoholnebel vor seinen Augen das Gesicht des Wirtes vermuten mochte, und rülpste so lautstark, daß sich ihm ein halbes Dutzend Gesichter zuwandten.
»Warum bringschu mir nich scheinfach noch einen Bsch… Bsch… Bescherbier?« lallte er.
»Hast du denn Geld?« Der Wirt machte eine Kopfbewegung auf das gute Dutzend geleerter Tonbecher, die der Fremde vor sich aufgebaut hatte, in einem schon fast mathematisch präzisen, säuberlich abgezirkelten Halbkreis. Dabei nahm er sogar den Finger aus der Nase, aber nur, um damit mit gleicher Seelenruhe in seinen Zähnen herumzupulen, bevor er fortfuhr: »Bezahl erst einmal, was du schon getrunken hast, dann kannst du mehr haben!«
»Geld?« Anscheinend mußte der Riese erst einen Moment intensiv über die Bedeutung dieses Wortes nachdenken, aber dann hellte sich sein Gesicht schlagartig auf. Seine Hand glitt in die Tasche, suchte einen Moment klirrend darin herum und kam mit einer kleinen, silbernen Münze wieder zum Vorschein. »Geld«, lallte er triumphierend.
Der Wirt runzelte ärgerlich die Brauen, als er die Münze sah. »Das ist ein Silberheller aus Haydermark«, sagte er scharf. »Der reicht ja nicht einmal – «
Er sprach nicht weiter, denn in diesem Moment hob der Fremde die Münze zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe – und knickte sie ohne ersichtliche Anstrengung in der Mitte zusammen, wie andere ein Stück dünnes Silberblech verbiegen mochten.
»Waschisch mit meim Geld?« lallte er. »Ischesch dir nisch gut genug, oder…?«
Der Wirt wurde noch ein bißchen bleicher, als er beim Blick der zusammengedrückten Silbermünze ohnehin geworden war, und schluckte, sichtbar. »Nichts«, entgegnete er, während er die Münze – genauer gesagt, was davon übriggeblieben war – mit spitzen Fingern entgegennahm. »Es ist alles in Ordnung, Fremder, wirklich. Noch… noch ein Bier, sagst du?«
Der Riese nickte. »Aber ein richtiges, wenn ich… bitten darf. Kein scholsches Mindergesch… Schinderge… Kindergeschöff.«
»Vielleicht möchtest du auch etwas essen? Ist zwar schon spät, aber wenn du Hunger hast, mache ich dir gerne noch einen Happen.«
Irritiert starrte der Hüne ihn an und schien zu überlegen, aber dann fiel sein Blick auf den Zeigefinger, den der Wirt nun endlich aus dem Mund genommen hatte, und er schüttelte hastig den Kopf. »Nur’n Bier«, nuschelte er.
»Jawohl, Herr.« Der Schankwirt beeilte sich, die zusammengefaltete Münze in der Tasche verschwinden zu lassen, während er mit der anderen Hand bereits die leeren Becher einsammelte. Der Silberheller, den ihm der Fremde gegeben hatte, reichte nicht einmal aus, ein Zehntel dessen zu bezahlen, was er bisher getrunken hatte – aber der Wirt hatte das Klimpern von weiteren Münzen in der Tasche des Riesen gehört, und sein kundiges Ohr hatte ihm verraten, daß es sich um sehr viele Münzen handeln mußte. Warum also sollte er diesem Narren nicht ein weiteres Bier bringen – selbstverständlich eines, das mit einer weiteren Portion Schlafpulver versetzt war? Mit einem angedeuteten Achselzucken und einem ganz und gar nicht mehr angedeuteten, dafür um so boshafteren Grinsen wandte er sich um und schob seinen Schmerbauch durch das Gewühl der überfüllten Taverne auf die Theke zu. Mochten die Götter oder sonstwer wissen, welche Probleme dieser tumbe Riese hatte – am kommenden Morgen würde er vielleicht nicht sie, ganz bestimmt aber sein Geld los sein, und dafür mächtige Kopfschmerzen haben. Vielleicht sogar nicht einmal mehr einen Kopf, der schmerzen konnte.
Der Wirt hatte sich kaum entfernt, als eine zweite, sehr viel schmalere Gestalt an den Tisch trat, einen Moment stehenblieb und sich zwei-, dreimal hintereinander so unecht räusperte, daß selbst der betrunkene Riese mühsam den Kopf hob und den Mann aus trüb glänzenden Augen musterte.
Was er sah, das hätte ihm wahrscheinlich nicht einmal gefallen, wenn er nüchtern gewesen wäre: Vor ihm stand ein hochgewachsener, sehr schlanker Mann, dessen Gestalt allerdings mehr zu erraten als wirklich zu erkennen war, denn sie verbarg sich fast vollkommen unter den Falten eines erdbraunen, bis auf die Knöchel reichenden Mantels, der in einer tief in die Stirn gezogenen, spitzen Kapuze endete. Trotzdem war das Gesicht darunter deutlich auszumachen, und es war – sehr vorsichtig ausgedrückt – nicht unbedingt ein sympathisches Gesicht. Farbe und Schnitt erinnerten an das einer Ratte, ein Eindruck, der von dem kleinen, ein wenig zu spitz geratenen Mund, den stechenden schwarzen Augen und der zerschlagenen Nase noch unterstrichen wurde. Ein Streifen etwas hellerer Haut zog sich um den Hals des Fremden, als hätte jemand versucht, ihn aufzuhängen. Jemand, der offenbar wenig von seinem Handwerk verstand.
Der Riese musterte die Gestalt nachdenklich. Einen Moment war er unschlüssig, ob er schlicht in Gelächter ausbrechen oder die Faust in das Rattengesicht schlagen sollte; oder beides, aber wenn, dann in welcher Reihenfolge.
»Wasch… willschu?« murmelte er schwerfällig. Ein dünner Speichelfaden lief aus seinem Mundwinkel und zog eine glitzernde Spur über sein Kinn, aber er schien viel zu betrunken zu sein, um das auch nur zu bemerken. Lediglich in seinen Augen blitzte für einen Moment so etwas wie Interesse auf; aber nur für den Bruchteil eines Herzschlags; dann trat wieder der trübe Glanz in seinen Blick, den der Alkohol hervorrief.
»Ist der Platz an Eurem Tisch noch frei, Herr?« fragte der Mann mit dem Rattengesicht. Seine Stimme paßte zu seinem Aussehen: Sie war hoch und schrill und eine Spur zu pfeifend, um irgend etwas anderes als mißtönend sein zu können. Der Fremde wartete die Antwort nicht ab, sondern ließ sich mit einem flüchtigen Grinsen am Tisch nieder. Als er sich setzte, klaffte sein Mantel ein Stück auseinander, und man konnte erkennen, daß er gleich zwei Schwerter darunter trug: eine der langen, beidseitig geschliffenen Klingen, die für seine schmalen Hände viel zu wuchtig schien, wie sie aber hier in Armar üblich waren, und eine etwas kürzere, schmucklose Waffe. Beinahe hastig schloß er den Mantel wieder, beugte sich ein wenig vor und sah dem Riesen nachdenklich in die Augen, ehe er sich wieder umwandte und den Wirt herbeiwinkte.
»Heda, Halsabschneider!« schrie er. »Bring einen Krug deines besten Weines und zwei saubere Becher. Aber verpansch ihn nicht, oder ich schneide dir die Nase ab.«
Der Wirt schenkte ihm einen bösen Blick, beeilte sich aber, zwei verbeulte Trinkbecher aus Zinn und einen Krug aus dem gleichen, fleckig gewordenen Material herbeizuschaffen und beides auf dem Tisch zwischen den beiden ungleichen Männern abzuladen. Hastig wandte er sich um und wollte wieder gehen, führte die Bewegung aber nicht einmal halb zu Ende, denn der Mann mit dem Rattengesicht packte ihn grob am Handgelenk und zerrte ihn zurück. »Nicht so schnell, Freund«, sagte er kalt. »Du hast uns auch wirklich deinen besten Wein gebracht?«
In den dunklen Augen des Wirtes blitzte etwas auf, das sowohl Zorn als auch Schrecken sein konnte. Wahrscheinlich war es beides. »Warum fragst du?« gab er nervös zurück. »Du hast meinen besten Wein bestellt, und du hast ihn bekommen. Ich hoffe, du kannst ihn auch bezahlen«, fügte er trotzig hinzu.
»Das kann ich«, bestätigte der Fremde. Er lächelte noch ein wenig breiter – was sein Gesicht allerdings um keinen Deut freundlicher aussehen ließ –, goß mit der linken Hand einen großen Schluck Wein in einen der Becher und reichte ihn dem Wirt. »Ich hoffe, du kannst deinen eigenen Wein auch vertragen«, fügte er freundlich hinzu. »Trink.«
Der Wirt starrte ihn an, blinzelte verblüfft – und unterdrückte mit Mühe einen Schmerzensschrei, als der Fremde den Druck auf sein Handgelenk für einen Moment verstärkte. In den schmalen Händen schien sehr viel mehr Kraft zu liegen, als es den Anschein hatte.
»Was ist?« fragte der Mann mit dem Rattengesicht, noch immer im gleichen, durch und durch freundlichen Tonfall. »Schmeckt dir dein eigener Wein nicht, Bursche, oder ist am Ende gar etwas darin, was du lieber doch nicht trinken willst?«
Der Wirt schluckte ein paarmal, griff mit zitternden Fingern nach dem dargebotenen Becher und leerte ihn mit einem einzigen, wütenden Zug.
»Zufrieden?« schnappte er und riß seine Hand los.
Das Rattengesicht nickte, bedeutete ihm mit einer affektiert wirkenden Handbewegung, daß er sich entfernen könne, und füllte umständlich die beiden fleckigen Trinkgefäße mit einem Wein, dem man schon an der Farbe ansehen konnte, mit wieviel Wasser er verdünnt worden war.
»Hier«, wandte er sich seinem Gegenüber zu, während er ihm einen der Becher hinhielt. »Nimm, Freund. Das schmeckt besser als die Pferdepisse, die dieser Halsabschneider als Bier anbietet. Außerdem ist weniger Betäubungsmittel drin.«
Die Lider des Riesen, der bisher weiter darauf beharrt hatte, so zu tun, als sei er im Sitzen eingeschlafen, hoben sich nun doch, und ein Augenpaar, das nicht halb so verschleiert vom Alkohol war, wie der Wirt und alle anderen Gäste glauben sollten, musterte den Mann mit dem Rattengesicht. Aber noch zögerte er, nach dem dargebotenen Becher zu greifen.
»Wer bist du?« fragte er, mit einer Stimme, die plötzlich gar nicht mehr wie die eines Betrunkenen klang, allerdings sehr leise war.
»Ein Freund«, antwortete der andere. »Ein guter Freund sogar, Garth, die – «
Der Rest seiner Worte ging in einem halberstickten Keuchen unter, als der Riese nun doch den Arm hob – aber nicht, um nach dem Weinbecher zu greifen und zu trinken. Seine Hand schoß mit einer für einen Mann seiner Größe schon fast unglaublichen Schnelligkeit vor, packte den anderen an der Gurgel und drückte zu; so heftig, daß dessen Gesicht sich fast auf der Stelle rot zu färben begann.
»Wie hast du mich genannt?« fragte er, sehr leise, aber in einem Ton, der jedem, der es noch nicht wußte, die Bedeutung der Redensart gefährlich leise klarmachte.
»Mit… deinem Namen«, röchelte der andere. »Das ist doch… dein Name… du… du bist doch… Garth, die… die Hand…» Er brach mit einem neuerlichen, nun vollends erstickt klingenden Laut ab, als sich die Hand des Riesen noch ein wenig fester um seine Kehle schloß und ihn gleichzeitig ein gutes Stück in die Höhe hob, bis seine Zehen kaum mehr den Boden berührten. Zwei, drei Gäste von den umliegenden Tischen sahen nun doch auf, und auch der Wirt blickte stirnrunzelnd in ihre Richtung – aber niemand machte ernsthafte Anstalten, sich in den drohenden Streit einzumischen. So etwas war hier nicht üblich. Wenn sich Fremde stritten, reichte es völlig aus, abzuwarten, wer den Streit gewann, um danach den Verlierer auszuplündern. Den Sieger natürlich auch, bevor er sich von dem Kampf erholen konnte.
»Wer bist du?« fragte der Riese halblaut. »Und wer soll das sein, von dem du da sprichst – Garth, die Hand? Ich habe diesen Namen noch nie gehört.«
»Dann redest du offenbar selten mit Leuten, die dich kennen«, preßte der Mann mit dem Rattengesicht hervor. »Du – «
»Sprich nicht in Rätseln, Rattenmaul!« fauchte der Riese. »Wer bist du, und was willst du von mir?« Um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, verstärkte er den Druck seiner Pranke noch ein wenig, wodurch der andere nun vollends den Kontakt mit dem Stuhl verlor. Aus seinem Gesicht wich allmählich die dunkelrote Farbe, und es wurde bleich. Seine Augen quollen ein Stück weit aus den Höhlen. Als er sprach, waren seine Worte kaum zu verstehen.
»Bevor… bevor wir weiterreden…«, brachte er mühsam hervor, »… solltest du vielleicht einen… Blick unter den Tisch werfen.«
Garth zögerte einen Moment. Der Ausdruck von Mißtrauen in seinen Augen wurde noch intensiver, aber nach einigen weiteren Augenblicken beugte er sich doch zur Seite und tat, was das Rattengesicht ihm geraten hatte. Auch sein Gesicht verlor ein bißchen an Farbe, als er sah, worauf die Schwertspitze des anderen deutete.
»Ich gebe ja zu«, keuchte das Rattengesicht, »daß du mir wahrscheinlich das Genick brechen könntest, ohne daß ich es verhindern kann – aber dann verläßt du morgen die Bruderschaft der Diebe und trittst in die Schwesterpartei ein. Mein… Wort darauf!«
Garth wurde tatsächlich noch ein wenig bleicher. Trotzdem vergingen weitere drei, vier Herzschläge, ehe er sein rattengesichtiges Gegenüber endlich losließ. Der Mann sank röchelnd auf seinem Stuhl zusammen, rieb sich mit der linken Hand seine mißhandelte Kehle und starrte Garth mit einer Mischung aus Zorn und widerwilliger Bewunderung an. »Alles, was recht ist«, murmelte er, »der Mann, der dich mir beschrieben hat, hat keineswegs übertrieben. Eher im Gegenteil.«
»Was willst du?« fragte Garth, noch immer in diesem leisen, gefährlich ruhigen Ton. Aber zumindest hatte er es jetzt aufgegeben, den Betrunkenen zu spielen. Ganz im Gegenteil wirkte er wahrscheinlich sogar ein bißchen wacher, als es seinem Gegenüber recht zu sein schien.
»Mit dir reden«, antwortete das Rattengesicht. Er hustete, strich sich noch einmal mit der Hand über den Hals und griff nach seinem Becher. Seine Finger zitterten sichtlich.
»Ich soll dir Grüße ausrichten«, fuhr er fort, nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken hatte. »Von einem Freund.«
»Einem Freund?« Garths Augen wurden schmal. »Ich habe keine Freunde«, stellte er klar. »Zumindest nicht hier.«
Das Rattengesicht seufzte, schüttelte den Kopf und trank einen weiteren Schluck, ehe er entgegnete: »Komisch – genau das hat er vorausgesagt. Wortwörtlich.«
»Genau was hat wer vorausgesagt?« fragte Garth.
»Daß du das antworten wirst: Ich habe keine Freunde«, erwiderte der Fremde; »Und er hat mir aufgetragen, wenn du es tust, soll ich dich an eine gewisse Stadt in der Wüste erinnern. Und einen tausend Jahre währenden Traum – was immer das bedeuten mag.«
Garths Augen weiteten sich. »Du sprichst von – «
»Von einem Mann, dessen Namen man hier besser nicht ausspricht«, fiel ihm der andere ins Wort. »Es ist noch weniger ratsam, als den deinen zu nennen.«
Garth schüttelte verärgert den Kopf. Sein Gesicht verfinsterte sich. »Ich hätte wissen müssen, daß er nicht so schnell aufgibt. Aber es ist sinnlos, mein Entschluß steht fest. Gestern war ich ein paarmal nahe dran, zu ihm zurückzukehren, aber ich werde es nicht tun. Soll er zusehen, wie er mit seinen Problemen fertig wird, richt ihm das aus. Er braucht kein Kindermädchen, das auf ihn aufpaßt. Und ich auch nicht.«
Der Rattengesichtige lächelte sehr flüchtig, hob zum dritten Mal seinen Becher und tat so, als würde er trinken. In Wahrheit deutete er mit einer kaum sichtbaren Kopfbewegung auf den Wirt, der wie eine fette Qualle hinter seiner Theke stand und ihn und Garth voller unverhohlenem Haß anstarrte. »Dieser gierige Halsabschneider da ist scharf auf deine Geldkatze, Freund«, wechselte er das Thema. »Es war nicht besonders klug von dir, hierherzukommen. Hat man dir nicht gesagt, daß Fremde hier im Hafen nicht gerne gesehen sind – und schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit?«
»Doch«, antwortete Garth gelassen. »Aber ich weiß mich schon meiner Haut zu wehren, keine Sorge. Außerdem habe ich kaum eine andere Wahl, als den Hafen zu betreten, wenn ich ein Schiff nehmen will, oder?«
»Ein Schiff? Du willst weg?«
»So schnell wie möglich«, antwortete Garth mit einem grimmigen Nicken. »Und zwar weit weg.«
Rattengesicht leerte seinen Becher, stellte ihn auf den Tisch zurück und streckte die Hand nach dem Krug aus, als wollte er sich nachschenken. Aber dann führte er die Bewegung nicht zu Ende, sondern sah Garth die Hand nur sehr nachdenklich an.
»Dann bin ich ja wohl gerade noch rechtzeitig gekommen, scheint mir.«
»Rechtzeitig?« Garth legte den Kopf auf die Seite. »Wozu?«
»Dich zurückzuhalten«, entgegnete Rattengesicht ruhig.
»Zurückhalten?« Garth schnaubte. Er versuchte zu lachen, aber ganz gelang es ihm nicht. »Du?« vergewisserte er sich. »Du glaubst, du könntest es?«
Rattengesicht nickte mit großem Ernst. »Wenigstens so lange, bis du dir angehört hast, was Torian mir aufgetragen hat, dir zu sagen.« Er lächelte unglücklich. »Ich muß es tun, weißt du? Er hat geschworen, mich in Stücke zu schneiden, wenn ich es nicht tue, und nach allem, was man sich erzählt, ist Torian Carr Conn ein Mann, der sein Wort noch immer gehalten hat.«
»Dann sprich«, forderte Garth ihn finster auf. »Aber sprich schnell. Sehr viel Zeit bleibt mir nämlich nicht mehr. Das Schiff legt um Mitternacht ab, und ich muß eine Stunde vorher an Bord sein.«
Rattengesicht seufzte. »Ich fürchte, es wird ohne dich absegeln«, bedauerte er. Garth wollte auffahren, aber der andere machte eine rasche, besänftigende Handbewegung, füllte sich nun doch seinen Becher neu und beugte sich vor. »Ich bin nicht der einzige, der dich sucht«, eröffnete er ihm lächelnd. »Auf dem Weg hierher traf ich zum Beispiel eine Dutzendschaft der Stadtwache, die Haus für Haus durchkämmte. Und am Hafen wimmelt es geradezu von Blauröcken. Ich wette, nicht einmal eine Maus käme ungesehen an Bord irgendeines Schiffes, heute abend. Geschweige denn ein Mann wie du.«
Er trank einen Schluck, ließ den Wein mit sichtlichem Genuß auf der Zunge zergehen und grinste noch ein wenig breiter. »Was hast du getan? Den Nachttopf des Statthalters gestohlen?«
»Wenn es nur das wäre«, murmelte Garth bekümmert. »Eine Dutzendschaft der Garde, sagst du? Und auf dem Weg hierher?«
»Nicht direkt«, antwortete Rattengesicht. »Ich glaube nicht, daß sie wissen, wo sie dich zu suchen haben. Aber sie sind sehr gründlich und schnell. Wenn sie nicht aufgehalten werden, kann es nicht mehr lange dauern, bis sie hier sind.«
»Verdammt noch mal, warum sagst du das erst jetzt?« grollte Garth.
»Du hast mich nicht gefragt«, erwiderte Rattengesicht grinsend. Er leerte seinen Becher, lehnte sich zurück und strich fast versonnen mit dem Handrücken über seine Kehle. Garths Finger hatten deutliche rote Abdrücke auf seiner Haut hinterlassen. »Außerdem hattest du ja nichts Besseres zu tun, als über mich herzufallen, kaum daß ich Platz genommen hatte, nicht?«
Garth hob drohend die Hand, und Rattengesicht setzte sich mit einer fast schon zu schnellen Bewegung wieder gerade hin. »Aber du hast natürlich recht«, fuhr er hastig fort. »Wir sollten uns einen anderen Ort wählen, um in aller Ruhe reden zu können. Ich traue weder dem Wirt noch seinen Gästen – ganz abgesehen davon, daß es hier in längstens einer halben Stunde von Blauröcken wimmeln wird.« Er hob abwehrend die Hand, als Garth nach seinem Geldbeutel greifen wollte, klaubte selbst eine flache Goldmünze aus den Tiefen seines unergründlichen Mantels und schnippte sie zielsicher quer durch die Taverne in den Spucknapf, der vor der Theke stand.
»Spesen«, bemerkte er grinsend, als er Garths erstaunten Blick sah. »Dein Freund war großzügig, weißt du? Außerdem hat man mir gesagt, daß Garth die Hand seine Zeche nur bezahlt, wenn er das Geld anschließend doppelt und dreifach wieder zurückstehlen kann – und dazu wirst du hier kaum Gelegenheit finden.«
Garth zog es vor, nicht darauf zu antworten. Er hatte seine Steckbriefe gesehen, und nicht einmal seine eigene Mutter hätte ihn anhand der Beschreibung darauf erkannt. Sie paßte auf so ungefähr jeden zweiten Mann in Armar, aber dennoch war es besser, allen Scherereien von vorneherein aus dem Weg zu gehen. In der vergangenen Nacht hatte er zwar einen Reisenden aus Haydermark um sein Messer und seine wohlgefüllte Geldbörse erleichtern können, besaß aber immer noch keine Papiere. Ein Paß, dessen Angaben auf den einen Meter sechzig kleinen und spindeldürren Händler lauteten, nutzte ihm nicht gerade viel.
Sie standen auf. Wie durch Zufall bewegte sich Rattengesicht so, daß sein Mantel erneut auseinanderklaffte, und wie durch Zufall genau so, daß der Wirt die beiden Schwerter sehen konnte, die er darunter trug. Aus dem wütenden Protest, zu dem der Bursche angesetzt hatte, wurde ein halblautes Stöhnen, und Garth war plötzlich sehr sicher, daß Rattengesichts Bewegung ganz und gar kein Zufall gewesen war. Aber gleichwie – niemand machte auch nur den leisesten Versuch, sich ihnen in den Weg zu stellen, als sie zur Tür gingen. Garths ungeheure Größe und die beiden Schwerter des neu hinzugekommenen Fremden reichten wohl aus, selbst die Geldgier des Wirtes zu dämpfen.
Sie hatten jedoch noch nicht die halbe Strecke bis zum Ausgang zurückgelegt, als die Tür so unsanft aufgestoßen wurde, daß die Gespräche im Raum für einen Moment verstummten und sich aller Aufmerksamkeit dem Eingang zuwandte.
Hintereinander betraten ein halbes Dutzend Männer die verräucherte Schankstube, und so unterschiedlich sie in ihren äußeren Erscheinungen sein mochten, gab es doch niemanden in der Taverne, der sie nicht sofort als Angehörige der berüchtigten Stadtgarde erkannt hätte. Dafür sorgten schon die knöchellangen, hellblauen Mäntel, das einzig Uniformähnliche an ihrer Kleidung, und die armlangen, doppelseitig geschliffenen Schwerter, die sie schwangen. Je zwei von ihnen nahmen rechts und links des Einganges Aufstellung, der fünfte warf die Tür so lautstark wieder ins Schloß, wie sie zuvor aufgestoßen worden war, und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen dagegen, während der sechste – offensichtlich so etwas wie der Anführer des kleinen Trupps – die Theke ansteuerte, wobei er mit seinem Schwert in der Luft herumfuchtelte, als gelte es ein halbes Hundert unsichtbarer Gegner zu besiegen. Garth verdrehte die Augen, sagte aber keinen Ton, als er den warnenden Blick seines Begleiters bemerkte. Fast unmerklich nickte er. Es gehörte nicht besonders viel Phantasie dazu, auch von selbst darauf zu kommen, daß dies die Männer waren, von denen Rattengesicht gesprochen hatte.
Und weshalb sie gekommen waren.
Mittlerweile hatte der Anführer der Soldaten die Theke erreicht. Jetzt stocherte er mit seinem Schwert wie mit einem Zeigestock nach dem Wirt und machte gleichzeitig mit der anderen Hand eine befehlende Geste. »Bist du der Wirt hier?« fragte er.
Der Angesprochene nickte und kam mit kleinen, trippelnden Schritten naher, achtete aber sorgfältig darauf, außer Reichweite des Schwertes zu bleiben. Die Männer der Stadtgarde waren nicht unbedingt für ihre Sanftmut bekannt. »Das bin ich«, antwortete er kleinlaut. »Was… was kann ich für Euch tun, Herr? Ein… ein Bier für Euch und Eure Männer vielleicht? Oder einen Krug Wein? Wir haben auch – «
»Wir sind nicht zum Trinken hier«, unterbrach ihn der Blaurock ungeduldig. »Meine Männer und ich suchen jemanden. Einen Fremden. Einen Dieb, um genau zu sein.« Er räusperte sich, um seinen Worten das nötige Gewicht zu verleihen, drehte sich einmal im Kreis und blickte dabei mißtrauisch in jedes einzelne des guten Dutzends Gesichter, das die Taverne bevölkerte – auch in das von Garth, ohne daß in seinen Augen allerdings auch nur das mindeste Erkennen aufglomm. Ganz offensichtlich hatte er nicht die geringste Ahnung, wie der Mann aussah, den er finden sollte. Schließlich wandte er sich wieder an den Wirt. Das Rattengesicht hatte sich unauffällig abgewandt.
»Hast du einen Fremden gesehen, heute abend?« fragte er.
Einen Moment lang schien es nicht nur Garth so, als würde der Wirt den Kopf schütteln. Daß er keine Sekunde gezögert hätte, ihm und Rattengesicht die Kehlen durchzuschneiden, nur um an ihre Geldbeutel zu gelangen, bedeutete nichts – die Blauröcke waren alles andere als beliebt in der Stadt, und unbeschadet aller gegenteiligen Behauptungen gab es doch so etwas wie Gaunerehre, auch in Armar.
Aber dann hob er doch die Hand und deutete anklagend auf Garth, der drei Schritte vor der Tür stehengeblieben war. »Dieser da, Herr«, sagte er. »Den habe ich noch nie hier gesehen. Er scheint eine Menge Geld bei sich zu haben.«
Der Hauptmann wußte es nicht, und er erfuhr es auch nie – aber die Tatsache, daß er sich sehr ruhig umdrehte und keinerlei Anstalten machte, etwa seine Waffe zu heben, rettete ihm in diesem Augenblick das Leben. Drei, vier Sekunden lang verharrte sein Blick auf Garths Gesicht, und Garth konnte direkt sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Aber dann schien er zu dem Schluß zu kommen, daß es sich bei seinem Gegenüber wohl kaum um den Gesuchten handeln konnte. Garth, die Hand, war nicht nur in Armar mehr als ein bloßer Name; bei aller Bescheidenheit war Garth der wahrscheinlich bekannteste – und beste – Dieb und Beutelschneider im Umkreis von fünftausend Meilen, und diesen Mann mit einem mehr als zwei Meter großen und sicherlich zweihundertfünfzig Pfund schweren Koloß zu assoziieren, dessen Pranken eher dazu geeignet schienen, Türen aus Eichenholz einzuschlagen, statt die diffizile Arbeit eines Meisterdiebes zu erledigen, fiel wohl selbst dem mit Intelligenz nicht besonders reichlich gesegneten Gardisten schwer.
Er musterte kurz das Rattengesicht, das die Kapuze noch tiefer ins Gesicht gezogen hatte, zögerte einen Moment und wandte sich dann wieder Garth zu.
»Und was ist mit dir?« schnappte er, ohne einen Moment aufzuhören, mit seinem Zahnstocher in der Luft herumzufuchteln.
Garth grinste den Gardisten blöde an und wirkte wieder ganz wie der betrunkene, harmlose Trottel, den er schon den ganzen Abend hindurch spielte. »Wasch willschu denn?« nuschelte er.
Das Gesicht des Kommandanten lief rot an. »Deine Papiere will ich sehen, aber ein bißchen schnell, verdammt noch mal!« brüllte er.
Garth legte den Zeigefinger an die Nase und tat so, als müsse er angestrengt nachdenken. Dann nickte er schwerfällig, griff in seine Tasche und trat einen Schritt vor, wobei er wie ein Blatt im Wind schaukelte und über seine eigenen Füße stolperte. Einige der Zecher an den umliegenden Tischen gingen sicherheitshalber in Deckung, als er auf sie zutaumelte und dabei bis auf zwei Schritte an die Gardisten herankam. Er richtete sich wieder auf, zog die Hand aus der Tasche, und ein silberner Blitz raste auf einen der Soldaten zu. Das Wurfmesser durchbohrte seine Schulter und nagelte ihn regelrecht an die Wand.
Einen Herzschlag später, noch bevor irgend jemand begriffen hatte, was geschehen war, erreichte Garth die anderen und stieß zwei mit den Köpfen zusammen, daß sie bewußtlos zu Boden sanken. Mit einer unglaublich schnellen Bewegung fuhr er herum, schlug die Waffenhand des Kommandanten beiseite, packte ihn am Kragen und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen einen weiteren Soldaten.
Erst jetzt erwachten die anderen aus ihrer Erstarrung. Der erste, der sich auf Garth stürzen wollte, stolperte statt dessen über den Fuß des Rattengesichtigen, der ihm plötzlich ein Bein gestellt hatte. Gleichzeitig fuhr der Unbekannte herum.
»Raus hier!« brüllte er und riß die Tür auf.
Garth folgte ihm, so schnell er konnte. Er ließ sich nicht davon täuschen, wie leicht sie die Gardisten überwältigt hatten. Die Männer waren völlig überrascht worden, aber sobald sie sich von ihrem Schrecken erholt hätten, würden sie unter Beweis stellen, daß die Stadtgarde nicht zu Unrecht berüchtigt war. Zudem würde der Lärm eines Kampfes rasch Verstärkung anlocken, und sobald die Soldaten die Umgebung erst einmal abgeriegelt hatten, würde auch eine Flucht unmöglich werden.
Die beiden Männer rannten, ohne auch nur einmal zurückzublicken, und blieben erst stehen, als sie das Viertel verlassen und fast eine halbe Meile Weg zwischen sich und die Schenke gebracht hatten.
»Danke«, knurrte Garth, als er wieder zu Atem gekommen war, und ihm war anzumerken, wie schwer es ihm fiel, das Wort auszusprechen. »Aber wenn du denkst, daß ich meinen Entschluß deshalb ändere, hast du dich getäuscht«, fügte er rasch hinzu. »Sag Torian, daß er alles noch eine Nacht überschlafen soll, dann wird er einsehen, daß ich nicht anders handeln kann. So, und jetzt gehe ich zu meinem Schiff, und ich kann nur jeden bedauern, der mich davon abzuhalten versucht.«
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und stapfte davon. Erst als er hastige Schritte hinter sich hörte, blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. »Verdammt, was willst du denn noch?« fauchte er.
»Na, was schon?« antwortete das Rattengesicht mit dem harmlosesten Lächeln der Welt. »Dich begleiten natürlich. Es gibt hier ziemlich viel zwielichtiges Gesindel, weißt du? Übrigens, ich heiße Bard.«
Als er erwachte, war zuerst nichts als Dunkelheit um ihn herum; eine Schwärze, die nichts Beruhigendes hatte, sondern wie ein erstickender Mantel um seinen Körper und seine Erinnerungen lag. Es dauerte nicht lange, nur einen kurzen, schrecklichen Moment, aber diese wenigen Sekunden schienen sich zu Ewigkeiten der Qual zu dehnen, in denen er nicht einmal wußte, wer er war. Dann lichteten sich die schwarzen Nebel um seinen Geist, und mit dem Schmerz, der in ihm erwachte und seinen Körper wie ein feuriges Geflecht durchzog, kehrte auch ein Teil seiner Erinnerung zurück, so daß er wenigstens wieder wußte, wer er war. Nicht hingegen, wo.
Es war nicht völlig dunkel; durch ein schmales, vergittertes Fenster unter der Decke drang ein wenig Licht herein und ließ ihn erkennen, daß er auf dem Boden eines nicht besonders großen Raumes lag, der an einen Schweinestall erinnerte und auch so roch. Kälte hing wie unsichtbare Spinnweben in der Luft, und von den Wänden hallten die leisen, huschenden Echos von Rattenfüßen wider. Der Raum war von Schatten erfüllt, die seine Blicke nicht zu durchdringen vermochten. Seltsam, dachte er schaudernd. Es war, als… als verberge sich hinter den dunklen Schatten etwas, das die Helligkeit gierig verschlang.
Torian blinzelte und strich sich verwirrt mit der Hand übers Gesicht, dann richtete er sich vorsichtig auf. Und im gleichen Moment fiel ihm alles wieder ein.
Die Straßenräuber, seine Flucht mit Shyleen, das unbekannte Etwas mit seinem großen Appetit auf Häuser und als letzte Wahrnehmung vor seiner Ohnmacht die Stiefel der Soldaten.
Jetzt war ihm auch klar, wo er sich befand. Die Gardisten waren sicherlich nicht so freundlich gewesen, einen völlig Fremden, den sie ohne Papiere antrafen und auf den die Beschreibung des meistgesuchten Mörders dieses Kontinents zutraf, in eine Nobelherberge zu bringen und womöglich noch die Unterkunft für ihn zu bezahlen. Immerhin aber hatte man seine Wunden versorgt und ihn so lange schlafen lassen, daß er sich wieder halbwegs wohl fühlte. Er mußte den Rest der Nacht und fast einen ganzen Tag ohne Bewußtsein gewesen sein.
Torian schüttelte die Benommenheit ab und stand vollends auf. Ein stechender Schmerz fuhr unter der Belastung durch seinen linken Fuß. Das Gelenk war geschwollen, wahrscheinlich verstaucht, aber die Schwellung ging bereits zurück, und auch der Schmerz sank bald auf ein erträgliches Maß. Dennoch würde der Fuß ihn noch tage-, wenn nicht gar wochenlang behindern.
Die nächsten Minuten verbrachte er damit, die Kerkerzelle gründlich zu untersuchen. Das Fenster war zu hoch, um einen Blick hinauswerfen zu können, die einzige Tür bestand aus massiven Holzbohlen und war von außen verriegelt, und an den Wänden klebte anstelle von Verputz der eingetrocknete Dreck von Jahrzehnten. Das war alles, was er herausfand, und so hämmerte er mit den Fäusten gegen die Tür.
Es dauerte mehrere Minuten, bis sie geöffnet wurde. Zwei Männer in Uniform betraten die Zelle, während drei weitere vor der Zelle stehenblieben und ihn dümmlich angrinsten. Sie waren ziemlich jung, noch halbe Kinder, und möglicherweise wäre es Torian gelungen, sie zu überwältigen, da er sich inzwischen wieder stark genug fühlte, Bäume auszureißen. Zumindest ganz kleine.
Dennoch beschloß er, erst einmal abzuwarten, was man mit ihm vorhatte, wobei seine Entscheidung möglicherweise dadurch beeinflußt wurde, daß die Posten vor der Tür plötzlich Schwerter in den Händen hielten und Verstärkung durch noch zwei weitere Soldaten erhielten.
»Was soll das alles?« blaffte Torian. »Weshalb hat man mich eingesperrt? Ich will sofort den Kommandanten sprechen.«
Ohne eine Antwort packten ihn zwei Soldaten an den Armen und schleiften ihn mit sich. Torian schrie auf, als sein Fuß gegen die Tür stieß, aber wieder entschied er sich, keinen Widerstand zu leisten. Es war besser, sich erst einmal schwächer zu stellen, als er tatsächlich war. Ohne Gegenwehr, aber lautstark fluchend, ließ er sich über einen langen, nur von Fackeln erhellten Gang führen, von dem zahlreiche andere Zellentüren ausgingen. Sie stiegen eine Treppe hinauf, und dann versetzte einer seiner Bewacher ihm einen derben Stoß in den Rücken, der ihn in ein großes, sehr amtlich aussehendes Zimmer hineintaumeln ließ. Ein Mann mit dunklem Haar und einem unsympathischen, rattenähnlichen Gesicht saß hinter dem Schreibtisch und musterte ihn kalt.
Die Männer, die Torian hergebracht hatten, folgten ihm nicht, sondern schlossen die Tür von außen, doch drei andere Soldaten hielten sich in dem Raum auf. Es gab zwei große Fenster, und Torian wog seine Chancen ab, sie zu erreichen und sich durch eines der beiden zu retten. Es könnte gelingen, wenn er schnell genug war, aber er war sich nicht sicher, ob sein verletzter Fuß mitspielen würde.
»Ich würde das an deiner Stelle nicht tun«, warnte der Mann hinter dem Schreibtisch, dem der Blick offenbar nicht entgangen war. Torian spürte, daß er ihn nicht unterschätzen durfte. Der Mann schien trotz seiner entspannten Haltung Gefahr wie ein unsichtbares Gift auszuströmen, und er mußte ein sehr aufmerksamer Beobachter sein. »Vielleicht kämest du bis zum Fenster, aber ein Sprung aus zehn Meter Höhe dürfte dir schlecht bekommen«, fuhr er fort und deutete auf den leeren Stuhl vor dem Schreibtisch. »Setz dich lieber.«
Torian kam der Aufforderung nach. »Ich möchte wissen, weshalb man mich eingesperrt hat«, verlangte er scharf. »Ist das die tremonische Gastfreundschaft? Erst werde ich auf der Straße überfallen und ausgeraubt, dann sperrt man mich anstelle dieser Räuber ein. Ich bin ein Söldner aus Lacom und gekommen, um – «
»Um dich bei der tremonischen Armee anheuern zu lassen?« unterbrach der Kommandant. Es klang belustigt, aber er wurde sofort wieder ernst. »Lassen wir die Spielchen, Torian Carr Conn. Ich bin Bard, Kommandant der Stadtgarde, und ich habe keine Lust, sinnlos über deine Identität zu streiten. Du kannst deinen scroothischen Akzent ohnehin nicht verbergen. Aber wie du weißt, führen wir Krieg gegen Scrooth, und es kann uns egal sein, welche Verbrechen man dir dort vorwirft. Die Anklage gegen dich wurde in Tremon längst fallengelassen. Du hast also keinen Grund, dich als jemand anderes auszugeben. Ich will von dir wissen, was geschah, bevor meine Männer dich fanden. Das ganze Viertel sah aus wie ein Schlachtfeld. Hast du irgend etwas damit zu schaffen?«
Unbehaglich rutschte Torian auf seinem Stuhl hin und her. Er hatte längst vermutet, daß seine angeblichen Morde seit dem Ausbruch des Krieges in Tremon bedeutungslos geworden waren. Zumindest würde man ihn nicht ausliefern. Aber nur weil er in Scrooth gesucht wurde, bedeutete das noch lange nicht, daß man ihm hier besonders freundschaftlich gesonnen war. Und dieser Bard schien nicht nur mit einer guten Beobachtungsgabe, sondern zusätzlich auch noch mit einer gehörigen Portion Intelligenz gesegnet zu sein.
»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht«, murmelte Torian, um Zeit zu gewinnen. »Die Baracken in den Elendsvierteln befinden sich alle in nicht besonders gutem Zustand.«
»Das stimmt«, bestätigte Bard. »Aber es ist schon seltsam, wenn ein ganzer Häuserblock binnen weniger Stunden in Schutt und Asche sinkt, ohne daß es eine Ursache dafür zu geben scheint. Und noch sonderbarer ist, daß es kaum Trümmer gibt, findest du nicht auch?«
Torians Nervosität stieg. Auch die scheinbare Gelassenheit des Kommandanten konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß dies alles andere als ein gemütliches Plauderstündchen war. Bard erwartete Antworten, und er schien entschlossen, sie unter allen Umständen zu bekommen; wenn nicht auf diese Art, dann auf eine andere, die Torian nicht unbedingt kennenlernen wollte. Trotzdem beschloß er, seinen Handlungsspielraum auszuloten.
»Ihr habt gesagt, daß mir hier keine Verbrechen vorgeworfen werden«, erinnerte er ihn. »Also bin ich ein freier Mann und nicht gezwungen, mich von Euch verhören zu lassen. Ich verlange, daß man mich unverzüglich freiläßt.«
Bard seufzte. »Das ist so nicht ganz richtig«, korrigierte er. »Deine in Scrooth begangenen Verbrechen sind hier bedeutungslos, das stimmt. Aber wir sind recht phantasievoll, wenn es darum geht, Anklagen zu erfinden. Das Todesurteil für einen scroothischen Spion deines Namens wurde bereits unterzeichnet.« Er machte eine herrische Handbewegung, als er sah, daß Torian aufbrausen wollte. »Du brauchst mir nicht zu beteuern, daß du kein Spion bist; das weiß ich auch. Aber hier geht es nicht um Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist nur eine Frage der Macht. In den letzten Tagen hat es einige Aufregungen in Armar gegeben, und meine Aufgabe ist es, die Ruhe wiederherzustellen. Eine öffentliche Hinrichtung zur Unterhaltung des Volkes käme da gerade recht«, fügte er nachdenklich hinzu.
Er machte eine kurze Pause und tat so, als würde er überlegen. »Noch besser wäre es vielleicht, dich wieder freizulassen und einige Schauermärchen über dich zu verbreiten, damit der Mob deinen Kopf fordert und dich wie einen räudigen Köter jagt«, sprach er weiter. »Man muß der Meute etwas hinwerfen, damit sie nicht auf falsche Gedanken kommt. Das sind nur einige Möglichkeiten, um einen freien Mann wie dich loszuwerden. Es liegt allein an mir, die Vollstreckung des Urteils auszusetzen, also solltest du meine Fragen lieber beantworten. Noch einmal: Was ist in der vergangenen Nacht passiert?«
Torian sank ein Stück in sich zusammen. Er hatte gewußt, daß man ihn nicht so einfach freilassen würde, aber nicht erwartet, daß Bard so weit gehen würde, ihm unverhüllt mit Mord zu drohen. Doch der Krieg hatte auch in den weit von den Schlachtfeldern entfernt liegenden Städten einen Wandel der Einstellungen bewirkt. In Zeiten wie diesen war die Möglichkeit eines gewaltsamen Todes zu einem täglichen Bestandteil des Lebens geworden.
»Ihr sprecht nicht sehr achtungsvoll von Eurem Volk«, bemerkte er statt einer Antwort auf Bards Frage. Als er sah, wie sich das Gesicht des Kommandanten verfinsterte, fügte er hastig hinzu: »Aber ich weiß wirklich nicht, was geschehen ist. Zumindest nicht genau.«
»Zu schade.« Bards Gesicht wirkte wie aus Stein gehauen. »Einen Verletzten wieder zusammenzuflicken, nur um ihn anschließend aufzuhängen, ist eigentlich Verschwendung. Es sind schon viele Unschuldige gestorben, nur weil sie zuviel wußten. Nichts zu wissen, kann ebenso tödlich sein. Aber du solltest mir wenigstens das wenige erzählen, bevor meine Geduld endgültig erschöpft ist.«
»Es… es war Zauberei«, erklärte Torian hastig. »Es muß irgend etwas mit den Schwarzen Magiern zu tun haben. Die Häuser verschwanden einfach, mehr… kann ich nicht sagen. Ihr solltet Eure verbündeten Magier hier in Armar konsultieren.«
Der letzte Satz war eine versteckte Frage, wie gut Bard über die Geschehnisse der letzten Tage informiert war. Es gab keine Magier mehr in der Stadt. Ihr Zirkel war in den unterirdischen Katakomben vernichtet worden, doch der Rattengesichtige ging nicht darauf ein, sondern knetete nur seine Unterlippen zwischen den Fingern. »Beschreibe, wie es vor sich ging«, verlangte er.
Torian kam der Aufforderung nach und berichtete, wie die Gebäude von unsichtbaren Gewalten zerschmettert und verschlungen worden waren. Es gab keinen Grund, dies vor dem Kommandanten geheimzuhalten. Auch ihm bereitete das unheimliche Phänomen Angst.
Bard hörte ihm zu, ohne ihn einmal zu unterbrechen. Auch als Torian geendet hatte, schwieg er noch. »Das gleiche hat deine Begleiterin auch berichtet«, eröffnete er ihm nach einigen Sekunden. »Es scheint zu stimmen, aber das ist jetzt nicht so wichtig.«
»Shyleen?« keuchte Torian und sprang auf, ohne sich um die Soldaten in seinem Rücken zu kümmern, die drohend einen Schritt vortraten. »Ihr habt sie auch –
»Natürlich haben wir sie ebenfalls festgenommen. Eine entflohene Tempelpriesterin Ch’tuons, die von den Magiern immer noch gesucht wird. Sie werden sich freuen, wenn wir sie ihnen übergeben. Fehlt nur noch der Dritte in eurem Bunde. Wo ist Garth, die Hand?«
»Ich kenne niemanden, der so heißt«, log Torian. Die Worte des Kommandanten mußten ein Bluff sein. Er konnte unmöglich von seiner Freundschaft mit Garth wissen, allenfalls etwas vermuten. Shyleen würde nichts verraten haben, dessen war er sich sicher.
»Nein, nicht schon wieder solche Spielchen«, seufzte Bard. »Du verkennst erneut deine Situation. Ich weiß alles über euch, von den Ereignissen in Rador über den Tod von Ch’tuons Götzen im Tempel des Toten Gottes bis hin zur Vernichtung und eurer Flucht aus den Katakomben. Du kannst mir also nichts vormachen. Ich will Garth, und ich werde ihn bekommen, hörst du!«
Torian atmete tief ein. Es klang wie ein unterdrückter Schrei. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. »Woher – «
Der Rattengesichtige lächelte grimmig. »Ich habe eben auch meine kleinen Geheimnisse. Aber ich kann dich beruhigen, deine kleine Tempelhure hat nichts verraten. Abgesehen von ihrer Aussage die zerstörten Häuser betreffend ist sie stumm wie ein Fisch, und selbst die Folter würde wohl nichts helfen.« Sein Lächeln vertiefte sich noch und war jetzt nicht viel mehr als eine Grimasse aus Hohn und Spott. »Außerdem sind wir ja keine Unmenschen.«
Torian schwieg, obwohl er gerade zu letzterem eine etwas andere Meinung vertrat.
»Wie kommt Ihr darauf, daß ich Euch mehr verraten würde?« fragte er nach einer Weile, in der sie sich nur stumm gegenseitig gemustert hatten. Das Rattengesicht wurde ihm von Minute zu Minute unsympathischer. »Und warum fragt Ihr überhaupt, wenn Ihr doch anscheinend schon alles wißt?« Es gelang ihm nicht, seiner Stimme den beabsichtigten Sarkasmus zu verleihen.
»Ich weiß vieles, aber eben leider nicht alles«, erwiderte Bard. »Zum Beispiel habe ich wirklich keine Ahnung, wo sich Garth zur Zeit befindet. Aber ich werde es notfalls auch ohne deine Hilfe herausfinden; anders ging es höchstens etwas schneller. Also?«
Torian schüttelte den Kopf.
»Ihr werdet Euch wohl auf den Notfall einrichten müssen. Selbst wenn ich wüßte, wo sich Garth aufhält, würde ich es Euch sicherlich nicht sagen. Aber ich weiß es nicht. Wir haben uns getrennt.«
Der Kommandant starrte ihn mit seinen dunklen Augen einige Sekunden lang durchdringend an.
»Vielleicht ist es ein Fehler, aber ich glaube dir.« Er trommelte mit den Fingern auf die Platte des Schreibtisches. »Im übrigen liegt es mir fern, einen von euch hinzurichten. Im Gegenteil, ich fürchte, daß ich eure Hilfe brauche, um das auszubügeln, was ihr ungewollt angerichtet habt. Diese seltsamen Zerstörungen wurden ausgelöst durch den Untergang der Katakomben.«
»Was… was hat es damit auf sich?« fragte Torian. Seine Verwirrung stieg mit jeder Sekunde. »Was bedeutet das Verschwinden der Häuser?«
»Den Weltuntergang«, antwortete eine Gestalt hinter ihm, die unbemerkt die Tür geöffnet hatte und ins Zimmer getreten war. Torian fuhr herum und sank mit einem ächzenden Keuchen auf den Stuhl zurück.
Die Gestalt hinter ihm war ein Mann in einer dunklen Kutte, dessen Gesicht weitgehend im Schatten einer tief in die Stirn gezogenen Kapuze lag. Das Alter hatte tiefe Furchen in seine Haut gegraben, und sie wies einen bläßlichen, ungesunden Farbton auf, so daß sie an vergilbtes, brüchig gewordenes Pergament erinnerte. Sein Mund war nicht mehr als ein schmaler, blutleerer Strich, und die Augen schienen von einem düsteren Feuer erfüllt zu sein. Doch ihnen schenkte Torian nur flüchtige Aufmerksamkeit. Sein Blick hing wie gebannt an den Kleidern des Mannes, der so jäh hinter ihm aufgetaucht war; ganz genau gesagt, an seinem Mantel.
Der Unbekannte trug die Kutte eines Schwarzen Magiers.
Irgendwann gab es Garth auf, den Rattengesichtigen abschütteln zu wollen. Bard klebte an ihm wie ein Blutegel. Die einzige Möglichkeit, ihn loszuwerden, wäre Gewalt gewesen – ein Unterfangen mit sehr Ungewissem Ausgang, zumal Bard immer noch seine Schwerter besaß, während Garth unbewaffnet war. Außerdem war er ihm trotz allem zum Dank verpflichtet, denn letztlich hatte er ihm geholfen. Also beschloß er, das Rattenmaul schlichtweg zu ignorieren, was ihm um so leichter fiel, da Bard entgegen seiner Ankündigung keinen weiteren Versuch mehr unternahm, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Er war einfach da, schweigend, ein schwarzer Schatten, der zwei Schritte hinter ihm ging und sich die größte Mühe gab, unbefangen zu wirken, und grinste, wenn Garth ihm von Zeit zu Zeit einen finsteren Blick über die Schulter zuwarf.
»Die Stadtgarde wird inzwischen das ganze Hafengebiet abgesperrt haben«, bemerkte er nach einer Weile, nicht besonders laut und ohne sonderliche Betonung, fast wie nebenbei.
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, schnauzte Garth ihn grob an. »Du mußt mich nicht begleiten, weißt du?«
»Die Soldaten werden jedes Schiff durchsuchen, das heute nacht ausläuft«, fuhr der Rattengesichtige unbeirrt fort. »Und kein Kapitän wird es zu verschweigen wagen, daß ein Fremder ohne Papiere eine Passage bei ihm gebucht hat.«
»Dieser schon.« Garth grinste. »Laß das nur meine Sorge sein. Wenn du unbedingt die Amme spielen willst, dann kümmere dich lieber um Torian. Armar ist ein heißes Pflaster, und er kennt sich hier nicht aus. Er kann Schutz dringender brauchen – auch wenn er neuerdings nicht mehr sehr wählerisch in der Auswahl seiner Freunde zu sein scheint.«
»Aber, aber, keine Beleidigungen«, erwiderte Bard mit gespieltem Tadel in der Stimme. »Im übrigen ist Torian schon längst nicht mehr in der Stadt. Er wartet an einem sicheren Ort außerhalb auf dich.«
»Dann mach ihm klar, daß es keinen Sinn hat, seine Zeit noch länger damit zu vergeuden. Mach, was du willst, aber geh mir endlich aus den Augen, Rattenvisage.«
»Du bist nicht sehr nett zu mir, weißt du das?« hielt ihm Bard entgegen. Es klang eindeutig amüsiert.
Garth erwiderte nichts mehr, und schweigend gingen sie weiter. Garth war in Wahrheit nicht halb so selbstsicher, wie er sich gab. Es gehörte nicht viel Kombinationsgabe dazu, zu erraten, was er vorhatte. Wahrscheinlich wimmelte der Hafen bereits von Soldaten. Kapitän Harlon war zwar vollkommen verrückt, aber auch der berüchtigtste Pirat der Umgebung. Er würde sich von der Stadtgarde nicht einschüchtern lassen, und im Falle einer Auseinandersetzung war ihm zuzutrauen, daß er die Architektur des Hafens mit den Katapulten seiner NOVATAN ein wenig veränderte. Mit Gewalt oder Drohungen würde niemand Harlon ein Wort entlocken können. Andererseits wäre der Freibeuter aber für eine Handvoll Münzen auch bereit, seine eigene Mutter zu verkaufen.
Dennoch war es nicht einmal dieses Wissen, das Garth Sorge bereitete. Er fragte sich, was Bard wirklich wollte. Er wußte vieles, was eigentlich nur Torian und Shyleen wissen konnten, aber für Garth war es trotzdem nicht vorstellbar, daß sich die beiden mit dem Rattengesicht angefreundet hatten. Außerdem – es mußte ihm einfach klarsein, daß Garth dem Rattenmaul eher die Tracht Prügel seines Lebens verpassen würde, ehe er seinetwegen seine Pläne änderte. Nein – irgend etwas stimmte hier nicht. Garth wußte nur noch nicht genau, was. Außerdem fiel ihm das Denken ungewohnt schwer. Vielleicht hatte er doch mehr Alkohol und Schlafkraut in sich hineingeschüttet, als gut gewesen wäre.
Mißmutig stapfte er weiter. Die Straße war menschenleer. Dennoch fühlte er sich beobachtet. In Armar hatten selbst die Wände Augen und Ohren, aber von Soldaten war nichts zu sehen. Nur einmal entdeckte er eine Patrouille, die jedoch mehr als hundert Schritte entfernt die Straße überquerte, so daß er sich rechtzeitig in einen Hauseingang ducken konnte.
Die scheinbare Ruhe gefiel ihm nicht. Es war fast zu ruhig, für seinen Geschmack. Armar machte den Eindruck einer ausgestorbenen Geisterstadt. Angst hing fast greifbar in der Luft.
Und noch etwas fiel Garth auf. Der Statthalter schien beschlossen zu haben, den größten Teil der Stadt einzureißen. Viele der Häuser, die ihren Weg säumten, waren in sich zusammengestürzt, und selbst die Trümmer waren zum größten Teil bereits weggeschafft worden. Einen Moment überlegte der Dieb, ob es eine Folge des unterirdischen Bebens sein könnte, aber er verwarf den Gedanken gleich darauf wieder. Eine Felsdecke von fast einer Meile Stärke lag zwischen den Katakomben und der Stadt. Sie hatte alle Erschütterungen abgefangen. Die Verwüstungen, die ein Erdbeben anrichtete, waren anderer Natur als die, welche er hier sah.
Außerdem – er hatte andere Sorgen, als sich Gedanken über eingerissene Häuser in einer Stadt zu machen, die er in längstens einer Stunde für immer verlassen würde.
Sie waren dem Hafen inzwischen ziemlich nahe gekommen, und er konnte bereits den salzigen Geruch des Meeres wahrnehmen, ohne daß er auch nur einmal den Umhang eines Soldaten zu Gesicht bekommen hatte. Das Gefühl, geradewegs in eine Falle zu laufen, verdichtete sich immer mehr. Auch Bard wirkte nervös. Er schaute sich ein paarmal zu oft um, und er hielt die eine Hand ein wenig zu nahe in der Nähe des Schwertgriffes, als daß es Zufall sein konnte.
Garth blieb stehen und entschloß sich, sein trotziges Schweigen zu brechen. »Irgendwer hat mir vor ein paar Minuten erzählt, im Hafen wimmele es nur so von Blauröcken«, knurrte er und ließ seinen Blick über die Kaianlagen schweifen. Mehrere Schiffe lagen hier vor Anker, einige hundert Schritte entfernt auch das größte von allen, die NOVATAN. Gedämpftes Lachen und Fetzen von Seemannsliedern und rauhen Scherzen drangen an sein Ohr. Mit leisem Klatschen schlug das Wasser gegen die Mauern. Alles machte einen so normalen Eindruck, daß es schon wieder nicht mehr normal wirkte. Ganz und gar nicht. Aber vielleicht war er auch nur übernervös.
»Das verstehe ich auch nicht«, entgegnete Bard. »Du solltest nicht weitergehen. Das riecht alles ganz verdammt nach einer Falle, wenn du meinen Rat hören willst.«
Garth verkniff sich die Bemerkung, daß er dies ganz und gar nicht vorhatte. Er ging ein Stück weiter, so daß er die NOVATAN besser sehen konnte, blieb dann im Schatten einer Hauswand stehen und starrte weiterhin auf die Pier hinaus, an welcher der Kapersegler vertäut war. An Deck des Schiffes brannten einige Kohlefeuer, vor denen sich schemenhaft die Silhouetten von Matrosen abhoben. Nirgendwo war auch nur der Zipfel einer Uniform zu sehen.
»Irgend etwas stimmt hier nicht«, wiederholte Garth. Er seufzte, drehte sich halb zu Bard herum und sah ihn fragend an. »Kannst du schwimmen?«
»Schwimmen?« Bard schüttelte überrascht den Kopf. »Nein.«
»Gut«, sagte Garth. Dann fuhr er vollends herum, packte Bard am Kragen und hob ihn mit einer Hand mühelos ein Stück weit in die Höhe. Ebenso mühelos schlug er mit dem anderen Arm die Hand des Rattengesichtes zur Seite, als dieser nach seinem Schwert zu greifen versuchte. »Ich werde das dumpfe Gefühl nicht los, daß du etwas damit zu tun hast«, erklärte er, beinahe im Plauderton. »Ich würde dir raten, mir jetzt ganz schnell ein paar Fragen zu beantworten. Es sei denn, du möchtest ein Bad nehmen…« Er grinste, hob Bard ohne sichtliche Anstrengung noch ein Stück höher und schwenkte ihn gleichzeitig herum, bis seine strampelnden Beine über der Kaimauer hingen.
»Du bist verrückt«, keuchte Bard. »Laß mich runter. Hast du schon vergessen, daß ich dir das Leben gerettet habe?«
»Nein, das habe ich keineswegs, auch wenn ich es am liebsten täte«, knurrte Garth, ohne seinen Griff auch nur für eine Sekunde zu lockern. »Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto sonderbarer kommt es mir vor. Ich bin vielleicht dumm, weißt du, aber nicht ganz so blöd, wie du aussiehst. Solch eine Schlafmütze kann der Kommandant der Stadtgarde doch gar nicht sein, daß er solche Trottel ausschickt, um Garth, die Hand, zu fangen.«
»Das ist er auch nicht«, würgte Bard hervor. »Aber er ist tot, wenn du ihn nicht sofort losläßt, und ich verspreche dir, daß du ihn nur um ein paar Sekunden überleben wirst.«
»Du – «
Garth war so verblüfft, daß er den Rattengesichtigen tatsächlich freigab. Bard kreischte, warf sich noch in der Luft herum und prallte eine Handbreit vor dem Kai auf den Boden. Garth richtete die Spitze des Schwertes auf seine Kehle. »Was soll das heißen?« fragte er.
»Ich bin nicht nur Bard, sondern Kommandant Bard«, schnappte das Rattenmaul. Die Waffe, die auf seine Kehle gerichtet war, schien ihn eher wütend zu machen, als daß sie ihn in Schrecken versetzte. »Es hat wohl keinen Sinn, dir noch länger etwas vorzuspielen.«
»Aber dann – « Garth verstummte und blickte sich noch einmal um. Mit einem Mal glaubte er die Spitzen der Pfeile geradezu spüren zu können, die aus dem Dunkel auf ihn gerichtet waren. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Es war eine Falle. Er überlegte, ob er Bard an sich reißen und als lebende Deckung nehmen sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Nicht nur, daß er fünf Männer von der Statur des Rattengesichts gebraucht hätte, um sich dahinter zu verbergen, war es auch sinnlos, daß er nicht einmal wußte, in welcher Richtung die Soldaten lauerten. Vielleicht überall.
»Warum diese Komödie?« fragte er. »Wenn du mich umbringen willst, hättest du das leichter haben können. Deine Männer können mich vielleicht immer noch töten, aber dann wirst du mit mir zur Hölle fahren.«
»Wer spricht denn von umbringen?« erwiderte Bard überrascht. »Im Gegenteil, wir haben die gleichen Ziele. Ich wollte nur sichergehen, daß du das Schiff tatsächlich nimmst. Weißt du, bei den Unruhen in der Stadt sind wir gar nicht mehr daran interessiert, dich festzunehmen. Das beste ist, wenn du auf Nimmerwiedersehen aus Armar verschwindest, genau wie deine Freunde, die sich bereits auf dem Weg nach Lacom befinden. Also geh schon auf dein Schiff und hau ab von hier.«
Zögernd blickte Garth zur NOVATAN hinüber. Bards Worte klangen logisch, und doch… irgend etwas daran störte ihn. An Bord des Schiffes schien alles seinen gewohnten Gang zu gehen; wahrscheinlich ahnte nicht einmal jemand, was wenige Schritte neben ihnen geschah. Er fragte sich, ob er dem Kommandanten trauen konnte. Aber welche Wahl hatte er schon? »Gut«, sagte er widerwillig. »Ich werde mit der NOVATAN davonsegeln und Armar verlassen. Für immer.« Er lächelte grimmig. »Aber wenn wirklich alles so einfach ist, wie du mich glauben machen willst, dann hast du doch sicher nichts dagegen, bis zum Ablegen des Schiffes bei mir zu bleiben, nicht wahr?« Garth unterstrich seine Frage mit einer knappen Bewegung des Schwertes. »Und denk daran, daß ich immer noch genug Zeit finde, dir die Kehle durchzuschneiden, falls deine Schergen einen Fehler machen.«
Bard nickte. »Das hatte ich ohnehin vor«, behauptete er. »Nur, um sicher zu sein, daß du dich beim Ablegen auch an Bord befindest. Gehen wir.«
Garth hielt die Schwertspitze ununterbrochen auf den Rücken des Rattengesichtes gerichtet, während sie hintereinander über die Pier schritten und sich der NOVATAN näherten. Auch jetzt blieb dort noch alles ruhig. Erst als sie nahe genug herangekommen waren, daß man Garth erkannte, sah er, wie sich die gespannten Bögen einiger Männer hinter der Reling senkten. Auch die anderen saßen keineswegs nur so gelassen herum, wie es von weitem den Anschein erwecken sollte. Beinahe die gesamte Besatzung befand sich an Deck, und alle Männer waren bis an die Zähne bewaffnet, anstatt sich während der Ankerzeit in ihren Kajüten auszuruhen und neue Kraft für die bevorstehende Überfahrt zu sammeln. Garth spürte fast überdeutlich die nervöse Stimmung, die auf der NOVATAN herrschte.
Die Reihen der Männer teilten sich, und Kapitän Harlon trat an die Reling; in der herrschenden Dunkelheit nicht mehr als ein massiger Schatten, der sich schwarz gegen den Sternenhimmel und die wenigen Feuer auf dem Schiff abhob. »Wer ist dieser Mann, Garth?« fragte er scharf. »Es war verabredet, daß du allein kommst.«
»Er ist ein guter Freund«, erwiderte der Dieb. »Keine Sorge, vor dem Auslaufen ist er verschwunden.«
»Ich mag keine Fremden auf meinem Schiff«, brummte Harlon, während zwei seiner Matrosen eine breite Laufplanke an Land schoben. »Aber meinetwegen. Wir warten ohnehin nur noch auf die Papiere der Hafenbehörde, dann lichten wir Anker. Irgend etwas Seltsames geht vor in Armar, und ich will so schnell wie möglich weg.«
»Nichts dagegen.« Garth verbarg das Schwert unter dem Mantel, da es wohl seltsam gewirkt hätte, einen ›guten Freund‹ mit Waffengewalt auf das Schiff zu treiben. »Du zuerst«, befahl er leise und bedeutete Bard, weiterzugehen.
Bard nickte, machte einen Schritt und blieb mitten in der Bewegung stehen, so abrupt, daß Garth ihm um ein Haar das Schwert in den Rücken gestoßen hätte. Aber er schien den schmerzhaften Stich gar nicht zu spüren. Aus entsetzt geweiteten Augen starrte er auf einen Punkt nicht weit von der NOVATAN entfernt. Garth wandte den Kopf.
Und was er sah, ließ ihn aufschreien.
Die NOVATAN zerbarst vor ihren Augen. Die Masten zersplitterten, von einer geisterhaften Macht wie Streichhölzer geknickt, dann wurde das ganze Schiff wie von einer unsichtbaren Riesenfaust gepackt und ein gutes Stück weit in die Höhe gerissen, stürzte mit vernichtender Wucht ins Wasser zurück und begann wie ein Stein zu versinken. Alles war unglaublich schnell gegangen, und beinahe lautlos.
Schreckensstarr blickte Garth auf den Ort des Grauens. Eine riesige Flutwelle raste heran, doch noch bevor sie das schwer havarierte Schiff erreichte, fuhr der Kommandant der Stadtgarde herum, Verrian. setzte Garth einen Stoß und sprang selbst mit einem gewaltigen Satz an Land zurück. Garth schrie auf, krachte schwer auf das von Gischt überspülte Deck des Schiffes und rappelte sich mühsam wieder auf.
Und im gleichen Moment veränderte sich Bard.
Die rattenartigen Züge seines Gesichtes verschwanden. Er alterte in Bruchteilen von Sekunden um die gleiche Anzahl von Jahrzehnten. In seinen Augen glomm ein düsteres Feuer, während er die Faust wie einen Speer in Richtung der NOVATAN stieß.
Und um Garth herum erlosch die Welt…
Stunden vergingen, bis man Torian wieder aus seiner Zelle holte und erneut ins Zimmer des Kommandanten führte. Bard und Cathar erwarteten ihn bereits, ebenso wie Shyleen und –
»Garth!« rief Torian, schüttelte seine Bewacher mit einem Ruck ab und umarmte den Freund stürmisch. Garth ließ die Begrüßung reglos über sich ergehen. Nur in seinen Augen glomm ein seltsamer Ausdruck auf. Ein klein wenig Freude schwang darin mit – der Rest war eine Mischung aus Ärger und Verlegenheit und etwas anderem, das Torian nicht zu deuten vermochte.
»Dein Freund ist noch nicht ganz wiederhergestellt«, bekundete Cathar ohne jedes Gefühl in der Stimme. Mit einer Handbewegung scheuchte er Torians Bewacher hinaus, bevor er weitersprach: »Garth hat einen Schock erlitten, aber ich bin sicher, daß er schnell darüber hinwegkommen wird.«
»Was habt ihr mit ihm gemacht?« fragte Torian. Er trat einen Schritt auf den Magier zu, blieb dann aber stehen und ballte in mühsam unterdrückter Wut die Fäuste.
»Nichts«, erwiderte Cathar ruhig. »Außer ihm das Leben zu retten. Dein Freund wollte die Stadt unbedingt verlassen. Ich hätte ihn höchstens mit Gewalt zurückhalten können, und das hätte nichts genutzt. Aber mir kam der Zufall zu Hilfe. Sein Schiff wurde ebenso von dem Tor verschlungen, wie zuvor schon die Häuser. Ich konnte ihn gerade noch retten.«
»Und bei dieser Gelegenheit hast du ihn gleich noch in eine willenlose Puppe verwandelt«, fauchte To
»Nein, das hat er nicht«, mischte sich Shyleen ein. »Es handelt sich wirklich nur um einen Schock. In ein paar Stunden wird er wieder wie vorher sein, keine Sorge.« Sie deutete auf Cathar. »Hören wir uns einfach an, was er will.«
Torian sah sich um. Diesmal hielten sich keine Soldaten mehr in dem Zimmer auf, aber durch Cathars Anwesenheit wurden sie auch überflüssig. Unbewaffnet einen Magier anzugreifen, mochte vielleicht nicht die angenehmste, dafür aber die mit Abstand sicherste Methode sein, Selbstmord zu begehen. So warf er Garth noch einen zweifelnden Blick zu, schluckte seinen Ärger hinunter und nickte widerwillig.
»Also gut«, sagte er. »Was hat das alles zu bedeuten?«
»Ich brauche eure Hilfe«, begann Cathar.
»Hilfe?« Torian lachte böse. »Wieso sollten ausgerechnet wir dir helfen?«
»Weil das alles hier ohne euch nicht geschehen wäre«, erklärte Cathar ärgerlich. Er machte eine weit ausholende Handbewegung, welche die ganze Stadt einschließen sollte. »Ihr habt mit eurer Zerstörung der Katakomben der Letzten Nacht weit mehr angerichtet, als ihr ahnt. Es gibt viele Relikte wie die Katakomben aus der alten Zeit. Sie alle werden von unseren Brüdern überwacht, denn ihr wißt, daß wir diese Zeit wiederauferstehen lassen wollen. Aber es geht nicht nur darum.«
»So?« bemerkte Torian höhnisch.
Cathar ignorierte seinen Einwurf. »Zugleich«, fuhr er fort, »müssen wir verhindern, daß die alte Macht in falsche Hände gerät. Bevor das geschieht, vernichten wir den jeweiligen Stützpunkt lieber. Der Untergang der Katakomben war nicht allein euer Werk. Kein Mensch allein wäre dazu in der Lage. Die Entscheidung trafen die Obersten Magier unseres Ordens.«
»Du lügst«, unterbrach Torian. »Alle Magier, die sich in den Katakomben aufhielten, sind tot. Das Höhlenlabyrinth brach zusammen, als ich das Herz des alten Armars zerstörte.«
»Wie du siehst, sind wir nicht alle tot«, erwiderte Cathar gelassen. »Im Gegensatz zu meinen Brüdern konnte ich mich retten – und andere.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als Torian widersprechen wollte. »Es ist nicht nötig, daß jemand von uns anwesend ist, um einen Stützpunkt zu vernichten. Der Befehl wurde in der Schattenburg erteilt. Die Oberen schufen ein Tor – einen Durchgang zu einer anderen Welt, das alles verschluckt und dabei vernichtet, das in seine Nähe gerät.«
»Und das offenbar sehr gründlich«, ergänzte Torian. »Ich wußte noch nicht, daß die Altstadt Armars ebenfalls zu eurem Stützpunkt gehörte.«
»Sogar zu gründlich«, seufzte Cathar. »Das eben ist das Problem. Jemand… hat einen Fehler begangen. Einen Fehler, der vielen meiner Brüder das Leben kostete. Sie verloren die Kontrolle über das Tor.«
»Das heißt«, murmelte Shyleen, »das, was in Armar geschah – «
»Geschieht«, unterbrach sie Cathar. »Es geschieht noch, Shyleen. Das Tor existiert weiter. Es… es zieht weiter planlos umher und zerstört dabei alles, was ihm im Weg steht. Und es wächst mit jeder Sekunde. Es wird ganz Armar verschlingen und sich dann weiter ausbreiten.«
»Und dann?« fragte Shyleen. Ihre Stimme war kaum noch zu verstehen. Sie war sehr blaß.
Cathar wich ihrem Blick aus. »Bis an die Grenzen Caracons«, antwortete er leise. »Und darüber hinaus, wenn niemand es aufhält.« Cathar schwieg, und auch Torian schluckte die spöttische Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Er spürte instinktiv, daß der Magier die Wahrheit sprach, auch wenn noch viele Fragen offen waren und er längst nicht alles verstanden hatte.
Verwirrt sah er sich um. Bard saß mit ernstem Gesicht hinter seinem Schreibtisch, und auch wenn er die Füße in scheinbarer Lässigkeit auf die Tischplatte gelegt hatte, konnte das nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine Nerven zum Zerreißen angespannt waren. Shyleen war blaß geworden. Ihr Blick flackerte. Nur Garth starrte weiterhin mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin und schien überhaupt nicht zu begreifen, was um ihn herum geschah. Torian beneidete ihn fast.
»Ich nehme an, du willst, daß wir dieses Tor schließen«, murmelte Shyleen schließlich.
»Nicht ihr«, korrigierte Cathar. »Wir. Meine Macht allein reicht dazu nicht aus. Gemeinsam mit Bard und dreißig ausgewählten Soldaten der Garde aber können wir es schaffen.«
»Was, bei Ch’tuon?« fragte Torian. »Was sollen wir tun, Cathar? Garth und ich sind keine Zauberer. Ich… ich habe weder eine Ahnung, was dieses Tor sein soll noch wie man es schließen kann.«
»Laß dir die Einzelheiten von Shyleen erklären«, antwortete Cathar. Plötzlich wirkte er sehr ungeduldig. »Einzelheiten sind jetzt bedeutungslos. Ich brauche eure Hilfe nur, um den einzigen Ort zu erreichen, von dem aus man das Tor schließen kann.«
»Und wo ist das?« fragte Torian.
»Dort, wo es auch geöffnet wurde. In der Schattenburg.«
Shyleen keuchte. Ihre Augen wurden dunkel vor Schrecken. »Du bist verrückt. Niemand kann die Schattenburg erreichen. Du weißt genau, daß der einzige Weg dorthin über die Straße der Ungeheuer führt. Man weiß nicht einmal, wo sie beginnt.«
»Man vielleicht nicht. Ich weiß es«, widersprach Cathar. »Schließlich bin ich selbst ein Magier. Die Straße beginnt nicht einmal sehr weit von hier, an der Grenze zu Lacom. Aber du hast recht – unter normalen Umständen wäre es unmöglich, sie zu erreichen. Aber die Umstände sind nicht normal. Und wir haben gar keine andere Wahl, als es wenigstens zu versuchen.« Er hob die Stimme ein wenig. Gleichzeitig wurden seine Worte fast beschwörend. »Ihr begreift immer noch nicht, scheint mir. Ihr könnt nicht einfach weglaufen und euch irgendwo verstecken. Es… es wird bald nichts mehr geben, wohin ihr laufen könntet, Shyleen.«
»Trotzdem ist es Wahnsinn.«
»Ja«, gab Cathar ruhig zu.
»Was hat es mit dieser Schattenburg auf sich?« fragte Torian leise, als Shyleen nicht weitersprach.
»Die Schattenburg ist die Festung der Schwarzen Magier«, antwortete sie, ohne ihn anzusehen. »Das Zentrum ihrer Macht, wenn du so willst. Und wahrscheinlich der bestgeschützte Ort dieser Welt. Wer sie gegen den Willen ihrer Herrscher erreichen will, muß über die Straße der Ungeheuer.«
»Das klingt… nicht sehr beruhigend«, bemerkte Torian vorsichtig.
Shyleen lachte humorlos. »Das ist es auch nicht. Es ist ein perfektes System von Fallen, eine tödlicher als die andere. Nicht einmal alle Heere Caracons gemeinsam könnten die Schattenburg erstürmen.« Sie schnaubte und deutete auf Cathar. »Dieser Narr da glaubt offenbar, sie mit dreißig Gardisten im Handstreich nehmen zu können.«
»Unsinn«, mischte sich Bard ein, der bislang nur schweigend zugehört hatte. »Es kommt nicht auf die Zahl an. Ob dreißig oder dreihundert machen keinen Unterschied. Cathar kennt die Straße der Ungeheuer, und ihr habt bewiesen, daß ihr der Macht der Schwarzen Magier gewachsen seid. Deshalb ist es wichtig, daß ihr uns begleitet, aus keinem anderen Grund.«
»Wir haben bislang nur Glück gehabt«, wandte Shyleen ein. »Andere an unserer Stelle wären – «
»- längst ein dutzendmal gestorben«, führte Cathar den Satz zu Ende. »Glaubt ihr, es hätte in den letzten tausend Jahren nicht genug Narren gegeben, die unserer Macht zu trotzen versucht hätten? Vielleicht habt ihr wirklich nur Glück gehabt«, fügte er lächelnd hinzu, »aber warum solltet ihr dieses Glück nicht auch weiterhin haben?«
»Das… das ist verrückt«, murmelte Torian. Er sah Cathar an. »Noch vor wenigen Stunden haben wir versucht, einander umzubringen, und jetzt… jetzt willst du, daß wir Seite an Seite zu einem Selbstmordunternehmen aufbrechen, als wäre nichts gewesen. Der Witz ist nicht schlecht. Ich werde ihn mir merken.«
»Ich weiß, daß du mich haßt«, stellte Cathar gelassen fest. »Und wenn es das Tor nicht gäbe, würde ich dir ebenfalls mit dem allergrößten Vergnügen den Hals umdrehen.« Er lächelte kalt. »Natürlich könnt ihr ablehnen, aber ihr verurteilt nicht nur euch selbst, sondern alle Einwohner Armars, vielleicht ganz Caracon zum Tode.«
»Während dir daran gelegen ist, die Menschheit zu retten, wie?« Torian merkte, daß seine Worte längst nicht so sarkastisch klangen, wie er beabsichtigte.
»Nein«, widersprach Cathar ruhig. »Deine sogenannten Menschen interessieren mich nicht. Aber das Tor stellt auch für mich eine Bedrohung dar. Für unseren ganzen Orden. Nur die Schattenburg gewährt uns das ewige Leben. Solange wir keinen Kontakt dorthin haben, altern wir wie jeder normale Sterbliche. Sogar schneller. Du hast die Möglichkeit, uns alle zu töten, aber du solltest dir überlegen, ob der Preis dafür nicht zu hoch ist. Ganz abgesehen davon, daß wir mit großer Wahrscheinlichkeit auch ohne euch die Schattenburg erreichen, selbst wenn es etwas länger dauern sollte. Die meisten meiner Brüder halten sich weit entfernt auf.«
»Glaub ihm kein Wort«, ließ sich Shyleen vernehmen. »Ich bleibe dabei, daß es Wahnsinn ist. Wir haben keine Chance, die Straße der Ungeheuer zu überwinden, nicht einmal wenn uns ein Dutzend Magier begleiten würden. Niemand kann das!«
»Haben wir denn eine andere Wahl?« fragte Torian leise.
»Ja, die haben wir.« Noch bevor Torian richtig begriff, was ihre Worte zu bedeuten hatten, oder bevor er gar einen Versuch machen konnte, sie festzuhalten, sprang sie auf und federte wie eine Raubkatze auf Cathar zu, um ihm die Augen auszukratzen. Sie erreichte ihn nicht einmal. Der Magier hob die Hand, vollführte eine komplizierte Geste und murmelte ein einzelnes, düster klingendes Wort. Einen halben Meter vor ihm prallte Shyleen gegen ein unsichtbares Hindernis, schrie auf und wurde zurückgeschleudert. Regungslos blieb sie vor Cathars Füßen liegen.
»Keine Angst, ihr ist nichts passiert«, versicherte Cathar rasch. »Noch nicht. Aber sie könnte ebensogut tot sein. Betrachte es als eine Warnung.« Er wandte sich an Bard. »Bring sie hinaus und veranlasse, daß sie versorgt wird.«
Ohne Widerspruch stand der Rattengesichtige auf, hob Shyleen hoch und trug sie aus dem Zimmer.
»Ich habe ihn fortgeschickt, um mit dir unter vier Augen reden zu können«, begann der Magier, als sie allein waren. »Garth kann uns nicht hören. Ich weiß, daß du das, was in deiner Schulter sitzt, vor den anderen verbergen willst.«
»Woher… weißt du davon?« fragte Torian verwirrt. Instinktiv hob er die Hand und tastete nach der kaum fühlbaren Ausbeulung unter seinem Wams.
»Das ist unwichtig. Die Brut der Blutspinne wurde vernichtet, aber etwas ist zurückgeblieben. Eine Art…« Er suchte nach Worten und zuckte schließlich eindeutig hilflos die Achseln. »Eine Art Parasit, der sich in deinem Körper eingenistet hat und dich von innen her auffressen wird, wenn man ihn nicht entfernt. Nicht wahr?«
Torian starrte ihn haßerfüllt an. Er hatte versucht, es zu vergessen, mit aller Macht. Irgendwie hatte er sich damit abgefunden, sterben zu müssen, aber er hatte es geschafft, den Gedanken daran aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. Er schwieg.
»Nur ein Magier kann dies tun«, fuhr Cathar fort. »Dein Sterben wird sich über Wochen und Monate hinziehen, vielleicht Jahre. Und es wird unvorstellbar qualvoll sein. Du wirst dir tausendmal den Tod wünschen, aber der Parasit wird verhindern, daß du dich selbst umbringst. Und du wirst Dinge tun, die dich entsetzen.«
»Dann entferne ihn«, verlangte Torian ruhig. »Wenn du alles weißt, dann – «
»Ich werde mich hüten, etwas derart Dummes zu tun, bevor wir unser Ziel erreicht haben«, entgegnete Cathar mit einem kalten Lächeln. »Gerade er wird uns helfen, die Straße der Ungeheuer zu überwinden. Garth und Shyleen brauche ich nicht. Ich… nehme sie nur deinetwegen mit, Torian. Vielleicht auch, weil ihr ein gut eingespieltes Team seid. Und die anderen, weil uns auch Gefahren drohen mögen, denen wir mit Magie allein nicht wirkungsvoll begegnen können. Du siehst also, daß ich dich gleich mehrfach in der Hand habe. Aber ich biete dir ein faires Geschäft an. Deine Hilfe gegen dein Leben.« Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Uns bleibt nicht viel Zeit, also entscheide dich. Jetzt und hier.«
Sekundenlang starrte Torian Cathar voller unverhohlenem Haß an. Aber das Lächeln des Magiers erlosch nicht. Er wußte zu genau, daß er gewonnen hatte. Schließlich nickte Torian. »Wann brechen wir auf?«
Cathar lächelte zufrieden. Und allein für dieses Lächeln, dachte Torian entschlossen, würde er ihn töten.
Aber er war sehr sicher, daß Cathar auch dies wußte.
Cathar hatte ihren Aufbruch für den Abend des nächsten Tages festgelegt, aber die Lage in der Stadt zwang sie dazu, die Garnison bereits um die Mittagsstunde zu verlassen – heimlich und durch einen verborgenen Ausgang an der Rückfront des gewaltigen Gebäudekomplexes. Die Verwüstungen, die das Tor anrichtete, wurden immer verheerender, und die Angst der Menschen verwandelte sich in Haß auf ihre Herrscher, wie es oft der Fall war, wenn diese das Versprechen auf Schutz nicht einlösten, mit dem sie sich ihre Macht erkauft hatten. Eine vieltausendköpfige Menge hatte den Palast des Statthalters gestürmt und ihn aus dem Fenster gestürzt – freilich dem höchsten, das sie finden konnten. Anschließend waren sie weiter zur Garnison der Garde gezogen, diesmal allerdings nur, um sich an ihren Toren vorerst die Köpfe blutig zu rennen. Aber es konnte nur noch eine Frage von Stunden sein, bis auch diese fallen würde. Ihr Abmarsch aus Armar war mehr als alles andere eine Flucht.
Anders als geplant, verließen sie die Garnison nicht nur in Begleitung der dreißig Soldaten. Bard kommandierte hundert weitere Männer zu ihrem Schutz ab, die vorausritten und ihnen einen Weg durch die Menschenmenge bahnten, welche die Straßen verstopfte. Unruhig ließ er seinen Blick über die Fassaden wandern. Armar war schon jetzt eine Ruinenstadt, und das nicht mehr nur im Stadtkern oder den weit ausgedehnten Elendsvierteln, sondern auch in den eher vornehmen, nahe der Mauer gelegenen Gegenden wie der, durch die sie gerade ritten. Schuttberge säumten den Straßenrand, überall schwelten Brände. Höchstens ein Drittel aller Häuser stand noch, und kaum eines war mehr unversehrt. Überall glaubte er schattenhafte, huschende Bewegungen wahrzunehmen. Armar starb. Einen schnellen, aber sehr qualvollen Tod.
Irgendwo, nicht weit entfernt, erscholl ein peitschender Knall, in den sich gleich darauf panikerfüllte Schreie und das Bersten von Gestein mischten. Die Pferde scheuten; sein und Shyleens Tier bäumten sich auf. Torian hatte Mühe, sich im Sattel zu halten. Voller Schadenfreude beobachtete er, wie zwei Gardisten weniger Erfolg hatten und abgeworfen wurden, aber der kleine Triumph kam ihm gleich darauf so billig vor, wie er in Wahrheit auch war. Er übertrug seinen gegen Cathar (und gegen sich selbst?) gerichteten Zorn auf die Männer, und mochten sich auch noch so viele Sadisten und Mörder unter ihren Uniformen verbergen, so waren sie doch auch zu seinem Schutz da.
Er beugte sich im Sattel vor und half einem der Männer wieder auf die Beine, während er mit der anderen Hand nach den Zügeln des Pferdes griff und es mit einem harten Ruck zur Ruhe zwang. Der Gardist bedankte sich mit einem flüchtigen Kopfnicken, während er wieder in den Sattel stieg.
Das Menschengedränge auf den Straßen nahm zu, je mehr sie sich einem der Stadttore näherten, und immer häufiger wurden sie zu Umwegen gezwungen, da selbst Bard einzusehen schien, daß es nicht ratsam war, mit nicht einmal hundertfünfzig Soldaten Gewalttätigkeiten zu provozieren. Die Flüchtenden waren so von Panik erfüllt, daß sie alles niederwalzten, was sich ihnen in den Weg zu stellen versuchte, und mochten die vordersten auch vor den Peitschen und Schwertern zurückweichen, so würden sie doch von den Nachdrängenden erbarmungslos vorwärtsgetrieben werden. Dutzende, wenn nicht gar Hunderte, vor allem Kranke, Frauen und Kinder, die gestrauchelt und gestürzt waren, mußten bereits zu Tode getrampelt worden sein.
Torian fragte sich, wie sie unter diesen Umständen überhaupt aus der Stadt kommen wollten. Doch er begriff bald, daß das Haupttor gar nicht ihr Ziel war. Sie wichen in kleine, nicht so stark belebte Seitenstraßen und Gassen aus und entfernten sich auf diese Art immer weiter vom Tor. Ein Stück der Stadtmauer war in sich zusammengestürzt, und bildete eine mehrere Meter breite Bresche.
Die Schuttberge waren mehr als mannshoch, so daß sie absteigen und die Pferde führen mußten. Dennoch war es ein halsbrecherisches Unterfangen, und sie brauchten fast eine halbe Stunde, um die Bresche zu durchqueren. Die Trümmer boten nur trügerische Sicherheit, und manche kamen unter ihrem Gewicht ins Rutschen. Besonders Torian hatte mit seinem verstauchten Fuß Schwierigkeiten und brauchte am längsten. Cathar hatte sich um die Verletzung gekümmert und eine heilende Salbe auf das Gelenk gestrichen, aber immer noch konnte Torian ihn nicht richtig belasten. Er war schweißgebadet, als er die andere Seite der Mauer erreichte, und seinen Begleitern erging es nicht anders, dennoch gönnte er ihnen keine Ruhepause, sondern trieb sie zur Eile an. Die Gefahr war noch nicht gebannt, solange sie sich in der Nähe der Stadt aufhielten, und so stiegen die Gardisten ohne zu murren wieder auf.
Sie ritten noch beinahe eine Stunde weiter. Die beiden Soldaten, die ihre Pferde verloren hatten, wurden von anderen mitgenommen. Erst als Armar mehrere Meilen hinter ihnen zurücklag, gab Torian das Zeichen zum Halten.
Torian begab sich zu dem Offizier, der die hundert Gardisten anführte, die sie entgegen des ursprünglichen Planes bis hierhin begleitet hatten.
»Hier trennen sich unsere Wege«, erklärte er. Er deutete mit dem Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Es hat keinen Sinn, wenn ihr nach Armar zurückkehrt. Dort findet ihr höchstens den Tod. Warnt die Bewohner der naheliegenden Gehöfte, dann kümmert euch um die Flüchtenden. Auch sie werden Schutz brauchen. Führt sie sicher nach Tidore oder in andere Städte.«
»Wie ihr befehlt.« Der Stimme des Mannes war die Erleichterung anzuhören, nicht in die sterbende Stadt zurückreiten zu müssen. Torian bezweifelte ohnedies, daß er es getan hätte. »Aber gestattet mir und meinen Männern, noch ein paar Minuten auszuruhen.«
Torian nickte, drehte sein Pferd wortlos herum und ritt zu Shyleen zurück. Vielleicht war es das beste, dem Beispiel der Männer zu folgen und ebenfalls eine kurze Rast einzulegen. Der Weg, der vor ihnen lag, war vielleicht nicht sehr weit, aber mit Sicherheit anstrengend. Er beobachtete, wie sich die Männer im Gras niederließen, stieg aber selbst noch nicht ab, sondern trabte einen niedrigen Hügel hinauf, von wo aus er einen guten Überblick über die Stadt hatte, die sie hinter sich gelassen hatten.
Es war das erste Mal, daß er das ganze Ausmaß der Verwüstungen überschauen konnte. Und beinahe wünschte er sich, es nicht getan zu haben.
Eine ungeheuere Menschenmenge wälzte sich zwischen den Ruinen hindurch, und er glaubte die verzweifelten Schreie der Menschen bis hierher zu hören, auch wenn er genau wußte, daß es unmöglich war. Es war ein Anblick, der sich tief in sein Inneres grub und den er sein ganzes Leben lang nicht mehr würde vergessen können. Armar war verloren. Selbst wenn sie die Schattenburg erreichen sollten und es ihnen gelang, das Tor zu schließen, würde die Stadt bis dahin dem Erdboden gleichgemacht sein. Der Gedanke, daß es nicht die einzige Stadt bleiben sollte, sondern sich das Tor über ganz Tremon und darüber hinaus ausbreiten würde, wenn es nicht gestoppt würde, erschien ihm unfaßbar. Es war… einfach absurd. Zu schrecklich, als daß er auch nur so etwas wie Furcht empfinden konnte.
Wenn er überhaupt etwas fühlte, dann einen tiefen, mit Haß gemischten Zorn auf Cathar und seine Brüder. Sie hatten dieses Grauen verursacht, auch wenn es sie selbst das Leben gekostet hatte. Und er würde diesen Haß nicht mehr unterdrücken, sondern ihn am Leben erhalten, auch wenn Cathar und er vorläufig zu Verbündeten geworden waren. Es änderte nichts daran, daß sie Feinde waren.
Todfeinde.
Torian wußte nicht, wie lange er auf die sterbende Stadt hinabgestarrt hatte, bis er sein Pferd mit einem unnötig harten Ruck herumriß und zu den anderen zurückkehrte.
Ruhe hatte sich über dem Rastplatz ausgebreitet. Die hundert Gardisten waren bereits fortgeritten, als Torian eintraf. Shyleen sah ihm entgegen, doch er wich ihrem Blick aus, stieg vom Pferd und ließ sich etwas abseits von den anderen im Schatten eines Baumes nieder. Er wollte mit niemandem sprechen, nicht einmal mit ihr. Er wollte allein sein. Zu viel war in den vergangenen Tagen auf ihn eingestürmt, das er noch längst nicht begriffen und verarbeitet hatte. Alles erschien ihm so bizarr, daß er glaubte, nur die Augen schließen und wieder öffnen zu müssen, um aus einem wirren Fiebertraum zu erwachen.
Aber es war Realität. Er sah Garth ein Stück entfernt im Gras sitzen und dumpf vor sich hinbrüten. Gelegentlich runzelte er die Stirn und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, als wollte er Fliegen verscheuchen. Obwohl Torian sich am liebsten zurückgelehnt und ein wenig gedöst hätte, drängte er die Müdigkeit zurück. Er hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen, aber wenn er jetzt einnickte, würde er sich hinterher nur um so müder fühlen, denn es war noch zu früh, um sich eine längere Rast zu gönnen. So stand er nach kurzem Zögern auf und ging zu Garth hinüber. Der Dieb hob bei seinem Nahen den Kopf und lächelte unsicher. Torian setzte sich neben ihn.
»Wieder unter den Lebenden?« fragte er und erwiderte das Lächeln. Dabei musterte er den Freund aufmerksam. »Wie geht es dir?«
»Ich habe Kopfschmerzen, als hätte ich zehn Tage durchgezecht, aber sonst geht es wieder. Was ist hier eigentlich los? Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern.«
»Cathar behauptet, er hätte dir das Leben gerettet«, sagte Torian. »Erinnerst du dich an überhaupt nichts mehr?«
Garth massierte sich die Schläfen und schloß die Augen. »Ich wollte… auf ein Schiff«, murmelte er dumpf. »Aber da war noch etwas. Dieses… dieses Rattenmaul da drüben hat etwas damit zu tun.«
»Bard?« Torian lächelte flüchtig über den Beinamen, den Garth Bard gegeben hatte.
»Ja. Er… er suchte mich. Gab vor, daß du ihn geschickt hättest. Ich… es tut mir leid, daß ich einfach so abgehauen bin, aber ich konnte nicht anders.«
»Schon gut, es war deine eigene Entscheidung. Sprechen wir nicht mehr davon.«
Garth nickte, dann versuchte er zu lächeln, doch es fiel sehr gezwungen aus. »Anscheinend ist es ohnehin unmöglich, von dir wegzukommen. Hast du diesen Kerl wirklich hinter mir hergeschickt?«
»Nein. Es war auch nicht Bard«, antwortete Torian. Er deutete zu Cathar hinüber. »Der Magier hat sein Aussehen angenommen. Ich hätte mir ein Wiedersehen auch unter anderen Umständen gewünscht. An was kannst du dich noch erinnern?«
Garth konzentrierte sich noch einmal, dann schüttelte er resignierend den Kopf. »Nichts mehr. Irgend etwas ist mit dem Schiff passiert, als ich an Bord gehen wollte, aber…« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es einfach nicht mehr.«
»Ist auch nicht so wichtig. Ist mit dir wirklich alles wieder in Ordnung? Ich habe für eine Weile befürchtet, Cathar hätte dich unter seinen Willen gezwungen.«
Wieder lachte Garth gekünstelt. »Ich kann so frei denken wie immer, aber allmählich glaube ich, daß mit dir etwas nicht stimmt. Was hast du mit diesem Magier zu tun? Als ich wieder zu mir kam, hätte ich ihm im ersten Moment fast die Kehle durchgeschnitten. Und ich glaube, das werde ich auch nachholen, wenn mir jetzt nicht jemand ganz schnell eine wirklich gute Begründung liefert, warum ich es nicht tun sollte.«
»Weil du es nicht schaffen würdest«, erwiderte Torian ernst. Er berichtete mit knappen Worten, was sich zugetragen hatte, nur von dem Parasiten in seiner Schulter erwähnte er nichts. Garth hörte schweigend zu, nur sein Gesicht verdüsterte sich immer mehr.
Erst Minuten nachdem Torian geendet hatte, klärte sich sein Blick wieder, und er schüttelte ungläubig den Kopf. »Wenn mir jemand anders diesen ausgemachten Unsinn erzählt hätte, würde ich einmal kurz lachen und dann nach der Wahrheit fragen.«
»Es ist die Wahrheit.«
»Ich habe von dieser Straße der Ungeheuer gehört«, murmelte Garth. »Wenn auch nur ein Bruchteil dieser Gerüchte stimmt, fallen mir etwa zehntausend Orte in, wo ich lieber wäre. Aber es ist nur eine Legende.«
»Sag das Cathar. Er behauptet, schon durch diese Legende gezogen zu sein.«
»Und du vertraust diesem Kerl? Torian, er ist ein Schwarzer Magier, und was das bedeutet, brauche ich dir nicht zu erzählen.«
»Von Vertrauen war nicht die Rede«, korrigierte Torian. »Im Gegenteil. Seine Geschichte klingt für meinen Geschmack fast ein wenig zu überzeugend, um wahr zu sein. Wenn es ihm nur darum ginge, dieses Tor zu schließen, hätte er gewartet, bis einige seiner Brüder eingetroffen wären und sich mit ihnen auf den Weg gemacht. Ich bin sicher, daß er etwas anderes vorhat.«
»Und trotzdem unterstützt du ihn.«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«
»Wir sollten versuchen, ihn bei erstbester Gelegenheit zu überwältigen und dann schnellstens abhauen«, knurrte Garth. »Ich schätze, daß sich auch diese nachgemachten Gardisten auf unsere Seite stellen werden.«
Torian schüttelte entschieden den Kopf. »Vergiß es. Cathar ist zu mächtig. Er traut mir so wenig wie ich ihm. Und er scheint nicht einmal Schlaf zu brauchen. Wir sind ihm ausgeliefert.« Er machte eine kurze Pause. »Aber das ist noch nicht alles, ich weiß nicht, was er in der Schattenburg wirklich will, aber ich weiß, was ich dort will. Wenn wir dorthin gelangen, haben wir vielleicht die Möglichkeit, die Herrschaft der Schwarzen Magier endgültig zu brechen. Diese Burg ist das Herz ihrer Macht, und sie steht momentan leer. Sobald Cathar das Tor geschlossen hat, bin ich der erste, der – «
Er brach ab, als er sah, wie sich Bard erhob und zu ihnen herüberkam.
»Wir sollten weiterreiten«, schlug er vor und verzog sein Rattengesicht zu einem Grinsen. »Wollt Ihr den Befehl zum Aufbruch selber geben, oder soll ich es an Eurer Stelle tun, hoher Herr?«
Torian musterte ihn wie ein besonders widerwärtiges Insekt, schnaubte verächtlich und stand auf. Bard hatte es immer noch nicht verwunden, daß Cathar ausdrücklich Torian die Befehlsgewalt über ihre kleine Armee übertragen hatte, und nicht ihm. Er schob sich dicht an dem ehemaligen Kommandanten der Stadtgarde vorbei und schien nicht einmal zu bemerken, daß er ihm versehentlich fest auf den Fuß trat.
»Reiten wir«, entschied er grob.
Sie ritten bis zum Abend. Erst als die Sonne völlig untergegangen war, schlugen sie im Schutz eines niedrigen Talkessels ein Nachtlager auf. Es sah nicht nach Regen aus, dennoch gab Torian Befehl, die Zelte aufzuschlagen. Das Wetter hier an der Küste war unberechenbar, und auch die bei Tage herrschende Hitze konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der Sommer seinem Ende zuneigte. In den Nächten wurde es bereits empfindlich kalt, zumal der Wind vom Meer her wehte und kühle Seeluft über das Festland trieb.
Den ganzen Nachmittag hindurch hatte Torian kaum ein Wort gesprochen, sondern versucht, Klarheit über Garth zu gewinnen, ohne daß es ihm gelungen war. Der Dieb schien die Folgen des Schocks abgeschüttelt zu haben. Er sprach wie früher, seine Bewegungen besaßen wieder die alte, seinem Körpergewicht hohnsprechende Geschmeidigkeit, und seine offenen Worte hatten bewiesen, daß sein Willen nicht von Cathar beeinflußt war.
Und doch hatte er sich verändert. Sie sprachen miteinander, als ob es niemals eine Trennung gegeben hätte, aber etwas war nicht so, wie es sein sollte. Ein winziger Teil dessen, was ihre Freundschaft ausgemacht hatte, war nicht mehr da. Torian spürte, daß sich plötzlich etwas wie eine unsichtbare Kluft zwischen ihnen aufgetan hatte. Aber er verstand nicht, warum. Etwas an Garth war ihm… fremd geworden, doch vielleicht lag es nur daran, daß es dem Hünen doch noch nicht so gutging, wie er vorgab.
Von kurzen Pausen abgesehen, verbrachten sie auch den folgenden Tag im Sattel. Sie folgten dem Verlauf der Küste nach Norden, hielten sich auf dem nur wenige Dutzend Meilen breiten Streifen fruchtbaren Hügellandes, der noch zwischen dem Meer und der Staubwüste im Herzen Caracons verblieben war, weil der feuchte Boden hier der Wüste trotz ihres unerbittlichen Ansturmes noch nicht erlaubt hatte, über das Gebirge im Westen vorzudringen. Torian sah die Gipfel der Berge als ferne Schemen, die immer weiter zurückwichen, je tiefer die kleine Gruppe nach Norden vordrang. Im gleichen Maße wurde das Land öder, und sie fanden auch kein Wild zum Jagen mehr, so daß sie auf ihre mitgeführten Vorräte zurückgreifen mußten.
Am Morgen des dritten Tages frischte der Wind auf und trieb vom Meer her formlosen Gespenstern gleiche Nebelfetzen heran, und mit dem Nebel kamen Kälte und Feuchtigkeit wie Vorboten des bevorstehenden Herbstes. Der Himmel zeigte sich in düsterem Grau, hinter dem sich die Sonne verbarg.
Die Feuchtigkeit war klamm und unangenehm, drang durch ihre Mäntel und selbst die umgehängten Decken hindurch und ließ sie den eisigen Biß des Windes besonders deutlich spüren. Das triste Wetter schlug sich auch auf die Stimmung der Menschen nieder. Eine Stunde ritten sie schweigend und bedrückt nebeneinander her, dicht zusammengerückt und über die Hälse ihrer Pferde gebeugt, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, während die Wolken tiefer und tiefer sanken. Dann setzte der Regen ein, eine Wand aus Wasser, die auf sie herabstürzte und alles, was weiter als ein paar Schritte entfernt war, in undurchdringlichem Grau verschwinden ließ. Die Regentropfen wurden vom böigen Wind fast waagerecht in ihre Gesichter gepeitscht und stachen wie Nadeln in ihre Haut.
Schließlich bogen sie auf ein Zeichen Cathars hin nach Westen ab, so daß sie Wind und Regen den Rücken kehrten und weniger schmerzhaft spürten. Nach einem Ritt von zwei Stunden hatten sie das Unwetter hinter sich gelassen. Die Wolkendecke riß auf, und gelegentlich brach sogar die Sonne durch, bis sie ganz aus ihrem Versteck kletterte, ihre Kleidung rasch trocknete und ihre durchgefrorenen Körper wärmte. Schon bald stand sie hoch am Himmel, und nach der anfänglichen Erleichterung begann die Hitze jetzt fast schon wieder unangenehm zu werden.
Etwas Dunkles, Gewaltiges tauchte am Horizont auf. Torian ließ sein Pferd etwas zurückfallen, bis er sich auf gleicher Höhe mit Cathar befand.
»Ja, das ist der Flüsterwald«, sagte der Magier, bevor Torian seine Frage an ihn richten konnte. »Das war es doch, was du wissen wolltest, nicht wahr? Wir können ihn in einer knappen Stunde erreichen. Dort beginnt die Straße der Ungeheuer.«
»Gibt es keinen anderen Weg zur Schattenburg als diesen?« fragte Torian. Der Anblick der gewaltigen, dunklen Wand bereitete ihm Unbehagen, Cathar schüttelte den Kopf. »Nein. Das heißt, wir können den Flüsterwald umgehen, aber es würde nichts ändern. Es wäre nur ein Umweg von mehreren Tagen, und die Gefahr würde dadurch nicht geringer.« Er sah Torian mit nachsichtigem Tadel an. »Ich fürchte, du machst dir immer noch falsche Vorstellungen von der Straße. Laß dich nicht von dem Namen täuschen. Es handelt sich keineswegs um eine befestigte Straße oder etwas dergleichen. Es ist einfach nur der Name für den ganzen Landstrich rund um die Schattenburg. Gleichgültig, aus welcher Richtung wir uns nähern.«
Torian sah sich demonstrativ um. »Die Vegetation sieht nicht gerade so aus, als ob hier ein Wald gedeihen könnte.«
Cathar lächelte und schwieg.
»Und was erwartet uns in diesem Wald?« fuhr Torian gereizt fort.
Cathar zuckte in einer fast menschlich wirkenden Geste die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aber wir werden es wohl herausfinden.«
Torian schluckte die böse Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, ritt wieder ein Stück vor und setzte sich an die Spitze der kleinen Kolonne.
Sie brauchten nur wenig mehr als die angenommene Stunde, um den Wald zu erreichen. Im Schatten der ersten Bäume befahl er eine Rast; einer der wenigen Befehle, der freudig und dankbar ausgeführt wurde. Der dreistündige Ritt durch das Unwetter hatte ihnen mehr abverlangt als die fast dreifache Wegstrecke, die sie in gleicher Zeit am Vortag zurückgelegt hatten. Obwohl sie jetzt seit mehr als zwei Tagen zusammen waren, blieben die Söldner für ihn eine anonyme, namenlose Gruppe. Er mußte sich sogar dazu zwingen, sie als Soldaten zu betrachten, denn etwas in ihm sträubte sich immer noch, in ihnen etwas anderes zu sehen als das, was sie in Wahrheit waren: eine Bande von Mördern. Er weigerte sich instinktiv, aber beharrlich, sich ihre Namen einzuprägen; ein stummer, ebenso trotziger wie alberner Protest gegen ihre Anwesenheit. Sie mußten seine Ablehnung spüren, aber was er nicht verhindern konnte, war, daß er für sie zu einem Symbol der Hoffnung wurde. Genau wie er waren sie zu diesem Unternehmen gezwungen worden, und sie teilten auch seine Ablehnung gegen Cathar und Bard. Die Folge war, daß sie Torian in beinahe unterwürfiger Manier als Kommandanten akzeptieren und sich geradezu an ihn klammerten, auch wenn sie seine direkte Nähe mieden. Es war ihm unangenehm, da er nicht wußte, ob er diese Hoffnungen wirklich erfüllen konnte, und er sich weigerte, eine solche Verantwortung zu übernehmen, doch er war in diese Rolle hineingedrängt worden und konnte nichts dagegen tun. Wenigstens erwiesen sie sich als erstaunlich diszipliniert. Es hatte noch nicht den geringsten Zwischenfall gegeben.
Torian verdrängte diese Gedanken. Auch er fühlte sich erschöpft wie seit Tagen nicht mehr, doch obwohl er sich im spärlichen Gras ausgestreckt hatte, ließ ihn der Gedanke an das, was vor ihnen lag, keine Ruhe finden. Sie hatten die unbefestigte, nur mit in weiten Abständen aufgestellten Markierungssteinen angezeigte Grenze nach Lacom bereits überschritten. Es war ein armes, beinahe völlig von der Staubwüste erobertes Land, dessen Bewohner fast ausschließlich vom Kriegshandwerk lebten. Der Flüsterwald paßte nicht hierher, und gerade der Widerspruch zu der Kargheit des umliegenden Landes zeigte Torian deutlicher als alles andere, daß der nur ein paar Dutzend Schritte entfernte Waldrand weit mehr als eine geologische Besonderheit war.
Er markierte den Durchgang zu einer anderen Welt.
»Die letzte Chance, umzukehren«, vernahm er Shyleens Stimme. Unaufgefordert setzte sich die ehemalige Priesterin neben ihn. »Mit dem ersten Schritt in diesen Wald hinein verspielen wir diese Möglichkeit.«
»Sag das Cathar, nicht mir«, knurrte Torian. »Du weißt, was passieren würde, wenn wir es auch nur versuchten.«
»Ja«, antwortete Shyleen. »Aber vielleicht wäre der Tod gnädiger als das, was uns erwartet.«
Für dich und die anderen vielleicht, dachte Torian, sprach es aber nicht aus. Statt dessen strich er mit der Hand in einer unbewußten Bewegung über seine linke Schulter. Das Kribbeln darin verstärkte sich.
Der Marsch durch den Wald war ungleich beschwerlicher, als Torian sich vorgestellt hatte. Während der ersten halben Stunde nach ihrer Rast genoß er die Kühle unter dem fast undurchdringlichen Blätterdach, aber dann verdichtete sich der Wald immer mehr und schloß sich rings um sie herum zu einer düsteren Wand aus ineinander verwobenen Schatten und mannshohem Unterholz. Es gab keine Wege; nicht einmal einen Pfad oder Tierwechsel, so daß sie sich bald nur noch mühsam vorwärtskämpfen konnten, indem sie mit ihren Schwertern eine Bresche in die Wand aus Büschen und Schlingpflanzen hackten. An Reiten war nicht einmal mehr zu denken; einige Männer am Ende der Kolonne führten die Pferde am Zügel. Sie hatten alle Mühe damit, denn die Tiere waren unruhig, scheuten immer wieder und bäumten sich auf. Selbst sie hatten Angst. Etwas war ganz und gar nicht so, wie es sein sollte.
Besorgt richtete Torian seinen Blick wieder nach vorne. Der Boden unter seinen Füßen war aufgeweicht und morastig und schien bei jedem Schritt mit gierigen Händen nach seinen Schuhen zu greifen, so daß er die Füße oftmals nur gewaltsam freibekam. Obwohl sie kaum eine Stunde in dieser grünen Hölle unterwegs waren, hatten seine Muskeln sich bereits verkrampft und reagierten mit wildem Schmerz auf jede Bewegung.
Cathar hatte angeboten, ihm eine Trage bauen zu lassen, damit er seinen Fuß schonen konnte, aber er hatte es entschieden zurückgewiesen. Mittlerweile bedauerte Torian fast schon, das Angebot abgelehnt zu haben. Stolz war eine feine Sache, solange man ihn sich leisten konnte. Trotzdem – es hätte nicht gerade einen guten Eindruck gemacht, wenn ausgerechnet er, auf dem die Hoffnungen der meisten Menschen ruhten, ihnen auch noch zur Last gefallen wäre. Er, die lebende Legende. Das große Vorbild, dachte er spöttisch. Wenn sie wüßten, was er wirklich empfand!
Aber sie wußten es nicht, und sie durften es auch niemals erfahren. So schleppte er sich trotz des immer schlimmer werdenden Schmerzes in seinem Fuß aus eigener Kraft voran, und wie alle anderen – selbst Shyleen – trat er in regelmäßigen Abständen an die Spitze des Trupps, um mit seinem Schwert Gebüsch und Schlingpflanzen aus dem Weg zu schlagen. Und wie alle übrigen war er jedesmal dankbar, wenn er diesen Platz nach ein paar Minuten wieder an einen anderen abtreten konnte.
»Wie weit ist es noch?« wandte er sich an Cathar.
Dem Magier schien der kräftezehrende Marsch nichts auszumachen. Seine Schritte waren noch ebenso federnd und elastisch wie beim Aufbruch. Er musterte Torian mit kaum verhohlenem Spott, der gerade noch vor der Grenze zur Unverschämtheit lag und unter anderen Umständen – und abgesehen von der bedauerlichen, aber unabänderlichen Tatsache, daß Cathar ein Magier war – für Torian Grund genug gewesen wäre, ihm das überhebliche Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen.
Überhaupt hatte sich das Verhalten des Magiers geändert, seit sie Armar verlassen hatten. Offiziell galt Torian immer noch als Kommandant des Trupps, aber es gelang Cathar immer besser, ihn mit jedem Wort und jeder Geste fühlen zu lassen, daß es nur eine geliehene Macht war und er sich in Wirklichkeit als der wahre Herrscher fühlte.
»Etwas weniger als zwei Meilen. Wenn wir nicht zwischendurch schon auf ein paar gefräßige Drachen stoßen, können wir es also in drei bis vier Stunden schaffen«, antwortete er spöttisch. Torian war ziemlich sicher, daß es hier alle möglichen Schrecken gab, aber keine Drachen. Cathar machte sich nicht einmal mehr die Mühe, ihn wenigstens auf intelligente Weise zu verhöhnen.
»Willst du eine Rast? Wenn dein Fuß weh tut, kann ich auch immer noch eine Trage bauen lassen.«
Torian schüttelte wütend den Kopf. Die Schmerzen in seinem Fuß waren fast unerträglich geworden, aber Cathar wartete nur auf ein Zeichen von Schwäche, das wußte er. Mit zusammengebissenen Zähnen und ohne ein Wort quälte er sich weiter.
Einen Augenblick lang glaubte er, im Dickicht des Dschungels neben ihnen eine schwache Bewegung wahrgenommen zu haben, aber als er genauer hinsah, entdeckte er nichts als eine dichte grünschwarze Wand aus Schatten, Dickicht und Baumstämmen. Nach einem letzten zweifelnden Blick wandte er wieder den Kopf und stapfte weiter. Cathar würde es spüren, wenn ihnen Gefahr drohte; sie mußten sich wohl oder übel auf ihn verlassen. Torian war übermäßig nervös, und es konnte gut sein, daß ein Baumstamm oder der Schatten eines vom Wind bewegten Zweiges ihn genarrt hatten.
Eine weitere Stunde lang hielt er den mörderischen Marsch durch. Aber schließlich konnten auch die anderen nicht mehr weiter, und sie rasteten auf einer kleinen Lichtung, nachdem sie etwa die Hälfte des Waldes durchquert hatten. Erschöpft ließ sich Torian zu Boden sinken – und fuhr mit einem leisen Schmerzensschrei wieder hoch. Das knöchelhohe Gras hatte eine Dornenranke verborgen. Er schob sie mit dem Fuß zur Seite und ignorierte Cathars schadenfrohes Grinsen. Wütend massierte Torian seine schmerzenden Beine und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.
Doch er fand keine Ruhe. Eine seltsame Vorahnung einer Gefahr erfüllte ihn. Etwas stimmte nicht mit diesem Ort, ohne daß er eine Ursache dafür erkennen konnte. Auf den ersten Blick schien sich nichts verändert zu haben. Es dauerte mehrere Minuten, bis ihm bewußt wurde, daß das Gefühl der Bedrohung nicht nur auf seine überreizten Nerven zurückzuführen war. Nach dem ununterbrochenen Knacken von Zweigen war jetzt Stille eingekehrt.
Totenstille…
Um die Lichtung herum lastete der Dschungel wie eine massive Mauer, die nicht nur den größten Teil des Lichts, sondern auch alle Geräusche in sich aufsog wie eine durstiger Schwamm das Wasser. Selbst das Heulen des Windes in den Baumwipfeln – in den letzten Stunden ihr ständiger Begleiter – war verstummt. Einzig die von den Leuten verursachten Geräusche waren noch zu vernehmen: gedämpftes Murmeln und Klirren von Metall, wenn jemand nach seinem Schwert griff; und natürlich das Schnauben der Pferde. Sie hatten die Tiere am Rande der Lichtung angebunden und ihnen zu fressen gegeben, aber sie rührten den Hafer nicht an, sondern scharrten nur unruhig mit ihren Hufen den Boden auf, zerrten am Zaumzeug und wieherten gelegentlich vor Angst.
Die Stille war nicht natürlich, sie wirkte auf eine furchterregende Art fremdartig. Zuvor hatte Torian nicht bewußt darauf geachtet, aber er war sicher, daß Vogelgezwitscher und auch das Brüllen ferner Raubtiere ihren bisherigen Weg begleitet hatten. Obwohl er sich keineswegs eine Begegnung mit irgendeinem der Wesen wünschte, die sich in diesem Wald verbergen mochten, irritierte ihn doch ihr plötzliches Verstummen.
Es war, als hätte die Natur den Atem angehalten – oder als hätte ihr stärker ausgeprägter Instinkt die Tiere von diesem Ort vertrieben, wie er auch die Pferde scheuen ließ.
Eine Falle! dachte er. Diese ganze Lichtung war eine einzige Falle, auch wenn er die Bedrohung immer noch nur unterschwellig spüren konnte.
Er versuchte den verrückten Gedanken zu vertreiben, konnte ihn aber nicht völlig abschütteln. Wieder glaubte er, am Waldrand eine huschende Bewegung zu entdecken, und wieder hörte sie auf, als er genauer hinsah.
Doch er war nicht der einzige, dem die unnatürliche Stille auffiel. Einige seiner Begleiter waren aufgesprungen und blickten sich unsicher um, die Schwerter kampfbereit erhoben. Torian wechselte einen raschen Blick mit Cathar, doch der Magier zuckte nur kaum merklich mit den Schultern. Shyleen hatte sich ein Stück von Torian entfernt neben Garth hingesetzt. Jetzt erhob sie sich und kam zu ihm herüber. Ihre arrogante Überheblichkeit war wie weggeblasen. Eine Hand lag auf dem Knauf des Schwertes, und als sie ihren Blick über den Rand der kleinen Lichtung wandern ließ, flackerte nur mühsam unterdrückte Angst in ihren Augen.
»Die Tiere«, flüsterte sie. »Es ist doch nicht normal, daß sie so plötzlich verstummen. Wir sollten so schnell wie möglich…«
Torian erfuhr nicht mehr, was sie noch sagen wollte. Er sah nur noch ein fingerdickes Etwas, das vor ihr plötzlich in die Höhe schnellte und sich um ihre Kehle schlang, bevor er ebenfalls von einer ungeheuren Kraft von den Füßen geholt wurde.
Ein scharfer Schmerz zuckte durch sein rechtes Bein. Er stürzte, versuchte instinktiv, seinen Sturz mit vorgestreckten Armen abzufangen, und prallte hart auf den Boden, als ihm die Hände noch in der Bewegung weggerissen wurden. Für einen Moment blieb er benommen liegen.
Etwas tastete beinahe sanft über seine Beine und kroch daran höher, während es wie mit winzigen Zähnen in seine Haut biß. Blindlings packte er zu. Er bekam etwas Dünnes, Nachgiebiges zu fassen, das sich als unerwartet zäh entpuppte, als er es wegzureißen versuchte. Jetzt erst erkannte er, daß er eine Dornenranke in der Hand hielt, die sich wie ein zu lang geratener Wurm zwischen seinen Fingern wand. Weitere Ranken krochen auf ihn zu. Er riß sein Schwert aus der Scheide und hieb mit aller Kraft zu. Die Klinge zerschnitt einige von ihnen. Die abgetrennten Enden fielen zuckend zu Boden und lösten sich binnen Sekundenbruchteilen in Asche auf.
Schreie drangen an seine Ohren. Noch einmal schlug er mit dem Schwert nach einer, die sich um seinen Arm wickeln wollte. Dann sprang er auf.
Die Lichtung bot ein Bild des Schreckens. Der Boden selbst schien zu brodelndem Leben erwacht zu sein. Das Gras lag unter einer Decke sich windender dunkler Ranken und Wurzelstränge begraben. Unbeschreiblicher Ekel stieg in Torian hoch. Es sah aus, als wäre die ganze Umgebung von einem riesigen lebenden Teppich pulsierender, ineinander verschlungener Schlangenleiber bedeckt. Er hatte noch Glück im Unglück gehabt, daß er sich so weit am Rande der Lichtung aufhielt, wohin sich bislang nur wenige Ranken vorgeschoben hatten.
Viele der anderen hatte es wesentlich schlimmer erwischt. Die meisten von ihnen waren trotz ihrer Vorsicht von dem Angriff überrascht und zu Boden gerissen worden; einige lagen bereits unter fast mannshohen Hügeln der dunklen, zuckenden Masse begraben. Die Pferde kreischten wie rasend, einige hatten sich losreißen können und stoben in wilder Panik davon, doch keines der Tiere wurde von den Pflanzen angegriffen.
Für die Dauer von zwei, drei Herzschlägen war Torian vor Entsetzen wie gelähmt, und um ein Haar wären es seine letzten Herzschläge gewesen. Die langsam und geradezu schwerfällig anmutenden Bewegungen des gesamten Pflanzenteppichs hätten ihn fast vergessen lassen, wie schnell sich die einzelnen Ranken zu bewegen vermochten. Ein Dornenstrang zuckte blitzartig hoch und peitschte nach seinem Gesicht. Im letzten Moment riß er den Kopf zur Seite. Die nadelspitzen Dornen verfehlten seine Stirn um kaum eine Handbreite, aber noch in der Luft drehte sich die Ranke in unmöglich anmutender Art, berührte seine Wange und riß ihm die Haut auf. Torian schrie vor Schmerz und hieb zu. Noch bevor die Ranke wieder zu Boden zurückklatschte, zerteilte er sie mit seinem Schwert.
Ein gurgelnder Schrei drang an sein Ohr. Shyleen hatte ihn ausgestoßen. Mit einem Sprung war er bei ihr und ließ die Klinge auf das Gewirr der Ranken niedersausen, die sie umschlungen hielten. Ein Wurzelstrang hatte sich um ihre Kehle gewunden und drohte sie zu erwürgen. Ihr Gesicht war bereits rot angelaufen. Verzweifelt schnappte sie nach Luft. Wie rasend hieb er auf die Stränge ein. Shyleen keuchte und fuhr sich mit der Hand über die Kehle. Die Ranke hatte einen dunkelroten Striemen hinterlassen. Blut rann aus unzähligen kleinen Wunden, welche die Dornen in ihre Haut gerissen hatten; nicht nur am Hals, sondern am ganzen Körper. Stöhnend kam sie auf die Beine.
»Wir müssen… weg«, keuchte sie.
Torian warf einen Blick zum Waldrand hinüber. Die grüne Wand lag nur wenige Dutzend Schritte entfernt, aber ebensogut hätten es zehn Meilen sein können. Die unheimliche Pflanzenarmee hatte einen regelrechten Wall um die Lichtung gebildet, eine fast mannshohe lebende Mauer aus wabernder Dunkelheit und unsteter, kriechender Bewegung. Es war wirklich eine Falle, wie sein Gefühl ihm von Anfang an suggeriert hatte – obwohl er sich nicht mehr sicher war, daß es sich wirklich nur um ein Gefühl gehandelt hatte –, und sie hatte sich so um sie geschlossen, daß eine Flucht unmöglich geworden war.
Ein Schatten wuchs hinter Torian in die Höhe, und er riß instinktiv sein Schwert hoch. Im letzten Moment konnte er im Schlag innehalten, als er Garth erkannte. Auch der Dieb blutete aus zahlreichen kleinen Wunden. Keine einzige war mehr als ein harmloser Kratzer, aber in ihrer Gesamtheit mußten sie ungeheuer schmerzhaft sein. Mit ungestümer Kraft hackte der Hüne nach mehreren Ranken, die sich um seinen Knöchel gewunden hatten. Torian konnte nicht einmal erahnen, wie es dem Dieb gelungen war, bis zu ihm vorzudringen. Er mußte wie ein Berserker unter den Pflanzen gewütet haben, doch jetzt war er am Ende seiner Kraft angelangt. Seine Augen waren blutunterlaufen und glasig, und sein Blick schien ins Leere zu gehen. Worte einer Torian unbekannten Sprache quollen über seine Lippen, und immer wieder deutete er entsetzt auf die Mitte der Lichtung, ohne daß es dort etwas Besonderes zu sehen gab. Torian ahnte, daß Garth ihm etwas Wichtiges mitteilen wollte, aber er verstand nicht, was.
Er konnte sich nicht länger auf den Dieb konzentrieren. Shyleens Warnschrei kam fast zu spät. Er fuhr herum und schlug noch in der Drehung zu. Zehn, zwölf Ranken züngelten wie ein lebender Wald aus Tentakelarmen auf ihn zu. Die Klinge durchtrennte einige. In unmöglich erscheinenden Windungen wichen die anderen dem Schwert aus, als handele es sich nicht um Pflanzen, sondern um intelligente Wesen. Sofort peitschten sie wieder auf ihn herab. Allein schon die Wucht des Angriffs brachte Torian ins Taumeln. Ein Dorn bohrte sich in seine Wange und riß die Haut noch weiter auf. Ein schmetternder Schlag traf sein Handgelenk und prellte ihm das Schwert aus den Fingern.
Als hätten sie nur darauf gewartet, rasten ein Dutzend weiterer Ranken heran. Ein harter Ruck an den Beinen ließ Torian endgültig zu Boden stürzen. Instinktiv riß er die Arme hoch, um seine Kehle und das Gesicht zu schützen, und er ignorierte den stechenden Schmerz, den der Biß der Dornen ihm zufügte. Das Gewicht der Pflanzenmonster preßte ihm die Luft aus der Lunge, und immer neue Stränge schoben sich heran und umklammerten ihn. Er packte eine Ranke, die sich über sein Gesicht wand, um sie wegzureißen. Ebensogut hätte er versuchen können, einen Berg mit bloßen Händen zu verschieben.
Garth und Shyleen hieben auf die Pflanzen ein, aber sie hatten keine Chance gegen sie. Die Ranken waren nicht besonders zäh und verdorrten, sobald sie abgeschlagen wurden, doch für jeden zerstörten Strang schoben sich zehn neue heran.
»Das Schwert!« brüllte Torian.
Garth versuchte die Waffe zu erreichen, doch wieder hatte Torian den Eindruck, als wären die Pflanzen intelligent und hätten die Gefahr erkannt. Sofort griffen sie ihn noch ungestümer an. Er packte sein Schwert mit beiden Händen und führte so schnelle Streiche, daß das Auge den Bewegungen der Klinge kaum noch zu folgen vermochte, aber trotz allem war sein Kampf aussichtslos.
Plötzlich tauchte ein weiterer Schatten in einer dunklen Kutte neben ihm auf. Mit bloßen Händen packte Cathar ein ganzes Bündel von Ranken, die sich um Torians Brust geschlungen hatten. Ohne sichtliche Kraftanstrengung riß er sie zurück. Unter der Berührung verdorrten die Pflanzen zu Staub. Der Magier packte das Schwert und warf es Torian zu, dann war er so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war.
Der Angriff – sofern man das Massaker, das die Pflanzenmonster anrichteten, überhaupt so nennen konnte – war in ihrer unmittelbaren Umgebung fast zum Erliegen gekommen. Nur zögernd huschten noch vereinzelte Ranken heran, zuckten jedoch jedesmal vor ihnen wieder zurück, so daß Torian Gelegenheit fand, sich umzusehen. Die Überlebenden hatten sich zu einem engen Kreis zusammengeschlossen und hieben mit aller Kraft, die ihnen Verzweiflung und Todesangst verliehen, auf die Dornenranken ein, doch konnte ihre Gegenwehr für die ungeheure Masse der Pflanzen nicht mehr als Nadelstiche darstellen. Für die Dauer eines Herzschlages hoffte Torian mit aller Inbrunst, daß all die vielen einzelnen Stiche ausgereicht hatten, sie zur Aufgabe zu zwingen.
Dann sah er, daß dem nicht so war. Ganz und gar nicht.
Im Gegenteil.
Die Pflanzen änderten lediglich ihre Taktik und räumten damit jeden Zweifel aus, daß ihnen tatsächlich eine fremde, gefährliche Intelligenz innewohnte. Der eigentliche Angriff begann erst. Kaum sichtbare, wellenartige Bewegungen liefen durch den lebenden Teppich. Die Masse hob und senkte sich wie im Rhythmus von Herzschlägen und schob sich ineinander. Dabei wuchs sie in unglaublichem Tempo in die Höhe und formte sich zu einer gewaltigen finsteren Woge, die jeden Augenblick über ihnen zusammenschlagen konnte.
In stummer Verzweiflung starrte Torian auf das unglaubliche Bild, schloß für einige Sekunden die Augen und kämpfte gegen das Gefühl der Resignation an. Seine Hände begannen zu zittern. Er krampfte die Finger um den Knauf des Schwertes, als ob er es zerbrechen wollte. Die Nägel schnitten schmerzhaft in sein Fleisch, doch er nahm es kaum wahr. Wie hatte er sich nur jemals auf diese wahnsinnige Expedition einlassen können? Die unheimliche Woge, die sich in einem wie mit dem Zirkel gezogenen Kreis von wenigen Schritten Durchmesser um sie herum erstreckte, hatte inzwischen mehr als Mannshöhe erreicht. Es schien, als hätte die Nacht am hellen Tag Gestalt angenommen und wäre zu eigenem Leben erwacht, um sie zu verschlingen. Sie waren bereits in eine unentrinnbare Falle geraten, kaum daß sie die Straße der Ungeheuer nur betreten hatten. Wie hatte er sich jemals einbilden können, alles zu überwinden, was die Schwarzen Magier im Laufe der Jahrtausende zu ihrem Schutz errichtet hatten?
»Komm her!« schrie Cathar und riß Torian damit aus der Erstarrung. »Komm zu mir, Torian. Schnell!«
Er hastete zu dem Magier. »Wir müssen eine Bresche durch den Wall schlagen«, rief er. »Wir müssen – «
»Schweig, du Narr.«
Cathar packte ihn und drehte ihn zu sich herum. Gleichzeitig tastete er mit der anderen Hand nach Torians Gesicht. Die gespreizten, spinnenartigen Finger preßten sich hart gegen seine Schläfen. Es war wie ein Blitz, der in seine Gedanken fuhr; unerwartet und grell und schmerzhaft und so warnungslos, daß Torian unwillkürlich zurückprallte und versuchte, die Hand zu heben, um den Griff des Magiers zu sprengen.
»Laß es«, stieß Cathar gehetzt hervor, »öffne deinen Geist.«
Torian wußte nicht, was der Magier vorhatte, nicht einmal, was er überhaupt tat, aber er sträubte sich nicht länger. Er schloß die Augen, doch es wurde nicht dunkel. Er sah Bilder, die so fremdartig waren, daß er im ersten Moment glaubte, sich in einer völlig anderen Welt zu befinden. Erst nach Sekunden begriff er, daß er immer noch die Lichtung sah, er sie jetzt aber durch Cathars Augen erblickte. Es gab keine Farben mehr, nur noch helle und dunkle Grautöne in allen denkbaren Schattierungen, die zugleich in ihr Gegenteil verdreht waren. Was dunkel sein mußte, war hell, und umgekehrt. Um Torian herum herrschte nachtschwarze Dunkelheit, aus der sich die Gestalten der anderen unscharf abhoben. Doch er nahm nicht nur die Schatten wahr. Vor ihm erstreckte sich ein Gespinst dünner, weißleuchtender Fäden, scheinbar wirr ineinander verwoben, doch je stärker er sich konzentrierte, um so deutlicher schälte sich ein kompliziertes, spinnennetzähnliches Muster aus der sinnverwirrenden Symmetrie, das an ein riesiges Speichenrad erinnerte. An zahlreichen Stellen kreuzten sich die Fäden und bildeten grell strahlende, pulsierende Knoten.
Torian zitterte vor Anstrengung und preßte die Hände gegen die Schläfen, aber genau wie Cathar folgte er dem Verlauf des Musters mit seinem Blick, bis er gefunden hatte, was er suchte. Die Fäden, die nichts weiter als die Dornenranken und Wurzelstränge darstellten, trafen sich alle an einem einzigen Punkt. Sie waren nicht voneinander unabhängige Wesen, sondern lediglich Tausende Ausläufer einer einzigen Riesenpflanze, deren pulsierendes Zentrum wie ein gigantisches Herz in der Mitte der Lichtung lag.
»Zerstöre es!« gellte Cathars Befehl. Torian hatte die Worte nicht normal gehört, sondern sie waren direkt in seinem Geist aufgeklungen.
Er schauderte, aber er hob sein Schwert und schleuderte es wie einen Speer. In steilem Winkel stieg es in die Höhe, erreichte seinen höchsten Punkt und senkte sich trudelnd wieder herab. Er spürte, wie Cathar den Flug wie mit unsichtbaren Händen beeinflußte, die Richtung ein wenig korrigierte und das Schwert genau ins Zentrum der strahlenden Helligkeit lenkte, dann konnte er es nicht mehr ertragen, mit dem Geist des Magiers verbunden zu sein. Er stieß ein ersticktes Keuchen aus, riß Cathars Hand von seinem Gesicht und taumelte zurück. Im gleichen Moment wurde die Welt um ihn herum wieder normal. Alles begann sich vor seinen Augen zu drehen. Er schwankte vor Schwäche und wäre gestürzt, wenn Garth nicht noch rechtzeitig zugegriffen und ihn aufgefangen hätte.
Ein dumpfes Beben lief durch die Masse der Pflanzen. In wildem Todeskampf peitschten sie noch einmal um sich, aber ihren Bewegungen fehlte schon jetzt die vorige Kraft. Dann, von einem Augenblick zum anderen, war es vorbei. Die Ranken erstarrten in der Bewegung und zerfielen in Sekundenschnelle zu Staub, nur vereinzelt zuckte noch ein Strang, bevor er sich ebenfalls auflöste. Ein Teppich aus grauer Asche bedeckte die Lichtung und wurde rasch vom Wind fortgewirbelt.
Torian nahm kaum noch etwas von dem wahr, was um ihn herum geschah. Was er während der wenigen Sekunden, die er mit Cathar verbunden gewesen war, erlebt hatte, war mehr, als sein Geist verarbeiten konnte. Die Welt des Magiers war für einen Menschen grenzenlos fremd, und der unweigerliche Preis einer längeren Vereinigung wäre der Wahnsinn gewesen. Rasende Kopfschmerzen peinigten ihn, und ihm wurde schwindelig. Er sank auf die Knie, kämpfte vergeblich gegen die Übelkeit an und übergab sich würgend. Es dauerte lange, bis die Kopfschmerzen verebbten und er sich mit Garths und Shyleens Hilfe wieder auf die Beine quälen konnte. Er taumelte auf Cathar zu und klammerte sich an der Kutte des Magiers fest, als die Schwäche ihn erneut übermannte.
»Was war das?« krächzte er. »Bei allen Dämonen, was hast du getan?«
Aber er bekam keine Antwort. Und im Grunde war es auch gar nicht nötig. Er wußte nicht einmal, ob er wirklich eine Antwort hören wollte.
»Nein!« sagte Shyleen zum wiederholten Male innerhalb der letzten Minuten und schüttelte ebenfalls zum wiederholten Male stur den Kopf. Die überlebenden Gardisten hatten sich in einem Halbkreis um sie gruppiert, die Schwerter in den Händen und den gleichen Ausdruck trotziger Entschlossenheit im Gesicht. Angst flackerte in ihren Augen. Sieben der Männer waren tot, und kaum einer war ohne Verletzungen davongekommen. Der einzige Trost war, daß sie die Pferde schnell wieder hatten einfangen können. Schon nach wenigen Metern hatten sich die aufgebrachten Tiere im Unterholz verfangen und nicht mehr weiter fliehen können. Aber die meisten von ihnen waren verwundet.
Torian wechselte einen raschen Blick mit Bard. Auch der Rattengesichtige war blaß geworden und hielt die Hand um den Schwertgriff gekrallt. Cathar stand mit vor der Brust verschränkten Armen zwei Schritte neben ihm, dicht am Waldrand. Er schien äußerlich völlig ruhig zu sein, doch Torian erkannte, daß er innerlich kochte.
»Ihr könnt allein weitergehen, wenn ihr unbedingt wollt«, fuhr Shyleen fort. »Keiner von uns wird euch mehr begleiten.«
»Und was ist mit dir?« Torian wandte sich an Garth, der bislang nur schweigend dagestanden hatte.
»Ich?« Garth schnaubte. »Ich finde diese ganze Diskussion ausgesprochen idiotisch. Ich will so schnell wie möglich und so weit wie möglich weg von hier.«
»Da siehst du es!« rief Shyleen.
»Aber da wir es nicht können, schließe ich mich Torian an«, fügte er hinzu.
»Idiot!« rief Shyleen wütend. »Genügt es nicht, wenn sich Torian mit diesem verfluchten Magier verbündet?«
»Ihr – « begann Torian, doch Cathar unterbrach ihn mit einer raschen Handbewegung.
»Narren!« sagte der Magier ruhig. »Torian und Garth scheinen die einzigen zu sein, die sich ihren Verstand bewahrt haben. Ihr wißt, daß ich euch vernichten könnte, hier, auf der Stelle.«
»Dann versuch es«, entgegnete Shyleen hitzig. »Wir werden ja sehen, ob du wirklich so stark bist, wie du behauptest, Cathar.«
Cathar lächelte, aber es war nicht sehr viel Humor in diesem Lächeln. »Es wäre völlig unnötig, meine Kraft zu verschwenden«, erklärte er. »Meinetwegen geht. Ich werde euch nicht hindern. Aber ich fürchte, ihr werdet nicht sehr weit kommen.«
»Wie weit wir mit dir kommen, haben wir ja gesehen!« hielt ihm einer der Männer vor.
»Zehnmal weiter als ohne mich«, fuhr Cathar ungerührt fort. »Ich gebe zu, daß ich auf diesen Angriff nicht gefaßt war, weil ich mich zu sehr auf den Wald konzentriert habe. Ihr habt es allein mir zu verdanken, daß wir diese Lichtung überhaupt erreicht haben.« Er fuhr herum und deutete auf den Wald. »Seht!«
In den ersten Sekunden geschah gar nichts. Dann lief ein langsames, schwerfälliges Beben durch die graugrüne Wand. Einige Zweige bewegten sich plötzlich anders als zuvor, stärker, als daß allein der leichte Wind dafür verantwortlich sein konnte. In absurden Drehungen und Windungen bogen sie sich herab und nach vorne, griffen wie mit rauchigen Armen nach den Menschen auf der Lichtung.
»Hör auf«, stöhnte Torian.
»Ich habe aufgehört«, erwiderte Cathar. »Was ihr seht, ist die wahre Natur des Waldes. Er würde euch binnen weniger Augenblicke verschlingen, wenn ich ihn nicht mehr bändige.« Er machte erneut eine Handbewegung, und die Bewegungen des Waldes hörten auf. Die Pflanzen wurden wieder zu dem, was sie waren: eine unheimliche, von flüsternden Stimmen erfüllte Mauer um sie herum. Das mörderische Eigenleben, das sie gerade noch erfüllt hatte, war wieder erloschen. Nein, nicht erloschen, dachte Torian schaudernd. Gebändigt, und nur für kurze Zeit.
»Nun?« fragte Cathar. »Wollt ihr immer noch umkehren?«
Shyleen starrte ihn haßerfüllt an, und einen Moment lang sah es so aus, als ob sie sich trotz allem auf den Magier stürzen wollte. Aber der gefährliche Augenblick verstrich.
Cathar maß die stumm dastehenden Gardisten noch einmal mit einem langen, verächtlichen Blick, dann griff er nach den Zügeln seines Pferdes, und nach kurzem Zögern taten es ihm die anderen gleich. Torian atmete erleichtert auf. Shyleen starrte ihn fast haßerfüllt an, aber auch sie sträubte sich nicht länger, sondern folgte ihnen, wenn auch mit dem finstersten Gesicht, das sie zustande bringen konnte.
Schon bald darauf hieben sie wieder mit ihren Schwertern auf das Unterholz ein und bahnten sich ihren Weg; schneller noch als zuvor. Die Angst trieb sie voran. Torian sah, daß die Gardisten immer wieder die Köpfe wandten und zurückstarrten, aber die Ranken folgten ihnen nicht, und auch der Wald blieb ruhig, sah man von dem ununterbrochenen bösen Flüstern ab, das sich für Torian immer mehr wie leise Stimmen anhörte.
Sie brauchten eine knappe Stunde, um das andere Ende des Waldes zu erreichen; eine Stunde, die ihnen jedes bißchen Kraft kostete, die sie noch aufbringen konnten. Dann plötzlich wurde es vor ihnen hell, und in einer geraden, wie mit dem Lineal gezogenen Linie ging der Wald in Wüste über.
Ohne daß es eines Befehls bedurfte, sprangen die Gardisten auf ihre Pferde und preschten los. Erst als sie sich zwei Meilen vom Wald entfernt hatten, befahl Torian eine Rast. Erschöpft ließen sich die Menschen zu Boden sinken. Viele schliefen auf der Stelle ein.
Vor ihnen erstreckte sich die Staubwüste, eine lebensfeindliche Einöde aus Sand und Felsen, silbernen Spiegelungen und tanzender Weite, die am Horizont mit dem Himmel verschmolz und sich noch Hunderte von Meilen dahinter fortsetzte, bis weit in das Bergland von Scrooth hinein. Der Wind hatte gedreht und wehte ihnen nun wieder entgegen: eine sanfte Brise, die Sand und feinen Staub herantrug und die Luft mit einem unheimlichen, an- und abschwellenden Röhren und Raunen erfüllte, wie das Geräusch zahlloser horniger Käferbeine, die sich aneinander rieben; da und dort ein helles Klirren, wenn Metall scharrte, das Schnauben von Pferden, Stimmfetzen, Gemurmel und das Rascheln von Stoff.
Torian hörte nichts von alledem. Sein Blick war nach Norden gerichtet, in die Staubwüste hinein, die er noch stärker als die meisten anderen Einwohner Caracons hassen gelernt hatte. Sein Herz schlug sehr langsam und schwer, und seine Lippen waren trocken, obwohl er vor wenigen Minuten erst aus der Feldflasche getrunken hatte. Irgendwann hörte er leise Schritte. Bard trat zu ihm und setzte sich unaufgefordert neben ihn.
»Die erste Hürde hätten wir genommen«, bemerkte er.
Widerwillig sah Torian auf. »Ja«, murmelte er. »Und sieben Männer sind bereits tot.«
»Aber wir haben den Flüsterwald überwunden, vielleicht die ersten Menschen, die das geschafft haben.«
»Soll ich vielleicht stolz darauf sein?«
»Es wäre ein Grund. Aber das Schlimmste liegt noch vor uns. Irgendwo in der Wüste liegt der Berg, von dem aus sich eine Brücke zur Schattenburg spannt. Von nun an werden wir unsere Vorräte und vor allem unser Wasser streng rationieren müssen. Aber das ist wohl noch der geringste Anlaß zur Sorge. Die Wüste selbst ist harmlos.«
»So?« fragte Torian gedehnt. »Du kennst die Wüste nicht besonders gut, nicht wahr?«
»Nein«, gestand Bard. »Ich habe fast mein ganzes Leben in Armar verbracht. Aber dafür bist du ja da.«
»Nur weil ich die Staubwüste schon einmal durchquert habe? Du solltest sie nicht unterschätzen«, warnte ihn Torian beinahe zornig. »Glaube mir, sie ist nicht nur ein Stück leerer Erde, auf dem zufällig Sand liegt. Das haben schon viele geglaubt. Die meisten sind jetzt tot.«
»Was ist sie dann?«
Torian schnaubte. »Sie ist ein Ungeheuer«, stieß er hervor. »Eine Bestie, wie du sie dir schlimmer nicht vorstellen kannst, auf ihre Art vielleicht tödlicher als die angeblichen magischen Fallen auf der Straße der Ungeheuer. Garth und ich sind ihr einmal mit viel, viel Glück entkommen. Ich möchte ihr ungern Gelegenheit geben, das Versäumte nachzuholen. Sie wird uns alle verschlingen, wenn wir sie unterschätzen und einfach so hineinmarschieren. Sie wartet nur auf uns.«
Bard schwieg einen Moment und ließ seinen Blick über die sandige Einöde wandern. Torians Worte hatten ihn offenbar nachdenklich gestimmt. »Du sprichst von ihr, als würde sie leben«, sagte er leise.
»Das tut sie auch!« bestätigte Torian.
»Aber du sprichst in einem Ton von ihr, in dem man über einen Feind spricht. Und du übertreibst gewaltig. Diesmal sind die Voraussetzungen anders als während deiner Reise nach Radon. Wir haben genügend Proviant und Wasser für Wochen mit. Wenn die Wüste uns aufzuhalten versucht, dann werden wir sie bezwingen. Wir können sie uns unterwerfen.«
»Unterwerfen?« Torian stieß ein bitteres Lachen aus. »Du weißt nicht, wovon du sprichst. Du hast recht, ich kenne die Staubwüste, und ich hasse sie. Ich übertreibe nicht, eher das Gegenteil. Ich fürchte sie wie die Pest – gerade weil ich sie kenne. Sie ist ein Ungeheuer, eine blutrünstige Bestie, die sich nur unter einem Mantel von Stille und Leblosigkeit verbirgt. Aber in Wahrheit bleibt sie ein Monstrum. Es ist Mord, auf gut Glück hineinzumarschieren.«
»Wir marschieren nicht auf gut Glück los, das weißt du«, tadelte Bard. »Und uns bleibt keine andere Wahl, also bringt uns diese Diskussion nicht weiter. Laß uns aufbrechen. Bevor wir unser Nachtlager aufschlagen, möchte ich möglichst weit von diesem Wald weg sein.«
Torian nickte schwerfällig. Er stand auf und wollte zu seinem Pferd gehen, doch der Rattengesichtige hielt ihn am Arm zurück.
»Auf ein Wort noch«, bat er. »Ich weiß, daß du mich nicht leiden kannst, Torian, aber ich möchte nicht, daß du mich für einen Speichellecker Cathars hältst. Ich unterstütze ihn nur, weil ich glaube, daß er das Richtige tut. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß ich sein Sklave bin. Ich möchte, daß du das weißt.«
Einen Moment lang starrte Torian ihn verwirrt an, dann riß er seinen Arm mit einem Ruck los und gab das Zeichen zum Aufbruch. Unwilliges Raunen wurde laut, doch er kümmerte sich nicht darum, sondern stieg in den Sattel und wartete ungeduldig, bis auch die anderen aufgesessen waren. Er lenkte sein Pferd zu Shyleen und Garth.
»Irgendwie kommt mir diese Gegend bekannt vor«, bemerkte der Dieb. Es klang nicht halb so spöttisch, wie es klingen sollte. »Und irgendwie habe ich schlechte Erinnerungen an diese Wüste.«
»Immerhin hast du überhaupt welche«, gab Torian knapp zurück. »Bleibt ein wenig zurück und achtet darauf, daß keiner der Männer Dummheiten macht. Diese Narren scheinen alle nicht recht zu wissen, worauf sie sich einlassen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, sprengte er los und setzte sich an die Spitze der Kolonne. Cathar schloß zu ihm auf, doch anders als befürchtet, versuchte der Magier nicht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, sondern gab nur mit einer knappen Handbewegung die Richtung an, an die sie sich halten mußten. Sie ritten langsam, und Torian hob eine Hand vor das Gesicht, damit die heranwehenden Staubschleier ihm nicht die Sicht nahmen, aber sie kamen trotzdem nicht gut voran. Der Sand war hier so fein, daß die Pferde bei jedem Schritt bis weit über die Fesseln in den Boden einsanken, und wie es aussah, würde das Tempo ihres Vorwärtskommens eher noch sinken.
Mit jedem Schritt, den sie sich weiter nach Norden bewegten und damit tiefer in die Wüste eindrangen, fühlte sich Torian unsicherer. Es war keine Angst vor dem Tod oder den namenlosen Schrecken, welche die Straße der Ungeheuer Shyleens düsteren Schilderungen zufolge für sie bereithalten mochte, sondern eine völlig andere, gestaltlose Art von Furcht, die mit dem Wind herantrieb, sich auf dürren Spinnenbeinen in seine Seele schlich und sie vergiftete. Eine Furcht, gegen die er wehrlos war. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie wirklich etwas mit der Schattenburg zu tun hatte. Vielleicht war es einfach die Angst vor der unergründlichen Art von Leben, das dieser Wüste innewohnte und das er Bard – anscheinend mit wenig Erfolg – zu erklären versucht hatte.
Die Hitze wurde bald schon zu ihrem ärgsten Feind. In der mittäglichen Sonne wurde die Staubwüste zu einem einzigen, gewaltigen Glutkessel, und nach einer halben Stunde sah Torian ein, daß sie nicht mehr weiterreiten konnten. Es wäre Mord gewesen, die Männer voranzutreiben. Das Kribbeln in seiner Schulter hatte sich verstärkt, und noch stärker als zuvor – so stark, daß es ihn selbst erschreckte – spürte er den Drang, die Schattenburg zu erreichen, ohne daß er wußte, woher dieses Verlangen kam und was er dort eigentlich wollte, außer den Parasiten loszuwerden. Dennoch war es sinnvoller, jetzt schon ein Lager zu errichten und erst in der Nacht den Marsch fortzusetzen.
Schweren Herzens gab er den Befehl dazu.
Zwei Tage und Nächte lang zogen sie durch die Wüste, ohne daß etwas geschah, was für sie Gefahr bedeutete. Gelegentlich wies Cathar auf Fallen hin, auf die sie eigentlich hätten treffen müssen, die aber offenbar wirkungslos waren, da sie von der Schattenburg aus nicht mehr überwacht wurden. Glücklicherweise ersparte er sich eine genauere Beschreibung dessen, was sie andernfalls erwartet hätte.
Sie ritten fast nur noch nachts. Die Kälte war leichter zu ertragen als die Gluthitze der Tage, während der sie in ihren Zelten geschützt schliefen. Allmählich stieg Torians Zuversicht wieder, und auch die Soldaten wirkten nicht mehr ganz so niedergedrückt. Selbst Shyleen hatte ihren Widerstand aufgegeben, zumindest protestierte sie nicht mehr wie bisher gegen jeden Befehl.
Gegen Ende der dritten Nacht, als sie ihr Lager bereits wieder im Schatten eines der niedrigen, in diesem Teil der Staubwüste typischen Tafelberge aufgeschlagen hatten und Torian sich in sein Zelt begeben hatte, wehte plötzlich ein gellender Schrei an sein Ohr, seltsam dünn und weit entfernt in der klaren Nachtluft, bis er nach einigen Sekunden ebenso abrupt abbrach. Die Stille, die ihm folgte, war beinahe noch schrecklicher, aber sie währte nur eine Sekunde. Dann begann eine zweite Stimme loszuheulen, gleich darauf eine dritte und noch eine vierte.
Torian fuhr hoch und lief aus dem Zelt. Irgendwo vor ihm, verborgen hinter den Schatten der Nacht, bewegten sich Körper, harte Stiefelsohlen trampelten über den Sand, Männer riefen aufgeregt durcheinander, Metall klirrte. Und dazwischen gellten immer noch diese entsetzlichen, nicht enden wollenden Schreie.
Er rannte weiter, aber eine Gestalt vertrat ihm den Weg. Es war Bard. »Bleib hier«, rief der Rattengesichtige hastig.
Torian wollte ihn einfach aus dem Weg schieben, aber Bard stand wie ein Fels da. Er wirkte sehr entschlossen und entwickelte Kräfte, die Torian ihm nicht zugetraut hätte. Er begriff, daß Bard nötigenfalls sogar Gewalt anwenden würde, um ihn am Weitergehen zu hindern. Das Schreien dauerte noch einige Sekunden an, bevor es abbrach, doch diesmal wurde es nicht still.
»Was geht dort vorne vor?« fragte Torian scharf. »Werden wir angegriffen?«
Bard zögerte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. Trotz der herrschenden Dunkelheit konnte Torian deutlich den Schrecken sehen, der in seinem Gesicht geschrieben stand. »Nein«, flüsterte er. »Kein… Angriff. Es ist… Einige Männer haben sich von ihren Zelten entfernt und…« Er verstummte, starrte einen Moment lang aus weit geöffneten Augen ins Nichts und schien in sich hineinzulauschen, dann fuhr er herum. »Also gut«, keuchte er. »Komm mit.«
Sie liefen los. Im Lager war längst ein heilloses Chaos ausgebrochen. Die Männer drängelten sich am Fuße der mächtigen, sanft ansteigenden Düne, die das Lager nach Norden begrenzte. Dünne, aufgeregte Stimmen hallten durch die Nacht. Garth und Shyleen drängten die Männer zurück. Torian und Bard mußten sich mit Gewalt eine Gasse durch die Menge bahnen.
Als sie den Fuß der Sanddüne erreichten, verstand Torian den Schrecken des Rattengesichtes. Cathar kniete im Sand, und vor ihm lagen die Leichen von vier Soldaten. Ihre Kehlen waren durchgeschnitten.
In dem Moment, in dem Torian neben ihnen auf die Knie sank, erhob sich Cathar, nahm eine Handvoll Sand auf und wischte damit das Blut von der Klinge seines Schwertes. Voller Entsetzen begriff Torian, daß er es gewesen war, der diese vier Männer getötet hatte. Eine Sekunde lang starrte er den Magier in ungläubigem Schrecken an, dann eilte er weiter, blieb aber sofort wieder stehen, als Cathar hastig die Hand hob.
»Geh nicht weiter«, befahl der Magier, »oder dir geschieht dasselbe wie diesen vier.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Toten. In seinen Augen glomm Bedauern auf. »Es gab keine Rettung mehr für sie.«
»Aber was… was ist geschehen?« stammelte Torian hilflos.
»Eine Falle«, antwortete Cathar. »Diese Narren haben sich zu weit vom Lager entfernt.« Er zuckte gleichmütig die Achseln.
»Was weiß ich, was sie hier wollten.«
Instinktiv sah sich Torian um. Die Wüste lag reglos und still vor ihnen, so wie sie sich die ganze Zeit über präsentiert hatte.
»Komm.« Cathar streckte die Hand aus. »Das beste ist, ich zeige es dir, dann wirst du begreifen. Geh weiter. Aber langsam.«
Zögernd gehorchte Torian, überwand seine Abscheu und griff nach der spinnenartigen Hand des Magiers. Er trat einen Schritt vor, doch nichts geschah. Sein Blick heftete sich auf die Gesichter der vier Toten. Aus ihren gebrochenen Augen starrte ihm der blanke Wahnsinn entgegen, ein Entsetzen, das menschliche Vorstellungskraft überstieg. Er verstand plötzlich, daß es wirklich ein Akt der Barmherzigkeit gewesen war, als Cathar sie getötet hatte, auch wenn er immer noch nicht begriff, was geschehen war.
Torian zögerte erneut, umfaßte instinktiv Cathars Hand noch fester und machte einen weiteren Schritt.
Im gleichen Moment bewegte sich einer der Toten.
Torians Herz schien einen entsetzlichen Sprung zu tun. Eine eisige Hand legte sich um seinen Nacken und glitt kribbelnd seinen Rücken herab.
Der Mann war eindeutig tot! Aber er bewegte sich! Langsam, unendlich langsam richte er sich auf, hob die Hände und starrte Torian aus seinen gebrochenen Augen an. Sein Mund klaffte wie eine geschlitzte Wunde. Etwas Schwarzes, Glitzerndes schien sich darin zu winden. Und dann begann er zu sprechen!
Du hast mich umgebracht, Torian! krächzte er mit entsetzlich verzerrter, quäkender Totenstimme. Du hast uns belogen, als du uns Schutz versprachest. Cathars Weg führt nur in den Tod!
Und mit einem Male sprachen auch die anderen, stimmten in den grauenhaften, monotonen Singsang des lebenden Leichnams ein, schrien immer und immer wieder die gleichen Worte: Du hast uns getötet, Torian!
Torian wollte zurückweichen, aber das Grauen lähmte ihn. Unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren, starrte er die furchtbaren Gestalten an. Entsetzen breitete sich in seinen Gedanken aus, ein Schrecken, der alles überstieg, was er jemals erlebt hatte.
Aber das Grauen hatte seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Toten veränderten sich. Ihre Gesichter zerfielen, wurden alt und zerbröckelten mit ungeheurer Geschwindigkeit. Was sonst Monate und Jahre dauerte, geschah in Sekunden. Ihre Haut wurde grau, riß auf und zerfiel zu zeitgewobenem Staub. Aber darunter kam nicht der Totenschädel eines Menschen zum Vorschein, sondern eine neue, grauenhafte Fratze mit einem scharfkantigen Papageienschnabel, dessen Klicken Torians Nerven fast zum Zerreißen brachte, und einem zyklopischen, rotleuchtenden Auge, in dem ein höhnischer Triumph loderte.
Sie sind mein! kicherte die Fratze, jetzt gehören sie mir. Du hast sie betrogen und mir zum Geschenk gemacht. Ich danke dir dafür, und bald gehörst auch du für alle Zeiten mir. Du weißt, was ich bin? Ich bin der Parasit in deiner Schulter, und es dauert nicht mehr lange, bis wir ganz eins geworden sind.
Der Sand stob auf. Nacktes Entsetzen überschwemmte Torians Denken, schuppenhäutige Dämonenhände griffen nach seinen Beinen, klammerten sich mit furchtbarer Gewalt daran fest und versuchten, ihn in den Sand herabzuzerren, den Sand und etwas Entsetzliches, Ewiges, das darunter bereits auf ihn lauerte.
Er schrie gellend auf, spürte, wie Cathar mit einem hastigen Schritt zurückwich und ihn dabei mitriß, und –
Und dann war es vorbei.
Von einer Sekunde auf die andere war der Sand wieder glatt, die chtonische Fratze und die Hände verschwunden, und die Toten lagen wieder so da, wie sie niedergestürzt waren, unverändert.
»Bei Ch’tuon, was… was war das?« keuchte Torian. Er versuchte vergeblich, die entsetzlichen Bilder aus seinem Geist zu verdrängen. »Was war das?« flüsterte er noch einmal.
»Dasselbe, was diesen Männern passiert ist«, erwiderte Cathar mit einer Geste auf die Toten. »Und was uns allen passieren würde, wenn wir weitergingen. Es ist eine Falle, die noch nicht ausge…«
Eine plötzliche Windbö schlug ihm die weiteren Worte von den Lippen. Die Bö war so heftig, daß sie Torian von den Füßen riß, in den Sand schleuderte und seinen Schreckensschrei verschluckte.
Er rappelte sich wieder auf, blieb einige Sekunden lang reglos stehen und starrte an Cathar vorbei, die Augen vor Schrecken weit aufgerissen. Dann rannte er einige Schritte, so schnell er nur konnte, warf sich in den Schutz eines Felsens und barg den Kopf in den Armen.
Hinter ihm heulte der Urgroßvater aller Stürme heran.
Der Sturm hatte eine Stunde vor Sonnenaufgang begonnen. Er war ohne jede Vorwarnung losgebrochen, und mittlerweile war sich Torian ziemlich sicher, daß er innerhalb der nächsten fünf Jahre nicht mehr aufhören würde. Wenn ihn sein Zeitgefühl nicht völlig trog, mußte es fast Mittag sein, aber rings um sie herum herrschte tiefste Nacht. Der Himmel spannte sich wie ein Tuch aus brodelnder Schwärze über der Wüste; so tief, daß Torian glaubte, ihn berühren zu können, wenn er nur die Hand ausstreckte. Nur ab und zu zuckte ein greller Blitz auf und tauchte die felsige Landschaft in unheimliches, flackerndes Licht, und der Sturm erfüllte die Luft mit einem ungeheuerlichen Heulen und Brüllen, als hätten sich sämtliche Geschöpfe Ch’tuons zu einem apokalyptischen Chor zusammengefunden, um eine Hymne auf den Weltuntergang anzustimmen. Staubfein zermahlener Sand prasselte auf den Felsen, hinter den Torian sich geflüchtet hatte, verfing sich in seinem Haar, in seiner Kleidung, in seinem Mund und seinen Augen, in seinen Ohren und seiner Nase. Vorsichtig hob er den Kopf, schirmte die Augen mit der Hand ab und spähte für einen kurzen Moment hinter seiner Deckung hervor.
Der Sturm hatte ihr Lager innerhalb einer einzigen Minute so gründlich zerstört, daß jede Feuerechse vor Neid erblaßt wäre, hatte die Überreste in einer weiteren Minute auf tausend Quadratmeilen verteilt und alles unter Tonnen und Tonnen von Sand begraben. Und er hatte ihre Pferde samt einem Gutteil der Ausrüstung auf Nimmerwiedersehen verschluckt und die fast mannstiefe Senke, in der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, derart mit Sand zugeschaufelt, daß sie bis an die Hälse darin versunken wären, hätten sie den Fehler begangen, sich auf den Schutz des felsigen Randes zu verlassen. Ein totes Pferd flog wie ein Geschoß heran, prallte gegen einen Felsen und blieb davor liegen. Binnen weniger Sekunden war es unter einem Hügel aus aufgeschüttetem Sand verschwunden.
Wieder wetterleuchtete es über ihnen, und wahrscheinlich erfolgte auch gleich darauf ein Donnerschlag, der aber im Heulen und Brüllen des Sturmes unterging. Immerhin sah Torian in dem kurzen, weißblauen Flackern die verschwommenen Umrisse eines Menschen, der sich nur wenige Schritte neben ihm in den Schutz eines Felsens duckte. Vorsichtig erhob er sich hinter seiner Deckung, wartete ab, bis der Sturm für einen Moment innehielt – freilich nur, um danach mit doppelter Wucht wieder losschlagen zu können –, und rannte los.
Es waren nur wenige Schritte; nicht einmal zehn Meter. Trotzdem hätte er es um ein Haar nicht geschafft. Eine gewaltige Bö packte ihn, als er drei Viertel der Strecke hinter sich gebracht hatte, hob ihn wie ein Blatt vom Boden hoch und schleuderte ihn drei, vier Meter weit durch die Luft. Wäre er auf Felsen statt auf weichen Sand gestürzt, hätte er sich zweifellos sämtliche Knochen im Leibe gebrochen, aber auch so kostete es ihn seine letzte Kraft, sich auf Hände und Knie hochzustemmen und in den Schutz des nächsten Felsens zu kriechen.
Der Umriß, den er im Licht des Blitzes bemerkt hatte, war Shyleen. Ihre Hand streckte sich ihm entgegen, als er auf den Felsen zurobbte, packte die seine und zog ihn mit erstaunlicher Kraft in die Deckung des Steines. Er nickte dankbar. Zum Sprechen fehlte ihm der Atem. Außerdem hätte das Heulen des Sturmes ohnehin jeden Laut verschluckt, denn als Shyleen den Mund öffnete und irgend etwas schrie, drang nicht ein Wort an seine Ohren, so daß er nur verständnislos mit den Schultern zucken konnte. Er starrte sie an und versuchte, die Worte von ihren Lippen abzulesen. Shyleen packte seine Hand. Ihr Griff war so fest, daß Torian vor Schmerz die Zähne zusammenbiß. Mit der anderen Hand deutete sie auf den Berg hinter ihnen, dessen Flanke annähernd lotrecht über ihnen in die Höhe ragte, aber alles, was mehr als sechs oder sieben Meter entfernt war, verlor sich in tobender Bewegung und irrsinnig tanzenden Sandschwaden. Wieder bewegte Shyleen die Lippen, und diesmal glaubte Torian ihren Mund das Wort Höhle formen zu sehen. Sie wartete nicht mehr ab, ob er verstanden hatte, sondern sprang auf die Füße, fuhr herum und zerrte ihn einfach hinter sich her.
Während der ersten paar Dutzend Schritte war es beinahe einfach, denn der Sturm schob sie geradewegs vor sich her, so daß sie nicht einmal hätten stehenbleiben können, würden sie es gewollt haben. Die zweite Hälfte des Weges wurde zu einem Spießrutenlaufen durch die Hölle. Der schwarze Granit des Berges tauchte so unvermittelt vor ihnen auf, daß sie keine Möglichkeit mehr fanden, das Unglück zu verhindern. Shyleen versuchte stehenzubleiben, aber als hätte der Sturm nur auf diesen Augenblick gewartet, fauchte in diesem Moment eine brüllende Bö heran, riß sie von den Füßen und nach vorne und schmetterte sie gegen den Berg. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Mit haltlos rudernden Armen brach sie zusammen, hob schützend die Hände vor das Gesicht und keuchte gleich darauf ein zweitesmal vor Schmerz, als die nächste Bö auch Torian ergriff und ihn gegen sie schleuderte.
Benommen versuchte er aufzustehen, sah ein braunschwarzes Etwas auf sich zurasen und drehte hastig den Kopf, ehe der Sand, den die Sturmbö heranschleuderte, ihm das Gesicht wegschmirgeln konnte. Mit aller Kraft stemmte er sich in den Boden und war verzweifelt bemüht, irgendwo Halt zu finden, aber trotzdem wurde er in die Höhe und noch einmal gegen den Fels geschleudert, daß ihm auch das letzte bißchen Luft aus den Lungen gepreßt wurde und er das Gefühl hatte, jede einzelne Rippe in seiner Brust würde gleich mehrfach gebrochen. Er fiel, rollte instinktiv herum und barg den Kopf zwischen den Armen. Sein Mund und seine Nase waren voller Sand; seine Kehle brannte, als hätte er gemahlenes Glas eingeatmet. Er konnte nichts mehr sehen. Das Heulen des Sturmes stieg zu einem infernalischen Crescendo an. Blutige Kreise tanzten vor seinen Augen. Sein Herz raste zum Zerspringen. Erschöpft blieb er liegen und wunderte sich einfach nur darüber, daß er überhaupt noch lebte, bis er sich plötzlich gepackt und in die Höhe gerissen fühlte, diesmal aber nicht vom Sturm, sondern von menschlichen Händen. Mühsam öffnete er die Augen und erkannte ein verschwommenes, auf und ab hüpfendes Oval, das erst nach Sekunden zu einem rattenähnlichen Gesicht wurde. Mit einem Ruck zerrte ihn Bard vollends auf die Füße, stieß ihn grob herum und gestikulierte wild in Richtung des Berges.
Die schwarze Wand war noch näher gekommen, und während Torian hinter Bard um den Berg herumtaumelte, steigerte sich der Sturm zu unbeschreiblicher Wut, als spürte die Wüste, daß die sicher geglaubten Opfer ihr doch noch zu entkommen drohten. Gegenüber dem Weltuntergang, der nun über sie hereinbrach, nahm sich alles Vorangegangene wie ein lauer Sommerwind aus. Funken stoben aus dem Fels, wo der Sand mit unvorstellbarer Gewalt gegen den Granit gepeitscht wurde. Torian spürte den Sand wie unsichtbare Fäuste auf seinen Rücken einschlagen und verstand selbst am allerwenigsten, woher er die Kraft nahm, sich auf den Beinen zu halten und immer noch an Bards Seite weiterzurennen. Kopfgroße Steine regneten herab und zerbarsten rings um sie, und plötzlich hob sich dicht vor Torians Füßen der Boden und klaffte zu einem halbmeterbreiten, gezackten Schlund auf. Bard setzte mit einer verblüffend elegant anmutenden Bewegung über den Spalt hinweg und stürmte weiter. Torian folgte ihm mit einem verzweifelten Sprung, und dicht neben ihm landete Shyleen im Sand. Sofort rappelten sie sich wieder auf, und endlich sah Torian vor sich das niedrige, dunkle Loch im Berg.
Kurz bevor sie die Höhle erreichten, drehte er sich im Laufen um und blickte in den Sturm zurück. Aber er sah nur Dunkelheit. Das Lager, die Felsen, hinter denen sie Deckung gesucht hatten, die Staubwüste, der Himmel – alles war verschwunden. Statt dessen brodelte dort etwas Gigantisches, Schwarzes, das rasend schnell herankam, Sand und Steine und mannsgroße Felsen wie dürres Laub in die Höhe reißend und zermalmend.
Mit letzter Kraft steigerte Torian sein Tempo und ließ sich in die dunkle Öffnung hineinfallen. Sekundenlang blieb er keuchend liegen und spürte Hände, die ihn weiter nach hinten zerrten, dann konnte er aus eigener Kraft weiterkriechen und blickte sich um.
Die Höhle war im Grunde keine Höhle, sondern zumindest am Eingang nur ein Riß im Fels, so schmal, daß zwei Menschen mit Mühe dort nebeneinander stehen konnten, aber durch eine Laune der Natur war der Berg so geborsten, daß wenige Schritte weiter eine Biegung und dahinter ein einigermaßen geräumiger Hohlraum entstanden waren. Selbst die Wut des Sturmes reichte nicht aus, diesen Knick mitzumachen, so daß nur vereinzelte Staubschleier bis hierhin hereinwehten und sie sogar wieder atmen konnten, ohne jedesmal mehr Sand als Luft in Mund und Nase zu bekommen. Eine Unterhaltung hingegen war immer noch nicht möglich. Der Sturm schwoll zu einem wahrhaft apokalyptischen Inferno an, und sein Brüllen wurde so unerträglich, daß sie sich sogar hier drinnen die Ohren zuhalten mußten.
Irgend jemand hatte es tatsächlich geschafft, noch ein paar Fackeln zu retten und zu entzünden. Torian schaute sich um. Die Gesichter der Menschen waren grau und starr vor Angst, aber sie hatten sich alle in Sicherheit bringen können, wie Torian erleichtert feststellte. Er war am weitesten von der Höhle entfernt gewesen, als der Sturm losgebrochen war. Die anderen mußten sich schon wesentlich früher hierher geflüchtet haben. Der Orkan hatte sich mit ihrer Ausrüstung zufriedengegeben und kein einziges Menschenleben gefordert.
Garth hockte in einer Ecke und starrte trübsinnig vor sich hin. Als er Torians Blick auf sich ruhen fühlte, schaute er kurz hoch und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte, bevor er wieder in dumpfes Brüten verfiel. Eine Hand legte sich auf Torians Schulter. Er wandte den Kopf und blickte in Bards Gesicht, dessen dunkle Augen ihn besorgt musterten. Der Rattengesichtige mußte die schützende Höhle unter Einsatz des eigenen Lebens verlassen haben, um ihm zu helfen, wie Torian plötzlich bewußt wurde. Eine Woge von Dankbarkeit stieg in ihm auf und verdrängte für kurze Zeit sogar fast seine Abscheu vor dem Mann. Er nickte knapp zum Zeichen, daß mit ihm alles in Ordnung war.
Langsam ließ der Sandsturm nach; das Lärmen und Toben nahm allmählich ab, als Torian eine Bewegung neben sich wahrnahm. Er sah eine Gestalt, die dicht an der Biegung des Einganges stand und sich einige Schritte weit vorwagte, als der Sturm plötzlich noch einmal mit voller Kraft zuschlug. Die Gestalt, die er nun als Shyleen erkannte, wurde wie von unsichtbaren Händen gepackt und nach vorne gerissen. Verzweifelt versuchte sie, sich irgendwo festzuklammern, aber ihre Kraft reichte nicht aus.
Ohne zu denken, sprang Torian auf, sah aus den Augenwinkeln, wie Bard ihn zurückzuhalten versuchte, wich den Händen des Rattengesichtigen aus und rannte hinter Shyleen her. Noch bevor er den Eingang erreichte, wurde auch er vom Sturm gepackt und aus der Höhle hinausgewirbelt. Der Orkan hatte zwar einen großen Teil seiner Kraft verloren, war aber immer noch schlimmer als jedes Unwetter, das Torian bislang erlebt hatte. Sandkörner stachen wie Nadeln in seine Haut, und halbblind taumelte er vorwärts. Eine Bö fegte ihn von den Füßen und schleuderte ihn in den Sand. Sofort stemmte er sich wieder hoch und taumelte weiter. Ein Stück vor sich sah er eine Bewegung. Er schrie, doch der Sturm riß ihm die Worte sofort von den Lippen.
Offenbar hatte Shyleen völlig die Orientierung verloren, denn sie rannte genau in die falsche Richtung, immer weiter fort von der Höhle. Torian folgte ihr, so schnell es der Sturm und der Sand zuließen, der bei jedem Schritt unter seinen Füßen nachgab, so daß er tief einsank. Und als der Sturm für kurze Zeit wieder mit aller Wut auf ihn einschlug und ihn immer wieder zu Boden schleuderte, kroch er weiter hinter ihr her, wieder und wieder ebenso lauthals wie vergebens ihren Namen schreiend.
Er wußte nicht, wie lange er sich hinter Shyleen durch die Hölle aus Sand und Hitze und Schmerz quälte. Ein paarmal hätte er sie fast erreicht, doch sie bemerkte ihn nicht und stürmte wie eine Besessene weiter, obwohl der Sturm inzwischen merklich nachgelassen hatte. Irgendwann stürzte sie und blieb liegen, und Torian kroch die letzten Meter bis zu ihr. Sie lag reglos vor ihm. Behutsam, als wäre sie aus Glas, drehte er sie herum –
und im gleichen Moment löste sie sieh vor seinen Augen in Nichts auf!
Der Sturm hatte sich gelegt, aber dafür war die Hitze wieder ins Unerträgliche gestiegen und ließ jeden einzelnen Schritt zu einer Qual werden. Torian versank bis über die Knöchel im Sand; Staub wirbelte in dichten Schwaden rings um ihn in der Luft, und das erbarmungslos grelle Licht gaukelte seinen Augen Dinge vor, die nicht vorhanden waren. Er hatte Durst; gräßlichen Durst. Der Sand, durch den er stolperte, schien sich an seine Beine zu klammern und ihn festhalten zu wollen, und der Wind zerrte an seinem Haar und seinen Kleidern; ein heißer, böiger Wind, der seinem ohnehin ausgelaugten Körper auch noch das letzte bißchen Flüssigkeit zu entziehen trachtete. Überall war Sand, in seiner Kleidung, seinem Mund, der Nase, und sogar unter seinen Augenlidern scheuerten einige der winzigen, staubfeinen Körner. Irgendwo vor ihm erschien ein Berg inmitten der Wüste, als tauche er aus glasklarem sprudelnden Wasser auf. Die Luft, die längst schon wieder vor Hitze flimmerte, ließ den gigantischen Pfeiler aus schwarzgrauem Granit flimmern und hüpfen, ein Schemen, wenig realer als eine Fata Morgana, und in der klaren, heißen Luft über der Wüste in einer Entfernung, die nicht zu schätzen war: Es konnten genausogut zwei wie zweitausend Meilen sein. Es machte keinen Unterschied mehr – Torian hatte nicht die Kraft, weder das eine noch das andere zu schaffen.
Er wußte längst nicht mehr, wie lange er schon unterwegs war. Während der vergangenen Stunden hatten sich seine Muskeln zuerst in Pudding und dann in schmerzende, verkrampfte Bündel verwandelt, und jeder Schritt kostete ihn mehr Anstrengung als der vorangegangene. Die Sonne berührte als rot lodernder Flammenball den Horizont. Sie schien wie ein höhnisches Auge auf ihn herabzustarren und sich über seine sinnlosen Versuche zu amüsieren. Es mußte Abend sein, aber seinem Gefühl zufolge taumelte er bereits seit einem Jahrhundert durch die Wüste; mindestens. Als sich Shyleen vor seinen Augen aufgelöst und er die Illusion endlich durchschaut hatte, war es zu spät gewesen. Er war so oft im Kreis gelaufen, daß er sich unmöglich an die Richtung erinnern konnte, aus der er gekommen war, und der Sturm hatte alle Spuren wie mit einem riesigen Besen ausgelöscht. Alles, woran Torian sich hätte orientieren können, war der Berg gewesen, an dessen Fuß das Lager gelegen hatte, aber auch der war irgendwo in der endlosen Weite der Staubwüste verschwunden, und jetzt stolperte er durch eine gigantische Einöde aus glattgeschliffenen Felsen und Sand und Hitze und noch einmal Sand und noch mehr Hitze. Sein Herz schlug sonderbar schwer und langsam, und der Durst, der auf den ersten Meilen nur störend gewesen war, hatte die Grenze echten körperlichen Schmerzes längst erreicht und überstiegen.
Mit einemmal begann die Wüste neben ihm zu brodeln; der Sand kräuselte sich, warf Blasen und sprudelte wie kochendes Wasser, und plötzlich griffen schwarze peitschende Tentakel aus dem Gelbbraun des Bodens hervor, wickelten sich um seine Arme und Beine und zerrten mit grausamer Kraft an ihnen. Er schrie auf und warf sich zurück, aber der Griff der Tentakel war erbarmungslos und viel zu stark für ihn.
Keuchend fiel Torian auf die Knie. Er versuchte, den Sturz abzufangen, aber seine Hände versanken bis zu den Ellbogen im lockeren, staubfeinen Sand. Die Tentakel waren verschwunden, und er begriff, daß er sich wiederum nur etwas eingebildet hatte. Wäre er nicht zu schwach gewesen, hätte er in einem Anflug von Galgenhumor schallend gelacht, als ihm bewußt wurde, welch jämmerliches Ende er nehmen würde, und alles nur, weil er für einen kurzen Moment auf sein Gefühl gehört hatte, statt auf das, was ihm sein logisches Denken sagte. Es war zum Wahnsinnigwerden. Er hatte gegen die Schwarzen Magier und sogar die jahrmillionenalten Geschöpfe Ch’tuons gekämpft – und sie besiegt! –, Geschöpfe, deren Macht der von Göttern gleichkam. Und jetzt würde er hier erbärmlich verdursten, besiegt von einer Wüste, über deren Gefährlichkeit er nur zu gut Bescheid gewußt hatte. Er stieß ein trockenes Schluchzen aus.
Irgend etwas bewegte sich vor ihm; vielleicht eine Windbö, die mit Sand und Staub spielte, um ihn zu narren, vielleicht auch nur ein weiterer grausamer Scherz seines Unterbewußtseins, das ihm – warum auch immer – ganz offensichtlich den Krieg erklärt hatte. Aber dann wiederholte sich die Bewegung, sehr viel deutlicher als beim erstenmal, und diesmal war er sicher, daß es mehr als eine Illusion oder das Spiel von Wind und Sand war.
Mühsam erhob sich Torian – was sich als gar nicht so einfach erwies, denn der lockere Sand gab immer wieder unter seinen Füßen nach –, sah sich instinktiv nach allen Seiten um und näherte sich der Stelle, an der er die Bewegung ausgemacht zu haben glaubte. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er wieder an der Flanke eines der sonderbaren Geröllberge stand, die typisch für diesen Teil der Staubwüste waren. Offenbar hatte er ganz instinktiv diese Richtung eingeschlagen, um überhaupt irgendein Ziel zu haben und nicht blind von einer Sanddüne zur anderen zu stolpern.
Dicht vor ihm neigte sich der Boden in sanftem Winkel, und erst jetzt wurde Torian gewahr, daß er eine regelrechte Senke bildete, einen flachen, absolut gleichförmigen Trichter, an dessen tiefster Stelle der Sand vollkommen eben war. Irgend etwas an diesem Anblick alarmierte ihn, aber er wußte nicht, was, und wahrscheinlich wäre er in seinem gegenwärtigen Zustand ohnehin nicht mehr in der Lage gewesen, auf irgendeine Warnung seines Verstandes zu achten.
Einen Moment lang blieb er noch stehen und schaute sich um. Die Bewegung wiederholte sich nicht. Er trat bis ganz an den Krater heran, setzte behutsam einen Fuß auf die Trichterwand und prüfte die Festigkeit des Sandes. Sie war nicht gerade groß, würde ihn aber tragen, wenn er sich vorsichtig genug bewegte. Trotzdem schlitterte er mehr in den Trichter hinab als er ging.
Der Boden unter seinen Füßen vibrierte ganz sacht nur, aber doch gerade noch spürbar. Torian blieb abrupt stehen, rutschte auf dem feinen Sand aber noch ein gutes Stück weiter und fand erst Halt, als er beide Beine und die Spitze seines Schwertes in den Boden stemmte.
Für einen Moment.
Das Zittern wiederholte sich. Plötzlich drang ein tiefes, machtvolles Grollen und Knirschen direkt aus dem Boden hervor, und dann explodierte der Trichter. Eine Sandfontäne schoß zehn, fünfzehn Meter weit in die Höhe, und in ihrem Zentrum wuchs etwas Gewaltiges, Glitzerndes heran, bäumte sich mit einem furchtbaren, gleichzeitig zischelnden wie grollenden Laut auf und fiel krachend zurück in den Sand. Einen Moment lang glaubte Torian, daß seine Nerven ihm wieder nur etwas vorgaukelten, aber begriff sehr rasch, daß er alles andere als eine Illusion erlebte. Etwas Schlankes, Horniges zuckte wie eine Peitschenschnur in Torians Richtung, grub eine armlange Furche neben ihm in den Sand und zog sich wieder zurück. Entsetzt starrte er das Monstrum an. Die furchtbare Erschütterung hatte ihn von den Füßen gerissen und ein Stück weiter die Trichterwand hinabschlittern lassen, und noch immer regneten Sand und Staub auf ihn herab, aber trotzdem konnte er die Kreatur, die so urplötzlich aus dem Boden gebrochen war, deutlich erkennen. Und jetzt wußte er auch, woran der so harmlos erscheinende Trichter im Sand erinnert hatte. Nur kam diese Erkenntnis ein wenig zu spät…
Das fast mannslange Ding, das ihn aus faustgroßen Augen anstarrte, war nichts anderes als ein Ameisenlöwe, einer jener hinterhältigen Insektenfresser, die in kleinen Sandmulden hocken und darauf warten, daß ihnen Ameisen und andere Kriechtiere in die Falle laufen; eine Falle, die aus nichts anderem als eben diesem Trichter besteht, dessen Wände so fein zerkaut sind, daß der Sand kaum fester als Wasser ist und ein Entkommen daraus schier unmöglich wird. Nur daß dieses Exemplar dieser unfreundlichen Gattung halb so lang war wie ein ausgewachsener Mensch und über Mandibeln verfügte, die Torian mit einem freundlichen Zwicken den Arm abtrennen konnten…
Trotzdem schien das Ungeheuer zu zögern, einen Gegner von seiner Größe anzugreifen. Seine dunkelvioletten Augen musterten Torian mit stummer Wut, und die übermannslangen, dünnen Peitschenfühler, die beiderseits seines Maules aus dem Schädel wuchsen, zuckten nervös hierhin und dorthin und wirbelten den Sand auf. Aber es griff noch nicht an. Vielleicht war Torian ihm wirklich ein wenig zu groß als Zwischenmahlzeit, vielleicht war es auch nur irritiert, weil es noch nie eine Ameise mit Stiefeln und Lederwams gesehen hatte.
In jedem Fall schien Torian der Moment günstig, die Flucht zu ergreifen. Vorsichtig, um nicht auf dem lockeren Sand abermals den Halt zu verlieren und kopfüber zwischen die Zähne des Ungeheuers zu purzeln, stemmte er sich hoch und begann, rücklings den Trichter hinaufzukriechen. Genauer gesagt, er versuchte es. Der lockere Sand gab unter seinen Füßen nach wie Staub. Er fiel, schlitterte einen weiteren Meter in die Tiefe und kam mit einem entsetzten Keuchen wieder zum Stillstand. Der Ameisenlöwe stieß einen grollenden Laut aus. Seine chitingepanzerten Beine wühlten im Sand.
Panik stieg in Torian hoch. Er wälzte sich herum, krallte Hände und Füße in den lockeren Sand und begann mit verzweifelter Kraft, den Hang hinaufzuklettern. Ein Fehler, der ihn um ein Haar den Kopf gekostet hätte; im wortwörtlichen Sinne. Das Rieseninsekt war vielleicht zu dumm, um zu erkennen, daß er ganz und gar keine Ameise war – aber es war nicht zu dumm, seine reichlich lächerlichen Schwimmbewegungen als das zu erkennen, was sie darstellen sollten, nämlich als Flucht. Und es reagierte, wie ein Raubtier auf ein flüchtendes Opfer nun einmal reagiert. Die Bestie stieß ein fürchterliches Röhren aus und bäumte sich auf. Plötzlich klatschte einer ihrer Peitschenfühler auf Torian herab, bildete vor seinem Gesicht eine Schlinge und zog sich mit einem kurzen, harten Ruck zusammen. Hätte er nicht blitzartig den Kopf zwischen die Schultern gezogen und sich gleichzeitig wieder ein Stück nach unten rutschen lassen, wäre der Hunger des Ameisenlöwen wohl gesättigt gewesen. Torian fuhr herum, sah einen titanischen Schatten auf sich zufliegen und riß instinktiv sein Schwert in die Höhe. Ein heftiger Schlag traf seine Arme und trieb seine Ellbogen bis zu den Handgelenken in den Sand. Das Schwert wurde ihm entrissen.
Dann schien ein ganzer Berg auf ihn herabzustürzen. Die Luft wurde ihm aus den Lungen getrieben. Er sah nichts mehr. Drei, vier Sekunden lag er vollkommen reglos da, bis die Erkenntnis, daß er noch lebte, ganz langsam in sein Bewußtsein drang. Das Zischeln und Grollen des Ungeheuers hatte aufgehört, und statt dessen hatte sich eine fast unheimliche Stille über den Sandtrichter gebreitet. Vorsichtig öffnete er die Augen und blickte direkt in das weit aufgerissene Maul des Ameisenlöwen. Die Zähne befanden sich nur noch wenige Handbreit von seinem Gesicht entfernt. Die beiden Mandibeln hatten sich beiderseits seines Kopfes tief in den Sand gewühlt, bereit, zuzuschnappen und nachzuholen, was seinem Peitschenfühler mißlungen war.
Aber das Ungeheuer stellte keine Gefahr mehr dar. Es war tot. Sein eigener Sprung, mit dem es auf Torian gestürzt war, hatte das Schwert so tief in seinen Leib getrieben, daß die Spitze aus den zerborstenen Chitinplatten seines Rückens hervorragte. Es mußte auf der Stelle tot gewesen sein. Hätte es auch nur eine halbe Sekunde länger gelebt oder hätten sich seine Muskeln im Todeskampf noch einmal zusammengezogen…
Torian verscheuchte diese wenig erfreuliche Vorstellung aus seinen Gedanken, schob ächzend die Hände unter den gepanzerten Leib des Monstrums und wuchtete es hoch. Es war leichter, als er angesichts der ungeheuerlichen Größe vermutet hatte. Der Stoß reichte aus, den Kadaver in die Höhe und bis auf den gegenüberliegenden Trichterrand zu schleudern. In einer Wolke von stiebendem Sand und Staub schlitterte die Bestie hinab, schlug einen grotesken Purzelbaum und begann im lockeren Sand des Trichterbodens zu versinken; zusammen mit Torians Schwert, das noch immer in ihrem Leib steckte. Mit einem keuchenden Schrei sprang er hoch, stolperte ihr nach und riß die Waffe aus ihrem Körper, wobei er sorgsam darauf achtete, nicht auf den runden Fleck von Treibsand zu treten, in dem das tote Monstrum versank. Sonderbarerweise klebte nicht ein Tropfen Blut an der Klinge seines Schwertes.
Erst jetzt, als der erste Schrecken vorüber war und seine Gedanken wieder in den gewohnt logischen Bahnen zu laufen begannen, fiel ihm auf, daß dies bei weitem nicht alles war, was hier nicht stimmte. Das Ungeheuer war viel zu leicht gewesen, und obgleich die Klinge des Schwertes aus gehärtetem Stahl bestand, hätte sie den Chitinpanzer normalerweise nicht durchdringen können. Aber der Kadaver des Ungeheuers war auf Nimmerwiedersehen im Treibsand verschwunden, und er würde dieses Rätsel nicht mehr lösen können. Ebensowenig wie die Frage, wo dieser Alptraum von einem Ameisenlöwen herkam. Achselzuckend wandte er sich um, ließ sich behutsam auf Hände und Knie nieder und begann auf diese wenig elegante Art, die Trichterwand hinaufzukriechen. Es dauerte lange, bis er wieder auf sicherem Boden stand, und er war nicht sicher, ob es eine besonders kluge Entscheidung gewesen war, wieder hier heraufzukommen.
Er war nicht mehr allein. Wenige Schritte vor ihm krochen drei braunrote Ameisen aus einer Felsspalte. Es waren wahre Prachtexemplare von Ameisen, und sie waren ein wenig größer, als Formicide normalerweise werden. Um genau zu sein – jede einzelne von ihnen hätte eine prachtvolle Mahlzeit für den Ameisenlöwen abgegeben, dem Torian gerade mit Mühe und Not entkommen war…
Mit einem verzweifelten Sprung brachte er sich außer Reichweite der schnappenden Beißzangen und trat nach dem vordersten der Ungeheuer. Sein Fuß traf den Schädel des Insekts und zertrümmerte ihn wie eine Eierschale.
Fassungslos vor Unglauben blieb Torian mitten im Schritt stehen und starrte die tote Ameise an. So groß sie war, schien ihr Körper nicht wesentlich widerstandsfähiger als der einer normal gewachsenen Ameise zu sein. Sicher, er hatte mit der Kraft der Verzweiflung zugetreten, aber eine Ameise von der Größe eines Wolfes hätte – wären ihre Körperkräfte im gleichen Verhältnis mitgewachsen – mit Leichtigkeit ein ganzes Haus davontragen können!
Die beiden überlebenden Formicide nutzten den Augenblick seines Staunens, sich mit schnappenden Kiefern auf ihn zu stürzen. Die handlangen Beißzangen der einen schlossen sich um seinen Oberschenkel, während die andere ihn schlichtweg ansprang; ein Verhalten, das bei einer normalen Ameise einfach undenkbar war. Instinktiv riß er den linken Arm hoch, um sein Gesicht zu schützen, schlug mit der anderen Hand zurück und spürte, wie der Brustpanzer des Ungeheuers wie Glas zersprang. Mit zuckenden Beinen fiel es zu Boden. Torian fuhr herum, packte die Beißzangen der dritten Ameise, bog sie auseinander und brach beinahe versehentlich eine davon ab. Die Ameise sprang mit einem wütenden Zischen zurück und funkelte ihn an. Er zertrümmerte ihr den Schädel. Der ganze bizarre Kampf hatte nicht länger als eine halbe Minute gedauert. Torian zog sein Schwert aus der Scheide, packte die Waffe fester und drehte sich einmal im Kreis. Mißtrauisch musterte er den Felsspalt, aus dem die drei Bestien herausgekrochen waren. In den finsteren Schatten dahinter bewegte sich etwas Großes, Glänzendes, Krabbelndes. Aber wenn dort noch weitere Riesenameisen hockten, hatten sie offensichtlich aus dem Schicksal ihrer drei Artgenossen gelernt. Torian war beinahe enttäuscht, daß sich keines der Rieseninsekten mehr blicken ließ. Trotzdem beendete er seine Drehung und musterte aufmerksam die Umgebung, ehe er sich vor einer der Ameisen in die Hocke sinken ließ und sie vorsichtig mit der Spitze seines Schwertes anstieß. Ihr Körper rollte wie eine leere Hülle hin und her. Wie bei dem Ameisenlöwen zuvor war nicht ein Tropfen Blut zu sehen.
Dafür kroch eine fette, schwarzbehaarte Spinne aus dem zerborstenen Brustpanzer hervor. Eine eisige Hand schien über Torians Rücken zu fahren, als er das achtbeinige Kriechtier erblickte. Es sah aus wie eine Blutspinne, doch während die Ameisen und der Ameisenlöwe ins Gigantische vergrößerte Exemplare ihrer Art darstellten, war das Tier vor ihm nur die Miniaturausgabe einer Blutspinne, aber selbst dieses faustgroße Bündel aus schwarzen Haaren und Beinen reichte aus, unbeschreiblichen Ekel in Torian wachzurufen. Ihre ausdruckslosen Facettenaugen musterten ihn mit stummer Feindseligkeit.
Dann sprang sie ihn an. Wie ein pelziger Ball federte das widerliche Tier vom Boden hoch, verfehlte sein Gesicht um Millimeter und prallte gegen seine Schulter. Die Spinnenbeine hakten sich in den Stoff seines Wamses, und etwas Weiches, widerlich Flaumiges tastete über seine Wange und berührte seinen Mundwinkel. Ein stechender Schmerz zuckte durch Torians Wange, als die Spinne zubiß und ihr Gift in seinen Körper drang. Er schrie auf, warf sich zur Seite und schlug in heller Panik mit den Händen nach dem ekelhaften Tier. Er traf. Die Spinne wurde davongeschleudert, flog zwei, drei Meter weit durch die Luft und fiel mit einem sonderbar weichen Geräusch in den Sand. Einen Moment lang blieb sie benommen hocken, dann drehte sie sich herum und hielt aus blinzelnden Augen nach ihm Ausschau. Eines ihrer Beine war gebrochen; ein einzelner glitzernder Blutstropfen schimmerte in ihrem Fell, und die dünnen Fühler rechts und links ihres dreieckigen Insektenmaules zitterten erregt. Er brauchte all seine Kraft, den Ekel niederzukämpfen, der ihm die Kehle zusammenschnürte. Sein Gesicht fühlte sich besudelt und geschwollen an, wo ihn die Spinnenbeine berührt hatten, und wenn ihr Gift auch für einen Menschen ungefährlich war, so bereitete es ihm doch Schmerzen. Seine Lippe war taub, und allein der Gedanke, daß das leise Tasten, das er darauf verspürt hatte, die Berührung eines Spinnenbeines gewesen war, trieb ihn schier in den Wahnsinn. Wenn es etwas gab, das er wie die Pest haßte und gleichzeitig vielleicht noch mehr fürchtete als Ch’tuon und sämtliche Schwarzen Magier Caracons, dann waren es Spinnen. Wie jeder Mensch hatte auch er einen schwachen Punkt, etwas, bei dem ihm keine Logik und kein klares Überlegen mehr nutzten, und bei dem irgend etwas in ihm schlichtweg ausrastete. Bei Torian waren es Spinnen, und das nicht erst, seit er auf eine Blutspinne getroffen und von ihr als Brutplatz für ihr Junges ausgewählt worden war. Wenn er die Wahl hätte, mit einer Spinne oder einem schlechtgelaunten Berglöwen ein Zimmer teilen zu müssen, würde er wohl den Berglöwen vorziehen.
Und es war, als lese die Spinne seine Gedanken. Ganz langsam, das gebrochene Bein wie ein lästiges Anhängsel nachschleifend, kam sie näher. Ihre Beine bewegten sich in einem komplizierten Takt, der Torian an das gleichförmige Rudern einer Sklavengaleere erinnerte. Die Augen der Spinne glitzerten, und die winzigen Beißzangen rechts und links ihres Maules zitterten gierig. Für einen Moment drohte Torian vollends die Beherrschung zu verlieren. Eine Woge brüllender Panik überschwemmte seine Gedanken. Dann schien irgend etwas in ihm zu zerbrechen. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, stürzte er auf das Tier zu und stampfte es mit dem Absatz seines Stiefels in den Boden. Ein trockenes Knacken erklang, dann ein unbeschreiblich widerwärtiges, weiches Geräusch, als presse man einen vollgesogenen Schwamm aus. Mit einem gellenden Schrei sprang er zurück, den rechten Fuß, mit dem er die Spinne zertreten hatte, so weit von sich gestreckt wie möglich.
Es dauerte lange, bis Übelkeit und Furcht seine Gedanken soweit losließen, daß er sich seiner Umwelt wieder bewußt wurde. Sein Blick fiel auf die zersplitterte Hülle der Riesenameise. Sie war aufgebrochen, als hätte eine unsichtbare Kraft das glänzende Chitin von innen heraus gesprengt. Und aus dem gezackten Riß quollen weitere Spinnen: faustgroße schwarzbehaarte Spinnen.
Hunderte.
Und im gleichen Moment, in dem Torian mit einem krächzenden Schrei hochfuhr, formierten sie sich zu einer kribbelnden, schwarzen Armee und bewegten sich mit wirbelnden Beinen auf ihn zu. Ein, zwei Sekunden lang starrte er von fassungslosem Entsetzen gebannt auf den pulsierenden Chitinteppich zu seinen Füßen, dann warf er sich mit unartikuliertem Brüllen herum und begann zu rennen, so schnell er nur konnte.
Die Spinnen folgten ihm. Hunderte, wenn nicht Tausende der widerwärtigen, krabbelnden schwarzen Ungeheuer, und immer noch quollen mehr und mehr der ekelhaften Viecher aus dem Chitinpanzer der Riesenameise. Der winzige Teil seines Denkens, der noch zu logischer Überlegung fähig war, sagte ihm, daß das vollkommen unmöglich war; die Zahl der Tiere, die in dem leeren Panzer Platz gefunden hätten, war bereits um das Zehnfache übertroffen, und noch immer nahm der wirbelnde Strom kein Ende.
Aber dem anderen, weit größeren Teil seines Ichs war diese Logik herzlich egal. Die Spinnen waren da, ganz gleich, ob das nun nach allen Regeln des Verstandes möglich war oder nicht, und sie setzten ihm rasend schnell nach. Sein Vorsprung war auf vielleicht zwanzig Schritte angewachsen, und er dehnte sich beständig weiter aus. Selbst eine noch so wütende Spinne läuft nicht so schnell wie ein Mensch, dem die nackte Panik im Nacken sitzt. Aber es waren Tausende und Abertausende Tiere, und ihre Kräfte erlahmten nicht halb so rasch wie die seinen. Torians Atem ging schon jetzt so stoßweise und ungleichmäßig, daß er keuchte, und seine Beine schienen mit jedem Schritt schwerer zu werden. Zudem behinderte ihn der staubfeine Sand beim Laufen, so daß seine Kräfte mit fast jedem Schritt abnahmen.
Eine Ansammlung rundgeschliffener grauer Felsen tauchte vor ihm auf, und aus seinem Rennen wurde ein verzweifelter Zickzacklauf, der ihn abermals Kraft – und vor allem Zeit! – kostete, während die Spinnenarmee wie eine braunschwarze Flut einfach über die Felsen hinwegwogte und sein Vorsprung auf etwas weniger als die Hälfte zusammenschmolz. Der Anblick spornte ihn noch einmal zu größerer Schnelligkeit an. Er ignorierte die pochenden Schmerzen in seiner Brust, setzte mit einem Sprung, den er unter normalen Umständen niemals geschafft hätte, über einen weiteren Felsen hinweg – und versank bis zur Hüfte im Sand. Verzweifelt warf er sich zurück und gleichzeitig herum, streckte die Hände nach dem Felsen aus, über den er gerade hinweggesprungen war – und zog die Arme mit einem Schrei wieder zurück.
Auf dem Stein erschien der haarige Körper einer Spinne, dann eine zweite dritte, vierte, fünfte… Binnen Sekunden verschwand der halb mannshohe Felsbuckel unter einer schwarzen, wogenden Decke. Tausende ausdrucksloser Spinnenaugen starrten auf Torian herab. Ein furchtbares Rascheln und Zischen lag in der Luft. Mit verzweifelter Kraft versuchte er, sich aus dem Sand emporzustemmen, um den Spinnen zu entkommen. Es gelang ihm nicht. Seine Beine saßen fest, als würden in der Tiefe gierige Hände an seinen Füßen zerren.
Aber die Spinnen griffen auch nicht an, wenngleich ihre alleinige Anwesenheit ausreichte, Torian fast in den Wahnsinn zu treiben.
Rings um ihn erschienen weitere der widerwärtigen Insekten. Hunderte, schließlich Tausende, die einen dichten schwarzen Teppich bildeten, der ihn von allen Seiten umschloß. Aber keine einzige kam näher als einen halben Meter an ihn heran.
Und plötzlich begriff er auch, warum. Es war nicht seine Wenigkeit, die ihnen einen solchen Respekt einflößte – sondern der zwei Meter durchmessende Fleck von Treibsand, in den er zielsicher hineingesprungen war!
Etwas Unsichtbares, Weiches zerrte noch fester an seinen Füßen, und plötzlich glitt er eine Handbreit tiefer in den Sand. Er schrie auf, warf sich zurück und machte verzweifelte Schwimmbewegungen mit den Händen, aber alles, was er damit erreichte, war, noch tiefer in den Treibsand hineingezogen zu werden. Mit aller Kraft zwang er sich zur Ruhe. Sein Einsinken hörte dadurch zwar nicht auf, verlangsamte sich aber zumindest ein wenig. Sanfte Wellenbewegungen kräuselten die Oberfläche des Sandes. Einem unverständlichen Rhythmus gehorchend, huschten die Spinnen hierhin und dorthin. Das Zischeln und Rascheln, mit dem sie ihre haarigen Leiber aneinanderrieben, nahm zu, und auch der Zug an seinen Beinen wurde immer noch stärker. Wieder sank er ein Stück weiter in den Boden. Der Treibsand reichte ihm jetzt bis an die Achseln, so daß er die Arme heben mußte. Für einen Moment überlegte er ernsthaft, den Felsen zu ergreifen und sich lieber den Spinnen zum Kampf zu stellen, als hilflos im Sand zu ersticken, verwarf den Gedanken aber so rasch, wie er gekommen war. Er konnte es einfach nicht; alles in ihm schrie bei der alleinigen Vorstellung vor Entsetzen auf. Wieder erfolgte ein sanfter, aber ungemein kraftvoller Ruck an seinen Beinen, und erneut sank er ein Stück tiefer in den Sand ein.
»Torian! Wach auf!«
Die Stimme klang ein Stück vor ihm auf, und es war eine Stimme, die er kannte. Shyleens Stimme. Er fuhr hoch – wodurch er so weit in den Sand hineinglitt, daß dieser ihm jetzt im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals stand – und starrte aus schreckgeweiteten Augen in die Runde. Inmitten der Spinnenarmee war eine Gestalt erschienen, die Gestalt einer Frau mit dunklem Haar, die mit weit ausgreifenden Schritten auf ihn zugelaufen kam. Der lebende Teppich zu ihren Füßen schien sie dabei nicht im geringsten zu irritieren, denn sie rannte einfach weiter, ohne auch nur im Schritt innezuhalten.
»Wach auf!« schrie sie immer wieder. »So wach doch endlich auf!«
Aber die Angst hatte Torian viel zu fest in ihrem Griff, als daß er auch nur den Sinn dieser Worte begriff. Schreiend stemmte er sich noch einmal mit aller Gewalt gegen den saugenden Sand und streckte beide Arme in ihre Richtung. Shyleen kam herbeigerannt, stolperte plötzlich und fiel der Länge nach zwischen die Spinnen. Mit einer einzigen blitzartigen, wogenden Bewegung schloß sich die schwarze Decke über ihr.
Aber Torian blieb nicht einmal Zeit, einen Schreckenslaut auszustoßen, da sprang sie auch schon wieder auf, raste weiter und fiel dicht am Rande des Treibsandloches auf die Knie. Spinnen krabbelten über ihr Gewand, verfingen sich mit zitternden Beinen in ihrem Haar und tasteten nach ihrem Gesicht. Sie schien es nicht einmal zu merken, zumindest machte es ihr nichts aus. Mit einem verzweifelten Keuchen warf sie sich vor, faßte seine Hand und zerrte ihn mit einem unglaublich kraftvollen Ruck ein Stück aus dem Sand heraus. Ihre linke Hand griff nach seiner Schulter und krallte sich in den Stoff seines Wamses. Eine schwarze, fette Spinne fiel aus ihrem Haar auf die Schulter und raste mit wirbelnden Beinen über ihren Arm, direkt auf Torian zu. In ihren glitzernden Facettenaugen schien ein hämisches Lachen zu stehen, als sie in seine Hand biß.
Der Anblick ließ seine Selbstbeherrschung vollends zusammenbrechen. Er schrie auf, riß seine Hand los und schlug Shyleens Linke mit einem verzweifelten Hieb beiseite. Gleichzeitig kippte er wieder nach hinten, von der Kraft seiner eigenen Bewegung abermals in den Sand hineingestoßen. Diesmal versank er rasend schnell. Der Treibsand flutete wie scheuerndes Wasser an seinem Leib hinauf, erreichte sein Kinn, stieg weiter, überflutete seinen Mund, verschloß seine Augen; Sand kroch in seine Nase, zwängte sich zwischen seinen verzweifelt zusammengepreßten Zähnen hindurch und floß seine Kehle hinab. Er wollte husten, konnte es aber nicht. Rote Ringe tanzten vor seinen Augen.
Plötzlich fühlte er sich erneut gepackt und mit unwahrscheinlicher Kraft in die Höhe gezogen, heraus aus dem Treibsand – und mitten hinein in den zuckenden Teppich aus Tausenden von Spinnenleibern.
Halb wahnsinnig vor Panik begann er um sich zu schlagen, als die Spinnen auf ihn zustürmten und ihre winzigen, giftigen Zähne in seine Haut bohrten. Shyleen wollte seine Hand festhalten, doch das Entsetzen verlieh Torian schier übermenschliche Kräfte. Er schlug abermals ihren Arm beiseite, versetzte ihr einen Stoß, der sie rücklings taumeln und zum zweiten Male in die Spinnenarmee hineinstürzen ließ, fuhr herum und fiel ebenfalls auf die Knie. Spinnen krochen an seinen Beinen empor, hakten sich mit drahtigen Klauen in seine Kleider, krabbelten unter sein Wams, fingerten nach seinem Haar und seinem Gesicht. Torian schrie, sprang hoch und begann auf die Spinnen einzuschlagen. Dutzende von ihnen starben, aber für jede, die er erschlug, hasteten zehn neue herbei, und plötzlich lief eine schwerfällige, wogende Bewegung durch die gewaltige Masse der Tiere. Dann begann sich das grauenerregende Heer rings um ihn zusammenzuziehen. Die Viecher bildeten einen regelrechten Wall um ihn, der mit jeder Sekunde höher wurde. Seine Beine verschwanden bis zu den Waden in der zuckenden schwarzen Masse, dann bis zu den Knien, den Oberschenkeln…
Eine Hand packte ihn an der Schulter und riß ihn grob herum. Er sah einen Schatten auf sich zurasen, zog instinktiv den Kopf ein und spürte den brennenden Schmerz einer Ohrfeige. Sein Kopf wurde in den Nacken geworfen. Er keuchte, verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten, mitten hinein in die wogende Masse der Spinnen. Ein zweiter Schlag traf ihn, als er aufspringen wollte. Wieder hörte er Shyleens Stimme irgend etwas schreien, aber er war wie von Sinnen vor Angst.
Plötzlich sah er etwas anderes vor sich; den dunklen Stoff einer Kutte, und darunter ein Gewimmel von schwarzem Horn und Haar anstelle eines Gesichts, mit Augen darin; die vor Zorn – aber auch Sorge – zu brennen schienen, aber er war noch immer zu sehr in Panik, um es zu erkennen. Blind vor Angst hob er die Fäuste und schlug danach. Das letzte, was er bewußt wahrnahm, war Cathars Schwert, das mit der flachen Seite gegen seine Schläfe hämmerte und ihn bewußtlos zusammensinken ließ.
Es dauerte lange, bis er nach dem Aufwachen in die Wirklichkeit zurückfand. Auch ohne sich an den Inhalt des Traumes zu erinnern, war er sich des Umstandes, daß er geträumt hatte, vollends bewußt, aber es war ein Traum von der unangenehmen, hartnäckigen Sorte gewesen, dessen Einzelheiten unfaßbar blieben und nur einen vagen Eindruck von Angst und Entsetzen hinterließen, der einen jedoch noch ein gutes Stück ins Wachsein verfolgt und einfach nicht begreift, daß er dort nichts verloren hat. Torian brauchte einige Augenblicke, um sich ganz davon zu lösen; um so mehr, als es dort, wo er sich wiederfand, noch genauso heiß war wie in der Alptraumwelt seines Traumes, und sein Durst kaum weniger groß.
Er versuchte zu sprechen, aber seine Kehle war dafür viel zu ausgedörrt, und er brachte nur ein mühsames Krächzen zustande. Aber irgendwer in seiner Nähe reagierte darauf, und wenige Augenblicke später wurde sein Kopf sanft angehoben, und eine Schale mit kühlem Wasser berührte seine Lippen. Er leerte sie bis zur Neige, mit so tiefen, gierigen Schlucken, daß ihm fast sofort übel wurde und er all seine Kraft zusammennehmen mußte, um sich nicht zu übergeben und die kostbare Flüssigkeit gleich wieder zu erbrechen.
»Immer mit der Ruhe, Torian«, mahnte eine Stimme irgendwo hinter ihm. »Du bist außer Gefahr.«
Diese Stimme kam ihm bekannt vor, aber er wußte nicht, woher. Ein weibliches Gesicht erschien vor ihm, als er aufsah, schmal, mit weichen Zügen, eingerahmt von schulterlangem, schwarzem Haar, und etwas sagte ihm, daß er auch dieses Gesicht sehr gut kennen mußte. Aber irgend etwas stimmte nicht mit seinen Erinnerungen. Hinter seiner Stirn führten die Gedanken einen irren Tanz auf, Bilder, Namen, Erinnerungen und Fetzen von Gesprächen wirbelten wie verrückt durcheinander, gemischt mit Szenen aus dem Alptraum, dem er gerade entkommen war, ohne daß er sie zu fassen bekam. Stöhnend schloß er die Augen, ließ sich wieder zurücksinken und versuchte, sich mit Gewalt zur Ruhe zu zwingen – natürlich erreichte er so ungefähr das Gegenteil damit. Sein Herz begann wie wild zu pochen, und plötzlich war ihm heiß und kalt zugleich. Nur ganz langsam beruhigte sich sein rasender Puls.
Als er die Augen – nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien – wieder öffnete, war das Gesicht noch immer über ihm, und diesmal erinnerte er sich auch an Shyleens Namen.
Woran er sich nicht entsinnen konnte, war, wie er hierhergekommen war – wo immer dieses hier auch sein mochte. Seine Gedanken begannen sich schon wieder zu verwirren. Er schloß erneut die Augen, preßte die Lider so fest aufeinander, daß bunte Kreise vor seinen Augen erschienen, und atmete gezwungen tief ein.
»Alles in Ordnung?« fragte Shyleen, als er die Augen wieder öffnete.
Natürlich war ganz und gar nichts in Ordnung, aber er nickte trotzdem, versuchte so etwas wie ein Lächeln auf seine Züge zu zwingen und setzte sich vorsichtig auf. Hätte ihn Shyleen nicht blitzschnell festgehalten, wäre er sofort wieder zurückgestürzt, denn in seinem Kopf begann sich augenblicklich wieder alles zu drehen.
»Nicht übertreiben«, warnte Shyleen. »Du bist noch ein bißchen wackelig auf den Beinen – vorsichtig ausgedrückt.«
Er lag auf dem Rücken, wie ein Kind im Schoße seiner Mutter mit dem Kopf auf ihren Oberschenkeln. Ihre Hand lag auf seiner Stirn, und er fühlte sich auf sonderbare Weise behütet und sicher; zumindest die zwei oder drei Sekunden lang, bis ihm die Spinnen und der Treibsand wieder einfielen und er mit einem gellenden Schrei in die Höhe fuhr.
Shyleen packte augenblicklich seine Arme, hielt ihn mit erstaunlicher Kraft fest und zwang ihn, sich zu entspannen. »Es ist alles in Ordnung, Torian«, wiederholte sie noch einmal. »Keine Angst, du bist in Sicherheit.«
Einen Herzschlag lang drohten ihn trotz ihrer beruhigenden Worte die Erinnerungen zu übermannen. Er glaubte, etwas Schwarzes, Kriechendes zu sehen, das unter dem Sand grub und wühlte, sich mit dünnen, haarigen Beinen in seine Richtung arbeitete und ihn anstarrte: gierig, geifernd, mit schnappenden, winzigen Kiefern…
Cathar, der neben Shyleen hockte, versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Der Schlag tat weh, aber er riß Torian auch in die Wirklichkeit zurück. Der Wahnsinn, der schon wieder nach seinen Gedanken hatte greifen wollen, zog sich übergangslos zurück, und er wurde sich seiner wirklichen Umgebung bewußt. Er lag nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der er in den Treibsand geraten war, aber von der gewaltigen Spinnenarmee war keine Spur zu sehen. Auch spürte er nichts mehr von der Wirkung des Giftes. Verwirrt starrte er Shyleen an und ließ seinen Blick dann zu Cathar wandern. Obwohl er das Gesicht des Magiers nicht erkennen konnte, glaubte er, in den Augen stummen Zorn blitzen zu sehen. »Was ist… geschehen?« fragte er stockend.
»Das gleiche wollte ich dich gerade fragen«, erwiderte Shyleen zornig. »Du mußt von Sinnen sein, einfach blindlings in die Wüste hineinzulaufen.« Sie machte eine heftige Bewegung mit der geballten Faust. »Hätten wir dich nicht gefunden, wärest du jetzt tot.«
»Ihr habt… mich gesucht?« Es war eine reichlich dumme Frage, wie ihm im gleichen Moment zu Bewußtsein kam, und Shyleen nickte auch wütend.
»Es war nicht sehr schwer, deine Spur zu finden, nachdem der Sturm einmal vorbei war«, grollte sie. »Und dich schreien zu hören.«
»Ich… bin stundenlang gelaufen«, begann Torian stotternd. »Zumindest habe ich das geglaubt, aber ich bin wohl nur im Kreis herumgeirrt. Die Hitze – «
»Es war nicht die Hitze«, stellte Cathar ruhig fest.
Verwirrt brach Torian ab, und auch Shyleen runzelte die Stirn und blickte den Magier fragend an, aber Cathar dachte gar nicht daran, seine geheimnisvolle Andeutung zu erklären, sondern machte eine beschwichtigende Geste in ihre Richtung – oder das, was er dafür halten mochte, denn nichts, was er tat, übte nach Torians Meinung auch nur die geringste beruhigende Wirkung aus – und wandte sich dann wieder an ihn.
»Warum bist du fortgelaufen?« fragte er.
Seine Worte brachten Torian noch mehr in Verlegenheit. Er ärgerte sich, daß es Cathar ständig gelang, ihn durch seine alleinige Anwesenheit nervös zu machen und sich wie ein kleiner Junge vorkommen zu lassen, den man beim Klauen erwischt hatte. »Ich… muß wohl für einen Moment die Beherrschung verloren haben«, murmelte er. »Ich weiß, daß es ein Fehler war, aber – «
»Nur die Beherrschung verloren?« bohrte Cathar nach. »War das wirklich alles? Du bist wie ein Verrückter in den Sturm hinausgerannt, nur weil dir für einen Moment die Nerven durchgegangen sind?«
»Nein«, gestand Torian. »Ich dachte, ich…« Er brach ab, schüttelte den Kopf und nahm eine Handvoll Sand auf, um sie durch die Finger rinnen zu lassen. »Ach verdammt, ich habe phantasiert. Die Hitze, der Sturm und die ganzen Anstrengungen der letzten Tage waren wohl einfach zuviel. Wir sind alle erschöpft.«
Cathar schüttelte mißbilligend den Kopf. »Nun laß dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen«, stieß er ungeduldig hervor. »Was soll das heißen? Was meinst du mit phantasiert?«
»Was man eben damit meint«, antwortete Torian kurz angebunden. Seine Nervosität war jäh aufflackerndem Trotz gewichen. In diesen Sekunden wurde ihm wieder überdeutlich bewußt, wie sehr er den Magier trotz ihrer erzwungenen Zusammenarbeit haßte. »Ich habe mir etwas eingebildet. Ich glaubte zu sehen, wie Shyleen von dem Sturm aus der Höhle gerissen wurde. Es war nur eine Illusion, die sich nach einer Weile in Nichts auflöste, aber sie war echt genug, mich im ersten Moment zu täuschen.«
»Und da bist du prompt hinterhergerannt, um der angeblichen Shyleen zu helfen«, murmelte Cathar mit einem neuerlichen verständnislosen Kopfschütteln. »Ich verstehe immer weniger, wie es dir gelingen konnte, so viele meiner Brüder zu besiegen, von Ch’tuons Geschöpfen einmal ganz abgesehen.«
»Vielleicht gerade deshalb«, schnappte Torian zornig. »Deine Rasse mußte untergehen, weil bei euch nur das Recht des Stärkeren herrschte, während wir uns gegenseitig helfen. Gemeinschaft und das Vertrauen ineinander sind unsere Stärke, wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich auch losgerannt wäre, wenn ich mir eingebildet hätte, du wärest fortgeschleudert worden.«
Ein flüchtiges Lächeln spielte um Shyleens Lippen, aber sie wurde sofort wieder ernst. »Du hast nicht phantasiert«, sagte sie ruhig. »Zumindest nur zu einem kleinen Teil.«
»Nicht – « Torian fuhr auf, starrte sie an und suchte vergeblich nach Worten.
»Ich habe es auch gespürt, und Cathar ebenfalls«, fuhr Shyleen fort. »Ich nahm ebenfalls eine Bewegung in der Wüste wahr, aber bevor ich irgend etwas tun konnte, ranntest du bereits los. Es muß ein… so etwas wie ein Ruf gewesen sein, den wir empfangen haben. Eine Art magisches Locken, wenn du so willst.«
»Ich hätte es anders ausgedrückt, aber im Prinzip ist es richtig«, bestätigte Cathar. »Wir sind höchstens noch ein paar Meilen von der Schattenburg entfernt.«
»Wir sind – « Erregt sprang Torian auf und schaute sich um, aber wieder konnte er nichts erkennen als einige Felsen und hitzeflimmernden Sand.
»Bleib stehen!« Shyleen schrie mit so schriller, angsterfüllter Stimme, daß er mitten in der Bewegung verharrte.
»Was ist denn?« fragte er. »Ich denke, wir haben unser Ziel fast erreicht?«
»Eben«, antwortete Cathar an ihrer Stelle. Er machte mit der Hand eine vage Bewegung nach Norden, dorthin, wo die Schattenburg liegen mußte. »Aber eben nur fast. Wir können nicht mehr weiter; niemand kann es.«
»So?« fragte Torian, leise und nur noch mühsam beherrscht. Er fühlte sich immer verwirrter, und im gleichen Maße stieg auch sein Zorn, weil er nicht eine einzige vernünftige Antwort, sondern nur unverständliche Phrasen zu hören bekam. »Und warum nicht, wenn unser Ziel so nahe liegt? Ich sehe nichts, das uns noch aufhalten könnte.«
»Weil – «, begann Shyleen, wurde aber sofort von Cathar unterbrochen, der mit einer fließenden, schlangenartigen Bewegung auf die Beine kam und seine Hand wie einen Speer in Richtung Norden stach.
»Probier es«, stellte er ihm ruhig anheim. »Ich habe schon einmal versucht, es dir zu zeigen, als ich die vier Soldaten habe töten müssen. Dies hier ist genau dasselbe.«
Einen Moment starrte Torian ihn an, bemühte sich vergeblich, sich zu konzentrieren, schürzte dann trotzig die Lippen, drehte sich mit einem entschlossenen Ruck um und machte einen Schritt in die angegebene Richtung. Nichts geschah. Er warf Shyleen und dem Magier einen halb wütenden, halb triumphierenden Blick zu und machte einen weiteren Schritt. Eine rasche, kaum wahrnehmbare Wellenbewegung schien durch die Wüste zu laufen. Es war, als würden zwei Bilder übereinandergeschoben, die sich durch winzige, im ersten Moment nicht einmal sichtbare Details voneinander unterschieden. Dann…
Der Sand vor seinen Füßen begann sich zu bewegen. Ein leises Rascheln und Wispern erklang, und etwas Dünnes, Schwarzbehaartes schob sich durch die körnige, weißgelbe Schicht. Eine riesige Hand griff nach Torians Nacken und fuhr prickelnd sein Rückgrat hinunter. Ein zweites Spinnenbein erschien neben dem ersten, dann ein drittes, ein viertes, und schließlich schob sich ein faustgroßer pelziger Ball durch den Sand. Winzige, vielfach gebrochene Facettenaugen, in denen eine bösartige Intelligenz geschrieben zu stehen schien, starrten ihn in stummer Wut an, dann raste das Tier blitzartig ihm entgegen.
Ohne zu denken, trat Torian zu, doch die Spinne wich seinem Fuß mit einem blitzartigen Haken aus, schoß seinen Stiefel herauf und grub ihre nadelspitzen Zähne durch den Stoff der Hose in seine Wade. Er schrie auf, schlug mit der Hand nach dem Tier und schleuderte es ein paar Meter weit zurück. Wieder lief eine rasche, wellenförmige Bewegung durch den Sand, und neben der ersten Spinne erschien eine zweite, die ebenfalls in grenzenloser Wut auf ihn zuraste. Und irgendwo, sehr weit entfernt, aber rasch näherkommend, begann etwas Schwarzes, Wirbelndes wie eine lebende Decke das Gelb der Wüste zu verschlingen…
Mit einem krächzenden Schrei prallte Torian zurück.
Und die Spinnen verschwanden. Von einer Sekunde auf die andere lag die Wüste wieder so still und tot da wie immer; nur der Sand tanzte in verspielter Bosheit im Wind, der bizarre Formen aus dem aufgewirbelten Sand und Staub schuf. Von den Spinnen war keine Spur mehr zu entdecken, nicht einmal von den beiden Tieren, die nur noch wenige Schritte von ihm entfernt gewesen waren.
»Was… was war das?« murmelte Torian mit zitternder Stimme. Vergeblich versuchte er sich einzureden, daß es nur eine Täuschung gewesen war, nichts als ein Trugbild, das ihn gewarnt hatte, hervorgerufen durch die Hitze und den Durst und seine vollkommen überreizten Nerven.
»Ich weiß nicht, was du gesehen hast«, antwortete Shyleen mit einer Ruhe, die ebensowenig echt war wie die Bewegungen im Sand, die er immer noch aus den Augenwinkeln wahrzunehmen glaubte. »Aber es war dasselbe, was dir zustieß, kurz bevor wir dich fanden.« Sie stand auf, trat an Torians Seite und machte eine Geste, als wollte sie ihm die Hand auf die Schulter legen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern starrte nur mit brennenden Augen in die Wüste. »Das, was uns allen zustieße, würden wir weitergehen, auch wenn jeder von uns etwas anderes sähe«, fuhr sie nach einigen Sekunden fort. »Jeder würde in seine eigene, ganz persönliche Hölle geraten. Verstehst du, was ich dir erklären will?«
»Nein, kein einziges Wort«, knurrte Torian. »Aber ich dachte, ich – «
»Du dachtest, es wäre die Erschöpfung, die dich Dinge sehen ließ, die nicht da waren«, unterbrach ihn Cathar. »Du hast nicht phantasiert, Torian. Nichts von dem, was du gesehen zu haben glaubst, ist wirklich geschehen. Und doch wärest du gestorben, wenn wir dich nicht gefunden hätten, denn einzig der Treibsand war Realität. Alles andere diente nur dazu, dich dorthin zu locken.« Er deutete nach Norden. »Bei Ch’tuon, wir suchen die Schattenburg, du Narr, das Machtzentrum unseres Ordens, den bestgesicherten Ort Caracons, vielleicht der ganzen Welt. In tausendjähriger Arbeit haben die stärksten meiner Brüder die Straße der Ungeheuer angelegt, und wir haben gerade erst die ersten Schritte darauf gemacht. Du kennst nicht einmal einen Bruchteil unserer wahren Macht. Glaubst du wirklich, wir würden es zulassen, daß jemand, der einigermaßen gut mit dem Schwert umzugehen vermag, die Burg durch einen Zufall findet, wie man auf ein Wasserloch oder eine Goldmine stößt, wenn man nur lange genug danach sucht, und sich seiner Haut zu wehren weiß?« Er lachte, aber es klang nicht besonders amüsiert. »Ohne mich wäret ihr alle bereits tot. Ich hatte gehofft, daß durch die ungebändigte Kraft des Tores auch dieser Teil der Schutzvorrichtungen ausgefallen wäre, aber dem ist nicht so, wie ich jetzt weiß. Die Burg wird durch einen Schirm geschützt, den kein denkendes Wesen zu durchdringen vermag. Nicht einmal ich.«
»Einen… Schirm?«
Cathar nickte. »Vielleicht ist die Bezeichnung falsch, aber das ist im Augenblick unwichtig. Es geht nur um die Wirkung. Wer immer in den Bereich seiner Magie gerät, verliert den Verstand. Du hast es am eigenen Leib erlebt, der Wahnsinnsschirm ist undurchdringlich, selbst für mich. Da er noch besteht, ist unser Weg hier zu Ende. Wir können nicht mehr weiter.«
»Du meinst, die Spinnen waren nicht echt?«
Shyleen schüttelte den Kopf. »Es ist bedeutungslos, was du gesehen hast. Jeder von uns würde etwas anderes erleben, versuchte er, die Schattenburg auf diesem Weg zu erreichen. Jeder Mensch, jedes denkende Wesen, auch ich, hat irgendeinen Punkt, irgendein ganz persönliches Grauen, gegen das er hilflos ist. Bei dir scheinen es Spinnen zu sein, bei anderen wären es Ratten, Wölfe, die Angst vor großen Höhen…« Sie machte eine weit ausholende Handbewegung.
»Dies hier ist die Grenze, Torian. Was du gespürt hast, war nur ein winziger Teil des namenlosen Entsetzens, das dein Unterbewußtsein für dich bereithält. Ahnst du, was dich erwartet hätte, wenn du weiter vorgedrungen wärest?«
Es fiel Torian schwer, den Sinn ihrer Worte wirklich zu begreifen. Vielleicht lag es daran, daß er es in Wahrheit gar nicht wollte. »Du meinst, jeder der… der diesen Punkt überschreitet, gerät in den schlimmsten seiner geheimen Alpträume?« murmelte er. Shyleen nickte, dann fiel Torian der Fehler in ihren Worten auf. »Und ihr?« fragte er. »Wieso geschieht euch nichts? Seid ihr immun gegen die Wirkung dieses… dieses Wahnsinnsschirmes?«
Wieder schüttelte Shyleen den Kopf, traurig wie es schien. »Nein«, entgegnete sie. »Als Tempelpriesterin habe ich es gelernt, magische Täuschungen zu erkennen und dagegen anzukämpfen, und Cathar hat einen eigenen Gegenzauber geknüpft. Unsere Kräfte reichen gerade aus, die üble Ausstrahlung der Schattenburg aufzuheben; hier, dicht an ihrer Grenze. Wärest du nur hundert Schritte tiefer in ihren Wirkungsbereich geirrt, hätten auch Cathar und ich dich nicht mehr retten können.«
»Aber es muß doch irgendeinen Weg geben!« schrie er. Shyleen blieb ruhig. Sie wußte, daß seine Empörung nicht ihr galt. Torian spürte eine Mischung aus Zorn und fast körperlich schmerzender Enttäuschung wie selten zuvor. Und Hilflosigkeit. Hatten sie wirklich die schier unvorstellbaren Anstrengungen auf sich genommen, waren mehr als ein Dutzend Menschen gestorben, nur damit sie jetzt, als das Ziel zum Greifen nahe vor ihnen lag, unverrichteter Dinge wieder umkehren mußten? Der Gedanke kam ihm wie bitterer Hohn vor. Sein Haß gegen Cathar flammte jäh wieder auf. »Du hast es gewußt!« schrie er. »Du hast es von Anfang an gewußt und uns trotzdem in dieses wahnsinnige Unternehmen geschickt. Am liebsten würde ich dir auf der Stelle den Hals umdrehen!«
»Tu dir keinen Zwang an«, erwiderte Cathar mit unverhohlenem Spott in der Stimme. »Abgesehen davon, daß du es ohnehin nicht fertig brächtest, würdest du damit dein eigenes Todesurteil unterzeichnen. Ohne mich kämet ihr nicht einmal mehr aus der Wüste heraus.«
»Er hat recht«, bestätigte Shyleen. »Wir haben unser Möglichstes versucht. Nur ein Dummkopf wirft sein Leben weg, wenn es nicht mehr die geringste Aussicht auf Erfolg gibt. Wir können froh sein, wenn uns der Rückweg gelingt.«
»Aber es muß irgendeine Möglichkeit geben«, beharrte Torian. »Alles, was geschaffen wird, kann man auch wieder zerstören. So muß es auch bei diesem Schirm sein.«
»Es gibt einen Weg«, sagte Cathar zögernd.
Torian fuhr herum. »Wo?«
»Irgendwo«, antwortete der Magier ernst. »Vielleicht hier, vielleicht hundert Schritte entfernt, vielleicht eine Meile, es bleibt sich gleich. Der Wahnsinnsschirm wird von geistlosen Dienerkreaturen, den Mho’Dhul erzeugt. Sie befinden sich in gewaltigen Kavernen unter dem Wüstenboden. Jeder Mho’Dhul ist für einen bestimmten Teil des Schirms zuständig. Sie besitzen zwar keinerlei eigenen Verstand, nicht einmal Gefühle, sind aber in der Lage, die Empfindungen und Gedanken anderer zu empfangen. Sie saugen sie in sich auf und werfen sie tausendfach verstärkt zurück. So entstehen die Illusionen innerhalb des Schirms. Normalerweise können sie binnen weniger Minuten ersetzt werden, aber jetzt ist niemand mehr da, der es tun könnte. Schon der Tod eines einzigen Mho’Dhul würde uns reichen.«
»Dann müssen wir diese komischen Module finden«, stieß Torian aufgeregt hervor.
»Mho’Dhul«, verbesserte Cathar und machte eine weit ausholende Geste. »Such sie. Die Sache hat nur einen Haken: Die unterirdischen Kavernen befinden sich innerhalb des Schirmes, und die Einstiege sind gut getarnt. Nicht einmal ich weiß, wo sie sich befinden, aber selbst wenn ich es wüßte, könnten mich keine hundert Drachen dorthin bringen. Die Begegnung mit einem Mho’Dhul bedeutet unwiderruflich Wahnsinn und Tod. Niemand, weder ein Mensch noch jemand der Alten Rasse ist ihrer verderblichen Ausstrahlung gewachsen.«
»Du hörst es«, mischte sich Shyleen ein. »Es wäre Wahnsinn, jetzt noch – «
»Kein größerer Wahnsinn, als jetzt umzukehren, so dicht vor dem Ziel«, unterbrach Torian sie wütend. »Bei Ch’tuon, ich denke gar nicht daran, jetzt kehrtzumachen, ausgerechnet jetzt, wo die Schattenburg zum Greifen nahe vor uns liegt. Wir müßten die Straße noch einmal in umgekehrter Richtung durchqueren, und selbst falls wir es erneut schaffen sollten, wären wir verloren, wenn alles stimmt, was er über das Tor erzählt hat.«
»Wir haben keine andere Wahl«, erklärte Shyleen ruhig. Sie deutete nach Süden. »Der Sturm hat das Lager völlig verwüstet und uns aller Lebensmittel beraubt. Selbst wenn der Schirm nicht existierte, könnten wir nicht mehr weitersuchen. Wir haben gerade noch genug Wasser, zwei weitere Tage durchzustehen. Das reicht knapp, um bis zur Wasserstelle zurückzukehren, wenn wir uns beeilen. Jeder verschwendete Tag wäre reiner Selbstmord.«
Torian blickte sie lange, sehr lange an. Er sagte kein Wort.
Er hatte geschlafen, viele Stunden lang, denn als er aufwachte, war es Nacht geworden, und der Mond stand bereits hoch am Himmel, wenn er sich nicht gerade hinter einer Wolke verbarg. Wie schon in den Nächten zuvor war es empfindlich kalt, und Torian fror, kaum daß er sich aus der Decke geschält hatte. Er machte einige Lockerungsübungen, um die Taubheit aus seinen Gliedern zu vertreiben, bevor er Harnisch und Umhang anlegte und die Plane seines Zeltes zurückschlug.
Die meisten Männer schienen sich bereits schlafen gelegt zu haben, nur wenige saßen noch um ein Lagerfeuer herum. Auch Shyleen hielt sich bei ihnen auf. Cathar hingegen war nirgendwo zu entdecken, aber Torian war sich sicher, daß der Magier irgendwo im Verborgenen lauerte und seinen Aufbruch beobachtete.
Er wartete, bis sich wieder eine Wolke vor das bleiche Antlitz des Mondes schob, dann huschte er lautlos vorwärts, zwischen den Zelten hindurch und tauchte in der tintigen Schwärze der Nacht unter. Abgesehen von den Menschen am Feuer gab es keine Wachen, so daß es ihm gelang, das Lager unbemerkt zu verlassen. Erst als er einen Dünenkamm überschritten hatte und sich nun unmittelbar vor der Grenze des Wahnsinnsschirmes befinden mußte, blieb er stehen und kauerte sich in den Sichtschutz eines Felsens.
Totenstille lastete um ihn herum, sah man vom ewigen Säuseln des Windes ab, das er kaum noch bewußt zur Kenntnis nahm. Jetzt, wo er sich nicht mehr bewegte, kroch die Kälte unangenehm unter seine Kleidung und ließ ihn frösteln. Torian schaufelte mit den Händen etwas Sand zur Seite. Nur die oberste Schicht war abgekühlt, der darunterliegende Sand hatte noch die Hitze des Tages gespeichert, und Torian duckte sich tief in die Mulde.
Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, aber vielleicht kam es ihm auch nur so vor, weil er nicht sicher war, ob seine Rechnung wirklich aufgehen würde, und fieberhaft darauf wartete, daß etwas geschah.
Aber schließlich vernahm er das gedämpfte Rascheln von Sand, und gleich darauf glaubte er wenige Meter entfernt eine Bewegung wahrzunehmen. Trotzdem hätte er die Gestalt, die in ihrer schwarzen Kutte beinahe völlig mit der herrschenden Dunkelheit verschmolz, fast übersehen. Erst als der Mond die Wüste wieder mit seinem kalten Licht übergoß, erkannte er, wen er vor sich hatte.
Lautlos stand er auf und näherte sich Cathar, doch mit seinen übermenschlich feinen Sinnen spürte ihn der Magier schon, als er noch mehrere Schritte von ihm entfernt war, und fuhr herum.
»Welche Überraschung, dich hier zu finden«, sagte Torian spöttisch. »Willst du die laue Nacht ebenfalls für einen Spaziergang nutzen?«
Die Augen des Magiers sprühten vor Zorn, wie Torian deutlich erkennen konnte, und er erwartete fast, daß er sich auf ihn stürzen würde. Doch er entdeckte auch Verwirrung in Cathars Zügen.
»Und wenn es so wäre?« fragte der Magier nach einigen Sekunden.
»Wie wäre es denn, wenn wir diesen Spaziergang gemeinsam unternähmen? Es soll nicht ganz ungefährlich für einen allein hier draußen sein, habe ich mir sagen lassen.«
Wieder schien es für einen kurzen Moment so, als ob der Magier ihn angreifen wollte, doch dann nickte Cathar nur wütend. »Also gut. Du willst vor dem Schirm nicht kapitulieren. Natürlich liegt das in meinem Interesse, versuchen wir es gemeinsam. Was weißt du?«
»Ich weiß nichts«, erwiderte Torian. »Aber ich glaube, ich habe einen der Einstiege in die Kavernen entdeckt. Mit ein wenig Glück ist es wirklich einer.«
»Und mit ein wenig Pech sind wir in ein paar Minuten tot«, ergänzte der Magier ruhig. Dann lächelte er. »Ich habe etwas in dieser Art vermutet. Es liegt an dem Parasiten in dir. Ohne daß du es merktest, hat er dich wohl zu diesem Einstieg geführt.«
Torian schrak fast unmerklich zusammen. Er hatte bislang angenommen, es wäre Zufall gewesen, obwohl sein Verstand ihm erfolglos, aber hartnäckig zugeflüstert hatte, daß es solche Zufälle nicht gab. Etwas hatte die ganze Zeit über verhindert, daß sein Denken in diese Richtung irrte, und es war ihm nicht einmal sonderbar erschienen, daß er sich ohne weiteres zutraute, den Weg zum Trichter des Ameisenlöwen wiederzufinden, obwohl er in kopfloser Flucht von dort fortgerannt und auch ein Stück bewußtlos von Shyleen getragen worden war. Aber er spürte die Richtung, und wenn er die Augen schloß, konnte er den Trichter fast vor sich sehen.
Er zog eine Fackel unter dem Umhang hervor und entzündete sie. »Gehen wir«, forderte er ihn auf und wollte sich umdrehen, doch Cathar hielt ihn am Arm fest.
»Einen Moment noch«, erwiderte der Magier. »Da ist etwas, was ich dir sagen muß. Meine Macht reicht vielleicht aus, die Wirkung des Schirmes während des ersten Stückes Weg aufzuheben, aber mehr auch nicht. Wenn wir wirklich an einen Einstieg gelangen, kann ich sie allenfalls etwas mildern. Ich weiß nicht einmal, ob ich mich selbst vor der Ausstrahlung der Mho’Dhul abkapseln kann. Alles weitere liegt dann an dir. Vielleicht kann dieses Ding in deiner Schulter dich schützen, denn wenn es dir heute mittag nicht geholfen hätte, wärest du binnen weniger Sekunden wahnsinnig geworden. Aber es kann durchaus sein, daß es in den Kavernen selbst seine Macht verliert. Ich möchte, daß du das weißt.«
Torian schluckte und kämpfte seine Furcht nieder, dann nickte er. »Versuchen wir es«, entschied er und trat über die unsichtbare Grenzlinie. Alles, was er spürte, war ein leichtes Kribbeln, als würden Dutzende sanfter Hände über seinen Körper streichen; das war alles, und das Gefühl verflog so schnell, wie es gekommen war. Unsicher schaute er sich um. Von Spinnen, Riesenameisen oder irgendwelchen anderen namenlosen Schrecken, welche die Mho’Dhul ihm vorgaukeln mochten, war nichts zu entdecken.
Er machte einen weiteren Schritt und blieb wieder stehen, wandte sich um und wartete, bis Cathar an seine Seite getreten war. Das Gesicht des Magiers war angespannt, selbst er schien dem scheinbaren Frieden um sie herum nicht zu trauen. Langsam gingen sie weiter, schauten sich immer wieder in alle Richtungen um, und zumindest Torian wartete förmlich darauf, daß etwas passierte.
Um sich zu orientieren und die Richtung zu bestimmen, brauchte er seine Augen nicht einmal. Der Einstieg (wenigstens hoffte er, daß es sich um den Einstieg handelte und seine Nerven und die aufgeputschte Phantasie ihm nicht nur einen Streich spielten) zerrte wie mit unsichtbaren Händen an ihm und lenkte seine Schritte. Doch er spürte noch etwas anderes. Vielleicht war es nur eine Einbildung, weil er fürchtete, etwas zu spüren, aber er vermeinte immer wieder ein leichtes Gleiten und Huschen in der Wirklichkeit zu entdecken; flüchtige Bewegungen, die er nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, gerade am Rande des Sichtbaren, und die verschwanden, sobald er sich genauer darauf zu konzentrieren versuchte, als ob sich eine zweite Realität über die ihm vertraute Wirklichkeit zu schieben und sie zu verdrängen trachtete und mit jeder Sekunde deutlicher wurde. Die den Wahnsinn bringende Ausstrahlung der Mho’Dhul.
»Wie weit ist es noch?« fragte Cathar. Sein Gesicht war schweißüberströmt, seine Lippen bebten. »Es… es wird stärker. Ich fürchte, es nicht noch lange zurückdrängen zu können.«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Torian. »Aber ich glaube nicht, daß-«
Er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Ein gigantisches, mehr als mannsgroßes Spinnenbein, einem Tentakel gleich, tastete aus dem Nichts nach ihm, wuchs in die Höhe und verschmolz mit einem ebenso gewaltigen, schwarzbehaarten Leib. Mit einem heiseren Schrei prallte Torian zurück. Mit der Fackel schlug er nach dem Spinnenbein und packte mit der freien Hand den Knauf seines Schwertes, brauchte es aber nicht zu ziehen. Die finstere Säule und der monströse Schatten über ihm verschwanden so rasch, wie sie gekommen waren.
»Weiter«, stieß Torian hervor. Das Sprechen fiel ihm schwer. »Ich glaube, der Trichter liegt hinter der Sanddüne da vorne.« Er unterstrich seine Worte mit der entsprechenden Armbewegung.
Die Düne war höher als die meisten anderen, und er war sich sicher, daß sie am Nachmittag noch nicht dagewesen war. Aber das hatte in dieser ständigen Verformungen unterworfenen Wüstenlandschaft ja nicht viel zu bedeuten. Mühsam stiegen sie die Anhöhe hinauf. Sie sanken bis zu den Knien im staubfeinen Sand ein, der immer wieder unter ihren Stiefeln nachgab und sie ein Stück zurückrutschen ließ. Unter anderen Umständen hätten sie versucht, die Düne zu umgehen, aber hier, wo jede Sekunde kostbar war, schied diese Möglichkeit aus.
Nach Minuten, die Torian wie Ewigkeiten vorkamen, erreichten sie den höchsten Punkt der Anhöhe, und Torian stieß einen leisen Freudenschrei aus, als er in dem dahinterliegenden Tal wirklich den flachen Trichter liegen sah.
Der Abstieg gestaltete sich ungleich leichter als der Weg hier herauf. Torian konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als Cathar in einer seiner Aura von Macht und Überheblichkeit spottenden Bewegung den Halt verlor und den Abhang in ganz und gar nicht würdevoller Haltung hinunterkugelte. Aber das Grinsen verging ihm, als er gleich darauf ebenfalls den Halt verlor und dem Magier auf gleichem Wege folgte. Noch während des Sturzes, als seine Konzentration auf die Umgebung erlosch, gewahrte er den schwarzen, von zuckender Bewegung erfüllten Teppich, der sich am Fuß der Düne ausbreitete.
Wieder schrie er voller Panik auf. Er versuchte seinen Sturz zu bremsen, doch alles, was er zu packen bekam, war loser Sand, und so rutschte er mitten in die Masse der Tausenden von Spinnen hinein.
Blindlings drosch er um sich, hieb auf die faustgroßen, schwarzen Leiber ein, die wie eine Woge über ihm zusammenschlugen – und im nächsten Moment verschwanden.
Schwer atmend richtete sich Torian auf, schaute sich noch einmal furchtsam um und entspannte sich erst, als er sah, daß die Spinnen wirklich vollends verschwunden waren, wenngleich er sich klar war, daß es sich nur um eine Atempause handelte und die Ausstrahlung des Mho’Dhul ihn jederzeit erneut überwältigen konnte. Wieder mußte er den Ekel, den die Berührung der widerlichen Biester in ihm ausgelöst hatte, gewaltsam unterdrücken. Auch wenn er wußte, daß alles nur eine Einbildung gewesen war, hatte er die Spinnenbeine auf seiner Haut gespürt, und seinem Gefühl war es so ziemlich egal, ob die Berührung Wirklichkeit oder nur eine Einbildung gewesen war.
Cathar musterte ihn besorgt. »Das war erst ein Vorspiel dessen, was dich dort unten erwartet«, warnte er. »Du mußt dich besser beherrschen, sonst schaffen wir es nie.«
Torian nickte knapp. Sie traten an den Trichter, und jetzt erkannte er, daß er sich am Nachmittag nicht getäuscht hatte. Im Mittelpunkt der Mulde gähnte eine gemauerte, in die Tiefe führende Röhre von etwas mehr als einem Meter Durchmesser. Und jetzt fielen ihm auch die eisernen Steigeisen in der Wand auf. Wieder tauchten die peitschenartigen Fühler und anschließend der scheußliche Kopf eines Ameisenlöwen aus der für ein reales Wesen seiner Größe viel zu engen Röhre auf; diesmal nicht explosionsartig, sondern langsam, zögernd. Torian tötete das Wesen mit einem fast beiläufigen Hieb und warf es zur Seite.
»Ich gehe voran«, sagte er und setzte den Fuß auf die oberste Sprosse, ohne Cathars Antwort abzuwarten. Vorsichtig prüfte er die Festigkeit des Krampens, bevor er ihm sein ganzes Gewicht anvertraute und weiterkletterte. Das Schwert hatte er in die Scheide zurückgesteckt und sich dafür einen Dolch zwischen die Zähne geklemmt, denn auch wenn alle Gefahren, die sie erwarten mochten, nur Illusionen darstellten, verlieh die Waffe ihm ein, wenn auch trügerisches, Gefühl der Sicherheit.
Der Schacht war nicht besonders tief; nach kaum einer Minute hatte er bereits den Grund erreicht. Vor ihm erstreckte sich ein Stollen, der sich bereits nach wenigen Schritten in Finsternis verlor.
»Alles in Ordnung. Du kannst nachkommen!« rief Torian nach oben. Ein Schatten fiel über die Öffnung des Schachtes, dann kam Cathar behende herabgeklettert.
»Für meinen Geschmack ging mir bislang alles ein wenig zu einfach«, murmelte Torian. Er hatte den Dolch inzwischen wieder weggesteckt und sein Schwert dafür gezogen. In der anderen Hand hielt er die Fackel, die einen kleinen Lichtkreis in die Dunkelheit um sie herum hineinfraß, sich an den rauhen Steinwänden brach und ihre Augen mit bizarren Schatten narrte, die Bewegungen vorgaukelten, wo keine waren.
»Noch sind wir nicht am Ziel«, erwiderte Cathar gepreßt. »Wenn es noch Leben in der Schattenburg gäbe, wären wir niemals bis hierher gelangt.«
Langsam drangen sie tiefer in den Stollen ein. Mit jedem Schritt verstärkte sich Torians Unbehagen. Ein paarmal war er sich nicht einmal mehr sicher, ob die tanzenden Schatten an den Wänden wirklich allein durch das Licht der Fackel erzeugt wurden oder ob es nicht bereits Boten des Wahnsinns waren, der nach ihm zu greifen begann. Manchmal sah er Fratzen titanischer Ungeheuerlichkeiten, schattenhafte Tentakelarme, die aus dem Dunkel heraus nach ihnen züngelten, aber immer wieder zu Nichts zusammenschmolzen, bevor sie ihnen wirklich gefährlich werden konnten. Mit aller Kraft hämmerte er sich ein, daß es sich nur um Illusionen handelte.
Plötzlich wurde es vor ihnen heller, die Wände wichen seitlich zurück, und sie gelangten in einen Felsendom von solcher Größe, daß Torian der Atem stockte. Was er sah, war schlichtweg unmöglich. Die Höhle war von einem schwachen Schimmer erfüllt, ohne daß ein Ursprung des düsteren Lichtes zu entdecken war, das gerade ausreichte, die Ausmaße des Felsendomes zu erkennen, nicht aber Einzelheiten, die sich darin befanden. Die Wände strebten fünfzig, sechzig Meter lotrecht in die Höhe und bildeten ein gewaltiges steinernes Dach, und das, obwohl der Grund der Höhle höchstens zehn Meter unter der Erdoberfläche lag!
Aber Torian kam nicht mehr dazu, sich darüber zu wundern. Die ohnehin bröckelnden Mauern um seinen Geist wurden mit unvorstellbarer Gewalt niedergerissen, und im gleichen Moment verschwamm die Welt vor seinen Augen.
Es war wie eine getreuliche Wiederholung des Wahnsinns, der ihn schon einmal gepackt hatte. Alles um ihn herum verschwand von einer Sekunde auf die andere, und er glaubte, sich auf einer gewaltigen, vollkommen leeren Ebene zu befinden. Leer, bis auf ein riesiges Netz, schimmernd wie versponnenes Silber.
Das Netz einer Spinne.
Er war in diesem Netz gefangen, verstrickt in die klebrigen Fäden, die nicht sehr viel dicker als Haare waren, ihn aber wie stählerne Taue festhielten. Und von überallher drängten die Spinnen heran, widerliche, gigantische Dinger mit Leibern, so groß wie warzig aufgedunsene Köpfe, Beinen, so lang wie ein menschlicher Unterarm, und rasiermesserscharfen Fängen, die gierig klapperten. Mit unglaublicher Schnelligkeit turnten sie an den straff gespannten Seilen des Netzes heran, kamen von allen Seiten auf Torian zu. Er war sich der Tatsache vollkommen bewußt, daß dies alles nicht Wirklichkeit war, nur eine Illusion, der Wahnsinnsschirm eines Mho’Dhuls, der ihn mit den schlimmsten. Schrecken seines Unterbewußtseins konfrontierte, aber dieses Wissen nützte rein gar nichts, denn er sah die Spinnen, hörte das Rasseln und Zischeln ihrer behaarten Beine, konnte ihren Geruch deutlich wahrnehmen, spürte, wie das Netz unter seinem Gewicht zu erzittern begann, als er sich hin und her warf. Er schrie so laut und gellend, daß seine Kehle zu zerreißen schien, zerrte mit aller Kraft an den klebrigen Fäden des gigantischen Netzes und verstrickte sich nur noch tiefer darin. Die Spinnen kamen näher, näher und näher…
Sie erreichten ihn nicht.
Eine Hand packte ihn und riß ihn fort, irgend etwas tastete nach seinem Geist und schirmte ihn erneut ab, wenn auch längst nicht mehr so stark wie zuvor. Das Netz war verschwunden, aber die Spinnen waren immer noch da, doch auch sie bildeten nicht mehr als verschwommene, halbstoffliche Schatten, die zwar lauerten, aber nicht mehr auf ihn zukrochen. Es war alles nur Illusion! dachte er verzweifelt. Nur eine Illusion! Ein Trugbild! Immer und immer wieder hämmerte er sich diese Worte ein, und ganz allmählich begann sich sein Herzschlag zu beruhigen.
Torian schaute sich um, doch Cathar war nirgendwo zu erblicken, obwohl sie sich gerade noch berührt hatten. Dafür sah er etwas in der Mitte der Höhle. Erst als er näher trat, erkannte er einen nackten, geschlechtslosen Körper, der reglos auf einer Art Altar lag. Die Gesichtszüge wirkten seltsam unwirklich, unfertig, als hätte ein Modellbildner mitten in der Arbeit die Lust verloren.
»Töte es!« gellte Cathars Stimme von irgendwo her. Zögernd trat Torian bis ganz an den Unbekannten heran. Nichts an der Gestalt wirkte feindselig oder gar bedrohlich. Es schien sich um ein harmloses, trotz seiner Fremdartigkeit fast Sympathie erweckendes menschenähnliches Wesen zu handeln.
Aber dann schlug die Gestalt die Augen auf, und Torian prallte mit einem Entsetzensschrei zurück. Unter den Lidern wurden zwei zerfranste Löcher voller dunklen, kochenden Blutes sichtbar, in dem sich Würmer ineinander verknotet hin und her wanden. Aus den Augen rannen schleimige, fast schwarze Blutfäden, die die Haut wie Säure zerfraßen, wo sie sie berührten. Gleichzeitig richtete sich die Gestalt mit einem Ruck auf und stieg von dem Altar herunter.
»Töte es!« schrie Cathar noch einmal, und diesmal konnte Torian den Magier sehen, der aus dem Hintergrund der gewaltigen Halle herangestürmt kam. Er zögerte nicht mehr länger, sondern stieß sein Schwert dem blutenden Ungeheuer, das mittlerweile jede Ähnlichkeit mit einem Menschen verloren hatte, in die Brust und riß es sofort wieder heraus. Ohne einen Laut brach die Kreatur zusammen.
Aber es war noch nicht vorbei.
Mit gespreizten Beinen stand Torian über dem Wesen, das er erstochen hatte. Seine Hände umklammerten das Schwert, und irgend etwas Finsteres, unglaublich Machtvolles umklammerte seinen Geist. Er verspürte mit einem Male das schreckliche Bedürfnis, seine Klinge zu nehmen und noch einmal in den reglosen Körper vor seinen Füßen zu treiben, immer und immer wieder. Natürlich tat er es nicht, aber es kostete ihn ungeheure Anstrengung, und er fühlte, wie dieses furchtbare Etwas in ihm stärker und stärker wurde. Es war wie ein Ungeheuer, das bis zu diesem Moment tief in seiner Seele geschlummert hatte und das nun erwacht war, ein schreckliches, namenloses Tier, das Blut geschmeckt hatte und nach mehr schrie.
Er stöhnte. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Seine Hände begannen zu zittern. Töte! wisperte eine Stimme in ihm. Töte! Töte! Töte!
Torian schaute auf. Cathars Gesicht schien vor ihm auf und ab zu tanzen, immer wieder zu verschwimmen, als woge ein unsichtbarer Nebel vor seinem Blick. Aber er sah trotzdem, daß es dem Magier nicht anders erging als ihm. Auch in seinen Augen flackerte das Grauen.
»Was… was ist… das?« flüsterte er. »Was geschieht mit uns?«
Cathar antwortete nicht, sondern stieß ebenfalls ein fast qualvolles Stöhnen aus. Blasiger Schaum erschien auf seinen Lippen, und für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht. Torian begriff, daß der Magier die gleichen Qualen ausstand wie er selbst. »Jeder… sieht einen Mho’Dhul als… als ein Wesen seiner eigenen Rasse«, stieß Cathar schließlich hervor. »Sonst wäre…« Die weiteren Worte verstand Torian bereits nicht mehr. Das dunkle Etwas in seinem Geist wuchs, krallte sich in sein Bewußtsein und schaltete seinen Willen Stück für Stück aus. Und er war unfähig, sich dagegen zu wehren.
Dann war der Körper vor ihnen plötzlich verschwunden. Dafür erscholl hinter ihnen ein gellender, von rasender Wut erfüllter Schrei.
Sie fuhren in einer beinahe synchronen Bewegung herum. Die Monstergestalt stand hinter ihnen, und sie veränderte sich noch weiter. Die Hände verwandelten sich zu furchtbaren Klauen, die Finger zu rasiermesserscharfen Krallen. Die Haut war am ganzen Körper aufgeplatzt, und dahinter nahm Torian wimmelnde Bewegung von unzähligen Spinnen wahr.
Torian wollte sein Schwert heben, kam aber nicht mehr dazu. Alles ging unglaublich schnell, und trotzdem nahm er jede noch so winzige Einzelheit mit beinahe übernatürlicher Klarheit wahr. Cathar sprang vor und streckte beide Hände nach der Kreatur aus. Ein kehliger, abgehackter Schrei kam über seine Lippen. Torian glaubte die zerstörerischen Kräfte wie einen Hauch der Hölle zu spüren, die der Magier gegen das Ungeheuer schleuderte.
Die Gestalt explodierte.
Für den tausendsten Teil einer Sekunde schien ihr Körper von innen heraus aufzuglühen, dann brach ein unglaublich grelles, gleißendes Licht aus ihm hervor und riß ihn auseinander. Nur ein teerartiger, blasenschlagender Fleck auf dem Boden blieb von der Kreatur zurück.
Und irgend etwas in Torian stieß einen gellenden Triumphschrei aus.
Er schloß mit einem entsetzten Stöhnen die Augen und wandte sich ab. Aber das Bild der explodierenden Gestalt blieb vor seinem inneren Auge bestehen. Dies – und der Ausdruck lodernden Triumphes in den Augen des Magiers.
»Cathar«, flüsterte er entsetzt, »was hast du getan?«
Aber dann wurde das dunkle Etwas in ihm noch stärker, griff nach seinem Bewußtsein und fegte auch diesen Gedanken davon. Er spürte kaum noch, wie Cathar ihn hochhob und davontrug.
Sie hatten drei Stunden gebraucht, um den Fuß des Berges zu erreichen, und fast eine weitere, um einen Weg hinauf zu finden. Regen und Wind hatten den Granit im Laufe der Jahrmillionen so gründlich glattgeschliffen, daß ein Versuch, den Berg zu besteigen, dem sinnlosen Unterfangen gleichkam, eine steil geneigte Glaswand hinaufzuklettern. Doch es gab einen Weg, eigentlich nur einen schmalen Pfad. Torian hatte die dunkle Linie zuerst für einen Schatten gehalten, und erst als sie unmittelbar davorstanden, hatte er erkannt, daß es in Wirklichkeit ein zerklüfteter Riß war, der wie eine gezackte, von einer gigantischen Axt geschlagene Wunde im Gestein klaffte.
Von unten aus betrachtet hatte der Berg nicht einmal sonderlich hoch ausgesehen. Sicher, er war ein Koloß, massig und finster und schon durch seine alleinige Existenz beeindruckend; ein titanisches Monument, aber nicht sonderlich hoch. Wenigstens war es das, was Torian geglaubt hatte.
Aber es stimmte nicht. Sie quälten sich seit mehr als zwei Stunden über steile Pässe und Geröllfelder, aber der mißgestaltete Schatten der Burg auf seinem Gipfel war keinen Deut näher gerückt, fast als wüchse der Berg im gleichen Maße über ihnen empor, in dem sie ihn erklommen. Torian lächelte über diesen albernen Gedanken, aber es gelang ihm nicht vollends, ihn dorthin zurückzutreiben, wo er hergekommen war. Etwas blieb zurück; eine Unsicherheit, die ihm fremd war, und ein Gefühl körperloser Bedrohung, das ihn ängstigte. Viel mehr, als er sich selbst gegenüber einzugestehen bereit war.
Um mit seinen Gedanken allein zu sein, war er ein Stück vorausgeklettert, während die anderen im Schutz einer überhängenden Felsnase ein Nachtlager aufgeschlagen hatten. Wieder starrte er in die Höhe.
Die Festung ragte wie eine zornig geballte Faust aus schwarzem Stein gegen den Nachthimmel empor. Der Wind hatte sich gelegt, aber die Umgebung war immer noch von Bewegung erfüllt: ein Rascheln und Schaben hier, ein Huschen dort, ein leises Schleifen da… es war nichts Konkretes, nichts, worauf man deuten oder was man auch nur in Worte fassen konnte, aber es war da: ein lautloses, aber unüberhörbares Flüstern und Wispern irgendwo dicht jenseits der Wirklichkeit. Fast ohne daß er es selbst bemerkte, glitt Torians Hand zum Gürtel, strich über den Griff seines Schwertes und zog sich wieder zurück.
Es war noch nicht gänzlich dunkel geworden, und er konnte für kurze Zeit jede noch so winzige Einzelheit dort oben erkennen, denn die Luft war hier über der Wüste in den wenigen Minuten zwischen Tag und Nacht von geradezu phantastischer Klarheit. Und der Weg war auch nicht mehr weit: keine Meile mehr, die ihn und seine Begleiter von dem Kastell trennte. Dort oben rührte sich nichts. Torian glaubte zwar, zu spüren, daß mißtrauische Augen jede noch so winzige Bewegung hier unten verfolgten, aber zu sehen war nichts. Nur der gigantische, steinerne Drachen, der mit seinem Haupt den Turm im Mittelpunkt der Burg und mit seinen wie zum Sprung geöffneten riesigen Schwingen die Mauern des Kastells bildete, schien seinen starren Blick auf ihn gerichtet zu haben. Torian wußte, wie unsinnig dieser Gedanke war – aber für einen Moment glaubte er wirklich, den Blick dieser unheimlichen, aus uraltem schwarzem Granit gemeißelten Augen zu spüren. Einen Blick, der voller Bosheit und stummem Haß war.
»Nervös?« fragte eine Stimme hinter ihm, die wohl spöttischer klingen sollte, als sie es tatsächlich tat.
Torian schrak aus seinen Grübeleien hoch, drehte sich herum und erkannte Cathar in der schlanken Gestalt, die sich wie ein Schatten vom nachtdunklen Hintergrund des Gesteins abhob. Er hatte den Magier nicht näher kommen gehört. Um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, antwortete er nicht gleich, sondern starrte den Magier nur an, der wie er im Schutze eines mächtigen Felsblockes niedergekniet war und zum Turm der kleinen Festung hinaufblickte. Die sonderbar geformten Zinnen des bizarren Bauwerkes erinnerten ihn an die Zähne eines riesengroßen Raubtieres, und die schmalen Fensteröffnungen schienen wie schwarze Augen zu ihnen herabzustarren. Aber Torian wußte, daß sie nicht in Gefahr waren, entdeckt zu werden.
Nach einer Weile nickte er. »Um ehrlich zu sein, ich habe sogar ganz erbärmliche Angst«, gestand er. »Ich habe immer mehr das Gefühl, daß dieser Berg eine einzige tödliche Falle ist.«
Cathar zuckte die Achseln. »Vielleicht.« Er deutete mit einer Kopfbewegung nach oben. »Aber ich bin sicher, daß dort oben nichts mehr lebt. Ansonsten wäre unser Unternehmen von vorneherein zum Scheitern verurteilt.«
Torian wußte, daß der Magier nur zu recht hatte. Man mußte kein Meisterstratege sein, um zu erkennen, daß diese an sich nicht sehr große, halb aus dem Fels herausgemeißelte Festung allein reichte, eine ganze Armee aufzuhalten. Der Pfad hier herauf war so schmal, daß zwei Männer nicht nebeneinander gehen konnten, und er verlief schnurgerade, ohne die allergeringste Deckung. Cathar hatte nicht übertrieben – ein einziger Mann, der hinter den Zinnen des Kastells stand, konnte eine Armee aufhalten, indem er nur mit Steinen warf.
»Nein, vor körperlichen Feinden habe ich keine Angst«, fuhr der Magier fort, ohne auf eine Antwort Torians zu warten. »Aber es gibt etwas anderes, das ich fürchte. Es ist dieses Land selbst. Die meisten der Narren dort hinten halten es einfach für ein Stück nutzloser Erde, auf dem es nur Sand und Steine und allenfalls ein paar giftige Spinnen und Skorpione gibt, aber wir wissen beide, daß es nicht stimmt. Du spürst es ebenso wie ich, nicht wahr? Dieses Land lebt. Und es registriert sehr genau, wer es betritt und was er tut.«
Torian erschrak ein wenig, denn Cathar hatte genau das ausgesprochen, was ihm selbst durch den Kopf ging, aber er entgegnete noch immer nichts. Statt dessen musterte er den Magier aufmerksam. Obwohl sie dicht nebeneinander kauerten, konnte er das Gesicht Cathars nicht richtig erkennen, denn die Nacht war sehr finster. Aber er spürte dafür um so deutlicher, daß sich der Magier nur äußerlich gelassen gab. Innerlich war auch er bis zum Zerreißen gespannt.
Torian schob den Gedanken mit Macht von sich, drehte sich wieder herum und blickte zu der Bergfestung hinauf, die irgendwo über ihnen aufragte. Trotz ihres unheimlichen und angsteinflößenden Äußeren war sie jetzt nur noch als Schatten auszumachen, wie ein kolossales schwarzes Loch in der Wirklichkeit. Man konnte nicht sehen, wo der natürlich gewachsene Fels aufhörte und das Mauerwerk des Kastells begann. Vielleicht lag es aber auch nur an den Schatten der Abenddämmerung, die sich nun immer rascher über das Land breiteten und in ihrem dämmerigen Licht ohnehin alles finsterer und bedrohlicher erscheinen ließen, als es tatsächlich war.
Nach einer Weile wandte sich Cathar schweigend um, bedeutete Torian mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen, und ging zum Lager zurück. Nicht der geringste Laut war von dort zu vernehmen, und selbst die Gestalten der Menschen schienen mit den Schatten der Nacht zu verschmelzen. Die Angst ballte sich wie eine finstere Wolke über dem Rastplatz, so deutlich, daß Torian glaubte, sie fast körperlich spüren zu können. Sein Blick huschte über die Gesichter der Menschen. Die meisten starrten mit steinerner Miene ins Nichts, warteten und hingen ihren Gedanken nach. Nichts schien sich seit seinem Aufbruch verändert zu haben.
Und doch…
Er spürte die Anwesenheit des Fremden überdeutlich. Es war da, unsichtbar und lautlos, wie ein übler Geruch, der sich in der Wirklichkeit festgesetzt hatte, wartend, bereit, und mit einem Mal empfand Torian Haß gegen sich selbst, daß er es – abgesehen von Cathar – als einziger fühlen konnte, während all die anderen ihrem Schicksal gegenüber blind und taub waren und allenfalls einen kleinen Teil dessen erahnen konnten, was um sie herum wirklich geschah.
Nicht einmal die Hälfte ihres Trupps war noch am Leben, seit einer der Männer auf dem Weg hier herauf an einem schmalen Felsgrat das Gleichgewicht verloren hatte und in die Tiefe gestürzt war. Torian fühlte sich schuldig am Tod jedes einzelnen Opfers, das diese Reise bislang gekostet hatte. Nicht dessentwegen, was er seit ihrem Aufbruch aus Armar getan hatte, denn das hatte er tun müssen, sondern weil er sich überhaupt auf dieses wahnsinnige Unternehmen eingelassen hatte. Die Menschen waren Cathar und ihm in blindem Vertrauen gefolgt, und wenn er ihnen auch niemals Hoffnungen gemacht hatte, von denen er nicht wußte, ob er sie erfüllen konnte, war er schon allein dadurch schuldig geworden, daß er den Plan des Schwarzen Magiers unterstützte. Aber er hatte nicht anders handeln können.
Er verscheuchte diese Gedanken, die ihn in letzter Zeit immer häufiger befielen, suchte sich einen geschützten Platz und schloß die Augen. Wenige Sekunden später war er bereits eingeschlafen.
Über der Wüste wurde es Tag. Und wie immer hier, in diesem Teil der Welt, der vielleicht zu den menschenfeindlichsten und gefährlichsten überhaupt zählte, ging die Sonne mit ungeheurer Pracht auf. Der Horizont war in flammendes Rot getaucht, und die Kälte der Nacht wich bereits jetzt einem ersten warmen Hauch, der bald zu stickiger Hitze und nicht viel später zu unerträglicher Glut werden würde. Aber erst bald, noch war es reichlich kühl. Manchmal brachte der Wind Geräusche mit sich: das Rascheln des Sandes, ein leises Klirren, der schwer zu beschreibende Laut sorgsam eingefetteten Leders, das über hartes Lavagestein schleifte, wenn sich einer der Männer im nur wenige Schritte entfernten Lager im Schlaf umdrehte. Und dann war da die Festung: ein Koloß wie eine zornig geballte Lavafaust vor dem flammendroten Himmel.
Obwohl sich der Horizont jetzt bereits seit Minuten mit der Röte der Morgendämmerung überzogen hatte, war es noch immer nicht hell geworden, wenigstens nicht hier, auf der der Sonne abgewandten Seite des zyklopischen Berges, dessen Schatten wie ein ins Gigantische vergrößerter Zeigefinger in die Wüste hinauswies und das Licht auffraß. Der Wind, der aus der Wüste herüberwehte und Torian und den Mann neben ihm, mit dem zusammen er vor knapp einer Stunde den letzten Teil der Nachtwache übernommen hatte, mit einem beständigen Bombardement kleiner spitzer Sandkörner überschüttete, war noch kalt und ließ ihn die Wärme des Felsens, auf dem er saß, um so deutlicher spüren. Es war eine unangenehme Wärme. Nicht die gespeicherte Sonnenhitze des vorangegangenen Tages, die der Stein jetzt allmählich wieder freigab, sondern eine eigenartige, irgendwie schmierige Wärme, als brodele tief unter dem Fuß dieses Höllenberges ein schwarzes Feuer, dessen tödlichen Hauch sie fühlten.
Torian versuchte den Gedanken abzuschütteln und sich auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren, aber es gelang ihm nur zum Teil. Das Kastell war irgendwo vor und über ihnen, denn obwohl er die Festung nicht sehen konnte, spürte er ihre Nähe wie einen üblen Hauch, der die ganze Umgebung erfüllte. Der Fels war so schwarz wie ein Stück gefrorener Nacht, und was er an Licht reflektierte, das schien der Riesenschatten des Berges aufzusaugen. Wenn es irgendwelche Wachen gab, hätten sie fünf Schritte vor ihnen sein können, und er hätte sie nicht gesehen.
Und das war etwas, was Torian noch mehr verstörte. Es war einfach nicht richtig.
Und es war unbegreiflich.
Er konnte die gleichförmig gewellten Sanddünen der Staubwüste erkennen, jenseits des Bergschattens, so klar, wie es nur hier in der Wüste möglich war, den schwarzen Lavastein, auf dem er lag – und dazwischen war nichts. Es schien, als existiere der Ausschnitt der Welt, der zwischen ihnen und dem Kastell lag, einfach nicht.
»Das… das ist Zauberei«, murmelte eine Stimme neben ihm. Torian wandte den Blick und starrte den Mann neben sich an. Nassan war ein dunkelhaariger Bursche von höchstens zwanzig Jahren, mit schmächtigen Schultern und einem etwas weichlichen, stets verschlossenen und düsteren Gesicht. Er gehörte zu der von Cathar gedungenen Mörderbande, aber irgendwie paßte er nicht dazu. Er war still und in sich gekehrt, hielt sich meist ein wenig abseits von den anderen, und obwohl eigentlich nichts an ihm auffällig war, hob er sich schon durch seine bloße Anwesenheit von ihnen so stark ab, daß sich Torian sogar an seinen Namen erinnerte. Er hatte schon mehrfach überlegt, wie der junge Mann in diese Gesellschaft geraten konnte, war aber nie dazu gekommen, ihn zu fragen. Nach kurzem Zögern schluckte er den scharfen Verweis, der ihm auf der Zunge lag, hinunter. Im Grunde hatte Nassan nur ausgesprochen, was auch er insgeheim dachte. Was sie alle insgeheim dachten. Diese lichtfressende Schwärze dort vor ihnen war nur noch mit Zauberei zu bezeichnen, wie diese ganze fremde Welt, die sie mit dem ersten Schritt in den Flüsterwald betreten hatten, von Magie durchdrungen zu sein schien.
»Wahrscheinlich ist es nur eine Illusion«, wiegelte er ab, ohne daß es ihm allerdings gelang, in seiner Stimme die Überzeugung mitklingen zu lassen, die diese Worte eigentlich verlangt hätten. »Wir dürfen uns davon nicht verrückt machen lassen.«
Nassan nickte, dann seufzte er und trat ein paar Schritte zurück, um aus dem Schatten des Felsens zu gelangen. Es war unglaublich, aber die Dunkelheit tiefster Nacht und die grelle Helligkeit des Tages lagen in der Tat nur wenig auseinander. Nassan hob die linke Hand über das Gesicht, um sich vor dem grellroten Sonnenlicht des Morgens zu schützen, wischte sich mit Daumen und Zeigefinger die Tränen fort, die ihm Müdigkeit und Licht in die Augen getrieben hatten, und blickte beinahe andächtig in die Wüste hinaus. »Ich habe mich in den letzten Nächten oft gefragt, ob ich den Sonnenaufgang noch einmal sehen würde. Vielleicht ist es heute das letzte Mal. Der Morgen vor der Schlacht…« Er seufzte abermals. »Mein Gott, warum muß er immer so schön sein?«
Torian antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Es war ein ausnehmend schöner Morgen, voller Ruhe und Frieden und einer schwer in Worte zu fassenden Sanftheit, und trotzdem hatte – vielleicht für alle außer ihm unsichtbar – der Tod bereits seine häßliche Klaue nach dem kommenden Tag ausgestreckt. Er lauerte in den Schatten, verbarg sich in den leise flüsternden Stimmen, die der Wind herantrug, und wartete dort oben in den finsteren Gewölben der Burg, die sich hinter der Wand unnatürlicher Dunkelheit verbargen. Und wenn dort oben wirklich etwas auf sie lauerte, dann würde es eine Schlacht geben, und dann würde vielleicht wirklich keiner von ihnen den nächsten Sonnenaufgang erleben. Er fragte sich, ob Nassan wohl mehr ahnen mochte, als er aussprach, aber er wußte auch, wie gefährlich Gedanken dieser Art waren, und daß er sie nicht ohne Widerspruch hinnehmen durfte.
»Du bist ein Narr«, erwiderte er härter, als vielleicht notwendig gewesen wäre. »Dies ist kein Platz für Träumer. Wenn du dauernd nur an den Tod denkst, dann spring doch in die Tiefe, und du wirst ihn kennenlernen.«
Nassan schien widersprechen zu wollen. Für einen Moment flammte Trotz in seinem Blick auf, dann purer Zorn: Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, und er legte die Hand auf den Schwertknauf, aber dann schien er sich im allerletzten Moment zu besinnen, wem er gegenüberstand, und statt aufzufahren, atmete er nur lautstark aus.
»Schon gut, ich habe es nicht so gemeint«, lenkte Torian ein. Seine Worte erschreckten ihn selbst. Er hatte Nassan nicht beleidigen wollen, aber wieder hatte er für wenige Sekunden diesen erschreckenden Drang verspürt, Böses zu tun; seine innere Antwort auf die äußere Umgebung. »In meiner Heimat gilt eine alte Weisheit«, fügte er rasch mit sanfterer Stimme hinzu. »Sie besagt, daß man den Tod herbeilockt, wenn man allzu oft an ihn denkt. Konzentriere dich auf das, was vor uns liegt, nicht auf Grübeleien über den Tod. Nicht jetzt und nicht hier. Aber nun sei still.« Er machte eine befehlende Geste, um seine Worte zu unterstreichen, lächelte Nassan aber noch einmal flüchtig zu, und wandte sich dann wieder dem Berghang und dem unheimlichen Schatten zu. Die Burg blieb, was sie war: ein düsterer, unheilverkündender Flecken Schwärze. Wie ein Loch in der Wirklichkeit.
Torian fror mit einem Mal noch stärker als zuvor, und wie zur Antwort auf seine Unheil ahnenden Gedanken erscholl irgendwo hinter ihnen ein helles, trockenes Knacken. Er fuhr zusammen, packte sein Schwert und riß es aus der Scheide.
»Was war das?« flüsterte Nassan. Seine Stimme kam Torian fremd vor, so sehr zitterte sie vor Furcht und nur mühsam unterdrücktem Entsetzen. Er antwortete nicht, sondern versuchte einige endlose Sekunden lang vergeblich, die Schwärze um sie herum mit Blicken zu durchdringen.
Dann wiederholte sich das Geräusch, und es war sehr viel lauter diesmal: ein helles Knacken, wie das Kollern eines Steins. Und eine Sekunde später glaubte Torian einen Schatten zu sehen, der sich ihnen aus Richtung des Lagers näherte. Wahrscheinlich einer der Männer, der schon früh aufgestanden war.
»Wer ist da?« rief Torian.
Der Schatten antwortete nicht, aber er blieb stehen: ein großer, finsterer Umriß, gerade an der Grenze des Sichtbaren, jedoch unzweifelhaft der eines Menschen. Torian runzelte die Stirn, packte sein Schwert fester und trat einige Schritte vor.
»Wer ist da?« fragte er noch einmal, sehr viel schärfer diesmal und mit einer Kraft in der Stimme, die ihm der Zorn gab. Er machte noch einen Schritt weiter nach vorn, und jetzt glaubte er die schwarze Kutte Cathars zu erkennen. Er atmete auf. »Bei Ch’tuon, was soll das?« fragte er ärgerlich. »Warum antwortest du nicht?« Er ließ sein Schwert sinken.
Es war beinahe die letzte Bewegung seines Lebens und tatsächlich die letzte, die Nassan wahrnahm.
Die Gestalt verschwand blitzschnell und tauchte in der nächsten Sekunde wie ein Schatten wieder über ihnen auf; ein Dämon, den die Nacht ausgespien hatte und der lautlos und schnell wie der Tod war. Torian fand gerade noch Zeit, seinen schrecklichen Irrtum zu erkennen und herumzufahren, da blitzte es über ihm auf. Der Säbel der schwarzgekleideten Gestalt beschrieb einen engen, unglaublich raschen Halbkreis, trennte Nassans Kopf von den Schultern und hackte noch in der gleichen Bewegung nach Torians Kehle. Torian warf sich verzweifelt herum; trotzdem zerfetzte die rasiermesserscharf geschliffene Klinge sein Wams und das Kettenhemd darunter und hinterließ eine tiefe Wunde in seiner Schulter. Er brüllte vor Schmerz und Schrecken, kam endlich auf die Füße und parierte den blitzschnell nachgesetzten Hieb des Angreifers mit seiner eigenen Waffe.
Es war, als hätte er auf Stahl geschlagen. Sein eigenes Schwert, ungeschickt und viel zu unkontrolliert in die Höhe gerissen, wurde ihm aus der Hand geprellt, und ein dumpfes Pochen zuckte bis in seine Schultermuskeln hinauf und verwandelte sie in ein nutzloses Bündel aus Schmerz und verkrampftem Gewebe. Aber wenigstens nahm er dem Hieb so genügend von seiner Kraft, daß die Klinge ihn zwar noch traf und auch aus dem Gleichgewicht brachte, so daß er abermals zu Boden fiel, sein Panzerhemd aber nicht mehr durchtrennte.
Torian reagierte, ohne zu denken, blindlings den Reflexen und Reaktionen gehorchend, die er sich selbst im Laufe endloser Jahre antrainiert hatte. Als der Angreifer herumfuhr und sein Schwert mit beiden Händen hob, um den vermeintlich hilflos vor ihm Liegenden zu töten, stieß er ihm den linken Fuß vor das Knie, vollführte mit dem anderen Bein eine blitzartige, scherenförmige Bewegung und hakte seinen Fuß hinter den des Schwarzgekleideten. Der Krieger taumelte. Seine eigene Bewegung, mit der er Schwung geholt hatte, um Torian endgültig zu erledigen, wurde ihm zum Verhängnis.
Er fiel, stürzte jedoch nicht vollends, sondern sank nur auf ein Knie herab und fand im letzten Moment mit den Händen Halt an einem Felsen, aber der Augenblick reichte Torian, herum und auf die Füße zu kommen und mit einem Sprung hinter ihm zu sein. Seine Gedanken überstürzten sich. Er hätte sich bücken und Nassans Schwert aufheben können, aber seine rechte Schulter war noch immer verkrampft und halb gelähmt von der ungeheuren Wucht, die im Schwerthieb des Angreifers gesteckt hatte. Er wußte, daß er dem Mann mit dieser Waffe nicht gewachsen war. Wer immer sich unter dem schwarzen Mantel verbarg, mußte Körperkräfte besitzen, die sich mit denen von Garth messen konnten. Aber Torian hatte nicht nur mit dem Schwert zu kämpfen gelernt…
So kompliziert dieser Gedankengang gewesen war, er hatte nur den Bruchteil einer Sekunde in Anspruch genommen. Noch während der Mann vor ihm mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht kämpfte, fuhr Torian herum, schlang den linken Arm von hinten um seinen Hals und tastete mit den Fingerspitzen nach dem Kinn, das sich unter dem schwarzen Stoff der Gesichtsmaske verbergen mußte; gleichzeitig legte sich sein rechter Arm um den Schädel des Angreifers, die Armbeuge gegen die rechte, die gespreizten Finger gegen die linke Schläfe des Mannes gepreßt. Der Unbekannte bäumte sich auf, als er begriff, was Torian tat. Seine Hände ließen das Schwert fallen, tasteten nach oben, zerrten einen Moment lang vergeblich an Torians Handgelenken und glitten weiter auf der Suche nach seinem Gesicht und den Augen.
Sie erreichten sie nie.
Torian atmete tief ein, konzentrierte sich nur auf seine Hände und stieß einen gellenden Schrei aus. Jedes bißchen Kraft, das in seinem Körper war – und es war eine Menge! –, lag in dieser einen, blitzartigen Bewegung, in der er die Arme gegeneinander bewegte.
Unter dem schwarzen Stoff in seinen Händen erscholl ein Laut, als zerbreche ein trockener Ast. Der Körper in Torians Armen erschlaffte, und er ließ die Leiche zu Boden sinken. Im Lager mußte man seinen Schrei und die Geräusche des Kampfes gehört haben, und er verstand nicht, wieso nicht längst jemand gekommen war, um nach ihm zu sehen. Furchtsam schaute er sich um, versuchte die Dunkelheit auf der Suche nach weiteren Angreifern mit den Augen zu durchdringen, und erst als er sich sicher war, daß ihm zumindest im Augenblick keine Gefahr mehr drohte, entspannte er sich, trat einige Schritte zurück und wollte sich nach seinem Schwert bücken, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Er fuhr blitzschnell herum. Nichts war mehr zu sehen, aber was er unter anderen Umständen vielleicht als Einbildung abgetan hätte, weckte jetzt erst recht sein Mißtrauen. Sein Blick ruhte auf dem Körper des Unbekannten ein paar Schritte vor ihm, und er hatte den Eindruck, als hätte der Leichnam noch vor wenigen Sekunden ein wenig anders dagelegen.
Dann wiederholte sich die Bewegung. Torians Augen quollen vor Entsetzen ein Stückweit aus den Höhlen, und einen Moment glaubte er, schlicht und einfach den Verstand verloren zu haben. Was er sah, war undenkbar. Undenkbar, hämmerten seine Gedanken, immer und immer wieder. Es war vollkommen undenkbar! Er hatte gehört, wie das Genick des Mannes gebrochen war, hatte gespürt, wie sich sein Körper in einem letzten entsetzlichen Krampf aufbäumte und dann urplötzlich erschlaffte, als das Leben aus ihm wich. Er war tot; ohne jeden Zweifel tot!
Aber er bewegte sich.
Langsam, mit seltsam ziellos wirkenden, umständlichen Bewegungen, stemmte er sich auf Hände und Knie hoch, taumelnd und fahrig (und tot), aber er bewegte sich.
Torians Blick fiel auf die Hände des Mannes. Sie waren schwarz. Sie steckten nicht in Handschuhen, und sie waren auch nicht dunkel von Schmutz oder geronnenem Blut, sondern schwarz, von einer Farbe, die das Licht aufzufressen schienen, und es waren auch nicht die Hände eines Menschen…
Was Torian sah, waren Krallen, raubvogelartig gekrümmte, lederhäutige Krallen, die in zollangen, rasiermesserscharfen Nägeln endeten, viel zu oft geknickt, als hätten sie ein paar Gelenke zuviel, und von nässenden Warzen und Pusteln übersät. Und sie bewegten sich! Der Unbekannte hielt die Hände vollkommen still, aber sie bewegten sich trotzdem, die Haut zuckte und bebte, zog sich zusammen und zitterte, als liefe eine Armee widerlicher kleiner Insekten darunter entlang.
Torian wich mit einem gurgelnden Laut vor der entsetzlichen Erscheinung zurück und hob beide Hände wie schützend vor das Gesicht, ohne sich dessen auch nur bewußt zu werden, während er dem unglaublichen Schauspiel folgte. Rings um ihn wich die Stille des Wüstenmorgens einem Chor überraschter Schreie und dann den Lauten eines rasch heftiger werdenden Kampfes, aber das registrierte Torian nur am Rand, mit einem Teil seines Bewußtseins, das wie durch ein Wunder noch zu rationalem Denken fähig, aber vollkommen machtlos über seinen Körper war. Für einen Moment spürte er den eisigen Griff des Wahnsinns in seinem Gehirn, als sich die Gestalt vor ihm vollends aufrichtete und ihr Schwert hob, noch immer mit diesen fahrigen, fürchterlichen Bewegungen.
Wie eine Marionette, deren Fäden durcheinandergeraten waren, dachte Torian entsetzt.
Taumelnd bewegte sich die Gestalt auf ihn zu, das Schwert nur halb erhoben, der Kopf pendelnd, als hätten die Muskeln nicht die Kraft, ihn allein zu halten. Torians Angriff hatte das schwarze Tuch heruntergerissen, hinter dem sich das Gesicht des unbekannten Kriegers bisher verborgen hatte.
Er schrie. Nur ein einziges Mal und nicht sehr lange oder sehr laut, aber in seinem Schrei lag alles Entsetzen der Welt; und noch ein bißchen mehr.
Das Gesicht des Mannes war…
Torians Verstand weigerte sich, den Anblick als wahr zu akzeptieren. Etwas in ihm zerbrach mit einem hörbaren, schmerzenden Laut. Was er sah, war nicht das Gesicht eines lebenden Menschen, nicht einmal irgendeines fremdartigen Ungeheuers – sondern die grauenerregende Fratze eines Mannes, der vielleicht schon vor Jahrzehnten gestorben war! Dünne, wie ausgetrocknetes Pergament gerissene Haut spannte sich über den Knochen, so daß es viel mehr Ähnlichkeit mit einem Totenschädel hatte als mit den Zügen eines lebenden Menschen. Die Augen waren eingesunken, ausgetrocknet und zu zerknitterten, halb durchsichtigen dünnen Hautsäcken geworden, die wie trübe gewordene Glaskugeln haltlos in ihren Höhlen hin und her rollten, und aus dem Mund, der halb offenstand, hing ein zerfetzter Lappen, der einmal eine Zunge gewesen war.
Torkelnd kam die entsetzliche Kreatur näher und hob das Schwert, das sie mit einer der von schwarzem Eigenleben erfüllten Klauen führte. Und es war das Blitzen des tödlichen Stahles, das Torian wieder in die Wirklichkeit zurückriß. Mit einem entsetzten Kreischen sprang er zurück, wich der niederpfeifenden Klinge im letzten Augenblick aus und trat nach der Waffenhand des Angreifers. Noch vor einer Minute hätte er damit sein Leben aufs Spiel gesetzt, denn der Mann – Mann? – hätte zweifellos seinen Fuß gepackt und ihn zu Boden geworfen. Aber seine Reaktionen waren langsamer geworden, als müsse er sich von diesem zweiten Tod erholen, und Torians Fuß traf, zerbrach sein Handgelenk, und die Waffe wirbelte davon.
Der lebende Tote wankte. Einen Moment lang suchte er mit weit ausgebreiteten Armen nach seiner Balance, dann fiel er nach hinten, prallte gegen einen Felsen und begann, sich mühsam wieder in die Höhe zu stemmen. Torian schleuderte ihn mit einem weiteren Fußtritt zurück und versetzte ihm rasch hintereinander drei, vier harte Hiebe, die einen lebenden Gegner zumindest gelähmt, wahrscheinlich aber sogar auf der Stelle getötet hätten.
Das Ungeheuer gab nicht einmal einen Laut von sich, sondern versuchte sofort wieder, auf die Beine zu kommen. Mit einem höhnischen Kichern trat der lebende Tote auf Torian zu und streckte seine schrecklichen Hände aus. Wie sollte er einen Gegner töten, der längst nicht mehr lebte? dachte Torian verzweifelt. Sein Blick fiel auf den Leichnam Nassans, über den er gerade fast gestolpert wäre. Die Hand des Toten lag noch auf dem Schwert, das zu ziehen ihm keine Zeit mehr geblieben war. Torian unterdrückte den Widerwillen, den der Anblick des enthaupteten Jungen in ihm wachrief, bückte sich blitzschnell und schloß die Hand um Nassans Schwert. Wenn nötig, dachte er grimmig, würde er diese Schreckenskreatur in Stücke hacken.
Aber er kam nicht dazu. Er kam nicht einmal mehr dazu, das Schwert ganz aus der Scheide zu ziehen und sich wieder dem Untoten zuzuwenden.
Denn in diesem Moment bewegte Nassan den Arm, hob die rechte Schulter ein wenig und schloß die Finger um Torians Handgelenk!
Torian begann zu kreischen. Die Töne, die er von sich gab, hatten nichts Menschliches mehr an sich. Aber er versuchte nicht einmal mehr davonzulaufen, als sich Nassans schrecklicher, kopfloser Torso vor ihm aufrichtete und mit der anderen Hand nach seiner Kehle tastete. Er wußte, daß er sterben würde, hier und jetzt, doch er registrierte den Gedanken nur, unfähig, in irgendeiner Weise darauf zu reagieren. Wie gelähmt starrte er das unmögliche Ding, das einmal Nassan gewesen war, an. Aber irgend etwas in ihm, vielleicht der Instinkt, der Tiere dazu treibt, sich selbst zu verstümmeln, um aus einer Falle zu entkommen, irgend etwas wehrte sich noch, als er Garths entsetzten Schrei hinter sich vernahm.
»Torian!«
Nicht er selbst, sondern nur noch der Rest seines unterbewußten Selbsterhaltungstriebes ließ ihn den Fuß hochreißen und Nassan zurückstoßen. Er hatte dabei das unbeschreiblich ekelhafte Gefühl, in eine weiche, schwammige Masse zu treten.
Im nächsten Moment klatschte etwas zweimal hart in sein Gesicht, und er sah verschwommen Garth vor sich, der ihn am Arm packte und mit sich zerrte. Nach einigen Sekunden erwachte Torian vollends aus seiner Erstarrung und schaute sich um. Cathar war nirgendwo zu erblicken, dafür wüteten ein halbes Dutzend der Alptraumgestalten im Lager. Zwei der Menschen waren bereits gestorben und hatten sich in ihre Phalanx eingereiht. Verzweifelt versuchten die anderen, sie sich mit ihren Schwertern vom Leibe zu halten, aber die Kreaturen griffen immer wieder an, egal wie schlimme Wunden ihnen beigebracht wurden. Es ist unmöglich, jemanden zu töten, der bereits seit Jahren tot ist! schoß es Torian durch den Sinn.
Direkt vor ihm, aus dem Sichtschutz eines Feuers heraus, wuchs einer der Toten in die Höhe. Torian schrie auf, prallte einen halben Schritt zurück und trat in die Flammen. Unter seinen Stiefeln zerbrach brennendes Holz. Flammen und Funken hüllten ihn ein, und sein Umhang begann fast augenblicklich zu brennen, aber er spürte den Schmerz nicht einmal. Blind vor Angst und von dem puren Willen erfüllt, einfach nur zu überleben, hob er sein Schwert und schlug nach dem entsetzlichen Wesen. Seine Klinge zerfetzte die Kleidung des Angreifers, biß tief in seine Seite und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Der Mann fiel, versuchte mit wild rudernden Armen sein Gleichgewicht wiederzufinden und stürzte endgültig, als Torian ihm einen Tritt versetzte. Ohne einen einzigen Laut fiel er nach vorne, die Arme weit vorgestreckt, um den Sturz abzufangen – direkt in die lodernden Flammen hinein. Sein Körper verschwand bis zum Gürtel in der weißflammenden Hölle aus Feuer und Glut. Zerborstenes Holz und Funken stoben wie in einer lautlosen Explosion in die Höhe und senkten sich auf Torian herab.
Aber er spürte auch diesen neuerlichen Schmerz nicht, denn sein Blick war noch immer wie hypnotisiert auf den Angreifer gerichtet.
Er blieb nicht liegen.
Die Temperaturen dort, im Herzen des gigantischen Scheiterhaufens, mußten hoch genug sein, Eisen zu schmelzen, aber der Mann mit dem Alptraumgesicht blieb nicht liegen! Er bewegte sich, stemmte sich hoch und herum und stand wieder auf.
Das Vorderteil seines Gewandes und sein Haar waren fort, binnen Sekunden zu Asche zerfallen. Das dünne Gewebe aus Eisenringen, das sein Kettenhemd bildete, glühte hier und da in düsterem Rot. Grauer Dampf stieg von der entsetzlichen Gestalt hoch. Ihre Hände brannten. Torians Keuchen steigerte sich zu einem entsetzten Schrei, als die Gestalt ein meckerndes Kichern hören ließ und mit ihren furchtbaren brennenden Händen nach ihm griff.
Im nächsten Moment war sie verschwunden. Torians Schwert schnitt nur noch durch Luft und hätte fast Cathar getroffen, der neben ihn getreten war und die Schreckenskreatur mit den Händen berührt hatte. Mit einem grotesken Hüpfer brachte sich der Magier vor der Klinge in Sicherheit.
»Paß doch auf, verdammter Narr!« zischte er.
Erst jetzt fiel Torian die Ruhe auf, die sich über das Lager gesenkt hatte. Die lebenden Toten waren verschwunden, vernichtet von Cathars magischer Kraft.
»Wo warst du?« fauchte Torian. »Wenn du hiergewesen wärest, hätte – « Er brach ab und stieß sein Schwert mit einem übertrieben harten Ruck in die Scheide zurück. »Was waren das für Kreaturen? Und woher kamen sie?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Cathar. Die Worte klangen gehetzt, und in seiner Stimme lag ein Unterton, der Torian schaudern ließ. Noch vor einer Stunde war er überzeugt gewesen, daß der Magier nicht einmal wußte, was Angst wirklich war, doch jetzt flackerte nackte Panik in Cathars Blick. »Ich habe etwas entdeckt, wogegen das hier vielleicht nur ein harmloser Auftakt war«, fuhr er hastig fort, bedeutete Shyleen und Torian mit einer Handbewegung zu ihm zu kommen und befahl den anderen Männern, an Ort und Stelle zu warten. »Kommt mit«, sagte er und wandte sich ohne ein weiteres Wort um.
Es war sehr still auf der kleinen Plattform, auf die Cathar sie geführt hatte; eine halbrunde, in der Länge knapp zehn Meter durchmessende Fläche an der dem Lager entgegengesetzten Seite des Berges, die von einer brusthohen steinernen Brüstung begrenzt wurde. Vier turmartige, doppelt mannshohe und beinahe zwei Meter dicke Monolithe aus schwarzem Granit erhoben sich aus dem Steinring. So wie die ganze Plattform war auch die mächtige Brüstung ein wenig zu gleichmäßig, um allein aus einer Laune der Natur heraus entstanden zu sein. Sturm und Sand mochten sie im Laufe der Zeit glattgeschliffen haben, aber ebensogut konnten es auch menschliche Hände gewesen sein. Letzteres erschien Torian wahrscheinlicher. Er trat an die Brüstung heran. Dahinter fiel der Fels Hunderte von Metern lotrecht in die Tiefe, um mit dem Wüstenboden zu verschmelzen.
Torian starrte in die Richtung, von der aus sie sich dem Berg genähert hatten, und im gleichen Moment wurde ihm klar, warum Cathar sie ausgerechnet hierher geführt hatte. Inmitten der Wüste, gerade noch am Rande des Sichtbaren bewegte sich etwas Schwarzes, Gewaltiges, das Torian auch nicht erkennen konnte, als er das Gesicht mit der Hand abschirmte und die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff.
»Was ist das?« fragte Garth, der genau wie Bard darauf bestanden hatte, sie zu begleiten, obwohl Cathar ihrer beider Anwesenheit für unnötig hielt, bei dem, was er vorhatte, ohne daß Torian auch nur erahnte, worum es sich handeln mochte. Er zuckte mit den Schultern, erst dann bemerkte er, daß die Frage nicht an ihn, sondern an den Magier gerichtet war.
»Genau das möchte ich herausfinden«, antwortete Cathar. »Deshalb habe ich euch hierhergeführt, und dafür brauche ich Shyleens und Torians Hilfe. Allein bin selbst ich zu schwach, um die Vergangenheit zu ergründen.«
Das Mädchen fuhr zu ihm herum. »Du willst – «
»Unser Leben hängt davon ab. Was immer das dort draußen sein mag, es kommt näher. Und es ist schneller als wir. Ich muß herausfinden, was es ist, um uns schützen zu können.«
»Aber warum Torian?« begehrte Shyleen auf. »Ich bin die Tochter eines Magiers und kann dir helfen, aber er verfügt über keinerlei magische Kräfte. Es könnte seinen Geist vernichten.«
»Das wird es nicht. Unsere Kräfte allein reichen nicht aus, und er ist stärker, als du denkst. Schließlich habe ich meinen Geist schon einmal mit dem seinen verbunden.«
»Nein!« stieß Torian hervor, der erst jetzt zu begreifen begann, was Cathar vorhatte. Der Magier sprach nicht aus, daß es ihm um die Kraft des Parasiten ging, aber Torian verstand auch so. Er erinnerte sich der entsetzlichen Sekunden auf der Lichtung im Flüsterwald, während der er die Welt sekundenlang durch die Augen des Magiers gesehen hatte. Er würde lieber sterben, als sich noch einmal darauf einzulassen.
»Unser aller Leben hängt vielleicht davon ab«, beschwor ihn Cathar, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Unseres und das der Männer im Lager. Dir wird nichts passieren, das schwöre ich. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« Er griff in die Tasche seiner Kutte. Als er die Hand wieder herauszog, hielt er einen Stein zwischen den Fingern, rund und glatt wie eine Münze und von einem unglaublich tiefen Schwarz.
»Bei den Dämonen, was bedeutet das alles?« fragte Garth. Seine Stimme hatte eine Winzigkeit von ihrer gewohnten Stärke verloren. Obwohl er nichts von Magie verstand, spürte wohl auch er, daß das, dessen Zeuge er wurde, mehr als außergewöhnlich war. Etwas Unheimliches, mit Worten kaum zu Beschreibendes ging von dem schwarzen Stein in Cathars Hand aus. Er bekam keine Antwort, statt dessen trat Cathar in die Mitte der Plattform. Der Stein war in seiner zur Faust geschlossenen Rechten verborgen.
Ein sonderbar angespannter Ausdruck lag auf seinen Zügen. Keine Furcht, dachte Torian schaudernd, aber doch etwas, das ihr sehr nahe kam.
Zehn, fünfzehn endlose Sekunden lang schwieg Cathar, und die Stille wurde fast greifbar. Dann ging er in die Hocke, legte den Stein vor sich auf den Boden und bedeckte ihn mit der flachen Hand. So verharrte er einen kurzen Moment lang, dann öffnete er die Hand. Seine Hände begannen zu zittern, aber sonst geschah nichts. Der münzförmige Stein lag einfach da, reglos und so tot wie ein Stein nur sein konnte, von einem unheimlichen, lichtschluckenden Schwarz. Und doch schien er sie höhnisch anzugrinsen. Mit einem Male war Torian kalt, entsetzlich kalt. Er versuchte sich einzureden, daß es nur die Kälte wäre, welche die Angst in seinem Inneren auslöste, aber er mußte rasch erkennen, daß die Kälte keine Einbildung war, sondern Realität. Die Temperaturen sanken rapide, bis sein Atem als grauer Dampf vor seinem Gesicht erschien und seine Finger klamm und steif wurden.
Für endlose Minuten hockte Cathar einfach nur da, in fast absurder Haltung, scheinbar mitten in der Bewegung erstarrt, dann erwachte er schließlich mit einem Ruck aus seiner Lähmung.
»Eure Hände«, sagte er und richtete sich auf. Der Stein blieb vor ihm auf dem Boden liegen. »Bildet einen Kreis.« Shyleen gehorchte sofort. Sie ergriff die Hand des Magiers, und nach kurzem Zögern reihte sich auch Torian in den noch offenen Kreis ein und packte die schlanke Hand des Mädchens und Cathars dürre Finger. Sie fühlten sich kalt und trocken wie altes Pergament an. Torian verstand immer noch nicht völlig, was der Magier vorhatte, aber die Erinnerung an das Geschehene und ein Blick auf das, was sich ihnen aus der Wüste näherte, ließen ihn erkennen, daß jetzt nicht die Zeit für Fragen und lange Erklärungen – die er zum größten Teil wohl ohnehin nicht verstehen würde – war. Ob es ihm behagte oder nicht, er mußte dem Magier wieder einmal vertrauen. Garth und der Rattengesichtige wichen in den hintersten Winkel der Plattform zurück.
»Jetzt schließt die Augen«, gebot Cathar leise. »Und laßt euch fallen. Ihr braucht keine Furcht zu haben.«
Torian schloß gehorsam die Augen. Im ersten Moment sah er nichts als Dunkelheit, und dann konnte er trotz seiner geschlossenen Augen wieder sehen. Sekunden vergingen. Dann eine Minute. Zwei. Drei. Dann begann die schwarze Scheibe zu wachsen.
Jedenfalls war es das, was Torian im ersten Moment dachte. Aber gleich darauf erkannte er, daß es nicht stimmte. Der Stein selbst blieb unverändert, aber er schien plötzlich von einem düsteren Halo aus schwarzem Licht umgeben, einer Aura der Finsternis und Kälte, die im gleichen Maße wuchs, wie das Licht der Sonne abnahm. Lautlos und rasch breitete sich die unheimliche Aura aus, bis sie auch den letzten Rest Helligkeit gefressen hatte.
Die Dunkelheit wurde noch tiefer, obgleich Torian dies nicht mehr für möglich gehalten hatte. Aber es gab eine Steigerung von Schwarz, und das war es, was er in diesen Sekunden erlebte, eine Finsternis, die nichts mehr mit der bloßen Abwesenheit von Licht zu tun hatte, sondern auf das Dasein von irgend etwas anderem, unsäglich Fremden zurückzuführen war. Es war, als wäre er aus der Welt heraus – und in einen Kosmos aus Leere und abgrundtiefer Schwärze hineingeschleudert worden. Sein Atem ging schneller, und sein Herz jagte. Er spürte, wie irgend etwas aus dem Nichts heraus nach ihm griff.
Gesichter, erschienen um ihn herum. Unsichtbar und mit Linien aus widerlich zuckendem Schwarz auf finsterem Untergrund gemalt, aber trotzdem auf entsetzliche Weise sichtbar, höllische Fratzen, die böse Verhöhnung menschlichen Seins, dann blitzende Splitter von Rot, die von der Schwärze wieder aufgesaugt wurden, für den millionsten Teil einer Sekunde eine gräßlich verzerrte Gestalt, ein gräßlich aufgedunsener Balg mit viel zu vielen Armen, gewaltigen, vielfach gedrehten Hörnern und einem Kopf, dessen wahrer Anblick so tödlich wie ein Schwerthieb gewesen wäre. Torian wollte schreien, herumfahren und aus dem Kreis ausbrechen, aber er konnte es nicht. Das Entsetzliche, das ihn schier in den Wahnsinn trieb, lähmte ihn auch zugleich, machte ihn unfähig, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, sich zu bewegen. Irgend etwas griff nach und in seinen Geist, wühlte sich wie eine gigantische glühendheiße Hand durch seine Gedanken und drang bis in die tiefsten, verborgenen Bereiche seiner Seele vor, las seine geheimsten Gedanken und kramte das unterste zuoberst.
Und etwas in ihm starb. Er konnte das grauenerregende Gefühl nicht anders beschreiben: Das Etwas erfüllte ihn mit Kraft, mit schier unglaublicher, übermenschlicher Stärke, aber es stahl ihm auch etwas dafür, verlangte einen Preis, den er jetzt noch gar nicht abzuschätzen in der Lage war. Irgend etwas, das bisher in ihm gewesen war, sein Leben lang, ohne daß er es auch nur gewußt hätte, war fort, als sich die unsichtbare Riesenhand zurückzog.
Einige Sekunden lang herrschte wieder nur Dunkelheit um ihn herum, und er klammerte sich mit aller Inbrunst an den Gedanken, daß der entsetzliche Prozeß vorbei wäre. Aber dem war nicht so, sondern das, was auch immer Cathar vorhatte, begann erst. Die Dunkelheit lichtete sich, und dann –
- dann war die Plattform wieder da, aber aus einem vollkommen fremden, schwindelerregenden Blickwinkel und zu ungeheurer Größe explodiert, zersplittert in Tausende und Abertausende einzelner kleiner Bilder, die sich zu einem verwirrenden Kaleidoskop bizarrer Farben und Formen zusammenfügten. Er sah sich selbst und die anderen, wie sie dastanden, sich an den Händen haltend und einen kleinen Kreis bildend, zu absurden Ausmaßen aufgeblasene Ungeheuer, häßlicher als alles, was er jemals zuvor erblickt hatte; daneben Garth und Bard, groß wie Berge und mit Gesichtern wie zerklüftete Felswände. Dann kippte das ganze Bild nach rechts, begann zu torkeln und auf und ab zu hüpfen und war plötzlich verschwunden, als die Welt rings um ihn herum in einem unglaublich intensiven, blauroten Licht zu erstrahlen begann.
Etwas fegte sein Denken mit ungeheurer Macht hinweg, und dann überfluteten die von Cathars Magie erweckten Bilder sein Bewußtsein.
Weit draußen, Meilen von der schwarzen Lavanadel des Berges entfernt, erstreckte sich die Wüste, leblos und starr wie seit Jahrmillionen. Scheinbar leblos. Es gab Leben hier, wenn es auch eines kundigen Auges bedurfte, es zu entdecken. Ein Nest kleiner schuppiger Wüstenameisen hier, unsichtbar und sich nur durch die Spuren mikroskopisch kleiner Beinchen verratend, die der Wind, der stumme Verbündete des Wüstenlebens, beinahe so schnell wieder verwehte, wie sie entstanden, ein paar Käfer da, monströse Geschöpfe mit mächtigen Panzerplatten und ehrfurchtgebietenden Scheren, winzig, aber in der miniaturisierten Welt, in der sie lebten, doch gräßliche Monster. Auch größeres Leben – eine Spinne, hier und da sogar ein so komplexer Organismus wie eine Schlange, die gefürchteten Skorpione… Nein, die Wüste war nicht tot.
Und doch war die Bewegung, die den nördlichen Hang der Düne – sie unterschied sich durch nichts von der zu ihrer Linken oder Rechten oder von irgendeiner der Millionen und Abermillionen anderer Sanddünen, die diesen Teil der Staubwüste prägten – und doch war die Bewegung, die einen Teil ihres Hanges zusammenrutschen und wie heißen roten Schnee davonstieben ließ, nicht auf irgendeinen Teil dieses Lebens zurückzuführen. Auch nicht auf den Wind.
Es war etwas in ihr.
Etwas, das unter ihr begraben gewesen war, seit langer, sehr, sehr langer Zeit, selbst für die Begriffe dieses Teiles der Welt, wo die Zeit mit einer anderen Elle gemessen wurde. Sie waren vor Tausenden von Jahren nach Caracon gekommen. Ein Volk, dessen Namen heute niemand mehr kannte, und das diesen von der Alten Rasse beherrschten Kontinent zu erobern versuchte, lange bevor der erste Mensch das Licht der Sonne erblickte. Ihre Eroberung hatte in dem riesigen sandigen Sarg, den die Menschen zehntausend Jahre später Staubwüste nannten, geendet; auf der schon damals bestehenden, wenn auch längst noch nicht zur späteren Perfektion ausgebauten Straße der Ungeheuer, zu deren Bestandteil sie wurden. Das mächtige Reiterheer, mehr als fünfzehntausend Mann, das einen weitgehend leeren Kontinent erobern wollte, war dieser Leere zum Opfer gefallen, wie andere vor ihnen und sehr viele andere nach ihnen. Einige wenige hatten noch den Fuß des Berges erreicht, aber auch sie waren gestorben, alle, den grausamen, beiläufigen Tod, den die Wüste allen denen zudachte, die so vermessen waren, sich ihren Gesetzen nicht zu unterwerfen.
Aber sie waren noch da. Sand und Hitze und Trockenheit hatten sie konserviert, ein Heer von Mumien, zehnmal tausend Jahre alt und so tot wie der Sand, der sie zugedeckt hatte.
Bis jetzt. Bis zu dem Tag, an dem etwas, das stärker war als der Tod, in ihr dunkles, heißes Grab hinabgriff, sie berührte, und mit einer neuen, schrecklichen Art von Leben, die gegen alle Gesetze der Natur verstieß. Sie erwachten aus ihrem Jahrtausende währenden Schlaf, gruben sich ihren Weg an die Erdoberfläche und richteten sich wie ein einziger Körper aus dem Wüstensand auf. Die wenigen, die vor ihrem Tod noch den Fuß des Berges erreicht hatten, fielen, von einem seelenlosen Haß erfüllt, der nicht ihr eigener war, als erste über die Eindringlinge her, die ihre Ruhe gestört hatten. Die anderen näherten sich dem Berg, unaufhaltsam und tödlich, um den Befehl zu erfüllen, der in all den Jahrtausenden Sinn ihres nicht-lebenden und nicht-toten Daseins gewesen war. Es war wie eine gräßliche Verhöhnung des Lebens selbst.
Torian öffnete mit einem Schrei die Augen und taumelte zurück.
Seine Bewegung zerbrach den kleinen Kreis. Auch Shyleen torkelte zur Seite, und selbst Cathar wankte, prallte gegen einen Felsen und blieb einen Moment um Atem ringend stehen. Auf seiner Stirn perlte Schweiß.
»Das ist… Wahnsinn«, keuchte Torian. Es fiel ihm schwer zu sprechen. Obgleich er den entsetzlichen Anblick nur durch die fremden Augen Cathars gesehen hatte, in falschen Farben und auf unbeschreibliche Weise verzerrt und entstellt, wurde er ihn nicht mehr los. Aber plötzlich war er fast dankbar, das Bild nicht auf die gewohnte Weise gesehen zu haben. Hätte er es mit eigenen Augen und in aller Klarheit erblickt, hätte es ihn wahrscheinlich um den Verstand gebracht.
Für lange – sehr lange – Zeit sprach keiner von ihnen ein Wort. Sie alle – auch Garth und der Rattengesichtige – schwiegen, starrten aus weit aufgerissenen Augen vor sich hin und versuchten auf die eine oder andere Weise, mit dem Entsetzlichen fertig zu werden, das sie gesehen hatten oder zumindest erahnten. Schließlich war es Shyleen, die das lähmende Schweigen brach.
»Sie werden uns angreifen«, murmelte sie. »Wie lange werden sie brauchen, um hier zu sein?«
»Eine Stunde«, antwortete der Magier mit einer Nervosität, die Torian noch nie an ihm bemerkt hatte. »Vielleicht zwei. Sie… sind nicht sehr schnell.«
»Zwei Stunden.« Torian seufzte. Es klang wie ein unterdrückter Schmerzenslaut. »Zu wenig. Viel zu wenig, um zu fliehen.«
»Dann vernichten wir sie«, entschied Cathar hart. »Uns bleibt keine Wahl mehr.«
Torian lachte schrill auf. »Vernichten?« stieß er mit sich überschlagender Stimme hervor. »Wie denn? Es sind mehr als zehntausend! Sie werden uns einfach durch ihre Zahl überrennen!«
»Wir werden sie vernichten«, wiederholte Cathar, ohne auf die Frage zu antworten. »Vielleicht werde ich dabei selbst das Leben verlieren, aber es ist der einzige Weg, der uns noch bleibt.«
Das waren die letzten Worte, die für lange Zeit von ihm zu hören waren. Er blieb völlig reglos und mit versteinertem Gesicht stehen, den Blick in die Unendlichkeit der Staubwüste gerichtet, aus der sich das Heer der lebenden Toten wie ein gigantischer schwarzer Wurm heranwälzte. Die Spitze der entsetzlichen Kolonne war noch gut zwei Meilen entfernt, aber die klare Luft über der Wüste ließ den Eindruck entstehen, es wären nur mehr wenige hundert Schritte. Jetzt, nachdem es vollends hell geworden war, war es wirklich heiß, und die Luft flimmerte wie durchsichtiges Wasser, was den taumelnden Gang der Untoten noch schlimmer aussehen ließ. Ein Geruch wie nach heißem Stein wehte aus der Wüste herüber, aber in Torians Phantasie wurde er zum Gestank verwesenden menschlichen Fleisches, so wie das Raunen und Wispern des Windes in seinen Ohren zu schrecklichen, feuchten Schritten wurde. Für einen kurzen Moment hatte er das schreckliche Gefühl, den Wind, der aus der Richtung der Untoten wehte, wie die Berührung einer narbigen Hand zu spüren. Es kostete ihn all seine Kraft, diese Vorstellung abzuschütteln. Er schauderte. Trotz der erdrückenden Hitze, die der Tag gebracht hatte, fror er mit einem Male. Mühsam riß er sich von dem Anblick der Schreckensgestalten los und blickte zu dem Schwarzen Magier hinüber.
Ganz langsam hob Cathar die Hände, bis er in einer fast absurden Haltung dastand, mit ausgestreckten Armen, weit gespreizten Fingern, die Augen geschlossen und jeden Muskel im Körper angespannt. Ein Ausdruck höchster Konzentration erschien auf seinem Gesicht. Seine Lippen begannen Worte zu murmeln; unglaublich kehlige, düstere Worte, die für menschliche Stimmbänder unaussprechlich waren.
Nichts geschah.
Der Wind heulte weiter, die Sonne brannte unverändert vom Himmel, und das Heer der lebendigen Toten rückte näher. Vielleicht nahm der Wind ein bißchen zu, aber wenn, dann bemerkten es die Kreaturen nicht einmal, denn das, was anstelle eines Bewußtseins in ihren Schädeln war, hatte nur Platz für wenige, grausame Gedanken. Sie waren tot, und sie waren gerufen worden, um ihrerseits zu töten. Keinem von ihnen fiel auf, daß sich das Heulen des Windes ein wenig änderte, daß die Wüste, die sie durchquerten, mit einem Male auf unmöglich in Worte zu fassende Weise anders war.
Dann stolperte der Mann an der Spitze. Sein Fuß, zu einem mühsamen, schleppenden Schritt gehoben, senkte sich wieder auf den Sand, aber er fand plötzlich keinen Widerstand mehr, sondern sank weiter ein, versank wie in körnig geronnenem Wasser bis über die Knöchel, die Wade, schließlich bis ans Knie. Der Untote fiel nach vorne, mit beiden Händen Halt suchend, aber auch seine Arme verschwanden. Der Sand teilte sich unter ihm, brodelte und kochte einen Moment – und verschlang ihn. Unbeeindruckt schritten die hinter ihm Gehenden weiter. Ein zweiter Mann begann in die Tiefe gezogen zu werden, dann ein dritter, vierter. Aber die anderen marschierten weiter, unbeeindruckt, wie seelenlose Puppen stiegen über die versinkenden Körper der anderen hinweg und setzten ihren Weg fort. Und die, welche bereits eingesunken waren, versuchten sich wieder auszugraben, wühlten mit rissigen Händen wie große bizarre Tiere im Sand, plumpe Schwimmbewegungen vollführend, tot, nicht mehr in der Lage, noch einmal zu sterben, immun gegen den erstickenden Sand. Der Vormarsch der Alptraumarmee kam ein wenig ins Stocken, aber bald war die Grube, die sich so jäh gebildet hatte, mit Treibsand gefüllt, und der höllische Marsch ging weiter. Die Kette aus Leibern war jetzt zerbrochen, aber das änderte nichts.
Cathar starrte den Ungeheuern mit scheinbarer Ruhe entgegen. Seine Kraft war noch lange nicht erschöpft, wie Torian schaudernd bewußt wurde. Der eigentliche Angriff begann gerade erst.
Wieder war es beinahe unmerklich; zuerst. Eine große, auf sonderbare Weise schwerfällige Bewegung lief durch die Wüste, ein mühsames Zucken wie von einem ungeheuerlichen Körper, der sich in Krämpfen wand. Sehr weit von dem Berg und der Totenarmee entfernt rutschte eine Düne zusammen, eine andere explodierte, wie von einer lautlosen Gewalt auseinandergerissen, dann ging ein sanftes, aber lang anhaltendes Beben durch die Wüste. Sand begann zu knirschen, und zwischen den Dünen bildete sich, wie ein gefrorener gezackter Blitz, ein Spalt, zuerst nur eine dünne, kaum wahrnehmbare Linie, die von nachstürzendem Sand fast rascher wieder gefüllt wurde, als sie entstehen konnte.
Aber eben nur fast.
Ganz allmählich wurde die Linie breiter, wuchs zu einem fingerbreiten Spalt, dann einem Riß, schließlich einer klaffenden, bodenlosen Wunde, welche die Wüste spaltete, unendlich tief bis hinein in ihr steinernes Herz. Und der Riß wuchs auch in der Länge. Sein Ende raste in einem irrsinnigen Zickzack auf den düsteren Berg am Horizont zu, zerfetzte Dünen, verschlang Sand und Staub und Erde und wurde immer schneller und schneller.
Gleichzeitig begann der Sturm. Binnen Sekunden wuchs der Wind zu einem heulenden Höllenchor heran, der Tonnen von Sand in die Höhe riß und die Luft über der Wüste erst braun, dann schwarz färbte. Wie ein Heer unsichtbarer apokalyptischer Reiter schloß sich der Sturmwind dem dahinrasenden Riß an, Sand und Felsbrocken wie tödliche Geschosse mit sich reißend. Es sah aus, als näherte sich eine schwarze, kochende Mauer dem schrecklichen Heerwurm. Und als sie auf ihn prallte, war es wie ein Weltuntergang. Selbst hier oben, fast zwei Meilen entfernt und im Schutz der schwarzen Felsen, konnte Torian die dumpfe Erschütterung spüren, mit welcher der Orkan die Angreifer traf.
Unten war es die Hölle. Das heranmarschierende Heer verschwand von einer Sekunde auf die andere in einer schwarzen, kochenden Masse, die barmherzig verbarg, was in ihrem Innern vor sich ging. Die Männer wurden in die Höhe gerissen wie Spielzeuge, die plötzlich kein Gewicht mehr hatten. Der Sturm packte sie, schleuderte sie durch- und übereinander und schmetterte sie – Dutzende, wenn nicht Hunderte von Metern entfernt – auf den Boden zurück. Der Sand, mit der Geschwindigkeit und Wucht dieses Höllensturmes herangetragen, zerfetzte ihre Gewänder, ließ Funken aus den metallenen Teilen ihrer Waffen und Rüstungen stieben und schmirgelte Fleisch von den Knochen. Dann, eine Sekunde später, war der Riß heran.
Der Boden erbebte ein zweites Mal, und plötzlich klaffte die Wüste auseinander. Eine gigantische, von düster-roter Glut erfüllte Wunde tat sich im Boden auf, verschluckte Sand und Felsen und hilflos rudernde Körper. Wie von einer unsichtbaren Macht angezogen, torkelten die Untoten in diesen Riß hinein und stürzten in die Tiefe, einer nach dem anderen, bis auf den letzten Mann. Dann schloß sich das riesige steinerne Maul wieder.
Von der Armee lebender Toter war nichts mehr geblieben, nichts bis auf ein paar Kleiderfetzen hier und da, Stücke von zerbrochenen Waffen, gebleichte Knochen, ein paar feuchte Flecke auf dem Fels…
Cathar taumelte einen Schritt zur Seite, nahm langsam die Arme herunter, öffnete die Augen und atmete hörbar ein.
Aber es war noch nicht vorbei. Die Wüste war wieder zu einem Stück scheinbar lebloser Erde geworden, der gewaltige Riß, den der Magier nur kraft seines Willens erzwungen hatte, war so spurlos verschwunden, wie er sich gebildet hatte – aber der Sturm tobte weiter. Er hatte sich ein Stück zurückgezogen, eine halbe Meile fort vom Berg und ihrer kleinen Gruppe, aber er war weiterhin da, wie ein gewaltiges, lauerndes Tier, das Beute geschlagen hatte, aber noch nicht zufrieden war. Hinter der schwarzen Wand blitzte und funkelte es ununterbrochen, und Torian spürte selbst über die große Entfernung hinweg einen Hauch glühendheißer Luft.
Mit einem keuchenden Laut fuhr er herum und starrte den Magier an. »Cathar!« schrie er entsetzt. »Was tust du?«
Aber der Magier schien seine Worte gar nicht zu hören. Er stand da, noch immer mit wie beschwörend erhobenen Armen und das Gesicht vor Anstrengung verzerrt, aber jetzt mit weit geöffneten Augen. Helle, irrsinnig klingende Töne kamen über seine Lippen. In seinen Augen loderte ein Feuer, das Torian mit vielleicht noch größerem Schrecken erfüllte als das, was er gerade gesehen hatte.
»Cathar!« schrie er noch einmal. »Hör auf! Es ist vorbei!«
Aber sein entsetzter Aufschrei ging im Heulen des Sturmes unter, der sich wie ein brüllendes Ungeheuer den Berg heraufzuwälzen begann und ihn wie ein Hammerschlag der Götter traf. Torian sah die schwarze Wand einer gewaltigen Woge gleich herankommen, aufgeschreckt von einem dumpfen, rasend schnell lauter werdenden Grollen und Dröhnen, wie der Hufschlag von hunderttausend höllischen Reitern, die ihnen entgegenrasten: eine schwarze Wand, glitzernd wie poliertes Eisen, die den Fuß des Berges verschlang, wuchs und wuchs und wuchs und plötzlich ein gutes Drittel des Himmels verdeckte, ehe sie brüllend und tobend über der kleinen Plattform zusammenschlug und die Welt in ein Chaos aus Lärm und Schreien und zusammenstürzenden Felsbrocken verwandelte.
Hätte der steinerne Wall nicht die erste Wucht des Sturmes aufgefangen, wären die Menschen ohne Chance geblieben, auch nur die ersten Sekunden zu überleben. Der Sturm packte die Felsen, riß sie in die Höhe und schmetterte sie wieder zu Boden, wenn er sie nicht vorher schon in der Luft zermalmt hatte. Die Welt vor Torian erlosch übergangslos, als der Sturm die Sonne verdunkelte, ehe ihn die unsichtbare Faust eines Riesen traf und von den Füßen holte und gegen Garth schleuderte. Ein unheimliches Blitzen und Funkeln war zu sehen, wo Sand, rasend schnell und scheuernd wie das Schmirgelpapier des Teufels, Felsen glatt schliff und Flammen aus den Waffen und Rüstungen der Menschen schlagen ließ. Ein ungeheures Dröhnen und Kreischen marterte die Ohren der drei Männer, und plötzlich war überall Feuer: ein kaltes, unheimliches Feuer, das über den Boden raste, knisternd an Garths und Shyleens Schwertern emporlief und in Torians Augen stach. Die Luft stank nach Ozon und brennendem Fleisch.
Torian schrie vor Schmerz und Angst. Verzweifelt kämpfte er sich in die Höhe, aber die Beine gaben unter seinem Körpergewicht nach; er fiel erneut, schlug schwer auf dem Steinboden auf und sah das Gesicht von Garth wie eine verzerrte Grimasse vor sich auftauchen. Dessen Mund formte Worte, die vom Brüllen des Sturmes verschluckt wurden, ehe sie Torians Ohr erreichen konnten. Aber er verstand auch so, was Garth wollte. Mit aller Kraft, die ihm geblieben war, stemmte er sich hoch, keuchend vor Schmerz und Anstrengung, und versuchte auf Knien und Ellbogen auf Cathar zuzurobben.
Es ging nicht.
Der Boden zitterte und bebte wie ein gewaltiges, tödlich verwundetes Tier. Der gesamte Berg schien zu schwanken; Risse liefen durch den Fels und brachen in Bruchteilen von Sekunden zu klaffenden Höhlen auf, ehe sie sich in derselben aberwitzigen Geschwindigkeit wieder schlossen. Ein gewaltiger Schatten, schwärzer noch als das Schwarz des Sturmes, neigte sich über die Plattform und verschwand, und eine Sekunde später erbebte der Boden ein zweites Mal unter einem noch gewaltigeren Schlag, als die steinerne Brüstung endgültig zusammenbrach und dem Sturm offenen Einlaß gewährte. Torian glaubte den Berg selbst wie ein lebendes Wesen schreien zu hören, und obwohl er wußte, daß das vollkommen unmöglich war, hallte dieser Laut in ihm nach.
Plötzlich fühlte er sich gepackt und herumgerissen. Die Bewegung ließ einen entsetzlichen Schmerz durch seinen Körper rasen; er schrie, bäumte sich auf und schlug blindlings um sich, aber die Hände, die ihn hielten und ihn auf Cathar zuschleiften, ließen nicht locker. Ein schmales, blutüberströmtes Gesicht tauchte vor ihm auf, Garths Mund formte Worte, die der Sturm zu brüllendem Hohngelächter machte, und dann hatten sie den Magier erreicht.
Und das Toben des Sturmes erlosch.
Nach dem höllischen Lärm der letzten Augenblicke traf das plötzliche Schweigen Torian wie ein Hieb. Er keuchte, sank kraftlos in Garths Armen zusammen und preßte die Arme an den Leib. Sein Herz raste, und für einen Moment wurde der Schmerz so übermächtig, daß er glaubte, den Verstand verlieren zu müssen. Dann machte sich Cathar irgendwie an seiner Schulter zu schaffen. Der Schmerz erlosch zwar nicht, aber er sank auf ein erträgliches Maß herab.
Stöhnend öffnete Torian die Augen und sah sich um. Der kleine Platz bot einen Anblick der Verwüstung. Torian konnte sich nicht entsinnen, jemals ein Bild so vollkommener Zerstörung gesehen zu haben. Um ihn herum erstreckte sich eine kleine, bizarre Landschaft aus zermalmtem, glattgeschmirgeltem Stein, wirr durcheinandergeworfenen Trümmern und schwarzen Lavasplittern. Nur einer der gewaltigen Felsmonolithe stand noch; ein zerfranster Stumpf, der aus einer Verwehung kleingemahlenen schwarzen Steines ragte. Die anderen Felsen waren zerschmettert worden. Der Boden war seltsam schräg, als wäre die gesamte Flanke des Berges abgesackt, und fast die Hälfte der Plattform war abgebrochen und in die Tiefe gestürzt. Der noch verbliebene Rest der Brüstung glich einer gezackten Wunde, durch die der Sturm hereinfauchte, begrenzt von einer flammenden Lohe, wo Sand und Felsbrocken gegen den Stein prallten. Aber die Woge der Vernichtung endete schon nach wenigen Schritten, als gäbe es da eine unsichtbare, aber undurchdringliche gläserne Wand um Cathar, die ihn und die anderen schützte.
Torian verspürte einen raschen, eisigen Schauder, als er begriff, daß der Magier sie vom ersten Augenblick an zumindest zum Teil geschützt hatte. Der Sturm, der sie gepackt und umhergeschleudert hatte, hätte sie auf der Stelle in Stücke gerissen, wären nicht die magischen Kräfte Cathars dagewesen, sie vor dem Allerschlimmsten zu bewahren. So, wie sie auch jetzt einen unsichtbaren Schutzwall schufen, dem selbst die Gewalt des Sturmes nichts anzuhaben vermochte. Die Haare des Magiers waren nicht einmal zerzaust, aber in seinen Augen keimte langsam ein düsterer Schrecken auf, als er zu begreifen begann, was er angerichtet hatte.
Torian stemmte sich vorsichtig hoch, drehte sich herum und begann ungeschickt auf die fast völlig zusammengebrochene Brüstung zuzukriechen, wo er Shyleen und Bard im Schutz des Monoliths reglos liegen sah. Cathar folgte ihm, mit ausgestreckten Händen den Sturm zurücktreibend, der jetzt rasch an Kraft zu verlieren begann. Er war über die Plattform hinweggetobt und hatte sie zerstört, und jetzt raste er weiter, den Berg hinauf und auf das Kastell zu, das auf seinem Gipfel thronte und das Torian nun wieder als schwarzen Klotz inmitten des brodelnden Orkans entdeckte. Aber seine Kraft war gebrochen. Torian sah, wie die schwarze Woge über dem Klotz zusammenschlug, aber er erkannte auch, daß ihre Gewalt längst nicht mehr ausreichte, ihm Schaden zuzufügen. Vielleicht löste sie noch ein paar lockere Steine, aber die Mauern hielten ihr stand.
Zumindest dem ersten Ansturm.
Langsam, ganz ganz langsam begann etwas Gigantisches aus den Schatten inmitten der Wolke aus Schwärze zu kriechen und sich über der Burg zu ballen. Es hatte fast das Aussehen einer sechsfingrigen Kralle, aber es war Torian unmöglich, Genaueres zu erkennen, und er war beinahe froh darüber. Er war sich nicht sicher, ob er den Anblick in allen gräßlichen Einzelheiten ertragen hätte. Die Dämonenkralle berührte die Burg, tastete über Zinnen und Mauern, huschte über Dächer und Stein, sprühende Spuren aus blauem Elmsfeuer hinterlassend, glitt über das Tor und zurück; suchend.
Dann senkte sie sich auf das Haupt des gigantischen steinernen Drachen hinab, das den Turm im Mittelpunkt der Burg bildete.
Und erlosch.
Ein dröhnender Schlag traf den Turm. Torian konnte bis zu der Plattform herab spüren, wie das Gebäude in seinen Grundfesten erzitterte, sich in einer absurd langsamen Bewegung auf die Seite neigte und sich im letzten Moment wieder aufrichtete, bevor es vollends zerbrechen konnte. Ein Teil der südlichen Wand barst und verschwand, und plötzlich war die Luft voller Staub und fliegender Steintrümmer und ungeheuerlichem Lärm. Ein zweiter, noch härterer Schlag traf den Turm.
Das Kastell zerfiel. Rings um den Turm herum schien die Luft zu kochen – überall waren Staub und fliegende Steintrümmer, Teile der gewaltigen Wehrmauer waren bereits zusammengefallen, als die Klaue sie beinahe beiläufig berührt hatte, und der riesige Turm in Gestalt eines Drachens begann sich in diesem Moment zu neigen und zu –
Aber es war kein Turm mehr. Der Anblick ließ Torian erneut an seinem Verstand zweifeln.
Der Drache war lebendig. Der gigantische, mehr als dreißig Meter hohe Drache aus schwarzem Granit war zum Leben erwacht! Er bestand noch immer aus Granit; Torian bildete sich ein, die Fugen zwischen den einzelnen Steinen erkennen zu können, das grauenhafte Splittern und Bersten zu hören, mit dem sie auseinanderbrachen. Ein Stück seines häßlichen Maules zerfiel und Teile der Flügel – aber trotzdem bewegte er sich –, reckte den gewaltigen Schädel in die Luft und spreizte die Schwingen zu einem ungeheuerlichen Schlag, der die Burg verwüstete und sich selbst zermalmte. Das Leben des Ungeheuers währte nur wenige Sekunden. Seine gemauerten Schwingen zerbarsten, auseinandergerissen von einer Bewegung, für die sie nicht erschaffen waren – aber sie zerstörten dabei alles, was ihnen in den Weg kam.
Dann erst war es endgültig vorbei. Der Sturm legte sich so schnell, wie er ausgebrochen war, und wie immer nach einem besonders heftigen Ausbruch der Naturgewalten, war eine fast unheimliche Ruhe über dem Berg eingekehrt. Aber die Luft über dem zusammengebrochenen Kastell war noch immer voller Staub und Sand, so daß der Blick nicht sehr weit reichte und alles sonderbar schemenhaft und unwirklich aussehen ließ.
Torian kümmerte sich nicht mehr darum. Er beugte sich über Shyleen und Bard, die ohnmächtig vor ihm lagen, wie zwei Liebende aneinandergeklammert. So wie er und Gart hatten sie am ganzen Körper Abschürfungen und Prellungen erlitten, und ihr Atem ging schwach und unregelmäßig, aber ansonsten schien ihnen nichts zugestoßen zu sein. Er richtete sich wieder auf. Sein Blick tastete noch einmal über die zerstörte Felslandschaft, den zermalmten Monolith, dessen Südflanke, die dem Sturm zugewandt gewesen war, wie ein Spiegel glänzte, weiter über die zerborstenen Reste der steinernen Brüstung, und verharrte wieder auf den Gefährten.
»Das… ist Wahnsinn«, murmelte Torian. Es schien nicht nur so, sondern angesichts der Verwüstungen um sie herum war es ein Wunder, daß sie noch lebten. »Wahnsinn!« Er brabbelte es immer wieder vor sich hin, als wäre es das einzige Wort, das er kennen würde. Zumindest war es das einzige, das Platz in seinen Gedanken fand.
Stöhnend schlug Shyleen die Augen auf. Sie versuchte sich zu erheben und schaute sich um. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schrecken. Minutenlang schweifte ihr Blick über das zerstörte Kastell und das, was von diesem Teil des Berges noch übriggeblieben war, und der Ausdruck des Entsetzens steigerte sich noch. Schließlich blieb ihr Blick an Cathar hängen, der immer noch reglos in der Mitte der Plattform stand und zu dem zerstörten Kastell hinaufstarrte, dann stemmte sie sich hoch und taumelte auf den Magier zu. »Du!« schrie sie mit überschnappender Stimme. »Das ist dein Werk.« Sie hob die Hände, als wollte sie nach Cathar schlagen, aber der Magier schien sie nicht einmal wahrzunehmen. »Du hast das getan!« kreischte Shyleen weiter. »Du hättest uns alle umbringen können. Oder war es das, was du in Wirklichkeit wolltest?«
Erst jetzt erwachte Cathar aus seiner Erstarrung. Auch auf seinem Gesicht lag Schrecken. Seine Lippen zuckten. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann schüttelte er nur den Kopf, machte kehrt und ging mit raschen Schritten davon.
»Bleib stehen!« schrie Shyleen. »Ich verlange wenigstens eine Erklärung von dir. Warum hast du das getan?
»Laß ihn«, sagte Torian müde. »Es ist nicht seine Schuld.«
Shyleen keuchte. »Nicht seine Schuld? Was verstehst du davon? Sieh dir an, was er angerichtet hat! Er wollte uns alle umbringen!«
»Es ist nicht seine Schuld«, wiederholte Torian noch einmal, ein wenig schärfer und in eindeutig befehlendem Ton. Er wußte selbst nicht, woher er das Wissen nahm, aber er war sich plötzlich sicher, daß Cathar das nicht gewollt hatte.
Shyleen verstummte, aber ihr Blick sprühte vor Zorn und Trotz, als sie sich umwandte und ihn ansah.
»Glaubst du wirklich, dieser Angriff hätte uns gegolten?« fragte Torian beinahe sanft.
»Es interessiert mich nicht, was er gewollt hat«, fauchte Shyleen. »Dieser verdammte Narr hat sich nicht mit diesen Toten zufriedengegeben. Er hat versucht, die Burg ganz allein zu vernichten.« Sie ballte wütend die Faust. »Aber er hat uns getroffen, und es ist mir verdammt noch mal völlig egal, ob er nur einfach schlecht gezielt oder ob er die Kontrolle über den Sturm verloren hat! Es ist seine Schuld, und ich werde ihm die Rechnung präsentieren, mein Wort darauf!« Sie zog ihr Schwert. »Ich töte ihn, wenn noch die geringste Kleinigkeit passiert.«
»Du machst dich lächerlich. Wenn er es wirklich so vorgehabt hätte, wären wir alle nicht mehr am Leben. Und du willst ihn töten? Du kämest nicht einmal an ihn heran.«
»Wenn ich es will, dann schaffe ich es auch. Notfalls steche ich ihn von hinten nieder.«
»Das verbiete ich«, erklärte Torian streng und kam sich bei diesen Worten genauso lächerlich vor. War das wirklich er, der sich angesichts des gerade Erlebten wie ein Kind mit Shyleen stritt?
Sie lachte böse. »So, du verbietest es? Und wie willst du dieses Verbot durchsetzen?« Plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht zu einer Grimasse, und mit einemmal erinnerte sie Torian an ein Raubtier, das Blut geleckt hatte und seinen Durst nun unbedingt stillen wollte. Aber er spürte auch, daß es nicht sie selbst war, die diesen unsagbaren Haß entwickelte, sondern daß es etwas Fremdes in ihr war, das nach Blut und Gewalt schrie und stärker und stärker wurde, je länger sie sich auf der Straße der Ungeheuer aufhielten. Vielleicht würden sie alle irgendwann übereinander herfallen, wenn sie ihr Ziel nicht bald erreichten.
»Noch ist nicht alles verloren«, hielt er ihr entgegen. »Wir sind noch am Leben, und ich werde dafür sorgen, daß wir es auch bleiben. Cathar hat seine Kräfte überschätzt und die Beherrschung verloren. Er wollte uns nicht töten.«
»Ja«, fiel ihm Shyleen ins Wort. »Wahrscheinlich, weil er sich für uns etwas ganz Besonderes einfallen lassen will. Oder warum sonst hat uns der Sturm verschont, glaubst du?«
Weil Cathar selbst uns geschützt hat, dachte Torian bitter. Aber das sprach er nicht aus. Statt dessen wiederholte er seine befehlende Geste und starrte Shyleen so lange an, bis diese langsam ihr Schwert sinken ließ und der Haß in ihren Augen zu bloßem Trotz wurde. Dann trat so etwas wie Verwirrung in ihren Blick, und schließlich Schrecken, als ihr bewußt wurde, daß sie selbst die Kontrolle über sich verloren hatte. »Tut mir leid«, murmelte sie und senkte den Kopf. Einige Sekunden lang blieb sie noch unschlüssig stehen, dann wandte sie sich um und ging zu Garth hinüber, der sich um den noch immer bewußtlosen Bard kümmerte.
Auch Torian verließ die kleine Plattform mit einem letzten Blick auf das Kastell und kehrte ins Lager zurück. Die Männer mußten auch etwas von dem Sturm mitbekommen haben, aber auf dieser Seite des Berges hatte er wenigstens keine Zerstörungen mehr angerichtet. Niemand fragte ihn, was geschehen war. Ein Stück entfernt sah Torian den Magier stehen, aber er wollte nicht mit ihm sprechen. So ließ er sich auf einen Felsen nieder und schloß die Augen. Einige Minuten lang döste er vor sich hin und versuchte, an überhaupt nichts zu denken, dann vernahm er leise sich nähernde Schritte, die unmittelbar vor ihm verstummten.
»Torian?«
Er öffnete die Augen, blinzelte und blickte mit einer Mischung aus Schrecken und Neugier zu der hochgewachsenen, schlanken Gestalt hoch, die im Schatten der Felsen stand. Er blinzelte, aber gegen die Sonne sah er nur einen schwarzen Umriß vor sich.
»Shyleen?« fragte er.
Das Mädchen nickte. »Ja. Ich hoffe, ich störe dich nicht.«
»Das tust du nicht«, versicherte Torian, beinahe eine Spur zu hastig, und wischte sich über das Gesicht. »Ich bin wohl eingeschlafen. Wie lange stehst du schon hier?«
»Nicht sehr lange«, antwortete Shyleen, die den unausgesprochenen Tadel in seinen Worten sehr wohl gehört hatte. »Ich…« Sie brach ab, lächelte auf sehr sonderbare, beinahe wehmütige Art, schüttelte den Kopf und trat mit zwei, drei raschen Schritten neben Torian. Schwer stützte sie sich mit den Unterarmen auf den Fels, blickte sich kurz um und schüttelte den Kopf.
»Was willst du?« murmelte Torian schläfrig. »Du hast dich bereits entschuldigt.«
»Mit dir reden«, erwiderte Shyleen. Ihre Stimme war eine Spur schärfer geworden, blieb aber immer noch freundlich. »Ich habe den Eindruck, daß das dringend nötig ist.«
Im ersten Moment hätte Torian sie am liebsten weggeschickt. Er war müde und wollte schlafen. Seine Gedanken verliefen wirr und ungeordnet; es fiel ihm mit jeder Minute schwerer, sich zu konzentrieren, und da er ahnte, worüber Shyleen mit ihm sprechen wollte, wußte er, daß er seine ganze Konzentration für das Gespräch brauchen würde, wollte er sich nicht von Anfang an in die Rolle des Unterlegenen drängen lassen.
Aber er spürte, daß Shyleen sich nicht würde abweisen lassen, und so nickte er nach kurzem Zögern, langsam und fast gegen seinen Willen. Er deutete auf den Platz neben sich, wartete, bis sie sich gesetzt hatte, und fragte: »Also, worum geht es?«
»Das weißt du doch genau«, antwortete Shyleen unwirsch. »Ich habe vorhin vielleicht die Beherrschung verloren, aber was ich gesagt habe, stimmt. Wir werden sterben, wenn Cathar am Leben bleibt.«
Torian seufzte.
»Ich dachte, dieses Thema wäre erledigt. Ohne ihn kämen wir niemals bis zur Schattenburg.«
»Eben«, entgegnete Shyleen. »Bislang habe ich gedacht, wir könnten dieses Land besiegen. Aber es gewinnt immer mehr Macht über uns. Du hast selbst erlebt, was vorhin passiert ist. Cathar hat sich von seinem Haß überwältigen lassen, und mir ist es genauso ergangen. Der fremde Einfluß wird stärker, je mehr wir uns der Burg nähern. Noch einen Tag länger hier, und keiner von uns wird sich mehr beherrschen können.«
»Aber wir werden keinen Tag mehr brauchen. In ein paar Stunden erreichen wir das Kastell, und dann brauchen wir nur noch über die Brücke und haben die Schattenburg erreicht.«
»Behauptet Cathar. Aber er erzählt schon die ganze Zeit über, wie nahe wir dem Ziel wären. Er hat uns nichts von dem Wahnsinnsschirm erzählt, und von den lebenden Toten wußte er nicht einmal. Und du glaubst ihm, daß uns jetzt nichts mehr zustoßen kann?«
»Nein.« Torian schüttelte zornig den Kopf. »Wenn ich dich so ansehe, dann fällt es mir schwer, daran zu glauben. Mach ruhig so weiter, dann passiert nämlich wirklich etwas. Ich kann dich nur noch einmal warnen, dich nicht mit Cathar anzulegen. Ich fürchte, daß er jetzt nicht viel Spaß versteht. Spar dir deine Kräfte lieber zum Klettern auf. Ich würde die Schattenburg ungern ohne dich erreichen.«
Es war beinahe zu leicht.
Torian war der erste, der über die zertrümmerten Überreste der Burgmauer kletterte, jeden Nerv bis zum Zerreißen angespannt. Aber seine Vorsicht erwies sich als überflüssig. Hier oben lebte nichts mehr, wenn es hier überhaupt jemals so etwas wie Leben gegeben hatte.
Eine Laune des Schicksals hatte die eiserne Toreinfassung stehen lassen; während die schwarzen Basaltmauern zu beiden Seiten niedergebrochen und die Torflügel selbst – fünfmal so groß wie ein Mann und jeder einzelne sicherlich mehrere Tonnen wiegend – aus ihren Angeln gerissen und davongeschleudert worden waren, Dutzende von Metern weit, und wie Stücke aus verbogenem dünnem Kupferblech zwischen den Trümmern liegengeblieben waren.
Obgleich viele Stunden vergangen waren – sie hatten für das restliche Wegstück beinahe den ganzen Tag gebraucht, da der Weg durch den Sturm fast vernichtet und unter Tonnen von Sand und Staub begraben worden war –, seit die Festung in dem ungeheuerlichen Ausbruch magischer Energien ihren Untergang gefunden hatte, war die Luft noch immer voller Staub, der nur langsam herabsank, um sich wie ein körniges graues Leichentuch über die zerborstenen Mauern und Türme zu legen.
Es war ein Leichentuch, dachte Torian düster. Wer immer hier gewesen war, als sich die ungeheuerlichen Kräfte Cathars in einem schwarzen Blitz gestaltgewordenen Hasses entluden – und er konnte immer noch nicht glauben, daß die Burg nur leer und nutzlos herumgestanden hatte –, mußte tot sein; vernichtet von den brodelnden Energien des Schwarzen Magiers oder erschlagen von den Trümmern der zusammenbrechenden Wände und Türme. Es fiel ihm schwer, dieses Bild aus Chaos und Verwüstung mit der dräuenden schwarzen Zackenkrone zu assoziieren, als die sich das Kastell noch bei Tagesanbruch auf dem Berggipfel erhoben hatte. Diese Burg war alt gewesen, unglaublich alt, wie alles in diesem Land. Sie hatte schon hier gestanden, bevor es Menschen auf diesem Kontinent gab, möglicherweise auf der ganzen Welt. Weder die Jahrtausende noch die zahllosen Feinde, die wie das gigantische Heer von Toten am Fuß des Berges in ihrem Verlauf vor den Toren des Kastells erschienen waren, hatten ihr etwas anhaben können.
Cathar hatte sie vernichtet; in weniger als einer einzigen Minute.
Torian verscheuchte den Gedanken, stieg vorsichtig über ein zermalmtes Etwas hinweg, das aus Metall bestand, dessen ursprüngliches Aussehen er aber nicht einmal mehr zu erraten in der Lage war, und wartete, bis die ihm folgenden Leute ihrer Gruppe zu beiden Seiten ausgeschwärmt waren, um ihren weiteren Weg zu sichern. Sein Verstand sagte ihm, daß keines der Wesen, die diese Burg besetzt hatten, noch am Leben war. Aber auf der Straße der Ungeheuer war nichts undenkbar, und die Feinde, auf die sie möglicherweise doch noch stoßen mochten, würden schließlich keine Menschen sein. Möglicherweise lebten sie nicht einmal. Die Burg war vernichtet, aber das hieß nicht, daß die Gefahr vorüber war. Manchmal konnte man Feuer mit Feuer löschen, aber manchmal entfachte man bei diesem Versuch erst recht einen Großbrand. Das Böse war zäh, und in dieser Ruine mochten auch jetzt noch genug Schrecken verborgen sein, es neu und vielleicht schlimmer auferstehen zu lassen. In jedem Stein konnte es wie ein unsichtbares Gift schlummern. Torian spürte den Atem finsterer Magie überdeutlich, der noch immer zwischen den Trümmern der Burg hing.
Er verscheuchte auch diesen Gedanken, stieg umständlich über ein bizarres Gewirr von Stein- und Metalltrümmern hinweg und sah sich mit einer Mischung aus Furcht und Neugier um.
Es gehörte sehr viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie diese Burg einmal ausgesehen hatte. Der rechteckige Innenhof des kleinen Kastells lag vor ihm, ein schwarzes Loch, dessen Boden nicht zu erkennen war. Der zyklopische Drachenturm war verschwunden; nicht einmal mehr Spuren waren zurückgeblieben, denn durch die magischen Kräfte, die den granitenen Drachen für Augenblicke zum Leben erweckt hatten, war jeder einzelne Stein regelrecht pulverisiert worden. Und die wenigen Sekunden, die der Gigant gewütet hatte, waren ausreichend, in der Festung im wahrsten Sinne des Wortes keinen Stein mehr auf dem anderen stehen zu lassen.
Torian empfand nicht die geringste Spur von Triumph beim Anblick all dieser Vernichtung. Einer der Gründe, aus denen er hierhergekommen war, bestand in der Vernichtung all dessen, was den Schwarzen Magiern ihre Macht verlieh, und das Kastell gehörte auch dazu. Dennoch spürte er auch nach den vielen Stunden immer noch nur Entsetzen über das Ausmaß der Zerstörung.
Garth deutete mit einer fragenden Geste auf das Hauptgebäude, das den Sturm noch am besten überstanden hatte. Torian nickte. Falls es noch Feinde gab, würden sie sich wahrscheinlich im Inneren aufhalten. Und wenn nicht, waren sie dort drinnen zumindest vor einer zufälligen Entdeckung sicher.
»Rührt nichts an, egal wie harmlos oder verlockend es erscheinen mag«, warnte er die anderen Männer. Es gelang ihm nicht ganz, seine Nervosität zu verbergen, und er wußte, daß seine Warnung im Grunde überflüssig war. Auch die anderen spürten den Atem finsterer Magie überdeutlich, der zwischen den Trümmern hing. Torian sah es ihren Gesichtern an, und auch ihre hastigen, unbehaglichen Bewegungen sprachen eine deutliche Sprache.
Er packte sein Schwert fester und trat als erster durch die niedrige, vom Sand halb zugewehte Türfassung. Dahinter lag ein kleiner, bis auf eine fast meterhohe Sandschicht vollkommen leerer Raum. Das schwächer werdende Licht des Tages verlieh der Burgruine etwas Gespenstisches: Alles schien genau anders herum zu sein, als es sein sollte – die Schatten waren wie finstere Mauern, hinter denen sich Dinge bewegten, die sich nicht bewegen sollten, und die Schritte der Männer neben ihm kamen ihm irgendwie irreal vor. Der Raum war finster, erfüllt von wabernden Schatten, die ihm plötzlich eine Winzigkeit zu dunkel vorkamen, vom flüsternden Raunen des Windes, das etwas vom Geheul schattiger großer Wölfe hatte, und in dem er mit einem Male düstere, höhnisch kichernde Stimmen zu hören glaubte, von raschelnder Bewegung, die nicht nur vom Wind aufgewirbelter Staub und Sand war…
Torian blieb stehen, blinzelte ein paarmal, um den verwirrenden Effekt zu verscheuchen, und fuhr sich schließlich mit dem Handrücken über die Augen. Das Fremde, Beunruhigende, das sich in den Winkeln der Wirklichkeit eingenistet hatte, blieb trotzdem. Aber vielleicht war es auch nur Müdigkeit. Er war erschöpft und überanstrengt, und sein Fuß hatte wieder zu schmerzen begonnen. Erst als einer der Männer eine Fackel anzündete, fühlte er sich etwas wohler und trat weiter in den Raum hinein.
In der gegenüberliegenden Wand befand sich ein zweiter Durchgang, hinter dem die ersten Stufen einer steil in die Tiefe führenden Treppe sichtbar wurden. Zumindest war es einmal eine Treppe gewesen, aber jetzt nicht mehr als eine abschüssige Rampe aus Sand. Als Torian einen Moment lauschte, glaubte er wieder leise murmelnde Stimmen, dann ein kehliges, unendlich böses Lachen zu vernehmen, das aus der Tiefe des Treppenschachtes an sein Ohr drang, in ein Meckern überging, das vage an das einer Ziege erinnerte, aber mit Sicherheit keine war, und dann verstummte.
»Hast du das auch gehört?« wandte er sich flüsternd zu Garth.
Der Dieb runzelte die Stirn. »Was meinst du?«
Torian überlegte einen Moment, lauschte und zuckte mit den Schultern, als er nichts mehr hörte. »Schon gut, es ist nichts«, murmelte er. »Allmählich bin ich auch der Ansicht, daß ich mir die Gefahren nur selbst einrede. Wenn dies eine Falle ist, dann jedenfalls die raffinierteste, die ich je gesehen habe.« Aber das nahm er nicht wirklich an. Es gab keinerlei Anzeichen für eine Falle, mit Ausnahme der Stimme in seinem Inneren, die sich einfach weigerte, zu glauben, daß sie es geschafft hatten. Er hatte zu viele Kämpfe erlebt, um nicht einfach zu fühlen, ob er in einen Hinterhalt lief oder nicht. Und hier spürte er nichts.
Trotzdem bedeutete er Garth mit einer Geste, von nun an still zu sein, wechselte das Schwert von der rechten in die linke Hand und näherte sich auf Zehenspitzen der Treppe. Er blieb stehen, lauschte abermals und schlich weiter, noch immer mit angehaltenen Atem und jeden Augenblick auf einen Angriff gefaßt.
Aber der kam nicht. Unbehelligt erreichten sie den Niedergang, schlichen die versandeten, gefährlich rutschigen Stufen hinab und blieben vor der letzten Biegung des eng gewendelten Schachtes stehen. Vorsichtig spähte Torian um die Ecke. Er sah einen langen Gang, von dem zahlreiche Türen abzweigten. Dieser Teil der Burg war von den Verwüstungen weitgehend verschont geblieben. Sie durchsuchten jeden Raum, jeden Winkel der Burg. Nirgendwo fanden sie etwas, das auf eine akute Gefahr hindeutete, dafür aber eine Menge anderer Dinge, die Torians düstere Vorahnungen zur Gewißheit werden ließen. Die Ruine des Kastells war vollgestopft mit Dingen voller übler Magie, die er zwar nicht verstand, aber dafür um so deutlicher spürte.
»Kein angenehmer Ort, nicht wahr?«
Die Stimme Cathars ließ Torian aufschrecken. Instinktiv riß er die Hand hoch. Sie waren wieder in den Hof zurückgekehrt, und an eine Mauer gelehnt, mußte er für ein paar Sekunden eingenickt sein. Er nahm die Hand wieder herunter, lächelte verlegen und atmete hörbar ein. »Nein«, gestand er. »Und wir sollten uns hier nicht länger als unbedingt nötig aufhalten. Irgend etwas ist hier, das mir Angst macht.«
Cathar nickte. »Ich versuche die ganze Zeit, es zu ergründen, aber es gelingt mir nicht. Zumindest droht uns keine direkte Gefahr. Jetzt nicht mehr.«
Es klang wie eine Rechtfertigung für die Verwüstungen, die er ungewollt angerichtet hatte, und obwohl er ganz offensichtlich auf eine Bestätigung hoffte, reagierte Torian nicht darauf.
»Wie lange bleiben wir noch hier?« erkundigte er sich statt dessen.
»Es gibt keine andere Möglichkeit, als hier ein Nachtlager aufzuschlagen. Direkt bei Sonnenaufgang gehen wir weiter.«
»Hier?« fragte Torian erschrocken. »Du willst wirklich hier rasten? Das ist Wahnsinn. Keiner der Männer wird freiwillig die ganze Nacht hier verbringen wollen.«
»Kein Wahnsinn, sondern das einzig Vernünftige«, widersprach Cathar. »Ich sagte schon, hier droht uns keine Gefahr, außer wir machen uns selbst verrückt. Wie es außerhalb der Mauern ist, weiß ich nicht. Selbst wenn es nicht so scheint, werden die Mauern uns Schutz bieten.«
Mit dem Untergang der Sonne war es schlagartig ziemlich kühl geworden, und Torian raffte unwillkürlich den Umhang enger um den Körper. Cathar hatte recht, vor der Kälte waren sie hier ein wenig geschützt. Aber es war besser, ein wenig zu frieren, als möglicherweise überhaupt nicht mehr aufzuwachen.
»Ich würde mich wohler fühlen, wenn wir direkt weitergingen«, murmelte er. »Du sagtest doch, daß die Brücke nicht mehr weit wäre.«
»Das ist sie auch nicht, aber es ist unmöglich, sie im Dunkeln zu überqueren. Die Männer sind völlig erschöpft und brauchen unbedingt eine Rast. Sie haben alles gegeben, was ich erwarten konnte.«
»Ich weiß verdammt gut, daß sie eine Pause brauchen«, erwiderte Torian von plötzlich aufflackernder Wut gepackt. Er machte eine weitausholende Geste, die den kümmerlichen Rest ihrer Gruppe einschloß. »Die meisten haben diesem Wahnsinn bereits ihr Leben geopfert, und das ist verdammt viel mehr, als du erwarten konntest. Trotzdem wollen sie ebensowenig wie ich hier übernachten.«
»Dann geht doch«, entgegnete Cathar sarkastisch. »Sucht euch meinetwegen eine Höhle oder schlaft im Freien, aber beschwert euch nicht, wenn euch etwas zustößt. Ich jedenfalls bleibe hier.«
Torian bebte vor mühsam unterdrücktem Zorn. Einige Sekunden hielt er dem spöttischen Blick des Magiers stand, dann fuhr er abrupt herum und kehrte zu den anderen zurück, die in einer Ecke des Hofes zusammengetragenes Holz aufgeschichtet und ein Feuer entfacht hatten. Er setzte sich neben Garth.
»Ärger?« fragte der Dieb knapp.
»Dieser Narr will die Nacht hier verbringen«, teilte ihm Torian mit. Obwohl er leise gesprochen hatte, fingen die Männer in seiner Nähe die Worte auf. Unwilliges Murren wurde laut, und selbst Bard zuckte überrascht zusammen. »Cathar meint, wir wären hier sicher«, fuhr Torian fort, diesmal so laut, daß alle ihn verstehen konnten. »Wem das nicht paßt, der könnte gerne woanders hingehen. Allein deshalb würde ich es am liebsten schon tun.«
Das Raunen und Stimmengewirr um ihn herum wurde für einige Sekunden lauter, dann verstummte es und wich wieder der lähmenden, nur vom leisen Prasseln des Feuers unterbrochenen Stille. Die Gesichter der Leute versteinerten erneut. Obwohl sie nicht hierbleiben wollten, würden sie auch nicht ohne den Magier fortgehen. Torian wechselte einen knappen Blick mit Shyleen, die ein Stück entfernt saß. Sie schüttelte den Kopf.
Das Feuer brannte sehr hoch, und trotz der Kälte, welche die Wüstennacht gebracht hatte, war seine Wärme schon fast unangenehm. Die Flammen schlugen dreifach mannshoch gegen den Himmel, und Funken stoben wie Schwärme kleiner brennender Käfer weit in die Nacht hinaus, ehe sie erloschen oder sich auf die Trümmerlandschaft herabsenkten. Trotzdem rückte Torian noch näher heran und warf noch Holz nach. Die Hitze trieb ihm den Schweiß auf die Stirn, und seine Hände und sein Gesicht brannten, aber er wurde nicht müde, mehr und mehr Holz auf den brennenden Stapel zu werfen und das Feuer zu immer höherer Glut zu entfachen. Keiner der anderen protestierte auch nur mit einem Wort gegen sein scheinbar sinnloses Tun, obgleich ihnen die Hitze so unangenehm sein mußte wie ihm. Aber sie schienen wie er zu spüren, daß irgend etwas mit dieser Nacht nicht stimmte, und wie er rückten sie schutzsuchend noch näher in den Kreis schattenloser, blendender Helligkeit hinein, den das Feuer in die Nacht stanzte. Dahinter lastete Schwärze. Eine solch absolute, alles umfassende Finsternis, wie sie selbst Torian fremd war. Und noch etwas anderes.
Die Angst.
Er verscheuchte den Gedanken, warf ein weiteres Scheit auf die prasselnde Glut und wischte sich gleichzeitig den Schweiß fort, den ihm die erbarmungslose Hitze auf die Stirn trieb. Seine Augen tränten und schmerzten von der gnadenlosen Helligkeit, die das Feuer verbreitete; trotzdem sah er nicht weg, denn den Blick vom Feuer zu wenden, hätte bedeutet, in diese grauenhafte Dunkelheit zu starren, die dahinter lauerte.
Für einen Moment mußte er mit aller Macht gegen die Vorstellung ankämpfen, daß diese Dunkelheit mehr war als das Fehlen von Licht, sondern etwas Großes, Finsteres, das mit unsichtbaren Zähnen an der schwankenden Front nagte, die ihm das Licht entgegenwarf. Er versuchte, auch diesen Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht ganz. Etwas blieb. Irgend etwas war in dieser Dunkelheit, das wußte er einfach, und wenn Cathar ihm tausendmal das Gegenteil versicherte.
Nervös blickte Torian sich um, doch er konnte den Magier nirgendwo entdecken. Cathar war nicht zu ihnen herübergekommen, sondern zog es offensichtlich vor, allein zu bleiben. Für einen Moment hoffte Torian mit aller Inbrunst, daß das, was er in den Schatten lauern zu spüren glaubte, Menschen verabscheute, dafür aber einen um so größeren Appetit auf großkotzige Schwarze Magier verspürte.
Nach einer Weile bückte er sich, um die nur noch halbvolle Feldflasche mit seinem Wasser aufzuheben. Er zögerte einen ganz kurzen Moment, ehe er trank. Die Nacht war noch nicht zu einem Drittel vorüber, und der Wasservorrat würde nicht reichen, seinen Durst für die Zeit bis zum Morgen zu stillen, denn er wußte, daß er keinen Schlaf finden würde. Es gab zwar einen Brunnen, der wie durch ein Wunder nicht verschüttet worden war, als das Kastell zusammenbrach, aber er lag auf der anderen Seite des Hofes, hinter der Wand aus Finsternis und Angst, und nicht einmal der Durst konnte ihn zwingen, dorthin zu gehen. Aber dann trank er doch einige Schlucke, verschloß die Flasche sorgsam wieder und starrte weiterhin in die Flammen. Er konnte die Flasche morgen früh wieder füllen, bis dahin würde er seinen Durst eben bezwingen müssen.
Keiner von ihnen sprach, aber das war auch nicht nötig. Torian glaubte, die Gedanken der anderen hören zu können. Sie spürten alle dasselbe wie er, obwohl einige der Männer so in sich zusammengesunken dasaßen, daß sie vor Erschöpfung offensichtlich gegen ihren Willen im Sitzen eingeschlafen waren. Vielleicht war es das Beste, was ihnen passieren konnte, und er beneidete die Männer fast. Zugleich aber wußte er, daß er die Augen eher mit Hilfe zweier Stöckchen offenhalten würde, als seinem eigenen Verlangen nach Schlaf nachzugeben.
Aber auch die festesten Vorsätze waren eine Sache; sie einzuhalten, eine andere. Er merkte nicht einmal, daß die Erschöpfung ihn irgendwann doch übermannte und er einschlief.
Torian wußte nicht zu sagen, was er beim Anblick des zerfransten Brückenstumpfes empfand. Umsonst! hämmerte eine Stimme in seinen Gedanken. Alles war umsonst! Minutenlang stand er einfach nur reglos da und starrte ins Leere, dann trat er zwei Schritt weiter auf die Felsnase hinaus und beugte sich ein wenig vor; gerade genug, um einen Blick über den Rand zu werfen, ohne aber in Gefahr zu geraten abzustürzen. Dennoch begann sich beinahe augenblicklich alles vor seinen Augen zu drehen. Die Tiefe schien wie mit gierigen Händen an ihm zu zerren, und er trat hastig von dem Abgrund zurück. Bislang hatte er sich immer für schwindelfrei gehalten, aber nun mußte er erkennen, daß es auch in dieser Hinsicht für jeden Menschen eine Grenze seiner Unempfindlichkeit gab. Die seine wurde hier um ein gutes Stück überschritten.
Tief, unendlich tief unter ihm erstreckte sich der Wüstenboden. Mannsgroße Felsen sahen aus dieser Höhe wie winzige Kiesel aus, aber es gab keinerlei Überreste der Brücke, keinen Stahlträger, nichts. Der Anblick überraschte Torian nicht, zumindest nicht wirklich. Wenn die Brücke eingestürzt wäre, hätten sie bereits am Fuße des Berges Spuren des Unglücks finden müssen.
Aber wie konnte sich eine ganze Brücke einfach in Luft auflösen?
Cathar hatte die ganze Zeit über kein Wort gesagt, sondern Torian nur spöttisch gemustert.
»Was… was hat das zu bedeuten?« fragte Shyleen verständnislos.
Cathar wandte sich zu ihr um. Der Ausdruck von Spott in seinem Gesicht vertiefte sich noch.
Das erste Stück war das schwerste. Der Berg lag noch keine zwanzig Schritte hinter ihnen, aber Torian hatte trotzdem das Gefühl, seit einer Ewigkeit über den schmalen, spiegelglatten Fels der Brücke zu balancieren. Der steinerne Pfad führte nicht nur steil in die Höhe, er fiel auch nach beiden Seiten in sanfter Krümmung ab, und zu allem Überfluß war der Felsen so rutschig, daß selbst seine groben Stiefel kaum ausreichend Halt fanden. Der Wind zerrte an seinem Haar und seiner Kleidung, und vor ihm, unendlich weit entfernt, am Ende der Brücke, wogten Schatten und gestaltlose finstere Dinge, die sich seinem Auge immer wieder entzogen, sobald er sich darauf zu konzentrieren versuchte.
Torian hatte Angst; eine Angst wie niemals zuvor in seinem an Gefahren nicht gerade armen Leben. In seinem Mund fühlte er einen bitteren Geschmack, und seine Kleidung klebte in großen, dunklen Flecken an seinem Körper. Er wußte, daß er stürzen würde, wenn er den Fehler beging, auch nur einmal in die Tiefe zu blicken. Vielleicht war es wirklich so, wie Cathar gesagt hatte: daß diese Brücke immer da war; unsichtbar und nur darauf wartend, daß jemand den Mut zu einem ersten Schritt ins scheinbare Nichts wagte. Für Torian jedoch war allein die Vorstellung, über einen Pfad zu gehen, den es in Wirklichkeit vielleicht doch nicht gab, grauenhaft.
Wie zur Bestätigung erscholl in diesem Augenblick hinter ihm ein gellendes Aufkreischen. Er wandte instinktiv den Kopf. Vor seinen entsetzt geweiteten Augen stürzte einer der Söldner durch den massiven Fels hindurch und verschwand schreiend in der Tiefe. Torian starrte auf die Stelle, wo der Mann gerade noch gestanden hatte. Es stimmte doch! durchzuckte es ihn. Diese Brücke existierte nicht! Sie war nichts als ein Trugbild: ein Spuk, der ihre Sinne narrte!
Im gleichen Moment, in dem er diesen Gedanken dachte, begannen auch seine Füße in den Fels zu sinken. Torian heulte auf. Seine Augen quollen ihm vor Entsetzen aus den Höhlen, als er sah, wie seine Füße im schimmernden Gestein verschwanden, als wäre es plötzlich zu Morast geworden. Schneller und schneller sank er in den massiven Fels ein. Unter ihm war kein Boden mehr, nur noch ein schwammiges, weiches Etwas, das immer rascher unter seinem Körpergewicht nachgab. Schon war er bis an die Knie eingesunken, dann bis an die Oberschenkel.
Niemand kümmerte sich um ihn. Nicht einmal Garth oder Shyleen, die ein Stück vor ihm gingen, wandten den Kopf, denn sie wußten, daß es ihr eigenes Ende bedeuten würde, so wie Torian den Fehler begangen hatte, den abstürzenden Mann anzusehen. Jeder von ihnen empfand die gleiche lebensgefährliche Angst, und jeder Anlaß, der ihnen die Ungewisse Existenz der Brücke vor Augen führte, stellte eine tödliche Bedrohung dar.
»Torian!« Bards Stimme klang schrill und überschlug sich fast. »Du darfst nicht zweifeln! Bei Ch’tuon, du darfst nicht an der Existenz der Brücke zweifeln! Sie trägt dich, der Fels ist massiv!«
Torian warf sich mit einem Schrei herum. Seine Hände scharrten über den Fels, suchten verzweifelt Halt, aber da war nichts: Seine Finger glitten durch den schwarzschimmernden Granit hindurch, und er sank immer noch tiefer in den Fels ein, war jetzt schon bis zu den Hüften darin verschwunden und stürzte weiter.
Eine Hand packte ihn an den Schultern, riß ihn zurück und nach oben. »Du darfst nicht zweifeln!« keuchte der Rattengesichtige noch einmal. »Es ist nur die Magie der Schattenburg. Die Brücke existiert, aber sie verschwindet, wenn du nicht daran glaubst!«
»Nein!« kreischte Torian. Verzweifelt schlug er um sich, noch immer irgendwo Halt suchend, und hätte Bard, der ihn hielt, dabei um ein Haar in die Tiefe gefegt. Er schloß die Augen und klammerte sich mit aller Kraft an die Vorstellung der Brücke, wie er sie gesehen und in Erinnerung hatte. Gleichzeitig fanden seine Hände wieder Halt; er spürte den harten Stein und zog sich mit einem Ruck auf den Felsen hinauf. Einige Sekunden lang blieb er liegen und starrte zu den Wolken hoch, die vom Wind über den Himmel getrieben wurden – und verdrängte jeden Gedanken an das, was diese Brücke wirklich sein mochte.
Bard war bereits weitergegangen, ohne sich noch einmal zu ihm umzuwenden. Torian blickte ihm nach und wurde sich bewußt, daß er dem Rattengesichtigen erneut sein Leben verdankte, und diesmal war es ganz eindeutig nicht nur aus Berechnung geschehen. Der Parasit in seinem Körper mochte ihnen bei einigen der überwundenen Fallen von Nutzen gewesen sein, jetzt hingegen war sein Leben nicht mehr wert als das irgendeines der anderen. Er wurde aus dem Mann mit den Rattengesicht nicht schlau, aber dies war kaum der richtige Moment, darüber nachzugrübeln.
Torian richtete jedes bißchen Kraft, das er noch aufbringen konnte, darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, sich schräg gegen den Wind zu stemmen und einfach nur vorwärts zu gehen: über massiven, harten Untergrund zu schreiten, über Fels, dessen Härte er durch die Stiefelsohlen spürte, der den Wind brach, so daß er heulte und wimmerte wie eine Meute unsichtbarer Wölfe, der da war, so massiv und kompakt wie ein Stück Felsen nur sein konnte. Er konzentrierte sich auf jede noch so winzige Einzelheit, ertastete mit halb geschlossenen Augen jede feine Unebenheit der kühn geschwungenen Brücke, jede rauhe Stelle, jeden haarfeinen Riß im Stein, klammerte sich an jeden Schatten, jede Lichtspiegelung auf dem glattpolierten Felsen, alles, was sein Denken davon überzeugen konnte, daß dieser Fels wirklich da war, und nicht nur ein Trugbild. Eine Ewigkeit – die in Wahrheit sicher nicht mehr als zehn, allerhöchstens fünfzehn Minuten andauerte – schleppte er sich so über den schmalen Felsbuckel.
Der Wind hatte an Kraft zugenommen und erschwerte es zusätzlich, auf dem glatten Untergrund der Brücke nicht den Halt zu verlieren und einfach wie ein trockenes Blatt davongeweht zu werden. Vielleicht aber war es gerade das, was ihm das Leben rettete, weil das Gehen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und so verhinderte, daß seine Gedanken in eine gefährliche Richtung irrten. Vielleicht waren es auch seine Gebete, die er in den letzten Minuten an sämtliche Götter gerichtet hatte, von denen er jemals gehört hatte, ohne an sie zu glauben. Vielleicht beides.
Der wogende Schatten am Ende dieser Wahnsinnsbrücke wuchs allmählich, wurde jedoch nicht deutlicher. Nach einer Weile bemerkte Torian, daß sich die Brücke wie ein bizarrer Viadukt wieder nach unten neigte, und schon wenige Augenblicke später begann ein gewaltiger Schatten aus der nebeligen Entfernung heranzuwachsen. Im ersten Moment glaubte er, es wäre die Schattenburg, doch dann erkannte er, daß es sich nur um einen Felspfeiler handelte. Es war ein sehr sonderbarer Pfeiler; ein schwarzer, beinahe lotrecht aufstrebender Steingigant, der sich an seinem oberen Ende wie ein riesiger Pilz wölbte, dessen Fuß hingegen in milchigem Nichts verschwand. Dahinter setzte sich die Brücke fort, wie es schien, ins Unendliche. Und vielleicht stimmte das ja auch, obwohl Torian irgendwo vor und über ihnen ein nebeliges Etwas zu sehen glaubte, das ein wenig zu kompakt war, um allein seiner Einbildung zu entspringen.
Das Gebilde vor ihnen war jedenfalls nur eine Zwischenstation auf ihrem Weg, dennoch beschleunigte Torian instinktiv seine Schritte. Nichts sprach dafür, daß dieser Felspfeiler in irgendeiner Form realer sein sollte als die Brücke, über die er ging und die sich dahinter fortsetzte, aber allein die Illusion, daß er mit dem Boden verbunden war, daß unter ihm irgend etwas war außer saugender Leere, erschien ihm wie eine Erlösung.
Als sie näherkamen, sah Torian, daß es sich nicht um einen gewöhnlichen Pfeiler handelte. Der schmale Steg, der in kühnem Bogen zu ihm hinführte, verbreiterte sich zu einer runden, vielleicht fünfzig Schritte messenden Plattform, an deren beiden äußeren Enden zwei bizarr geformte Türmchen wie Tropfen aus erstarrter, glitzernder Lava standen. Der Anblick erinnerte ihn auf unangenehme Weise an ein Bollwerk. Etwas daran war aggressiv, auf schwer in Worte zu fassende Weise, und irgendwie spürte er, daß die Türmchen nicht einfach nur Steinmonumente waren. Es war das Gefühl, von ihnen angestarrt, schlimmer noch, belauert zu werden. Die nervösen Blicke, welche die anderen, einschließlich Cathar, auf die sonderbaren Gebilde warfen, zeigten ihm deutlich, daß er mit diesem Gefühl nicht alleinstand.
Er wechselte einen knappen Blick mit Cathar, und ohne das Tempo auch nur zu verlangsamen, überquerten sie die Plattform. Keiner der Männer, die sich genau wie Torian beim ersten Anblick des Pfeilers wahrscheinlich auf eine Ruhepause gefreut hatten, murrte. Viele schritten sogar schneller aus als vorher.
Sie gingen weiter, immer weiter.
Torian hatte längst jedes Gefühl für die Zeit verloren. Die Schattenburg war unendlich langsam nähergekommen. Wo zu Anfang nur wogende, undeutliche Entfernung irgendwo im Nichts vor ihnen gewesen war, zeigten sich bald Schatten, etwas wie eine riesige Wolke aus grauem Nebel, dann ein gigantischer, auf unheimliche Weise falsch wirkender Umriß, der mit jedem Schritt um eine Winzigkeit heranwuchs, aber auf absurde Weise nicht deutlicher wurde. Jetzt lag die Burg nur noch wenige hundert Schritte vor ihnen, allein getrennt durch ein letztes Stück der Wahnsinnsbrücke, die als wirklich existent anzuerkennen Torians Verstand sich immer noch weigerte, und dem letzten der gewaltigen Felspfeiler, welche die bizarre Konstruktion trugen.
Er war ganz ruhig. Sie standen dicht vor dem Ende ihrer unglaublichen Reise, zu der sich vor ihnen bereits Hunderte von Menschen – und nicht nur Menschen! – aufgemacht hatten, ohne daß auch nur einer das Ziel erreicht hatte, wenn Cathar und die alten Legenden recht hatten. Aber Torian fühlte weder Erregung noch Nervosität, nicht einmal mehr Furcht. Allenfalls ein wenig Verwunderung, daß sie tatsächlich bis hierher gelangt waren, ohne in den zurückliegenden Stunden auf dem Marsch über die Brücke mindestens ein Dutzend Male auf ebensoviele verschiedene Arten umgebracht worden zu sein.
Oder wenigstens angegriffen. Nach dem unglaublichen Aufwand, den die Schwarzen Magier betrieben hatten, um das Zentrum ihrer Macht zu schützen, fiel es ihm schwer, zu glauben, daß sie ausgerechnet das letzte Stück der Straße der Ungeheuer ausgespart haben sollten, wo jeder ungebetene Besucher einem Angriff auf der Brücke fast hilflos gegenübergestanden hätte. Aber vielleicht schien ihnen die Brücke allein bereits Schutz genug zu sein, wenngleich Torian bei jedem weiteren Pfeiler das gleiche Unbehagen wie beim ersten überkommen war.
So auch diesmal, und doch fühlte er wie die vorangegangenen Male auch eine so grenzenlose Erleichterung, massiven Fels unter sich zu spüren, daß er sich am liebsten niedergeworfen und den Boden geküßt hätte. Mit eisigem Griff hielt ihn immer noch die Angst gefangen, die ihn fast um den Verstand gebracht hätte, aber er schämte sich dieser Angst nicht. Er hatte schon vor langer Zeit erkannt, daß Furcht etwas Natürliches, ja Nützliches war, dessen man sich nicht zu schämen brauchte, sondern dessen man sich im Gegenteil sogar bedienen konnte, und das hatte er in den letzten Stunden ausgiebig getan. Nur die Furcht hatte ihn davon abgehalten, auf der Brücke stehenzubleiben und über die wahre Natur des Bodens unter seinen Füßen nachzudenken.
Er zwang sich, die Plattform zu überqueren – und im gleichen Moment, in dem er als erster die unsichtbare Grenzlinie zwischen den beiden Lavatürmchen überschritt, schälte sich vor ihm die Schattenburg wie ein fürchterlicher Spuk aus dem Nichts. Die grauen Schwaden trieben auseinander, als wäre eine Sturmbö in sie gefahren, und offenbarten ein so ungeheuerliches, erschreckendes Bild, daß Torian zurückprallte und einen entsetzten Schrei ausstieß, in den wenige Sekundenbruchteile später auch seine Begleiter einstimmten.
Die Burg war ein Alptraum, obwohl ihre genaue Form auch jetzt noch unmöglich zu erkennen war. Die zahllosen, auf schier unvorstellbare Weise ineinander verschachtelten Türmchen, Erker, Zinnen, Wehrgänge, Dächer und Mauern, die in Schwarz und schmutzigem Gold und grau gewordenem Silber schimmerten, folgten keiner einheitlichen Linie oder gar etwas, das auch nur annähernd mit dem Wort Architektur hätte beschrieben werden können. Sie sahen aus, als hätte ein Gigant diese Ansammlung bizarrer Gebäude gepackt und so lange geknetet und ineinandergestaucht, bis dieses Alptraumgebilde daraus entstanden war, ein entsetzliches Ding, dessen bloßer Anblick Torian mehr schwindeln ließ als ein Blick vom Rande der Brücke in die Tiefe. Und was er sah, war nur ein kleiner Teil der Schattenburg, da sich sein Verstand schlichtweg weigerte, all die unbeschreiblichen Dinge zu erkennen oder gar zu begreifen. Die wahre Konstruktion des riesigen Komplexes vor ihm würde ihm immer fremd bleiben, und wenn er versuchte, sich näher mit ihr zu befassen, konnte das Ergebnis nur aus Wahnsinn bestehen, denn sie war nicht für menschliche Augen und Gehirne gemacht, sondern gehorchte der sinnverdrehenden Symmetrie der Alten Rasse.
Minutenlang stand Torian einfach nur da und starrte genau wie die anderen das Gebilde an, dann riß ihn irgend etwas in die Wirklichkeit zurück. Gleichzeitig verdichtete sich das vage Gefühl von Furcht, das er bislang auf jeder Plattform verspürt hatte, aber diesmal war es nicht nur ein Gefühl. Neben ihnen öffneten sich kleine Türen in den Türmen, und etwas wie ein wirbelnder Schatten huschte heraus. Torian blieb verblüfft stehen. Im ersten Moment war er nicht sicher, ob er wirklich etwas sah, oder ob ihm seine überreizten Nerven schlicht und einfach einen Streich spielten, aber dann kamen die Schatten näher, mit sonderbar gleitenden, flatternden Bewegungen. Ein Splitter von Rot blitzte im wirbelnden Grau auf. Für Bruchteile von Sekunden glaubte Torian ein verzerrtes Gesicht auszumachen; eine apokalyptische Fratze, schmal, von der Farbe der Nacht, und mit einem höhnisch verzerrten, dreieckigen Insektenmaul anstelle eines Mundes. Viel zu viele tentakelartige Arme wuchsen aus dem Rumpf der Kreatur und peitschten unruhig durch die Luft.
Mit aller Kraft verscheuchte Torian die Vorstellung, und im gleichen Moment wurde der Schatten wieder zu einem flackernden, grauen Schemen mit den ungefähren Formen eines menschlichen Körpers. Nur größer. Und erheblich drohender.
Lautlos trieben die Schattenwesen ihnen entgegen, wie Nebel, den der Wind vor sich herjagt. Torians Hand griff nach dem Schwert, obwohl er wußte, daß es ihm gegen diese Schattenwesen ohnehin nichts nutzen würde.
»Bleibt ruhig«, befahl Cathar. »Sie sind harmlos und werden uns nichts tun.«
Im gleichen Moment griffen die Schatten an, als wollten sie den Worten des Magiers hohnsprechen. Es ging so schnell, daß Torian sich nicht einmal sicher war, in welcher Reihenfolge sich die Ereignisse wirklich abspielten. Von einem Augenblick auf den anderen waren sie von Schatten umkreist, wirbelnden Fetzen aus grauem Nichts, die mit gierigen Armen nach ihnen zu greifen schienen. Kälte hüllte sie ein, und dann berührte einer der Fetzen Garths Gesicht. Der Dieb schrie auf, schlug die Hände vor die Augen und brach in die Knie.
Torian fuhr herum, um ihm zu Hilfe zu eilen, aber im gleichen Augenblick erreichten die wirbelnden Fetzen auch ihn. Er schlug mit dem Schwert zu, doch die Klinge schnitt durch die Nebelwesen hindurch, als wären sie überhaupt nicht vorhanden. Sie berührten ihn. Das Gefühl war unbeschreiblich ekelhaft. Die Schatten schienen mit feuchten, morastigen Händen über seinen Körper zu streichen, drangen in seinen Mund und seine Nase ein. Er hatte den Eindruck, sein tiefstes Inneres würde durchwühlt und überprüft, ob er würdig war, die Schattenburg zu betreten. Aber Cathar hatte recht, abgesehen von dem Ekelgefühl, mit dem die Schatten Torian erfüllten, schienen sie harmlos zu sein und zogen sich nach einigen Sekunden wieder zurück.
Aber wenn sie von den seltsamen Fetzen wirklich untersucht worden waren, dann schienen sie die Prüfung ganz offensichtlich nicht bestanden zu haben, denn im gleichen Augenblick platzten die beiden Lavatürme wie unter unsichtbaren Hammerschlägen auseinander, und aus ihrem Inneren quollen die entsetzlichsten Wesen, die Torian je gesehen hatte: groteske, mehr als zwei Meter große Karikaturen menschlicher Gestalten, vierarmig, grüngeschuppte Dinger ohne Gesichter, die nur aus Zähnen und Klauen zu bestehen schienen. Und es wurden immer mehr, die aus den Türmen wie aus gigantischen Eiern herausquollen.
Bard, der den neu aufgetauchten Angreifern am nächsten war, zerrte sein Schwert aus dem Gürtel und stürmte auf das erste der Scheusale los. Das Ungeheuer taumelte, als die stählerne Klinge seine Schulter traf, aber anstatt zusammenzubrechen oder wenigstens zurückzutorkeln, schlug es mit dem anderen Arm nach dem Angreifer, prellte ihm die Waffe aus der Hand und streckte ihn mit dem nächsten Hieb nieder. Mit einem triumphierenden Kreischen setzte es ihm nach, die Krallen zum entscheidenden Schlag erhoben.
Es war Garth, der das Rattengesicht rettete. Ohne einen Laut stürzte er vor, umschlang die Bestie von hinten mit den Armen, riß sie in die Höhe und schleuderte sie mit einem einzigen Ruck seiner gewaltigen Muskeln weg. Das Ungeheuer prallte gegen eines der anderen Monster und riß es mit sich von den Füßen. Aber es war nur eine kurze Atempause, denn schon stürmten die anderen Bestien heran.
Torian stellte sich einer von ihnen mit gezogenem Schwert in den Weg. Es war ungefähr so aussichtsreich wie der Versuch, einen wütenden Elefanten mit einem Zahnstocher aufhalten zu wollen. Die Bestie walzte heran, rannte geradewegs in seine vorgestreckte Schwertklinge hinein – und lief weiter. Die Spitze seiner Waffe vermochte ihre Panzerhaut nicht einmal zu ritzen! Die Klinge bog sich ein wenig durch und mit einem sirrenden Laut zur Seite, und das Schwert wurde ihm aus der Hand gerissen. Im nächsten Moment traf ihn eine Klaue des Monstrums mit der Wucht eines Hammerschlages an der Schulter und schmetterte ihn zu Boden. Er hatte noch ungeheures Glück, daß die Bestie ihn nur mit dem geschuppten Handrücken traf, statt ihm den Arm kurzerhand auszureißen. Instinktiv zog er den Kopf zwischen die Schultern, wälzte sich herum und hörte, wie harte Krallen den Fels aufrissen, genau dort, wo er eine halbe Sekunde zuvor noch gelegen hatte. Er versuchte hochzukommen und zu seinem Schwert zu gelangen, wurde von einem zweiten, ebenso wuchtigen Schlag davongeschleudert und sah den mißgestalteten Leib einer weiteren Alptraumkreatur über sich aufragen. Ihre Arme waren gespreizt, die Krallen wie Zinken einer stählernen Gabel auf sein Gesicht gerichtet.
Aber der Hieb, auf den er wartete, kam nicht.
Statt dessen erstarrte das Ungeheuer. Aus seiner Brust ragte ein fingerlanges, stählernes Dreieck. Langsam, als würde es von unsichtbaren Fäden wie eine Marionette gehalten, brach es in die Knie, drehte sich halb um seine Achse und fiel schließlich nach vorne.
Die anderen Monstren überlebten es nur um Sekunden. Verblüfft glotzte Torian das halbe Dutzend Männer an, die wie aus dem Nichts aufgetaucht und zwischen die Ungeheuer gefahren waren. Sie ließen ihnen nicht den Hauch einer Chance. Ihre Schwerter durchbrachen die Panzerhaut der Bestien und töteten sie auf der Stelle.
Torian stemmte sich in die Höhe und betrachtete die Unbekannten genauer. Sie waren von Kopf bis Fuß in graue, enganliegende Tücher gehüllt, die nur einen kaum fingerbreiten Streifen über den Augen und Nasenwurzel freiließen. Der Streifen Haut, den Torian sah, war so weiß, als wäre er noch nie von einem Sonnenstrahl getroffen worden, die Augen groß und stechend. Als er den Blick eines der unbekannten Krieger auf sich ruhen sah, fühlte er sich sofort unbehaglich. Die Gestalten sahen seltsam unwirklich, fast gespenstisch aus, aber das konnte auch an der Art ihres Auftauchens und an ihrem Verhalten liegen. Die Männer hatten ihnen das Leben gerettet – das erste Mal, seit sie die Straße der Ungeheuer betreten hatten, daß ihnen Hilfe zuteil wurde, und vielleicht reagierte Torian gerade deshalb mit Mißtrauen auf ihr unerwartetes Erscheinen. Es war nicht sicher, daß die Krieger ihnen wirklich freundlich gesonnen waren; noch bestand die Möglichkeit, daß sie vom Regen in die Traufe geraten waren.
Doch die Unbekannten zeigten keine feindliche Absicht, sondern steckten im Gegenteil sogar ihre Schwerter weg, traten auf Garth zu –
und sanken vor ihm auf die Knie!
»Seid willkommen in der Schattenburg, Herr«, murmelten sie wie aus einem Munde.
Torian glaubte seinen Augen und Ohren nicht zu trauen. Neben ihm stießen Shyleen und Bard gleichermaßen ein überraschtes Keuchen aus. Er nahm es nur unterbewußt wahr. Wie gebannt fixierte er Garth, der die demütige Unterwerfung der Krieger mit einem zufriedenen Lächeln quittierte, dann ließ er seinen Blick fassungslos zu Cathar weiterwandern. Das Gesicht des Magiers war bar jeden Ausdrucks; mit leeren, an Glaskugeln erinnernden Augen starrte er ins Nichts.
Und dann verschwand er.
Seine Gestalt begann zu flimmern, wurde unscharf und durchscheinend. Gleichzeitig verwandelte sich Garth. Auch seine Konturen verschwammen für Sekunden und festigten sich neu nach Cathars Ebenbild, während sich der Körper des Magiers in Nichts auflöste.
Genauer – das, was sie die ganze Zeit über für seinen Körper gehalten hatten.
Torian stöhnte auf und begriff nicht, wieso er die Wahrheit nicht schon längst erkannt hatte. Mit einem Mal war alles völlig klar. Cathar hatte sie die ganze Zeit über getäuscht.
»Was… was soll das bedeuten?« stieß Bard hervor. Auch in seiner Stimme lag plötzlich ein Unterton, der Torian fremd war.
Cathars Aussehen hatte sich inzwischen gefestigt. Nichts an ihm erinnerte mehr an das Trugbild, das er ihnen vorgegaukelt hatte. Immer noch lächelnd wandte er sich um und musterte den Rattengesichtigen wie ein lästiges Insekt.
»Das ist doch ganz einfach: Man heißt den neuen Herrscher der Schattenburg willkommen, wie du gehört hast. Oder fragst du, was mit diesem Körper geschah? Wenn man mit einem Mann wie Torian Carr Conn gemeinsam reist, kann man nicht vorsichtig genug sein. Es gibt nur einen Menschen, von dem ich wußte, daß er nie sein Schwert gegen ihn erheben würde. Also nahm ich sein Aussehen an. Ohne ihn wäre keiner von uns hierhergekommen.«
»Vergeßt nicht das Blutopfer für die Festung, Herr«, gemahnte einer der Krieger.
»Richtig«, erwiderte Cathar und machte eine Handbewegung in Richtung der acht noch lebenden Gardisten. »Ihr fragt euch vielleicht, welche Rolle euch in diesem Geschehen bestimmt ist. Ich mußte so viele von euch mitschleppen, nur um sicherzugehen, daß wenigstens einige von euch bis hierhin durchkommen. Die Schattenburg fordert ihren Preis, wenn man sie betreten will. Nehmt sie.«
Und die grauen Krieger nahmen sie. Drei von ihnen waren zwischen den Gardisten und töteten sie mit ihren Schwertern, noch bevor die Männer begriffen, was Cathars Worte zu bedeuten hatten. Ohne einen Laut brachen sie zusammen.
»Verrat!« keuchte Bard und zog sein Schwert. Einer der Krieger trat drohend auf ihn zu, doch er beachtete es nicht einmal. »Du hast uns alle verraten. Es ging dir gar nicht darum, das Tor zu schließen. Du wolltest nur die Schattenburg. Und ich habe dir vertraut!«
»Das ist schließlich deine eigene Schuld«, höhnte Cathar. »Ich habe dich zu nichts gezwungen, und du lebst nur noch, weil du mir bislang treu gedient hast. Entscheide dich: Willst du ebenfalls sterben oder mir weiterhin gehorchen?«
»Niemals!« schrie Bard. »Du wirst für deinen Verrat bezahlen. Zeig wenigstens soviel Mut, mit mir zu kämpfen!«
»Kämpfen?« Der Magier schien einen Moment zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf. »Wie überflüssig.« Er drehte sich um und machte einige Schritte auf die Burg zu, dann wandte er noch einmal den Kopf. »Ach, ehe ich es vergesse«, fügte er in fast beiläufigem Tonfall hinzu, »die Brücke, auf der du zu stehen glaubst, die gibt es in Wahrheit gar nicht, weißt du?«
Bard keuchte vor Schrecken, blickte instinktiv nach unten – und stürzte wie ein Stein in die Tiefe!
Torian starrte Bard mit vor Entsetzen geweiteten Augen nach. Der Rattengesichtige kam nicht einmal dazu, einen Schrei auszustoßen. Der scheinbar so massive Fels war von einem Sekundenbruchteil auf den anderen nur auf dem kleinen Stück, auf dem er gestanden hatte, verschwunden. Er fiel und fiel, hinein in die Decke aus Wolken und Nebel, die sich unter der Brücke spannte und nirgendwo zu enden schien.
Torian wußte nicht, was er empfand. Bis zuletzt hatte er Bard nur als einen unterwürfigen Diener Cathars betrachtet, ungeachtet dessen, was der ehemalige Kommandant ihm gesagt hatte. Sie alle waren von dem Magier betrogen worden, aber Bard vielleicht am allermeisten, weil er der wohl einzige von ihnen gewesen war, der Cathar vollends vertraut und aus Überzeugung gehandelt hatte. Bis zuletzt, und obwohl Bard ihm das Leben gerettet hatte, war er Torian unsympathisch gewesen, aber dieses Ende hatte auch das Rattengesicht nicht verdient. Er stand einfach da und starrte in die Richtung, in die Bard gestürzt war, bis einer der Schattenkrieger ihn unsanft an der Schulter rüttelte und damit aus der Erstarrung riß. Der Blick seiner Augen war völlig ausdruckslos.
»Folgt uns jetzt«, wurde er aufgefordert. »Unser Herr wartet nicht gerne.«
Schweigend nahm das halbe Dutzend graugekleideter Mörder Shyleen und ihn in die Mitte und geleitete sie das letzte Stück Weg zur Schattenburg hinauf, aber Torian nahm es kaum wahr. Er war immer noch wie betäubt.
Hinter ihm blieben die toten Gardisten zurück und eine Brücke, die es in Wirklichkeit vielleicht gar nicht gab. Möglicherweise auch alle Hoffnungen, die er jemals gehabt hatte. Das dumpfe Krachen, mit dem das titanische Portal hinter ihnen ins Schloß fiel, erinnerte ihn an das Zuschlagen eines Sargdeckels. Er schauderte. Für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl, von den nachtschwarzen Wänden erdrückt zu werden. Selbst das zuckende rote Licht der Fackeln, die in regelmäßigen Abständen in Halterungen an den Wänden steckten, wirkte unnatürlich krank und schien in dem schwarzen Granit zu versickern.
Torian versuchte die Vorstellung abzuschütteln, aber statt in die verborgenen Winkel seiner Phantasie zurückzukriechen, aus denen sie gekommen waren und in die sie gehörten, wurden die Visionen eher noch schlimmer. Für ein paar Sekunden glaubte er, das Gewicht der zahllosen Tonnen Fels und Mauerwerk, das sich über seinem Kopf türmte, beinahe körperlich zu spüren. Seit sie das Tor der Schattenburg durchschritten hatten, war eine sonderbare Veränderung mit ihm vonstatten gegangen. Er hatte das Gefühl, zweimal zu existieren: Es gab einen Torian, der halb wahnsinnig vor Angst war und sich ebenso verzweifelt wie ergebnislos fragte, welcher Dämon ihn geritten haben mochte, freiwillig hierher zu kommen; eine Entscheidung, die etwa der gleichkam, freiwillig die Hand ins Maul eines mürrischen Haifisches zu legen und ihn am Gaumen zu kitzeln.
Aber es existierte noch ein anderer Teil in ihm, der alles, was bisher geschehen war – und alles, was noch geschehen mochte! –, mit beinahe stoischem Gleichmut betrachtete. Der Tod Bards und der Gardisten, ihr eigenes Schicksal, das bevorstehende erneute Zusammentreffen mit Cathar und die einzig wahrscheinliche Konsequenz daraus – nämlich ein rasches, aber höchst unerfreuliches Ende –, das alles ließ ihn vollkommen unberührt.
Es gab nur noch einen Gedanken, der für diesen Teil seines Ichs von Bedeutung war – nämlich den, daß er nach Hause zurückgekehrt war, so unbegreiflich dieser Gedanke auch dem wahren Torian war. Das Kribbeln in seiner Schulter war zu fast schmerzhafter Intensität angestiegen, und es war ein eindeutiges Kribbeln. Torian warf Shyleen ein nervöses Lächeln zu und versuchte, sich auf die Umgebung zu konzentrieren.
Viel war da nicht zu sehen. Der Gang, durch den sie die Schattenkrieger führten, verlief fenster- und türenlos dreißig, vierzig Schritt weit geradeaus und endete vor einem schmucklosen, aber äußerst massiven Tor, das halb offenstand. Er erinnerte mehr an einen direkt aus dem Berg gehauenen Stollen als an den Korridor eines künstlich errichteten Gemäuers, aber vielleicht war er das auch, denn ein Gutteil der bizarren Burg schien mit Urgewalt direkt aus dem Fels herausgemeißelt zu sein. Möglicherweise befanden sie sich in Wahrheit schon tief unter der Erde statt auf dem Gipfel des Berges. Möglicherweise auch nicht einmal mehr in Caracon oder irgendeinem anderen Teil der ihnen vertrauten Welt.
Torian hatte den Berg von der Brücke aus in seiner ganzen Größe gesehen. Er war ein Gigant, ein zyklopischer Kegel aus schwarz erstarrter Lava und Granit, eine, wenn nicht zwei Meilen hoch und mit Flanken, die wie glattpoliertes schwarzes Glas schimmerten. Und das war nur der obere, über den Wolken sichtbare Teil des Berges. Hätte es ein solches Riesending irgendwo in der Staubwüste tatsächlich gegeben, hätten sie es entdecken müssen, schon über Dutzende von Meilen Entfernung.
Nein – Torian war sich ziemlich sicher, daß diese Burg nicht in der Staubwüste lag. Der Weg zu ihr hatte in den hitzedurchglühten Weiten begonnen, aber das war auch alles. Und als er an diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt war, beschloß er, den Gedanken nicht weiterzuverfolgen. Es wäre müßig gewesen. Die Chance, lebend wieder von hier zu entkommen, stand ungefähr eine Million zu eins. Aber die Schätzung war eher zu optimistisch.
»Eure Schwerter«, forderte einer der Schattenkrieger von ihnen und machte mit der Rechten eine bestimmte Bewegung, um seine Worte zu unterstreichen. Sie händigten ihm ohne Widerstand ihre Waffen aus. Der Krieger nahm sie entgegen, wandte sich um und trat als erster durch das Portal. Torian und Shyleen folgten ihm.
Die Halle, in die sie kamen, war gigantisch, selbst für diese Burg, die sich nicht mit menschlichen Maßstäben messen ließ. Ihre spitz zulaufende Decke bildete hundert, hundertfünfzig Meter über ihren Köpfen ein steinernes Dach, und in zwei der vier Wände gab es sogar Fenster, aber irgend etwas Düsteres, Unsichtbares lag in der Luft, das das einfallende Licht schon nach wenigen Metern aufsaugte, so daß auch hier Fackeln und lodernde Kohlebecken für eine unheimliche, düster-rote Beleuchtung sorgen mußten.
In der Mitte der Halle stand ein Gebilde, das wie ein ins Absurde vergrößerter Altar aussah, ein schwarzer Monolith aus lichtschluckendem Stein, so groß, daß ein gutes Dutzend Stufen zu seiner rechteckigen Plattform hinaufführten. Darauf errichtet war eine Art steinerner Baldachin, getragen von vier gewaltigen schwarzen Säulen, die auf widerwärtige Weise zu leben schienen, denn irgend etwas auf oder besser gesagt unter ihrer Oberfläche zuckte und bebte ununterbrochen. Für einen kurzen Moment glaubte Torian, Gesichter zu erkennen, menschliche Gesichter, zu schrecklichen Grimassen verzerrt. Und zwischen den lebenden Steinsäulen erkannte er, was ihn verdächtig an einen Sarg erinnerte.
Er wandte den Kopf mit einem Ruck und konzentrierte sich auf das, was er, hinter dem Gebilde, an der Stirnseite der Halle sah. Nicht daß der Anblick wesentlich angenehmer gewesen wäre.
Cathar hatte seine schlichte Kutte abgelegt und trug jetzt ein dunkelgrünes, mit barbarischen Ornamenten versehenes Gewand, das wie trockene Haut raschelte, ohne daß er sich bewegte, aber ansonsten hatte er sich nicht verändert. Als sie die Hälfte der Halle durchquert hatten, lächelte er dünn, erhob sich mit einer übertrieben kraftvollen Bewegung und sprang von seinem Stuhl herunter. Erst jetzt wurde Torian gewahr, daß es sich in Wahrheit eher um einen Thron handelte – ein gewaltiges Monument, das zur Gänze aus Knochen und schimmerndem Gebein gefertigt war. Da und dort glaubte er, einen menschlichen Totenschädel vor sich zu haben, aber auch die Knochen von Tieren und eine Menge anderer Dinge, die er sich lieber nicht näher besah.
»Ich weiß, was du jetzt denkst, Torian«, wandte sich der Magier an ihn, und in seinen Augen blitzte es amüsiert auf. »Du überlegst, wie du mir den Hals umdrehen kannst, nicht wahr?«
»Ich hätte es etwas weniger gepflegt ausgedrückt, aber es trifft den Kern der Sache, ja.«
Cathar lächelte kalt. »Aber, mein lieber Torian, bitte keine Beleidigungen. Ich weiß, daß du mich haßt, mehr noch als zuvor, aber du tust mir Unrecht. Wenn ich euch umbringen wollte, hätte ich es längst tun können.«
»So wie Bard?« fauchte Shyleen.
»Ganz genau so. Betrachtet sein Schicksal als Warnung. Aber er hat es selbst verschuldet.« Er trat noch einen Schritt näher auf sie zu. »Ich habe euch ein Geschäft vorzuschlagen.«
»Ein Geschäft«, echote Torian spöttisch. »In Ordnung. Wieviel muß ich zahlen, damit du dich freiwillig vom höchsten Turm dieser Burg stürzt. Ich bin nicht gerade reich, aber für diesen Zweck werde ich bestimmt jede nötige Geldsumme aufbringen.«
Cathar lachte nicht. Seine Rechte ballte sich in einer raschen, zornigen Bewegung zur Faust, aber das war seine einzige Reaktion. »Wie du meinst«, sagte er. »Kommen wir zur Sache, es ist schon genug Zeit vergeudet worden. Es gibt etwas, das ich besitze, und das du gerne wiederhättest. Ich habe auf dem Weg hierher nicht einfach nur Garths Aussehen angenommen. Er ist ebenfalls hier.«
»Hier?« wiederholte Torian ungläubig. »Aber wie – «
»Ich hatte meine eigene Methode, ihn hierherzubringen, als sein Schiff versank. Leider war mir selbst dieser Weg versperrt, sonst wäre ich überhaupt nicht auf eure Hilfe angewiesen gewesen.«
Er stieg die Stufen des altarähnlichen Gebildes hinauf. Torian sah, daß sein erster Eindruck ihn nicht getäuscht hatte. Das Ding auf der Plattform, auf das Cathar mit kaltem Lächeln deutete, war ein Sarg; ein zwei Meter langer, aus einem sonderbar glitzernden, nicht ganz durchsichtigen Glas gefertigter Sarg, durch den der Körper des darin aufgebahrten Mannes nur als verschwommener Schemen sichtbar war.
Es war Garth.
»Was… was hast du mit ihm gemacht?« stieß Torian haßerfüllt hervor.
»Er ist nicht tot«, versicherte Cathar rasch. »Nur bewußtlos. Aber glaube nicht, daß du ihn einfach so aufwecken könntest. Er liegt in magischem Schlaf, und nur ich allein kann ihn daraus erwecken. Es liegt in eurer Hand, ob ich es wirklich tue.«
»Warum… zeigst du uns das?« fragte Torian, sich mühsam beherrschend. Seine Zunge war so trocken, daß er kaum sprechen konnte. Die eigene Stimme klang fremd in seinen Ohren. Der Anblick des in todesähnlicher Starre daliegenden Freundes ging beinahe über seine Kräfte.
»Wie gesagt, ich habe euch ein Geschäft anzubieten«, erwiderte Cathar und ließ sich in einer lässigen Bewegung auf die Kante des Glassarges sinken. Der Blick, mit dem er sie maß, wirkte beinahe ehrlich. »Das ist auch der Grund, aus dem ihr noch lebt. Es war beachtlich, was ihr bisher geleistet habt. Ihr seid die einzigen Menschen, die unserem Orden ehrliche Schwierigkeiten bereitet haben. Aber die Zeiten dieses Ordens sind vorbei. Baarolam und die anderen waren zu unentschlossen und schwach. Deshalb wollte ich die Macht über die Schattenburg. Die Zeiten werden sich ändern, wenn Ch’tuon endgültig aus seinem Schlaf erwacht, und es liegt an euch, ob ihr diese Veränderungen überlebt. Ich biete euch – auch Garth – das Leben. Ein Leben in Wohlstand und Sicherheit; sogar Unsterblichkeit – zumindest nach menschlichen Maßstäben. Und größere Macht, als ihr euch jemals erträumt habt.«
»Du bist vollkommen verrückt«, murmelte Torian. »Ein Leben als deine Sklaven und Diener von Ch’tuon und seiner Brut?«
»Als Diener Ch’tuons, ja«, bestätigte Cathar. »Als meine Sklaven nicht. Als meine Verbündeten. Was ist so schlecht daran? Ich werde nichts von euch verlangen, was eurer albernen Menschlichkeit zuwiderläuft. Ich werde nicht von euch fordern, jemanden zu töten oder auch nur irgendeinem Wesen ein Leid zuzufügen. Und was ist so schlimm an Ch’tuon? Du kennst ihn ja nicht einmal. Er ist ein Gott, und vielleicht mag er dir grausam erscheinen, aber er ist es nur zu seinen Feinden. Seinen Freunden hingegen kann er beinahe jeden Wunsch erfüllen. Überlegt euch eure Antwort gut. Ein Leben voller Wohlstand und Macht ist mehr, als die meisten anderen bekommen. Und ihr könnt euch immer noch überlegen, ob ihr die Seiten wechseln wollt.«
»Er lügt«, stellte Shyleen ruhig fest. »Wer sich einmal für seine Seite entschieden hat, kommt nicht mehr von ihm los.«
Cathars Kopf flog mit einem Ruck herum. Für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht vor Haß, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Ich verlange keine Gegenleistung von euch, wenn ihr die angebotene Macht nicht wollt. Alles, was ich erwarte, ist, daß ihr aufhört, uns zu bekämpfen, und uns unterstützt.«
»Was du verlangst, ist unmöglich!« protestierte Torian, sehr viel heftiger, als notwendig gewesen wäre. »Du willst, daß ich dir helfe, aus den Menschen ein Volk von Sklaven zu machen!«
»Dienern«, verbesserte ihn Cathar. »Und ist der Diener eines Königs nicht mehr zu beneiden als der König eines Volkes von Bettlern?« Er hob die Hand und ließ sie wuchtig auf den Deckel des Sarges klatschen. »Muß ich dich daran erinnern, daß es Menschen waren, die den Krieg in Caracon angefangen haben«, fragte er. »Die Herrscher von Scrooth haben Tremon den Krieg erklärt, um uns Magier zu vernichten, und sie haben alle anderen Länder in diesen Krieg hineingezogen, einen Weltbrand entfacht. Wie viele Unschuldige sind dabei bereits gestorben? Zehntausend? Zwanzig? Wie viele, Torian?«
Torian schwieg. Er wußte, daß Cathar recht hatte, was die Grausamkeit der Menschen betraf, aber es gab auch einen logischen Fehler in seinen Überlegungen. Die Herrschsucht der Menschen war kein Grund, andere, noch grausamere Wesen heraufzubeschwören. Vor seinem inneren Auge stieg eine entsetzliche Vision auf: Er sah Länder voller Toter, brennende Städte und kochende Flüsse, Meere, die unter unglaublicher Glut verdampften, und Wolken, aus denen Feuer auf ein verbranntes Land herabregnete…
»Nein«, würgte er hervor. »Niemals!«
Cathar wurde nicht zornig, wie er erwartet hatte. Statt dessen stand er auf, stieg die Stufen hinab und führte sie auf eine Tür im Hintergrund der Halle zu. »Es wundert mich, daß noch niemand von euch ein Wort über den ursprünglichen Grund unserer Reise verloren hat«, sagte er und stieß die Tür auf. Dahinter lag eine weitere Halle, nicht ganz so groß wie die erste, aber immer noch beeindruckend.
Und sie war nicht leer.
Torian schrie auf, als sein Blick auf das grünleuchtende, wabernde Etwas fiel, das hinter der Tür zum Vorschein kam und den hinteren Teil der Halle beinahe von einer Wand zur anderen ausfüllte. Im ersten Moment glaubte er, in einen Tunnel zu blicken, einen Tunnel von unbestimmbarer Form und Länge, der sich auf schier unmögliche Art drehte und wand und wie unter einem unheimlichen inneren Feuer leuchtete. Aber dann bewegte sich der wabernde Schlund; ein schweres, geradezu schluckendes Zusammenziehen und Strecken seiner Wände, ein Teil des vermeintlichen Stollens kippte zur Seite. Wesenlose, grüne Nebel trieben durch das Bild, und etwas Dünnes, Peitschendes griff aus der Decke, ringelte sich wie eine blind tastende Schlange hierhin und dorthin und verschmolz wieder mit dem grünleuchtenden Etwas.
»Es… es lebt! kreischte Torian mit schriller, überkippender Stimme.
»Nein«, widersprach Cathar ruhig. »Aber es ist auch nicht tot.«
Entsetzt starrte Torian den Magier an. »Was… was ist das?« keuchte er, obwohl er die Antwort bereits ahnte.
»Das Tor«, bestätigte Cathar. »Es wütete immer noch in Armar, aber für uns hier ist es mittlerweile harmlos geworden.« Er legte die Hände zusammen, konzentrierte sich einige Sekunden lang und murmelte Worte einer unbekannten Sprache. Die Luft im Raum schien schlagartig kälter zu werden.
Die Bewegungen und das Leuchten des Tores verstärkten sich. Es strahlte in grellem Licht auf – und dann verschwand es von einer Sekunde zur anderen.
»Das wäre diese Sache«, bemerkte Cathar. »Wie ihr seht, halte ich mein Wort.« Seine Miene war völlig ausdruckslos, nur in seinen Augen glühte ein düsterer Triumph. Torian wollte etwas erwidern, aber Shyleen legte rasch die Hand auf seinen Arm und drückte kurz und warnend zu. »Und was mein Angebot betrifft«, fuhr der Magier fort, »so erwarte ich jetzt noch keine Antwort von euch. Ich biete euch bis morgen meine Gastfreundschaft an. Denkt in Ruhe über meine Worte nach. Aber ich kann euch nur raten, wirklich sehr gut darüber nachzudenken.«
Er wartete.
Längst schon wußte er nicht mehr zu sagen, wieviel Zeit verstrichen war. Stunden? Tage? Wochen? Vielleicht sogar Jahre, seit – ja, seit was eigentlich? Seine Gedanken rannen zähflüssig; er war sich bewußt, daß er lebte, und daß es einmal etwas anderes gegeben hatte als dieses regungslose Warten, aber seine Erinnerung lag hinter dem gleichen undurchdringlichen Schleier verborgen wie seine Umgebung. Er wußte weder, wo er sich befand, noch wie er hierhergekommen war, nicht einmal, wer er war.
Manchmal spürte er, wie etwas, das hinter diesem Schleier lag, mit ihm Kontakt aufzunehmen versuchte, und er war sich bewußt, daß es unsagbar fremd war, ohne seine Natur ergründen zu können. Aber das Fremde war da, und es wurde beständig stärker.
Er wartete, während er fühlte, wie die Kerkermauern um seinen Geist langsam brüchig wurden. Das fremde Etwas sprach zu ihm, und wenn er auch unfähig war, die Worte zu verstehen, so begriff er doch ihren Sinn. Er erfuhr Dinge, die so schrecklich und fremd waren, daß sie seinen Geist in den Wahnsinn gestürzt hätten, wenn er nicht immer noch wie betäubt gewesen wäre und die fremde Macht ihn nicht gleichzeitig geschützt hätte.
Und dann, irgendwann, zerbrachen die Mauern seines Kerkers unter ihrem Ansturm endgültig, so daß er sich wieder frei bewegen konnte. Er wußte wieder, wer er war, und er wußte, was er zu tun hatte.
Lautlos erhob sich Garth.
Draußen, vor den unverglasten, aber vergitterten Fenstern war die Sonne längst untergegangen, und bei aller Pracht, mit der die Kammer eingerichtet war, gab es keine Möglichkeit, Licht zu machen.
Torian fand keinen Schlaf. Die bizarre Unterhaltung hatte nicht mehr sehr lange gedauert. Cathar hatte verkündet, daß er ihnen eine Nacht Bedenkzeit geben wolle, um in aller Ruhe über sein Angebot nachzudenken, und sie von vier seiner grauvermummten Diener fortschaffen lassen. Die Schattenkrieger hatten sie sehr höflich behandelt, aber es war jene Art von Höflichkeit gewesen, hinter der sich Unnachgiebigkeit verbarg. Torian hatte protestiert, als er begriff, daß Shyleen und er die Nacht getrennt verbringen sollten, aber natürlich hatte es nichts genutzt; er war hierher gebracht worden, in einen sehr behaglich, ja schon fast verschwenderisch eingerichteten Raum, dessen einziger Schönheitsfehler vielleicht die Tatsache war, daß seine Tür auf der Innenseite keine Klinke aufwies, dafür aber einen sehr massiv aussehenden Riegel auf der anderen.
Und trotzdem war selbst der Zorn, mit dem ihn der Anblick erfüllte, nicht wirklich echt gewesen.
Später, eine Stunde, vielleicht auch zwei, nachdem man ihn hier allein gelassen hatte, waren noch einmal zwei von Cathars Schattenkriegern erschienen und hatten ein Tablett mit Wein und einer sehr großzügig bemessenen Mahlzeit auf dem Tisch abgestellt.
Es stand noch immer dort, und es war noch immer unberührt. Torian hatte Hunger und Durst, und er war müde, aber er fühlte sich wie gelähmt; unfähig, an die profanen Bedürfnisse seines Körpers auch nur zu denken, geschweige denn, sie zu befriedigen. Hinter seiner Stirn tobte ein wahrer Vulkan von Gefühlen.
Garth lebte. Ein Wort von ihm, ein winziges, aus nur zwei Buchstaben bestehendes Wort, und der Dieb wäre frei, aber der Preis war dennoch zu hoch. Er konnte Cathar nicht gehorchen. Es konnte keine Partnerschaft geben. Er würde zu einem Sklaven des Magiers werden. Aber sein Angebot auszuschlagen, würde den Tod für sie alle bedeuten.
Und was, flüsterte eine dünne, boshafte Stimme irgendwo in Torians Gedanken, wenn der Magier recht hatte? Was, wenn er dieses eine Mal nicht log? Cathar war ein Ungeheuer – aber was, wenn er nicht log, sondern die Wahrheit gesagt hatte? Vielleicht war er ja nur das kleinere von zwei Übeln, und vielleicht… Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Verdammt, es waren einfach zu viele Vielleichts, um Hoffnungen darauf zu bauen, und vielleicht war dies auch eine der Situationen, von denen er gehört, die er aber nicht wirklich für möglich gehalten hatte. Eine Lage, in der alles, was man tun konnte, falsch war. Ganz gleich, wie er sich entschied – es würde ein Fehler sein.
Aber vielleicht gab es ja doch noch eine völlig andere Möglichkeit, auf die er bislang nicht gekommen war, die jetzt aber möglicherweise der einzige Ausweg sein mochte. Torian fuhr so heftig hoch, daß er mit dem Kopf gegen die über seinem Bett nur niedrige Decke stieß. Fluchend verdrängte er den Schmerz und spann den Gedanken weiter, der in ihm aufgekeimt war. Das Kribbeln in seiner Schulter dauerte bereits an, seit er die Schattenburg betreten hatte; der Parasit in seinem Körper spürte die magischen Kräfte, die jeden Stein dieses Bauwerks erfüllten. Er war, als er mit Cathars Geist verschmolzen war, unglaublicher Dinge fähig gewesen. Seine Kräfte hatten nichts mehr von der finsteren Macht, die ihn beherrschte, während die Brut der Blutspinne in seinem Körper herangewachsen war, aber mit dem Parasiten war noch ein winziger Rest davon in ihm zurückgeblieben.
Nun konzentrierte sich Torian mit aller Kraft darauf. Es war schwer; unendlich schwer. In den ersten Minuten spürte er nichts; nichts außer Kälte und der widerlichen Feuchtigkeit der gemauerten Wand in seinem Rücken, aber beides sehr viel intensiver, als normal gewesen wäre. Dann…
Es war, als erwache er – oder etwas in ihm aus einem tiefen Schlaf und öffnete die Augen, aber wenn, dann tat er es in einem Raum, der vollkommen finster war. Mühelos löste er seinen Geist aus dem Gefängnis seines Körpers, drang durch die massive Mauer hindurch, als wäre diese gar nicht vorhanden, und entdeckte den Wächter seines Kerkers.
Er sah den Schattenkrieger, der auf dem Gang auf- und abging, deutlich vor sich: aber er gewahrte nicht nur ihn, sondern auch die Helfer, die seine Flucht ermöglichen würden, und verstärkte seine Anstrengungen noch. Der Wächter merkte nichts davon, sondern setzte seine ruhelose Wanderung fort. Er war nicht sehr aufmerksam, denn seine Wache hatte mehr symbolische Bedeutung als irgendeinen praktischen Nutzen. Der Gefangene war eingesperrt, sicherer als an irgendeinem anderen Ort auf der Welt. Trotzdem erfüllte der Schattenkrieger seine Aufgabe gewissenhaft, wenn auch mit mäßiger Anteilnahme.
Aber vermutlich wäre ihm der kaum daumengroße Schatten, der hinter ihm über den Boden huschte und auf dürren Beinchen hinter ihm hertrippelte, auch entgangen, wenn er wachsamer gewesen wäre.
Der Skorpion lief mit einer für seine Art vollkommen untypischen Zielsicherheit auf den hochgewachsenen Mann zu, verhielt aber dann plötzlich mitten in der Bewegung, gelenkt von einem Willen, der nicht der seine war. Seine Fühler zuckten nervös hin und her, und vielleicht begriff er auch mit seinem primitiven Verstand, daß er etwas tat, wofür er überhaupt keinen Grund hatte. Aber seine Intelligenz reichte bei weitem nicht aus, sich gegen den Zwang dieses fremden Willens aufzulehnen.
Er hatte auch nicht genug Geist, sich zu wundern, als plötzlich ein zweiter und dritter Schatten neben ihm erschienen, beide kaum größer als er selbst: ein weiterer Skorpion, und neben ihm, in friedlicher Eintracht, eine haarige graue Wüstentarantel, nur halb so groß wie eine Kinderfaust, aber ebenso giftig wie die beiden Skorpione.
Die Tiere warteten, während der Wächter seine Runde beendete, am jenseitigen Ende des Ganges einen Moment stehenblieb und sich dann umwandte, um gemächlich zurückzugehen, bis er vor einer gemauerten Nische in der Wand verharrte und sich setzen wollte.
Als er noch zwei Schritte von den drei winzigen Killern entfernt war, nahm er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. Er hielt inne, runzelte die Stirn und beugte sich vor, um aus zusammengepreßten Augen auf die beiden Käfer herabzublicken, die vor ihm in der Nische aufgetaucht waren.
Es waren ausgesprochen häßliche Biester – zehn Zentimeter lange Miniatur-Ungeheuer mit scharfen Zangen und langen glänzenden Beinen, die sehr selten waren und in diesem Teil der Wüste im Grunde nichts verloren hatten, noch weniger aber in der Schattenburg. Der Mann wußte, daß die Tiere nicht ungefährlich waren: schon der Biß eines einzigen konnte zu schwerem Fieber und Krämpfen führen. Aber er war kein bißchen beunruhigt, sondern allerhöchstem verwundert. Und fast dankbar für die Abwechslung im monotonen Einerlei seiner Wache.
Einen Moment lang betrachtete er die beiden Käfer, dann zog er einen Dolch aus dem Gürtel und stupste eines der Tierchen behutsam mit der Spitze an.
Im gleichen Moment kroch der erste Skorpion in sein rechtes Hosenbein.
Der Mann bemerkte es nicht einmal. Ein dünnes, schadenfrohes Lächeln erschien auf seinen Lippen, während er den Käfer auf den Rücken warf und zusah, wie er hilflos mit den Beinen strampelte.
Der zweite Skorpion kroch in sein linkes Hosenbein, während die Spinne an seinem Umhang emporzuklettern begann und sich lautlos seinem Nacken näherte.
Auch das entging ihm. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den zweiten Käfer mit dem Dolch auf die Kante der Nische zuzutreiben, wo er in die Tiefe stürzen mußte.
Aber er kam niemals dazu, sein grausames Spiel zu Ende zu bringen. Ein dünner, aber sehr tiefgehender Schmerz schoß plötzlich durch seine rechte Wade. Er keuchte, fuhr herum und schlug instinktiv mit der flachen Hand nach der schmerzenden Stelle. Irgend etwas knackte; sehr leise, aber deutlich, dann rutschte ein winziges hartes Etwas an seinem Bein hinab und kollerte über den Boden.
Die Augen des Mannes weiteten sich entsetzt, als er den zerquetschten Skorpion erkannte. Ein halblauter, krächzender Schrei kam über seine Lippen.
Dann stach der zweite Skorpion zu.
Der Wächter stöhnte auf, machte einen Schritt nach vorne und fiel. Seine Beine hatten mit einem Male nicht mehr die Kraft, das Gewicht seines Körpers zu tragen. Mühsam wälzte er sich herum, versuchte sich auf Hände und Knie hochzustemmen und stürzte abermals nach vorne. Die Decke, der Boden und die Wände begannen sich vor seinen Augen zu drehen. Ihm wurde übel. Hitze und Kälte rasten in rasch aufeinanderfolgenden Wogen durch seinen Körper.
Plötzlich berührte etwas seinen Nacken. Ganz leicht nur, beinahe sanft.
Aber nur für eine Sekunde. Dann schoß ein entsetzlicher Schmerz durch seinen Hals, raste bis in seinen Schädel hinauf und explodierte dort zu grausamer Agonie.
Der Mann bäumte sich auf. Er wollte schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Dem Schmerz folgte eine Woge betäubender Lähmung. Er konnte nicht mehr atmen. Seine Muskeln verkrampften sich. In einem letzten, verzweifelten Versuch warf er sich herum, griff in seinen Nacken und spürte etwas Kleines, Haariges zwischen den Fingern. Er zerquetschte es.
Aber er war tot, ehe er auch nur begriff, was ihn umgebracht hatte.
Torian ließ sich zurücksinken. Er zitterte am ganzen Körper. Sein Geist und sein Körper waren wieder zu einer Einheit verschmolzen. Trotzdem hatte er das Gefühl, nicht mehr in seiner Zelle zu sein, sondern…
irgendwo
gefangen und doch frei
eingesperrt in einen Kerker aus Unendlichkeit
gefesselt in einem Netz, das aus den Stricken des Wahnsinns gewoben war und in dessen Herzen die Spinne Einsamkeit hockte, lauernd und gierig, und mit gigantischen Fängen
eine Spinne mit Cathars Gesicht
Mit einem Schrei öffnete Torian die Augen, fuhr hoch und krachte erneut gegen die Decke. Diesmal spürte er den Schmerz überdeutlich, und trotzdem genoß er ihn beinahe, denn er holte ihn endgültig in die Wirklichkeit zurück. Stöhnend sank er zusammen, preßte die Hand gegen seinen schmerzenden Schädel und fühlte ein wenig Blut unter den Fingern. Gleichzeitig fuhr er sich mit der anderen Hand immer und immer wieder durch das Gesicht. Er wurde das Gefühl, sich besudelt zu haben, nicht los. Es war, als wäre das widerwärtige Netz Wirklichkeit gewesen, und er glaubte die stinkenden, klebrigen Fäden noch immer auf seiner Haut zu spüren. Und war da nicht ein leises, aber furchtbar widerwärtiges Rascheln und Raunen, dicht neben seinem linken Ohr? Und dann die Berührung von etwas Weichem, Dünnem, Flaumigem…
Er mußte all seine Kraft aufbieten, um nicht abermals dem Wahnsinn zu verfallen, und diesmal endgültig. Er ballte die Fäuste, preßte die Kiefer so fest aufeinander, daß seine Zähne zu schmerzen begannen, und spannte jeden einzelnen Muskel in seinem Körper an, so fest er nur konnte!
Es half.
Langsam, ganz langsam zogen sich die grauen Spinnweben aus seinem Geist zurück. Sein Herz hörte auf, wie ein außer Kontrolle geratenes Hammerwerk zu arbeiten, und die Geräusche, die er hörte, waren jetzt nur noch das Rauschen seines eigenen Blutes und seine eigenen, schnellen Atemzüge. Länger als zehn Minuten saß er so da, angespannt bis zum Zerreißen, aber wieder in der Wirklichkeit zurück, und je mehr sich sein aufgewühltes Inneres beruhigte, desto lauter wurde auch die dünne, gehässige Stimme in seinen Gedanken, die ihm zuflüsterte, daß er sich – nicht unbedingt zum ersten Mal – wie ein kompletter Idiot benommen hatte. Bei Ch’tuon, dies hier war die Schattenburg! Das Herz der Macht der Schwarzen Magier, das nun Cathar kontrollierte! Und Cathar war ein Magier, dessen Macht Torian sich nicht einmal im Traume vorzustellen vermochte!
Und er hatte sich wirklich eingebildet, ihn mit seinen bescheidenen eigenen Fähigkeiten auf diesem Gebiet übertölpeln zu können! Natürlich wußte Cathar um sie, und ebenso natürlich hatte er Vorsorge getroffen, daß sie sich als nutzlos erwiesen. Er hatte Torian ja sogar indirekt gewarnt, keinerlei Magie anzuwenden, solange er sein ›Gast‹ war. Wahrscheinlich, dachte Torian düster, hatte er Glück, daß er überhaupt noch lebte.
Aber das war auch nicht die Wahrheit, zumindest nicht die ganze, wurde ihm klar, und er schauderte.
Die Wahrheit war, daß es ihm viel zu leicht gefallen war, Macht über den Willen der Tiere zu erlangen. Und daß er noch niemals zuvor eine solch grausame Freude am Töten verspürt hatte wie heute. Ein winziges Stückchen von ihm war im Geist der fünf Tiere gewesen, die den Schattenkrieger getötet hatten.
Und er hatte es genossen!
Bei Ch’tuon dachte er. Was geschieht mit mir?
Aber er bekam keine Antwort.
Nur tief, sehr sehr tief in sich glaubte er ein dunkles, böses Lachen zu hören, und dann drang ein leises Scharren in seine Gedanken.
Er sah auf, blickte sich suchend um, konnte aber nichts Verdächtiges oder Außergewöhnliches erkennen und wollte sich schon zurückfallen lassen, als er den Laut ein zweites Mal vernahm, ein wenig deutlicher jetzt, so daß er die Richtung auszumachen vermochte, aus der er kam; von der Tür her nämlich. Mißtrauisch setzte er sich ganz auf, schwang die Beine vom Bett – und erstarrte mitten in der Bewegung.
Die Tür schwang lautlos auf, und ein massiger – sehr massiger – Schatten huschte in sein Gefängnis. Einen Moment lang blieb die Gestalt stehen, als überzeuge sie sich davon, nicht bemerkt worden zu sein, dann drückte sie die Tür hinter sich zu und wandte sich zu Torian um. Für einen ganz kurzen Moment lag das Gesicht der Gestalt im silbernen Licht des Mondes, das durch die schmalen Fenster hereinströmte.
Torian unterdrückte im allerletzten Moment einen Schrei.
Es war Garth!
»Garth!« keuchte er. »Du? Du bist frei! Aber wieso –?«
Beinahe kam er sich bei diesen Worten selbst albern vor – und nicht unbedingt zu Unrecht –, aber es war einfach das einzige, was er im Moment hervorbringen konnte. Er war wie gelähmt vor Freude und Erleichterung. Es war ein Gefühl, das sich nicht in Worte kleiden ließ.
Garth legte warnend den Zeigefinger über die Lippen und machte mit der anderen Hand eine erschrockene Geste. »Nicht so laut«, flüsterte er. »Wenn Cathar merkt, daß ich hier bin, ist alles verloren!«
Torian verstummte gehorsam – was allerdings mehr an seiner Überraschung lag als etwa daran, daß er in diesem Moment etwa begriffen hätte, was Garth sagte. Und dem Dieb schien es kein bißchen anders zu ergehen.
Er blickte noch einmal zur Tür zurück, dann trat er vollends auf Torian zu, blickte ihn einen Moment lang auf seine unnachahmlich spöttische Art an, aber dann lachte er und streckte die Arme aus, und für endlose Augenblicke taten sie nichts anderes, als sich gegenseitig zu umarmen und auf die Schultern zu klopfen, zwei alte Freunde, die sich nach einer Ewigkeit – wie es Torian vorkam – wiedergefunden hatten.
Aber wie meist war Garth derjenige von ihnen, der zuerst auf den Boden der Realität zurückfand. Sanft, aber sehr entschlossen löste er sich aus der Umarmung, schob Torian ein Stück weit von sich und deutete auf die Tür. »Wir haben nicht viel Zeit«, murmelte er.
»Und was sollen wir tun?« fragte Torian. »Cathar wird uns kaum freiwillig gehen lassen. Und ein offener Kampf gegen seine Krieger wäre Selbstmord. Wir sind hier im Zentrum seiner Macht, aber das weißt du wohl selbst besser als ich. Er kann uns mit einer Handbewegung vernichten.«
»Und er würde es tun, wenn er wüßte, daß ich hier bin«, fügte Garth hinzu. »Aber ich habe einen Plan. Morgen früh, wenn – «
Er brach erschrocken ab und blickte zur Tür, und auch Torian sah auf, denn in diesem Moment wurden draußen auf dem Gang harte, polternde Schritte laut, und eine Stimme begann in einer ihm fremden Sprache Befehle zu erteilen.
»Cathar!« keuchte Garth. »Er… er kommt hierher!«
Wie um seine Worte zu bestätigen, brachen die Schritte mit einem Male ab, und dann ertönte ein dumpfes Poltern und Knirschen, als der mächtige Riegel auf der anderen Seite der Tür zurückgeschoben wurde – ohne daß Torian sich vorstellen konnte, wie er nach dem Eintreten des Diebes überhaupt wieder in seine Halterung geglitten war.
»Halte ihn auf!« flüsterte Garth entsetzt. »Wenn er mich hier findet, tötet er uns beide. Schnell!« Und damit versetzte er Torian einen Stoß, der ihn in die Höhe und auf die Tür zutaumeln ließ, noch ehe er überhaupt begriff, wie ihm geschah.
Die Tür wurde aufgestoßen, noch ehe er sie erreichte. Zwei von Cathars schwarzgekleideten Schattenkriegern stürmten in den Raum, beide mit gezückten Klingen. Der eine versetzte ihm einen Stoß, der ihn zur Seite und gegen die Wand prallen ließ, während der andere mit zwei, drei raschen Schritten das Zimmer durchquerte und mit gespreizten Beinen hinter Torian Aufstellung nahm.
Dann trat Cathar selbst ein.
Anders als am Tage zuvor trug er ein einfaches, schwarzes Gewand aus Seide, dessen einziger Schmuck eine barbarische Gürtelschließe aus Silber war. Er sah müde aus. Unter seinen Augen lagen dunkle, tief eingegrabene Ringe, und seine Haut hatte einen ungesunden grauen Schimmer. Er wirkte wie ein Mann, der unvermittelt aus dem Schlaf gerissen worden war.
Und entsprechend war auch seine Laune.
Ohne Torian mehr als eines einzigen, allerdings alles andere als freundlichen Blickes zu würdigen, ging er an ihm vorbei, hielt in der Mitte des Zimmers inne und drehte sich einmal im Kreis. Torians Herz machte einen schmerzhaften Hüpfer bis direkt in seinen Hals hinauf, als er sah, wie der Blick des Magiers auf dem Bett haften blieb. Von Garth war keine Spur zu entdecken, aber die Auswahl an Verstecken war nicht sonderlich groß – er mußte sich entweder unter dem Bett verkrochen haben, oder hinter dem Vorhang stehen, der einen Teil der Wand verdeckte.
Cathar wandte sich wieder an Torian. Sein Blick war hart wie Stahl und das Lächeln in seinen Augen eine reine Farce. »Verzeih mir die Störung«, sagte er kalt. »Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.«
»Nicht direkt«, antwortete Torian nervös. Sein Herz raste wie ein Hammerwerk. Cathar mußte schon blind und taub sein, um nicht zu merken, daß hier etwas nicht stimmte! »Was ist geschehen?«
»Mir scheint, das Bett ist nicht ganz bequem«, gab der Magier vor. Er drehte sich um, trat ganz dicht an das Bett heran, streckte die Hand danach aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern sah Torian über die Schulter hinweg an und lächelte dünn. »Du gestattest, daß ich kurz prüfe, ob auch wirklich alles damit in Ordnung ist?« fragte er.
Mit einem einzigen Ruck hob er das Bettgestell an, stemmte es in die Höhe und kippte es um. Der Boden darunter war leer.
Während sich der Raum ganz allmählich um Torian herum zu drehen begann, blickte Cathar einen Moment lang mit zornig zusammengepreßten Lippen auf den kahlen Steinboden hinab, fuhr plötzlich herum und starrte den Vorhang an, das einzige Versteck im Zimmer, das groß genug war, mehr als einen kleinen Hund zu verbergen. Wieder sah er Torian an, und wieder erschien dieses kleine, böse Lächeln auf seinen Lippen. Dann ging er auf den Vorhang zu und hob die Hand.
»Cathar!«
Der Magier blieb stehen. Torian sah, wie sich seine linke Hand fast unmerklich bewegte. Hinter ihm waren plötzlich ganz leise Schritte.
»Ja?« fragte er lauernd. »Wolltest du mir etwas sagen, oder habe ich mich getäuscht?«
Torians Kehle war wie zugeschnürt. Nervös fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Er war sich durchaus der Tatsache bewußt, daß er sich so auffällig benahm, wie es überhaupt nur möglich war. Aber wenn Cathar diesen Vorhang herunterriß, dann würde er Garth entdecken!
»Was willst du hier?« fragte er. »Warum kommst du mitten in der Nacht hierher und weckst mich auf?«
»Reine Gastfreundschaft, Torian, reine Gastfreundschaft«, erwiderte Cathar lächelnd. »Ich möchte mich nur persönlich davon überzeugen, daß du auch gut untergebracht bist. Sieh mal, dieser Vorhang hier zum Beispiel – wie leicht könnte sich irgendwelches Ungeziefer dahinter verbergen? Eine Spinne oder eine Ratte – oder gar ein Einbrecher?« Und damit zerrte er den Vorhang samt einem Teil der Messingstange, die ihn hielt, herunter.
Aber dahinter war nur die Wand. Garth war fort.
Cathar wechselte kein Wort mehr mit ihm, bis sie den Thronsaal erreicht hatten, aber das Benehmen des Magiers und seiner beiden Begleiter ließen keinen Zweifel an der Tatsache, daß Torian nun wirklich sein Gefangener war. Torian hatte ein paarmal versucht, die Ursache für diesen plötzlichen Sinneswandel herauszufinden, aber keine Antwort erhalten.
Nicht daß er sich den Grund nicht denken konnte. Cathar mußte Garths Verschwinden bemerkt haben. Und es gehörte sicherlich nicht allzu viel Phantasie dazu, sich auszurechnen, wo er den Dieb zu suchen hatte. Der Magier mußte reichlich frustriert sein, ihn nicht im Zimmer gefunden zu haben. Warum das allerdings so war, konnte sich Torian in diesem Moment wohl am allerwenigsten erklären. Garths so spurloses Verschwinden war ihm schlichtweg rätselhaft. Und er war auch nicht sehr sicher, ob er die Erklärung dafür wirklich wissen wollte. Wenn es Garth gelang, binnen einer einzigen Sekunde aus einem vollkommen verschlossenen Zimmer zu verschwinden, dann mußten sich während der Zeit, die er in der Schattenburg verbracht hatte, eine Menge Dinge verändert haben. Dinge, vor denen selbst Torian sich fürchtete.
Sie erreichten einen weiteren langen Gang, wo sich ihnen ein halbes Dutzend grau vermummter Krieger anschloß, aber sie blieben nicht dort, sondern gingen gemeinsam mit Torian weiter, bis sie die Halle erreichten, in der Garth am Nachmittag noch gelegen und Cathar sein verrücktes Angebot gemacht hatte.
Sie war nicht leer. Mehrere Dutzend Fackeln verbreiteten rotes Licht, und am Fuße der schwarzen Empore, auf welcher der gläserne Sarg stand, hielten sich gute zwei Dutzend weiterer Schattenkrieger auf.
Zusammen mit Shyleen. Auf dem Gesicht des Mädchens erschien ein erschrockener Ausdruck, als es Torian erblickte, wie er zwischen Cathars Männern einherstolperte, halbnackt und mehr von den grauvermummten Kriegern gestoßen als aus eigenem Antrieb gehend.
Cathar machte eine befehlende Geste, und einer seiner Männer antwortete mit einem groben Stoß zwischen Torians Schulterblätter darauf, der ihn haltlos nach vorne stolpern und direkt vor Shyleens Füße auf Hände und Knie fallen ließ. Mühsam rappelte er sich auf, warf dem Schattenkrieger einen zornigen Blick zu und wandte sich an Shyleen.
»Was ist geschehen?« fragte sie.
»Dasselbe wollte ich dich gerade fragen«, gab er zurück. »Wieso bist du hier?«
»Vielleicht kann ich diese Frage beantworten?« mischte sich Cathar ein.
Torian drehte sich herum, blickte ihn an und zauberte den ärgerlichsten Ausdruck auf seine Züge, zu dem er im Augenblick noch fähig war. »Das wäre außerordentlich zuvorkommend«, entgegnete er böse. »Oder ist das deine normale Art, Gäste zu behandeln?«
Cathar verzog abfällig die Lippen. »Mitnichten, mein lieber Torian. Aber normalerweise habe ich auch keine Gäste, die mich hintergehen.« Er brach ab, starrte erst Shyleen, dann Torian an und machte eine zornige Handbewegung, als dieser abermals zu einer Antwort ansetzte.
»Spar dir die Mühe, deine Unwissenheit zu beteuern«, fuhr er ihn wütend an. »Ich habe euch ein Angebot gemacht, euch beiden, und ich habe es ehrlich gemeint. Aber irgendwer von euch hat mich betrogen.«
»Verdammt noch mal – was soll das?« fauchte Torian. Er begriff überhaupt nichts mehr. Und genau das gab er dem Magier auch zu verstehen.
Cathar seufzte. »Bitte. Wenn du beliebst, Spielchen zu spielen…« Er deutete auf den gläsernen Sarg vor sich. »Irgend jemand hat im Laufe der Nacht diesen Raum betreten und meinen Gefangenen befreit«, hielt er ihm vor.
»Garth?« murmelte Torian mit gespielter Verblüffung. »Er ist…«
»Er ist wach«, bestätigte Cathar und nickte voller Zorn. Er starrte Torian an und hob die Hand, schlug ihn jedoch nicht, sondern ergriff seine Schulter. Seine dürren Finger krallten sich so fest in den Stoff seines Gewandes, daß Torian vor Schmerz zusammenzuckte. Cathar zerrte ihn die Stufen hoch und drehte ihn herum, so daß er das niedrige Podest anschauen mußte. Der Glassarg war zerborsten. Das obere Drittel des Deckels war schlichtweg verschwunden, als wäre es unter einem ungeheuren Hieb regelrecht pulverisiert worden. Breite, wild gezackte Risse zogen sich durch den Rest des kristallenen Gebildes, und auf dem blauen Samt, mit dem es ausgeschlagen gewesen war, waren häßliche braunrote Flecke. »Ich glaube, ich täusche mich nicht, wenn ich dich für den Verantwortlichen dafür halte«, fauchte der Magier.
»Du bist verrückt, Cathar«, verwahrte sich Torian. »Wie hätte ich das wohl bewerkstelligen sollen? Ich war eingeschlossen! Und bewacht von deinen Prügelknaben!«
Cathar seufzte. »Spiel doch nicht den Narren, Torian«, entgegnete er. »Aber bitte – wenn es dir Freude macht… Spielen wir ein Spielchen, das du sicher auch kennst.« Er lächelte, aber es wirkte nicht besonders humorvoll. »Ich will wissen, wo Garth ist. Stellt sich der Schuldige freiwillig, wird er bestraft, und dem anderen geschieht nichts. Schweigt er, töte ich euch alle beide. Alle drei, besser gesagt«, fügte er mit einem süffisanten Grinsen in Torians Richtung hinzu. »Wir wollen deinen geschätzten Freund schließlich nicht vergessen. Irgendwann finde ich ihn schon.«
»Das wagst du nicht!« keuchte Torian.
»Nein?« fragte Cathar harmlos. »Und was sollte mich daran hindern? Oder wer, besser gesagt? Ich glaube nicht, daß – «
Er kam nicht weiter. Draußen auf dem Gang erscholl ein lautstarkes Gebrüll, Metall klirrte, und plötzlich wurde die Tür so heftig aufgestoßen, daß Cathar mitten im Wort abbrach und herumfuhr.
Ein Schattenkrieger stolperte herein, fiel zwei Schritte vor ihm auf die Knie und senkte den Kopf. Sein Atem ging so schnell, als wäre er eine Meile aus Leibeskräften gerannt.
»Was fällt dir ein, Kerl?« fauchte Cathar. »Wer hat dir erlaubt, hier einzudringen?«
»Feinde, Herr!« keuchte der Schattenkrieger. Er sah auf. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und in seinen Augen flackerte die pure Angst. »Es sind Feinde in der Burg!«
Cathar erstarrte. Eine Sekunde lang starrte er den Krieger ungläubig an, dann schrie er auf, packte ihn an der Schulter und riß ihn grob in die Höhe. »Was sagst du da?« brüllte er.
»Aber es ist wahr, Herr!« wimmerte der Krieger. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«
»Was hast du gesehen?!« schrie Cathar.
»Tote, Herr! Zwei meiner Brüder. Sie sind erschlagen worden.«
»Garth!« knirschte der Magier. »Es kann nur Garth gewesen sein. Aber er wird dafür büßen. Ihr alle drei werdet bezahlen!« Er machte eine herrische Geste. »Bringt sie in ihre Zellen zurück. Aber diesmal werdet ihr sie nicht nur einsperren, sondern bei ihnen bleiben und sie bewachen.«
Torian wurde von harten Händen gepackt, aber wenigstens verzichteten seine vier Bewacher diesmal darauf, ihn mit Gewalt zwischen sich herzuschleifen. Sie erreichten die Treppe, gingen durch einen schier endlosen Gang und stiegen eine weitere, sehr steile Steintreppe hinauf, an deren oberen Ende eine Tür geöffnet wurde, als sie auf halber Höhe waren. Für einen Moment sah er helles Kerzenlicht hinter der Öffnung, vor der sich der Umriß eines Schattenkriegers wie ein drohender Schemen abzeichnete; dann schloß sich die Tür wieder, der Mann kam mit raschen Schritten auf sie zu und hob die Hand zum Gruß, als er zwei Stufen über ihnen war. Einer von Torians Begleitern erwiderte die Geste.
Vielleicht hätte er es besser nicht getan, denn der Schattenkrieger packte seinen grüßend erhobenen Arm, verdrehte ihn mit einem ungeheuer schnellen, harten Ruck und versetzte seinem Besitzer einen Stoß, der ihn zuerst gegen die Wand schleuderte und ihn dann kopfüber die Treppe hinunterstürzen ließ. Noch bevor er ihn richtig losgelassen hatte, fuhr er herum, trat einem anderen wuchtig in den Leib und riß das Knie hoch, als der Mann sich krümmte. Der Krieger keuchte, prallte rücklings gegen die Wand, verharrte jedoch nur einen Sekundenbruchteil in dieser Stellung, ehe er vollends hinter dem ersten herflog und dabei noch einen weiteren Krieger mit sich riß, während sich der vierte mit einem zornigen Knurren auf den so plötzlich aufgetauchten Angreifer stürzte.
Das hieß – eigentlich stürzte er wohl mehr über Torians plötzlich ausgestreckten Fuß.
Auch er fiel, fand zwar mit erstaunlicher Behendigkeit auf den steil abfallenden Stufen Halt, aber der Angreifer gab ihm keine zweite Chance. Blitzschnell war er neben ihm, riß seinen Kopf in den Nacken und versetzte ihm einen Handkantenschlag gegen die Kehle. Ohne einen weiteren Laut stürzte der Mann nach hinten, kollerte ein Stück weit die Treppe hinab und blieb mit ausgebreiteten Armen liegen. In seinem grauen Gewand sah er aus wie eine vom Himmel gefallene Fledermaus.
Langsam wandte Torian sich um. Er wußte, wen er vor sich hatte. Es gab nur einen Mann in dieser Festung, der sich die Kleidung eines Schattenkriegers hatte besorgen können und auf seiner Seite stand. Und trotzdem gelang es Torian nur mit Mühe, einen erfreuten Ausruf zu unterdrücken, als der Schwarzgekleidete die Hand hob und das Tuch fortnahm, unter dem sich sein Gesicht verbarg.
»Wir müssen hier weg«, stieß Garth hervor und deutete auf die Toten. »Jeden Moment kann Verstärkung eintreffen. Wenn Cathar uns erwischt, wirst du dir wünschen, niemals geboren zu sein.«
Er drehte sich um, um die Treppe wieder hinaufzusteigen, und zog Torian dabei am Arm mit sich, aber Torian blieb stehen und deutete in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. »Shyleen«, sagte er. »Wir müssen zurück und sie befreien. Cathar wird sich an ihr rächen, wenn er meine Flucht bemerkt.«
Garth hielt tatsächlich inne, aber in seinem Blick war plötzlich etwas, das Torian gar nicht gefiel. »Cathar hat im Moment anderes zu tun«, erklärte er ausweichend. »Und Shyleen ist ohnehin… nicht mehr dort unten.«
Das unmerkliche Zögern in seinen Worten entging Torian keineswegs. Er hatte plötzlich das sichere Gefühl, daß Garth in Wahrheit etwas ganz anderes hatte sagen wollen. »Was soll das heißen?« fragte er scharf.
Garth sog hörbar die Luft ein. »Das soll heißen, daß sie nicht mehr dort unten ist«, antwortete er unwillig. »Wir können uns später um sie kümmern, im Augenblick können wir ihr nicht helfen. Und nun komm, verdammt noch mal. Ich kenne ein paar Verstecke, in denen wir sicher sind. Aber nur, wenn wir sie auch lebend erreichen.«
Diesmal widersprach Torian nicht mehr, sondern schloß sich dem Dieb hastig an. Schweigend eilten sie nebeneinander durch einen schier endlosen, nur schwach erhellten Gang; einen von zahllosen gleichförmigen Gängen, welche die Schattenburg durchzogen. Sie bildete in ihrem Innern ein Labyrinth aus buchstäblich Hunderten von Räumen und Sälen, unzähligen Korridoren und Treppenfluchten. Und dieses Labyrinth setzte sich tief in den Berg hinein fort. Torian begriff kaum, wie endlos tief sich die enggewundene steinerne Treppe in die Erde bohrte, die Garth ihn hinabführte. Eine Stufe folgte der anderen, ein Absatz dem nächsten, bis sie sich endlich in einem winzigen, halbrunden Raum mit kuppelförmiger Decke befanden.
Verwirrt sah sich Torian um. Diese finsteren Gewölbe, die von Schatten und drückender Schwüle und dem Geruch nach faulendem Wasser erfüllt waren und deren von Schimmel überzogene Wände das Licht der Fackel in sich aufzusaugen schienen, erfüllten ihn mit Furcht. Falls Garth die unheimliche Atmosphäre ebenfalls wahrnahm, dann ließ er sich zumindest nichts anmerken. Ungerührt öffnete er die einzige Tür der Kammer und schritt hindurch.
Sie mußten eine halbe Meile und mehr durch einen niedrigen Stollen gelaufen sein, bis Garth abermals stehenblieb und auf eine Tür deutete, die ihnen den weiteren Weg versperrte. Torian fiel auf, wie überaus massiv sie war: Aus oberschenkelstarken Bohlen gefertigt und mit gewaltigen Nägeln zusammengehalten, erschien sie ihm stabil genug, selbst einem wütenden Drachen zu widerstehen. Aber sie war nicht verschlossen, und sie war nur eine von vielen, ebenso starken Türen, welche die Wände des nach Moder und Fäulnis riechenden Ganges durchbrachen.
»Das reicht«, flüsterte Garth nach einer Weile. »Wenn wir hier nicht sicher sind, dann nirgends.« Er drehte sich herum, sah Torian einen Moment lang an – wieder mit seinem unvergleichlichen, spöttisch-freundschaftlichen Lächeln –, wurde aber sofort wieder ernst und deutete auf den niedrigen Eingang, durch den sie die Höhle betreten hatten. Es war eine Höhle, keine Halle, so wie der Gang, durch den sie die letzte Viertelstunde ihrer Flucht geführt hatte, eher einem Bergwerksstollen glich als einem gemauerten Korridor. Wäre nicht ab und zu eine Tür oder eine roh aus dem Boden geschlagene Treppe dagewesen, hätte Torian kaum mehr geglaubt, sich noch im Inneren eines künstlich geschaffenen Bauwerkes zu befinden. Aber auch so war er sich nicht sicher, ob sie wirklich noch im Inneren der Schattenburg waren. Der Weg, den sie während der letzten halben Stunde genommen hatten, hatte fast ununterbrochen nach unten geführt. Sie mußten sich tief – sehr tief – unter den Grundmauern der bizarren Burg aufhalten.
»Was ist das hier?« fragte er. Seine Stimme zitterte vor Anstrengung, und er hatte nur noch die Kraft, zu flüstern. Er war noch immer nicht unbedingt im Vollbesitz seiner Kräfte, trotzdem registrierte er, daß das Geräusch seiner Stimme nicht verklang, sondern als leises, lang nachhallendes Echo zurückgeworfen wurde. Jenseits der Mauer aus finsteren Schatten, die wenige Schritte hinter Garth lag, mußte der Raum noch sehr viel größer sein, als er ohnehin bisher angenommen hatte.
»Ein Teil der Anlage, von deren Existenz selbst Cathar nichts weiß«, antwortete Garth und fügte hinzu: »Wenigstens hoffe ich es.«
Die Art, in der er das Wort Anlage aussprach, ließ irgendwo tief in Torians Innerem eine Alarmglocke anschlagen, aber er war viel zu erschöpft, um den Gedanken weiterzuverfolgen. »Und wenn nicht?« fragte er.
»Dann ändert es auch nichts«, erwiderte Garth ernst. »Er würde niemals hierher kommen.«
»Warum nicht?«
Garth seufzte; auf jene ganz bestimmte Art, auf die man jemandem sagt, daß er einem gehörig auf die Nerven zu gehen beginnt. Aber er antwortete trotzdem, und wieder tat er es mit jenem sonderbaren Ernst, der Torian schaudern ließ, ohne daß er wußte, warum. »Weil er Angst davor hätte, deshalb.« Er hob rasch die Hand, um weitere Fragen abzuwürgen, bewegte sich ein paar Schritte zurück und blieb wieder stehen. Erst jetzt fiel Torian auf, wie abgehackt und fahrig seine Bewegungen waren: müde. Ja, das war es – Garth bewegte sich wie ein Mann, der am Ende seiner Kräfte angelangt war, und es handelte sich weder um eine normale Müdigkeit noch um Erschöpfung.
»Was ist passiert, Garth?« fragte er leise. »Ich meine – bevor du mich befreit hast. Wer hat dich geweckt?«
»Geweckt?« Garth lächelte, aber es war ein sehr bitteres Lächeln. »Niemand, Torian. Ich war die ganze Zeit wach.« Er stockte. Sein Adamsapfel bewegte sich ruckartig auf und ab, Torian spürte, daß er mit aller Macht um seine Beherrschung kämpfte, als er weitersprach. »Cathar hat sich einen kleinen Scherz ausgedacht, ganz persönlich für mich. Ich war…« Er machte eine schwer zu deutende Handbewegung »…gelähmt, könnte man es wohl nennen. Mein Körper war gelähmt. Aber ich war wach. Die ganze Zeit über.«
Seine Worte jagten Torian einen eisigen Schauer über den Rücken. »Wie lange… war das?« fragte er.
Garth zuckte mit den Achseln. »Tage… Wochen… ich weiß es nicht. Sehr lange. Seit wir uns in Armar getrennt haben. Es war… nicht besonders schön. Aber ich habe dich nicht hier herunter gebracht, um dir mein Leid zu klagen, Torian. Wir haben Wichtigeres zu tun.« Er kam auf ihn zu, ergriff ihn am Arm und schob ihn mit sanfter Gewalt zur Wand zurück, wo sie sich beide im Schneidersitz niederließen. Erneut fiel Torian auf, daß der Dieb ganz kurz in die Höhle zurücksah. Er war nervös.
Irgendwo hinter der schwarzen Wand aus Schatten schien etwas zu sein, was ihm Angst machte.
»Ich habe jedes Wort gehört, Torian«, begann er. »Als du mit Cathar gesprochen hast. Du hast einen Moment ernsthaft überlegt, sein Angebot anzunehmen, nicht? Obwohl du weißt, daß er dich betrogen hätte.« Es war keine Frage, sondern nur eine Feststellung. Und sie war auch frei von allem Vorwurf.
Torian nickte, und plötzlich hob Garth die Hand und berührte ganz leicht seine linke Schulter. »Es ist dieses Ding, nicht wahr? Deshalb bist du hergekommen. Etwas von der Blutspinne steckt immer noch in dir.«
Jeden anderen Mann, der ihm diese Frage gestellt hätte, würde Torian in diesem Moment belogen haben; allenfalls hätte er gar nicht geantwortet. Bei Garth konnte er es nicht, genau wie Garth eigentlich nichts von dem Parasiten wissen konnte. Etwas war während der Zeit der Gefangenschaft mit dem Dieb vorgegangen, das ihn verändert hatte, so daß er Torian mittlerweile wieder fast ebenso fremd vorkam wie draußen, als Cathar sein Aussehen angenommen hatte. Lange, endlos lange Sekunden starrte er Garth an, dann senkte er den Blick, atmete tief und hörbar aus – und nickte. »Ja«, gab er zu, so leise, daß der Dieb das Wort kaum hörte, obwohl er unmittelbar neben ihm saß. »Es… es frißt mich von innen her auf. Manchmal weiß ich kaum noch, was ich tue, und vor allem, was ich denke.«
»Aber es ist auch dein Schutzengel. Es hat dich sicher hierhergeleitet. Cathar weiß davon, und es flößt ihm mehr Angst ein, als er zugeben will«, fuhr Garth fort und wechselte dann übergangslos das Thema: »Wer, denkst du, hat mich befreit?«
Torian starrte ihn einen Moment lang verständnislos an, dann winkte Garth ab. »Das ist im Augenblick nicht wichtig. Aber es gibt etwas, was wir tun müssen.«
»Ja«, erwiderte Torian. »Hinaufgehen und diesem Ungeheuer endlich den Hals durchschneiden.«
Garth lächelte, aber nur für eine Sekunde, dann wurde er sofort wieder ernst. »Das würde nicht viel nutzen«, bemerkte er.
Diesmal war Torian wirklich sprachlos.
Garth nickte, um seine eigenen Worte zu bestätigen. »Es ist nicht Cathar, gegen den wir kämpfen.«
»Nicht… Cathar?«
»Natürlich ist es Cathar«, stellte Garth klar. »Aber er ist nur eine Marionette, an deren Fäden ein anderer zieht. Ihn zu töten, ja selbst diese ganze Burg zu vernichten – wenn wir es könnten –, würde nicht viel ändern. Glaubst du wirklich, er wäre noch am Leben, wenn alles damit erledigt wäre?« Garth lachte. Es klang böse. »Er ist von diesen seltsamen Kriegern umgeben, und diese Burg ist gespickt mit Fallen, aber wenn ich wirklich gewollt hätte, wäre ich an ihn herangekommen. Vermutlich hätte es mein eigenes Leben gekostet, aber ich hätte ihn erwischt, und du kannst mir glauben, ich hätte es getan. Aber es würde nichts nützen. Wir hätten allenfalls eine Atempause gewonnen, nach der alles nur noch viel schlimmer geworden wäre. Er ist nur eine Marionette. Er weiß es vielleicht nicht einmal selbst, aber an den Fäden, an denen er hängt, zieht längst ein sehr viel Mächtigerer.«
»Und wer?« fragte Torian.
»Diese Burg selbst ist es. Sie benutzt ihn mindestens ebenso sehr wie er sie. Aber das kannst du nicht verstehen, denn du kennst sie nicht.«
»Kennst du sie denn?«
Garth zögerte einen ganz kurzen Moment, dann nickte er. »Jedenfalls besser als du«, behauptete er. »Vergiß nicht, daß ich länger als eine Woche hier gefangen war.« Seine Stimme zitterte bei diesen Worten. Torian fragte sich, was der Dieb erlitten haben mochte in dieser Woche. Was mußte er ausgestanden haben, eingekerkert in seinen eigenen Körper, nichts als ein Geist, abgeschnitten von allen äußeren Eindrücken? Torian versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte: blind, taub, gelähmt, unfähig, irgend etwas zu empfinden oder zu fühlen, eine Ewigkeit lang, zu der sich in dieser Situation jeder Tag dehnen mußte. Der Gedanke war so entsetzlich, daß sich etwas in ihm dagegen sträubte, ihn auch nur zu denken.
Aber er fragte Garth nicht danach, und nach einer Weile redete der Dieb von sich aus weiter.
»Cathar hat mich in diesen magischen Schlaf versetzt«, begann er. »Aber ich habe nicht geschlafen. Etwas hat… ich weiß nicht was, und ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber irgend etwas hat wohl versucht, so etwas wie einen geistigen Kontakt mit mir herzustellen. Vielleicht, um mehr über mich oder dich zu erfahren. Ich glaube, es war die Schattenburg selbst. Aber dabei habe ich auch eine Menge über sie in Erfahrung gebracht. Ich weiß nun, was sie wirklich ist.«
»Was sie wirklich ist?« wiederholte Torian verwirrt. »Was willst du damit sagen?«
»Sie lebt, Torian, und ist alt, uralt.«
»Ich weiß«, antwortete er und begriff noch immer nicht wirklich, worauf Garth hinauswollte. Vielleicht wollte er es auch nicht begreifen. »Sie muß Jahrzehntausende alt sein.«
»Jahrzehntausende?« Garth lachte, aber es klang nicht sehr amüsiert. »Jahrmillionen käme der Sache wohl näher. Und sie lebt. Sie ist älter als jedes andere Lebewesen in Caracon, vielleicht sogar älter als diese Welt selbst.«
Eine Sekunde lang starrte Torian ihn an, unfähig zu begreifen, was der Dieb gerade gesagt hatte. Er rückte ein Stück von ihm weg und sah ihn fassungslos an. »Willst du damit andeuten, daß sie… nicht erbaut wurde?« keuchte er. »Nicht erbaut, sondern geboren?«
»Auch das stimmt nicht ganz, aber es kommt der Wahrheit nahe.«
»Aber wenn… wenn das stimmt«, stammelte Torian, »dann ist alles sinnlos!«
»Nein«, widersprach Garth. »Auch sie kann besiegt werden. Ich weiß nicht, wie, und ich weiß nicht, womit und wann, aber nichts, was irgendwie lebt oder auch nur existiert, kann nicht auch irgendwie zerstört werden. Ein Zeichen dafür sind die Schattenkrieger. Sie leben nicht wirklich, zumindest nicht in unserem Sinne, und doch können sie sterben. Sie sind ein Teil dieser Burg, und wenn Cathar es wollte, könnte er Millionen von ihnen herbeirufen, solange er der Herr der Schattenburg ist. Aber all seine Macht ist nur geliehen. Du wirst es begreifen, schon bald.«
Er stand auf und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Mauer aus dräuenden Schatten vor ihnen.
»Komm mit«, forderte er ihn auf. »Ich werde dir zeigen, was diese Festung ist. Dann wirst du mich besser verstehen.«
Der Weg war nicht sehr weit. Und die Wand aus Schwärze – von der Torian nun sehr sicher war, daß es sich nicht nur um Dunkelheit handelte – wich im gleichen Maße vor ihnen zurück, in der sie sich ihr näherten. Aber schon nach kurzer Zeit tauchte etwas anderes, viel Finstereres vor ihnen auf, etwas, das nicht vor ihnen zurückwich, sondern im Gegenteil immer größer und größer wurde, bis es sich schließlich als eine Art See entpuppte, der den allergrößten Teil der Höhle einzunehmen schien, denn seine Ufer verloren sich rechts und links in wogender Finsternis.
Zwei Schritte vor seinem Ufer blieben sie stehen. Der See enthielt kein Wasser, sondern eine schwarze, irgendwie zäh aussehende Substanz, die Torian ein wenig an flüssigen Teer erinnerte und von der ein entsetzlicher Gestank emporstieg.
Er wollte sich weiter nähern, aber Garth hielt ihn mit einer raschen, warnenden Handbewegung zurück und schüttelte zusätzlich den Kopf.
»Was ist das?« fragte Torian verwirrt.
»Unser Feind, wie wir bislang gedacht haben, Torian«, antwortete Garth leise. »Dies ist Ch’tuon!«
Er mußte wohl länger als fünf Minuten wie versteinert dagestanden haben, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können – wenn er in diesen Minuten überhaupt irgend etwas dachte –, denn das nächste, woran Torian sich erinnerte, war Garths Hand, die ziemlich unsanft an seiner Schulter rüttelte, und die Stimme des Diebes, die immer wieder seinen Namen rief. So mühsam, als müßte er gegen unsichtbare Stricke ankämpfen, wandte er sich von der entsetzlichen schwarzen Masse zu seinen Füßen ab, setzte dazu an, etwas zu sagen, brachte aber nur einen unverständlichen würgenden Ton hervor und schüttelte ein paarmal den Kopf.
»Alles in Ordnung?« fragte Garth besorgt.
Torian nickte – was eine glatte Lüge war –, atmete tief ein und spürte plötzlich Übelkeit in sich aufsteigen. Ch’tuon. Oberste finstere Gottheit der Schwarzen Magier! Das war alles, woran er denken konnte. Immer und immer wieder.
»Aber es ist unmöglich«, flüsterte er schließlich. »Ch’tuon ist…«
»Was?« unterbrach Garth ihn. »Ein überirdisches Wesen, das in irgendwelchen Sphären jenseits unserer Welt haust?« Er schüttelte den Kopf, lachte leise und humorlos und deutete auf den schwarzen See. »Wenn dieses Wesen wirklich ein Gott ist, dann wird es wohl Zeit, unsere Vorstellung von Göttern gründlich zu überdenken. Ich habe während meiner Gefangenschaft Kontakt mit ihm gehabt. Er hat mich aus Cathars Bann befreit.«
»Er? Dann ist er also doch erwacht«, murmelte Torian matt. Er fühlte – nichts. Nur Leere. Alles erschien ihm plötzlich so sinnlos. Alles, was er getan, all die Gefahren und Entbehrungen, die er überstanden hatte, all die entsetzlichen Dinge, die er mitangesehen hatte und die Unschuldigen widerfahren waren, stellten sich nun als vollkommen sinnlos heraus. Das Ungeheuer lebte. Es existierte. Und wenn es das nicht bereits gewesen wäre, dann hätte es sich wahrscheinlich über ihre albernen Anstrengungen schwarz gelacht.
»Nein, er ist nicht erwacht«, widersprach Garth. »Und ich bin nicht sein Diener oder sein Werkzeug geworden. Warum sollte ein Gefangener dem anderen nicht helfen? Dieses Wesen da ist alt, vielleicht älter als diese Welt. Ich weiß nicht, woher es kam, aber ich weiß, daß sein Kommen eine Art… Unfall darstellte. Ch’tuon ist nicht das, was wir in ihm gesehen haben. Er ist stark; seine Dienerkreatur im Tempel des Toten Gottes war ein Nichts gegen seine Macht. Ch’tuon ist stark genug, ganz Caracon ohne Mühe zu verwüsten, aber es gäbe keinen Grund für ihn, das zu tun. Cathar hat dich nicht belogen, wenn es auch nicht ganz der Wahrheit entsprach, als er behauptete, die Magier würden sterben, wenn sie die Schattenburg nicht bewachten. Aber es ist nicht die Burg. Es ist Ch’tuon. Er schläft, und deshalb konnten sie ihn sich durch falsche Versprechungen unterwerfen. All ihre Macht ist in Wahrheit die seine. Er und wir – wir sind Verbündete.«
»Verbündete?« stieß Torian schrill hervor und blickte wieder auf die schwarzglänzende Masse zu seinen Füßen herab. Es war ein unbeschreiblich widerwärtiger Anblick – ein glatter, mattglänzender Spiegel, der nur auf den ersten Blick leblos zu sein schien. Sah man genauer hin, gewahrte man ein ganz sanftes Pulsieren und Beben, ein Zucken wie von einem riesigen fauligen Organ, das sich dicht unter der Oberfläche dieser Alptraummasse verbarg. »Diese Kreatur verkörpert alles, was wir bekämpft haben. Ch’tuon ist – «
»Böse?« Garth ergriff ihn abermals bei der Schulter und schüttelte ihn. »Torian – hör mir zu!« bat er beschwörend. »Wir haben nicht mehr viel Zeit! Dieses Wesen ist nicht böse. Es ist uns nur fremd. Es gehorcht einer anderen Moral. Begreifst du, was ich dir sagen will?«
Torian nickte, aber es war nur ein bloßer Reflex auf den Klang der Stimme, keine wirkliche Antwort. Trotzdem fragte er: »Können wir es töten oder zerstören?«
Garth trat einen halben Schritt zurück und ließ resignierend die Arme sinken. »Du verstehst gar nichts«, beklagte er dumpf. »Vielleicht könnten wir es wirklich vernichten. Wir könnten es beispielsweise verbrennen. Oder die Ausgänge dieser Höhle verstopfen, so daß es erstickt. Es ist lebende Materie. Es muß atmen. Aber es würde nichts nützen. Und es gäbe auch keinen Grund, dies zu tun.«
Seine Worte versetzten Torian jäh in Zorn, der wahrscheinlich nichts als eine Schutzreaktion seines Geistes war, damit er nicht gänzlich den Verstand verlöre. »Wie bitte?« keuchte er. »Es würde nichts nützen? So wie bei Cathar? Oder – «
»Torian, bitte!« unterbrach ihn Garth scharf. »Ich will es dir ja erklären. Hör mir zu. Hör mir nur eine Minute zu. Es gibt keinen Grund, etwas nur deshalb zu zerstören, weil es fremd ist. Damit würde deine Moral noch unter die der Schwarzen sinken. Und es würde nichts nützen, Ch’tuon zu vernichten.« Wieder huschte ein fast wehleidiges Lächeln über Garths Züge. »Es ist so schwer, zu verstehen«, murmelte er hilflos. »Ich weiß auch nicht viel; nicht mehr, als Ch’tuon mir verraten hat, und das war wenig genug.«
»Und du glaubst ihm so einfach?« preßte Torian hervor.
»Es war kein… Gespräch im eigentlichen Sinne. Es schloß allein die Möglichkeit einer Lüge aus. Das hier – « Garth wies auf den See »- ist nicht mehr als vergängliche Materie. Ein Teil des wirklichen Ch’tuon, das…« Er suchte nach Worten. »… in unsere Welt hineinragt. Würden wir versuchen, es zu vernichten, würde er mit höchster Wahrscheinlichkeit erwachen, uns als Feinde betrachten und töten. Aber selbst wenn wir ihn vernichten könnten, würde er irgendwo neu entstehen.«
»Irgendwo?«
Garth zuckte mit den Achseln. »Hier, in der Burg, in einer anderen Stadt – vielleicht am anderen Ende der Welt. Aber er würde sich an uns rächen, und er würde uns finden. Deshalb wäre es nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich, das hier zu zerstören. Außerdem würde es Cathar verraten, wo wir sind.«
»Warum hast du mich dann hierher gebracht?« fragte Torian zornig. »Während wir hier herumstehen, tötet Cathar vielleicht Shyleen.«
»Das wird er ganz bestimmt nicht tun«, widersprach Garth. »Er braucht sie als Druckmittel gegen uns, aber das wird ihm nichts helfen. Ich habe dich aus einem ganz bestimmten Grund hierher geführt. Ich möchte dir etwas zeigen. Du sollst begreifen, daß nicht Ch’tuon, sondern Cathar unser wahrer Feind ist. Ch’tuon braucht uns als Verbündete, um sein Ziel zu erreichen, und wir brauchen ihn. Deshalb muß ich dir etwas zeigen.«
Etwas in seiner Stimme ließ Torian alarmiert aufschauen. Etwas, das ihm ganz und gar nicht gefiel. »Und was?« fragte er.
»Dies hier«, antwortete Garth. Und damit ergriff er Torians Hand, so schnell, daß dieser keine Gelegenheit mehr fand, sich zu widersetzen.
Es war ähnlich wie die Male zuvor, als Torian durch Cathars Augen geblickt hatte. Die Welt kippte um, aus Weiß wurde Schwarz, aus Schwarz Weiß, alle Farben waren fort, aber statt ihrer vermochte er andere Dinge zu sehen, Dinge, die dem normalen menschlichen Auge auf immer verborgen blieben: die pulsierenden Kraftlinien des komplizierten Gefüges, das alles durchdrang, und die düsteren, spinnwebartigen Linien magischer Ströme, an denen sich die Magier zu orientieren vermochten, weil sie ein Teil ihrer Welt waren.
Aber diesmal war es schlimmer als je zuvor. Die Halle war durchzogen von schwarzen, auf entsetzliche Weise pulsierenden Stränge, einem irrsinnigen Spinnennetz gleich, aus Tausenden und Abertausenden einzelner Stränge geflochten, die in den Wänden zerfaserten, mit ihnen verschmolzen und auf diese Art die ganze Festung von den Grundmauern bis zu ihrem höchsten Turm durchdrangen.
Und sie alle endeten in dem gewaltigen schwarzen See zu ihren Füßen.
»Sieh!« gebot Garth.
Gehorsam hob Torian den Blick und starrte den zuckenden dünnen Energietentakel an, auf den die ausgestreckte Hand des Diebes deutete. Der Anblick war so entsetzlich, daß er aufschrie und sich mit aller Gewalt aus Garths Griff losriß. Er taumelte zurück, fiel und wäre um ein Haar in die schwarze Gallertmasse gestürzt. Garth wollte ihm aufhelfen, aber Torian schlug seine Hand beiseite, heulte abermals wie unter Schmerzen auf und krümmte sich am Boden. Inmitten der wabernden Wand erschien ein Gesicht, eine entsetzliche, sinnverdrehende Fratze mit sich ständig verformenden und ineinanderfließenden Konturen, in dem nur die an die Mho’Dhul erinnernden Augen gleichblieben.
Im gleichen Augenblick vernahm Torian die Stimme. Sie dröhnte mit unglaublicher Macht direkt in seinen Gedanken auf; so laut, daß er im ersten Moment glaubte, sein Kopf würde zerspringen. Die Stimme sprach zu ihm, und obwohl er die Sprache nicht verstand, begriff er doch den Sinn der Worte. Er lernte die Geschichte Ch’tuons kennen, spürte die Hilflosigkeit und den Haß der Kreatur gegenüber ihren Peinigern, und begriff, wie sehr er unbemerkt schon die ganze Zeit über ihr Werkzeug gewesen war, aber er war unfähig, noch Zorn darüber zu empfinden.
Dann hatte er plötzlich das Gefühl, als würde sein Blick von dem magischen Strang aufgesogen. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Es war wie ein Sturmwind, der ihn packte und mit sich riß, in einer rasenden, unglaublich schnellen Fahrt. Die Halle sackte unter ihm weg, dann war er plötzlich wieder in einem anderen Teil der Burg, durchquerte Räume und Hallen und Gänge – und dann stand Cathar unter ihm. Cathar, der hoch aufgerichtet in einer winzigen Turmkammer neben Shyleen stand, die Hand in einer fast väterlichen Geste auf ihrer Schulter. Auf seinem Gesicht lag ein kaltes Lächeln, als wüßte er genau, daß er beobachtet würde, und in der Hand hielt er einen Dolch, der genau auf Shyleens Kehle zielte.
Die ganze Zeit über hämmerte die Stimme in Torians Gedanken; und erst jetzt, da das Bild des Turmzimmers verblaßte und wieder dem der unterirdischen Höhle Platz machte, wurde sie leiser und verstummte schließlich ganz. Auch die magischen Stränge verblaßten, aber etwas von ihnen blieb in seinem Geist zurück, und das letzte, was Torian noch wahrnahm, bevor er die Umgebung wieder allein durch seine eigenen Augen sah, war der fingerdicke Strang, der an einer Stelle dicht unter dem Herzen in seinen Körper eindrang.
Und er wußte, was er zu tun hatte!
»Das ist die Wahrheit, Torian«, murmelte Garth, aber er sprach die Worte wohl nur aus, um überhaupt etwas zu sagen und so das immer unerträglicher werdende Schweigen zu brechen, denn obwohl er der Auslöser gewesen war, hatte er nicht gesehen, was Torian geschaut hatte, und auch von dem auf geistiger Basis ausgetragenen Gespräch war er ausgeschlossen gewesen. Seine Stimme schien von weit, weit her zu kommen, obgleich sein Mund nur Zentimeter neben Torians rechtem Ohr war, denn er hatte sich neben ihm niedergekniet und den Arm um seine Schulter gelegt. Aber Torian hörte sie kaum. Was er gesehen und gehört hatte, durfte einfach nicht sein. Nicht das.
Mühsam schaute Torian auf, atmete die stinkende Luft der Höhle ein und blickte Garth an. Für einen Moment schien sein Gesicht vor ihm zu verschwimmen, dann erst begriff Torian, daß es seine eigenen Tränen waren, die seinen Blick verschleierten. Für ihn war mehr zusammengebrochen als nur eine Illusion, der er in den letzten Monaten nachgehangen hatte. Er hatte das Gefühl, die Welt, in der er bislang gelebt hatte, wäre eingestürzt, und etwas hätte ihn gepackt und in eine neue, andere Realität hineingeworfen, in der zurechtzufinden ihm unmöglich war. Alles, was sein bisheriges Leben bestimmt hatte; seine Hoffnungen, seine Ängste – alles war bedeutungslos geworden. Vielleicht würde er sterben, wenn alles vorbei war, aber auch das erschien ihm mittlerweile unwichtig. Er war dazu bereit.
Mit einer ungelenken, hölzern wirkenden Bewegung richtete er sich auf. Garth verstärkte seinen Griff noch, doch war die Berührung jetzt nicht mehr als Trost gedacht, sondern entsprang jäh aufgekeimtem Mißtrauen. »Was hast du nun vor?« fragte er.
Torian lächelte kalt. »Kannst du dir das nicht denken?« erwiderte er ohne einen Funken Gefühl in der Stimme. »Das, wofür ich schließlich hergekommen bin. Die Schattenburg zerstören und Cathar umbringen. Was denn sonst?«
Garths Augen weiteten sich. »Du… du bist verrückt«, keuchte er. »Cathars Killer werden dich erwischen, bevor du auch nur die eigentliche Burg erreichst.« Er lachte unecht, griff in seinen Gürtel und zog einen gekrümmten zweischneidigen Dolch hervor, den er Torian mit dem Griff voran hinhielt. Verstört blickte Torian die Waffe an.
»Was soll ich damit?« fragte er.
»Dir die Kehle durchschneiden«, antwortete Garth in vollkommen ernstem Tonfall. »Das geht schneller und ist weitaus weniger unangenehm als das, was dich erwartet, wenn Cathar dich noch einmal in die Finger bekommt. Denkst du, er weiß mittlerweile nicht, daß du geflohen bist? Er weiß sogar, daß du hier bist, zumindest vermutet er es.«
»Na und? Geh mir aus dem Weg, Garth!«
Etwas an der Art, in der er die Worte aussprach, schien den Dieb zu warnen, denn er trat einen halben Schritt zurück, schüttelte dann aber stur den Kopf. »Ich lasse nicht zu, daß du in dein Verderben läufst.«
»So? Läßt du das nicht?« Noch bevor Garth begriff, was die Worte zu bedeuten hatten oder er gar eine Abwehrbewegung machen konnte, holte Torian aus und versetzte ihm einen fast beiläufigen Hieb, der den Zwei-Zentner-Hünen zurückschleuderte und dicht am Ufer des schwarzen Sees zu Boden stürzen ließ. Benommen blieb Garth liegen.
Torian widmete ihm nur noch einen flüchtigen Blick, bevor er die Höhle durch die gleiche Tür wieder verließ, durch die sie hereingekommen waren. So schnell er überhaupt konnte, ohne sich in der beinahe absoluten Finsternis hier unten den Schädel irgendwo einzurennen, stürmte er aus der Höhle und den Gang wieder hinab. Er hatte sich den Weg hier hinunter nicht gemerkt – dazu war er viel zu aufgeregt gewesen –, aber er wandte sich einfach immer nach oben, wenn er an eine Abzweigung oder eine Treppe kam, und nach einer Weile glaubte er, hier und da eine bekannte Stelle zu sehen, eine absonderlich geformte Tür, eine seltsam schräg anmutende Treppe oder Rampe. Die sinnverdrehende Architektur der Schattenburg kam ihm nun zugute, denn es gab praktisch keinen Quadratzentimeter, der einem anderen glich, und vieles war so bizarr, daß man es einfach nicht vergessen konnte. Aber eigentlich wären diese Hilfen nicht einmal nötig gewesen.
Er fand den Weg hinauf in Cathars Kerker erstaunlich schnell – und wäre um ein Haar gegen einen schwarzvermummten Schattenkrieger geprallt, der mit vor der Brust verschränkten Armen vor einer verschlossenen Zellentür Wache stand.
Torian wußte nicht, wer überraschter war – er oder der Krieger. Und er vermochte auch hinterher nicht zu sagen, wieso er die nächste Minute überlebte.
Vielleicht war der Schattenkrieger einfach zu fassungslos, um im Ernst anzunehmen, daß er tatsächlich die Dreistigkeit besitzen würde, ihn anzugreifen.
Aber Torian hatte sie.
Er hatte sogar die Frechheit, auf ihn zuzuspringen und ihm mit aller Wucht in den Leib zu treten, und dann brachte er noch dazu die Unverschämtheit auf, seinen Ellbogen mit aller Gewalt in seinen Nacken krachen zu lassen, als der Mann sich krümmte. Das alles hätte er vielleicht noch hingenommen, aber das, was Torian sich dann leistete, traf ihn wohl doch ernstlich – Torian riß nämlich das rechte Knie in die Höhe, als der Krieger japsend zu Boden fallen wollte, und das war wohl etwas, was sowohl dem Faß den Boden als auch diesem ein paar Zähne ausschlug. Ohne einen weiteren Laut stürzte er nach hinten und blieb regungslos liegen. Nein, dachte Torian in einem Anflug von Galgenhumor, die feine Art war das nicht gewesen. Aber dafür eine äußerst wirksame.
Er beugte sich zu dem Bewußtlosen herab, überzeugte sich davon, daß er für mindestens eine Stunde außer Gefecht gesetzt war, und drehte ihn vorsichtshalber auf die Seite, damit er nicht an seiner eigenen Zunge erstickte, bevor er wieder zu sich kam.
Die Burg schien so gut wie verlassen zu sein. Er fand den Weg hinauf ans Licht leichter, als er befürchtet hatte, auf die gleiche Weise, auf die er den Weg aus Ch’tuons Höhle gefunden – indem er einfach nach oben ging. Er traf nur noch auf einen einzigen von Cathars Kriegern. Der Mann blieb nicht lange genug bei Bewußtsein, ihn auch nur mit einem erschrockenen Schrei zu verraten.
Über der Burg herrschte heller Tag, als Torian endlich wieder aus dem Bauch der Erde hervorkam und auf den Hof hinaustrat. Das ungewohnte Licht schmerzte in seinen Augen, im ersten Moment war er fast blind. Er blinzelte, blieb stehen und sah sich aus tränenden Augen um. Der Anblick hatte nichts von seiner bedrückenden Fremdartigkeit verloren, aber alle Schatten kamen ihm ein wenig härter vor, die Linien noch etwas fremdartiger, der Odem des Bösen, der über dieser verfluchten Burg hing, ein wenig deutlicher.
Er verscheuchte den Gedanken, drehte sich einmal um seine eigene Achse und entdeckte den Turm, von dem Garth gesprochen hatte – ein korkenzieherartig gedrehtes, vollkommen absurdes Ding, das in einer obszön geformten Spitze endete. An seinem Fuß befand sich eine Treppe mit unterschiedlich hohen Stufen, die zu einer einladend offenstehenden Tür von der Form eines aufgerissenen Drachenmaules führte.
Als er sie hinaufstieg, vertrat ihm ein weiterer graugekleideter Krieger den Weg. Torian packte ihn, brach seine Hand, die das Schwert hob, warf ihn gegen die Wand, nahm seine eigene Waffe auf und tötete ihn. Es ging so rasch und mühelos, daß er fast selbst erschrak – nicht über die Leichtigkeit, mit der er mit dem Schattenkrieger fertig geworden war. Er hatte nichts anderes erwartet. Er befand sich in diesen Momenten in einem Zustand, der nicht mehr normal war; jene Art von kalter, berechnender Raserei, in dem die Berserker der Frühzeit mit bloßen Händen Ochsen getötet hatten, oder in dem manche Soldaten noch weiterkämpften, während sie schon längst zu Tode verwundet waren. Er hätte den Krieger auch besiegt, wenn dieser ihm sein Schwert durch die Brust gebohrt hätte. Aber was ihn erschreckte, war die Kälte, die er dabei verspürte. Er tötete ein denkendes, menschenähnliches Wesen mit der Beiläufigkeit, mit der man eine Mücke erschlug. Dann ging er weiter.
Der Turm war dunkel. Durch absurd geformte Fenster fiel zwar Licht auf die eng gewundene Treppe, die sein Inneres ausfüllte, aber irgend etwas schien die Helligkeit aufzusaugen, wie finsterer Nebel, der in der Luft hing. Trotzdem setzte er seinen Weg fort, ohne auch nur im Schritt zu stocken, erreichte rasch den ersten Treppenabsatz und trat gebückt durch eine niedrige Tür.
Eine Sekunde später sah er sich dem nächsten Schattenkrieger gegenüber, der in der winzigen Kammer dahinter an einem Tisch saß und offensichtlich auf seinen Kameraden wartete, dem er unten begegnet war. Bei seinem Eintreten fuhr er zusammen, griff nach seinem Schwert und versuchte aufzuspringen.
Torian half ihm ein wenig dabei, und noch bevor der Krieger zwanzig Stufen unter ihm auf der Treppe aufschlug, hatte er die Kammer bereits durchquert und nahm den nächsten Treppenabsatz in Angriff. An seinem Ende befand sich eine weitere, etwas größere Kammer – und in ihr wartete nicht nur eine, sondern gleich drei von Cathars grauvermummten Kreaturen.
Und sie waren nicht annähernd so überrascht wie die, auf welche er bislang gestoßen war. Ganz im Gegenteil.
Er sah einen Schatten vor sich aufragen, riß instinktiv die Fäuste in die Höhe und spürte, daß er traf. Der Mann torkelte zurück und prallte gegen den Tisch, aber fast im gleichen Moment griff eine Hand nach Torians Arm und drehte ihn auf den Rücken, eine zweite, erbarmungslos starke Faust krallte sich in sein Haar und riß seinen Kopf zurück. Eine halbe Sekunde später tauchte ein grauverhülltes Gesicht vor ihm auf. Dunkle, grausame Augen musterten ihn ohne eine Spur von Gefühl. Metall blitzte.
Zum ersten Mal, seit er die unterirdische Höhle verlassen hatte, spürte er wieder Angst, als sich die rasiermesserscharf geschliffene Klinge seiner Kehle näherte. Panische Angst. Plötzlich begriff er, daß er sterben würde. Hier und jetzt. Er hatte verloren. In seiner Raserei war er Cathars Männern direkt in die Arme gelaufen.
Ganz genau, wie Garth es ihm prophezeit hatte.
Doch dann geschah… irgend etwas.
Der Schattenkrieger bewegte sich unglaublich schnell. Er hatte nicht vor, lange mit seinem vermeintlichen Opfer zu spielen, sondern schien entschlossen, der Sache ein rasches Ende zu bereiten, mit einem blitzartigen Schnitt durch Torians Kehle. Aber wie oft, wenn einen echte Todesangst gepackt hat, schien die Zeit plötzlich stehenzubleiben. Aus der rasenden Bewegung des Dolches wurde ein ganz langsames Gleiten, der helle Kampfschrei des Kriegers wurde zu einem unerträglichen Grölen und Dröhnen in Torians Ohren – und irgendwo tief in ihm erwachte etwas.
Etwas Böses und ungeheuer Mächtiges, das er aus der Höhle mit sich geschleppt hatte.
Es war wie eine Eruption aus schwarzem Schlamm, die plötzlich irgendwo in den finstersten Tiefen seiner Seele erfolgte, eine lautlose, aber unglaublich kraftvolle Explosion pechschwarzer Energie, tausendmal stärker als das lächerliche Etwas, das bisher in seiner Schulter gelebt hatte.
Kraft strömte durch seinen Körper, eine unglaubliche, unwiderstehliche Kraft. Irgend etwas ergriff Besitz von ihm, rasch und lautlos. Der Dolch raste heran, schnitt mit einem widerwärtigen Geräusch durch sein Wams und ritzte seine Kehle, aber seine Bewegung schien mit einem Male lächerlich langsam. Torian packte die Klinge mit bloßen Händen, zerbrach sie und tötete den Angreifer noch in der gleichen Bewegung, so schnell, daß dieser wohl nicht einmal begriff, was ihm widerfuhr. Dann riß er seinen Arm aus der Umklammerung des anderen los, schoß herum und versetzte ihm einen Stoß, der ihn aus der Tür und rücklings die Treppe hinunterfliegen ließ.
Der dritte Schattenkrieger versuchte ihn anzuspringen. Seine Bemühungen erschienen Torian fast albern. Beinahe gemächlich wicher aus, schlug die vorgestreckten Beine des Kriegers zur Seite und sah zu, wie der Mann auf dem Boden aufschlug und sich das Genick brach.
Dann wandte er sich um und trat auf die Tür zu, welche die drei Krieger zu bewachen gehabt hatten. Mit einem einzigen Tritt sprengte er sie auf und stand vor einer weiteren, allerdings sehr kurzen Treppe. An ihrem oberen Ende lag eine wuchtige Tür, mit Eisen verstärkt und mit fremdartigen Zeichen gesichert. Er spürte den finsteren Einfluß der magischen Schutzformeln, aber sie prallten von ihm ab, beiseitegefegt von dem schwarzen Etwas, das in seiner Seele brodelte und ihm Kraft gab. Jeden anderen Menschen – auch unter normalen Umständen – hätte der bloße Anblick dieser Symbole getötet oder um den Verstand gebracht, aber in diesem Augenblick, geschützt von der ungeheuren magischen Kraft Ch’tuons, nötigten sie ihm nicht einmal ein Lächeln ab. Ohne auch nur innezuhalten, stürmte er los, auf die Tür zu. Dahinter war Cathar. Er wußte es mit solcher Gewißheit, als wäre sie aus Glas.
Die Treppe versuchte nach ihm zu beißen. Aus den Stufen wurden klaffende Dämonenmäuler, gespickt mit fingerlangen Zähnen, von denen Säure troff. Er brach die Zähne ab und trat die Mäuler mit seinen Stiefeln zu und stürmte weiter. Eine mannsgroße Spinne materialisierte mitten in der Luft vor ihm und griff ihn an. Er brach ihr die Beine, schleuderte sie die Treppe hinab und sah sich von einem ganzen Wald peitschender Tentakel attackiert, die er einen nach dem anderen ausriß oder miteinander verknotete.
Nichts davon geschah wirklich. Was er zu erleben glaubte, in diesen wenigen endlosen Sekunden, in denen er die Treppe hinaufstürmte, war nichts als ein simpler hypnotischer Angriff, eine letzte, teuflische Falle Cathars, aber für ihn war es Realität, und hätte ihn das Ding in seinem Inneren nicht geschützt und ihm die Kraft eines tobenden germanischen Gottes gegeben, wäre er in Stücke zerfetzt worden. Aber es schützte ihn. Cathars geistige Attacke verpuffte wie ein Wassertropfen, der in den Krater eines Vulkans fiel.
Dann hatte Torian die Tür erreicht. Beinahe ohne sein Zutun begannen sich seine Hände zu bewegen, löschten die schrecklichen Bannzeichen aus und zerbrachen den Riegel. Die Tür bewegte sich noch immer nicht, aber aus seinen Fingerspitzen strömte plötzlich Glut, grellweiße, wabernde Glut, die das Metall der Tür aufflammen und in brodelnden Tropfen herablaufen ließ.
Mit einem wütenden Brüllen riß er die sicher eine Tonne wiegende Eisentür aus den Angeln, schleuderte sie die Treppe hinab und stürmte in den dahinterliegenden Raum.
Direkt in den Wahnsinn hinein.
Im gleichen Moment, in dem Torian das kleine Turmzimmer betrat, erlosch wieder die Welt um ihn herum. Erneut sah er sie, wie die Magier sie wahrnahmen, die Magier und Ch’tuon, dessen Welt es in Wahrheit darstellte. Er wußte nicht, wie er das, was in diesen Sekunden geschah, mit seinen eigenen Augen wahrgenommen hatte, und vielleicht war es eine Gnade, daß er es nicht erleben mußte.
In dem winzigen Sekundenbruchteil, in dem er das Zimmer noch durch seine eigenen Augen erblickte, erkannte er Cathar und Shyleen. Immer noch hielt der Magier ihr den Dolch gegen die Kehle, als hätte er die ganze Zeit über regungslos abgewartet. Nun verzerrte sich sein Gesicht vor ungläubigem Entsetzen. »DU!« kreischte er. Nur dieses eine Wort, aber in ihm lag aller Haß, aller Zorn, zu dem er nur fähig war. Sein häßliches Gesicht hatte sich zu einer abstoßenden Grimasse verzerrt, eine widerliche, sabbernde Visage, dem Wahnsinn näher als der Normalität. Seine Augen flammten vor Haß. Kleine, grünliche Blitze umspielten seine Gestalt, aber er tötete Shyleen nicht, obwohl er in diesem Moment die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Statt dessen versetzte er ihr einen Stoß, der sie auf Torian zutaumeln ließ, und fuhr selbst herum, um sich auf ihn zu stürzen.
Er führte die Bewegung nie zu Ende.
Bislang hatten die glitzernden Stränge, die den größten Teil der Schattenburg durchzogen, in diesem Zimmer gefehlt. Nun brachen die magischen Kräfte explosionsartig aus Torian heraus. Ein kaum fingerdicker Strang schoß aus seiner Brust, fächerte in Bruchteilen von Sekunden auseinander und legte sich wie ein unendlich feines Spinnennetz über die Wände, breitete sich weiter aus und durchzog den gesamten Raum mit wabernden, grell leuchtenden Linien, die sich wie Schlangen wanden und unstet hin und her tasteten.
Cathar schrie gellend auf, als er begriff, was es zu bedeuten hatte. »Du hast es hergebracht!« kreischte er mit überschnappender Stimme. »Du… du hast Ch’tuon befreit, verdammter Narr!«
»Ja«, bestätigte Torian ruhig. Die Welt nahm wieder ihr gewohntes Aussehen an, nur ganz schwach lag noch ein Flimmern in der Luft. Er vergewisserte sich mit einem raschen Blick, daß Shyleen nichts passiert war.
»Aber auch das wird dir nichts nutzen!« brüllte Cathar. Er streckte die Arme aus und stieß einige düstere, stimmbandverdrehende Worte hervor. Ein sengend heißer Blitz zuckte aus seinen Fingerspitzen. Wie von einem Faustschlag getroffen, taumelte Torian zurück, schreiend vor Schmerz. Aber das unerträgliche Brennen und Reißen hörte fast so schnell auf, wie es begonnen hatte, und er spürte, wie das Ding, das noch immer in seinem Inneren tobte, die frische Kraft gierig aufsog und zu seiner eigenen machte. Gleich darauf wankte Cathar zurück, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Er heulte auf, aber diesmal vor Schmerz, als Torian ihn mit unsichtbaren Händen packte und mit grausamer Wucht gegen die Wand schleuderte. Cathar sank daran entlang zu Boden. Er war auf seine linke Hand gefallen. Sie mußte gebrochen sein, so wie er sie hielt, und wahrscheinlich nicht nur seine Hand.
Und dann spürte Torian, wie sich die unsichtbare Macht in seinem Inneren ballte, zu einer finsteren, brodelnden Faust aus Haß werdend, bereit, auf Cathar hinabzufahren und ihn zu zermalmen. Er hatte ihn vor sich. Der Mann, der ihn betrogen hatte und ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, töten würde, hätte er noch die Macht dazu, der für den Tod so vieler Menschen verantwortlich war – er befand sich in Torians Gewalt. Eine Bewegung, ein Gedanke von ihm reichte, den Magier zu vernichten. Der Alptraum hätte ein Ende.
Aber er tat es nicht.
Er konnte es nicht. Torian wollte es tun, mit jeder Faser seines Seins, aber er konnte es nicht. Cathar lag vor ihm, hilflos, mit gebrochenen Gliedern und die Augen voller Angst, aber Torian konnte ihn nicht töten. Er war nicht der Richter des Magiers. Cathar gehörte einem anderen.
Und plötzlich sah Torian ihn, wie er wirklich war – nichts als ein schmutziger, alter Mann, mit dem man fast Mitleid haben konnte. »Meine Magie«, jammerte Cathar. »Ich habe meine Kraft verloren!«
»Ihr habt mehr verloren als nur das, du und deine Brüder«, entgegnete Torian. »Euer Reich ist für immer untergegangen. Es wird niemals wieder auferstehen.«
Cathar wimmerte. Sein Gesicht zuckte vor Haß. »Nein«, stöhnte er. »Wir… werden siegen. Das alles hier gehört uns. Ihr seid die Eindringlinge! Ihr habt uns unsere Welt gestohlen!»
Torian lächelte beinahe sanft. »Euer Traum von Macht hat ein Ende«, hielt er ihm entgegen. Und vielleicht, fügte er in Gedanken hinzu, vielleicht war er in Wahrheit nichts als ein Alptraum gewesen, auch wenn er Jahrtausende gewährt hatte.
»Du sprichst irre«, keuchte Cathar und quälte sich auf die Beine. »Vielleicht werde ich sterben, aber es werden andere kommen, die stärker sind als ich. Sie werden den Bann über Ch’tuon erneuern, und wir werden weiterhin über seine Kraft gebieten. Ich werde in meinen Brüdern weiterleben, aber wenn ich sterbe, so wirst du es nicht mehr erleben.«
Mit diesen Worten riß er seinen Dolch hoch und sprang mit einer Kraft, die überhaupt nicht mehr in seinem Körper sein durfte, auf Torian zu. Shyleen schrie erschrocken auf, doch Torian unternahm nicht einmal einen Versuch, dem Magier auszuweichen oder sich zu wehren. Es war auch nicht nötig. Ein schwerfälliges Zittern glitt durch die Wände des Raumes, dann bäumte sich der Boden vor Cathars Füßen auf. Die Steinfliesen zerflossen zu gewaltigen, rauchigen Händen, die nach dem Magier griffen, ihn umklammerten und mit sich fort ins Nichts rissen.
»Was… was hat das alles zu bedeuten?« fragte Shyleen fassungslos. Unsicher starrte sie auf die Stelle, wo Cathar gerade noch gestanden hatte. Der Boden hatte sich wieder geglättet, und nichts deutete darauf hin, was mit dem Magier geschehen war.
»Nichts, was dich zu beunruhigen braucht«, antwortete Torian. Seine eigenen Worte kamen ihm fremd und unnatürlich vor, als würde nicht er selbst sprechen, sondern etwas sich immer noch seines Körpers bedienen. Vielleicht war es auch so. Die Taubheit in seinem Geist hatte sich immer noch nicht völlig gelichtet, er war zu benommen, sich über seine eigene Situation klar zu werden.
»Aber… Cathar«, fuhr Shyleen fort. »Wo ist er? Was ist mit ihm geschehen? Und was hat dieses Gerede über Ch’tuon zu bedeuten?«
»Du wirst alles begreifen«, vertröstete sie Torian. »Ch’tuon hat den Magier zu sich geholt. Wir werden ihm auf gleichem Weg folgen. Hab keine Angst.« Er griff nach ihrer Hand, doch sie wich furchtsam vor ihm zurück. »Bitte, Shyleen«, sagte er. »Vertrau mir. Dir wird nichts geschehen. Wir treten nur in einen anderen Raum, aber es würde zu lange dauern, auf normale Weise dorthin zu gelangen.«
Das Mädchen zögerte, rang kurz mit sich und nickte schließlich, wenn auch sein Mißtrauen längst noch nicht ausgeräumt war. Aber es reichte ihm die Hand. Torian ergriff sie, und dann verschlangen die Schatten auch ihn. Dunkelheit umgab ihn. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, schwerelos in der Luft zu hängen, dann begann er zu stürzen, sah schwarzen Fels auf sich zurasen und schlug mit grausamer Wucht auf. Für eine Sekunde verlor er das Bewußtsein, erwachte aber schon wieder, ehe er vollends zur Ruhe kam. Neben ihm rappelte sich Shyleen hoch, und nur wenige Schritte entfernt stand Garth. Cathar hing wie eine Puppe in seinen Händen. Der Riß in der Wirklichkeit hatte sie wie erwartet in die Höhle Ch’tuons zurückgeschleudert.
Benommen richtete sich Torian auf. Etwas hatte sich verändert, im gleichen Moment, in dem er den Schritt durch das Nichts getan hatte. In seinem Kopf herrschte ein sonderbares Gefühl der Leere und Taubheit, und es dauerte einige Sekunden, bis ihm bewußt wurde, worin die Veränderung bestand.
Die unsichtbare Nabelschnur, die ihn bislang mit Ch’tuon verbunden hatte, war zerrissen. Er war wieder Herr seines eigenen Willens, zum ersten Mal seit Wochen. Alles, was getan werden mußte, hatte er getan, und die dämonische Kreatur hatte ihr Wort gehalten und ihn zum Dank wieder freigegeben. Auf Dämonen war eben mehr Verlaß als auf Menschen oder Schwarze Magier, dachte er zynisch und tastete nach seiner Schulter. Auch die winzige Schwellung, die bislang die Existenz der Parasiten verraten hatte, war verschwunden.
Shyleens Schrei riß ihn endgültig aus der Benommenheit. Er fuhr herum und starrte an das Ufer des schwarzen Sees. Die teerartige Masse sprudelte und warf Blasen. Sie verdichtete sich, wuchs in die Höhe und bildete die Umrisse eines Körpers, der sich wie eine Karikatur menschlichen Lebens ausnahm. Die Kreatur war nicht größer als ein Gnom, der Körper verwachsen und mit viel zu vielen dünnen, tentakelartigen Armen. Die im Vergleich zu kurzen und viel zu dicken Beine endeten in vogelartigen Krallen, die sich bei jedem Schritt in den Boden gruben, als das Wesen ans Ufer kroch und langsam auf die Menschen zutaumelte. Die Schritte klangen nicht annähernd wie die eines Menschen, sondern wirkten entsetzlich falsch; wie ein Platschen, ein schreckliches, irgendwie nasses Geräusch, da sich anhörte, als würde es von einem gewaltigen, viel zu massigen Körper stammen, nicht von dem kaum halbmannsgroßen Gnom. Wo er entlangschlich, glühte das Gestein unter seinen Füßen auf und erstarrte sofort wieder zu dunkelbraunem, schmierig aussehendem Fels.
Shyleen schrie noch einmal auf, packte ihr Schwert und riß es aus der Scheide. Torian drückte ihren Arm herunter. »Nicht«, stieß er hervor. »Es wird uns nichts tun.«
»Aber das…«
»Es ist eine Erscheinungsform Ch’tuons. Aber er ist uns nicht feindlich gesonnen. Er will nur Cathar.«
Er deutete auf Garth, der den Magier vor sich auf den Boden gelegt hatte und einige Schritte zurücktrat. Sein Gesicht war vor Anspannung verzerrt. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seine Hand lag auf dem Knauf des Schwertes. Auch er war wieder aus dem Bann Ch’tuons erwacht, schien der Kreatur aber nicht völlig zu vertrauen.
»Nicht!« warnte Torian hastig. »Rührt euch nicht!«
Die Kreatur sah beim Klang seiner Stimme auf, und etwas… änderte sich im Blick ihrer entsetzlichen Augen. Für Sekunden, die für Torian zu Ewigkeiten wurden und die er nie, nie mehr im Leben vergessen sollte, begegneten sich ihre Blicke, und für die gleiche Zeitspanne verstand er; begriff er die wahre Natur dieses unendlich fremden Wesens, von dem er ein winziger Teil gewesen war, ohne es zu wissen.
Ch’tuon war nicht böse. Oh, er war schrecklich, ein Wesen von ungeheuerlicher Macht, das die Bedeutung des Wortes Mitleid nicht kannte und dessen Kraft ausreichte, mit einem einzigen Gedanken eine Welt zu vernichten, ein Volk auszulöschen, den Lauf der Geschichte zu verändern. Aber er war nicht böse, denn er kannte die Bedeutung dieses Wortes nicht einmal. Gefühle waren ihm fremd. Er war nur… nur das Werkzeug gewesen, begriff er. Das Werkzeug für Cathar und die anderen Schwarzen Magier. Irgendwann vor Jahrtausenden – wie, erfuhr er nicht von Ch’tuon, und es spielte auch keine Rolle mehr – war es ihnen gelungen, ihn aus seiner Welt herauszureißen und gefangenzusetzen, damit sie sich seiner Kräfte bedienten. Alle Magie, alle schwarzen zauberischen Künste Caracons waren in Wahrheit seine Kräfte, Ch’tuons Magie, von den Schwarzen mißbraucht.
Und es war vorbei, auch das begriff Torian mit unerschütterlicher Sicherheit. Ch’tuon war erwacht, aber er war es nicht, um eine neue Schreckensherrschaft über diese Welt anzutreten. Er würde heimkehren, in jene entsetzliche fremde Welt zwischen den Dimensionen, aus denen die Schwarzen Magier ihn vor so langer Zeit herausgerissen hatten, und der Alptraum hatte ein Ende.
Später, sehr viel später, denn über der Schattenburg ging bereits die Sonne eines neuen Morgens auf, und Torian erinnerte sich kaum, wie Garth, Shyleen und er den Rückweg ans Tageslicht geschafft hatten, erzählte er Garth und der ehemaligen Tempelpriesterin alles. Fast alles, denn manches war in ihm ein Wissen, das so tief und schrecklich war, daß sich ein Teil seiner menschlichen Seele noch immer krümmte bei der bloßen Erinnerung an all die entsetzlichen Geheimnisse, die er erfahren hatte, und vieles würde er niemals aussprechen können, weil es einfach zu schrecklich dazu war und weil ihm in seiner menschlichen Sprache die Worte fehlten, die Dinge zu beschreiben, die er durch Ch’tuons Augen gesehen hatte. Aber er hatte ihnen alles erzählt, was sie wissen mußten, und ohne daß es langer Erklärungen bedurft hätte, hatte er gespürt, daß die beiden ihm glaubten, auch wenn sie vieles – vielleicht das meiste – niemals verstehen würden.
»Du meinst, es ist… vorbei?« fragte Shyleen zögernd. In ihren Augen war noch immer Angst. Aber auch ein schwacher Funke von Hoffnung, daß der entsetzliche Alptraum endlich, endlich zu Ende sei. »Die Schwarzen sind tot, und wir – «
»Nicht tot«, vollendete Torian. »Ch’tuon hätte sie vernichten können, aber warum sollte er das tun?« Sie begriff immer noch nicht, dachte er. Ch’tuon war kein Wesen dieser Welt. Begriffe wie Rache – oder auch nur Gerechtigkeit – waren ihm fremd. »Sie leben, irgendwo unter uns, aber sie…« Er hob hilflos die Hände, suchte einen Moment nach Worten und beließ es dann bei einem stummen Kopfschütteln.
»Du meinst, sie haben ihre Zauberkraft verloren«, vermutete Garth schließlich.
Torian nickte. Das war nicht ganz die Wahrheit, aber es kam ihr nahe. »Ja.«
»Dann sind wir frei?« fragte Shyleen unsicher.
Diesmal antwortete Torian gar nicht. Frei… Er wußte nicht, ob er jemals frei sein würde. Vielleicht war niemand frei. Es gab nicht nur Ch’tuon. Auch das hatte er gelernt, während er mit dem Geist des (Gottes?) Unheimlichen verschmolzen gewesen war. Die Welt war mehr, viel mehr, als sie erkennen konnten. Es gab andere Wesen, die vielleicht noch schlimmer als Ch’tuon waren.
»Sieht so aus«, murmelte Garth, als er nicht antwortete. Er seufzte, drehte sich einmal im Kreis und fuhr sich mit einer seiner gewaltigen Pranken durch das Gesicht. Dann deutete er auf den zerborstenen Stumpf der Brücke, die vom Tor der Schattenburg aus ins Nichts führte. Auch diese Magie war erloschen, mit Ch’tuons Verschwinden.
»Hat einer von euch eine Ahnung, wie wir jetzt da rüber kommen?« wollte er erfahren.
Torian seufzte. Aber dann, ganz plötzlich, mußte er lachen. Garths Frage kam ihm beinahe rührend vor.
»Was ist so komisch?« fragte Garth verwirrt.
»Nichts«, antwortete Torian hastig. »Wirklich, Garth, es ist nichts.« Außer vielleicht der Tatsache, fügte er in Gedanken hinzu, daß Garth immer noch nicht begriffen zu haben schien, was geschehen war. Garth, mein Freund, dachte er. Wir haben einen Gott besiegt. Was sollte uns jetzt noch aufhalten können?